Grundzüge der Politikwissenschaft [Reprint 2015 ed.] 9783486793505, 9783486242393

Grundlegendes Lehrwerk der Politikwissenschaft für den Studienanfänger ebenso wie für den Examenskandidaten.

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Grundzüge der Politikwissenschaft [Reprint 2015 ed.]
 9783486793505, 9783486242393

Table of contents :
Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland
I. Das Thema
II. Geschichtliche Entwicklung
III. Die Politikwissenschaft zwischen Bildungs- und Wissenschaftsanspruch (1945-1965)
1. Die Ausgangskonstellation
2. Interessen
3. Aufgabenstellung, Definitionsversuche, Abgrenzungen
4. Studium und Lehre: Ziele und Konzepte
IV. Die theoretische Phase (1965-1975)
1. Ausgangslage
2. Die Funktion der Sozialwissenschaften (Soziologie und Politikwissenschaft)
3. „Gesellschaftlichkeit“ und Theoriebildung
4. Die binnentheoretische Entwicklung
5. Auswirkungen auf Lehre und Studium
V. Politikwissenschaft als Ausbildungsfach (seit Ende der 70er Jahre)
1. Der Status der Theorie
2. Wissenschaftscharakter
3. Das Lehr- und Studienwesen. Die Kontroverse „Bildung oder Ausbildung“
3.1. Ausgangslage
3.2. Fragen der Ausbildung
3.3. Politikwissenschaft und Politische Bildung
VI. Politikwissenschaft nach der deutschen Einheit
VII. Streitfragen
1. Prognosefähigkeit
2. „Erfolgs-“ und Qualitätskontrolle
3. Methodische Ausbildung
VIII. Literatur
1. Hinweise
2. Weiterführende Literatur
Anhang: Studienpraktische Hinweise
Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlicheil Forschungslogik und Methodenlehre
I. Das Thema
II. Zur historischen Entwicklung der Forschungsmethodologie
A. Die Anfänge der wissenschaftlichen Methodenlehre
B. Die „methodologischen Wurzeln“ der Politikwissenschaft
1. Empirismus und Rationalismus
2. Empirische Sozialforschung
3. Geisteswissenschaftliche Methoden
C. Entwicklungen in der neueren Wissenschaftstheorie
Literatur
III. Forschungsprozeß und -formen
A. Phasen der Politikforschung
B. Untersuchungsformen
Literatur
IV. Zur Analyse und Geltung politikwissenschaftlicher Aussagensysteme
A. Begriffe
1. Begriffsbildung
2. Analyse von Begriffen
B. Aussagen
1. Normative, logische und empirische Sätze
2. Eine Einteilung der empirischen Sätze
3. Kriterien zur Beurteilung politikwissenschaftlicher Sätze
C. Theorien
1. Theoriebegriff
2. Leistung und Beurteilung von Theorien
3. Erklärung
4. Prognose
D. Die Geltung politikwissenschaftlicher Aussagensysteme
1. Begründungen
2. Die Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung
3. Die Überprüfung empirischer Hypothesen
4. Zur Begründung von Norm -und Wertsätzen
Literatur
V. Spezielle Methoden der empirischen Politikwissenschaft
A. Sozialwissenschaftliche Messungen
B. Methoden zur Auswahl der Untersuchungseinheiten
C. Methoden der Datengewinnung
1. Beobachtung
2. Befragung
3. Inhaltsanalyse
D. Aufbereitung, Analyse und Interpretation der Daten
Literatur
VI. Streitfragen
Literatur
Teil III: Politische Ideengeschichte
I. Das Thema
II. Entwicklung der Disziplin
III. Begriffs- und Abgrenzungsfragen
1. Allgemeine Überlegungen
2. Philosophiegeschichte
3. Ideengeschichte
4. Geistesgeschichte
5. Theoriegeschichte
IV. Kategorien ideengeschichtlicher Erkenntnis
1. Der interdisziplinäre Kontext
2. Der Raum
3. Die Zeit und die Epochen
4. Der Personalismus
5. Schriftlichkeit und Mündlichkeit
6. Probleme
V. „Klassiker“ des politischen Denkens
1. Begriff
2. Kriterien der Bestimmung
3. Das Interesse an den „Klassikern“
4. Kanonisierung, Schulenbildung, Epigonentum
VI. Der Umgang mit den Texten
1. Das Ziel ideengeschichtlicher Erkenntnisgewinnung: Fragen des Verstehens von Texten
2. Das Mittel des Sinnverständnisses: Fragen der Interpretation
3. Das Material der Interpretation: Editionsfragen
VII. Wege des Textverständnisses
1. Die textimmanente Interpretation
2. Gattungen und Publikum politischer Ideen
3. „Text-context“ - Diskussion und Konstellationsanalyse x
4. Das Problem vom „esoterischer“ und „exoterischer“ Lehre: Die Kunst, „zwischen den Zeilen zu lesen“
5. Die soziologisch-historische Analyse
6. Ideologie, Ideologiekritik und Textverstehen
7. Die Perspektive der philosophischen Hermeneutik
8. Konstruktivismus und Dekonstruktivismus
Epilog I: Korrektes Interpretieren
Epilog II: Korrektes Übersetzen
VIII. Streitfragen
1. Gegenstandserweiterung
2. Probleme des Materials
IX. Literatur
1. Hinweise
2. Weiterführende Literatur
Teil IV: Politische Systeme
I. Das Thema
II. Forschungsgeschichte
III. Systematische Darstellung
1. Probleme der Typologisierung von politischen Systemen
2. Liberal-demokratische Systeme
3. Sozialistische politische Systeme
4. Entwicklungsländer
IV. Streitfragen
V. Schlußbemerkungen
VI. Literatur
Teil V: Mikro-und Mesopolitik
I. Einleitung: Kennzeichnung und Verortung der Mikro- und Mesopolitik
1. Problemstellung: Mikro- und Mesopolitik im politikwissenschaftlichen Gesamtzusammenhang
2. Bemerkungen zur historischen Entwicklung: Über die Karriere von mikro- und mesopolitischen Aspekten in der Geschichte politischer Realität und wissenschaftlicher Politikbetrachtung
3. Zur Abbildbarkeit mikro- und mesopolitischer Diskurse: Absichten und Überblick
II. Politikwissenschaftlicher Aufriß: Grundlagen, Elemente und Funktionen mikro- und mesopolitischer Theoriebildung
1. Leitende Fragestellungen und Basiskategorien: Ermittlung sozio- psychischer Momente des Politischen und ihr begrifflicher Zuschnitt
2. Zentrale Forschungsfelder: Variablen(komplexe) der Statik und Bewegung strukturell-institutioneller Dimensionen der Politik
3. Hauptsächliche methodische Zugriffsweisen und Paradigmen: Zentrierung des politischen Subjekts in Theorie und Untersuchungspraxis
III. Synopse wichtiger Forschungsleistungen und Diskussionsergebnisse: eine Auswahl und Kombination politikwissenschaftlich und politisch relevanter Aussagenzusammenhänge
1. Individuelles Ausstattungsgefüge als Produkt und Element politischer Realität
2. Intersubjektive Austauschprozesse zwischen Reproduktion und Restitution der Politik
3. Transferleistungen als politische Prägung und Prägung der Politik
IV. Sozialwissenschaftlich-politische Folgerungen und Aussichten: Streitfragen zur Mikro- und Mesopolitik in Theorie und Praxis
1. Hinweise zur Nützlichkeit und zum Mißbrauch mikro- und mesopolitischer Erkenntnisse in Politikwissenschaft und praktischer Politik: Anwendungsbeispiele
2. Anmerkungen zu den Grenzen und zum Innovationspotential mikro- und mesopolitischen Denkens: Perspektiven für die Entwicklung der Demokratie(wissenschaft)
V. Annotierte Auswahlbibliographie
VI. Literaturverzeichnis
Teil VI: Politische Soziologie
I. Kurzübersicht
II. Historische Entwicklung
III. Allgemeine Grundlagen
1. Problemstellungen und Theorieansätze
2. Politik in der Wirkungsspirale der Gesellschaft
IV. Politische Makrosoziologie: Gesellschaftsstrukturen und politische Ordnungen
1. Anfänge zur Soziologie demokratischer Ordnungen
2. Totalitarismusanalyse
3. Politische Systeme: Entwicklung, Krisen, Transformation
V. Politische Soziologie westlicher Demokratie
1. „Soziologie der Demokratie“
2. Öffentlicher Handlungsraum und politische Kommunikation
3. Politischer Wettbewerb, Parteien und Wahlen
4. Interessenvermittlung
5. Querverweis: Individuelle Orientierungen und Verhaltensmuster
6. Macht- und Elitenstrukturen in der Demokratie
VI. Gesellschaftliche Wirkungen der Politik
1. Politische Steuerung
2. Nicht-intendierte Folgen der Politik
3. Legitimation
4. Herrschaft?
VII. Kommentierte Bibliographie
VIII. Literaturverzeichnis
Teil VII: Institutionen und Regierungsprozeß
I. Annäherung an das Thema
II. Wissenschaftshistorische Aspekte
III. Verfassung und politisches Institutionengefüge
IV. Der Föderalismus
V. Die Exekutive
VI. Die Legislative
VII. Die Judikative
VIII. Bewertung, Ausblick, Forschungsperspektiven
IX. Literaturhinweise zur Einführung
Teil VIII: Policy-Analyse
I. Das Thema
II. Historische Entwicklung der Policy-Forschung
III. Systematische Darstellung des Fachgebietes
1. Grundbegriffe der Policy-Forschung
2. Schulen der Policy-Forschung
3. Kontroversen in der Policy-Forschung: am Beispiel der „Do parties matter“-Debatte
IV. Stärken und Schwächen der Policy-Forschung
V. Literatur
1. Kommentierte Bibliographie
2. Literaturverzeichnis
Teil IX: Internationale Beziehungen
1. Kurze Einführung in die Problematik
2. Zur Geschichte der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen
3. Zu einigen Standardbegriffen
4. Genese, Strukturen, Akteure und Prozesse des internationalen Systems
5. Schwachpunkte der Forschung
6. Literaturverzeichnis
Register

Citation preview

Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft Herausgegeben von

Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Werke: Lehmkuhl, Theorien Internationaler Politik, 2. Auflage Lietzmann • Bleek, Politikwissenschaft - Geschichte und Entwicklung Mohr (Hrg. mit Claußen, Falter, Prätorius, Schiller, Schmidt, Waschkuhn, Winkler, Woyke), Grundzüge der Politikwissenschaft, 2. Auflage Pilz • Ortwein, Das politische System Deutschlands, 2. Auflage Sommer, Institutionelle Verantwortung

Grundzüge der Politikwissenschaft Herausgegeben von

Dr. Arno Mohr Verfasser der Teile sind:

Univ.-Professor Dr. Bernhard Claußen Univ.-Professor Dr. Jürgen W. Falter Dr. Arno Mohr Univ.-Professor Dr. Rainer Prätorius Univ.-Professor Dr. Theo Schiller Univ.-Professor Dr. Manfred G. Schmidt Univ.-Professor Dr. Dr. habil. Arno Waschkuhn Dipl.-Pol. Jürgen Winkler Univ.-Professor Dr. Wichard Woyke

Zweite Auflage

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - dP-Einheitsaufnahme Grundzüge der Politikwissenschaft / hrsg. von Arno Mohr. Verf. der Teile sind: Bernhard Claussen ... - 2. Aufl. - München; Wien : Oldenbourg, 1997 (Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft) ISBN 3-486-24239-3 NE: Mohr, Arno [Hrsg.]; Claussen, Bernhard

© 1997 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldaibourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-24239-3

Vorwort Wenn es zutrifft, daß einem pluralistisch verfaßten Gemeinwesen eine pluralistisch orientierte Politikwissenschaft entspricht, dann dürfte es wohl kaum überraschend sein, daß sich dieser Zusammenhang in der Einführungsliteratur des betreffenden Faches widerspiegeln wird. Die Situation in Deutschland steht hier pars pro toto, und sie ist bemerkenswert genug, um daran zu erinnern: In den vergangenen zehn Jahren sind etwa ebensoviele Bücher erschienen, die als „Einführungen" in den Gesamtbereich der Politikwissenschaft konzipiert waren und den pluralitären Charakter der Disziplin zum Ausdruck bringen. Fügten wir die Zahl der „Einführungen" in die Hauptarbeitsgebiete der Politikwissenschaft (wie Theorie oder Internationale Beziehungen) noch hinzu, wäre das Ergebnis noch beeindruckender. Ein Markt für diese Sorte wissenschaftlicher Literatur scheint demnach zu existieren, und er scheint elastisch und aufnahmefähig genug zu sein, die bestehenden Bedürfnisse von Studenten wie Dozenten gleichermaßen zu befriedigen. Ein gewisses Maß an Polyphonie scheint also gegeben. Wozu dann noch ein weiteres Lehrbuch? Aus der politischen Theorie wissen wir, daß Pluralismus' nicht immer ein Zeichen von Dissoziation und Schwäche sein muß, sondern ein lebensfähiges Potential beinhalten kann, das bestimmte Probleme zu lösen imstande ist. Und der Wissenschaftsgeschichte können wir entnehmen, daß wissenschaftliche Vielfalt nicht immer mit dem Makel von Unreife und mangelnder innerer Geschlossenheit behaftet sein muß, sondern ein Wert an sich sein kann, der die Akzeptanz einer wissenschaftlichen Disziplin zu gewährleisten vermag. Pluralismus' kann ebensosehr ein Indikator für Meinungsvielfalt und Innovation, von Andersartigkeit und Experimentierfreude sein. Ein solcher Zustand eröffnet die Chance, andere Fragehorizonte zu erschließen, andere Perspektiven zu wählen, andere Methoden zu erproben. Auch wenn fairerweise gerne einzuräumen ist, daß ein Rest von Unbefriedigtsein mit der vorliegenden Situation nie ganz zu unterdrücken ist und Intellekt wie Leidenschaft gleichermaßen freigesetzt hat, den Dingen eine andere Richtung zu geben, so muß man nicht gleich in Unbescheidenheit verfallen und so tun, als ob man alles besser machen wolle als die Konkurrenz. Im Gegenteil! Kein Mensch fängt mehr bei Null an, und ohne die Vorarbeiten, ohne die Erfahrungen und Einsichten anderer, aber auch ohne deren Unterlassungen ist gar nichts mehr zu erreichen. Es liegt also in dem Zweck des vorliegenden Werkes, es zunächst nicht besser, sondern anders zu machen. Daraus freilich auch ableiten zu wollen, es sei zufriedenstellender gearbeitet als Vergleichbares, soll dem Urteilsvermögen des Lesers überlassen werden. Was ist nun anders gemacht worden? Vom inhaltlichen Standpunkt aus gesehen blieben die Möglichkeiten, alternative Elemente einzubringen, relativ begrenzt. Es gehört eben zur Standardausrüstung eines Lehrbuches der Politikwissenschaft, daß es einen Einblick in die zentralen Gegenstandsbereiche der Disziplin zu geben vermag. Im vorliegenden Falle handelt es sich um: Methodologie und Theoriebildung; Ideengeschichte; Vergleich politischer Systeme; Mikropolitik; Politische Soziologie; politische Institutionen; Policy Analyse; Internationale Beziehungen. Dem Ganzen vorangestellt ist ein Beitrag über die Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland. Einen Abschnitt über Politische Theorie' aufzunehmen, wie es der fachlichen Systematik angemessen gewesen wäre, hielt der Herausgeber hauptsächlich aus zwei Gründen für entbehrlich: Erstens behandelt bereits der Beitrag von Winkler/Falter

VI

Vorwort

die wissenschaftstheoretische Dimension des Faches. Zweitens war der Herausgeber der Ansicht, es sei der Sache besser gedient, die innertheoretischen Diskussionen in der Politikwissenschaft im Rahmen der einzelnen Teilbereiche präsentieren zu lassen. Von diesem Punkte abgesehen, ähnelt sich die Einführungsliteratur. Davon unberührt bleibt natürlich die .Methode', wie der einzelne Autor sein Thema konzeptionell strukturiert und darstellt. In dieser Hinsicht hielt sich der Herausgeber an die Maxime, dies dem zuständigen Kollegen zu überlassen, was inhaltlich berücksichtigt werden sollte bzw. wo Abstriche gemacht werden konnten, ohne den Kern der Aussagen anzugreifen. Einem eher didaktischen Zweck sollte der formale Rahmen dienen, der jedem Autor vorgegeben war. Er gliedert sich wie folgt: 1. Dem Leser sollte in einer einführenden Skizzierung die Thematik des jeweiligen Beitrages in seiner gesamten Spannweite und mit all der Problematik, die damit verbunden ist, präsentiert werden; ebenso die Prinzipien, nach denen sie behandelt wird. 2. In einem zweiten Schritt war den Autoren aufgegeben darzulegen, wie das jeweilige Gebiet in der Vergangenheit bearbeitet wurde und welchen wissenschaftlichen Wandlungen es unterworfen blieb. 3. Der dritte Teil enthält dann die systematische Darstellung des betreffenden Gegenstandbereiches. 4. Ein vierter Teil weist auf die Forschungsdefizite - Streitfragen - hin, die in dem betreffenden Gebiet zu beobachten sind, sowie auf die Schwierigkeiten, die bei deren Beseitigung aufzutauchen pflegen. 5. Den Abschluß sollte ein kommentiertes Literaturverzeichnis bzw. eine Bibliographie bilden. Der Herausgeber dankt allen Autoren, daß sie bei den Vorbesprechungen diese Art von Schabionisierung des Lehrbuches für zweckmäßig gefunden und sich in der Durchführung auch im großen und ganzen daran gehalten haben. Lediglich in bezug auf die bibliographischen Hinweise mußten Abstriche gemacht und Kompromisse gefunden werden, die hier das einheitliche Gepräge ein wenig beeinträchtigen, aber die durchaus als hinnehmbar werden gelten können. Der didaktische Charakter eines Lehrbuchs sollte auch dadurch unterstrichen werden, daß die Autoren angehalten waren, den entsprechenden Sachverhalt in einer Sprache zu bringen, die sowohl vom Erstsemester als auch vom Examenskandidaten verstanden werden kann, so daß alle Politologie-Studenten sich mit dem Buch und seinen Lehren anfreunden können. Ein Lehrbuch hat die Aufgabe, die sachlichen, theoretischen und vor allem auch die methodisch-handwerklichen Möglichkeiten eines wissenschaftlichen Faches zu bestimmen. Wenn darüber hinaus noch durch die Vermittlungsfunktion des Bandes die intellektuelle Neugier geweckt, der Zweifel in wissenschaftliche Aussagen begründet und die Eigeninitiative in der Aneignung von Wissen gefördert würden, dann wären Autoren wie Herausgeber mehr gelungen, als gemeinhin angestrebt wird. Was den Umfang der einzelnen Beiträge anbelangt, so mag er dem einen oder anderen Leser als zu weitläufig geraten vorkommen. Der Herausgeber war sich durchaus der Tatsache bewußt, daß ihre Lektüre ein nicht geringes Maß an Aufmerksamkeit und einen nicht unbeträchtlichen Aufwand an Zeit verlangt, um mit Gewinn studiert werden zu können. Dem steht seiner Ansicht nach aber der Vorteil gegenüber, daß den Autoren, indem ihnen relativ viel Raum zur Verfügung gestellt worden

Vorwort

VII

sind, die Möglichkeit eröffnet worden ist, gerade auch in einer ,Einführung' einmal das eine oder andere Argument, den einen oder anderen Gedankenzug breiter und eingehender als gewohnt auszuführen, ohne daß eine zu früh aufgerichtete künstliche Barriere sie daran hindert. Der Herausgeber ließ sich zudem durch die Vorstellung leiten, daß das Bestreben, eine in sich abgerundete Produktion der Leserschaft darzubieten, auch wenn sie ausführlicher ausfällt, nachgerade zu fördern war. Der Herausgeber hat Dank zu sagen allen Autoren, die sich an dem Werk beteiligt und sich der Mühe unterzogen haben, neben ihren vielfältigen Verpflichtungen ein größeres Manuskript anzufertigen. Der Herausgeber sagt Dank insbesondere auch jenen Kollegen, die ihren Beitrag relativ zeitig abgeliefert, zum Teil auch überarbeitet haben, für die große Geduld, die sie aufbringen mußten, bis letztlich alles unter Dach und Fach gebracht werden konnte. Große Geduld mußte auch Herr Martin Weigert vom Oldenbourg Verlag aufbringen, bis die Manuskripte vorlagen; nicht zuletzt auch dafür hat der Herausgeber verbindlichst zu danken. Die Gesamtverantwortung für den Band trägt selbstverständlich ausschließlich er selbst. An ihn in erster Linie sollten sich kritische Einwände und Verbesserungsvorschläge richten. Arno Mohr

Inhaltsverzeichnis Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland (Arno Mohr) I. Das Thema II. Geschichtliche Entwicklung III. Die Politikwissenschaft zwischen Bildungs- und Wissenschaftsanspruch (1945-1965) 1. Die Ausgangskonstellation 2. Interessen 3. Aufgabenstellung, Definitionsversuche, Abgrenzungen 4. Studium und Lehre: Ziele und Konzepte IV. Die theoretische Phase (1965-1975) 1. Ausgangslage 2. Die Funktion der Sozialwissenschaften (Soziologie und Politikwissenschaft) 3. „Gesellschaftlichkeit" und Theoriebildung 4. Die binnentheoretische Entwicklung 5. Auswirkungen auf Lehre und Studium V. Politikwissenschaft als Ausbildungsfach (seit Ende der 70er Jahre) 1. Der Status der Theorie 2. Wissenschaftscharakter 3. Das Lehr- und Studienwesen. Die Kontroverse „Bildung oder Ausbildung" 3.1. Ausgangslage 3.2. Fragen der Ausbildung 3.3. Politikwissenschaft und Politische Bildung VI. Politikwissenschaft nach der deutschen Einheit VII. Streitfragen 1. Prognosefähigkeit 2. „Erfolgs-" und Qualitätskontrolle 3. Methodische Ausbildung VIII. Literatur 1. Hinweise 2. Weiterführende Literatur Anhang: Studienpraktische Hinweise

Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre (Jürgen R. Winkler/Jürgen W. Falter) I. Das Thema II. Zur historischen Entwicklung der Forschungsmethodologie A. Die Anfänge der wissenschaftlichen Methodenlehre B. Die „methodologischen Wurzeln" der Politikwissenschaft 1. Empirismus und Rationalismus 2. Empirische Sozialforschung 3. Geisteswissenschaftliche Methoden

1 1 4 13 13 15 16 17 19 19 20 21 25 26 29 29 30 35 36 37 39 40 41 41 42 43 48 48 49 55

65 65 66 66 68 68 70 72

XII

III.

IV.

V.

VI.

Inhaltsverzeichnis

C. Entwicklungen in der neueren Wissenschaftstheorie Literatur Forschungsprozeß und-formen A. Phasen der Politikforschung B. Untersuchungsformen Literatur Zur Analyse und Geltung politikwissenschaftlicher Aussagensysteme . . . . A. Begriffe 1. Begriffsbildung 2. Analyse von Begriffen B. Aussagen 1. Normative, logische und empirische Sätze 2. Eine Einteilung der empirischen Sätze 3. Kriterien zur Beurteilung politikwissenschaftlicher Sätze C. Theorien 1. Theoriebegriff 2. Leistung und Beurteilung von Theorien 3. Erklärung 4. Prognose D. Die Geltung politikwissenschaftlicher Aussagensysteme 1. Begründungen 2. Die Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung 3. Die Überprüfung empirischer Hypothesen 4. Zur Begründung von Norm- und Wertsätzen Literatur Spezielle Methoden der empirischen Politikwissenschaft A. Sozialwissenschaftliche Messungen B. Methoden zur Auswahl der Untersuchungseinheiten C. Methoden der Datengewinnung 1. Beobachtung 2. Befragung 3. Inhaltsanalyse D. Aufbereitung, Analyse und Interpretation der Daten Literatur Streitfragen Literatur

Teil III: Politische Ideengeschichte

74 76 77 77 83 86 87 87 87 89 92 92 93 96 98 98 100 101 104 106 106 110 111 113 115 116 116 120 122 122 124 126 127 131 132 140 143

(Arno Mohr)

I. Das Thema II. Entwicklung der Disziplin III. Begriffs- und Abgrenzungsfragen 1. Allgemeine Überlegungen 2. Philosophiegeschichte 3. Ideengeschichte 4. Geistesgeschichte 5. Theoriegeschichte IV. Kategorien ideengeschichtlicher Erkenntnis 1. Der interdisziplinäre Kontext

143 146 151 151 152 152 154 155 155 155

Inhaltsverzeichnis

V.

VI.

VII.

VIII. IX.

XIII

2. Der Raum 157 3. Die Zeit und die Epochen 157 4. Der Personalismus 159 5. Schriftlichkeit und Mündlichkeit 159 6. Probleme 161 „Klassiker" des politischen Denkens 163 1. Begriff 163 2. Kriterien der Bestimmung 164 3. Das Interesse an den „Klassikern" 164 4. Kanonisierung, Schulenbildung, Epigonentum 166 Der Umgang mit den Texten 168 1. Das Ziel ideengeschichtlicher Erkenntnisgewinnung: Fragen des Verstehens von Texten 168 2. Das Mittel des Sinnverständnisses: Fragen der Interpretation 171 3. Das Material der Interpretation: Editionsfragen 174 3.1. Zur Situation von „Klassiker"-Ausgaben 174 3.2. Geschichte und Begriff der historisch-kritischen Edition 176 3.3. Probleme historisch-kritischer Editionsarbeit 177 3.3.1. Probleme mit der Überlieferungslage 178 3.3.2. Probleme mit den Textsorten 179 3.3.3. Zwischen „Autorisierung" und „Authentizität" 180 Wege des Textverständnisses 181 1. Die textimmanente Interpretation 182 2. Gattungen und Publikum politischer Ideen 184 3. „Text-context" - Diskussion und Konstellationsanalyse x 185 3.1. Der kontextualistische Ansatz: Der „linguistic turn" in der Ideengeschichtsschreibung 185 3.2. Die Konstellationsanalyse: Dieter Henrich 190 4. Das Problem vom „esoterischer" und „exoterischer" Lehre: Die Kunst, „zwischen den Zeilen zu lesen" 191 5. Die soziologisch-historische Analyse 195 5.1. Der Stellenwert der sozialgeschichtlichen Perspektive 195 5.2. Der biographische Gesichtspunkt 196 5.3. Der Aspekt der gesellschaftlichen Determiniertheit von Ideen . . 199 5.4. Materialistische Positionen 203 6. Ideologie, Ideologiekritik und Textverstehen 204 7. Die Perspektive der philosophischen Hermeneutik 207 7.1. Hermeneutische Situation und Rezeptionsgeschichte 207 7.2. Die „Logik von Frage und Antwort" 213 8. Konstruktivismus und Dekonstruktivismus 216 8.1. Konstruktivistische Ideengeschichte 216 8.2. Dekonstruktivismus 218 Epilog I: Korrektes Interpretieren 219 Epilog II: Korrektes Übersetzen 222 Streitfragen 226 1. Gegenstandserweiterung 226 2. Probleme des Materials 227 Literatur 229 1. Hinweise 229 2. Weiterführende Literatur 233

XIV

Inhaltsverzeichnis

Teil IV: Politische Systeme (Arno Waschkuhn) I. Das Thema II. Forschungsgeschichte III. Systematische Darstellung 1. Probleme der Typologisierung von politischen Systemen 2. Liberal-demokratische Systeme 2.1. Großbritannien 2.2. Vereinigte Staaten von Amerika 2.3. Frankreich 2.4. Schweiz 2.5. Bundesrepublik Deutschland 2.6. Zusammenfassung 3. Sozialistische politische Systeme 4. Entwicklungsländer 4.1. Allgemeine Kennzeichen 4.2. Lateinamerika 4.3. NaherOsten 4.4. Asien 4.5. Schwarzafrika 4.6. Entwicklungsländer und demokratische Modernisierung IV. Streitfragen V. Schlußbemerkungen VI. Literatur

237

Teil V: Mikro-und Mesopolitik (Bernhard Claußen) I. Einleitung: Kennzeichnung und Verortung der Mikro- und Mesopolitik . . 1. Problemstellung: Mikro- und Mesopolitik im politikwissenschaftlichen Gesamtzusammenhang 2. Bemerkungen zur historischen Entwicklung: Über die Karriere von mikro- und mesopolitischen Aspekten in der Geschichte politischer Realität und wissenschaftlicher Politikbetrachtung 3. Zur Abbildbarkeit mikro- und mesopolitischer Diskurse: Absichten und Überblick II. Politikwissenschaftlicher Aufriß: Grundlagen, Elemente und Funktionen mikro- und mesopolitischer Theoriebildung 1. Leitende Fragestellungen und Basiskategorien: Ermittlung soziopsychischer Momente des Politischen und ihr begrifflicher Zuschnitt . . 2. Zentrale Forschungsfelder: Variablen(komplexe) der Statik und Bewegung strukturell-institutioneller Dimensionen der Politik 3. Hauptsächliche methodische Zugriffsweisen und Paradigmen: Zentrierung des politischen Subjekts in Theorie und Untersuchungspraxis III. Synopse wichtiger Forschungsleistungen und Diskussionsergebnisse: eine Auswahl und Kombination politikwissenschaftlich und politisch relevanter Aussagenzusammenhänge 1. Individuelles Ausstattungsgefüge als Produkt und Element politischer Realität

327

237 240 245 245 253 253 256 261 265 272 275 276 283 283 286 286 291 294 297 300 306 311

327 329 334 339 344 347 350 354 359 360

Inhaltsverzeichnis

XV

a) Menschliche Bedürfnisse als Triebkräfte der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten: anthropozentrische Gesichtspunkte politischer Pragmatiken, Programme und Utopien 361 b) Grundmuster der politischen Persönlichkeit: Typenvariationen der aktiven und passiven Staatsbürgerrolle 365 c) Individuelle Kompetenzen und Teilhabe an Herrschaft: Grundlagen der Performanz elitärer und egalitärer Politikpraxis. . . 369 2. Intersubjektive Austauschprozesse zwischen Reproduktion und Restitution der Politik 373 a) Individuai- und sozialpsychologische Momente politischen Handelns: intrapersonale und gruppendynamische Faktoren der Meinungsund Willensbildung 373 b) Stimuli und Perzeptionsweisen der (Selbst-)Darstellung von Politik: Aussagenschwerpunkte, stereotype Mechanismen und Wirkungen gesellschaftlicher Interaktion und Kommunikation 376 c) Aufmerksamkeitsneigungen und Wahrnehmungsweisen im politischen Geschehen: Akzeptanz und Ablehnung von Prozessen, Inhalten und Ergebnissen des Interessenausgleichs 381 3. Transferleistungen als politische Prägung und Prägung der Politik . . . . 384 a) Politisierung des Subjekts und Individualisierung der Politik: psychische Konsequenzen gesellschaftlichen Wandels und ihre Rückwirkungen auf die Regierbarkeit 384 b) (Sozial-)Psychologie des politischen Gemeinwesens: Identitätsmuster als Konstituentien von Systemstabilität und -wandel 387 IV. Sozialwissenschaftlich-politische Folgerungen und Aussichten: Streitfragen zur Mikro- und Mesopolitik in Theorie und Praxis 390 1. Hinweise zur Nützlichkeit und zum Mißbrauch mikro- und mesopolitischer Erkenntnisse in Politikwissenschaft und praktischer Politik: Anwendungsbeispiele 391 2. Anmerkungen zu den Grenzen und zum Innovationspotential mikround mesopolitischen Denkens: Perspektiven für die Entwicklung der Demokratie(wissenschaft) 394 V. Annotierte Auswahlbibliographie 397 VI. Literaturverzeichnis 404 Teil VI: Politische Soziologie (Theo

413

Schiller)

I. Kurzübersicht II. Historische Entwicklung III. Allgemeine Grundlagen 1. Problemstellungen und Theorieansätze 1.1. Spezifik und Abgrenzung der politischen Soziologie 1.2. Theorieansätze: erste Orientierung 2. Politik in der Wirkungsspirale der Gesellschaft 2.1. Zwei Grundbegriffe: Herrschaft und Macht 2.2. Gesellschaftliche Strukturen und Politik 2.3. Politik als sozialer Prozeß im politischen System IV. Politische Makrosoziologie: Gesellschaftsstrukturen und politische Ordnungen

413 414 419 419 419 421 424 424 425 428 430

XVI

V.

VI.

VII. VIII.

Inhaltsverzeichnis

1. Anfänge zur Soziologie demokratischer Ordnungen 431 2. Totalitarismusanalyse 432 3. Politische Systeme: Entwicklung, Krisen, Transformation 434 Politische Soziologie westlicher Demokratie 437 1. „Soziologie der Demokratie" 439 2. Öffentlicher Handlungsraum und politische Kommunikation 443 3. Politischer Wettbewerb, Parteien und Wahlen 447 a) Typologien 447 b) Soziale Basis 448 c) Organisationstypus 450 d) Politische Ziel-, Macht- und Funktionsperspektive 451 e) Parteien und die Konkurrenzbedingungen des Parteinsystems . . . 452 4. Interessenvermittlung 454 a) Akteure der Interessenvermittlung 455 b) Konstellationen der Interessenvermittlung 458 c) Erklärungsansätze für Entwicklungstendenzen der Interessenvermittlung 460 5. Querverweis: Individuelle Orientierungen und Verhaltensmuster . . . 463 6. Macht- und Elitenstrukturen in der Demokratie 465 a) Konzepte und Entwicklungen 465 b) Elitenstrukturen in Deutschland 467 Gesellschaftliche Wirkungen der Politik 469 1. Politische Steuerung 470 2. Nicht-intendierte Folgen der Politik 470 3. Legitimation 471 4. Herrschaft? 472 Kommentierte Bibliographie 474 Literaturverzeichnis 477

Teil VII: Institutionen und Regierungsprozeß (Rainer

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.

487

Prätorius)

Annäherung an das Thema Wissenschaftshistorische Aspekte Verfassung und politisches Institutionengefüge Der Föderalismus Die Exekutive Die Legislative v Die Judikative Bewertung, Ausblick, Forschungsperspektiven Literaturhinweise zur Einführung

Teil VIII: Policy-Analyse

487 492 500 514 527 537 551 562 565

567

(Manfred G. Schmidt)

I. Das Thema II. Historische Entwicklung der Policy-Forschung III. Systematische Darstellung des Fachgebietes 1. Grundbegriffe der Policy-Forschung

567 570 572 573

Inhaltsverzeichnis

2. Schulen der Policy-Forschung 2.1. Die sozioôkonomische und politisch-ökonomische Schule der Policy-Forschung 2.2. Theorie gesellschaftlicher Interessen 2.3. Machterwerb-und Wiederwahlinteresse-Theorie 2.4. Parteiendifferenz-Theorie 2.5. Die Theorie der politisch-institutionellen Bedingungen der Politikformulierung 2.6. Implementations-Schule 2.7. Besondere Stärken und Schwächen der Schulen der Policy-Forschung 3. Kontroversen in der Policy-Forschung: am Beispiel der „Do parties matter"-Debatte IV. Stärken und Schwächen der Policy-Forschung V. Literatur 1. Kommentierte Bibliographie 1.1. Zur Einführung 1.2. Entwicklung der Policy-Forschung 1.3. Neuerer Forschungsstand nach Politikfeldern 2. Literaturverzeichnis Teil IX: Internationale Beziehungen (Wichard

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Woyke)

1. Kurze Einführung in die Problematik 605 2. Zur Geschichte der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen . . . 607 3. Zu einigen Standardbegriffen 615 3.1. Internationale Beziehungen 615 3.2. Internationale Politik 615 3.3. Transnationale Politik 615 3.4. Außenpolitik 616 3.5. Souveränität 617 3.6. Supranationalität 617 3.7. Machtpolitik 618 3.8. Krieg und Frieden 619 4. Genese, Strukturen, Akteure und Prozesse des internationalen Systems . . . 620 4.1. Grundstrukturen 620 4.2. National- und Territorialstaaten als maßgebliche Elemente des internationalen Systems 621 4.3. Die Globalisierung der internationalen Politik 625 4.3.1. Die Globalisierung im Transport- und Kommunikationswesen und in der Bevölkerungsentwicklung 625 4.3.2. Die Globalisierung in der Ökonomie 626 4.3.3. Die Globalisierung im Militärbereich 628 4.4. Internationale Organisationen als Steuerungsakteure internationaler Politik 631 4.5. Prozesse im internationalen System 633 4.5.1. Der Ost-West-Konflikt 633 4.5.2. Entwicklung 633 4.6. Abrüstung, Rüstungskontrolle und -begrenzung 635

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Inhaltsverzeichnis

4.6.1. Zur Geschichte von Abrüstung und Rüstungskontrolle 4.6.2. SALT/START Strategie Arms Limitation Talks/Strategie Arms Reduction Talks 4.6.3. Die INF-Verhandlungen 4.6.4. Mutual Balanced-Forces Reduction Talks (MBFR) und VKSE Gespräche über beiderseitige und ausgewogene Truppenreduzierungen 4.6.5. KSZE/OSZE/KVAE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa/Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa/Konferenz über Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa . . . . Inhalte der KSZE-Schlußakte 4.7. Der Nord-Süd-Konflikt - die bestimmende Konfliktfigur im internationalen System 4.8. Steuerungsorgane und Institutionalisierung internationaler Zusammenarbeit 4.8.1. Die Vereinten Nationen a) Gründung b) Zielsetzung c) Organisationsstruktur d) Entwicklung 4.8.2. Die Europäische Gemeinschaft/Europäische Union a) Die Vertiefung EG-Europas - die Europäische Union Die Wirtschafts- und Währungsunion Bewertung b) EU in den 90er Jahren 4.9. Mittel internationaler Zusammenarbeit 4.9.1. Internationales Recht 4.9.2. Diplomatie 5. Schwachpunkte der Forschung 6. Literaturverzeichnis

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland (Arno Mohr)

I. Das Thema Die Aufgabe, die hier gestellt ist, besteht darin, das Fach Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in seinen Grundzügen zu präsentieren und auf seine Grundprobleme hinzuweisen. Wie aber den Einstieg wählen, ohne gleich den Leser mit blutleeren Definitionen und abstrakten Begriffsbestimmungen zu verschrecken? Man muß nicht lange mit sich zu Rate gehen, um zu sehen, daß einem die treffende Aussage eines Klassikers meist zur Seite springt, wenn man in Verlegenheit ist. Sie verkörpert Anschaulichkeit und Autorität, zwei wesentliche Elemente pädagogischer Unterweisung, in einem. Im vorliegenden Falle ist es ein Zitat aus Thomas Hobbes' Werk De corpore, veröffentlicht im Jahre 1655, das das Anliegen, um das es hier zu tun ist, benennen und illustrieren soll: „Der Bürgerkrieg ist daher nur möglich, weil man die Ursachen weder von Krieg noch von Frieden kennt; denn nur sehr wenige gibt es, die die Pflichten, durch welche der Friede Festigkeit gewinnt und erhalten wird, d. h. die wahren Gesetze des bürgerlichen Lebens studiert haben. Die Erkenntnis dieser Gesetze ist die Moralphilosophie. Weshalb aber hat man diese nicht studiert, wenn nicht aus dem Grunde, weil es bisher hierfür keine klare und exakte Methode gab?" (S. 10). Es war ganz offensichtlich das Trauma der Konfessionskriege, die Europa im 16. und 17. Jahrhundert auf so schreckliche Weise heimgesucht hatten, das Hobbes dazu brachte, mit allem bisherigen theologischen und metaphysischen Buchwissen, das das vormoderne Philosophieren auszeichnete, zu brechen und die Moralphilosophie allein nach den Regeln der Vernunft unter vollständiger Ausnutzung ihrer Fähigkeiten auf eine feste, nicht mehr erschütterbare Grundlage zu stellen. Hobbes hatte sich Descartes' Methode der Demonstration (demonstratio) zu eigen gemacht, des klaren Aufzeigens der Wechselbeziehung von Ursache und Wirkung, nach der diese aufgrund schrittweiser Deduktionen „bewiesen", während die Existenz der Ursache durch ihre Wirkung festgestellt wird. Wer diesen cartesianischen Hintergrund beim Studium der Hobbesschen Schriften im Auge behält, der wird ermessen können - und das ist das eigentlich Interessante, warum Hobbes hier zitiert worden ist - , mit welch einer Selbstgewißheit dieser Theoretiker seine Prämissen und Deduktionen entwikkelt hat. Das neue rationalistische Denken soll sich durch Exaktheit, Gesetzmäßigkeit, Regelmäßigkeit und Klarheit als seine wichtigsten Elemente auszeichnen und seine Unzweideutigkeit auf allen Stufen seiner Entfaltung und der Definition unter Beweis stellen. Für uns Heutige rätselvoll und faszinierend zugleich ist das Abgezirkelte dieses Denkens, und Hobbes selbst gibt im Leviathan, seiner folgenreichsten Schrift, eine eindrucksvolle Herleitung der ratio als Tätigkeit der Vernunft aus den Rechnungen, den rationes, und der Zusammenfassung (Ausrechnung), der ratiocinatio, der Schlußfolgerung, wie wir heute sagen würden, die sich aus den Operationen von Addition oder Subtraktion ergibt. So würde man im ersteren Falle zu den einfachsten Prinzipien vorstoßen, auch in der Politik: Die Summierung aller Einzelwillen ergibt so den einen Willen, den des staatlichen Souveräns. Für wertvolle Hilfe danke ich Bernd Platzdasch und Horst Schmitt.

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

Seit den Forderungen Hobbes' blieb das Reflektieren über Staat, bürgerliche Gesellschaft und Politik mannigfaltigen Wandlungen, Brüchen und Verzweigungen unterworfen, bis dieser Sachbereich nach einem langen und recht wechselhaft verlaufenden Prozeß der Umformung, Spezialisierung Und Ausdifferenzierung in der Politikwissenschaft, wie sie heute betrieben wird, offensichtlich seinen angestammten Platz gefunden hat. Doch wenn auch nur oberflächlich die Theorien, Ansätze, Konzepte oder Methoden dieser Disziplin in Augenschein genommen werden, so fehlt gänzlich der Optimismus, die Zuversicht, die Unbekümmertheit des Hobbesschen Impulses, aus einem Guß ein System oder ein Lehrgebäude der Politik zu errichten, das aus einigen wenigen Prinzipien seinen Ausgang nimmt. Zweifelsohne ist uns das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit, seit einer Reihe von Jahren auch in den Nutzen des neuzeitlichen Wissenschafts Verständnisses, welche gleichsam Unbestreitbarkeit suggerieren, abhanden gekommen. Wer die Forderungen des rationalistischen Denkens als Anmaßung empfindet und wem das gewählte Beispiel als zu weit hergeholt erscheint, der möge doch z. B. einen Blick in das neuaufgelegte Handbuch der Dritten Welt werfen. Da wird man ernüchtert feststellen müssen, daß nicht einmal eine zufriedenstellende Definition des Zentralbegriffs „Dritte Welt" gegeben worden ist. Dies aber nicht deshalb, weil die Autoren über mangelnde Kompetenz verfügten oder etwa nachlässig vorgingen. Es lag ganz einfach in der Sache selbst. Wir sind weitaus bescheidener geworden. Bescheiden, illusionslos zumal, was den Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse hinsichtlich der Aufgabe, politische Gewalt zu vermeiden, angeht, oder gegenüber der praktikablen und zielstrebigen Lösung politischer Probleme und Mißstände; aber auch bescheiden in bezug auf die internen Probleme der Wissenschaft selbst. Zwar haben sich mehrere Generationen von Wissenschaftlern bis auf den heutigen Tag in ihrem Bemühen nicht davon abhalten lassen, die politischen Vorgänge, Verhaltensweisen und Zustände mittels Verfeinerung bekannter bzw. mittels Entwicklung neuer Methoden zu erklären und gegebenenfalls mit überzeugenden Prognosen aufzuwarten. Doch hat sich rasch gezeigt, daß sich die Phänomene der Poütik, ihre Abläufe, Erscheinungsformen, ihre rationalen und irrationalen Momente, als zu diffus und zu amorph erwiesen, die politischen Prozesse als zu dynamisch und zu schnellebig, als daß sie sich in einer eindeutigen Begrifflichkeit fassen lassen konnten. Es sind gerade die zentralen Begriffe der politischen Theorie wie „Legitimität", „Macht", „Herrschaft", „Autorität", „politisches System", „Repräsentation" und andere, die hinsichtlich ihres Gebrauchs in der praktischen Forschung immer wieder neu bestimmt und gewichtet werden müssen. Gemessen an dem Erfahrungsschatz, den wir auf dem Gebiet der Politik besitzen, scheint sich dieser Bereich einem kontrollierten Zugriff immer wieder zu entziehen. Das mag auch darauf zurückzuführen sein, daß immer mehr Gegenstände in das Blickfeld der politikwissenschaftlichen Forschung geraten. Nichts erscheint hier als gesichert und auf festem Grund zu stehen, alles im Fluß sich zu befinden. Die Geschwindigkeit, mit der die Begriffe und Theorien gegen andere ausgetauscht werden, nimmt rasant zu, und die zeitlichen Intervalle, innerhalb derer dies geschieht, werden immer kleiner. Die Dynamik des wissenschaftlichen Wachstums und des wissenschaftlichen Wandels hat exponentielle Formen angenommen und scheint kaum mehr in geordneten Bahnen und überschaubar zu verlaufen. Überhaupt hat der Begriff des „Fortschritts" in der Wissenschaft seine einstmals prägende und stimulierende Kraft verloren, weil man sich nicht mehr sicher zu sein scheint, was als „fortschrittlich" bzw. was als „überwunden" zu gelten habe. Ein treffendes Beispiel dafür bietet das Schicksal der Institutionslehre: Über Jahrzehnte hinweg sozusagen

I. Das Thema

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das Herzstück der Politikwissenschaft und über jeden Zweifel erhaben, ist sie in den 70er Jahren als Forschungsfeld verpönt gewesen, um in den 80er Jahren wie ein Phönix aus der Asche emporzusteigen und zu neuer ungeahnter Blüte zu gelangen. Auch der Staat, lange als ,nicht gesellschaftsfähig' stigmatisiert und an den Rand von Forschung und Lehre gedrängt, ist neuerdings als Analyseeinheit zurückgewonnen worden. Tempo und Richtung der Forschung bestimmen sich vielfach nach der jeweils gewählten Fragestellung. Persönliche Überzeugungen, Einstellungen, Interessen, Wertmaßstäbe und Vorlieben - man mag sich gegen deren Einwirkung wappnen wie man will - spielen hier hinein und erhalten bestimmenden Charakter in der Forschungsprojektion. Vieles hat dabei seinen Grund in nationalen Besonderheiten und Beschränkungen, in Mentalitäten, in den Ausprägungen der verschiedenartigen politischen Kulturen. So entwickeln sich im Rücken eines gleichsam ungeteilten' rationalistischen Bewußtseins unterschiedliche Denkstile und Denkgewohnheiten, die stark an die jeweiligen Traditionszusammenhänge gebunden bleiben. Ein weiteres Moment macht die Sache nicht einfacher: Die Produktion von wissenschaftlichem Wissen hat sich seit dem 19. Jahrhundert den Regulativen von Rationalisierung, Bürokratisierung, Technisierung und Effektuierung unterworfen. Insoweit erscheint das Wissenschaftssystem als ein ungefähres Spiegelbild der allgemeinen gesellschaftlich-politischen Entwicklung der industriellen Welt. Wissen entsteht nicht mehr - wie zu Hobbes' Zeiten - primär in den Köpfen einzelner Denker, die zwar in ständigem Kontakt miteinander standen und ihre Standpunkte, Lehrmeinungen und Ideen austauschen konnten, aber kaum die Möglichkeit besaßen, sich im Rahmen des bestehenden Universitätssystems zu organisieren. Es erscheint nun als Ergebnis institutionalisierter Strukturen und Mechanismen. Die strenge Beachtung innerdisziplinärer Normen und Konventionen wird zu einem nicht zu unterschätzenden Maßstab von wissenschaftlicher Kompetenz und Anerkennung. Die Frage nach der Steuerung der Wissenschaften hat durchaus ihre Berechtigung. Ferner taucht neuerdings vermehrt die Frage nach dem Wozu von Politikwissenschaft auf, besonders hier in Deutschland: Was kann man von dieser Wissenschaft erwarten? Was soll sie tun, um den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen? Ist es überhaupt gerechtfertigt, sich „von außen" fordern zu lassen? In Amerika haben bereits in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts pragmatisch und verantwortungsvoll denkende Sozialwissenschaftler im Zeichen der atemberaubenden Zunahme von Daten und Kenntnissen über das soziale und politische Geschehen und im Gefolge ausufernder Theorie- und Methodendebatten die Frage Knowledge for what? aufgeworfen, um so über den Sinn ihres Tuns zu reflektieren und darüber eine, wie sie meinten, überfällige Debatte anzustrengen. Robert Lynd fragte damals: „A Student may sit through an entire year of admirably analytic lectures on the structure and functioning of an important current institution... without the lecturer's once raising the direct question: What do we human beings want this particular institutionalcomplex to do for u s . . . " (Lynd 129). Die damalige Fragestellung zielte auf eine stärkere Praxisbezogenheit der Sozialwissenschaften ab. Das ist auch das Bestreben der Politikwissenschaft in Deutschland; doch scheint es eine deutsche Spezialität zu sein, daß die Intensität der Infragestellung von Zeit zu Zeit Dimensionen annimmt, die eher das Gegenteil von dem bewirken, was angestrebt wird: eine klärende Positionsbestimmung. M a n kann einwenden - wie dies der Kritische Rationalismus getan hat - , daß es doch gar nicht notwendig sei, sich auf eine selbstquälerische Auseinandersetzung um die Ziele und Erkenntnisweisen der Politikwissenschaft einzulassen, die doch nur von

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

den wirklich wichtigen Problemen ablenke. Man könne doch zu zuverlässigen und ausreichend begründeten Theorien und Resultaten gelangen, wenn man bereit sei, dem rationalistischen - und auch von Empiristen geteilten - Dogma der Gewißheit als erkenntnisleitendem Prinzip und seiner Gleichsetzung mit Wahrheit abzuschwören und als echte Alternative dagegen das Prinzip der Ungewißheit zu stellen, das nur Näherungswerte hinsichtlich der „wahren" Erfassung von Wirklichkeit zulasse (so Hans Albert, Traktat, 35ff.). Doch konsequent durchgeführt, scheint dieses Prinzip eines stringenten Fallibilismus den Geburtsfehler aufzuweisen, die Potentiale der Vernunft gleichsam unter Wert zu verkaufen und durch seinen permanenten Kritizismus nolens volens dem Agnostizismus Tür und Tor zu öffnen. Denn immerhin bleibt die Kritik als entscheidendes Organon dieser wissenschaftlichen Haltung nicht nur geistesgeschichtlich, sondern auch erkenntnistheoretisch an Vernunft rückgekoppelt und ohne diese anthropologisch bestimmte Basis gar nicht vorstellbar. Daß der von Albert unterstellte Universalismus der kritischen Methode selbst wiederum Züge eines Dogmas annehmen kann, kann hier nur erwähnt, nicht aber näher expliziert werden. Die Rede von der Skepsis gegenüber der Frage, ob eine Disziplin wie die Politikwissenschaft zu ausreichend begründeten Theorien und gehaltvollen Ergebnissen gelangen könne, kann natürlich selbst wieder als ein in verhüllter Form auftretender Agnostizismus verstanden werden, welcher den Anschein zu erwecken sucht, als ob in diesem Fache nur subjektivistisch gefärbte Willkür und voluntaristisch bestimmte Entscheidung über die zu treffenden Kriterien wissenschaftlicher Tätigkeit am Platze seien. Natürlich wissen wir eine ganze Menge über die verschiedenartigsten und kompliziertesten politischen Zusammenhänge. In erheblichem Maße haben wir das nicht zuletzt der Politikwissenschaft zu verdanken. Keine demokratische Gesellschaft kann sich eine Wissenschaft leisten, die nichts zu sagen hat. Nur diktatorische Regime und Bananenrepubliken halten sich ihre Wissenschaftler, die wie Leibeigene nur das ermitteln, was genehm ist. Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Aufgabe der Politikwissenschaft ungleich schwieriger ist als diejenige manch anderer Sozial-, Kultur- oder Geisteswissenschaft. Hier versuchen wir das Dilemma dadurch zu umgehen, daß wir die Probleme des Faches im Rahmen einer Darstellung seiner historischen Entwicklung in der Bundesrepublik behandeln wollen. Damit soll aber keineswegs behauptet werden, daß der historische Zugang zu dieser Thematik eine privilegierte epistemologische Position besitzt. Es ist nichts anderes als eine Art ad-hoc-Strategie, welche helfen soll, den Leser mit einer nicht unproblematischen Materie vertraut zu machen. Dabei soll versucht werden, den Bereich „Lehre, Studium und Ausbildung" dort, wo dies angebracht erscheint, stärker hervorzuheben.

II. Geschichtliche Entwicklung Daß es überhaupt möglich ist, über die politischen Dinge, über die Natur der Politik und des Politischen nachzudenken, und dies auch noch in begrifflicher Form, verdanken wir den sog. Vorsokratikern, einer Gruppe von Denkern, die, wie der Name sagt, vor der klassischen Periode der griechischen Philosophie, verkörpert durch Sokrates, Piaton und Aristoteles, wirkten. Sie waren zwar in erster Linie Naturphilosophen; sie schufen jedoch die Voraussetzungen des abstrakten Denkens, ohne das es kein wissenschaftliches Bemühen, keine Möglichkeit der Erkennbarkeit von Natur und Mensch geben kann. Der bedeutende englische Altphilologe J. Burnet

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hat sogar in der ionischen Naturphilosophie das „Marathon" des geistigen Lebens Europas zu sehen gemeint, die Rettung Europas vor dem Geist des Orients. Das ist sicherlich übertrieben. Man kann die Vorstellungen der ionischen Philosophen über die Zusammenhänge der Welt keineswegs umstandslos auf die Ideale und Motive der neuzeitlichen-Wissenschaftsauffassung beziehen und ihnen einen unmittelbaren konstitutiven Vorläuferstatus zumessen: Dazu fehlte diesem ursprünglichen Denken jegliche Vorstellung experimentellen Arbeitens, das doch das neuzeitliche Denken wesentlich auszeichnet; dazu ist dieses Denken noch zu sehr mit dem Kosmos der mythischen Götterwelt verwoben, die eher den Charakter einer rationalisierten Säkulartheologie aufweist (dazu Stenzel und Cornford). Es gibt historische Umbrüche in der Entwicklung des Denkens; das ändert aber nichts an den Grundmotiven und Zielsetzungen, die der europäischen Wissenschaftsentwicklung über die Jahrhunderte hinweg ein einheitliches Gepräge verleihen, waren auch die Einstellungen dazu und die methodischen Zugangsweisen vielfachen Umbildungs- und Erneuerungsprozessen unterworfen. Piaton und Aristoteles nannten die Vorsokratiker die archaioi, also diejenigen, die nach den archai, den Ursprüngen und Grundprinzipien allen Seins, suchten. Dieses neue Denken als Fragen nach Grund und Wesen der Dinge und Phänomene setzt ein, als sich der Horizont der Erfahrungswelt der Griechen zu erweitern beginnt und ein Zustand eintritt, der die Deutungskraft der archaischen Mythen übersteigt. Das Wissen geht nun darauf hinaus, daß man erkennen will, was hinter den Phänomenen liegt, um, so paradox dies klingen mag, die Dinge, die einen umgeben und mit denen man zu tun hat, besser begreifen zu können. In diesem Fragen liegt das Vermögen dessen, was wir „Vernunft" nennen. Hier wird ein Weg beschritten, der den Menschen in den Stand setzt, sich über die Phänomene, das „Sich-Zeigende", zureichend zu verständigen. Darüber hinaus drückt sich im neuen Denken das Verlangen aus, es nicht mit Behauptungen über die Zusammenhänge bewenden zu lassen, sondern darüber auch Rechenschaft abzulegen, ihnen auch einen Grund zu geben. In dieser Haltung offenbart sich das, was dann später mit „rational", „Rationalität" eine nähere Kennzeichnung und Untersuchung erfährt. Dieses anfängliche Denken gründet zunächst im Staunen (thaumazein); ein Zustand der Verwunderung, der Verlegenheit, ja Ausweglosigkeit, in Unkenntnis zu sein, beginnt sich einzustellen, also das, was wir Aporie nennen würden. Es ist Aristoteles gewesen, der im ersten Buch seiner Metaphysik (A 282b) diesen elementaren Vorgang in der Entwicklung des Denkens auf den Begriff gebracht hat: „Weil sie (die Vorsokratiker, A. M.) sich nämlich wunderten, haben die Menschen zuerst wie jetzt noch zu philosophieren begonnen; sie wunderten sich anfangs über das Unerklärliche, das ihnen entgegentrat. Allmählich machten sie auf diese Weise Fortschritte und stellten sich über Größeres F r a g e n . . . Der jedoch, der voller Fragen ist und sich wundert, vermeint in Unkenntnis zu sein." So läßt sich auch das Wort philosophia genauer fassen: nicht ,Liebe zur Weisheit', wie herkömmlicherweise angenommen wird, sondern ,Aneignen von Wissen'. Der wahre Philosoph ist derjenige, der sich nicht mit dem begnügt, was ihm vorgesetzt wird, sondern er macht sich selbst auf den Weg zu diesem Wissen. Dieses Grundanliegen der vorsokratischen Philosophie, nämlich nach dem Wesen der Dinge zu fragen, setzte freilich Veränderungen im Sprachgebrauch voraus. Eine dieser wesentlichen Voraussetzungen war die Fähigkeit, Abstrakta zu bilden, was seinerseits wiederum die ,Entdeckung' des bestimmten Artikels voraussetzte. Erst diese folgenreiche Wandlung im Gebrauch der Sprache erlaubte die Substantivierung von Adjektiven und Verben, welche den Bereich der

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

Unmittelbarkeit der wahrgenommenen Welt überstieg und zur Bildung von Begriffen führte, die von punktuellen Bezeichnungen wegführen und Verallgemeinerungen erlaubten. Das Denken begnügte sich nun nicht mehr damit, nach dem „gerechten" Menschen, dem „guten" Menschen in seiner je und je spezifischen konkreten Gestalt zu fragen, sondern es weitete sich aus in der Weise, daß nun „das Gerechte" an sich, „das Gute" an sich usw. als abstrakte Bestimmungen in den Blick kamen und eingehend befragt und untersucht werden konnten. Ähnlich verhielt es sich mit dem Bedeutungswandel von Verben, die ein geistiges Bemühen ausdrücken wollen, wie „wissen" und „erkennen": Es handelt sich hier um Wörter, die ursprünglich allein dem Bereich der sinnlichen Wahrnehmung angehörten. So konnten sich die zentralen Begriffe, Kategorien und Artikulationsmodi ausbilden, ohne die die Entwicklung der abendländischen Wissenschaft nicht verstanden werden kann, trotz aller Brüche und Umformungen, denen sie unterlag: Geist, Erkennen, Wissenschaft, Idee, Theorie, Methode, Form, Materie, Empirie, Gerechtigkeit, Wohlbefinden usw. Diese neue Erkenntnishaltung des Sich-Vergewisserns und des Sich-RechenschaftGebens über das noch Unbekannte treffen wir auch in der Geschichtsschreibung an. Das ist insofern bedeutungsvoll, als hier das Empirische stärker ins Spiel kommt, das Gegebene, das erkundet und aufgezeichnet werden soll. Heri>dot übernimmt das Altüberlieferte in den mythischen Berichten nicht mehr so ohne weiteres, er vertraut nicht mehr dem, was die Leute erzählen; sondern er vergewissert sich selbst, ob das ihm Mitgeteilte auch der Wahrheit entspricht. Er verhält sich ,kritisch' zu seinen Quellen.,Kritik' und,Skepsis' als Grundzüge wissenschaftlicher Erkenntnis kommen hier andeutungsweise zur Geltung. Noch entschiedener findet man dies bei Thukydides, dem Historiker des Peleponnesischen Krieges. Aber der geht noch weiter. Ähnlich wie den Vorsokratikern geht es ihm um Erkennen der Gründe und Ursachen. Nur daß es bei Thukydides nicht die arche, sondern die aitia, die Ursache, ist, die sein Interesse hervorruft. Aitia heißt eigentlich aber,Schuld',,Vorwurf'. Thukydides zieht daraus den Schluß, daß, wenn man den Schuldigen einer kriegerischen Auseinandersetzung identifiziert habe, man auch die Ursache der Kriegsentstehung ausfindig machen könne. Auch hier, wie bei den Ioniern, ist es die aletheia, das Eigentliche', der erga, der Werke, des Realitätsgehalts selbst, das es hervorzubringen gilt. Aber was ist die ,Wahrheit der Werke'? Die Grundsituation des Geschichtlichen schlechthin: das Streben nach Macht (dazu Schadewaldt, Geschichtsschreibung, 266ff.). ,Macht' ist einer der Grundbegriffe der Politikwissenschaft, nicht wenige meinen: ihr Zentralbegriff. Wer die Frage nach der Macht stellt, fragt, auch heute noch, immer nach dem, was hinter den Phänomenen liegt. Die geistesgeschichtlichen Grundlagen der Frage Carl Schmitts - Wer entscheidet in der Politik? - liegen bei Thukydides. War es bei den ersten Philosophen das Staunen, das das Fragen motivierte, so war es bei Descartes der methodische Zweifel, der ihn zum Wegbereiter einer neuen Sicht der Dinge, des Rationalismus, werden ließ, einer Art des Denkens, welche sich gegen den Dogmatismus und die spitzfindigen und verstiegenen Disputationen der mittelalterlichen Gelehrten weit richtete. Für ihn war das Potential der menschlichen Vernunft offenbar grenzenlos, Gewißheit und Klarheit über Gott und die Welt zu erlangen. Indem er Geist und Körper, res cogitans und res extensa, radikal voneinander trennte, bewegte sich Descartes von der Überzeugung der den Griechen und dem Mittelalter geläufig gewesenen Identität von Denken und Sein entscheidend fort. Descartes' Methode ist die der Deduktion, der Rückführung von Sätzen auf einfache Prinzipien, denen er den Rang von Grundwahrheiten zuspricht. Ist das cartesianische Denken geradezu durch die Gegensätzlichkeit von Geist und Materie und" den

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Glauben an die Vollkommenheit der Vernunft bestimmt, so nimmt der ebenfalls im 17. Jahrhundert aufkommende Empirismus eher eine mittlere Position ein, d. h. eine Position, welche die hochfliegenden Ansprüche, die der Rationalismus an das Vermögen des menschlichen Geistes stellt, als unnatürlich ansieht. Auch der Empirismus ist auf Gewißheit und Klarheit in der Gewinnung von Erkenntnis aus; aber im Gegensatz zur rationalistischen Philosophie entschlägt er sich der Vermessenheit, alles aus Vernunftgründen erklären zu können. Irrtümer sind nicht ausgeschlossen. Sein Ausgangspunkt ist die Erfahrung oder besser: das zuerst durch die Sinne unmittelbar Erfahrbare. Mittels der Methode der Induktion, die von der Analyse des Einzelfalles ausgeht, sucht der Empirismus zu generalisierenden Aussagen zu gelangen. So führt der Weg der Wissenschaft von der Einzelbeobachtung zu Gesetzesaussagen. Experiment und kontrollierte Protokollierung der gemachten Beobachtungen zählen zu den essentiellen Bestandteilen des induktiven Verfahrens. Das Ziel des Empirismus, wie ihn der Engländer Francis Bacon begründet hat, ist freilich weitergehend: Es richtet sich auf Beherrschung der Natur, auf den Eingriff des Menschen in deren Abläufe, um seine Lebensumstände zu verbessern. Dahinter verbirgt sich der Gedanke der Möglichkeit, bestimmte Ereignisse vorauszusagen, die später etwa auch David Hume für die Moralwissenschaften geltend zu machen hoffte. Doch war es gerade Hume, der zunehmend daran zweifelte, aus Vernunftgründen zu Erkenntnissen zu gelangen, und der so zum Skeptiker werden sollte. Erst Kant war es vorbehalten, durch seine Theorie der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori sowohl die dominierende Schulmetaphysik als auch den Skeptizismus Humes zu überwinden und somit die Wissenschaftswürdigkeit der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften wieder zur Geltung zu bringen. Danach beruht alle Erkenntnis auf empirischen Gegebenheiten; doch sind die Anschauungsformen von Raum und Zeit sowie die Kategorien des Verstandes bereits vorstrukturiert. Die Erkennbarkeit der Gegenstände richtet sich nach den Möglichkeiten und den Kategorien des Verstandes. So hat das Denken bis Kant eine Entwicklung genommen, welche im wesentlichen bereits alles das enthält, was seither unsere Auffassung von wissenschaftlicher Erkenntnis auszeichnet: Das Erkenntnisproblem offenbart sich uns nunmehr in den bekannten Begriffspaaren wie Subjekt und Objekt, Idee und Materie, Ganzes und Einzelnes, Individuelles und Universelles, Allgemeines und Besonderes, Theorie und Empirie. Daran hat auch die kühne Forderung des deutschen Idealismus, der an Kant anknüpfte, ihn aber überwinden wollte, nichts geändert, die ursprüngliche Identität von Denken und Sein philosophisch wiederherzustellen und systematisch neu zu begründen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften waren und sind dazu ,verurteilt', ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht, stets beides in den Blick zu nehmen, die Totalität und das Kontingente, das Abstrakte und das Konkrete etc. Das ist der Zug des Denkens, und so hat man ihn sich vorzustellen. Die Grundlagen der Methoden der Deduktion und vor allem der Induktion waren geschaffen. Gerade letztere, die doch in den Naturwissenschaften wahre Triumphe feierte, wurde nun auch, beeinflußt vor allem durch das Werk John St. Mills Mitte des 19. Jahrhunderts, als das spezifische Verfahren der moralsciences (d.h. der Geisteswissenschaften) bestimmt. Ferner war es insbesondere die Leistung Kants, das Moment der Kritik als ein Wesenselement vernünftigen Denkens und einer betont wissenschaftlichen Haltung in den Vordergrund zu rücken. Dies drückt sich schon im Titel seiner drei Hauptwerke aus: Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788), Kritik der Urteilskraft (1790). Kants „Kritik" ist

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Metaphysikkritik, aber eine Art von Kritik, die sich zur Maxime setzt, die Grundlagen und Begriffe des Denkens und der Vernunft zu überprüfen und nicht unbefragt hinzunehmen, sich Rechenschaft darüber zu verschaffen und nicht in einen Dogmatismus gleich welcher Provenienz zu verfallen. „Kritik" wird von nun an zu einem bewegenden Prinzip vernunftgeleiteten Denkens, ob nun als Metaphysikkritik, als historische Textkritik, als Gesellschaftskritik, als Ideologiekritik, als Hypothesenund Theoriekritik. Aber es gibt noch etwas anderes, was unser Denken von den Griechen übernommen hat. Diese beließen es nicht einfach dabei, abstrakte Begriffe zu bilden. Sie versuchten, diese auch in einen Zusammenhang zu bringen, so etwas zu schaffen, was wir heute etwa mit dem Ausdruck „Kohärenz" wiedergeben würden. Es läßt sich sagen, daß das Denken von den Ursprüngen her auf Ordnung angelegt war. Das griechische Wort dafür ist kosmos, das zunächst einen instrumentellen Stellenwert besaß: Heeresordnung, Ordnung der Polis und später Ordnung der Welt als Ganzer: Ordnung in der Natur, in der menschlichen Seele, in der menschlichen Gemeinschaft. In allem bezeichnet „Ordnung" aber mehr als eine faktische Gegebenheit. Es ist eher im Sinne eines Modells zu denken, welches die Einheitlichkeit und das Mit- und Ineinanderverwobensein der Dinge demonstrieren soll. Das Modell stellte gewissermaßen eine Vorlage, eine Anleitung für die Gestaltung der Erkenntnis dar. Das Denken und Konstruieren in Modellen hat sich über die Jahrhunderte erhalten und ist ein bestimmendes Signum der modernen Wissenschaftsauffassung geblieben. Die sog. „Ökonomische Theorie der Politik" lebt geradezu von Modellen. Nur sagen wir nicht immer „Modell", sondern „Theorie", und es ist unser Bestreben, nicht nur eine Adäquanz zwischen Daten und Theorie herzustellen, sondern auch die Theorie zu verbessern, wenn die Daten die Weiterverwendung bekannter Theorien nicht mehr gestatten. Insoweit haben Theorien immer etwas Vorläufiges an sich, ähnlich dem Modelldenken der Griechen. Wenn man will, kann man auch die Modelle als Maßstab in bezug auf eine bestimmte Vorgehensweise des Erkennens auffassen, eine Art Norm, welche den Erkenntnisprozeß gleichsam unter der Hand steuert. Auf einen Punkt muß in diesem Zusammenhang noch hingewiesen werden: den Vorgang der Verlagerung der Grundorientierung des Denkens vom Jenseitigen auf das Dieseitige. So konnten die philosophischen Systembauer der Neuzeit wie Descartes oder Leibniz durchaus mit den kirchlichen Autoritäten in Konflikt geraten, insofern sich ihre Anschauungen mit den Lehrsätzen der Amtskirche nicht deckten; gleichwohl fand die Vertreibung Gottes aus dem Vernunftdenken nicht statt. Eine Vorstellung von Gott war in irgendeiner Form immer noch vorhanden. Es war zwar nicht mehr der Gott der Theologen, dem man sich zuwandte, sondern der Gott der Philosophen. Aber Gott war noch nicht tot. Erst die Aufklärung hat von Gott Abschied genommen, die geistige Säkularisierung eingeleitet und das Denken auf die Untersuchung nur der realen Welt gelenkt. Aber noch Hegel verstand seine Logik nicht nur „als das System der reinen Vernunft", „als Reich des reinen Gedankens", sondern in einem bedeutenden Sinne auch als „Darstellung Gottes", „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist" (Logik I, 44). Die Kritik an Hegel ist zunächst Religionskritik, bei der aber nicht Gott interessierte, sondern der Mensch (so bei Feuerbach), um dann von hier aus in die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft einzumünden (so bei Marx). Kommen wir wieder auf die bestimmende Rolle des Zweifels in der Geschichte des Denkens zurück. Er markiert, wie gezeigt, den Ausgangspunkt allen Philosophierens, auch des politischen Denkens. Ein auch nur flüchtiger Gang durch die Ideenge-

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schichte verdeutlicht eine offenkundig immer wieder anzutreffende Motivationsstruktur, wie reflektiertes politisches Bewußtsein entsteht: Der anfängliche Zweifel setzt einen Impuls frei, eine Art Affektiertheit des Intellekts, hervorgerufen durch die Erfahrbarkeit offensichtlicher Unzulänglichkeiten und Disparitäten der politischen und sozialen Welt, in der einer steht. Dem folgt ein Akt der Beobachtung ebendieser Umwelt, der Menschen und ihrer Verhaltensweisen zueinander, der Sitten und Mentalitäten, der Institutionen etc. Der dritte Schritt, der dann folgt, besteht in der .Übersetzung' der getroffenen Beobachtungen in einen durchaus Kohärenz beanspruchenden Zusammenhang, gelegentlich mit spezifisch ausgearbeiteter Terminologie. Viele Denker gingen dabei von Prämissen aus, von denen sie glaubten, sie spiegelten gewisse „ewige" anthropologische Wahrheiten wider. Aristoteles spricht etwa ganz am Anfang der Metaphysik davon, daß alle Menschen „von Natur aus" nach Wissen strebten (Met. 980a). Thomas von Aquino stellt fest, daß jeder Mensch ein Ziel zu erreichen suche; deshalb sei ihm „von Natur aus" „das Licht der Vernunft eingepflanzt", um so in seinem Handeln zum Ziel geführt zu werden (Üb. d. Herrsch, d. Fürsten, 5). Machiavelli bezeichnet als einziges Ziel, das die Menschen vor Augen hätten, den Erwerb von Ruhm und Reichtum, mit welchen Mitteln auch immer (Fürst, 104). Hobbes geht vom Kampf aller gegen alle im Naturzustand aus, und Rousseau beklagt fast ganz am Anfang seines Contrat social, daß der Mensch an sich frei geboren werde, aber überall in Ketten läge. Man mag diese Setzungen bewerten, wie man will: In jedem Falle sind es erste Schritte, erste Antworten, dem lähmenden Zustand des Zweifels zu entgehen. Denken und Wissen sind aber keineswegs selbstgenügsam und zweckfrei; sie richten sich immer an einen Adressaten: Einzelpersonen, Gruppen, Nationen, Gesellschaften; je größer der Bildungsstand, um so größer die Möglichkeit, den Kreis der potentiellen Leser zu erweitern. Diese Behauptung trifft selbst für den Sonderfall der Selbstvergewisserung zu, wenn man nachdenkt, um einfach mit sich selbst ins reine zu kommen, um einen Standpunkt zu gewinnen. Im Altertum sind die Adressaten die dünne Schicht der Intellektuellen in den philosophischen Schulen, im Mittelalter die nicht weniger dünne Schicht der Kleriker, zumeist in den Klöstern, der Magister und Studenten an den neugegründeten Universitäten. In den späteren Jahrhunderten kommen die Mitglieder der sich etablierenden wissenschaftlichen Akademien und Gesellschaften hinzu. Bis sich dann, mit Beginn der Aufklärung und der Entstehung des Bildungsbürgertums, die Leserschicht vervielfacht. Da ist aber auch die staatliche wie kirchliche Obrigkeit zu nennen, deren jeweilige Repräsentanten auf allen Ebenen und in allen Zeiten Ratschläge erteilt werden. Denken wir an die mißglückte Mission Piatons nach Syrakus; denken wir an das indische Kautiliya-Arthasastra; denken wir an die Fürstenspiegel des Mittelalters; denken wir an die Verfassungsschriften Rousseaus etc. Aber erst im 19. Jahrhundert sollte die Stunde für die Einlösung des neuzeitlichen Wissenschaftsideals schlagen: die theoretische Erkenntnis über die soziale Realität als Voraussetzung gesellschaftspolitischer Planung und Reform, quasi die Wiedergewinnung der Baconschen Frage nach der Transformierbarkeit und das heißt auch der Instrumentalisierbarkeit menschlicher Lebenszusammenhänge; ihr Initiator ist wohl Auguste Comte, der Begründer des soziologischen Positivismus. In seinem Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für die Reform einer Gesellschaft notwendig sind (1822) spiegelt sich die Vorstellung von der perfectibilité von Mensch und Gesellschaft, die der Fortschrittsglaube der Aufklärung intendiert hat, wider. Hier liegen die geistesgeschichtlichen Wurzeln von Prognose und Planung gesellschaftlicher Ziele und Interessen. Die Entstehung der

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

sog. policy sciences in den USA in den 1930er Jahren ist ein fernes Ergebnis dieser Entwicklung. Jedes Denken über Politik ist auf bestimmte Weise Gut seiner Zeit. Es unterliegt den unterschiedlich vorherrschenden Tendenzen, Interessen, Machtkonstellationen gleichviel, wie man sich dazu verhält, wie man sich reflektierend auf sie einläßt: ob man sich ihnen ausliefert oder ob man sie bekämpft, ob man sich durch sie nicht korrumpieren läßt und. Abstand zu ihnen zu gewinnen sucht. Oben wurde schon angedeutet, daß nationale Mentalitäten und Denkstile die intellektuellen Anstrengungen unmerklich zu lenken vermögen. Hinzu kommt gewiß, daß sich über das Nationale hinaus Begrifflichkeit und Sprachlichkeit der Texte, auch wenn etwas in ihnen ausgedrückt werden soll, das konträr zur herrschenden Meinung steht, nach den Denkgewohnheiten, dem Selbstverständnis der jeweiligen Epoche richten. Wie schwierig es dabei ist, zu einer differenzierten Einordnung zu kommen, verdeutlicht eine Annahme des amerikanischen Politikwissenschaftlers Dwight Waldo. Dieser unterscheidet vier Hauptstadien der Sprachlichkeit politischen Denkens: In der griechischen Polis-Welt war es die Sprache der Philosophen, in welcher das Wesen des Politischen auf den Begriff gebracht worden ist, im Zeitalter des römischen Imperiums die Sprache der Juristen, im Zeitalter des feudalistischen Mittelalters die Sprache der Theologen und seit der Neuzeit und dem Aufkommen des modernen Staates die Sprache der Wissenschaftler, der „Szientisten", wie man wohl präziser sagen sollte (Waldo, 17). Eine solche Klassifizierung ist nicht unproblematisch, und Waldo ist sich dieser Einschränkung auch durchaus bewußt. In der griechischen Philosophie hat das religiös-mythische Moment zweifelsohne eine erhebliche Rolle gespielt (denken wir nur an die zahlreichen mythischen Erzählungen und Gleichnisse in den platonischen Dialogen). Umgekehrt hat im Hochmittelalter, ausgelöst durch eine breite Aristoteles-Rezeption, die philosophische Argumentation die theologische Spekulation beeinflussen können. In bezug auf die Anwendung des römischen Rechts im Zeichen der fundamentalen Auseinandersetzung zwischen Imperium und Sacerdotium kann man sich z.B. fragen, ob nicht ein politischer Schriftsteller wie Marsilius von Padua dem neuzeitlichen Denken näher gestanden hat als der spätmittelalterlichen Ideenwelt, die ihn umgab, wenn er auf der Notwendigkeit logischer Beweisführung bestand, um so der Wahrheit, daß die Kirche nur den Frieden des Reiches störe, nahezukommen. Und ist nicht ebenso relativ leicht verifizierbar das Neben- und Gegeneinander aller vier Denkgewohnheiten seit dem Zeitalter der Aufklärung, auch wenn der epochale Säkularisierungsprozeß, der wenigstens in der europäischen Welt allenthalben einsetzte, die Erosion religiös-theologischer Offenbarung bewirkte? Ein letzter Bestimmungsgrund von politischem Denken liegt wohl darin, wie und in welchem Maße es sich geltend macht bzw. zur Geltung gebracht wird. Hier greifen nämlich Prozesse, die Intuition wie Intelligibilität des denkenden Individuums übersteigen und umschließen. Wenn wir eine beliebige Ideengeschichte der Politik aufschlagen, so erscheint uns die Entwicklung der Ideen als ein kumulativer Prozeß, welcher im Grunde dadurch gekennzeichnet ist, daß ein bestimmter Denker u.a. infolge der Unstimmigkeiten, Irrtümer, Widersprüche etc. eines Vorgängers dazu ermuntert worden ist, darauf hinzuweisen, daß diesem hier und da der Blick verstellt gewesen sei, um dann die Dinge in ein anderes Licht zu rücken. Aristoteles beschäftigte sich mit den Vorsokratikern, um sie zu .überwinden'; Hobbes verfuhr auf dieselbe Art mit Aristoteles, Kant mit Hume, Hegel mit Kant, Marx mit Hegel, die Naturrechtslehre mit Carl Schmitt, die analytische Politikwissenschaft mit dem

II. Geschichtliche Entwicklung

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Normativismus etc. Wir finden dies in Wendungen wie: „Aristoteles habe dies nicht gesehen" oder: „Hobbes habe dies Problem verkannt" etc. Dabei entsteht oftmals der Eindruck, als ob der „Spätere" der „Modernere" (und „Klügere") sei. Eine solche Vorstellung erscheint allzu retrospektiv und konstruiert und wird dem Gehalt der historischen Epoche, auf die hin der einzelne sein Denken ausgelegt hat, nicht gerecht. Die Realität sieht anders aus. Einmal davon abgesehen, daß die Geschichte der Wissenschaften vom Politischen voll von Beispielen von Überlagerung und Gleichzeitigkeit ist - der Aristotelismus wird weiterhin apologetisch und dogmatisch behandelt zu einer Zeit, als die naturwissenschaftliche Methodik auch das politische Denken längst erfaßt hatte (etwa in Schweden) - , entscheidet über Ausbreitung oder Unterdrückung, über Erfolg oder Nichterfolg politischer Ideen die schon in der Antike angelegte, aber noch völlig unentwickelte Tendenz zur Institutionalisierung des Wissens. Nicht das „bessere" Argument zieht, sondern die „Wahrheit" wird präjudiziert durch die Konventionen soziologisch bestimmbarer Gemeinschaften von Individuen, die teils eine relativ hohe, teils eine weniger hohe, teils so gut wie keine soziale Kohäsion aufweisen. Die platonische Akademie, der aristotelische Peripatos, die Stoa, der Garten Epikurs sind Vorformen solchen vergemeinschafteten Wissens. Seine Verdichtung findet dieser Prozeß der Wissensorganisierung in der Gründung der Universitäten im Hochmittelalter und in den Akademien seit dem 17. Jahrhundert. Wissen wird gleichsam ,entpersonalisiert'. Die Institutionen des Wissens werden zu dem Ort, an welchem sich Anpassung oder Ausgrenzung, Akzeptanz oder Verwerfung von Wissen vollziehen. Die Bildung von „Schulen" um eine philosophische, theologische oder wissenschaftliche Lehre begründet ein Epigonentum, das die Lehren der Meister fortleben läßt, das ihren Bestand sichert, aber auch zu den berüchtigten doxographischen und dogmatischen Verengungen und Verformungen neigt. So haben Entstehung und Verbreitung von Wissen mit ihren Grund in der sozialen Kommunikation seiner Repräsentanten. (Zu diesem Aspekt vgl. auch Tl. III, Kap. V) Die geschichtliche Erfahrung hat so gezeigt, daß dort, wo sich eine institutionalisierte Wissenschaft ausgebildet und gefestigt hat, rasch und zielstrebig die Systematisierung des Stoffes in Angriff genommen und in ein Lehrgebäude eingefügt worden ist. Der Objektbereich des Politischen hatte aber im 19. und in weiten Teilen-so auch in Deutschland - auch noch im 20. Jahrhundert noch keinen eigenen akademischen Bezirk. Diese'Sphäre blieb in verschiedenen Einzelwissenschaften aufgehoben, von denen jede mit den ihr eigentümlichen Mitteln einen Zugang zum Politischen zu finden trachtete. Waren Untersuchung und Beurteilung politischer Phänomene in Frankreich und England vorwiegend eine Angelegenkeit von Historikern - in bezug auf Frankreich muß hier die von Guizot begründete „politische Schule" genannt werden, auch Tocqueville gehört in diesen Rahmen, in bezug auf England Gelehrte wie Seeley oder, wenngleich nicht in dieser Entschiedenheit, Lord Acton - , so erfuhr in Deutschland die Politik ihre systematische Behandlung im Rahmen der Staats Wissenschaft, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgebildet hatte und deren Charakteristikum es war, daß sie enzyklopädisch ausgerichtet blieb: Alles das, was mit dem „Staat" als Hauptbezugpunkt zu tun hatte, wurde erfaßt: historische, juristische, ökonomische, finanzwirtschaftliche u. a. Aspekte. Robert v. Mohl, Karl v. Rotteck, Karl Welcker und Lorenz v. Stein können als Hauptvertreter genannt werden. Mit der Spezialisierung der Wissenschaften wanderte die Behandlung der „staatlichen" Angelegenheiten in die Wissenschaft der Staatsrechtslehre. Und diese stand ganz im Zeichen der sog. „Begriffsjurisprudenz", einer Rechtsentwicklung, die

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

das Gesetzesrecht, das „positive", weil gesetzte Recht, über das Gewohnheitsrecht, die Rechtsüberlieferungen aus dem Schöße des Volkes, stellte. Ein rationalistisches Verständnis von Recht, ausgedrückt in einer betont abstrakt-formalistischen Terminologie, unter Ausblendung der gesellschaftlich-staatlichen Wirklichkeit, trug so im Laufe des 19. Jahrhunderts den Sieg über die sog. „Historische Rechtsschule" davon, die nach ihrem großen Begründer Friedrich C. v. Savigny alles Recht geschichtlich herzuleiten unternahm. Auch Soziologen, Nationalökonomen oder Historiker wandten sich grundlegenden Problemen der Politik zu. Die Vorherrschaft der Staatsrechtslehre in Deutschland blieb jedoch davon unberührt. Die ersten Versuche der systematischen Begründung einer genuinen Politikwissenschaft wurden in den Vereinigten Staaten unternommen, einem Land, in welchem die political science bereits in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein akademisches Domizil gefunden hatte - die Grundvoraussetzung für ihre zügige Professionalisierung im amerikanischen Intellektuellenmilieu, im politischen Leben und im Universitätsbetrieb. Diese Vorgänge wesensmäßig getragen haben die ersten Lehrbücher und Kompendien, angefangen mit John W. Burgess' zweibändigem, noch in der kontinentaleuropäischen staatsrechtlichen Tradition stehendem Werk Political Science and Comparative Constitutional Law von 1891. Die Abwendung von der klassischen Staatsformenlehre und dem Institutionenvergleich brachte dann nach dem 1. Weltkrieg die Durchsetzung des „scientism" und damit einhergehend die der empirischen Politikforschung auf breiter Front. Schon Burgess war zuvor auf diese Linie eingeschwenkt, indem er methodologische Analogien zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften festzustellen meinte. Hier offenbarte sich unmittelbar auch der Einfluß britischer „political scientists" wie James Bryce {The American Commonwealth, 1888), Walter Bagehot (Physics and Politics, 1872), Albert V. Dicey (Lectures Introductory to the Study of the Law of the Constitution, 1885) oder Graham Wallas (Human Nature in Politics, 1908). Der neue realistisch-empirische Zug, der die amerikanische Politikwissenschaft von nun an erfassen und der sie über Jahrzehnte ungetrübt bestimmen sollte, läßt sich schön mit den folgenden Worten Bryces widergeben: „The Fact is the first thing. Make sure of it. Get it perfectly clear. Polish it till it shines and sparkles like a gem" (Bryce, 10). Charles E. Merriam veröffentlichte ganz in diesem Geiste 1925 ein Buch mit dem bezeichnenden Titel New Aspects of Politics, das zu einem Klassiker der politischen Verhaltenslehre werden sollte. Zwei Jahre später erschien von dem in den USA lehrenden Engländer George Catlin The Science and Method of Politics, wieder drei Jahre später (1930) vom gleichen Autor A Study of the Principles of Politics. Bereits 1928 hatte Stuart Rice eine Arbeit mit dem Titel Quantitative Methods in Politics erscheinen lassen, in welcher die methodologische Eigentümlichkeit der Politikwissenschaft zum Ausdruck kommen sollte. Harold D. Lass well, der bedeutendste und folgenreichste Schüler Merriams, hat mit seinen frühen Werken Psychopathology and Politics (1930) und Politics: Who Gets What, When, How (1936) die Szientifizierung der Politikwissenschaft systematisch vorangetrieben und vor allem auch das methodologische Bewußtsein ihrer Vertreter gestärkt, insbesondere mit Blick auf die Analyse des politischen Verhaltens (behavior). Zwar fehlte es in der Zwischenkriegszeit in den USA nicht an Kritikern der „Verwissenschaftlichung" der politischen Forschung - vor allem einige Emigranten aus dem deutschsprachigen Raum versuchten, die Denkgewohnheiten der amerikanischen Wissenschaft mit den europäischen Traditionen zu versöhnen - , doch änderte dies nicht viel an dem vor allem nach dem 2. Weltkrieg einsetzenden Siegeszug des sog. Behavioralismus.

III. Die Politikwissenschaft zwischen Bildungs- und Wissenschaftsanspruch

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Gerade an der Geschichte der Politikwissenschaft läßt sich demonstrieren, auf welche Weise der Weg des Denkens determiniert blieb durch die Intentionen außerwissenschaftlicher Kräfte oder infolge spezifischer außerwissenschaftlicher Konstellationen. Wer weiß etwa, welches Schicksal der aristotelischen Philosophie beschieden gewesen wäre, hätte nicht die machtvolle Autorität der Kirche ihr Überleben und ihre Fortbildung in der scholastischen Diskussion gesichert. Die Herausbildung von Kameralistik und Polizeiwissenschaft in den deutschen Territorien der Neuzeit war ein Produkt der Erfordernisse des absolutistischen Staates. Die seit dem 16./17. Jahrhundert entstehenden Professiones Ethices vel Politices an den Universitäten in Deutschland verdankten ihre Förderung in erheblichem Maße dem Protestantismus. So ähnlich verhielt es sich auch mit der Herausbildung einer institutionalisierten Politikwissenschaft heutigen Zuschnitts im westlichen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg: Sie war ein Produkt einflußreicher Kreise der ,hohen Politik', keine Frucht akademischer Initiativen.

III. Die Politikwissenschaft zwischen Bildungsund Wissenschaftsanspruch (1945-1965) 1. Die Ausgangskonstellation Als um die Jahrhundertwende die Politikwissenschaft in den Vereinigten Staaten sich zu einer eigenständigen Disziplin ausweitete, entsprach es ihrem Selbstverständnis, eine Verantwortung gegenüber der Verbesserung dessen zu übernehmen, was Waldo treffend „democratic health" genannt hat (S. 37): die Erziehung zum „besseren" demokratischen Bürger, die Reformierung und Fortbildung des amerikanischen demokratischen Gemeinwesens und seiner Institutionen im Geiste der um die Jahrhundertwende einsetzenden, weite Kreise erfassenden Bewegung des Progressivem und vor allem die Schärfung des Bewußtseins für die Beseitigung sozialer Mißstände. So war es für einen Pionier der „political science" wie Burgess evident, daß die Universitäten etwas für die Lebensfähigkeit der Demokratie unternehmen sollten (Somit/Tanenhaus, 47). Eine wichtige Funktion sollte dabei der politischwissenschaftlichen Erziehung der Führungskräfte, insbesondere des öffentlichen Dienstes („public Service"), zukommen, aber auch die als überfällig angesehene Verbesserung der politischen Bildung an den Schulen sollte verstärkt in Angriff genommen werden. Die Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Praxis wurde als unproblematisch angesehen. Die in Deutschland vorherrschende strikte Trennung zwischen Geist und Macht blieb im amerikanischen Kontext unbekannt. In dieser Gesellschaft war die Demokratie, ihre Prinzipien, Elemente und Ausformungen, das Naturgegebene, Naturgesetzliche und Unabgeleitete, von welchem die Politikwissenschaft ein Abbild darstellte, kritisch, objektiv, sachlich, doch ihre äußeren Grenzen peinlichst genau beachtend. Das enorme Selbstvertrauen, das die „political science" hier in den folgenden Jahrzehnten auszeichnen sollte, hat in dieser Konstellation ihren Grund. Dieses hohe Maß an Identität zwischen Politikwissenschaft und politischer Realität, das sich einstellte, die Selbstverständlichkeit, mit der dies auch artikuliert wurde, entzog sich fast zwangsläufig einer penetrierenden politischen Administration. Im Westen Deutschlands und im Westen Berlins, als sich hier nach 1945 aus

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

kleinen, bescheidenen Anfängen so etwas wie eine Politikwissenschaft institutionell zu verselbständigen und ein Eigenleben zu entwickeln begann, stellte sich die Ausgangssituation völlig anders dar. Hier waren es - verglichen mit den amerikanischen Erfahrungen - die nach 1945 tonangebenden staatlichen Gewalten, die die Zeit für gekommen sahen, eine wissenschaftliche Disziplin auf den Weg zu bringen, die sich der delikaten Aufgabe unterziehen sollte mitzuhelfen, diese auf der deutschen Bevölkerung und dem deutschen Staatswesen lastende unermeßliche und in der deutschen Geschichte beispiellose Katastrophe zu meistern. Die tiefen Wunden, die die nationalsozialistische Diktatur und der von ihr angezettelte Krieg geschlagen hatten, das entsetzliche Unheil, das dabei angerichtet worden war, verlangten ganz offensichtlich nach einer grundsätzlich radikalen Neuerung der Verhältnisse in Deutschland. Diese konnte allein in einem wirklich umfassenden und ohne Wenn und Aber in Gang zu setzenden Prozeß der Transformierung der deutschen Politik und der deutschen Mentalität in Richtung auf die Übernahme des Modells und der Grundüberzeugungen der westlichen demokratischen Verfassungsstaaten erfolgen. Das war die einzige Alternative, die zur Verfügung stand und die realistisch genug war, um dauerhaft bestehen zu können. Diese Maxime sollte für die weitere Zukunft das Maß der deutschen Staatsräson, der inneren wie äußeren Politik abgeben. Man wollte nicht mehr den Fehler von Weimar begehen, nach der Niederlage von 1918 und dem darauf folgenden Sturz der Monarchie es bei dem Aufbau einer institutionellen Demokratie, die ohnehin noch mit einigen gravierenden Strukturdefekten behaftet gewesen war, zu belassen, ohne sich verstärkt um die Herausbildung eines demokratischen Geistes in allen Schichten der Bevölkerung zu kümmern. Die Demokratie von Weimar war eine Demokratie ohne Geist und Seele. Was sich als liberaler oder demokratischer Geist hätte weithin vernehmlich artikulieren können, war zu schwach oder zu zahm gewesen, um nennenswerte Bedeutung erlangen zu können. Auch hatte der Druck von außen gefehlt, wie er dann 1945 von den siegreichen Mächten ausgeübt worden ist. Der Vorgang der Demokratisierung und geistigen Erneuerung der Deutschen geriet zu einem Problem von Erziehung und Bildung. Das Vertrauen in die Selbstreinigungskraft der Deutschen war ja endgültig diskreditiert. Die Heilung konnte nur mehr von außen kommen. Das zielstrebigste und ehrgeizigste Programm in dieser Hinsicht war von den Amerikanern entwickelt worden: die reeducation, die Umerziehung der Deutschen zu überzeugten Demokraten. In allen Bereichen der Erziehung - vom Kindergarten bis zur Hochschule - wurden Maßnahmen ergriffen, um dieses Ziel zu erreichen. Es wurden dabei Formen entwickelt, die dem deutschen Erziehungs- und Bildungssystem bisher fremd gewesen waren. Eine dieser institutionellen Vorkehrungen und Bestandteil der Politik der „reeducation" war der Aufbau einer speziellen political science und ihre Einfügung in das bestehende Hochschulsystem. So etwas hatte es in dieser Form in Deutschland noch nicht gegeben. Es war ratsam, die Heranbildung demokratisch gesinnter und handelnder Bürger im akademischen Bereich nicht in den Schoß der etablierten politischen Wissenschaften zu legen. Darunter waren vor allem das Staatsrecht und die Geschichte zu zählen. Gemeinsam war beiden Wissenschaften ein Bild vom Staate gewesen, der sowohl als Gesetzesstaat autoritär nach innen (so die zentrale Denkfigur der Staatsrechtswissenschaft) agierte als auch als Machtstaat das nationale Interesse nach außen mehr oder weniger aggressiv wahrzunehmen trachtete (so die zentrale Denkfigur der politischen Geschichtsschreibung). Beide Wissenschaften hatten eine Staatsauffassung vertreten, die nicht mehr mit den Grunderfordernissen einer demo-

III. Die Politikwissenschaft zwischen Bildungs- und Wissenschaftsanspruch

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kratischen Bildung kompatibel war. Der größte Teil ihrer Vertreter stand der Weimarer Republik kritisch bis feindselig gegenüber. Beide Wissenschaften hatten sich auch und gerade während des Dritten Reiches gründlichst kompromittiert. Neben den amerikanischen Erziehungspolitikern im besetzten Deutschland war es dem Einfluß einer kleinen Gruppe deutschsprachiger Emigranten zu verdanken, daß die Politik der Umerziehung in dieser Richtung Früchte tragen sollte. Die eigentlichen Träger waren allerdings deutsche Politiker unterschiedlicher geistiger und politischer Provenienz, die die nach 1947/48 eröffneten politischen Freiräume nutzten, um die Vorschläge der Amerikaner und der Emigranten aufzugreifen und in die Tat umzusetzen. Die Behauptung, die political science sei den Deutschen von den Amerikanern aufoktroyiert worden, erweist sich auch deshalb als kaum stichhaltig, weil die meisten geschaffenen Lehrstühle mit Persönlichkeiten aus der deutschen „inneren Emigration" besetzt worden sind, die ganz anderen Denkgewohnheiten verhaftet blieben.

2. Interessen Die etablierten akademischen Kräfte waren freilich keineswegs gewillt, die Schaffung einer neuen Disziplin für den Gegenstandsbereich der Politik so ohne weiteres hinzunehmen. Der Protest begann sich nach den ersten Maßnahmen rasch zu formieren. Man würde freilich nicht zum Kern der Sache dringen, wollte man das heftige Aufbegehren der traditionellen Wissenschaften gegen die administrativen Schritte der Politiker lediglich als Widerstand gegen ein unliebsames Konkurrenzunternehmen verstehen, das sich anschickte, in fremden Gebieten zu wildern. Gewiß waren diese Vorstellungen durchaus vorhanden und stärkten nur noch die Antipathien gegen die neue Wissenschaft. Doch lag diese an den Tag gelegte Intoleranz des universitären Establishments weitaus tiefer. Zunächst muß man berücksichtigen, daß sich die Universitäten weiterhin der humanistischen Idee, wie sie Humboldt für das Erkenntnisstreben der Wissenschaften begründet hatte, verbunden fühlten. Danach ist Wissenschaft an sich zweckfrei und dient in Forschung und Lehre allein der Suche nach Wahrheit und ist an keine Auftraggeber gebunden. Insoweit war Wissenschaft in Deutschland dem eigenen Selbstverständnis nach unpolitisch. Die Art und Weise, wie nun die Politikwissenschaft eingeführt wurde, mußte als eine Art coup d'etat aufgefaßt werden, als ein eklatanter Bruch mit den althergebrachten Spielregeln der universitären Autonomie. Nach Diktatur und Krieg begegneten weite Kreise der Bevölkerung und auch des Akademikertums der Politik mit großem Argwohn. Politik war etwas, das Deutschland die Katastrophe gebracht und das deutsche Selbstwertgefühl entweiht hatte. Man sollte sie hinfort mit Verachtung schlagen. Wer etwas auf sich hielt, hielt sich von der Politik fern. Politik war ein Bereich, in dem nicht die Staatskunst, sondern das Gezänk der Parteien, in dem nicht die klare und souveräne Entscheidung des Staatsmannes, sondern ein umständliches Prozedere der Meinungs- und Entscheidungsfindung, in dem nicht Bildung, sondern Halbbildung regierte. Man wird so durchaus verstehen können, daß staatliche Maßnahmen, die auf eine wenn auch nur zaghafte und behutsame Fundierung einer politischen Bildung in Hochschule und Schule gerichtet waren, als entbehrlich betrachtet wurden. Bemerkenswerterweise waren die ersten Vertreter der Politikwissenschaft auf den neugeschaffenen Lehrstühlen alles andere als „traditionslose Gesellen". Sie standen vielmehr ganz in der deutschen Universitätstradition und besaßen eine umfassende Bildung. Ohne diese Kriterien hätte das Fach wohl nicht diese Achtung innerhalb wie

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

außerhalb des akademischen Bereichs erlangen können. Die Stimme von Gelehrten wie Wolfgang Abendroth, Arnold Bergstraesser, Theodor Eschenburg, Ernst Fraenkel, Michael Freund, Carl Joachim Friedrich, Eugen Kogon, Alexander Rüstow, Carlo Schmid, Dolf Sternberger oder Alfred Weber fand weithin Gehör. Die meisten verstanden sich durchaus als Professoren alten Stils, nicht als „Politologen" im heutigen technisch-berufsmäßigen Sinne, sondern als klassische Ordinarien mit allem rituellen Beiwerk, das diesem Stand gemäß war. Doch waren sie auch meist keine „arm-chair"-Gelehrten, die nur vom Schreibtisch aus das politische Geschehen betrachteten und beurteilten. Wir haben es hier mit einer Generation von Forschern zu tun, die auf unterschiedliche Weise den unmittelbaren Kontakt zur politischen Praxis anstrebten. Sie hatten ja noch selbst am eigenen Leibe verspüren können, wie weit die Perversion der Politik getrieben werden konnte.

3. Aufgabenstellung, Definitionsversuche, Abgrenzungen So wenig wie es ein voraussetzungsloses Denken und Begreifen gibt, so wenig gibt es eine voraussetzungslose Wissenschaft, das gilt auch und gerade für Politikwissenschaft. Das, was von nun an über Politik und das Politische zu denken war, blieb zunächst einmal vorbestimmt durch die verschiedenartigen akademischen Herkunftsbezüge der Repräsentanten der Politikwissenschaft. Einem von der Existenzphilosophie Jaspers' geprägten Manne wie Dolf Sternberger eröffnete sich zweifelsohne ein anderer Zugang zum Sachgebiet der Politik als etwa einem von der Hellerschen Staatslehre geformten Wissenschaftler wie Otto Stammer. Schon von daher stellte sich eine Art Pluralität der Fragestellungen und des methodischen Zugriffs ein. Diese Feststellung trifft übrigens auch noch für die folgende Generation zu: Die Berufenen waren keine „Politologen" qua Ausbildung, sondern versahen ihr Handwerk als gelernte Juristen wie Wilhelm Hennis, als Historiker wie Karl-Dietrich Bracher oder Waldemar Besson. Das Besondere, aber auch Verwickelte an der Wissenschaftswerdung des neuen Faches bestand darin, die Heterogenität der unterschiedlichen Ansätze durch die Entwicklung einer übergreifenden Begrifflichkeit und Erkenntnisweise in einer neuen Einheit zusammenzufassen. Das nötigte aber zu einer Diskussion über die Klärung des Verhältnisses zu den Nachbardisziplinen. Die frühe Politikwissenschaft hat sich der Schwierigkeit der Selbstbestimmung dadurch zu entledigen gesucht, indem sie sich als Integrations- oder als synoptische Wissenschaft zu verstehen gab: Die zu untersuchenden Gegenstände können nur in einer Gesamtschau, unter Heranziehung der Fragestellungen, Erkenntnisse und Methoden der benachbarten Disziplinen ausreichend erfaßt werden. Es ist freilich bei der Skizzierung geblieben, eine systematische Entfaltung einer spezifischen Konzeption von Politikwissenschaft ist nicht erfolgt. Das galt auch für die grundsätzliche begriffliche Diskussion um die Frage, ob Politik kategorial primär unter dem Gesichtspunkt der Ordnung oder primär unter dem Gesichtspunkt der Macht bestimmt werden sollte. Unabhängig davon, wie beide Begriffe nun näher bestimmt wurden, tendierte der einzelne Definitionsversuch dahin, sowohl Macht als auch Ordnung im Lichte der Stabilität eines demokratisch strukturierten politischen Gemeinwesens zu fassen. Diejenigen, die von der Macht als Grundkategorie der Politik ausgingen, versuchten glaubhaft darzulegen, daß es ungerecht sei, ihnen vorzuwerfen, diesen Begriff nur im Sinne einer machiavellistischen Auffassung zu gebrauchen; Macht sei nichts Dämonisches an sich. Diejenigen, die den Ordnungsbegriff zur Leitvorstellung ihres politischen Denkens machten, versuchten dem alten

III. Die Politikwissenschaft zwischen Bildungs- und Wissenschaftsanspruch

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Rätsel der rechten Legitimierung von politischen Gemeinwesen nachzuspüren, versuchten herauszufinden, wie eine gerechte politische Repräsentation der Bürger zu gestalten und wie überhaupt das Gemeinwohl zu definieren sei. Kurzum: Die Begrifflichkeit der Politikwissenschaft in diesem Stadium ihrer Entwicklung war auf Ganzheitlichkeit hin ausgelegt, auf Assoziation, nicht auf Dissoziation, auf Integrations-, nicht auf Konfliktfähigkeit. Auf die konkrete Demokratieforschung wirkte sich diese Grundhaltung auf dreifache Weise aus: Der demokratische Staat wurde untersucht (a) im Blick auf die verfassungsrechtliche und institutionelle Struktur der Bundesrepublik: Parlamente, Parteien, Verbände, Wahlrecht u.a.; (b) mit Blick auf die Strukturdefekte der Weimarer Republik, wobei der Hauptakzent der Fragestellung darauflag, wie es zur Auflösung des ersten demokratischen Staates in Deutschland hatte kommen können. Der demokratische Staat wurde schließlich untersucht (c) mit Blick auf vergleichbare Herrschaftsformen in anderen Ländern mit gewachsenen demokratischen Traditionen. Aus dem Studium des Aufbaus fremder Regierungssysteme sollte ein adäquates Verständnis für das eigene System erzielt werden. Das Studium der totalitären Systeme verlief in der Regel auf zwei Ebenen: (a) Untersuchungen über das nationalsozialistische Herrschaftssystem; (b) Untersuchungen über die kommunistischen Systeme, insbesondere das der DDR. Leitgedanke dabei war der Begriff des Totalitarismus, der von einer strukturellen Identität von Nationalsozialismus und Kommunismus ausgeht. In der Rückschau hat man die frühe Politikwissenschaft in Deutschland spöttisch und ein wenig überheblich als „Demokratiewissenschaft" bezeichnet. Legt man das Selbstverständnis der seinerzeitigen Vertreter des Faches als Maßstab zugrunde, so ist diese Festlegung sicherlich nicht falsch, zumal diese Wissenschaftler darüber hinaus davon ausgingen, daß eine vernünftig betriebene Politikwissenschaft nur in einer Demokratie begründet werden konnte. Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Denn „Demokratiewissenschaft" ist im Grunde genommen auch alles das, was die nachfolgenden Generationen forschend und lehrend auf den Weg gebracht haben. Was sich geändert hatte, war die Begrifflichkeit in der wissenschaftlichen Diskussion und die Einstellung gegenüber der politischen Realität. Auch die Behauptung, die Politikwissenschaft sei in ihren Anfängen tendenziell normativistisch geprägt gewesen, trifft nicht den Kern der Sache. Auf die Diskussion von Normen konnten auch die Nachfahren nicht verzichten; und wo sie glaubten, es doch tun zu können, geschah die Verwendung von Normen implizit. Prägnanter läßt sich in dieser Phase die Politikwissenschaft als Bildungswissenschaft charakterisieren.

4. Studium und Lehre: Ziele und Konzepte „Bildungswissenschaft" bedeutet, daß es den Begründern des Faches darauf ankam, alles das, was sie in Wort und Schrift darboten, als Akte der Bildsamkeit und der Formung junger Menschen in erzieherischer Absicht aufzufassen. Die Politikwissenschaft war in ihrer ersten Phase in einem eminenten Sinne lehr-, weniger forschungsintensiv. Ihre Wirkung zeigte sich im Vortrag, in der Seminardiskussion und in der publizistischen Auseinandersetzung, weniger in der Detailforschung, die zudem in jenem Stadium von organisatorischen und materiellen Widrigkeiten begleitet war. Den ersten Vertretern war von Anfang an klar, daß das Fach an Anziehungskraft nur dann würde gewinnen können, wenn Prüfungsmöglichkeiten sowie die Einrich-

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

tung von berufsqualifizierenden Abschlüssen und allgemein anerkannten Studienprogrammen geschaffen würden. Zuerst hatte man dies an de'r Deutschen Hochschule für Politik (1949 geöffnet) in Berlin erkannt. Zunächst als Fortbildungsstätte für im Beruf Stehende und Interessierte begonnen, wandelte sich die Hochschule sehr schnell zu einer Ausbildungsanstalt um, an der ein Diplom als anerkannter berufsqualifizierender Abschluß erworben werden konnte. Die Ausdrücke „Politologe" und „Politologie" bereichern seitdem das akademisch-wissenschaftliche Vokabular. In dem Begriffspaar „Bildung-Ausbildung" haben die ersten Repräsentanten des Faches niemals einen Gegensatz gesehen, wie das heute der Fall ist (s. u.). Eine Professionalisierung, also eine Ausrichtung des Faches nach den Erfordernissen bestimmter Berufsgruppen und nach Maßgabe des Arbeitsmarktes, erschien nicht als wünschenswert. Nachdem der Versuch der Fachprepräsentanten, die Politikwissenschaft in die Ausbildung für Beamte der höheren Verwaltung hineinzubugsieren, kläglich gescheitert war, lag ihre Zukunft in der Lehre zunächst allein in der Lehrerbildung. Die Unterrichtsverwaltungen waren allmählich dazu übergegangen, die schulische politische Bildung nicht mehr ausschließlich nach dem Unterrichtsprinzip - alle Fächer können politisch relevante Themen behandeln - zu gestalten, sondern dafür ein eigenes Fach einzurichten (Fachprinzip). So eröffnete sich hier für die Politikwissenschaft die Gelegenheit, die dafür benötigten Lehrkräfte akademisch ausbilden zu können. Eine bundesweite Belebung der Diskussion um die Funktion der Politikwissenschaft als Lehramtsfach erfolgte allerdings erst mit Beginn der 60er Jahre. Grundlagen waren die von der Kultusministerkonferenz im Jahre 1960 verabschiedete sog. Saarbrücker Rahmenvereinbarung zur Ordnung auf der Oberstufe der Gymnasien und die zwei Jahre später veröffentlichten Rahmenrichtlinien für die Ordnung der Gemeinschaftskunde. Das entscheidende Handicap für die Politikwissenschaft bestand darin, daß sie die Aufgabe der Ausbildung der Lehrkräfte mit mehreren Universitätsfächern teilen mußte. Dem Willen der Unterrichtsplaner zufolge sollte das Fach Gemeinschaftskunde durch die Fächer Geschichte, Geographie und „Sozialkunde" wissenschaftlich abgedeckt werden. Da aber für die „Sozialkunde" ein universitäres Äquivalent nicht existierte, mußten die für dieses Fach reservierten Fragestellungen und Themenbereiche - aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft - auf die entsprechenden Wissenschaften aufgeteilt werden: Soziologie, Politikwissenschaft und Nationalökonomie. In harten Auseinandersetzungen mit der Kultusbürokratie und den Verbänden der konkurrierenden Wissenschaften haben die damit befaßten Repräsentanten der Politikwissenschaft es schließlich erreicht, daß das Fach nicht übergangen bzw. in eine Statistenrolle abgedrängt wurde. Das Grunddilemma der Politikwissenschaft in ihrer Frühphase kann darin gesehen werden, daß sie gleichsam in Permanenz den Nachweis zu führen hatte, eine den Kriterien der Wissenschaft genügende Disziplin zu sein. Das Fach lebte zunächst von der Reputation ihrer führenden Repräsentanten; es wirkte (noch) nicht als Institution. Gerade in den Diskussionen um seine Lehrfunktion zentrierte die Gesamtbeurteilung der Disziplin um das Problem ihrer Wissenschaftswürdigkeit: Was ist ihr spezifischer Gegenstand? Was die ihr eigentümliche Methode? Was ist die Politikwissenschaft zu leisten imstande? Von der Art waren die Fragen, die die wissenschaftliche Konkurrenz an sie richtete, und die Vertreter des Faches haben viel Zeit und Schweiß darauf verwenden müssen, sich diesen Fragen zu stellen und akzeptable Antworten zu finden. Die wichtigste literarische Form war dabei der programmatische Aufsatz. Ein Lehrbuch, das als Summe des bekannten Wissens den Studenten

IV. Die theoretische Phase

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zur Handreichung hätte dienen können, war lange nicht vorhanden. Erst im Jahr 1965 kam das erste auf den Markt (Otto-Heinrich von der Gablentz' Einführung in die politische Wissenschaft), das diesen Namen auch zu Recht tragen konnte. Es hat auch lange gedauert, bis ein systematisches Kompendium zum Regierungssystem der Bundesrepublik erschien (Thomas Ellweins Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1963).

IV. Die theoretische Phase (1965-1975) 1. Ausgangslage Gemessen am brisanten bildungs- und wissenschaftspolitischen Anspruch, der die Begründung der Politikwissenschaft motivierte, war sie eigentlich ein begnadetes Fach - politisch gewollt und von seinen politischen Initiatoren mit vielen Vorschußlorbeeren bedacht, akademisch zwar mißtrauisch bestaunt, aber wenigstens geduldet, später dann durchaus respektiert. Gemessen an den Studentenzahlen freilich kam die Disziplin zunächst nicht über den Status eines Orchideenfaches hinaus. Nach den Angaben in den amtlichen Statistiken haben um 1965 nicht mehr als knapp 1500 Studenten die Politikwissenschaft als Hauptfach belegt; das sind ganze 0,6% aller damals Studierenden in der Bundesrepublik. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, daß fast die Hälfte (682) auf einen einzigen Studienplatz, nämlich Berlin, entfiel, dann wird klar, daß dieses Fach in der Gunst der Studenten nicht besonders hoch angesiedelt war. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre änderte sich diese Situation schlagartig. Die Lehrfunktion der Politikwissenschaft wuchs in den Folgejahren um ein Vielfaches. Die Zahl der Studierenden stieg im Fach auf der Basis des Wertes von 1965/66 - im Jahre 1975 um rd. 540% - auf mehr als doppelt soviel wie der vergleichbare Wert der Gesamtzahl der Studenten im gleichen Zeitraum. Wie ist diese Entwicklung zu erklären, und welche Konsequenzen haben sich daraus ergeben? (a) Zunächst hat sich ein grundlegender Strukturwandel in der Bildungspolitik vollzogen. Es ist nicht übertrieben, die 60er Jahre als Periode der Bildungseuphorie zu bezeichnen. Nicht allein von sozialdemokratischer oder liberaler Seite wurde die Forderung erhoben und im Laufe der Zeit auch durchgesetzt, allen Bevölkerungsschichten Chancengleichheit beim Zugang zum Hochschulstudium zu ermöglichen. Auf der schulischen Ebene hatte man mit der Saarbrücker Rahmenvereinbarung für die Oberstufe ein gewisses Maß an Modernisierung und „Verwissenschaftlichung" des Stoffes der Sekundarstufe II erreicht und so das Abitur auf die universitären Erfordernisse zugeschnitten. Eine recht liberale Hochschulgesetzgebung sorgte allenthalben dafür, daß die materiellen Schranken, die sich bislang vor einem Studium auftürmten, verschwanden, so daß immer mehr Abiturienten studieren konnten. Neue Hochschulen mußten errichtet werden, um den rasch einsetzenden Andrang absorbieren zu können; an den bestehenden Hochschulen mußte der Lehrkörper personell stark erweitert werden. (b) Ein neues Denken in bezug auf Bestimmung und Zielrichtung von Lehr- und Studienprogrammatik, ja, in bezug auf die Rolle der Universitäten in der Gesellschaft überhaupt gewann immer mehr an Raum. Zunächst waren es insbesondere liberale Kräfte, die erkannten, daß die überkommene „Ordinarienuniversität" mit dem

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

Professor als Monopolisten der Erzeugung und des Vertriebes von wissenschaftlicher Erkenntnis in einer gewandelten Welt keine Zukunftsaussichten mehr besaß. Eine grundlegende Universitätsreform war nicht mehr zu umgehen. Aber diese Reform sollte vor allem den Notwendigkeiten des Marktes gehorchen; Bildung wurde als ein Produktionsfaktor neben anderen gewertet. Die Relevanz der Universitätsreform bestand im Grunde in der Leistungssteigerung des akademischen Betriebes; die Studienziele sollten entsprechend der Vorbereitung auf die beruflichen Tätigkeitsfelder ausgerichtet sein. Dies muß man wissen, um die intellektuelle Gärung zu verstehen, die ab Mitte der 60er Jahre auf mittlere Sicht hin den universitären Alltag bestimmte und für unser Thema von höchster Bedeutung ist. Spätestens seit der „Spiegel"-Affäre 1962 hatte sich gezeigt, daß der in Deutschland vorwaltende Dualismus von Geist und Macht, von Moral und Politik innerhalb des studentischen Milieus immer mehr auf Skepsis und Unverständnis stieß. Die Formierung intellektueller Zirkel häufte sich, die nicht mehr bereit waren, die von den staatstragenden Kräften und Institutionen postulierte Identität von politisch-gesellschaftlichen Normen und politisch-gesellschaftlicher Realität anzuerkennen. Sie begannen, ein kritisches Bewußtsein zu entfalten und - was entscheidend war nunmehr auch wirksam werden zu lassen. Diese Verweigerungshaltung, die gegenüber den etablierten akademischen Instanzen und Ritualen kultiviert worden ist, resultierte aus einer veränderten Wahrnehmung realer gesellschaftlicher Zustände und praktischer politischer Probleme. Der Impetus dieser studentischen Bewegung war kritisch-emanzipatorisch: kritisch im Blick auf die grundsätzliche Infragestellung des Tradierten, emanzipatorisch im Blick auf die Herstellung von neuer gesellschaftlicher Praxis und, darin eingeschlossen, individueller Selbstbestimmung. Alles, was nach Fremdbestimmung, nach Funktionalität, nach Sozialtechnologie roch, war verpönt, weil angenommen wurde, dadurch würden menschliche Anlagen wie Reflexion, Phantasie oder Spontaneität verkümmern. (c) Damit geriet wie natürlich auch die „innere" Organisation des Studiums ins Kreuzfeuer der Kritik. Hier berührte sich liberaldemokratische mit radikaldemokratischer Hochschulreform, die darin konvenierten, daß die Lehrfunktion wieder stärker betont werden sollte. Durch die Implementierung neuer Lehrveranstaltungsarten sollte die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden auf der Ebene der Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse belebt werden. Traditionelle Lehrformen wie die Vorlesung wurden als repressiv aufgefaßt und vor allen Dingen an den neuen Hochschulen mehr und mehr zugunsten anderer Veranstaltungsarten zurückgedrängt, von denen man eher eine Steigerung von Diskursivität in bezug auf wissenschaftliche Gegenstände und Methoden erwarten konnte. Gelehrt wurde nun tendenziell im Geiste kritischer Reflexion und im Blick auf die gesellschaftlichpraktische Relevanz der jeweils behandelten Materie.

2. Die Funktion der Sozialwissenschaften (Soziologie und Politikwissenschaft) Die Transformierung der Lehrstrukturen konnte freilich nur in beschränktem Maße durchgesetzt werden. In Fächern wie Medizin, Naturwissenschaften, Jurisprudenz oder Theologie war dies infolge tradierter Vermittlungsformen, die kaum zu überwinden waren, so gut wie ausgeschlossen. Lediglich in den Geisteswissenschaften und hier wieder besonders in den Disziplinen, die sich per se mit sozialen und politischen

IV. Die theoretische Phase

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Themen beschäftigen wie Soziologie und Politikwissenschaft, war es möglich, durchschlagendere Erfolge zu verzeichnen. Gerade diese beiden Disziplinen übten eine beträchtliche Sogwirkung auf die Studenten aus. Das lag weniger an den Disziplinen selbst, als vielmehr an den Gegenständen, die sie behandelten. Soziologie wie Politikwissenschaft wurden als Wissenschaften betrachtet, welche zu gewährleisten schienen, daß das reflexivdiskursive Element als Garant kritisch-emanzipatorischer Erkenntnissuche sich hier in hohem Maße und in größtmöglicher Autonomie entfalten konnte. Diejenigen etwa, die das Studium der Politikwissenschaft ergriffen, sahen in ihr nicht eine „Legitimationswissenschaft", die „systemstabilisierend" wirkt, sondern eine Wissenschaft, die qua spezifischer Thematik sozusagen „gegen den Strom" zu schwimmen hatte. Dort aber, wo die Fachvertreter nicht daran dachten, die von der Studentenbewegung intendierte kritische Rolle in deren Sinne wahrzunehmen, weil ein differenziertes oder sogar diametral entgegenstehendes Wissenschaftsverständnis dieser Funktionsbestimmung widersprach, waren die Konflikte vorprogrammiert. In dieser konfliktreichen Zeit, die ungefähr bis Mitte der 70er Jahre dauern sollte, wechselten sich eruptive Gewaltanmaßungen mit enervierendem „filibustering" in den Lehrveranstaltungen ab. Man muß aber festhalten, daß die Mehrzahl der Hochschulen von diesen Erscheinungen mehr oder weniger verschont geblieben sind. Aber die sollten das Bild der Politikwissenschaft in Politik und Öffentlichkeit in verhängnisvoller Weise prägen, die in ihr in verengter Sicht eine Kaderschmiede für Systemüberwinder erblickten.

3. „Gesellschaftlichkeit" und Theoriebildung Das große Ziel der Protestbewegung war die Demokratisierung von Hochschule und Gesellschaft. In dieser ambitionierten Grundeinstellung, die sich allerdings schon ein paar Jahre später als vermessen herausstellen sollte, tritt eine erste Denkfigur deutlich hervor, die die folgende Entwicklung dieser Bewegung im allgemeinen und der Sozialwissenschaften im besonderen maßgeblich bestimmen sollte: die „Gesellschaftlichkeit" des menschlichen Daseins und - damit aufs engste verknüpft - das, was man als „Politisierung" bezeichnet hat, die Erfassung weiter Bereiche sozialer wie persönlicher Art durch die Sphäre der Politik. Das Ziel war, den schon an sich „vergesellschafteten" Menschen zu einem „politischen" Menschen zu transformieren. Damit wurde unversehens ein Mechanismus in Gang gesetzt, der eine eigenartige Symbiotik von „Gesellschaft" und „Politik" hervorbringen sollte - die Annäherung zweier Sphären, die für die traditionelle Politikwissenschaft schon in der klassischen politischen Philosophie gegeben war, die aber spätestens im 19. Jahrhundert sich dualistisch gegenüberstanden. War aber in der Polis die Identität der Interessen von Einwohnerschaft und politischer Körperschaft angesichts der Kleinheit der Teilhabeberechtigten relativ einfach herzustellen, mußte in einer hochkomplexen Industriegesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der noch weite Bevölkerungskreise von einer echten Partizipation an politischen Entscheidungen ausgeschlossen blieben, erst noch ein Zustand erkämpft werden, der ein erhöhtes Maß an Teilhabe zulassen konnte - das Grundanliegen der Demokratisierungsdebatte in jenen Jahren. Das entscheidende Motiv der studentischen Protestbewegung - die Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen - äußerte sich u. a. - vor allem in der Anfangsphase - in einem brachialen Aktionismus, in dem sich taktisches Vorgehen und voluntaristische Spontanentladungen die Waage hielten. In ihrem Kern aber war

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

die Studentenbewegung beherrscht von einer Theorielastigkeit, die durch die aktivistischen Momente nicht überlagert werden konnte. Je schneller diese Bewegung zerfiel, desto stärker trat diese Dominanz des Theoretischen in den Vordergrund. Der Slogan vom „Praktischwerden der Theorie" galt zwar noch als Maxime einer auf Gesellschaftsveränderung hinzielenden studentischen Politik, aber dies änderte nichts am Primat der Theorie. Eine „richtige" Politik betreiben oder eine kritische Haltung einnehmen hieß: eine „richtige" Theorie besitzen. Die Auffassung von der gesellschaftlichen Bedingtheit menschlichen Daseins war nichts anderes als ein theoretisches Konstrukt, das für die Realität als solche gehalten wurde. Es wäre eine eigene Untersuchung wert herauszufinden, ob die intellektuelle Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Zuständen der Bundesrepublik und deren historischen Vorbelastungen mit zwingender Notwendigkeit auf die marxistische Philosophie als ihre theoretische Grundlage zurückgreifen mußte. Das kann hier nicht weiter vertieft werden. Keineswegs hat die Protestbewegung den Marxismus, ihre ,Hausphilosophie', neu entdeckt, verschiedene Interpretationsrichtungen waren auch vor „68" durchaus vorhanden. Aber erst die Studentenbewegung hat dem Marxismus eine Wirksamkeit verliehen, die ihn nicht mehr zu einer akademischen Angelegenheit, sondern weit darüber hinaus zu einer öffentlichen Sache machte. Viele Gründe mögen dafür den Ausschlag gegeben haben - die politisch-praktische Relevanz seiner Ideen, der revolutionäre Schwung, der seinen Anschauungen anhaftet, das moralische Element, das ihm innewohnt - , der zentrale Gesichtspunkt war wohl, daß es sich hierbei um eine Ideologie handelte, deren Wissenschaftlichkeit außer Zweifel stand: Ob es sich um die Kritische Theorie handelte, um den Freudomarxismus oder um die verschiedenen Spielarten der Politischen Ökonomie als die wichtigsten theoretischen Ansatzpunkte weiterführender Interpretation marxistischer Ideologie- und Gesellschaftskritik - es war die ,Wissenschaftlichkeit' seiner Prämissen und seiner Aussagen, die den Marxismus für die Protestbewegung nicht nur attraktiv erscheinen ließ, sondern unentbehrlich machte. Wo aber .Wissenschaftlichkeit' ist, da ist auch unweigerlich die Nähe zur Theorie, zur Modellbildung und zur Abstraktivität des Denkens. Die Kritik der Klassiker des Marxismus und seiner bedeutendsten Epigonen war radikal; aber diese Radikalität speiste sich zu einem beträchtlichen Teil aus dem Anspruch, nicht nur die grundlegenden Mängel der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft zu benennen, sondern auch die inneren Gesetzmäßigkeiten, nach denen diese Gesellschaftsformation funktioniert, freizulegen. Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft bestand in großem Sinne in theoretischer Kritik. In der Terminologie der kritischen Gesellschaftstheorie fanden sich bereits Ausdrücke wie „systemimmanent" oder „systemstabilisierend", die meist in pejorativem Sinne verwendet wurden, oder ein Begriff wie „systemsprengend", der mehr einen offensiv-operativen Sinn vermitteln sollte. Das kritische Augenmerk richtete sich jedenfalls auf „das System", das es zu überwinden galt. Der Boden für die Aufnahme des Systemgedankens war also durchaus bereitet, als die deutschen Sozialwissenschaftler im allgemeinen und die Politikwissenschaftler im besonderen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre damit begannen, die in Amerika entwickelten Varianten systemtheoretischen Denkens auf breiter Basis und in erhöhter Intensität zu rezipieren. Man wollte vor allen Dingen auch die gravierenden theoretischen Defizite, die der deutschen Politikwissenschaft anhafteten, kompensieren. In seinem damals vielzitierten Aufsatz Demokratie und Komplexität von 1968 hat Frieder Naschold dem Rückstand an Theorie noch etwas Positives abzugewinnen versucht, indem er auf die

IV. Die theoretische Phase

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verengten Demokratiekonzepte, die den amerikanischen Studien als Grundlage dienten, verwies, welche eher zu methodologisch-theoretischen Restriktionen im Forschungsverlauf führten. Dagegen stellte er die mögliche Offenheit eines Fragehorizontes, die noch eine unprofessionalisierte Politikwissenschaft motivieren könne. (518). Aber auch Naschold konnte letztendlich nicht umhin, sich eindeutig für ein „Mehr" an Theorie im Blick auf die gesellschaftlichen Probleme, die existierten, auszusprechen. Waren die Träger der universitären Gesellschaftskritik Studenten und Assistenten (sowie einige Altsozialisten unter den Professoren), so wurde die Vermittlungsarbeit in bezug auf die Theorie der Systeme nahezu ausschließlich vom akademischen Mittelbau geleistet (dazu Greven in Göhler/Zeuner). Das hing damit zusammen, daß einige aufgeklärte Lehrstuhlinhaber einige ihrer besten „post-graduates" in die USA schickten, damit diese dort die amerikanischen Theoriediskussionen und Forschungsmethoden kennenlernten. Dort eigneten sich die jungen Nachwuchsforscher die Grundbegriffe und methodischen Instrumentarien der amerikanischen Politikwissenschaft an und führten sie produktiv in die westdeutsche Debatte ein. Eine unmittelbar nach deren Rückkehr einsetzende umfangreiche literarische Produktion, die sich in zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen und einigen Überblicksdarstellungen in Buchform ausdrückte, machte binnen weniger Jahre die systems analysis zu einem der elementaren Katalysatoren politikwissenschaftlicher Forschungsleistung. Wenn Kritiker des Faches gelegentlich verächtlich von einer „Amerikanisierung" der deutschen Politikwissenschaft sprachen (bzw. sprechen), dann ist diese hier zu suchen. „Amerikanisierung" bedeutet aber zugleich auch „Internationalisierung", und „Internationalisierung" bedeutete zugleich auch „Modernisierung": Abschied von provinziellen Fragestellungen, Infragestellung des latenten Europazentrismus und Erweiterung des Fragehorizontes auf die developing areas, Aufarbeitung des Theoriedefizits (sowohl wissenschafts- als auch binnentheoretisch), das Bemühen um eine präzisere Begrifflichkeit, Übernahme eines breiteren Methodeninstrumentariums der Datenerhebung, Offenheit für die Rezeption komplexerer Ansätze (etwa in den comparative politics oder den international relations). Die Forschungsansätze und -methoden der systems analysis sowie des Behavioralismus wurden allerdings in Deutschland selten mit der Rigidität perzipiert, wie sie in den USA die politikwissenschaftliche Diskussion dominierte. Gewiß wurden sie auch rezipiert im Sinne ihrer amerikanischen „Erfinder": also nach Maßgabe des Empirizismus, nach Maßgabe eines latenten Indifferentismus gegenüber Normen und Werten, sei es in bezug auf die immanenten forschungslogischen Operationen bei der Analyse, sei es in bezug auf die praktische Relevanz der Forschungsergebnisse, nach Maßgabe einer Ideologie des Hyperfaktualismus, die einen Fortschritt in der Theoriebildung lediglich auf der Grundlage der Ermittlung und Anhäufung von immer mehr ,harten Daten' erkennen will. Vor allem in der Wahlforschung sollte sich diese Wissenschaftsauffassung durchsetzen. Aber mehr noch kam es zu Überlappungen von gesellschaftskritischen Imperativen und systemtheoretischen Konzepten. Da mag ein generationsspezifisches Moment mit im Spiel gewesen sein. Wichtig ist aber auch festzuhalten, daß die amerikanische Komponente, so innovativ sie sich auch geben mochte, auf das gewaltige Potential eines kontinentaleuropäischen philosophischen Traditionsbestandes stieß, der in weiten Teilen resistent blieb gegenüber den Überzeugungshaltungen, die aus Übersee importiert wurden, und der sich nicht so ohne weiteres zurückdrängen ließ. Die gesellschaftskritische Politikwissenschaft, sofern sie undogmatisch war, ließ sich

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

durchaus von den Prämissen, Ansätzen und Methoden aus Amerika inspirieren; doch teilte sie mitnichten deren Hintergrundphilosophie. Diese bestand in der eher undifferenzierten Nähe zur amerikanischen Gesellschaft und zum amerikanischen politischen System. Hingegen waren in Deutschland eher die Momente von Distanz und Skepsis, von Ablehnung und Auflehnung virulent. Die Herausstellung des gesellschaftlichen und des Systemcharakters der Politik verlangte nach einem Aufbrechen der engen Fachgrenzen und der Entwicklung interdisziplinärer Fragestellungen und der Anwendung nicht unbedingt fachspezifischer Methoden. In dieser Hinsicht blieb die Politikwissenschaft gewissermaßen eine „nehmende" Disziplin. Die Theorien, die ihre weiteren Diskussionen bestimmen sollten, entlehnte sie verwandten Wissenschaften wie Soziologie, Sozialpsychologie, Sozialanthropologie oder Ökonomie. Man kann die Neigung zur Theoriebesessenheit, die die deutsche Politikwissenschaft in dieser Phase erfaßt hatte und die gelegentlich neurotische und subalterne Züge anzunehmen schien, mentalitätspsychologisch erklären, indem man das Bedürfnis nach Theoriebildung als einen typischen Charakterzug des deutschen Geisteslebens herausstellte. In seiner Klassifikation der intellektuellen Denkstile hat der norwegische Sozialforscher Johan Galtung im „teutonischen" Denkstil ausgeprägte Berührungspunkte entdeckt, die auf dieses Übermaß an Theoriegläubigkeit hinweisen. Man kann die Tendenz zum Theorieüberhang aber auch sozusagen „disziplinpolitisch" interpretieren: Es läßt sich nämlich die Behauptung wagen, daß eine Wissenschaft dann in ihr Reifestadium eingetreten ist, wenn sie Theorien produziert (und Methoden entwickelt), mit denen sich ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche angemessen erfassen, beschreiben und erklären lassen. Erst über die Notwendigkeit der Theoriebildung rechtfertigt sich der Status einer wissenschaftlichen Disziplin und ebnet den Weg zu ihrer Professionalisierung. Sie improvisiert nicht mehr, sondern hat sich ein Fundament gelegt, das nicht mehr zur Disposition steht und auf dem sich aufbauen läßt. Theorien können falsifiziert und durch andere ersetzt werden; aber dieser Vorgang ändert nichts an der Tatsache, daß das zwingende Erfordernis der theoretischen Durchdringung der Realität auf breiteste Anerkennung stößt und daß hinter diesen Standard im Selbstverständnis der Wissenschaft nicht mehr zurückgegangen werden kann. Man kann versuchen, diesem Phänomen wissenschaftspsychologisch beizukommen. Einmal Theoriebildung als Spaß am intellektuellen Spiel; als Ausdruck einer Flucht in Weltfremdheit und Esoterik, gepaart mit einem mangelnden Verständnis für die Realität, oder aus persönlicher Frustration heraus (Eckstein, 37ff.). Zum zweiten Theoriebildung als Ausdruck eines gesteigerten Prestige- und Statusdenkens unter den Fachwissenschaftlern. Dabei erwirbt der eine relativ hohe Reputation, der die Fähigkeit besitzt, sich der Konformität anzupassen und kritische Analysen, spekulative Deutungsalternativen produziert und für deren möglichst schnelle Verbreitung sorgt. (Görlitz, 74). Wie die Berührung auch ausfallen mag, an der Tatsache an sich ändert sich nichts. Man mag diese Entwicklung begrüßen und sie als folgerichtig bezeichnen, man mag sie skeptisch beurteilen: sie ist wohl unhintergehbar. Die Konsequenzen für die Binnenstruktur der Politikwissenschaft und im Blick auf die Lehr- und Studiensituation lagen auf der Hand.

IV. Die theoretische Phase

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4. Die binnentheoretische Entwicklung Die erste Änderung, die infolge der zunehmenden Theorielastigkeit der Politikwissenschaft eingetreten ist, war das Zurückdrängen des erzieherischen Elementes und dessen Überlagerung durch einen unaufhaltsam sich vollziehenden Prozeß der Verwissenschaftlichung. Sinnfälligstes Beispiel war die theoretische Unterspülung und Instrumentierung der politischen Bildung, das anfängliche Paradigma der westdeutschen Politikwissenschaft. Die „politische Bildung" verlor ihren Sonderstatus und entwickelte sich in der Folge zu einer Teildisziplin unter anderen. Ihre Probleme ließen sich nur noch auf dem Hintergrund der vorherrschenden theoretischen und metatheoretischen Konstruktionen höheren Niveaus bezeichnen bzw. in Angriff nehmen. Das zweite zentrale Merkmal war die Ende der 60er Jahre von Wolf-Dieter Narr vorgenommene „Triadisierung" der theoretischen Positionen, von denen er annahm, daß sie die Entwicklung des Faches dominieren, von denen er allerdings auch annahm, daß sie in ihren Prämissen, Methoden und Zielen unvereinbar seien. Narr unterschied so den ontologisch-normativen, den deduktiv-empirischen und den dialektisch-historischen Theorietyp. Diese Klassifizierung hat sich lange gehalten und vor allem hartnäckig die theoretischen Partien der Lehr- und Einführungsbücher bestimmt. Im nachhinein dürfte klar sein, daß die postulierte Unvereinbarkeit eher einer Scheinwirklichkeit entsprach, denn jeder der drei Typen besitzt Elemente der anderen Typen: Zumindest in bezug auf ihre anthropologischen Prämissen berücksichtigen sowohl der Rationalismus als auch der Neomarxismus normative Aspekte; „positivistische" Elemente kommen den beiden anderen Theorietypen zu, denn beide können ernsthaft nicht die Notwendigkeit der empirischen Sozialforschung und der dieser unterliegenden Forschungslogik leugnen. Man sollte also diese Typologie nicht allzusehr überbewerten. Der Wahrheit kommt man wohl näher, wenn man sie als Kampfbegriffe ansieht, gebunden an klare politische Optionen. Dann erfaßt die ontologisch-normative Richtung die Konservativen und den rechten Rand der SPD, die Rationalisten das Gros der Sozialdemokratie und die Liberalen und die Neomarxisten den linken Rand der SPD sowie kommunistische Gruppierungen. Die Fragmentierung vollzog sich demnach weniger auf theoretisch-methodologischem Gebiet als auf der politischen Ebene. Man sollte auch bedenken, daß im Rahmen dieser Klassifizierung der systemtheoretisch-behavioralistische wie der gesellschaftskritische Theorietyp gegen eine Theorievariante in Stellung gebracht wurden, die keineswegs mit der traditionell betriebenen Politikwissenschaft insgesamt deckungsgleich war. Diese war stets mehr, als der normativ-ontologische Theorietyp begrifflich zu fassen suchte. Die Zahl derjenigen, die von der theoretischen Exklusivität dieser Richtung überzeugt und die an sich nie besonders groß war, nahm immer mehr ab. In keinem Falle hatte es zu dieser Zeit in Deutschland eine vergleichbare Gegenströmung von Normativisten gegeben wie in den USA, als die Schulen von Leo Strauss und Eric Voegelin in den 70er Jahren zum Gegenangriff auf die Behavioralisten ansetzten und beachtliche Erfolge erzielen konnten (dazu Falter u. a.). Drei große Gesichtspunkte, die zusammenwirkten, waren für die bereichsspezifische Diskussion von ausschlaggebender Bedeutung: (a) Die Politikwissenschaft war einmal demokratietheoretisch orientiert. Traditionelle legalistische Ansätze standen dabei in Konkurrenz zu Ansätzen, die das vorhandene Dilemma zwischen dem Erfordernis demokratischer Teilhabe der Bürger

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

und planerischer Effizienz thematisierten, sowie zu gesellschaftskritischen Ansätzen, die wider das technokratische Modell auf breitesten politischen Partizipationsmöglichkeiten bestanden. In diesen Rahmen der Demokratietheorie gehört auch der Ansatz der „Neuen Ökonomie der Politik", der analog den Prämissen der ökonomischen Wettbewerbstheorie die Maximierung individueller Präferenzen im Bereich des Politischen in den Vordergrund rückt. (b) Die Politikwissenschaft war zum zweiten krisentheoretisch ausgerichtet. Hauptausgangspunkte waren eine diagnostizierte Steuerungsunfähigkeit der staatlichen Institutionen sowie eine Identifikationskrise relevanter Teile der Regierten, die zu Legitimationsdefiziten und zu Illoyalität führten. Die theoretischen und empirischen Arbeiten lassen sich auf dreierlei Weise erfassen: Die konservativ-etatistische Alternative zweifelte an der Regierbarkeit des Staates infolge der Ausweitung des Sozialstaates, außerparlamentarischer Interessenaggregierung und mangelnder Verfassungstreue. Die reformistische Alternative glaubte an die Überwindbarkeit von Systemkrisen und forcierte die Erforschung adäquater Planungsinstrumente. Die gesellschaftskritische Alternative betonte die Krisenimmanenz spätkapitalistischer Systeme und fokussierte primär die beschränkte Integrationsfunktion der politischen Institutionen. (c) Schließlich war die Politikwissenschaft konflikttheoretisch bestimmt. Zeugnis legen davon die zahlreichen Studien über die Interessengruppen, über innerparteiliche Strukturen und Entscheidungsprozesse oder zur Pluralismustheorie ab. Hauptsächlich wurde in ihnen die Durchsetzungsmodalitäten bestimmter gesellschaftlicher oder politischer Ziele auf der Basis von Konfliktaustragungen thematisiert. Der Konflikt wurde nicht mehr als systemgefährdend angesehen, wie es die Integrationsideologie älterer Politikmodelle weismachen wollte. Heftig umstritten war freilich das Konfliktmodell im Bereich der politischen Bildung. Das weitreichendste Konzept, das auf dieser Grundlage entwickelt worden war, die Hessischen Rahmenrichtlinien zur Gesellschaftslehre, war so politisch nicht durchsetzbar. Der eigentliche Konkurrent - nicht Gegner - der Anhänger einer „Durchtheoretisierung" der Politikwissenschaft in der BRD war vielmehr die große Zahl derjenigen, die in ihrer Arbeit ohne Formulierung einer expliziten Theorie auszukommen glaubten. Weiterhin wurden Forschungsleistungen erbracht, die auf traditionellen historischen, institutionellen, juristischen oder ideengeschichtlichen Fragestellungen basierten. Vieles blieb weiterhin noch Deskription. Im übrigen waren auch hierbei die Grenzen zu den drei herauspräparierten Theorietypen durchlässig. Läßt man etwa beim dialektisch-historischen Theorietyp das gesellschaftskritische Moment beiseite, so zeigt ein Großteil der Arbeiten methodisch gesehen weitgehend traditionelle Züge (etwa die zahlreich vorgelegten Geschichten zur Arbeiterbewegung oder zum Faschismus).

5. Auswirkungen auf Lehre und Studium Wenn feststeht, daß die Reputation der Politikwissenschaft im Wissenschaftssystem bzw. der Fachvertreter innerhalb der Disziplin selbst ausschließlich über den Faktor Theorienkonstruktion bzw. über die Dynamik des Theorienwandels erfolgt, so bleiben bei einer solchen Konstellation Aspekte der Lehre und der Studiengestaltung zwangsläufig auf der Strecke. Der Hochschullehrer wird dabei nicht allein den disziplinspezifischen Imperativen folgen, sondern auch - oder fast nur - der persön-

IV. Die theoretische Phase

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lichkeitsspezifischen Maxime, dadurch ein größeres Prestige in der Wissenschaftlergemeinschaft zu erreichen. Ein solches Denken fördert nachgerade die Vernachlässigung der Lehre. Es läßt sich durchaus der Trend beobachten, daß dort, wo mit Lehrformen und Studieninhalten experimentiert worden ist, der Forschungsoutput - bei ausreichend vorhandener Kapazität - vergleichsweise bescheiden ausgefallen ist: Berlin, Bremen und einige Hochschulneugründungen. Natürlich haben diese eben angestellten Überlegungen auch Gültigkeit für die 80er Jahre; der Ursprung dieser Entwicklung ist jedoch Ende der 60er Jahre zu suchen. Ganz äußerlich zeigte sich das Bedürfnis nach mehr Theorie in den Vorlesungsverzeichnissen. Eine Untersuchung des Autors hat ergeben, daß zwischen 1970 und 1980 die drei zahlenmäßig größten Gegenstandsbereiche einen klaren theoretischen Bezug aufwiesen. Dabei ist der Bereich der Internationalen Beziehungen, in dem die Theorie eine immer größere Rolle spielen sollte, noch gar nicht mitgerechnet. Wenn die Theoriefreundlichkeit als Indikator für gewachsene Konstituierung und Integrierung der Politikwissenschaft herangezogen werden kann, dann darf hier ein beträchtlicher Anstieg von Einführungsveranstaltungen nicht unerwähnt gelassen werden. Einführungen in den Problemzusammenhang der Disziplin haben in erster Linie den Zweck, ein halbwegs abgerundetes Panorama des Faches zu präsentieren. Ein solches Vorhaben kann aber nur dann von einigem Erfolg sein, wenn ein gewisser Reifegrad theoretisch-methodischen Arbeitens erreicht ist. Dabei ist nicht entscheidend, ob diese Standards veränderbar sind oder nicht; entscheidend ist vielmehr, daß es solche Standards überhaupt gibt und daß die Wissenschaft sich dieser bewußt ist. Diese Feststellungen gelten auch für die publizierten „Einführungen". Es ist kein Zufall, daß gerade in den Jahren zwischen 1968 und 1975 eine beträchtliche Anzahl einführender Werke auf den Markt gebracht worden ist wie erst wieder seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Die meisten richteten sich an einer spefizischen wissenschaftstheoretischen Position aus, die sie deutlich von anderen „Einführungen" unterscheiden sollte. Die Politikwissenschaft war weiterhin in erster Linie ein Fach für Lehramtsanwärter. Die meisten Politologie-Studenten strebten - in der Regel kombiniert mit anderen Fächern wie Geschichte oder einer Philologie - das Lehramt an. Allerdings konnte das Fach nicht an allen Hochschulen als Hauptfach belegt werden. Teils sahen die Prüfungsordnungen es nur als Nebenfach vor, teils war es in einen sozialwissenschaftlichen Studiengang integriert. Unabhängig davon aber stand die Politikwissenschaft in vielen Bundesländern in einer gewissen Konkurrenzsituation mit benachbarten Fächern wie Geschichte oder Geographie, Soziologie und Ökonomie. Die Politikwissenschaft war nicht ausschließliche Bezugsdisziplin für den angehenden Politiklehrer. Diese Unübersichtlichkeit der curricularen Situation mußte als unabänderlich hingenommen werden, denn die Zerklüftung des deutschen Lehr- und Studienwesens ließ keine andere Wahl zu. Konfliktreicher verlief in diesem Zusammenhang dagegen eine andere Diskussion, die aber innerwissenschaftlich induziert blieb. Gemeint ist der Streit zwischen den Fachwissenschaftlern auf der einen und den Fachdidaktikern auf der anderen Seite. Befürchteten jene eine Art „Repädagogisierung" der Politikwissenschaft, die zu Lasten des Forschungsoutputs gehen konnte, beargwöhnten diese die Tendenz, die Studienpläne nach Maßgabe der Ansprüche der Fachwissenschaft zu konzipieren und nicht nach Maßgabe der anders gelagerten Bedürfnisse der zukünftigen Lehrer. Nach Meinung mancher reformwilliger Curriculum-Planer stand die fachwissenschaftliche Systematik einer allenthalben geforderten integrierten sozialwissenschaftlichen Leh-

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

rerausbildung eher im Wege, die doch schwerpunktmäßig problem- und nicht fachorientiert zu bestimmen war. So hatte sich 1972 Hans-Hermann Hartwich dafür eingesetzt, den Akzent nicht auf die Wissenschaftssystematik zu legen, sondern exemplarische Gesichtspunkte in den Mittelpunkt zu rücken, um von daher „Methodensicherheit und Analysefähigkeit" anzustreben. (Hartwich, 1973, 263). Die Praxis hat jedoch gezeigt, daß hier vieles nur Programm blieb. Für diesen letzteren Orientierungskomplex haben sich vor allem Politologen eingesetzt, die von den Pädagogischen Hochschulen herkamen und aus ihren praktischen Erfahrungen heraus dafür plädierten, den erziehungswissenschaftlichen Aspekt hervorzuheben. Den Fachvertretern an den Universitäten wurde zudem ihre Abstinenz bei der Erarbeitung von Richtlinien und Sozialkundebüchern vorgeworfen, was ja auch objektiv zutraf. Erneut stößt man hier auf das Phänomen, daß die Politologen kaum Interesse daran zeigten, sich mit Vermittlungsproblemen zu befassen. Man sollte allerdings auch einräumen, daß in den meisten Bundesländern keine fachdidaktischen Pflichtübungen vorgeschrieben waren. So gingen Politikpädagogen wie Paul Ackermann davon aus, daß eine Reform des Politiklehrerstudiums die fachdidaktischen Erkenntnisse berücksichtigen sollte. Der entscheidende Mangel war aber der, daß das fachdidaktische Personal fehlte. Der Berufsweg der Lehramtskandidaten war im Prinzip vorgezeichnet. Wie stand es aber mit jenen Studenten, die nicht an die Schule wollten, sondern einen anderen Abschluß anstrebten wie Magister oder Diplom? Die seinerzeit heftig geführten Auseinandersetzungen verdeutlichen, daß dabei die berufliche Zukunft der Absolventen höchst ungewiß war. Am ehesten konnte noch das Diplom als berufsqualifizierender Abschluß gelten, aber man konnte es nur an wenigen Hochschulen anstreben, wobei der Berliner Diplomstudiengang herausragte. Ein Blick auf die statistischen Erhebungen zum beruflichen Werdegang der Berliner Diplom-Politologen zeigt die Vielfalt der Möglichkeiten, die außerhalb des Hochschulbereichs bestanden (der den größten Prozentsatz der Absolventen aufnahm) und die in den siebziger Jahren genutzt wurden: Öffentliche Verwaltung, Parteien, Verbände, Massenmedien, Erwachsenenbildung, Privatwirtschaft. Darüber hinaus nicht unerheblich war die Zahl derjenigen, die in anderen, hier nicht aufgeführten Sparten einen Arbeitsplatz bekamen (1951-68: 13,6%; 1968-76: 11,3%). Die Zahl derjenigen, die nicht berufstätig waren, hielt sich in Grenzen (1951-68: 19,1%; 1968-76: 16,2%; Bl. z. Berufskunde, 1979,3). Bezogen auf die Gesamtsituation der Politologie-Absolventen in der alten Bundesrepublik weichen die Zahlen nicht sonderlich stark von den Berliner Werten ab. (Dill, 29). Die Zahl der arbeitslosen Politologen zwischen 1974 und 1976 entsprach ungefähr dem Stand aller Hochschulabsolventen, die ohne Arbeit waren (288% :268%; Dill, 29f.). Das Hauptproblem war die Frage nach der Rolle der Politologen im Beschäftigungssystem der Bundesrepublik. Wie war die Nachfrageseite bestimmt? Bestand überhaupt ein Bedarf nach Politologen (abgesehen vom Hochschul- und Schulbereich)? Oft polemisch zugespitzt ergab sich daraus in der Regel die weiterführende Frage nach der „Nützlichkeit" von Politologen für die Gesellschaft. Ein Dilemma der Politikwissenschaft bestand ja darin, daß sie im Unterschied zur Jurisprudenz oder zur Theologie über keine traditionellen Berufsfelder verfügte, auf die hin sie ihre curricularen Anstrengungen beziehen konnte. Für eine Wissenschaft wie die Politologie, die immer kritischer und selbstkritischer wurde und begonnen hatte, eine intensive theoretische Debatte über ihr wissenschaftliches Selbstverständnis zu führen, mußte es zwingend erscheinen, auch den Problem-

V. Politikwissenschaft als Ausbildungsfach

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komplex Berufsfeldorientierung im Kontext der übergreifenden Theorie-PraxisAuseinandersetzung anzugehen. In einer Zeit der Gärung innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft war es klar, der möglichen Reduktion der Studienziele und der entsprechend aufgebauten Studienprogramme auf die Vorbereitung beruflicher Tätigkeitsfelder entgegenzutreten. Man wollte keinen ,Schmalspurpolitologen', dem es nur um sozialtechnologische Anwendung des erworbenen Wissens in seiner beruflichen Praxis gehe, ohne diese Praxis und die Funktionsbestimmung seines eigenen Tuns kritisch zu reflektieren. Reflexion setzt aber wiederum die Entwicklung theoretischer Konzepte voraus, um die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit, auf die die Ausbildung bezogen blieb, analysierbar zu machen. Aus diesem Grunde drangen viele Curriculumplaner innerhalb des Faches darauf, den Schwerpunkt der Studienplanung auf eine breite theoretische Ausbildung zu legen. Gefragt war die Ausbildung zum „Generalisten"; keineswegs sollte nach dem Willen der Planer das Studium einem verengten und einseitigen Verwertungsinteresse unterliegen. Die Diskussionen um das berufsorientierte Studium konnten allerdings nur zu punktuellen Ergebnissen führen, wie etwa in Berlin oder in Konstanz. Das Nebeneinander von Lehramtsstudiengängen und praxisorientierten Studiengängen hat eine Ausdifferenzierung der von den Hochschulen angebotenen Lehrpläne praktisch verhindert. Man muß allerdings berücksichtigen, daß die meisten Universitäten personell gesehen gar nicht in der Lage waren, hier allen curricularen Wünschen Rechnung zu tragen. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich immer einigen konnte, bestand in den formalen Vorgaben der Fachwissenschaft selbst: Ideengeschichte/Politische Theorie, Politik der Bundesrepublik Deutschland - aufgesplittert in politische Institutionen, politische Soziologie, politische Ökonomie - , Vergleichende Politik, Außenpolitik, Internationale Beziehungen. Diese Aufgliederung bildete das Standardrepertoire der politikwissenschaftlichen Institute und Seminare.

Y. Politikwissenschaft als Ausbildungsfach (seit Ende der 70er Jahre) 1. Der Status der Theorie Spätestens Mitte der 70er Jahre war der Kulminationspunkt der theoretischen Grundsatzdebatten um den wissenschaftlichen Standort der Politikwissenschaft erreicht und zugleich auch überschritten. Die Agonie der Studentenbewegung begann sich bereits Anfang der 70er Jahre rasch abzuzeichnen. Die Revolte verflüchtigte sich nur mehr noch in theoretische Zirkel sowie in aktionistisch-dogmatische Splittergruppen. Ihr unrühmliches Ende sowohl als auch die Enttäuschung über die hoffnungsvollen Erwartungen, die viele kritisch eingestellte Intellektuelle an die sozialliberale Reformpolitik knüpften, sorgten dafür, daß sich das Klima für Erarbeitung und Erprobung radikaldemokratischer Modelle zusehends verschlechterte. Innerhalb der Politikwissenschaft hatte die marxistisch-gesellschaftskritische Richtung auf dem Hamburger Kongreß der DVPW 1973 ihren letzten großen Auftritt, als ihr Versuch scheiterte, das Fach in ihrem Sinne zu funktionalisieren. Das Generalthema des folgenden Kongresses 1975 in Duisburg, Legitimationsprobleme politischer Systeme, markierte den Abschluß makrotheoretischer Diskussionen in kritischem Gewände.

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Ein ähnliches Schicksal widerfuhr auch der Systemtheorie, vor allem dort, wo sie sich mit gesellschaftskritischen Denkansätzen verbunden hatte. In bezug auf die Entfaltung holistischer Theorien ist heute nicht nur in der Politikwissenschaft, sondern in den Sozialwissenschaften ganz generell Zurückhaltung Trumpf. Mit Ausnahme der Theorie Niklas Luhmanns, die Elemente zu einer Globalanalyse sozialer Systeme und ihrer Subsysteme enthält (Theorien mit Universalitätsanspruch) , scheint die „große" Gesellschaftstheorie ausgespielt zu haben. Dies gilt noch mehr für den Marxismus, dessen theoretische und prognostische Valenz nach dem Untergang des Sozialismus in Europa ein völlig deplorables Bild abgibt. Selbst Habermas' auf das Kommunikationstheorem gründendes Gesellschaftskonzept scheint zumal für die Politikwissenschaft allenfalls noch von normativer Funktion zu sein, kaum geeignet allerdings für forschungsanalytische Zwecksetzungen in der Detailarbeit. Gleichwohl hält der mainstream der Politikwissenschaft der 80er und wohl auch der 90er Jahre die Errungenschaften theoretischer Auseinandersetzungen in bezug auf die analytischen Bemühungen für eine Selbstverständlichkeit. Das Paradigma der politikwissenschaftlichen Forschung ist ihre Anleitung durch Theorie. Im Unterschied zur Vorperiode sind es diesmal aber nicht die Gesellschaftstheorien, die relevant werden, sondern Theorien mitlerer Reichweite, die die Forschung bestimmen, Theorien also, die raum-zeitlich begrenzt sind, jederzeit widerlegbar und jeweils neu formuliert werden müssen, wenn es zu Inkonsistenzen zwischen ihnen und den ermittelten Daten kommt. Wesentlich zu dieser Entwicklung hat das Aufkommen der Policy-Forschung beigetragen. Anhänger dieses Forschungszweiges haben in dieser ein neues Paradigma der Politikwissenschaft sehen wollen, skeptischere Geister haben versucht, sie an die traditionellen Fragestellungen des Faches anzubinden. Wie dem auch sei, auf jeden Fall steht seit spätestens Mitte der 80er Jahre die Politikwissenschaft in einem dreifachen Funktionsdilemma, das durch die Policy-Forschung zumindest mitverursacht worden ist: (a) in bezug auf ihren Wissenschaftscharakter, (b) in bezug auf ihren Bildungsauftrag und (c) in bezug auf ihre Professionalisierung (also Fragen der Ausbildung betreffend). Alle drei Ebenen bedingen einander; nur aus analytischen Gründen sollen sie hier getrennt behandelt werden.

2. Wissenschaftscharakter Vielleicht liegt es daran, daß die theorieangeleitete Forschung den Standard politikwissenschaftlichen Arbeitens markiert, wenn die Politologen seit Beginn der 80er Jahre dazu übergegangen sind, die Ausdifferenzierung ihres Faches nicht mehr primär theoriespezifisch zu deuten. Vielmehr hat sich die Tendenz durchgesetzt, den umfassenden Tätigkeitsbereich der Politikwissenschaft eher begriffsdimensional zu umgrenzen. So hat man sich - im Anschluß an die amerikanische Diskussion angewöhnt, zwischenpolity, politics und policy zu unterscheiden: • polity bezeichnet das Verfassungs-, Institutionen- und Normensystem • politics bezeichnet den politischen Prozeß • policy bezeichnet Aufgabenstellung, Programmplanung und Ergebnis materieller Politik. Es hat sich als Konsens herauskristallisiert, daß keine dieser Dimensionen für sich genommen ausreicht, ein politisches Problem wahrzunehmen und sachadäquat zu analysieren. Alle drei bleiben aufeinander bezogen. Abstrahiert man davon, so

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resultiert daraus eine verkürzte Realitätswahrnehmung: Die potoy-Orientierung, die heute etwas mitleidsvoll als „Opas Politikwissenschaft" bezeichnet wird, kann nicht mehr allein die Frage des „Wozu" politischer Institutionen oder des „Woraufhin" politischer Zielvorstellungen in den Vordergrund rücken, ohne sich um den Aspekt realer Herrschaftspraxis und Machtsicherung zu kümmern. Diejenigen, die die Kenntnisse darüber zu vermehren suchen, wie der politische Prozeß verläuft und welche gesellschaftlichen Interessen mit hineinspielen (po/irics-Orientierung), können nicht absehen von den politischen Zielen, die mit bestimmten politischen Programmen verbunden sind. Und schließlich kann die po/i'cy-Forschung nicht umhin, sowohl institutionell-normative als auch prozessuale Gesichtspunkte in die Untersuchung einzubegreifen. So kann als Vorteil zusätzlich gelten, daß auch eher traditionelle Fragestellungen nicht von der Analyse ausgeschlossen bleiben und konstitutiven Charakter bei der Problemstellung und Problemlösung besitzen können. Zu denken ist hierbei z.B. an die Revitalisierung der Institutionentheorie (s. Kap. I), die Mitte der 80er Jahre eingesetzt hat. Nicht allzu abwegig ist es zu behaupten, daß dieser Vorgang als Begleiteffekt des Aufkommens der PolicyRichtung gewertet werden kann. Viel spricht also für die Ansicht Manfred G. Schmidts, daß diejenige die „beste Politologie" sei, die Gesichtspunkte aller drei Politikdimensionen zu berücksichtigen bereit ist. (In Hartwich, Policy-Forschung, 139.) Die Meinung ist vielleicht gar nicht so verfehlt, wie gelegentlich in der Literatur festzustellen ist (so bei Bohret u. a., S. 7), die Aufsplitterung des Politik-Begriffs unter historischen Gesichtspunkten zu sehen: Die ältere Politikwissenschaft habe sich zunächst auf die Analyse der demokratischen Institutionen konzentriert, danach habe sich das Fach verstärkt um die Analyse der faktisch ablaufenden Prozesse bemüht, schließlich habe es sich mit Fragen der Aufgabenerfüllung und der Problemlösung befaßt. Dieser Einsicht ist eine gewisse Evidenz nicht abzusprechen, wenn man den gesellschaftlich-ideologischen Hintergrund der unterschiedlichen Perioden, die das Fach durchlaufen hat, herauspräpariert: Zuerst ging es um die normativ-institutionelle Legitimierung der Bundesrepublik als Demokratie. Das war die Periode des „Konstitutionalismus". Veränderte Einstellungen gegenüber politischen Vorgängen und gewandelte Wahrnehmungen politisch-gesellschaftlicher Konfliktlagen haben in dem Fach die Tendenz beschleunigt, noch stärker als bisher Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit nicht nur analytisch voneinander zu trennen und in diesem Vergleich die gravierenden Diskrepanzen zwischen den beiden Sphären aufzuzeigen, die „eigentlichen" Macht- und Herrschaftsträger politischer Entscheidungsprozesse im gesellschaftlichen Raum zu bestimmen. Das war die Periode des „Kritizismus". Die Perspektive der Betrachtung hat sich dann wieder verschoben, als klar wurde, daß die Steuerungsmöglichkeiten der politischen Entscheidungszentralen aufgrund negativer ökonomischer und fiskalischer Entwicklungen auf relativ enge Grenzen stieß, daß eine operative Politik der aktiven Umverteilung sowie der Vermehrung des Surplus mehr und mehr eingeschränkt wurde, daß sich also die Frage mehr und mehr aufdrängte, was Politik noch zustande zu bringen vermag. Was kommt unter der Beachtung welcher Vorgaben und unter Anwendung welcher Mittel bei der Aufgabenerfüllung staatlicher Politik auf je unterschiedlichen Feldern heraus? Durch ein solches Fragen ist die Periode des „politologischen Etatismus" eingeleitet worden. Für diese Richtung ist es bezeichnend, daß sie den Staat und seine Institutionen - seien es die des Bundes, der Länder oder der Gemeinden - neu entdeckt hat, in gewissem Maße allerdings vorbereitet durch die neomarxistische Staatsdiskussion. Es

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ist nicht der alte juristische Staatsbegriff, auf den man sich hierbei zu berufen gedenkt und der noch von der normativ-institutionellen Politikwissenschaft in die Schranken gewiesen worden war; aber es gilt auch als sicher, daß die juristischen Auffassungen über den Staat nicht mehr als Gegenpol eingestuft, nicht mehr diskriminiert werden. Das Nachdenken über den Staat erfährt freilich eine substantielle Erweiterung in das Empirische hinein. Die Probleme, die sich mit der Akzeptanz der Dreidimensionalität des Politikbegriffs stellten, bestanden weniger darin, daß es sich für die Disziplin insgesamt als nachteilig auswirken könne, sich von der Entwicklung eines einheitlichen Politikbegriffs entfernt zu haben, der für die Detailforschung operationalisierbar wäre. Einen homogenen Politikbegriff hat es in der Vergangenheit nie gegeben, und man könnte sarkastisch formulieren, daß es soviele Definitionen von Politik gibt wie Politikwissenschaftler. Die Probleme stellten sich vielmehr mit dem Aufstieg der Policy-Forschung. Auf die spezifischen Aspekte dieses Forschungsbereiches geht der Beitrag von Manfred G. Schmidt ein (vgl. Tl. VIII). Hier ist aber der Ort, auf einige übergreifende Fragen hinzuweisen. Es hat nämlich innerhalb der Politikwissenschaft Irritationen gegeben, Irritationen derart, daß gefragt worden ist, ob die Policy-Forschung nicht den Rahmen der Politikwissenschaft zu sprengen drohe. Die Zunft der Politologen hat dem dadurch abzuhelfen gesucht, indem sie 1984 eine Tagung einberufen hat, auf der Mißverständnisse ausgeräumt, Polarisierungen vermieden werden sollten. Existiert ein gleichsam naturwüchsiger Hiatus zwischen den substantiellen Fragen der traditionellen Politikwissenschaft und denen der Policy-Forschung? Heute, zehn Jahre später, scheinen diese Probleme ausgeräumt zu sein. Aber damals beschäftigten sie Anhänger wie skeptische Betrachter der Policy-Analyse. Gehen wir wenigstens auf zwei Punkte ein, die nicht nur wissenschaftssystematisches Gewicht besitzen, sondern auch Fragen der Bildung und Ausbildung betreffen. Der erste Punkt berührt den Fokus der Policy-Forschung. Wenn neben der Monetarisierung und der Verrechtlichung (besser vielleicht - nach einem Wort Theodor Eschenburg - „Verrichterlichung") die Politisierung als Substrat der Lebenswelt hochkomplexer Industriegesellschaften gelten kann, die im Prinzip alle ihre Mitglieder in freilich unterschiedlichem Maße erfaßt, dann wird klar, daß sich der Gestaltungswille und das Leistungspotential der politischen Entscheidungszentralen auf alle Sphären der Gesellschaft richten können. Damit ist aber auch einleuchtend, daß der Policy-Forschung theoretisch gesehen keine Grenzen gesetzt sind; sie expandiert in dem Maße, in welchem der Staat und seine Institutionen ihren Aufgabenbereich auszudehnen sich vornehmen. Oder umgekehrt ausgedrückt: Sie verlängert sich soweit, wie die gesellschaftlichen Ansprüche bestimmt sind, die an die Politik herangetragen werden. Gestern war dies die Bildungspolitik, heute ist es die Sozialoder Umweltpolitik, morgen wird es etwas anderes sein, was die Gemüter bewegen wird. Die Policy-Orientierung scheint zunächst von drei Vorteilen bestimmt zu sein, die auch für die Politikwissenschaft insgesamt von Nutzen sein werden: • Sie dokumentiert zunächst einmal die Möglichkeit, die Grenzen politikwissenschaftlicher Gegenstandsbestimmung immer weiter auszudehnen. Es wird immer wieder Neues entdeckt, was „politikwissenschaftlich" bearbeitet werden kann. Damit ist auch die Chance gegeben, auf theoretisch-methodischem Gebiet innovativ tätig zu werden. Denn jeder neue Gegenstand bedarf einer adäquaten Konzeptualisierung und Methodologie.

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• Sie stärkt das Postulat der Interdisziplinarität politischer Forschung. Es gibt - wie es Hans-Hermann Hartwich auf dem Symposium 1984 einmal treffend formuliert hat - im Grunde keine soziologische, juristische, administrative, ökonomische, politologsche usw. Probleme, sondern eben „Probleme", die analytisch nur im Zusammenspiel verschiedener Disziplinen, ihrer jeweils unterschiedlichen Fragestellungen, Methoden, Theoriekonzepte angegangen werden können. (Hartwich, 171). • Sie schärft das Bewußtsein für ein Phänomen, ohne das unsere moderne Gesellschaft nicht überleben kann, dessen Bedeutung aber gerade in den Sozialwissenschaften noch gar nicht so richtig erkannt worden ist, nämlich das Prinzip der Arbeitsteilung. Eigentlich erscheint es zwingend, daß sich das Moment einer arbeitsteiligen Wissenschaft aus der Forderung nach Interdisziplinarität ergibt, so daß man darauf nicht mehr gesondert aufmerksam machen muß. Auf jeden Fall gilt dies für die Bewältigung eines empirischen Problems. Arbeitsteilung in der Wissenschaft soll sich aber auch auf den Zusammenhang von Theorie und Analyse beziehen. Noch immer herrscht ein latentes Mißtrauen zwischen den Theoretikern auf der einen und den Empirikern auf der anderen Seite. Jene sehen in der empirischen Kleinarbeit lediglich „Zuträgerdienste", auf die man im Dienste „höherwertiger" Theorieanstrengungen zurückgreifen könne. Und diese scheuen sich vor dem Risiko, kühnere theoretische Entwürfe vorzulegen, aus Furcht, diese würden sich nicht unbedingt empirisch verifizieren lassen. Dabei erscheint es doch durchaus sinnvoll, daß nicht jeder Forscher, der sich einem begrenzteren Bereich zuwendet, den Ehrgeiz aufbringen muß, seine „eigene" Gesellschaftstheorie zu entwerfen, um reputationswürdig zu werden. Es scheint so zu sein, daß die PolicyForschung über genug Substanz verfügt, dieses Mißverständnis zwischen Theoretikern und Empirikern für beide Seiten erträglich zu gestalten oder gar zu nivellieren. So groß die Vorzüge der Policy-Analyse auch sein mögen, so sind doch die Schwierigkeiten, die die Politikwissenschaft mit diesem Forschungsprogramm hat, ernsterer Natur, als daß sie so ohne weiteres beiseite geschoben werden könnten; sie berühren zweifelsohne den Nerv dieser Wissenschaft. Wenn der Satz stimmt, daß die Policy-Forschung zur Fragmentierung der Forschungsfelder neigt und gar der Aufsplitterung zentraler politikwissenschaftlicher Themenbereiche mehr oder weniger ungewollt Vorschub leistet, dann steht nichts anderes als die „Identität" des Faches insgesamt zur Disposition. Die Sorgen derjenigen, die die innere Einheit des Faches aufrecht erhalten wollen, sind nicht unbegründet: Nicht nur stehen die einzelnen Policy-Materien unzusammenhängend nebeneinander; der Blickpunkt der Forscher wandelt sich mit der Bedeutung des einzelnen Politikfeldes im Gesamtspektrum politischen Entscheidungshandelns. Die Strukturkomplexität moderner Politik verlangt geradezu die Spezialisierung in unterschiedliche Bereiche, ja verschärft sie darüber hinaus noch. Für die Disziplinsystematik kann eine solche Entwicklung permanenter Neuthematisierung einschneidende Folgen haben. Hinterher weiß keiner mehr, was eigentlich zum Kernbestand der Politikwissenschaft zu zählen sei. Daß dies auch weitreichende Konsequenzen für den Kompetenzerwerb innerhalb des politikwissenschaftlichen Curriculums hat, wird von der Realität zurückgespiegelt und weiter unten behandelt. Der Politikwissenschaft ist somit nichts anderes übrig geblieben, als die Frage nach ihrer „Identität" erneut zu stellen. Natürlich hat niemand, der ein wenig beunruhigt die rasante Ausbreitung der Policy-Forschung verfolgt hat, dieser unterstellt, sie wolle die Politikwissenschaft „von innen" her aushöhlen. Ebensowenig hat man je von

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einem Vertreter der Policy-Analyse vernommen, über Jahrzehnte hinweg zum Gemeingut der Politikwissenschaft gehörende Wissensbestände einfach über Bord werfen zu wollen und so das Fach von Grund auf neu zu instrumentieren. Aber die Frage nach dem Grund des inneren Zusammenhalts der Disziplin mußte gestellt werden, und sie wurde auch aufgeworfen. Man hat versucht, auf dem Niveau der großen Themenbereiche der Politikwissenschaft sich auf einen Nenner zu einigen. So kommt Carl Bohret in einer Umfrage 1984 auf acht große Teilbereiche, über deren Zugehörigkeit zur Politikwissenschaft es keine Meinungsverschiedenheiten gibt: Politische Theorie (incl. Ideengeschichte und Zeitgeschichte), Politische Ökonomie, Politische Soziologie, Regierungssysteme und Innenpolitik, Vergleichende Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen (mit Außenpolitik und Friedensforschung) und Politische Bildung/Didaktik (Bohret, in Policy-Forschung, 300). Dies wird wohl auf absehbare Zeit das Grundgerüst politikwissenschaftlicher Forschung und Lehre sein (die vorliegenden „Grundzüge" spiegeln in etwa diesen Sachverhalt), und Bohret sieht in seinem Fazit überhaupt keinen plausiblen Grund, der für eine Überlagerung der Politikwissenschaft durch den Zweig der Policy-Forschung sprechen könnte. Die konventionellen Gebiete seien weiterhin gut vertreten (Bohret, 316). Damit ist aber die Ausgangsfrage der Identitätsfindung der Politikwissenschaft noch nicht aus der Welt geschafft. Es gibt immer noch die Frage nach „der" Methode des Faches; es gibt immer noch die Frage nach „der" bzw. „den" Theorie(n) des Faches; es gibt immer noch das Problem „der" Fragestellung der Politikwissenschaft. Ein Politologe kann mit den Theoremen der Systemtheorie arbeiten, aber dies „kann", „darf" ein Soziologe oder ein Erziehungswissenschaftler auch. Ein Politologe kann sich mit der Geschichte einer Partei beschäftigen; aber das „kann", „darf" ein Historiker auch. Ein Politologe kann sich mit der klassischen politischen Philosophie befassen; aber dies „kann", „darf" ein Philosoph auch. Ein Politologe kann sich mit lokaler Politik abmühen; ein Verwaltungswissenschaftler oder ein Organisationssoziologe „darf", „kann" dies auch. Worin besteht also das „Politologische" an der Politikwissenschaft? Kann in diesem Gewirr von Begriffen, Theorien, Konzepten etc. es überhaupt noch angehen, „eine gemeinsame Frage zu formulieren", aus der heraus sich der spezifische Disziplincharakter der Politikwissenschaft ergibt, wie es Michael Th. Greven einmal beschworen hat (in Hartwich, Policy-Forsch., 171). Worin liegt das Orientierungskriterium hinsichtlich des Eigenwerts der Politikwissenschaft und hinsichtlich seiner Abgrenzung gegenüber anderen wissenschaftlichen Bemühungen, die auch den Bereich der „Politik" zu ihrem Erkenntnisbestand zählen? Auf der Ebene der Theorien, Begriffe, Konzepte, Definitionen ist der Frage wohl kaum beizukommen, denn diese unterliegen schnellen Wandlungen, und es müssen nicht unbedingt allein externe Effekte und Einflüsse sein, die diese Wandlungen herbeiführen können, schon allein die Tendenz zu weiterer Differenzierung gegebener Begriffe etc. - also ein eher interner Vorgang verschiebt den Bedeutungsgehalt von zunächst für akzeptabel gehaltenen Definitionen etc. Daher ist bislang auch nur gegenstandsorientiert vorgegangen worden. Man kann zwar aus der Not eine Tugend machen und in der Vagheit und Disparität politikwissenschaftlicher Begriffe, Definitionen etc. Beweise einer offenen Pluralität von Anschauungen und in dieser Pluralität wiederum einen erkennbaren Vorzug des Faches sehen, was in der wissenschaftlichen Praxis auch so gehandhabt worden ist. So scheint das Gespenst der Uniformität, als Kennzeichen eines steril-stagnierenden Denkens, gebannt, sowie das Vorhandensein einer Art „herrschender Meinung" wie in der Rechtswissenschaft - geleugnet. Schließlich kann man in dieser pluralitären

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Verfaßtheit der Politikwissenschaft ihre „Geschäftsgrundlage" erblicken, die als bindendes Glied zwischen auseinanderdriftenden Positionen dient. In der Politikwissenschaft - wie wohl in fast jeder Humanwissenschaft - neigt man dazu, die Einheit in der Vielheit zu sehen bzw. - im Sprachgebrauch des Hegelianismus - eine Identität von Identität und Nicht-Identität (Differenz) herzustellen. Diese These war schon im Einleitungskapitel herausgestellt worden. Wenn diese Rede allerdings mehr sein soll als ein hübscher Slogan, dann bleibt immer noch die Bestimmung dessen, was „Identität" und „Differenz" sei. Vielleicht bietet hier die Terminologie der auf Selbstreferenz fundierenden Systemtheorie im Sinne Niklas Luhmanns einen Lösungsweg, wenn sie von der „Differenz von Identität und Differenz" spricht (Luhmann, Soziale Systeme, 26). Danach ist ein selbstreferentielles System - und es wird hier einmal angenommen, die Politikwissenschaft sei ein solches - nur dann zu seiner Reproduktion fähig, wenn es sich als ein „Selbst" zu identifizieren und sich gleichzeitig von anderem abzugrenzen weiß. Dem Dilemma dieser „Selbstentdeckung" hat man u.a. dadurch auszuweichen gesucht, indem man nicht mehr objekt- (und d.h. auch theorie-) orientiert, sondern problem- oder aufgabenorientiert ansetzt, wie dies etwa Eberhard Schütt-Wetschy unternommen hat (in Haungs, 19 ff.). Danach leitet sich die wissenschaftliche Wahrnehmung nicht von Objekten her, sondern von Problemen (bzw. Aufgaben) der politischen Praxis. Dahinter verbirgt sich wohl die Vorstellung, daß es wenig Sinn mache, Fragen nach dem „Wesen" von „Politik", „Politikwissenschaft" u.a. zu stellen, weniger also dem Essentialismus, als eher einem „politischen Naturalismus" das Wort zu reden. Dabei geht es nicht um das Ergründen der „Natur" von „Politik" oder „Politikwissenschaft". Die Probleme des Systems „Politik" sind die Probleme des Systems „Politikwissenschaft". Im folgenden soll das Problem der Identitätsfindung der Politikwissenschaft nicht aus der Perspektive der Forschung, sondern aus der Perspektive von Lehre und Studium behandelt werden. Das Studieren von Gegenständen, das Arbeiten an Problemen, das Erlernen von Methoden: In dieser Trias von Objekt-, Problem- und Methodenbezug widerspiegeln sich die zentralen Fragen der Disziplin.

3. Das Lehr- und Studienwesen: Die Kontroverse „Bildung oder Ausbildung" Der Satz, daß die Policy-Forschung kein neuer paradigmatischer Zugriff auf die Analyse politischer Verhältnisse darstellt, stimmt, wenn man ihn allein auf den Bereich der politikwissenschaftlichen Forschung bezieht. Bezieht man ihn allerdings auf den Lehr- und Ausbildungsbereich - zumindest in Deutschland - , dann muß er erheblich relativiert, ja in Frage gestellt werden. Denn es war ja gerade der Aufstieg der Policy-Analyse, der in den 80er Jahren das Selbstverständnis der Politikwissenschaft im Blick auf die Ausbildungssituation merklich aus dem Gleichgewicht brachte und zu heftigen Debatten führte, die im Grunde noch andauern. Die PolicyForschung stellte für den Lehrbereich des Faches eine Herausforderung dar, auf die es nicht vorbereitet war. Denn von Beginn an war ja bekanntlich das Studium der Politikwissenschaft in Deutschland in pädagogischem Sinne angelegt, auch dann noch, als das Fach einen Prozeß der Verwissenschaftlichung durchlief, vor allem auch dann noch, als es die Gesellschaftskritik entdeckte. Als „Demokratiewissenschaft" war das Fach primär „Bildungswissenschaft". Dieses Selbstverständnis erodierte in den 80er Jahren. Die Auseinandersetzungen, die dann geführt wurden, zentrierten

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sich auf die Frage, ob die Politikwissenschaft ihren Charakter als „Bildungswissenschaft" erhalten oder zu einer „Ausbildungswissenschaft" sich entwickeln sollte, weg von der Pädagogik, hin zu einer „Anstalt" für bestimmte „gesellschaftsfähige" Berufe, weg von der Belehrung, hin zur Erlernung von Kompetenzen, weg von der Aufklärung, hin zur Anpassung. 3.1. Ausgangslage Die Kontroverse ist durch verschiedene Umstände begünstigt worden. Zunächst bleibt einmal festzuhalten, daß ganz allgemein dem Faktor „Bildung" nicht mehr die bedeutsame Rolle zugesprochen wurde, wie dies noch in den 60er und 70er Jahren der Fall gewesen war. Oft wird dabei die „Schuld" bei den mehr und mehr sich offenbarenden finanziellen Engpässen des Staates gesucht. Größere Plausibilität scheint jedoch die Annahme zu haben, daß sich seit dem Ende der 70er Jahre zunehmend Ermüdungserscheinungen in der Erprobung neuer „reformerischer" Modelle in der schulischen und akademischen Bildung (und Ausbildung) eingestellt haben, die natürliche Folge einer hektischen Betriebsamkeit allerorten, die die Periode davor gekennzeichnet hat, und die merklich zu einer Überhitzung des bildungspolitischen Klimas beigetragen hat. Das erlahmende Interesse an Fragen der Bildung in Politik und Öffentlichkeit wurde dann weiterhin beeinträchtigt durch die schon angeführte Fiskalkrise des Staates, die sich u.a. darin auszudrücken pflegte, daß die Autonomie der Kultusminister in bildungspolitischen Angelegenheiten nachhaltigst durch Eingriffe der Finanzminister konterkariert zu werden drohte. Die Phase der Reformfreudigkeit war ein für allemal beendet. Auf akademischer Ebene wirkte sich diese schleichende „Fiskalisierung" der Bildungspolitik am nachhaltigsten in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften aus, jenen Wissenschaftsbereichen, die am heftigsten vom Bildungsreformismus erfaßt worden waren. Auf ihrem Rücken begann die zunehmende „Aufrüstung" naturwissenschaftlich-technischer Fächer und Institute, von Wissenschaftszweigen also, die kaum der Experimentierfreude der Bildungsplaner ausgesetzt waren, deren Stellenwert für den Produktionsstandort Deutschland eine Selbstverständlichkeit und Aufgabe für sich darstellte. Den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften wurde allenfalls die Funktion von „Orientierungswissenschaften" zugewiesen, die nur das reflexiv zu verarbeiten hätten, was durch den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt vorgegeben werde. Analog dieser Dichotomisierung der wissenschaftlichen Disziplinen entzündete sich in der Folge eine Diskussion, die in der Dichotomisierung der Studiengänge gipfelte, nämlich eine Diskussion über das Verhältnis von Massen- bzw. Breitenstudium und -ausbildung auf der einen und der Heranbildung von Forschungs- und Führungseliten auf der anderen Seite. Diese Auseinandersetzung, die heute unvermindert anhält, wurzelt in dem Phänomen der „Verbürokratisierung" der Hochschulen. Die finanziellen Schwierigkeiten, mit denen Bund und Länder zu kämpfen hatten (und noch haben), und deren Ergebnis sich in einem Abbau oder günstigstenfalls in einer Stagnation des Lehrpersonals ausdrückt, haben kein Gegengewicht in einer entsprechenden Regulierung des Zustroms von Studienwilligen gefunden - eine Tatsache, der schon das Verfassungsrecht entgegensteht - , so daß die Hochschulen in dieser Hinsicht einfach kapitulieren mußten. Von einer vernünftigen Ausbildung scheint man weiter entfernt zu sein, als man sich einzugestehen bereit ist. Auf der schulischen Ebene lagen die Dinge nicht viel anders. Auch hier war der

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Staat zu gravierenden Einsparungen gezwungen, was freilich zugunsten einer restriktiven Personalpolitik bzw. zu Lasten eines angemessenen schulischen Unterrichts führen mußte. Entsprechend der Situation an den Hochschulen litten auch in diesem Bereich primär solche Fächer, denen man einen relativ geringen gesellschaftlichen Nutzen zumaß, wie eben das Fach „Sozialkunde". Fächer wie Deutsch oder Geschichte waren schon allein aus traditionellen Gründen von einer „Austrocknung" besser geschützt; hier war der humanistisch-klassizistische Impetus noch (oder wieder) voll wirksam.

3.2. Fragen der Ausbildung Diese Politik der Kultusverwaltungen zeitigte relativ rasch einschneidende Konsequenzen für das Ausbildungsprofil der Politikwissenschaft. Ab Anfang der 80er Jahre zeichnete sich ein rapider Rückgang derjenigen Absolventen ab, die ein Lehramtsexamen anstrebten. Die von der DVPW erstellte Lehr-Enquete 1986 legt ganz eindeutig die Tendenz dar: Zwischen 1981/82 und 1985/86 nahm der Anteil der Lehramtskandidaten und -kandidatinnen um circa ein Drittel (von 10 300 auf 6 100) ab. Noch gravierender zeigt sich dieser Rückgang bei einem Vergleich der Studienanfänger: hier beträgt die Abnahme mehr als die Hälfte (zwischen 1981 und 1985 von 1300 auf 445) (in Hartwich, 1987, 231). Das Lehramt fiel also als Studienziel mehr und mehr aus. Da aber die Studentenzahlen auch im Fache Politikwissenschaft unvermindert stiegen, wurde zwangsläufig die Unattraktivität der Sozialkundeausbildung durch ein Ausweichen auf den Magister- und - soweit angeboten - den Diplomstudiengang aufzuwiegen gesucht. Diese Möglichkeit ist verständlicherweise von den meisten Studierenden auch weidlich genutzt worden. Aber damit ergaben sich Probleme eigener Art, deren Diskussion nicht allein auf den Bereich der Lehr- und Ausbildungsbestimmung beschränkt blieb, sondern weit darüber hinaus das Selbstverständnis des Faches insgesamt berührt hat. Der Lehramtstudiengang war durch ein klar umrissenes Berufsbild vorgezeichnet; wer ihn wählte, wurde in der Regel Sozial- oder Gemeinschaftskundelehrer, meist in Verbindung mit Geschichte, einer anderen Sozialwissenschaft oder mit Deutsch bzw. einer anderen Philologie. Der Magisterstudiengang ließ diese klaren Zuschreibungen vermissen. Er war ein qualifizierter akademischer Abschluß, in der Studienpraxis mit dem Lehramtsstudiengang vergleichbar, prädestiniert, einem relativ breiten Spektrum beruflicher Zielvorstellungen zu entsprechen - unter der grundlegenden Voraussetzung freilich, daß die Absolventen ein hohes Maß an persönlicher Flexibilität in der Erweiterung ihres Wissens und ein ebensolch hohes Maß an Mobilität in bezug auf ihren zukünftigen Arbeitsplatz zu investieren bereit waren. Diese Voraussetzung mußte um so mehr ins Kalkül gezogen werden, als zunehmend auch die Möglichkeit, eine akademische Laufbahn einschlagen zu können, durch die restriktive Personalpolitik an den Hochschulen verbaut blieb. Über viele Jahre hinweg war für Magistranden der Wissenschaftsbereich der berufliche „Rettungsanker" par excellence gewesen, in welchem man über eine Promotion zumindest vorübergehend Fuß fassen konnte. So befriedigend es für den einzelnen auch sein mochte, sein Politikstudium nach eigenem Gutdünken anzulegen, so unbefriedigend und desaströs mußte es sich für seine weitere Lebensplanung ausnehmen, wenn dieses Moment des „Freischwebens" in seinem Fach sich mit zunehmender Studiendauer zu verstetigen begann und mangels gehaltvoller Berufsorientierung unter der Hand die Scheu zunahm, in ein doch als unsicher empfundenes Arbeitsleben hinauszutreten.

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Etwas günstiger sah es mit den Diplomstudiengängen aus. Schon in seinen Anfängen in Berlin war dieser Abschluß weitaus berufsbezogener aufgebaut worden, eine curriculare Praxis, die dann später auch dort angewandt wurde, wo diese Studienmöglichkeit angeboten worden war. Diese von Anfang an intendierte Politik der Professionalisierung des Diplomstudienganges mit seiner im Vergleich zum Magisterstudium rigiden Durchreglementierung des Studienaufbaus, der Lehrplanung und der Prüfungskombination hat - folgt man dem wenigen Zahlenmaterial, das vorliegt - in bezug auf die spätere berufliche „Unterbringung" seiner Absolventen relative Erfolge zu verzeichnen. Begünstigt wurde dieses relative „Erfolgserlebnis" freilich dadurch, daß die Zahl derjenigen, die das Diplom als Abschluß wählten, im Gegensatz zu den Magistranden verschwindend gering war. Bildungsökonomisch ausgedrückt hieß das, daß sich die Nachfrageseite - die potentiellen Arbeitgeber - mit keinem Überhang von Diplomanden auf der Angebotsseite konfrontiert sah, so daß auf diesem kleinen Segment des akademischen Arbeitsmarktes insgesamt gewisse Steuerungsmechanismen einen relativen Ausgleich von Angebot und Bedarf herstellen konnten. Hinzu kam, daß der inhaltliche Aufbau der Diplomstudiengänge mit seinen eingebauten Kontroll- und Filtermöglichkeiten auf Zuverlässigkeit und Angemessenheit der Ausbildung hindeuten und so für die Nachfrageseite Anlaß genug sein konnte, bei ihrer Suche nach qualifiziertem Personal auf Diplom-Politologen zurückzugreifen. Verantwortlich denkenden Repräsentanten des Faches, denen aus Gründen des Engagements, aber auch aus Gründen der Reputation der eigenen Disziplin Fragen der Ausbildung und der Berufsperspektive nicht gleichgültig bleiben konnten, ist die Gretchenfrage, die sich in diesem Zusammenhang geradezu aufdrängte, nicht verborgen geblieben, und sie ist auch sofort gestellt worden: Wie muß das innere Gefüge einer Wissenschaft wie der Politologie bestimmt sein, wenn die Bedürfnisse der Arbeitswelt angemessen befriedigt werden sollen? Muß sich die Politikwissenschaft zwingend nach den Erfordernissen des Arbeitsmarktes richten, wenn gewährleistet werden soll, daß die Absolventen ein ausreichendes Unterkommen geboten bekommen? Oder ist es nicht vielmehr umgekehrt, daß die Nachfrageseite sich nach der inneren Entwicklungslogik der Wissenschaft zu richten habe? Daraus resultierte wie selbstverständlich die Frage nach der Identität des Faches Politikwissenschaft Identität als symbolisches Äquivalent für die Frage nach den „Kernbereichen" des Faches: Was gehört zum Fach Politikwissenschaft, das allen Ausbildungsgängen gemeinsam zu sein hat? Welche Bereiche sind dem Fach zugeordnet, die für alle seine Mitglieder - Dozenten wie Studenten - verpflichtend sind? Erneut stand die Politikwissenschaft vor der delikaten Aufgabe, über ihre Bedingungen und Ziele Zeugnis ablegen zu müssen und ihr Selbstverständnis zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu definieren. Im Unterschied zu früheren Auseinandersetzungen allerdings handelte es sich diesmal um eine höchst akademische Angelegenheit, die von einer zwar repräsentativen und kompetenten, aber doch relativ kleinen Gruppe von Politikwissenschaftlern initiiert und vorangetrieben wurde, und nicht mehr das Fach insgesamt beschäftigte oder gar in Atem hielt. Im Grunde genommen ging es darum, sogenannte „Kernbereiche" politikwissenschaftlicher Lehre zu bestimmen und auf längere Sicht hin festzuschreiben, die in jedem Studiengang - Lehramt, Magister oder Diplom - angeboten werden bzw. durch entsprechendes Personal vertreten sein sollten. Dazu wurden gezählt: Politische Theorie und politische Philosophie; Methoden; politisches System der Bundesrepublik; Komparatistik; Internationale Beziehungen und Außenpolitik; Politik und Wirtschaft. Bereits 1982 hat der „Ständige Ausschuß für Lehre und Studienrefom beim Vorstand der DVPW"

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in seinen Empfehlungen für den Diplomstudiengang Politikwissenschaft und den Magisterstudiengang Politikwissenschaft sowie das politikwissenschaftliche Nebenfachstudium gewisse Markierungspunkte gesetzt, die durch die spätere Diskussion allenfalls nuanciert worden sind. Insbesondere waren es die Normativisten und Ideenhistoriker, die im Blick auf den Vormarsch der „policy analysis" und der dahinter sich verbergenden empirischen Grundhaltung befürchteten, ihr Bereich würde an den Rand gedrückt werden, und die folglich Einspruch dagegen erhoben hatten. 3.3. Politikwissenschaft und Politische Bildung Und wie war es um die Politikwissenschaft als Bildungsfach bestellt? Indem nicht wenige Fachvertreter den Lehramtsstudiengang stillschweigend mit politischer Bildung gleichsetzten, unterlagen sie der Befürchtung, daß ein Rückgang dieser Studienart in unterschiedlichen Formen automatisch auch zu einer Minderung der Bildungsfunktion der Politikwissenschaft führen würde. Sie übersahen indes dabei, daß ebenso wie die alternativen Curricula auch der Lehramtsstudiengang schon von Anfang an mit den typischen Charakteristika einer spezifischen Ausbildungsform für einen bestimmten Beruf behaftet war. Ferner schien ihnen entgangen zu sein, daß auch die Anlage sowohl des Magister- als auch des Diplomstudienganges einen generalistischen Anstrich aufwies, der dem des Lehramtes in nichts nachstand und der es verhinderte, daß die Politikwissenschaft in den Geruch einer anwendungsorientierten bzw. streng berufsqualifizierenden Disziplin geriet. Ohne besonderen Grund - von den ungünstigen Arbeitsmarktzahlen einmal abgesehen - wurde ein künstlicher Gegensatz zwischen Bildungs- und Ausbildungsfunktion der Politikwissenschaft konstruiert, der den realen Studienbedingungen nicht entsprach und der zu überflüssigen Debatten Anlaß gab. Dabei fand in der Tat eine schleichende Entwertung der politischen Bildung im Rahmen der Politikwissenschaft statt, deren wahre Ausmaße erst zu Beginn der 90er Jahre voll sichtbar und von den Verantwortlichen mit Schrecken diagnostiziert wurden. Niemand ließ sich vernehmen und nach einem Ausbau der Politikwissenschaft oder wenigstens nach gewissen Umorientierungen des Faches rufen, als die verbalen und gewalttätigen Manifestationen des Rechtsradikalismus, des Neonazismus und des Rassismus ihre verheerenden Wirkungen zeitigten. Um 1959/60 war dies noch der Fall gewesen, als die erste massive Welle des Antisemitismus über das Land geschwappt war. Das Fach besaß offenkundig nicht mehr ein Exklusivrecht, als Ausgangspunkt einer wohlfundierten politischen Bildung, die diesen Tendenzen entgegensteuern könnte, zu gelten. Daß das Verhältnis zwischen Politikwissenschaft und politischer Bildung zur Zeit von gewissen Unstimmigkeiten gekennzeichnet ist, verdeutlichen die unwirschen Reaktionen von Pädagogen und Didaktikern der Politik, die ihren Kollegen von der Politikwissenschaft vorhalten, diese würden die Belange der politischen Bildung entweder gar nicht mehr registrieren oder bestenfalls nur noch am Rande davon Notiz nehmen (dazu der Sammelband von Claußen/Noll). Wichtiger seien ihnen die Belange der Wissenschaft, und der Indifferentismus, der in bezug auf Bildungsfragen zu Tage treten würde, sei mit Blick auf die Geschichte des Faches durch nichts zu rechtfertigen. Daß diese Argumentation nicht so ohne weiteres stichhaltig ist, ist verschiedentlich hier angedeutet worden. Die Überlagerung der pädagogischen Intentionen der Politikwissenschaft, wie sie zu Beginn vorgeherrscht hatten, durch

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den Prozeß einer unaufhaltsam voranschreitenden Verwissenschaftlichung kann man bedauern, aber er war nicht zu vermeiden, wollte das Fach nicht im akademischen Umfeld einmal gewonnenes Terrain verlieren. In Richtung auf die politische Pädagogik muß allerdings gesagt werden, daß auch diese dem Prozeß der Verwissenschaftlichung nicht entgangen ist. Auch diese hat Tendenzen aufgewiesen, durch welche die pädagogischen Zielsetzungen in einem Wust von theoretischen Ansätzen und Modellen zu ersticken drohten und Gefahr liefen, gar nicht mehr den eigentlichen Adressaten, den Schüler, den Lehrer bzw. den sog. „mündigen Bürger", zu erreichen.

VI. Politikwissenschaft nach der deutschen Einheit Hat die deutsche Einheit nach dem Herbst 1989 Bewegung in die Entwicklung der Politikwissenschaft gebracht? Wer auf diese Frage hier ein klares „Ja" erwartet, der mag verwundert sein, wenn er sieht, daß die Antwort nicht so eindeutig und eher ambivalent ausfallen wird. Äußerlich betrachtet hat der Anschluß der alten D D R natürlich bewirkt, daß hier eine Politikwissenschaft im westlichen Sinne institutionalisiert werden konnte. An allen Hochschulen wurden Planstellen unterschiedlichster Besoldungsgruppen für das Fach geschaffen; Seminare und Institute wurden aufgebaut oder befinden sich noch im Aufbau; das Fach will man für eine interessierte Studentenschaft attraktiv machen. Vor allem die Lehreraus- und -fortbildung sucht man zu intensivieren (dazu Bleek). Wer aber glaubt, nur weil hier gleichsam vom Nullpunkt aus ein neues Fach implementiert wird, könnte auch auf bestimmten Teilbereichen experimentiert oder zumindest gewisse negative Entwicklungen in den alten Bundesländern von vornherein vermieden werden, der wird sich wohl eines Besseren belehren lassen müssen. Experimente oder Innovationen können nur dann durchgeführt werden bzw. gelingen, wenn auch ein entsprechender Wille vorhanden ist. Nur ein flüchtiger Blick auf die bisherige Berufungspolitik in den neuen Ländern zeigt, daß versucht wird, mehr oder weniger nachhaltig die in der alten Bundesrepublik verfestigten berufspolitischen Schemata den neuen Gegebenheiten überzustülpen (Bleek, 690). Wie kann hier innoviert werden, wenn die Rollen zwischen „Gebenden" und „Nehmenden" klar und das heißt ungleich verteilt sind? Auf der innerwissenschaftlichen Ebene setzt sich dieses Spiel der verteilten Rollen natürlich fort. Da der Marxismus-Leninismus als Alternative mit Recht wegfällt, werden die Standards und Denkgewohnheiten, die unterschiedlichen Tendenzen und Konfigurationen der westdeutschen und internationalen Politologen-Gemeinschaft an den Hochschulen der neuen Bundesländer Einzug halten und verbreitet. Durch die deutsche Einheit hat in einigen Bereichen eine geänderte Mentalität des Fragens, Analysierens und Beurteilens Platz gegriffen, die auch und gerade die Politikwissenschaft erfaßt hat. Über fast drei Generationen hinweg richtete sich das politologische Fragen am demokratischen Universalitätsanspruch aus. In bezug auf die wissenschaftliche und erzieherische „Umpolung" der alten D D R ist an dieser Forderung auch nicht gerüttelt worden. Hans-Hermann Hartwich hat sich sogar entschieden dafür ausgesprochen, die Politikwissenschaft in den neuen Bundesländern nach Art der Einführung des Faches in Westdeutschland nach 1945 auf den Weg zu bringen, nämlich als „Demokratiewissenschaft". Aber es geschah auch noch etwas anderes: Urplötzlich erfährt dieses Demokratieprinzip nun ernsthafte Konkurrenz durch den Begriff der „Nation", der tot gesagt war und der nun eine Renaissance

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erlebt, wie man es kaum vermutet hätte. Der Neonazismus ist „nur" der extremste Ausdruck dieser Tendenz. Der Nationbegriff mit allen seinen Ingredienzien hat also wieder Konjunktur, und die Politikwissenschaft in Deutschland kommt nicht darum herum, sich damit zu befassen. Sie weicht diesem heiklen Thema auch nicht aus. Fatalerweise ist es bemerkenswert, wie weit - auch in den Reihen der Politikwissenschaftler - die Intellektualisierung der „Nationswerdung" schon gediehen ist. Davon ist nicht nur die politische Theorie berührt. Im Bereich der Außenpolitik zum Beispiel ist es zu einer Revindizierung des Machtstaatsprinzips gekommen. Ein zweiter Aspekt veränderten Fragens betrifft die untergegangenen sozialistischen Systeme. Man wird hierbei zu neuen Konzepten und Erklärungsansätzen kommen müssen, weil neue Fragestellungen in bezug auf die endogenen Entwicklungen der sozialistischen Staaten auftauchen, die bisher vernachlässigt worden sind. So wird man genauer feststellen müssen, daß die systemimmanente Innovationsfähigkeit des Sozialismus, die man angenommen hatte, nicht vorhanden gewesen ist. So wird man stärker als bisher den Sicherheitsbereich und seinen Einfluß auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung zu berücksichtigen haben.

VII. Streitfragen 1. Prognosefälligkeit Das eben Gesagte über die Auflösung der sozialistischen Staaten in Ost- und Südosteuropa lenkt das Interesse hinüber auf einen Gesichtspunkt politikwissenschaftlicher Forschung, der zwar irgendwie immer unterschwellig die Untersuchungen begleitet, der aber selten eingehender studiert worden ist, nämlich der Gesichtspunkt der Prognose. Die Frage nach der Prognostizierbarkeit politischer Ereignisse und Entwicklungen erhielt eine hochaktuelle Note, als eine Bastion des sozialistischen Lagers nach der anderen fiel und man damit anfing, die Politologen mit der Frage zu konfrontieren, warum sie sich außerstande gesehen hätten, diese Entwicklung vorauszusagen. Immerhin wollen ja sozialwissenschaftliche Prognosen mehr sein, als sich auf bloße statistische Probabilitätsaussagen zu beschränken, und auch einen höheren Anspruch anstreben, als sich mit dem journalistischen Allerweltssatz „Das Weitere bleibt abzuwarten" zufriedenzugeben. Gehaltvolle Prognosen setzen die Klärung der Rahmenbedingungen des untersuchten Phänomens, der Anfangsbedingungen und gewisser Wenn-Dann-Beziehungen voraus. Demzufolge wurde die Kritik an der Sozialismusforschung auf die Forschungsansätze und -methoden gelenkt, mit denen bisher diese Thematik behandelt worden war. Eine falsche Fragestellung ergibt zwangsläufig ein Set unzureichender Forschungsoperationen, die sich wiederum in unrealistischen Ergebnissen niederschlagen und zu falschen Vorhersagen führen. Insbesondere der systemimmanente Ansatz geriet dabei ins Kreuzfeuer der Kritik, der mit Hilfe von Indikatoren Disparitäten von immanentem Anspruch und immanenter Wirklichkeit auf die Spur kommen wollte und dessen Vertreter an die endogene Wandlungsfähigkeit des Systems glaubten. Aber auch die Anhänger der alten Totalitarismustheorie, die vor allem diese Kritik vorgebracht haben, lagen mit ihren Prognosen falsch. Denn diese leugneten gänzlich die Möglichkeit der Transformierbarkeit sozialistischer Systeme. An diesem Beispiel wird klar, wie schwierig es ist, Prognosen im politischen Bereich

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aufzustellen, und wie leichtfertig es ist, im nachhinein in bezug auf das Nichteintreffen von prognostizierten Entwicklungen besseres Wissen vorzutäuschen. Auch Historiker haben sich an politische Vorhersagen gewagt und sich geirrt; aber ihnen wird dies eigenartigerweiser weniger zur Last gelegt als den Politologen oder Sozialwissenschaftlern; denn schließlich ist ihr Arbeitsgebiet das Vergangene und nicht das Zukünftige. Im Hinblick auf das angeführte Beispiel stellt sich natürlich auch die weiterführende Frage: Sollen Politikwissenschaftler überhaupt Prognosen aufstellen? Selbst unter ErfahrungsWissenschaftlern, von denen man doch hier ein unumwunden klares „Ja" erwarten dürfte, gibt es geteilte Anschauungen. Hält es ein Forscher wie Jürgen W. Falter für eindeutig geboten, Prognosen zu erstellen (freilich unter Benutzung präzisen Gesetzeswissens, so in einer Diskussion im Funk-Kolleg „Politik", 78f.), so macht Werner J. Patzelt in seiner Einführung in die Politikwissenschaft zahlreiche Einwände geltend, die gegen die Bereitschaft sprechen, Vorhersagen über zukünftige politische Ereignisse zu treffen (S. 111 ff.). Wenn aber die von Patzelt eingenommene Haltung zutreffend wäre, würde dann nicht die Nützlichkeit der Sozialwissenschaften nicht nur in theoretischer, sondern vielmehr auch in praktischer Hinsicht generellen Schaden nehmen und ihre Existenzberechtigung in Zweifel ziehen? Ende der 40er Jahre hat dies Hans Morgenthau, einer der Häupter der „realistischen Schule" in der Theorie der Internationalen Beziehungen, behauptet. Popper ist dieser Abwertung (in Topitsch, 118) mit dem Argument entgegengetreten, daß die Nützlichkeit der Sozialwissenschaften gar nicht davon abhängig sei, daß sie zu Prognosen fähig sei. Trotz dieser prominenten Ehrenrettung der sozialen Wissenschaften und ihrer praktischen Zweckmäßigkeit bleibt das Thema der Prognostizierbarkeit politischer Entwicklungen weiterhin noch lange nicht ausdiskutiert. Unter Umständen kann man aber dem Problem beikommen, wenn man sich vor Augen führt, wie in bestimmten Bereichen der policy sciences der in dem Begriff der Prognose umschriebene Sachverhalt verwendet worden ist, allerdings nicht unter dem Stichwort „Prognose", wohl aber unter dem Stichwort assessment. Vor allem in der Technologiepolitik hat dieser Begriff Karriere gemacht. Die entscheidende Frage dabei ist herauszufinden bzw. vorauszuahnen, welche Folgen wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer usw. Art die Einführung bestimmter technologischer Innovationen impliziert. Hier wäre ein Anwendungsgebiet, auf dem eine fruchtbare Diskussion über den Stellen- und Aussagewert von Prognosen in wissenschaftlicher und politischer Hinsicht ausgetragen werden kann. Dabei wird es jedoch nicht genügen, sich allein auf die Erörterung ethisch-normativer Forderungen zu beschränken, was methodologisch gesehen relativ einfach und entlastend wäre.

2. „Erfolgs"- und Qualitätskontrolle Muß in der Politikwissenschaft (oder für andere Sozialwissenschaften) so etwas wie „Erfolgskontrollen" durchgeführt werden? Die Frage verweist auf den Nützlichkeitseffekt des Faches in bezug auf die Lösung praktischer Probleme und knüpft an das über die Prognose Ausgesagte an. Ein ausgesprochen pragmatisch denkender Mensch würde auf die Frage nach der Nützlichkeit von Erfolgskontrollen hinsichtlich der Evidenz politikwissenschaftlicher Resultate oder Aussagen über bestimmte Phänomene sicherlich unter Umständen die Position Morgenthaus beziehen und den Erfolg oder die „Richtigkeit" einer bestimmten Forschungstätigkeit am Wahrscheinlichkeitsgrad des Eintreffens von Vorhersagen messen. Jemand, der den kritischen Rationalismus repräsentiert, wird behaupten wollen, daß die beste und zuverlässigste

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Erfolgskontrolle wissenschaftlicher Tätigkeit immer noch die strikte Anwendung und Befolgung der trial-and-error-Methode sei. In Analogie zum ökonomischen Marktgeschehen, wonach das preisgünstigste Produkt im freien Spiel der Marktteilnehmer von selbst seine Käufer finden und Gewinn abwerfen wird, glaubt ein kritischer Rationalist an die Selbstheilungskräfte des wissenschaftlichen Begründungsverfahrens, wonach sich „besser" bewährende Theorien „mit Erfolg" durchsetzen und somit den jeweiligen Qualitätsstandard der Wissenschaft oder eines ihrer Teilbereiche bestimmen werden. Andere Fach Vertreter, die weniger strikt erfahrungswissenschaftlich vorgehen, würden überhaupt die Möglichkeit der Durchführung von Erfolgskontrollen in ihrer Wissenschaft bezweifeln, indem sie etwa auf die Unmöglichkeit eindeutiger Qualitätsmessungen hinweisen würden. Wieder andere werden vielleicht das Rezensionswesen in den Fachorganen als Kriterium der Qualitätsauslese zu würdigen wissen. Andere Einwände, die gegen Erfolgskontrollen vorgebracht werden können, können eher psychologischer oder juristischer Natur sein. Zunächst kann gegen das Kriterium der Qualitätssicherung das Ethos eines Typs von Wissenschaftler geltend gemacht werden, der durch die alte Ordinarienuniversität geprägt wurde, der aber immer noch die Hochschullandschaft zu bevölkern scheint. Studentische Vereinigungen, die rankings über das Lehrverhalten von Dozenten initiiert und durchgeführt haben, können hier auf einschlägige Erfahrungen verweisen. Ein Hochschullehrer, zumal in Deutschland, läßt sich von Gruppen, deren fachliche Kompetenz sich mit der seinigen nicht messen kann, nicht so ohne weiteres einer Qualitätskontrolle unterwerfen, auch wenn sich diese nicht auf seine Forschungsarbeit erstreckt. Diese latent oder offensichtlich entwickelte Immunisierungsstrategie geht konform mit einem anderen Ethos, welches die beamtenrechtliche Stellung der Hochschullehrer berührt. Als Beamter einmal installiert, ist ein Dozent an einer deutschen Hochschule unkündbar, und dieses Privileg der Unkündbarkeit hat ein Ethos der Unangreifbarkeit erzeugt, dem mit vernünftigen Gründen beizukommen kaum möglich erscheint. Die schärfste Waffe gegen Erfolgskontrollen stellt freilich der Hinweis auf den Art. 5 des Grundgesetzes dar, der die Freiheit von Wissenschaft in Forschung und Lehre wesensmäßig garantiert. Formaljuristisch würden die Hochschullehrer, die einer Erfolgskontrolle unterzogen würden, sich im Recht befinden, indem sie auf Einschränkung ihrer verbrieften Rechte klagten. Dies vor allen Dingen dann, wenn derartige Forderungen nicht intra muros, sondern von außerhalb erhoben würden. Dies alles in Rechnung gestellt, kann eigentlich die entscheidende Frage nicht lauten, ob man Erfolgskontrollen durchführen soll, sondern ob man dies überhaupt darf. Trotzdem wäre hier durchaus der Frage nachzugehen, ob dies zumindest mit Bezug auf die politikwissenschaftliche Ausbildung gerechtfertigt wäre.

3. Methodische Ausbildung Wurde bislang zu curricularen Fragen der Politikwissenschaft Stellung bezogen, so geschah dies im wesentlichen unter Hervorhebung inhaltlicher und theoretischer Gesichtspunkte. Im Vordergrund stand die Vermehrung des Sach- wie des theoretischen Wissens. Das sachliche Wissen ist problembezogen, das theoretische Wissen dient als Orientierungsrahmen für die Lösung der Probleme. Eine Bestimmung des politikwissenschaftlichen Studiums über das Kriterium der Methode ist freilich bisher noch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden. Zwar werden methodische Fragen in allen einschlägig bekannten Lehrbüchern und Kompendien behandelt, und die

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bereits zitierten Empfehlungen der DVPW von 1982 raten dringend, in der Lehre „den Methoden der Politikwissenschaft verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken" (5). Dies geschieht ja auch nachweislich. Aber trotzdem dominiert in der Lehrpraxis nach wie vor die Gegenstands- und Theorieorientierung. Und man kann den Eindruck gewinnen, als ob methodische Probleme allenfalls am Rande des Lehrbetriebes behandelt, ihnen bestenfalls eine Hilfsfunktion zugesprochen werde. Dabei läßt sich mit Hilfe einer verstärkten Berücksichtigung des methodischen Aspektes der Dualismus von Bildung und Ausbildung durchbrechen. Betrachten wir das Problem zunächst aus der Perspektive der Ausbildung. Ausbildung hängt - das ist richtig erkannt worden - wesensmäßig mit Kompetenz zusammen. Besitzt eine Wissenschaft für einen bestimmten Bereich ein ausreichendes Maß an Kompetenz, dann besteht auch ein gesellschaftliches Interesse für deren Ergebnisse und sie wird - volkswirtschaftlich wie arbeitsmarktpolitisch gesprochen - eine relativ hohe Nachfrage induzieren. Aber wie erwirbt man „Kompetenz"? Das ist die Schlüsselfrage. Bislang hat die Debatte über die Berufsqualifikation von Politologen im Grunde gezeigt, daß das Fach auf den ausgetretenen Pfaden der Ideologie des Bildungshumanismus gewandelt ist: Es hat sich zu dem Glauben verführen lassen, über eine sukzessive Ausdehnung des sachlichen und theoretischen Wissens die nötige Kompetenz erwerben zu können, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Anhäufung von Wissen wurde mit Vermehrung an Problem- und Sachkompetenz gleichgesetzt. Damit wurde das traditionelle Bildungsideal ungewollt perpetuiert. Fachliche Kompetenz hat aber mehr als mit bloßer Wissensakkumulation sehr viel mit methodischer Kompetenz und ihrer Vermittlung zu tun. Wissen über Objekte, Wissen an sich zu besitzen bedeutet noch lange nicht, den Unterschied zwischen dem Element des Alltäglichen und dem Element des Wissenschaftlichen herausgestellt zu haben. Die Inbesitznahme von Wissen beinhaltet noch nicht die Verpflichtung, Rechenschaft über seine Aneignung und den Umgang mit ihm ablegen zu müssen. Etwa zwanzig Jahre zuvor, als die Politikwissenschaft in Deutschland ihre theoretische Phase durchlief, war das methodische Arbeiten eher banalisiert worden. ,Methode' erschien als etwas Zweitrangiges, dem Theoretisieren klar Untergeordnetes. Gelegentlich wurde darin auch ein repressives Instrument zur Disziplinierung ,kritischer' Wissenschaft gesehen, das von den eigentlichen Notwendigkeiten wissenschaftlicher Aufgabenerfüllung nur ablenken würde. Diese geäußerte Befürchtung war in gewissem Sinne nicht immer unberechtigt, vor allem dann, wenn daraus ein stupendes Paukstudium zu erwachsen drohte und originelle Fragestellungen erstickt werden konnten. Aber bald setzte sich doch die Einsicht durch, daß, wollte man ein gehobeneres theoretisches Niveau erreichen, dies durchaus mit der Vorstellung kompatibel erschien, auch den methodischen Bereich stärker in die Lehre miteinzubeziehen. Wissenschaftliche Kompetenz ist dann also gewährleistet, wenn methodische Kompetenz vorliegt. Jeder geäußerte Anspruch, für irgendein Gebiet eine spezifische politikwissenschaftliche Qualifikation anzumahnen oder ausdrücklich zu fordern, ist Anmaßung. So ist es z. B. unbillig zu fordern, die Politikwissenschaft solle sich mehr Kompetenz für Zeitdiagnosen aneignen, wenn dies im Lehrbetrieb gar nicht methodisch geübt wird, auch wenn ein gewisses Bewußtsein für diese Notwendigkeit durchaus vorhanden sein mag. Es ist zu einfach, sich dieser Notwendigkeit dadurch zu entziehen, sich in methodischer Hinsicht auf die Verläßlichkeit historischer Arbeit zu berufen, dabei allerdings zu übersehen, daß die Frage des Politikwissenschaftlers eine ganz andere oder zumindest verschiedene ist wie die des Historikers. Das methodi-

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sehe Instrumentarium muß also so transformiert werden, daß es auch auf die politikwissenschaftliche Fragestellung applikabel wird. Entfällt also die praktische Übung im Seminar, ist auch der Weg zu politikwissenschaftlicher Kompetenz in bezug auf eine bestimmte Fragestellung verbaut. Um am Beispiel der Geschichte zu bleiben: Der Eigenwert einer historischen Quelle bemißt sich nicht an dem, was das historische Vorurteil meint, in diese hineinlegen zu müssen. Sie erschließt sich erst aus der je spezifischen Frage, die an sie herangetragen wird (vgl. dazu Tl. III, Kap. VII). Ebenso verhält es sich mit vielen anderen Daten unterschiedlichster Art und Herkunft: Maßgebend für ihren Stellenwert im Forschungsprozeß ist die Fragestellung. Mit der Expandierung der Fragestellungen im Gegenstandsbezirk der Politikwissenschaft und im Blick auf die Erschließung neuer Forschungsgebiete muß die Expandierung des methodischen Zugriffs korrespondieren. Diese Forderung bleibt innerhalb der Politikwissenschaft - und dieses Phänomen läßt sich keineswegs nur in Deutschland beobachten - praktisch bis heute unerfüllt. Damit wird ein wunder Punkt berührt, der - so scheint es - noch gar nicht richtig wahrgenommen worden ist: die Tatsache nämlich, daß der vielbeschworene Pluralismus, der das Selbstverständnis des Faches prägt, im methodischen Bereich gar nicht vorhanden ist. Das gilt vor allen Dingen für den Lehrbetrieb: Hier hat die Erlernung der Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung in der Ausbildungsstruktur eine Vorrangstellung erreicht, die dafür sorgt, daß die anderen Methoden nur eine marginale Rolle zu spielen vermögen. Dies ist mitnichten ein Plädoyer für die Zurücksetzung dieser Forschungsmethode; es ist aber eine Relativierung ihrer Bedeutung und ihres Gewichtes, wenn man berücksichtigt, wie weit die Grenzen politikwissenschaftlicher Fragestellungen und folglich auch politikwissenschaftlicher Forschungen hinausgeschoben und neue, ungeahnte Horizonte eröffnet werden. Es ist fraglich, ob das unbekannte Terrain mit stets denselben Methoden sachgemäß angegangen werden kann. Drei Beispiele aus den großen Bereichen Theorie, Regierungssystem und Internationale Beziehungen sollen herausgegriffen werden: • Im Bereich der Theorie wird kaum methodisch kontrolliert geübt, wie Texte überhaupt angemessen interpretiert werden. Es drängt sich der Eindruck auf, als ob hier weniger die saubere interpretatorische Arbeit, als vielmehr die wolkige Formulierung Aussicht auf wissenschaftliche Wertschätzung besitzt. Hier wäre im Studium das Augenmerk auf die Förderung der ars interpretandi zu legen. Im Beitrag über die Geschichte des politischen Denkens wird darauf detaillierter eingegangen werden (Tl. III). • Im Bereich der Regierungssysteme wäre auf die juristische Methode hinzuweisen. Es ist nicht einzusehen, daß bei zunehmender Bedeutung beispielsweise der Verfassungsgerichtsbarkeit, aber auch der Verwaltungs- und Arbeitsgerichtsbarkeit für den politischen Prozeß bzw. die Implementation politischer Programme es sträflich vernachlässigt wird, die Auslegung richterlicher Entscheidungen in die politikwissenschaftliche Methodik aufzunehmen. Gerade der durchaus richtige Befund der Verrechtlichung der Politik sollte zu entsprechenden curricularen Maßnahmen führen. • Im Bereich der Internationalen Beziehungen ist es der geographische Faktor, der in methodischer Hinsicht völlig ausgeblendet bleibt. Speziell in Deutschland wird die geographische Methode mit Samthandschuhen angefaßt, weil sie durch die geopolitische Perspektive und deren Korrumpierung im Nationalsozialismus ins Zwielicht geraten ist und immer noch mit großer Skepsis betrachtet wird. Insoweit ist diese Reaktion verständlich. Aber man kann diese Abwehrhaltung nicht perpetuieren.

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Außerdem sollte daran erinnert werden, daß in der Anfangsphase der Berliner D H f P die Ausbildungsordnung so etwas wie „Geographische Grundlagen der Politik" f ü r das Studium zwingend vorgesehen hat. Es erscheint fraglich, ob z.B. Fragen der Militärpolitik ohne Berücksichtigung des geographischen Faktors angegangen werden können. Zu denken ist ebenso an Probleme der Territorialund Grenzpolitik, sowohl im Inneren wie in den Außenbeziehungen. Zu denken ist auch an Fragen der Umweltpolitik und deren Interdependenz im internationalen System. D e r Faktor „Umwelt" hat nicht nur eine politische, sondern auch eine geographische Dimension. Wie läßt sich nun aber aus einem gesteigerten methodischen Bewußtsein ein tragfähiges und plausibles Konzept auch von Bildung gewinnen? Diese Frage läßt sich nur angehen, wenn man sich von dem technizistischen Gebrauch des Wortes ,Methode', wie er mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften und deren industriewirtschaftlichen Verwertung zum Tragen kam, trennt und sich nicht scheut, auf die begrifflichen Ursprünge des Wortes, die im Griechischen liegen, zurückzugehen. Denn hier haben die Vorsokratiker, aber auch Piaton und Artistoteles den Begriff methodos in einem Sinne verwendet, der mit dem Bildungsbegriff, wie er uns durch Humboldt nahegebracht, danach aber zu einem ideologischen Kampfinstrument herabgewürdigt wurde und entartete, durchaus kompatibel ist. Nämlich darin liegt der ursprüngliche Sinn verborgen, den die Griechen mit dem Wort methodos verbanden: das Verfolgen eines Zieles in einem geregelten Verfahren. Bei dem Vorsokratiker Parmenides bezeichnet dieser Vorgang den Weg vernünftigen Begreifens im Blick auf die Wahrheit des Seienden (Die Vorsokratiker, I, Parmenides, 4 u. 6). Später, bei Piaton und dann ganz bei Aristoteles, erscheint Methode gleichbedeutend mit .Untersuchung', ,Erörterung' in bezug auf vernunftgeleitete Wahrheitsfindung. Ob damit die Methode der Dialektik, wie sie Piaton entfaltet hat, oder die épagogé (die Heranführung an das Allgemeine vom Einzelnen her) des Aristoteles gemeint ist: in jedem Falle handelt es sich dabei um eine Auffassung, nach welcher sich Wissen um und Einsicht in Wahrheit gleichsam entwickelt, entfaltet, kurz: formiert und bildet. Kein Wissen ist an sich, sondern Bewegung des Denkens. Nicht derjenige ist ein gebildeter' Mensch, der viel weiß, sondern derjenige, der über seinen Weg des Begreifens auch Rechenschaft abzulegen sich imstande sieht, ist derjenige, der die Elemente des Wissens nicht isoliert für sich, sondern im Zusammenhang zu sehen vermag. Nicht anders verhält es sich im Grunde mit dem Bildungsbegriff, wie ihn Humboldt geprägt hat. Bildung auch wiederum nicht im Sinne von ,Vielwissen', sondern im Sinne eines Vermögens, einer Ausbildung von Talent und Empfindsamkeit, sich der wissenschaftlichen Idee gegenüber dienstbar zu zeigen. Wissenschaft ist nicht reine Vermittlung von Kenntnissen oder extensives Sammeln von Daten und deren Aneinanderreihung; dies könne im Gegenteil dazu beitragen, „den Geist abzustumpfen und herabzuziehen" (Humboldt, 260). Im Gegenteil müssen die wissenschaftlichen Anstalten so gestaltet sein, daß sie „auf harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten" (ebd. 261) abzwecken. Das Aufzeigen des Weges dorthin, die Einübung in den Umgang mit den wissenschaftlichen Gegenständen sind die Grundelemente des wissenschaftlichen Unterrichts, der das Verständnis für das zu Erforschende auf sichere Fundamente stellen soll. Welche Schlüsse lassen sich für das politikwissenschaftliche Studium ziehen, wenn man diese Betrachtungen für diskutabel hält? In den sozialen Wissenschaften hat man es vorgezogen, nicht mehr ausschließlich von Gegenstandsbereichen oder von Sachgebieten zu sprechen, die erforscht werden wollen, sondern von ,Problemen', die

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Natur und Mensch zu schaffen machen; es ist das Ziel aller Anstrengungen, derartige Probleme zu ,lösen', und dazu soll die Wissenschaft ihren Beitrag leisten. Probleme wollen aber zunächst einmal als solche wahrgenommen werden. Umweltprobleme hat es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben; als solche sind sie aber erst vor ca. 20 Jahren erkannt worden. Es bedurfte also erst eines besonderen Bewußtseins, um hier eine Veränderung in Richtung auf einen verständnisvolleren Umgang mit der Umwelt bewirken zu können. Um solche Prozesse veränderter Realitätserfahrung und -erfassung in Gang zu setzen, benötigt man nicht unbedingt die Zuarbeit wissenschaftlicher Institutionen. Es ist nicht unbedingt der Vorzug der Wissenschaften, Probleme als solche zu erkennen; es ist aber ihr großer Vorzug, Probleme aufgrund kontrollierter Methoden durchschaubar zu machen. Ob sie damit einer ,Lösung' zugeführt werden können, ist eine ganz andere Frage. Hier interessiert nur, daß soziale, politische, ökonomische, ökologische etc. Probleme überhaupt mittels des Einsatzes bestimmter Verfahren, die der menschlichen Vernunft und Erkenntnis ganz allgemein zugänglich sind, verständlich gemacht werden können. Darin liegt der Grund der sozialen Wissenschaften, wie sie versuchen, das jeweils gegebene Problem mittels Verfahren erkennbar zu machen. Konsequenterweise muß darin auch der Grund des Studiums der sozialen Wissenschaften im allgemeinen und der Politikwissenschaft im besonderen liegen: der Ausbildung, d. h. Formung, Durchbildung der je und je anzuwendenden Verfahren, um Probleme wissenschaftlich darstellbar zu machen. Darauf müßte der Schwerpunkt eines angemessenen Studiums der Politikwissenschaft zu legen sein. Die methodische Einübung und Ausbildung ist also das A und O politikwissenschaftlichen Studiums. Aber,Methode' im Sinne von Formung und Bildung bestimmter Fertigkeiten ist mehr als das, was im Herkömmlichen darunter verstanden wird, mehr als nur eine bestimmte Technik, die unter gegebenen Bedingungen anzuwenden wäre. Man sollte von der Vorstellung Abschied nehmen, die noch immer darauf hinausläuft, ,Methode' von ,Theorie' zu trennen und beide als separate Erkenntnisweisen von Wissenschaft zu betrachten. Auch Theorien (Ansätze etc.) sind Bestandteile eines und desselben Vorganges: des kontrollierten Zuganges zu wissenschaftlichen Wahrheiten. Diese Zugänge oder Wege sind aber im Blick auf die Komplexität der politischen und gesellschaftlichen Probleme mitnichten beschränkt auf einige wenige, nur weil diese gegenwärtig zur Standardausrüstung der sozialen Wissenschaften gerechnet werden. Kann man wirklich mit Fug und Recht behaupten, daß mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung, die selbst wiederum nur einer bestimmten ,inneren' Logik folgen und danach aufgebaut sind, die Unwägbarkeiten und Unberechenbarkeit der Probleme, wie sie am Ausgang des 20. Jahrhunderts sich darbieten, transparent gemacht werden können? Lassen sich nur mit den Mitteln technischer Rationalität Tendenzen, die wir als irrational bezeichnen würden, begreifbar machen und analysieren? Die Ausbildung eines geschärften methodologischen Bewußtseins während des Studiums bedarf eines Kerns, von dem ein angemessenes politikwissenschaftliches Curriculum seinen Ausgang nehmen muß. Aber es ist auch die Aufgabe der Wissenschaft, zu neuen methodischen Verfahren vorzudringen. Schon allein das Stellen neuer oder andersgearteter Fragen impliziert die Entwicklung unkonventioneller Fertigkeiten. Insoweit ist zumindest die Politikwissenschaft keinerlei Bindungen unterworfen, sondern ohne Grenze, ein „ewiges" Fragment.

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

VIII. Literatur 1. Hinweise ZuKap. I: Thomas Hobbes: Vom Körper (Elemente der Philosophie I), ed. M. Frischeisen-Köhler, 2. Aufl. Hamburg 1967. - Handbuch der Dritten Welt, hrsg. v. Dieter Nohlenu. Franz Nuscheier, 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Bonn 1992, Bd. 1: Grundprobleme, Theorien, Strategien, darin Kap. I: Begriffliche Grundlegungen - Entwicklungsindikatoren (Nohlen/Nuscheler), v.a. 21-30. - Robert S. Lynd: Knowledge for What? The Place of Social Science in American Culture, Princeton 1939. - Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft (1968), 5. Aufl. Tübingen 1991. Zu Kap. II: J. Burnet: Greek Philosophy, Thaies to Plato, London 1914. - Julius Stenzel: Metaphysik des Altertums, München/Berlin 1931. - Maurice F. Cornford: Principium Sapientiae. The Origins of Greek Philosophical Thought, Cambridge 1952. - Aristoteles: Metaphysik, ed. Franz F. Schwarz, Stuttgart 1970. - Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen (1978), 2. Aufl. Frankfurt/M. 1979. Bruno Snell: Entwicklung einer wissenschaftlichen Sprache in Griechenland (1960), in: ders., Die alten Griechen und wir, Göttingen 1962, 41-56. - Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen, Frankf./M. 1982. - Wolfgang Schadewaldt: Das WeltModell der Griechen (1957), in: ders.: Der Gott von Delphi und die Humanitätsidee, Frankfurt/M. 1975,37-82. -Thomas v. Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, übers. Fr. Schreyvogel, hrsg. U. Matz, Stuttgart 1975. - Machiavelli: Der Fürst, ed. R. Zorn, 3. Aufl. Stuttgart 1963. - Auguste Comte: Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für die Reform der Gesellschaft notwendig sind (1822), eingel. v. D. Prokop, München 1973. - Dwight Waldo: Political Science: Tradition, Discipline, Profession, Science, Enterprise, in: Political Science: Scope and Theory, ed. F. I. Greenstein & N. W. Polsby (Handbook of Political Science, vol. 1), Reading, Mass., 1975,1-130. - J a m e s Bryce: The Relations of Political Science to History andto Practice, in: American Political Science Review 3,1909,1-19. Zu Kap. III: Waldo (s. Kap. I). - Arno Mohr: Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, Bochum 1988. - Ders.: Soll Politikwissenschaft ein Bildungs- oder ein Ausbildungsfach sein? Ein Blick zurück in die 50er Jahre, in: Hans-Hermann Hartwich, Hrsg.: Politikwissenschaft. Lehre und Studium zwischen Professionalisierung und Wissenschaftsimmanenz, Opladen 1987, 81-89. - Albert Somit/Joseph Tanenhaus: The Development of American Political Science. From Burgess to Behavioralism, Boston 1967. Zu Kap. IV: Hans Kastendiek: Zur Etablierung der Politischen Wissenschaft im westlichen Nachkriegsdeutschland, in: Politikwissenschaft: Geschichte eines Erfolgs?, hrsg. M. Erharuyi u. K. Sondermann (Studia Politica Jyväskyläensia 1-1988), 28-47. - Michael Th. Greven: Was ist aus den Ansprüchen einer kritisch-emanzipatorischen Politikwissenschaft vom Ende der 60er Jahre geworden? Eine Skizze des Paradigmas und seines Scheiterns, in: Gerhard Göhler/Bodo Zeuner, Hrsg.: Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, 221-246. - Frieder Naschold: Demokratie und Komplexität. Thesen und Illustrationen zur Theoriediskussion in der Politikwissenschaft, in: PVS 1968, 494-518. - Johan Galtung: Struktur, Kultur und intellektueller Stil, in: Leviathan, 1983,303-338. -Brigitte Eckstein: Hochschuldidaktik und gesamtgesellschaftliche Konflikte, Frankf./M. 1972. - Axel Görlitz: Politikwissenschaftliche Theorien, Stuttg. u.a. 1980. - Wolf-Dieter Narr: Theoriebegriffe und Systemtheorie, 2. Aufl. Stuttg. u.a. 1971 (1969). - Jürgen W. Falter/Harro Honolka/UrsulaLudz: Politische Theorie in den USA. Eine empirische Analyse der Entwicklung von 1950-1980, Opladen 1990. - Arno Mohr: Zur Situation und zur Entwicklung der politikwissenschaftlichen Lehre in der Bundesrepublik Deutschland (1950-1979180), in: PVS 1980,205-211. - Hans-Hermann Hartwich: Perspektiven des Faches „Sozialkunde" im Rahmen der Bildungsreformen - Überlegungen zur Neustrukturierung der Sozialkundelehrerausbildung (1972), in: Paul Ackermann, Hrsg.: Curriculumrevision im sozialwissenschaftlichen Bereich der Schule, Stuttg. 1973, 250-267. - Paul Ackermann: Politiklehrer-

VIII. Literatur

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Ausbildung, Analyse und Dokumentation, Bonn 1978. - Joachim Raschke: Politologe. Blätter z. Berufskunde, Bd. 3, Bundesanstalt f. Arbeit, Nürnberg 1979.-Günter W. Dill: Die Arbeitsmarktsituation für Sozialwissenschaftler, in: L. Voegelin, Hrsg.: Sozialwissenschaften 2: Berufsorientiertes Studium? Orientierungshilfen für Studenten und Dozenten, Frankf./New York 1977, 26-46. Zu Kap. V: Manfred G. Schmidt: Politikwissenschaft, in: Hans-Hermann Hartwich, Hrsg.: Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Selbstverständnis und ihr Verhältnis zu den Grundfragen der Politikwissenschaft, Opladen 1985, 137-143. - Carl Böhret/Werner Jann/ Eva Kronenwett: Innenpolitik und politische Theorie. Ein Studienbuch (1979), 3. neubearb. Aufl. Opladen 1988. - Hans-Hermann Hartwich: „Zentrale Fragen der Politikwissenschaft" in der Diskussion. Einige Wahrnehmungen, in: Ders., Hrsg.: Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (s.o.), 171-180. - Carl Bohret: Zum Stand und zur Orientierung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Bericht für das 1. Wissenschaftliche Symposium der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (November 1984) in Hannover, in: Hartwich, Hrsg., Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (s.o.), 216-330. - Michael Th. Greven: Macht, Herrschaft und Legitimität. Eine Erinnerung der Politologen an die Grundfragen ihrer Disziplin, in: Hartwich, Hrsg.: Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (s.o.), 143-147. - Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (1984), 2. Aufl. Frankf./M. 1988. - Eberhard Schütt-Wetschky: Praxisorientierte Politikwissenschaft. Kritik der empirisch-analytischen und behavioralistischen sowie der traditionellen normativen Position, in: Peter Haungs, Hrsg.: Wissenschaft, Theorie und Philosophie der Politik: Konzepte und Probleme, Baden-Baden 1990, 19-62. - Henry Cordes: Die Lehr-Enquete 1986. Bericht über die Ergebnisse der Umfrage zur politikwissenschaftlichen Lehre im 2. Halbjahr 1986, in: HansHermann Hartwich, Hrsg.: Politikwissenschaft. Lehre und Studium zwischen Professionalisierung und Wissenschaftsimmanenz, Opladen 1987, 225-256. - Bernhard Claußen/Adolf Noll, Hrsg.: Politische Wissenschaft und Politische Bildung. Eröffnung einer Diskussion, Hamburg 1989. Zu Kap. VI: Wilhelm Bleek: Der Aufbau der Politikwissenschaft in den neuen Bundesländern. Ein Zwischenbericht, in: Deutschland-Archiv 25,1992, 681-690 u. 802-811. Zu Kap. VII: Jürgen Falter u.a.: Der wissenschaftliche und der philosophische Umgang mit Politik (II). Diskussion, in: Funk-Kolleg Politik, Bd. 1, hrsg. v. Klaus v. Beyme u.a., Frankf./M. 1987,78-101. - Werner J. Patzelt: Einfuhrung in die Politikwissenschaft. Grundriß des Faches und studiumbegleitende Orientierung, Passau 1992. - Hans Morgenthau: Scientific Man and Power Politics, London 1947. - Karl R. Popper: Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften (engl. 1949), in: Ernst Topitsch, Hrsg., Logik der Sozialwissenschaften, 8. Aufl. Köln 1972 (1965). - Hans-Hermann Hartwich: Zur Lage und zu den Entwicklungsperspektiven der politikwissenschaftlichen Ausbildung in der Bundesrepublik. Professionelle Leistungen und die Forderung nach mehr „Professionalisierung", in: ders., Hrsg.: Politikwissenschaft. Lehre und Studium (s.o.), 17-38. - Art. Methode, in: Histor. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 5, 1980, 1304ff. - Die Vorsokratiker I. Griechisch/Deutsch, Auswahl d. Fragmente, Übersetzung u. Erläuterungen v. Jaap Mansfeld, Stuttgart, Reclam, 1983. - Wilhelm von Humboldt: Uber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), in: ders., Schriften zur Politik und zum Bildungswesen (Werke Bd. 4, hrsg. A. Flitner u. K. Giel), Darmstadt 1964, 255-266. -

2. Weiterführende Literatur 1. Bibliographien Allgemein Die führende internationale Bibliographie ist die International Bibliography ofPolitical Science (1952ff.), seit 1991 hrsg. v. British Library of Political and Economic Science, mit Unterstützung

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

der UNESCO. Der zuletzt erschienene Band 37 enthält die Literatur des Jahres 1988. - Die internationale Zeitschriftenliteratur in abstracts erfaßt fortlaufend seit 1950 (engl. u. frz.): International political science abstracts. Documentation politique internationale. Hrsg. International Political Science Association. - Wichtige bibliographische Verzeichnisse in deutscher Sprache: Jahresbibliographie Bibliothek für Zeitgeschichte (Stuttgart), inzwischen bei Bd. 63 (1991) angelangt. - Bibliographie zur Zeitgeschichte (Beilage der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte), Stuttgart 1953 ff. (42. Jhg. 1994) (wichtig für die Internationalen Beziehungen und den außerdeutschen Bereich). - Bibliographie zur Politik in Theorie und Praxis, hrsg. v. Karl-D. Bracher/Hans-A. Jacobsen/Albrecht Tyrell, vollständ. Neubearb. Düsseldorf 1982. - Politische Dokumentation.poldok: Referatedienst deutschprachiger Zeitschriften. Hrsg. Leitstelle für politische Dokumentation an d. Freien Universität Berlin, München 1966ff. - Auf jeden Fall wichtig für die Literaturrecherche ist: Frank Heidtmann: Wie finde ich Literatur zur Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft, Psychologie, Soziologie, Politologie, Publizistik, Statistik. Unter Berücksichtigung von Pädagogik, Recht, Anthropologie, Demographie, Geographie, Umwelt u.a.m. Ein Führer zu wichtigen Nachschlagewerken und Bibliographien und zur effektiven Benutzung der Bibliotheksbestände für alle Studenten und Dozenten sozialwissenschaftlicher Fächer. Berlin 1985. Die Politologie findet sich hier (mit den Nebengebieten Geschichte, Recht und Geographie) auf den Seiten 191-235. Enthalten sind Angaben über (a) Nachschlagewerke: Wörterbücher, Kleinlexika, Sprach Wörterbücher, Lexika, Enzyklopädien, Biographien u. Personennachweise, Adreßverzeichnisse. Abkürzungsverzeichnisse, Nachweise laufender Forschung, (b) Literaturauskunftsmittel: Hochschulschriftennachweise, Rezensionsnachweise, Nachweise von Amtsdruckschriften, Bibliographien der Bibliographien, Handbücher, Fortschrittsberichte, abgeschlossene Bibliographien, laufend erscheinende Bibliographien, Archive, Almanache, Datenbanken, Sammelschwerpunkte . Wichtige Bibliographien zu Teilbereichen Hamburger Bibliographie zum Parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970. Hrsg. Udo Bermbach. Opladen 1973. Dazu Ergänzungsbände 1971-72 (1975), 1973-74 (1975), 1975-76 (1978), 177-78 (1980). - Dietrich Thränhardt: Bibliographie Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 1980. - Sehr zu empfehlen der Abschnitt „Hilfsmittel" in: Graf von Westphalen, Hrsg.: Parlamentslehre. Das parlamentarische Regierungssystem im technischen Zeitalter. München 1993, 537-554. -

2. Rezensionszeitschriften: Reine Rezensionszeitschriften in deutscher Sprache sind: Das Historisch-Politische Buch, hrsg. i.A. der Ranke-Gesellschaft, 1953 ff. (42. Jhg. 1994). - Neue Politische Literatur, 1956ff. (39. Jhg. 1994). -

з. Handbücher, Lexika Hier wären an relativ neuer Literatur zu nennen: Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, hrsg. v. Hanno Drechsler, Wolfgang Hilligen, Franz Neumann, 8. neubearb. Aufl. München 1992 (1970). - Staatslexikon. Recht-Wirtschaft-Gesellschaft in 5 Bd., hrsg. v. der Görres-Gesellschaft, 7. neubearb. Aufl. Freiburg u.a. 1985ff. - Evangelisches Staatslexikon, hrsg. v. Roman Herzog и.a.,2Bde., 3. neubearb. Aufl. Stuttgart 1987. - AxelGörlitz/RainerPrätorius,Hrsg.: Handbuch Politikwissenschaft. Grundlagen-Forschungsstand-Perspektiven, Reinbek 1987. - Everhard Holtmann u.a., Hrsg.: Politik-Lexikon, München-Wien 1991. - Pipers Wörterbuch zur Politik, hrsg. v. Dieter Nohlen, 6 Bde., München 1983ff. Dieses Wörterbuch erfährt nun eine Neuauflage als Lexikon der Politik, hrsg. v. D. Nohlen, München 1992ff.: Bd. 1: Politische Theorien (hrsg. Nohlen, Schultze), 2: Politikwissenschaftliche Methoden (Kriz, Nohlen, Schultze), 3: Die westlichen Länder (Schmidt), 4: Die östlichen und südlichen Länder (Nohlen, Waldmann, Ziemer), 5:

VIII. Literatur

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Europäische Gemeinschaft (Kohler-Koch, Woyke), 6: Internationale Beziehungen (Boeckh), 7: Politische Begriffe (Nohlen, Schultze, Schüttemeyer). Davon sind bis jetzt (Herbst 1994) die Bde. 2,3 u. 6 erschienen. - F ü r den Bereich der Politischen Bildung: Wolfgang Mickel/Dietrich Zitzlaff, Hrsg.: Handbuch zur politischen Bildung, Opladen 1988. Aus dem angelsächsischen Sprachgebiet (in zeitlicher Reihenfolge): Roger Scruton, ed.: A Dictionary of Political Thought, London 1982. - Encyclopedia of Government and Politics, ed. Mary Hawkesworth & Maurice Kogan, 2 vols., London-New York 1992. - David Robertson: A Dictionary of Modern Politics, 2nd. rev. ed. 1993 (1984). -

4. Zur Geschichte des Faches Zur Gesamtgeschichte der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik unterrichten ausführlich, mit diametraler Akzentuierung: Hans Kastendiek: Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft, Frankf./M.-New York 1977. - Hans-Joachim Arndt: Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978. - Beide Autoren haben ihre Ansichten in der Folge in Aufsätzen wiederholt und ergänzt: Hans-Joachim Arndt: Die Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrb. d. öffentl. Rechts d. Gegenwart N.F. Bd. 29, 1980, 1-141; Hans Kastendiek: Political Development and Political Science in West Germany, in: International Political Science Review 8, 1987, 25-40. - Über die Frühphase der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik unterrichtet die gedruckte Dissertation des Vf. (s. Kap. III). Dazu auch: HansKarl Rupp/Thomas Noetzel: Macht, Freiheit, Demokratie. Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft. Biographische Annäherungen, Marburg 1991. - In seinem Aufsatz Politikwissenschaft im Faschismus, PVS 26, 1985, 423 -437, hat Johannes Weyer die These aufgestellt, daß es auch während des Nationalsozialismus so etwas wie eine „politische Wissenschaft" im strengeren Sinne gegeben habe. Die These hat lebhaften Widerspruch erfahren, als ein Beispiel: Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler: In der Kontinuität einer „braunen" Politikwissenschaft? - Empirische Befunde und Forschungsdesideraten, in: PVS 27, 1986, 330-340. - Umfassend wird diese Problematik behandelt bei: Rainer Eisfeld: Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920-1945, Baden-Baden 1991. Über die amerikanische Entwicklung des Faches unterrichten am besten: die o. zit. Studie von Somit/Tanenhaus (s. Hinweise zu Kap. III) sowie: Jürgen W. Falter: Der,Positivismusstreit'in der amerikanischen Politikwissenschaft, Opladen 1982. -

5. Situationsberichte Hier zu nennen: International Handbook of Political Science, ed. William G. Andrews, Westport 1982 (einzelne Länderberichte). - Jürgen Bellers, Hrsg.: Politikwissenschaft in Europa, Münster 1989. - Political Science: The State of the Discipline, ed. Ada W. Finifter, Washington 1983 (reflektiert die amerikanische Situation). - Für die „alte" Bundesrepublik: Klaus von Beyme, Hrsg.: Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungsprobleme einer Disziplin (PVS-Sonderheft 17), Opladen 1986. - Ein Sammelband, hrsg. von Claus Leggewie, geht auf die Aufgaben der Politikwissenschaft in einer veränderten Umwelt in den 90er Jahren ein: Wozu Politikwissenschaft? Über das Neue in der Politik. Darmstadt 1994. -

6. Einführungen Als z.Zt. gebräuchliche Einführungen in deutscher Sprache sind zu erwähnen: Ulrich v. Alemann/ Erhard Forndran: Methodik der Politikwissenschaft. Eine Einführung in Arbeitstechnik und Forschungspraxis, Stuttgart 1974 (inzwischen mehrere Auflagen). - Jürgen Bellers/Rüdiger

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

Robert, Hrsg. : Politikwissenschaft I: Grundkurs, Münster 1988. - Jürgen Bellers/Rüdiger Kipke: Einführung in die Politikwissenschaft. München 1993. - Dirk Berg-Schlosser/Theo Stammen: Einführung in die Politikwissenschaft (zuerst 1974, noch mit Herbert Maier), 5. neubearb. Aufl. München 1992. - Klaus von Beyme/Ernst-O. Czempiel/Peter Graf Kielmannsegg, Hrsg. : Politikwissenschaft. Eine Grundlegung (Funk-Kolleg), 3 Bde., Frankf./M. 1987. - Carl Bohret u.a. (s. Hinweise zu Kap. V). - Ulrich Druwe: Studienführer Politikwissenschaft, München 1992. Es handelt sich hier um Bd. 1 der Reihe Politikwissenschaft aktuell, Reihe Lehre. Weitere Bände sollen folgen: Bd. 2: Lehrbuch Politische Theorie; 3: Lehrbuch Analyse und Vergleich politischer Systeme; 4: Lehrbuch Analyse des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland; 5: Lehrbuch Internationale Politik; 6: Lehrbuch Methodik der empirischen Politikwissenschaft. Iring Fetscher/Herfried Münkler, Hrsg.: Politikwissenschaft. Begriffe-Analysen-Theorien. Ein Grundkurs, Reinbek 1985. - Grundwissen Politik, Bundeszentrale f. politische Bildung (Schriftenreihe Bd. 302), Bonn 1991. - Werner Patzelt (s.o. Hinweise zu Kap. VII). - Hiltrud Naßmacher: Politikwissenschaft. München 1994. - Manfred Mols/Hans-Joachim Lauth/Christian Wagner (Hrsg.): Politikwissenschaft: Eine Einführung. Paderborn u.a. 1994. Ein mehrbändiges Werk ist das Grundwissen Politik, hrsg. von Ulrich von Alemann u. Leo Kißler, Opladen, davon erschienen (Stand Frühjahr 1994): Bd. 1: Organisierte Interessen in der Bundesrepublik (U. v. Alemann), 2. Aufl. 1989; 2: Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich (M. G. Schmidt), 1987; 3: Wählerverhalten und Wertewandel (W. Bürklin), 1988; 4: Vergleichende Regierungslehre (Fr. Lehner), 2. Aufl. 1991 (1989); 5: Regieren in der Bundesrepublik Deutschland (M. G. Schmidt), 1992; 6: Politikfeldanalyse (K. Schubert), 1991; 7: Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland (J. Hucke), 1994; 8: Großbritannien: Regierung, Gesellschaft, politische Kultur (H. Döring), 1993; 9: Grundlagen der Politikwissenschaft. Ein Wegweiser (U. v. Alemann), 1994; 10: Internationale Organisationen - Politik und Geschichte (V. Rittberger u.a.) 1994:11: Begriff und Probleme des Friedens (R. Meyers), 1994; 12: Internationale Politik - Probleme und Grundbegriffe (M. List u.a.), 1994. Aus dem amerikanischen Bereich zu nennen ist das Handbook ofPolitical Science, 8 Bde., ed. F. A. Greenstein/N. Polsby, Reading 1975:1: Political Science: Scope & Theory;2: Micropolitical Theory; 3: Macropolitical Theory; 4: Nongovernmental Politics; 5: Governmental Institutions and Processes; 6: Policies and Policymaking; 7: Strategies of Inquiry; 8: International Politics. - Aus dem französischen Bereich: Traité de science politique, 4 Bde., ed Madeleine Grawitz u. Jean Leca, Paris 1985: 1: La science politique. Science sociale. L'ordre politique; 2: Les régimes politiques contemporains; 3: L'action politique; 4: Les politiques publiques. -

7. Studium und Lehre Wichtige Beiträge finden sich in Hartwich, Politikwissenschaft (s. Hinweise zu Kap. V). Erwähnenswert sind die Beiträge von Gerhard W. Wittkämpfer: Politikwissenschaft und politische Bildung und Politikwissenschaft und Beruf in: Bellers, Hrsg.: Politikwissenschaft I (s.o.), 244-275, 276-316. - Aus kritischer Sicht: Ulrich Albrecht/Elmar Altvater/Ekkehart Krippendorff, Hrsg.: Was heißt und welchem Ende betreiben wir Politikwissenschaft? Kritik und Selbstkritik aus dem Berliner Otto-Suhr-Institut, Opladen 1989. - Eine ältere, aber wichtige Diskussion findet sich zusammengefaßt in: Alfred Büllesbach/Mir A. Ferdowsi, Hrsg.: Politikwissenschaft und gesellschaftliche Praxis. Normative Selbststeuerung oder Arbeitsmarktorientierung?, München 1979. - Speziell zu Fragen des Verhältnisses des Faches zur politischen Bildung: Dieter Grosser: Politische Bildung heute: Chance für einen Neubeginn?, in Gegenwartskunde, 1985, 137-145; Thomas Ellwein: Politische Bildung zwischen Scylla und Charybdis, in: Gegenwartskunde, 1985, 393-401; Hans-Hermann Hartwich: Politische Bildungund Politikwissenschaft imJahre 1987, in: Gegenwartskunde, 1987, 5-17. - Eine Spezialmonographie über die Einführungswerke des Faches hat Jörg Ernst vorgelegt: Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Die Entwicklung ihres Selbstverständnisses im Spiegel der Einführungswerke. Münster 1994. -

VIII. Literatur

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8. Enzyklopädien und Kompendien aus den Nachbardisziplinen (Auswahl) Da die Politikwissenschaft weiterhin auf die Ergebnisse und Methoden ihrer engeren und auch weiteren Nachbarschaft angewiesen sein wird, erscheint es ratsam, abschließend die wichtigsten Enzyklopädien und Kompendien der in Frage kommenden Wissenschaften - in alphabetischer Reihenfolge - zu nennen: Altertumswissenschaften/Orientalistik Paulys Realenzyclopädie der classischen Altertumswissenschaften. Hrsg. v. Georg Wissowa u.a. Reihe 1,Bd. 1-24,1 Stuttgart 1893-1963; Reihe2,Bd. l-10Stuttgart 1914-1972; Suppl.-Bd. 1-15 Stuttgart 1903-1978. - Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike... Bd. 1 - 5 München 1964-75 (Nachdruck als Taschenbuch bei DTV 1979). Anthropologie David E. Hunter/Philipp Whitten: Encyclopedia of anthropology. New York 1976. Demographie International encyclopedia of population. Ed. John A. Ross, 2 vols. New York-London 1982. Geographie Westermann Lexikon der Geographie. Hrsg. Wolf Tietze, 4 Bde., 1 Reg.bd. Braunschweig 1968-70. - Encyclopedia of the Third World. Rev. ed. Ed. George Th. Kurian, 3 vols. London 1982. Geschichte Ich verweise hier auf das ausgezeichnete, in Taschenbuchform vorliegende Bücherverzeichnis zur deutschen Geschichte von Winfried Baumgart. München, 7., durchgeseh. u. erweit. Aufl. 1988. Es enthält bibliographische Angaben über alle relevanten Bereiche der Geschichtswissenschaft, auch über den Bereich der deutschen Geschichte hinaus: Einführungen, Hilfsmittel, allgemeine und Fachbibliographien, Zeitschriftenliteratur, Enzyklopädien, Konversationslexika, Sachlexika, Wörterbücher, SachWörterbücher, Biographische Hilfsmittel, Handbücher zur allgemeinen Geschichte, zu den historischen Hilfswissenschaften, zu Teildisziplinen und Nachbargebieten, Vertragssammlungen, Jahrbücher, Quellenkunden sowie Quellensammlungen. Kommunal- und Raumwissenschaft Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. Hrsg. Günter Püttner, 6 Bde., 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin 1981-85. - Mc-Graw-Hill Encyclopedia of environmental science. Ed. SybilP. Parker, 2nd ed. New York 1980. Kommunikationswissenschaften International Encyclopedia of Communications. Eds. Erik Barnow u.a., 4. vols., New York/ Oxford 1989. Pädagogik The international encyclopedia of higher education. Ed. Asa S. Knowles, 1977. - Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Handbuch und Lexikon Dieter Lenzen, 11 Bde. Stuttgart 1982. - The International Encyclopedia Eds. Torsten Husdn u. Neville Postlethwaite, 12 vols., Oxford u.a. 1994.

10 vols. San Francisco der Erziehung. Hrsg. of Education, 2nd ed. -

Philologien!Linguistik The Encyclopedia of Language and Linguistics. Eds. R. E. Asher et al., 10 vols., Oxford u.a. 1994. Kindlers Neues Literatur-Lexikon. Hrsg. Walter Jens u.a., 20 Bde., München 1988-92. Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. Gert Ueding. Tübingen 1992ff. (unabgeschlossen).

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

Philosophie Vgl. dazu die Angaben im Beitrag des Vf. zur Politischen Ideengeschichte. - In Ergänzung seien noch erwähnt: The Encyclopedia of Philosophy. Ed. Paul Edwards, 8 vols., New York/London 1967. - Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hrsg. Jürgen Mittelstraß, 3 Bde., Mannheim 1980ff. Psychologie Lexikon der Psychology. Hrsg. Wilhelm Arnold u.a. 3 Bde. Freiburg 1971ff. (PaperbackAusgabe in 6 Bd. Freiburg 1976). - International encyclopedia of psychiatry, psychology, psychoanalysis and neurology. Ed. Benjamin B. Wolman, 12 vols. New York 1977. - Handbuch der Psychologie in 12 Bänden. Hrsg. Kurt Gottschaidt u.a. Göttingen 1959-1982. - Enzyklopädie der Psychologie. Hrsg. Carl F. Graumann u.a. 88 Bde. Göttingen 1982ff. (unabgeschlossen). Handbook of politicai psychology. Ed. Jeanne N. Knutson. San Francisco 1973. - Handbook of social psychology. Ed. Gardner Lindzey u.a. 2nd ed., 5 vols., Reading, Mass., 1969. Recht Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte. Hrsg. v. Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann. Lieferung 1-28. Berlin 1964ff. - Deutsches Rechts-Lexikon. Hrsg. Horst Tilch, 3 Bde., München 1992. - Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Hrsg. v. Josef Isensee u. Paul Kirchhof, 7 Bde., Heidelberg 1987ff. (abgeschlossen): Bd. 1: Grundlagen von Staat und Verfassung, Bd. 2: Demokratische Willensbildung - Die Staatsorgane des Bundes, Bd. 3: Das Handeln des Staates, Bd. 4: Finanzverfassung - Bundesstaatliche Ordnung, Bd. 5: Allgemeine Grundrechtslehren, Bd. 6: Freiheitsrechte, Bd. 7: Normativität und Schutz der Verfassung Internationale Beziehungen. Encyclopedia of Human Rights. Ed. Edward Lawson. New York u.a. 1991. - Handwörterbuch des Umweltrechts. Hrsg. Otto Kimminich u.a., 2., Überarb. Aufl. 1994. Wörterbuch des Völkerrechts. Begr. v. Karl Strupp, hrsg. v. Hans-Jürgen Schlochauer, 3 Bde., Reg.-Bd., 2. Aufl. Berlin 1960-62. Soziologie Handbuch der empirischen Sozialforschung. Hrsg. René König, 2 Bde., Stuttgart 1967-69 (eine 14-bändige Taschenbuchausgabe liegt bei DTV, München, vor). - Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Hrsg. Erwin v. Beckerath u.a., 12 Bde., Registerbd., Stuttgart 1956-58. International encyclopedia of the social sciences. Ed. K. L. Sills, 16 Vols., Registerbd., New York 1968, Bd. 18: Biograph. Suppl. 1979. - Encyclopedia of Sociology. Eds. Edgar F. u. Marie L. Borgatta, 4 vols., New York u.a. 1992. Theologie/Religionswissenschaft Lexikon für Theologie und Kirche, 2., völlig neu bearb. Aufl. Hrsg .Josef Höfer u. Karl Rahner, 10 Bde., 1 Reg.bd. und 3 Bde. Vatikanisches Konzil. Freiburg 1957ff. Zur Zeit wird die dritte Aufl. völlig neu bearbeitet. Hrsg. Walter Kasper u.a. Freiburg 1993ff. - Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. v. Gerhard Krause u. Gerhard Müller. Berlin/New York 1976ff. (unabgeschlossen). Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3. Aufl., hrsg. Kurt Galling, 6 Bde., Tübingen 1957-65 (Studienausgabe 1986). - The Encyclopedia of Religion. Eds. Mircea Eliade u.a., 16 vols. London 1987. Wirtschaftswissenschaften Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Hrsg. v. Willi Albers u.a., 9 Bde. Stuttgart 1976-82 (Fortführung d. Handwörterbuchs d. Sozial Wissenschaften). - Handbuch der Finanzwissenschaft. Hrsg. Fritz Neumark, 3., neubearb. Aufl., 4 Bde., Tübingen 1977-81. -

VIII. Literatur

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Anhang: Studienpraktische Hinweise Seit Beginn der achtziger Jahre läßt sich in der politikwissenschaftlichen Einführungsliteratur vermehrt die Tendenz beobachten, die Darstellung der Gegenstandsbereiche, der Methoden und Theorien des Faches durch Hinweise auf die Gestaltung des Studiums und die Nutzung wissenschaftsdidaktischer Hilfsmittel zu ergänzen. Diese Ratschläge erstrecken sich im allgemeinen auf Angaben über das Bibliographieren, darüber, wie man eine Examensarbeit korrekt ausarbeitet, wie richtig zitiert wird, wie man zu seinem Material möglichst effektiv gelangt, wie richtig gelesen wird bis zu Fragen des angemessenen Stils. Man scheut sich auch nicht, den Studenten Ermahnungen mit auf den Weg zu geben derart, wie ihre „innere" Einstellung zu dem Fach bestimmt sein müßte, daß sie ein umfangreiches und ausdauerndes Lesestudium zu bewerkstelligen, daß sie sich umfassendst aus den Zeitungen und sonstigen Medien über die Tagespolitik zu informieren hätten, daß sie möglichst früh den Kontakt zu den Dozenten suchen sollten, wie man sich auf die Hochschulprüfungen vorbereitet und dgl. mehr. Diese Neigung, den politikwissenschaftlichen Lehrstoff hochschuldidaktisch zu unterfüttern, scheint mir ein Nebeneffekt zu sein, der auf vier Entwicklungen zurückzuführen ist: - Das Phänomen des Wachstums der wissenschaftlichen Erkenntnisse und damit einhergehend die rasante, aber auch beängstigende Spezialisierung der Wissenschaften; - das Phänomen der Massenuniversität; - das Phänomen der didaktischen Unfähigkeit der Dozenten; - das Phänomen arbeitsmarktpolitischer Notwendigkeiten und Zwänge. Gerade das zuletzt genannte Phänomen scheint mir von besonderer Bedeutung zu sein: Wenn das zielbewußte, geradlinige, umfassende - also alle Hauptgebiete einschließende - und auch erfolgreiche Studium der Politikwissenschaft für den Studenten die Chance erhöht, auf dem Arbeitsmarkt eine Tätigkeit zu finden, die ungefähr seinem Ausbildungsprofil entspricht, so kommen letzten Endes die Verantwortlichen des Faches nicht umhin, auch die „psychologische" Seite des Studiums mitzubedenken, den Studenten demnach Fingerzeige zu geben, wie er möglichst unkompliziert und ohne größere Umwege durch sein Studium findet. Die wachsende Komplexität des Wechselverhältnisses von Studium und späterer Berufsarbeit auf der einen, sowie die gemachten Erfahrungen der einzelnen Autoren in ihrem jeweils spezifischen akademischen Alltag und in ihrem Umgang mit Studenten auf der anderen Seite hat diese Entwicklung nur noch gefördert. All dieses ist positiv zu bewerten und macht die gezeigten Versuche in dieser Richtung so überaus sympathisch. Doch von all dem wird in dem vorliegenden Lehrbuch nichts zu finden sein. Ich versuche, dies wie folgt zu begründen: Die Tatsache, daß bereits ein recht ausgebreitetes Schrifttum über die hier angeschnittene Thematik vorliegt, das zuverlässig unterrichtet, scheint mir Grund genug, darauf hier verzichten zu können. Schwerer wiegen freilich andere Argumente, die sich u.a. auch der Ansicht entgegenstellen lassen, die Aufnahme eines wissenschaftsdidaktischen Kapitels in einem Lehrbuch würde dieses gleichsam „abrunden" und seinen Nutzen für die Studenten erhöhen. Es erscheint mir zunächst wichtig darauf hinzuweisen, daß jedes noch so gut gemeintes und gelungenes Vademecum handwerklicher und technischer Hinweise zum Aufbau des Studiums nicht das zu erreichen vermag, was in den jeweiligen Proseminaren, Hauptseminaren und sonstigen seminaristischen Lehrveranstaltungen für diese Zwecke wörtlich verlautbart wird. Im einzelnen konkreten Seminar, in der einzelnen konkreten Einfiihrungsveranstaltung können diese Dinge besser besprochen werden als in einem sehr allgemein gehaltenen Text. Die Wirkung des gesprochenen Wortes in den Veranstaltungen (oder in den Sprechstunden oder zu anderer Gelegenheit) erscheint mir hier für die Studierenden größer zu sein als die Wirkung einer abstrakten schriftlichen Fixierung, die von den örtlichen Besonderheiten zwangsläufig ja absehen muß. Ein weiteres zwingendes Argument scheint mir zu sein, daß die Mittel und Wege, wie die Studierenden zu ihrem Material gelangen und wie sie dann damit umgehen, doch kaum auf einen

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

Nenner zu bringen sein werden. Da hängt sehr viel vom jeweiligen Typ ab. Es ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, daß es vor allem Anfangssemestern schwerfällt, die ausfindig gemachte Literatur sachgemäß zu erfassen und zu ordnen. Doch erscheinen mir die entsprechenden Maßnahmen, die ihnen zur Unterstützung vorgeschlagen werden, als zu schematisch, als daß sie auf die besonderen Eigenarten der Aufnahmefähigkeit des einzelnen Adressaten bzw. auf die besondere Lage, in der er sich befindet, anwendbar sind. Ob nun einer mit dem berühmtberüchtigten Zettelkasten operiert oder sich eines anderen Ordnungssystems bedient, ob einer mit einem PC arbeitet oder konventionell vorgeht, ist an sich völlig bedeutungslos. Jeder wird hier seinen eigenen Weg gehen und die Hilfsmittel in Anspruch nehmen wollen, die seinen Bedürfnissen und seinen Ressourcen entsprechen. Allgemein gehaltene Anleitungen erscheinen mir daher eher verwirrend. Geeigneter dagegen erscheint mir das Gespräch mit den Seminarleitern, erscheint mir der Erfahrungsaustausch mit den Kommilitonen. Die Gesprächssituation stellt doch wohl mehr dar als die isolierte Rezeption trockener Lehrbuchweisheiten. Ein drittes Argument besteht darin, daß oft vergessen wird, daß der Studierende die Politikwissenschaft nicht alleine, sondern in der Regel innerhalb einer Fächerkombination belegt hat. Daß es hier zwangsläufig zu Interessens- und vor allem auch Zeitkollisionen kommen muß, liegt doch auf der Hand. Das Arbeitspensum, das in den u.g. Anleitungen den Studenten abverlangt wird, mag idealiter korrekt definiert sein, läßt sich aber auf dem Hintergrund der vorgängigen Feststellung in der Praxis kaum durchziehen - oder nur auf Kosten eines anderen Faches. Ein vierter Einwand besteht darin, daß die Autoren stillschweigend und durchgehend vom Bild des Studenten als eines animal rationale ausgehen, der sein Studium so organisiert, daß es optimalen und rationellen Gesichtspunkten genügt. Erstens deckt sich dieses Bild m.E. nicht mit der Wirklichkeit des Universitätsalltags. Aber was noch viel entscheidender ist: Ein solchermaßen durchrationalisiertes Studium ist m. E. auch gar nicht anzustreben. Auch wenn es hier ein wenig altmodisch klingt: Der Universitätsalltag ist zuvörderst ein Kommunikationsgeschehen, der nicht alleine eine auf Effizienz und Optimierung der individuellen Leistung ausgerichtete Rationalität umschließt, sondern auch alle anderen Elemente individueller und interpersonaler Art des menschlichen Daseins, die die Herausbildung einer selbstbewußten menschlichen Lebensführung natürlicherweise mitbestimmen. Man mag zu Paul K. Feyerabends Wissenschaftsmethodologie stehen wie man will: Immer noch gilt aber, daß Aneignung wie Verarbeitung wissenschaftlichen Wissens anarchisch ist: Neben das konzentrierte Lernen tritt die Ablenkung, das Abschweifen in entlegenere Horizonte des Bewußtseins, das Sichtragenlassen von phantasiereichen Tagträumen und vieles andere mehr noch. Das ist fürwahr kein Plädoyer für Lust, Laune und Beliebigkeit. Aber es ist ein ernst zu nehmender Hinweis darauf, daß das Studieren - wenigstens in bezug auf den Bereich, um den es hier geht - über die Anstrengung des begrifflichen Denkens hinausgeht, vielmehr durch die Gesamtheit der menschlichen Lebens- und Willensäußerungen bestimmt wird. Die Organisation eines Studientages läßt sich eben nicht wie der Alltag in einer Kadettenanstalt reglementieren, wie dies offenkundig in den genannten Anleitungen den Anschein hat. Skepsis ist in dem Zusammenhang auch gegenüber einer anderen Tendenz in dieser Literatur angebracht: Die Praxis des Studiums erscheint als ein Martyrium, das auf den einzelnen Studierenden bedrohlich wartet und dem wohl nicht entgangen werden könne. Das Studium erscheint als „Kampf" gegen einen allesverschlingenden Leviathan, der nur durch den rationellsten Einsatz der Mittel zu bestehen sei. Das Studium erhält den Charakter eines Feindseligen, dessen man sich zu erwehren hat. Daß dabei die Ausbildung eines wissenschaftlichen Eros auf der Strecke bleibt, wird nicht beachtet. Ein anderer Grund, der gegen schabionisierte Anleitungen spricht, hängt mit den materiellen Schwierigkeiten vieler Studierender zusammen. Es ist bekannt, daß viele gezwungen sind, nebenher zu arbeiten, um ihr Studium überhaupt finanzieren zu können. Diese Tatsache wird in diesen Büchern gar nicht berücksichtigt. Die Probleme, die damit einhergehen, bestehen nicht nur darin, daß die Studienzeit zwangsläufig verlängert werden muß; sie bestehen naturgemäß auch darin, daß die Organisation des Studiums nach völlig anderen Kriterien vorgenommen werden muß, als dies modellhaft vorgeführt wird. Schließlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Ton der Lehrbücher in dieser

VIII. Literatur

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Richtung etwas Schulmeisterliches an sich hat. Das zeigt sich vor allem in Fragen des Stils von Seminar- oder Examensarbeiten. Indirekt lassen die Verfasser didaktischer Hinweise immer wieder durchblicken, daß das Verhältnis der Studierenden zu ihrer Muttersprache oft nicht zum Besten bestellt sei. Objektiv gesehen trifft dies durchaus zu. Aber man sollte hier mit vorschnellen Urteilen vorsichtig sein. Denn wie leicht läßt sich der Nachweis führen, daß nicht wenige gestandene Professoren selbst ihre Probleme im sachgemäßen Umgang mit der deutschen Sprache haben! Wie ausgedehnt ist doch das wissenschaftliche Schriftgut, das diese Mängel aufweist! Es nimmt sich dann immer peinlich aus, jemandem zu einem gewandteren und verständlicheren Duktus anzuhalten, selbst aber sich seiner eigenen Vorsätze nicht mehr erinnern zu wollen und sich dagegen zu versündigen. Im übrigen ist die leidvolle und vielbemühte Stilfrage mehr ein Problem der Schule als der Universität im allgemeinen bzw. gar eines einzelnen Faches, als daß von daher durchgreifende Verbesserungen, die zweifellos für beide Seiten - Dozenten wie Studenten - vonnöten wären, zu erwarten wären. Das Phänomen der Unübersichtlichkeit und Undurchdringlichkeit des Lehr- und Prüfungswesens , mit dem sich die Studenten - und nicht nur die Erstsemester, sondern durchgehend bis zu den ,alten Hasen' - konfrontiert sehen und das sie mehr oder weniger zur Verzweiflung treibt, ist eine Tatsache, deren negative Formen und Auswirkungen nicht geleugnet werden können. Erscheint es daher nicht naheliegender, das Heil weniger in standardisierten Anleitungen zu suchen, auf welche Weise man den Studienerfolg - wie immer man diesen definieren mag - herbeiführen könne, als in je und je verschiedenen konkreten kommunikativen Prozessen vor Ort? Wer aber sich trotzdem mit der Literatur über Ratschläge zur Gestaltung des Studiums - allgemein wie auch in bezug auf die Politikwissenschaft - vertraut machen möchte, für den seien die folgenden Hinweise gedacht:

1. Folgende politikwissenschaftliche Einführungswerke enthalten entsprechende Hinweise: Den Anfang hat wohl die Methodik der Politikwissenschaft. Eine Einführung in Arbeitstechnik und Forschungspraxis von Ulrich v. Alemann u. Erhard Forndran, Stuttgart 1974 (4. Aufl. 1990), gemacht. Dabei ist insbesondere Teil II. Forschungsprozeß und Arbeitstechniken, von Interesse. Ähnlichen Zwecken dient: Georg Simonis: Studium und Arbeitstechnik der Politikwissenschaft. Opladen (UTB) 1994. Daneben sind zu nennen: Marianne Wulff-Nienhüser: Politikwissenschaft: Forschungsprozeß und Arbeitstechniken, in: Bellers/Robert, Hrsg.: Politikwissenschaft I: Grundkurs, Münster 1988, 198-223. - Werner J. Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriß des Faches u. studiumbegleitende Orientierung, Passau 1992, v.a. Kap. X: Ratschläge für das Studium der Politikwissenschaft, 279-297. Bellers/Kipke: Einführung in die Politikwissenschaft. München 1993, Kap. 2: Organisation der Universität und Organisation des Studiums, 25-51. - Christoph Wagner: Konzeption einer wissenschaftlichen Arbeit, in: Mols/Lauth/Wagner, Hrsg.: Politikwissenschaft: Eine Einführung, Paderborn u.a. 1994 (UTB), 347-377. Ein sehr gründliches Vademecum über Auskunftsmittel, über das Bibliotheks- und Archivwesen sowie über EDV-gestützte Informationsermittlung stellt Reinhard Horn/Wolfram Neubauer: Fachinformation Politikwissenschaft. Literaturhinweise, Informationsbeschaffung und Informationsverarbeitung. München u.a. 1987, dar. -

2. Allgemein gehaltene Hinweise bieten: Axel Bänsch: Wissenschaftliches Arbeiten. Seminar- und Diplomarbeiten. München 1992 (v.a. Fragen der Literaturbearbeitung u. Zitierweise, der Gliederung, Definitionsfragen, Fragen des Stils und der Manuskripterstellung). - Friedhelm Hülshoff/Rüdiger Kaldewey: Mit Erfolg Studie-

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

ren. Studienorganisation und Arbeitstechniken, 3., neubearbeitete Aufl., München 1993 (beschreibt v.a. die Hochschullandschaft, Förderungsarten, Wohnprobleme, gibt Auskunft über lernpsychologische Aspekte, Zeitplanung, Mitarbeit u. Vorlesungen u. i. Seminaren, Erarbeitung von Fachliteratur, Bibliothekswesen, Manuskript- u. Referaterstellung, Prüfungsvorbereitungen). - Klaus Poenicke: DUDEN. Die schriftliche Arbeit. Materialsammlung u. Manuskriptgestaltung für Fach-, Seminar- und Abschlußarbeiten an Schule und Universität. Mit vielen Beispielen. Mannheim 1985 (v.a. Manuskriptgestaltung, Bibliographieren, Materialverarbeitung). - Gudrun Schiek: Eine sozialwissenschaftliche Examensarbeit schreiben. Praxis-Dialoge-Zwänge. Hohengehren 1992 (am interessantesten der „Kriterienkatalog z. Abfassung u. Beurteilung von Examensarbeiten", 56-135). - Werner Sesink: Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten ohne und mit PC. München u.a. 1990 (die Beispiele der Textverarbeitung mit PC erfolgt mit „Word 4.0/5.0"). - Ewald Standop: Die Form der wissenschaftlichen Arbeit, 9., durchgesehene u. erweit. Aufl. Heidelberg 1981 (v.a. Exzerpterstellung, Gesamtanlage von Arbeiten, Zitation, Anmerkungen, Bibliographieren, Schreibtechnik u. Korrektur, Stilfragen). Manuel R. Theisen: Wissenschaftliches Arbeiten. Technik-Methodik-Form. 7., überarb. u. aktualis. Aufl. München 1993 (v.a. Planung d. Arbeitsprozesses, Bibliographieren, Materialauswahl, -bewertungu. -beschaffung, Manuskriptgestaltung). Die wichtigsten Informationsstellen für Studierende sind - Archive - Dokumentations- u. Informationszentren - Bildstellen - Bibliotheken (vgl. Hülshoff/Kaldewey, 1993,166) Es spricht wohl nichts gegen die Tatsache, daß die Studenten der Politikwissenschaft ihr Fach hauptsächlich als „Bibliothekswissenschaft" erfahren. Das betrifft alle Semester: Die Bibliothek welche auch immer am Studienort - ist die zentrale Anlaufstelle. (Ob man vorwiegend dort arbeitet oder zuhause, ist an sich zweitrangig). Erst später, wenn die ersten selbständigen Versuche beginnen, eigene Forschungen zu betreiben, werden bzw. können daneben die anderen o.g. Einrichtungen treten. Aber auch hier bleibt die Bibliothek der genius loci des wissenschaftlichen Arbeitens. Es läge natürlich jetzt nahe, an dieser Stelle eine Einführung in das Bibliothekswesen zu geben, dessen formale und institutionelle Gliederung sich nach allgemein gültigen Prinzipien und Richtlinien ausrichtet und so von allen nachvollzogen werden kann. Das soll hier nicht geschehen aus den ähnlichen Gründen, wie sie oben in anderem Zusammenhang genannt worden sind: (a) die je und je unterschiedliche faktische Situation vor Ort (Ausstattung; Spezialisierung); (b) der Vorteil, die mit der Bibliotheksbenützung auftauchenden Fragen an konkreten Beispielen vor Ort zu besprechen. Der kommunikative Austausch wie auch die visuelle Erfahrung der lokalen bibliothekarischen Einrichtungen scheinen mir hier mehr bewirken zu können als eine abstrakte technische Anleitung. Man erlernt schließlich das Autofahren nicht, wenn man nur ein Buch darüber durchnimmt. Dagegen scheint es mir sinnvoller zu sein, die Studenten mit dem Quellenmaterial - Primärquellen oder Quellenbänden - vertraut zu machen, das für das Studium der Politikwissenschaft und für das selbständige Erarbeiten von Manuskripten in Betracht kommen kann. Was die Zusammenstellung betrifft, so habe ich mich an die Feststellung von einem der „great old men" der amerikanischen Politikwissenschaft, V. O. Key, gehalten: „Projects that rely on firsthand observation and utilize the appropriate techniques for the accumulation of data relevant to the analytic problems deserve priority. All this is not to deny the utilities of the printed or archival source." (Strategies in research on public affairs, in: Social Science Research Council Items, 10, 1956, 29-32, hier: 30). Eine ähnliche Vorgehensweise haben im übrigen auch die Autoren der beiden Beiträge über Sources for Political Inquiry im Handbook of Political Science (Greenstein/ Polsby, eds., vol. 7, Reading 1975), d e m e n t e E. Vose (Library Reference Materials and Manuscripts as Data for Political Science, 1-41), und Jerome M. Clubb (Quantitative Data, 43-77), bevorzugt.

VIII. Literatur

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1. Politisches System der BRD Geschichte Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle. Hrsg. für den Deutschen Bundestag v. Kurt G. Wernicke, für das Bundesarchiv von Hans Booms, 10 Bde., Bd. 1: Vorgeschichte, bearb. v. Joh. V. Wagner. Boppard 1975. Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearb. v. Peter Bücher. Boppard 1981. Bd. 3: Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung, bearb. v. Wolfram Werner. Boppard 1986. Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949. Hrsg. v. Bundesarchiv u. v. Institut f. Zeitgeschichte, 5 Bde., München 1976-81. Gesetzgebung Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Bundestages, hrsg. v. Deutschen Bundestag. - Bundestags-Drucksache, hrsg. v. Deutschen Bundestag. - Stenographische Berichte d. Verhandlungen des Bundesrates, hrsg. v. Bundesrat. - Bundesrats-Drucksache, hrsg. v. Bundesrat. Bundesgesetzblatt (BGBl), hrsg. v. Bundesminister der Justiz. Teil I: Bundesgesetze, Rechtsverordnungen; Teil II: Bilaterale Verwaltungsabkommen sowie deren Ratifikation, Zolltarifverordnungen; Teil III: Bundesrecht nach Sachgebieten geordnet. - Bundesanzeiger (BA), hrsg. v. Bundesminister der Justiz. Amtlicher Teil: Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften u. Abkommen, die nicht im BGBl abgedruckt werden. Bekanntmachungsteil: . . . Parlamentsspiegel. Dokumentation über d. Arbeit d. Europäischen Parlaments, der beratenden Versammlung des Europarats, der Versammlung der Westeuropäischen Union, der Bundes- und Landesparlamente der Bundesrepublik Deutschland u. über die Gesetz- u. Verordnungsblätter der Europäischen Gemeinschaften, der Bundesrepublik Deutschland und der Länder. Hrsg. Landtag Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1957/58ff. (ab Jhg. 1980 über Bildschirm abrufbar). Wissenschaftliche Abteilung des Deutschen Bundestags: Materialien. Parlament, Wahlen Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1982. Verf. u. bearb. v. Peter Schindler. Hrsg. v. Presse- u. Informationszentrum d. Deutschen Bundestages, 3., durchges. Aufl., Baden-Baden 1984. - Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1980 bis 1984..., Baden-Baden 1986.-Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1980 bis 1987. Verf. u. bearb. v. Peter Schindler... Baden-Baden 1988. - Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1983 bis 1991. Mit Anhang: Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik. Verf. u. bearb. von Peter Schindler, eine Veröffentl. d. Wissenschaftl. Dienste des Deutschen Bundestages. Baden-Baden 1994. Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Bundestags- und Landtagswahlen 1946-1987. Hrsg. Gerhard A. Ritter u. Merith Niehuss. München 1987. - Claus A. Fischer, Hrsg.: Wahlhandbuch für die Bundesrepublik Deutschland. Daten zu Bundestags-, Landtags- und Europawahlen in der Bundesrepublik Deutschland, in den Ländern und in den Kreisen 1946-1989, 2 Halbbände. Paderborn u.a. 1990. - Forschungsgruppe Wahlen e.V. Mannheim: Wahlergebnisse in Deutschland 1946-1992. Mannheim 1992. Regierung/Verwaltung Jahresbericht der Bundesregierung. 1967ff. - Finanzbericht. Hrsg. v. Bundesminister der Finanzen. - Bundeshaushaltsplan. Parteien Ossip K. Flechtheim, Hrsg.: Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, 9 Bde., Berlin 1963-71. - R. Kunz/H. Maier/Th. Stammen: Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 3., Überarb. Aufl., München 1979. -

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

Justiz/Bundesverfassungsgericht Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, bearb. v. Reinhard Schiffers. Düsseldorf 1984 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 4. Reihe: Deutschland seit 1945, Bd. 2). Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Hrsg. von d. Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts. Tübingen 1952ff. Verbände Michael Kittner, Hrsg.: Gewerkschaftsjahrbuch. Daten-Fakten-Analysen, 1984ff. - Horst-Udo Niedenhoff/Wolfgang Hege: Gewerkschaftshandbuch. Daten, Fakten, Strukturen. Ausgabe 1989/ 90, 2. Aufl. Köln 1989. Öffentliche Meinung Jahrbuch der öffentlichen Meinung. Hrsg. v. Elisabeth Noelle-Neumann. Allensbach: Institut f. Demoskopie 1956ff., ab Bd. 6 u.d.T.: Allensbacher Jahrbuch d. Demoskopie, 1976ff. -EmnidInformationen, 1948ff., ab 1991: Umfrage und Analyse. Außenpolitik Die Auswärtige Politik der Bundesrepublik Dutschland. Hrsg. vom Auswärtigen Amt unter Mitwirk, eines wissenschaftlichen Beirats. Köln 1972. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Hrsg.: Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe I: für den Zeitraum von Dezember 1966 bis Juli 1973 (12 Bde. u. 1 Reg.bd)., Reihe II: Juli 1973 bis September 1982 (8 Bde. u. 1 Reg.bd.), Reihe III: ab 13. Oktober 1982. - Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Hrsg.: Dokumente zur Deutschlandpolitik (mit wissenschaftlichem Anmerkungsapparat). Reihe I: 3. September 1939 bis 8. Mai 1945, Reihe II: 9. Mai 1945 bis 4. Mai 1955, Reihe III: 5. Mai 1955 bis 9. November 1958, Reihe IV: 10. November 1958 bis 30. November 1966, Reihe V: Vom 1. Dezember 1966 an fortlaufend (in den einzelnen Reihen unabgeschlossen). Dokumente des geteilten Deutschlands. Quellentexte z. Rechtslage des Deutschen Reiches, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Mit einer Einführ, hrsg. v. Ingo von Münch, 2., unverändert. Aufl.Stuttgart 1976. - Dokumente des geteilten Deutschland... Bd. II: seit 1968. hrsg. v. Ingo von Münch u. Mitarb. v. Ondolf Rojahn. Stuttgart 1974. - Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands. Quellentexte zum Prozeß der Wiedervereinigung von der Ausreisewelle aus der DDR über Ungarn, die CSSR und Polen im Spätsommer 1989 bis zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1990. Hrsg. v. Ingo von Münch unter Mitarb. u. mit einer Einführ. v. Günter Hoog. Stuttgart 1991. - Die Verträge zur Einheit Deutschlands (Beck-Texte im DTV), 2. Aufl. München 1992. United States Department of State, ed.: Documents on Germany 1944-1985, 4th ed. Washington D.C. 1985. -

2. Wirtschafts- und Sozialdaten Deutschlands Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1952 ff. - In diesem Zusammenhang sind zu nennen: die Länderberichte und Länderkurzberichte d. Statistischen Bundesamtes; die Fachserien: 1. Bevölkerung u. Erwerbstätigkeit, 2. Unternehmen u. Arbeitsstätten, 3. Land- u. Forstwirtschaft, Fischerei, 4. Produzierendes Gewerbe, 5. Bautätigkeit und Wohnungen, 6. Handel, Gastgewerbe, Reiseverkehr, 7. Außenhandel, 8. Verkehr, 9. Geld u. Kredit, 10. Rechtspflege, 12. Bildung u. Kultur, 13. Sozialleistungen, 14. Finanzen u. Steuern, 15. Wirtschaftsrechnungen, 16. Löhneu. Gehälter, 17. Preise, 18. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, 19. Umweltschutz. Wirtschaft und Statistik (mtl.), 1949ff. - Monatsberichte der Deutschen Bundesbank (mtl.). -

VIII. Literatur

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3. Comparative Politics Verfassungen Constitutions of Nations. Ed. Amos J. Peaslee. Rev. ed., 4vols. The Hague: Vol. 1: Afrika (1965): vol. II: Asien, Australien u. Ozeanien (1966); vol. III: Europa (1968); vol. IV: Amerika, 2 Tie. (1970). - Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart im Urtext und übersetzt. Hrsg. Günther Franz, 2., erweit. u. ergänzte Aufl. München 1964 (enthält Vf. der USA, Belgiens, der VR China, deutsche Verf., Frankreich, Verf. Japans v. 1947, Verf. der UdSSR v. 1936, Schweiz). Die Verfassungen Europas. Mit einem Essay, verfassungsgeschichtlichen Abrissen und einem vergleichenden Sachregister. Hrsg. Peter C. Mayer-Tasch i.V.m. Ion Contiades. Stuttgat 1966. Die Verfassungen der EG-Mitgliedsstaaten. Textausgabe mit einer Einführung u. einem Sachverzeichnis v. Adolf Kimmel. München (DTV) 1987. Biographisches Peter Trubart: Regents of Nations. Systematic Chronology of States and Their Political Representatives in Past and Present. A Biographical Reference Book/Regenten der Nationen. Systematische Chronolgie der Staaten und ihrer politischen Repräsentanten in Vergangenheit und Gegenwart. Ein biographisches Nachschlagewerk. München u.a. Tl. I: Afrika/Amerika (1984), Tl. II: Asien/ Australien-Ozeanien (1985), Tl. III/l: Mittel-, Ost-, Nord-, Süd-, Südosteuropa (1986), Tl. III/2: Westeuropa. Alphabetisches Gesamtregister (1988). Statistische Daten und

Indikatoren

Ein grundlegender bibliographischer Führer durch die amtlichen Statistiken aller Länder ist: Statistics Sources. A Subject Guide to Data on Industrial, Business, Social, Educational, Financial, and Other Topics for the United States and Internationally. Ed. Paul Wassermann et al., 6th ed. Detroit 1980. Arthur S. Banks/Robert B. Textor: A Cross-Polity Survey. Cambridge, Mass., 1963. - Arthur S. Banks: Political Handbook of the World. New York 1976. - Peter Flora u.a.: State, Economy, and Society in Western Europe 1815-1975. A Handbook in two Volumes. Vol. I: The Growth of Mass Democracies and Welfare States. Frankf./M. u.a. 1983. Vol. II: The Growth of Industrial Societies and Capitalist Ecomomics. Ebd. 1987. - International Labour Office, Ed.: Yearbook of Labour Statistics. Genf. - S. Mielke, Hrsg.: Internationales Gewerkschaftshandbuch. Opladen 1983. - Russet/Alker/Deutsch/Lasswell: World Handbook of Political and Social Indicators. New Haven 1964. - Charles L. Tayleru. D. Jodice: World Handbook of Political and Social Indicators, 3rd ed., 2 vols., New Haven 1983. -

4. Internationale Beziehungen Allgemein Konferenzen und Verträge. Vertrags-Ploetz. Ein Handbuch geschichtlich bedeutsamer Zusammenkünfte und Vereinbarungen. Teil II Bd. 4 A: Neueste Zeit. 1914-1959. Bearb. v. Helmuth K. G. Rönnefarth u. Heinrich Euler, 2., erweit. u. verändert. Aufl., Würzburg 1959, Teil II4b: Neueste Zeit. 1959-1963. Begr. v. Helmuth K. G. Rönnefarth.., bearb. v. Heinrich Euler. Würzburg 1963. Bd. 5: 1963-1970. Bearb. v. Heinrich Euler... Würzburg 1975. Handbuch der Noten, Pakte und Verträge (1944-1967). Hrsg. v. Franz-Wilhelm Engel. Recklinghausen, 2. Aufl. 1968. Völkerrechtliche Verträge (Beck-Texte im DTV), 5. Aufl. München 1991. Vereinte

Nationen

United Nations. Nations Unies. Treaty Series: Treaties and other International Agreements Registered or Filed and Recorded with the Secretariat of the United Nations, 1946/47ff. - Dazu: Cumulative Index Nr. 1-11 (für Bd. 1-750). New York 1956ff. -

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Teil I: Politikwissenschaft als Universitätsdisziplin in Deutschland

Handbuch der Vereinten Nationen. 2. völlig neu bearb. Aufl. Hrsg. Rüdiger Wolfrum. München 1991; darin der Anhang: Dokumentenführer Vereinte Nationen, 1159-1171. - A Comprehensive Handbook of the United Nations. A Documentary presentation in Two Volumes. Ed. Min-Chuan Ku. New York, 1979-79. Krieg und Frieden Klaus Jürgen Gantzel/Jörg Meyer-Stamer, Hrsg.: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1984. Daten und erste Analysen. München u.a. 1986.-P. Gödeke/E. Stuckmann/M. Vogt: Kriege im Frieden. Eine Dokumentation sämtlicher Konflikte, Kriegs- und Terrorhandlungen seit 1945. Braunschweig 1983. - Abrüstung, Nachrüstung, Friedenssicherung (Beck-Texte im DTV). München (zuerst 1983, jeweils letzte Aufl.). - Frank R. Pfetsch/Peter Billing: Datenhandbuch nationaler und internationaler Konflikte. Baden-Baden 1994. Gundolf Fahl, Hrsg.: Internationales Recht der Rüstungsbeschränkung, 4 Bde., Berlin 1975ff. (Loseblattsammlung). - U.S. Arms Control and Disarmament Agency (ACDA): Arms Control and Disarmament Agreements. Texts and Histories of Negotiations. Washington D.C. 1972 u. öfter. Europäische

Integration

Bulletin der Europäischen Gemeinschaften (mtl.). - Gesamtberichte der Kommission der Europäischen Gemeinschaften (jhrl.). - Handbuch des Europäischen Rechts. Hrsg. von Hans von der Groeben u.a. Baden-Baden (Loseblattsammlung). - Europarecht (Beck-Texte im DTV). München 12. Aufl. 1993. - Europäischer Unionsvertrag (Beck-Texte im DTV). München 1992. 5.

Jahrbücher

Amnesty International: Jahresbericht. Frankf./M. Archiv der Gegenwart. Die weltweite Dokumentation für Politik und Wirtschaft. 1931 ff. (Früher unter d. T. Keesings' Archiv der Gegenwart.) Deutsches Übersee-Institut, Hrsg.: Jahrbuch Dritte Welt. München. Eurobarometer. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Gemeinschaft. 1973 ff. Eurostat. Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft, 1963ff. Fischer-Weltalmanach. Zahlen. Daten. Fakten. Hintergründe. Frankf./M. 1959ff. Die internationale Politik. Jahrbuch d. Forschungsinstituts d. Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. München 1955ff. Jahrbuch der Europäischen Integration. Hrsg. Institut f. Europäische Politik. Bonn 1981 ff. Jahrbuch zur Friedens- und Konfliktforschung. 1971 ff. Munzinger-Archiv. Archiv für publizistische Arbeit. Ravensburg. Tl. 1: Internationales biographisches Archiv - Personen aktuell, Tl. 2: Internationales Handbuch - Länder aktuell, Tl. 3: Zeitarchiv, Tl. 4: Sportarchiv, Tl. 5: Gedenktage. SIPRI. Yearbook of world armament and disarmament. Stockholm 1968/69ff. Stateman's Year-Book. Statistical and historical annual of the states of the world. London, New York 1864ff. jhrl. Strategic Survey. Ed. International Institute for Strategic Studies. London 1967ff. United Nations: Yearbook. New York 1946/47ff. United Nations: Demographic Yearbook. New York 1949ff. United Nations, Hrsg.: Statistical Yearbook. New York 1949ff. United Nations: World Economic Survey. New York 1951 ff. Weltbank: Jahresbericht. Washington D.C., 1947ff. Weltbank: WeltentWicklungsbericht. Washington D.C., 1978ff. Yearbook of International Organizations. Brüssel 1948 ff. Yearbook of world affairs. London 1947ff.

VIII. Literatur

6. Wichtige Periodika mit laufender Dokumentation Blätter für deutsche und internationale Politik 1956ff. Bulletin der europäischen Gemeinschaften, 1968ff. Bulletin der Bundesregierung, 1954 ff. The China Quarterly, 1950 ff. Deutschland-Archiv, 1968ff. Europa-Archiv, 1946 ff. Foreign Affairs, 1923ff. (chronologische Angaben) Jahrbuch des öffentlichen Rechts N.F., 1951 ff. Journal für Sozialforschung, 1980 ff. (statistische Angaben) Osteuropa, 1950ff. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1953ff. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1969/70ff.

Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre (Jürgen R. Winkler/Jürgen W. Falter)

I. Das Thema Politiker, Journalisten, Vertreter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, Verwaltungen oder Bürgerinitiativen berufen sich in öffentlich geführten Diskussionen häufig auf bestimmte Wissenschaftler oder wissenschaftliche Ergebnisse, um ihre Positionen zu rechtfertigen. Sie unterstellen damit, wissenschaftlich untermauerte Behauptungen seien besonders zuverlässig. Es stellt sich die Frage, was denn die Grundlage dieser Autorität der Wissenschaft ist und über welche besondere „Methode" der Wissenschaftler verfügt, um zu vertrauenswürdigen Resultaten zu gelangen. Wir wollen in diesem Kapitel aus der Sicht der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie auf die methodologischen Grundlagen der Politikwissenschaft und ihre besonderen Erhebungs- und Auswertungsmethoden eingehen, bei aller Dezidiertheit der Perspektive aber auch alternative Wissenschaftskonzeptionen zu Wort kommen lassen. Beginnen wollen wir mit der Frage, wodurch sich Wissenschaft von anderen Formen der Erkenntnisgewinnung abhebt. Wissenschaftliches Arbeiten unterscheidet sich von der zufälligen, ungesicherten Vorgehensweise der Gewinnung von Alltagserkenntnissen vor allem durch ihr systematisches und, wie wir noch sehen werden, geradezu strategisch geplantes Vorgehen. Wie alle anderen Erfahrungswissenschaften wird Politikwissenschaft erst dadurch zur Wissenschaft, daß im Prozeß der Erkenntnisgewinnung bestimmte Methoden eingesetzt werden, die geeignet sind, die jeweilige Fragestellung nach Maßgabe bestimmter allgemeinverbindlicher Qualitätskriterien zu beantworten. Unter Methoden versteht man dabei Wege, um Erkenntnisse über den jeweiligen Gegenstand der Forschung zu erlangen. Die Methoden, die für Politikwissenschaftler von Interesse sind, können zunächst in wissenschaftliche Arbeitsmethoden und Arbeitstechniken unterschieden werden. Zu den Arbeitstechniken wird der Umgang mit Hilfsmitteln aller Art gerechnet. Derartige Hilfsmittel sind z.B. Bücher und wissenschaftliche Zeitschriften, Karteikarten, Computer oder bestimmte Aufzeichnungsgeräte. Wie man aus Büchern zitiert, die Datenverarbeitung einsetzt oder Programmsprachen benutzt, fällt nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht in das Gebiet der Forschungslogik und der Methodenlehre im engeren Sinne. Von diesen ist weiterhin die Didaktik als pädagogische Methodik klar zu trennen, die als ein Zweig der Erziehungswissenschaft die Lehrund Lernmethoden behandelt. In das Gebiet der Methodenlehre fallen mithin lediglich solche Methoden, die zum Zwecke der politikwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung angewandt werden. Hierbei unterscheidet man wiederum zwischen a) allgemeinen und speziellen und b) empirischen und geisteswissenschaftlichen Methoden. Zu den allgemeinen methodischen Verfahren, die für alle Wissenschaften von Bedeutung sind, zählen die formale Logik, die Mathematik einschließlich der statistischen Methoden sowie die Methoden der begrifflichen Abgrenzung, Unter-

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Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

Scheidung, Auffindung, Erklärung, Begründung und Systematisierung von Sachverhalten. Zum Gegenstand der speziellen Methoden werden vor allem die Methoden der empirischen Sozialforschung, d.h. die empirischen Verfahren der Datengewinnung und Datenanalyse gerechnet, während die Hermeneutik, Dialektik und Phänomenologie klassische geisteswissenschaftliche Methoden darstellen. Die Methodenlehre der Politikwissenschaft beschäftigt sich folglich nicht nur mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen des Faches, sondern auch mit den fachspezifischen Forschungstechniken der Politikwissenschaft und ihren geisteswissenschaftlichen Vorgehensweisen. Als Forschungslogik befaßt sie sich in systematischer Weise sowohl mit dem Prozeß der Erkenntnisgewinnung, insbesondere den für die empirische Politikwissenschaft typischen Begriffsformen, dem Aufbau, der Interpretation und der Abgrenzung empirischer Theorien, als auch mit deren Leistung, Begründung und Überprüfung. Als Grundlage der empirischen Politikforschung beschäftigt sie sich mit den Vorgehensweisen und Instrumenten zur Erfassung der empirischen Wirklichkeit und zur empirischen Überprüfung theoretischer Aussagen, also mit Beobachtung und Befragung, Verfahren der Einstellungsmessung und der Inhaltsanalyse sowie mit den einschlägigen statistischen Auswertungsverfahren. Zu den typischen Fragen der Methodenlehre der Politikwissenschaft zählen z.B. die nach der Unterscheidung von wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Untersuchungen, nach der Form korrekter wissenschaftlicher Erklärungen und nach der Rolle sozialer Regelmäßigkeiten bei der Prognose politischer Ereignisse. Man kann auch sagen, daß sich die Methodenlehre der Politikwissenschaft mit den Regeln der Aufstellung, Analyse und Begründung politikwissenschaftlicher Sätze beschäftigt. Wir wollen im folgenden nach einem Blick auf einige historische Entwicklungslinien der wissenschaftlichen Methodenlehre und der empirischen Sozialforschung zunächst auf den Forschungsprozeß und die Untersuchungsformen der empirischen Politikwissenschaft eingehen, um uns dann ausführlicher mit der Form und der Geltung politikwissenschaftlicher Aussagensysteme zu beschäftigen. Dabei soll neben Problemen der Begriffsbildung und der Aussagenanalyse insbesondere auf die Rolle politikwissenschaftlicher Theorien bei der Erklärung und Prognose politischer Ereignisse und auf Aspekte der Überprüfung politikwissenschaftlicher Aussagen eingegangen werden. Die beiden Schlußabschnitte sind den spezielleren politikwissenschaftlichen Forschungsmethoden und einigen Streitfragen der Wissenschaftstheorie der Politikwissenschaft gewidmet.

II. Zur historischen Entwicklung der Forschungsmethodologie A. Die Anfänge der wissenschaftlichen Methodenlehre Die ersten, die im abendländischen Kulturkreis Wissen von bloßer Meinung unterschieden, waren griechische Philosophen, die die Forderung aufstellten, Personen, die eine Behauptung aussprächen, müßten imstande sein, deren Wahrheit zu begründen. Andernfalls würde es sich um bloßen Glauben handeln. In dieser Tradition haben politische Theoretiker wie Aristoteles und, rund 2000 Jahre später, Hobbes und Locke die Meinung vertreten, wissenschaftliche Erkenntnis stelle besonders gut gesichertes menschliches Wissen dar. Welche herausragende Rolle die Rechtferti-

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gungsfrage selbst im alltäglichen Leben spielt, zeigt sich in Gesprächen und Diskussionen, in deren Verlauf die Teilnehmer ihre Partner durch Argumente zu überzeugen versuchen. Eine wenig entwickelte Wissenschaft ist dadurch charakterisiert, daß sie über eine Menge nur lose verbundener Sätze verfügt. Da diese Situation als unbefriedigend angesehen wird, besteht neben der Suche nach neuen Sachverhalten eine Tendenz der Forschung darin, die diese Sachverhalte beschreibenden Sätze in eine systematische Ordnung zu bringen. Mit besonderem Nachdruck wurde dieses Anliegen bereits von Aristoteles (384-322 v. Chr.) herausgestellt, der als erster in systematischer Weise die Kennzeichen und Methoden der Wissenschaft untersuchte. In seinen logischen und metaphysischen Schriften prägte er einige der noch heute gültigen wissenschaftlichen Grundbegriffe. Er beschäftigte sich u.a. mit den Formen logischen Schließens, den Methoden der wissenschaftlichen Beweisführung und der Definition. Zu den Grundlagen der heutigen Methodenlehre gehört seine Erkenntnis, daß die Gültigkeit eines Schlusses nur durch die Beziehungen zwischen Prämissen und Konklusion bestimmt wird. Ebenfalls auf Aristoteles geht die Forderung zurück, die Prämissen einer befriedigenden Erklärung müßten wahr sein. Die Kriterien, denen die einzelnen Bestandteile wissenschaftlicher Erklärungen genügen sollten, waren jedoch nicht sehr präzise und ließen viele Fragen offen. Was den Verlauf der wissenschaftlichen Forschung betrifft, unterschied er ein induktives und ein deduktives Stadium. Er forderte, auf induktive Weise aus den zu erklärenden Phänomenen erklärende Sätze herzuleiten, und daraus im nächsten Schritt Aussagen über die interessierenden Phänomene abzuleiten. Dieser Forderung des Aristoteles kommen heute zahlreiche Politikwissenschaftler nach. Schematisch läßt sich das Verfahren wie folgt darstellen:

I

(2) Induktion

(1) Beobachtungen

*

(3) Erklärende Sätze

(4) Deduktion

Bei Aristoteles beginnt die wissenschaftliche Forschung mit der Erkenntnis, daß gewisse Ereignisse bzw. Eigenschaften zusammen auftreten. Diese Erkenntnis ermöglichte es ihm, eine erste intuitive Vorstellung einer Erklärung zu entwickeln. Nach Aristoteles liegt eine wissenschaftliche Erklärung nur dann vor, wenn Aussagen über das zu erklärende Phänomen aus erklärenden Sätzen abgeleitet werden. Damit prägte Aristoteles die Vorstellung, eine Erklärung habe die Frage zu beantworten, warum ein Ereignis gegeben ist. Ein Politikwissenschaftler könnte das induktivdeduktive Forschungsverfahren z.B. auf den Aufstieg von Parteien anwenden: Er würde mit der Beobachtung des Aufstiegs von Parteien beginnen und aufgrund dieser und anderer Beobachtungen verschiedene allgemeine Aussagen behaupten (d.h. induktiv erschließen), etwa, daß die Bürger in Wirtschaftskrisen unzufrieden werden, daß unzufriedene Menschen sich von alten Parteien abwenden usw. Aus allgemeinen Sätzen, die diese Sachverhalte beschreiben, könnte er dann den Aufstieg einer neuen Partei ableiten. Der Politikwissenschaftler ist damit von dem Tatsachenwissen über die Entstehung einer neuen Partei zu theoretischem Wissen, nämlich einem Verständnis der Gründe dieses Vorgangs, gelangt.

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Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

Aristoteles' logische Schriften haben sich nicht nur wissenschaftsgeschichtlich als äußerst einflußreich erwiesen; sie bilden auch heute noch die Grundlage einiger fundamentaler Logiken. Erst im 19. und 20. Jahrhundert wurde mit dem Aufkommen der symbolischen und deontischen Logik logisches Neuland betreten. Obwohl Aristoteles die Regeln des logischen Denkens bereits genau formulierte, ist doch ein Gebrauch dieser Verfahren in seinen eigenen naturwissenschaftlichen und vor allem ethisch-politischen Schriften nur schwer zu erkennen. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, daß zwar Mathematiker und Philosophen, nicht aber politische Theoretiker darauf zurückgegriffen haben.

B. Die „methodologischen Wurzeln" der Politikwissenschaft 1. Empirismus und Rationalismus Im 17. Jahrhundert begannen sich viele Wissenschaftler kritisch mit der aristotelischen Lehre auseinanderzusetzen und Alternativen zu entwerfen. Zu den Reformern zählten René Descartes (1596-1650) und Francis Bacon (1561-1626), die die Idee propagierten, die Wissenschaft habe eine Pyramide mit den allgemeinsten Aussagen an deren Spitze zu erbauen. Während Descartes jedoch an der Spitze beginnen wollte, um von dort zu Aussagen niedriger Allgemeinheitsstufe herabzusteigen, wollte Bacon am Fuße der Pyramide beginnen und von dort mittels eines induktiven Verfahrens zu immer allgemeineren Aussagen gelangen. Beide Wege der Wissenschaft wurden systematisch ausgebaut und fanden viele Anhänger. In der modernen Politikwissenschaft stößt man noch immer auf beide Traditionen. So gehen viele empirisch orientierte Politikwissenschaftler nach dem Baconschen induktiven Ideal vor, während die eher analytisch orientierten Politikwissenschaftler wie die Vertreter der Neuen Politischen Ökonomie und die Anhänger systemtheoretischer Ansätze dem deduktiven Weg Descartes' folgen. Descartes gab als Vater des klassischen Rationalismus der Methodenlehre neue Impulse, indem er der Mathematik als allgemeiner Methode zum Durchbruch verhalf. Er rückte das Streben nach harter methodischer Absicherung in das Zentrum der Wissenschaft. Gewißheit, so Descartes, könne nur dann erreicht werden, wenn das Gebäude der Wissenschaft auf der Grundlage sicherer methodischer Verfahren neu aufgebaut würde. Wissen über die Welt könne man allein durch klares, vernünftiges Denken gewinnen. Von intuitiv gewonnenen allgemeinen Wahrheiten, sogenannten Axiomen, könne man auf deduktive Weise zu weiteren Erkenntnissen gelangen. Die Sicherheit wissenschaftlicher Sätze sollte also gewährleistet sein, indem man die Sätze aus möglichst unzweifelbaren Ausgangssätzen ableitet. Doch das Problem einer derartigen Methode besteht darin, daß man an irgendeinem Ausgangspunkt anfangen muß. Die Rationalisten rechtfertigen ihre letzten als unzweifelbar behaupteten Sätze mit dem Argument, diese seien selbstevident. Kritiker dieser Auffassung haben jedoch die Frage aufgeworfen, ob das, was ein Wissenschaftler als unzweifelbar behauptet, auch tatsächlich zutrifft. Sie brachten das schwer zu widerlegende historische Argument vor, schon viele Wissenschaftler hätten Aussagen als unzweifelbar postuliert, die sich später als Aberglauben herausteilten. Die Kritiker dieses Intellektualismus bzw. Rationalismus lehnen es ab, die Selbstevidenz als ein unfehlbares Kriterium der Wahrheit anzuerkennen und weisen auf den zutreffenden Sachverhalt hin, das gesamte Aussagensystem werde erschüttert, wenn man erst einmal an den

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Axiomen zweifle; man müsse dann auch an allem zweifeln, was mit Hilfe der entsprechenden Ausgangssätze als bewiesen gelte. Einen anderen Weg schlug Francis Bacon ein, der den Versuch unternahm, die moderne wissenschaftliche Methode in ihrer Gesamtheit darzustellen. Das Ziel der Wissenschaft bestünde darin, das Schicksal der Menschen auf Erden zu verbessern; man könne dieses Ziel nur erreichen, indem man Fakten durch systematisches Beobachten sammle und daraus Theorien ableite. An der zeitgenössischen Erfahrungswissenschaft kritisierte er, daß diese von Vorurteilen und Vorlieben ausgehe, zu vorschnellen Verallgemeinerungen neige, mehr Regelmäßigkeiten als tatsächlich gegeben sehe und bestätigende Fälle überbetone. Der damals herrschenden Wissenschaftspraxis warf er vor, statt systematisch zu experimentieren die Daten in zufälliger und unkritischer Weise zu sammeln und aus wenigen Beobachtungen die allgemeinsten Aussagen abzuleiten. Die praktizierten Verfahren müßten schon deswegen zu falschen Schlüssen führen, weil die meisten Autoren negative Fälle nicht beachteten. Viele Wissenschaftler meinten im Anschluß an Bacon, die wissenschaftliche Methode bestünde darin, möglichst viele Fakten zu sammeln und von diesen ausgehend Theorien aufzubauen. Die Methode, mit der man dies zustande bringe, sei die Induktion. Die Vertreter der induktiven Methode stehen auf dem Standpunkt, daß die politikwissenschaftliche Forschung eine Angelegenheit der Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen ist. Ein herausragendes Beispiel für die induktivistische Auffassung ist John Stuart Mills Methodenlehre. Zwar hatten schon im Mittelalter einige Autoren induktive Methoden diskutiert, doch erst John Stuart Mill (1806-1873), der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Standardwerk über die Theorie der Induktion vorlegte, propagierte einige dieser Methoden derart erfolgreich, daß ihm fälschlicherweise sogar ihre Entwicklung zugeschrieben wurde. Was die Entdeckung wissenschaftlicher Aussagen anbelangt, propagierte Mill vier induktive Methoden, wovon die Übereinstimmungsmethode und die Unterschiedsmethode die bekanntesten sind. Eine weitere Neuerung hatten Autoren bereits im Mittelalter eingeführt, indem sie die induktiv-deduktive Forschungsmethode des Aristoteles um eine dritte Untersuchungsstufe erweiterten. Robert Grosseteste (etwa 1168-1253) und Roger Bacon (etwa 1214-1292) forderten, daß die induktiv gewonnenen allgemeinen Aussagen auf einer dritten Stufe weiter an der Erfahrung geprüft werden sollten. In diesem Kontext propagierte Grosseteste eine Methode zur Falsifizierung von Hypothesen. Das beste Verfahren der Erkenntnisgewinnung bestünde darin, aus der Zahl der möglichen Erklärungen solche zu eliminieren, die sich als falsch erweisen würden; alle Hypothesen hätten gewissen Folgerungen, die sich als falsch erweisen könnten. Wenn man nun eine logische Konsequenz einer Hypothese als falsch nachweisen könne, müsse auch die Hypothese falsch sein. In der Logik hat man der hier benutzten Schlußregel den Namen „modus tollens" gegeben. Die Forderung nach empirischer Überprüfung stellt die Geburtsstunde der Experimentalwissenschaft dar. Allerdings wurden die Ratschläge einige Generationen lang kaum befolgt; man bezog sich lieber auf die Autorität früherer Autoren als auf empirische Überprüfungen. Karl Popper arbeitete dieses Programm viele Generationen später in systematischer Weise zu einer umfassenden Forschungsmethodologie aus. Heute ist weithin anerkannt, daß man auf verschiedenen Wegen zu einer Theorie gelangen kann und daß die Art und Weise der Entdeckung von Theorien für die Richtigkeit der Theorie irrelevant ist. Diese pragmatische Unterscheidung zwischen einem Entdeckungs- und einem Begründungszusammenhang führte John Herschel

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(1792-1871) ein. Er meinte, blindes Raten könne durchaus gleichberechtigt neben einem sorgfältigen induktiven Voranschreiten stehen. Für die Gültigkeit einer Hypothese komme es lediglich darauf an, ihre logischen Konsequenzen durch Beobachtung zu bestätigen. In diesem Zusammenhang nannte Herschel zwei Wege, wie ein Wissenschaftler zu Theorien gelangen könne: die Anwendung der Induktion und die Formulierung von Hypothesen. Herschel meinte, die Entdeckung von Regelmäßigkeiten mache lediglich den ersten Schritt einer wissenschaftlichen Interpretation aus. Wenn man diese Regelmäßigkeiten in Theorien einbette, vollziehe man den zweiten Schritt. Theorien entstünden entweder aus fortgeschrittenen induktiven Verallgemeinerungen oder durch die Einführung kühner Hypothesen, die die bisher unverbundenen Ereignisse mit Hilfe von Gesetzen bzw. Regelmäßigkeiten miteinander verknüpfen. Mit seiner Sichtweise praktischer Forschung prägte Herschel vor allem das Selbstverständnis der angelsächsischen Erfahrungswissenschaftler. Neuartig war die Betonung der Rolle der schöpferischen Phantasie, die er beim Aufbau von Theorien am Werke sah. Über die Annahme oder Ablehnung von Theorien sollte nicht die Art und Weise entscheiden, wie man zu diesen Theorien gelangte, sondern die Übereinstimmung mit den Beobachtungen. Für die Entwicklung der Wissenschaften hat sich, wie wir noch sehen werden, die Methode, nach Beispielen zu suchen, die Aussagen widerlegen können, als sehr fruchtbar erwiesen.

2. Empirische Sozialforschung Parallel zu den Fortschritten in der Forschungslogik und dem Ruf nach einer Erfahrungsbasis der Erkenntnis führten Praktiker, die sich mit konkreten Fragen des Lebens beschäftigten, erste Datenerhebungen durch und entwickelten die Grundzüge einer beschreibenden Statistik, die sich aber erst mit dem Merkantilismus und Absolutismus seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zunächst vor allem in Frankreich ausbreitete. In Deutschland sammelten Herman Coming (1609-1681) und Gottfried Achenwall (1719-1772), die Begründer der „deutschen Universitätsstatistik", Daten über die Einnahmen und Ausgaben des Staates, über die landwirtschaftliche Produktion und den Ex- und Import. Die Analyse von Zusammenhängen und die Durchdringung des Materials waren in ihren Untersuchungen jedoch noch sehr schwach ausgebildet. Als Vorläufer der quantitativen Analyse sozialer und politischer Phänomene bildete sich in England zur gleichen Zeit die politische Arithmetik heraus, zu deren wichtigsten Vertretern John Graunt (1620-1674), William Petty (1623-1687) und Edmund Halley (1656-1742) gezählt werden. Diese Forschergruppe strebte an, gesellschaftliche Ereignisse mit Hilfe quantitativer Daten und Methoden kausal zu erklären. Man versuchte mit Hilfe von Daten, die durch Beobachtung und andere Methoden systematisch erhoben wurden, auf induktive Weise zu allgemeinen Aussagen zu gelangen. Obwohl sie für umfassende statistische Erhebungen plädierten, blieben diese bis ins frühe 19. Jahrhundert von offizieller Seite aus. Erst als die sozialen Probleme im 19. Jahrhundert im Gefolge der Industrialisierung zunahmen, erkannte man den Nutzen solcher Erhebungen an. Angetrieben von dem Bedürfnis nach zuverlässigeren Informationen über die sozialen Folgen der Industrialisierung entstanden schließlich in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in vielen englischen Städten „Statistical Societies". Diese sammelten Daten über die Wohnsituation und Gesundheitsprobleme der Arbeiterschaft, deren Lesestoff und Lebenseinstellung, die Ausstattung von Arbeiterwohnungen mit sanitären Einrichtungen etc. Zu diesem Zwecke arbeiteten die Forscher der „Societies" detaillierte Frage- und

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Beobachtungsbögen aus. Endlich interessierte sich auch die britische Regierung für die Probleme und setzte im Laufe der 40er Jahre eine Reihe von Untersuchungskommissionen ein. Neben anderen werteten Friedrich Engels in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" und Karl Marx im „Kapital" Teile dieses Materials für ihre Zwecke aus. Mit der wissenschaftlichen Begründung der Wahrscheinlichkeitsrechnung durch Jacob Bernoulli (1654-1705) erlebte die empirische Forschung einen weiteren Auftrieb. Bereits bei Condorcet (1743-1794) führte sie zu einer „mathématique sociale", in der erste Ansätze der Spieltheorie vorweggenommen und Berechnungen möglicher Wahlentscheidungen versucht wurden. Von Mathematikern verfeinert, wurde die Wahrscheinlichkeitstheorie zunächst vor allem in der Bevölkerungsstatistik erprobt. Der Belgier Adolphe Quételet (1796-1847), der Begründer der Moralstatistik, nutzte die Wahrscheinlichkeitstheorie schließlich für die empirische politische Forschung. Vielen Zeitgenossen Quételets schien der Traum einer auf objektiver Beobachtung beruhenden strengen Sozialwissenschaft in Erfüllung zu gehen. Die Moralstatistik wollte soziale Gesetzmäßigkeiten erforschen, die sie aus der Erfahrung zu gewinnen hoffte. Dem lag der Gedanke zugrunde, das Los der Menschen sei nur zu verbessern, wenn man die relevanten sozialen Zusammenhänge kenne. Auguste Comte (1798-1857), der als Begründer der Soziologie angesehen wird, lehnte Statistik jedoch ab und wandte sich ausdrücklich gegen die Arbeiten von Quételet. Statistik gehörte seiner Auffassung nach nicht zur Wissenschaft. So verwarf er auch die Theorie der Wahrscheinlichkeit, ohne die die moderne empirische Sozial- und Politikforschung nicht vorstellbar wäre. Da vor allem die frühen Soziologen der Herausbildung empirischer Forschungsmethoden feindselig gegenüberstanden, wurden die Methoden der Sozialforschung zunächst neben den sich allmählich an den Universitäten etablierenden Sozialwissenschaften entwickelt und verfeinert. Vor allem in England und den USA suchten Theoretiker und Praktiker Wege, der Armut beizukommen. Die Anstrengungen, die dabei unternommen wurden, förderten die Weiterentwicklung der Methoden der empirischen Politikforschung. Die ersten methodologisch ausgereiften Umfragen in den USA waren zumeist Gemeindestudien, die breite Gegenstandsbereiche abdeckten, sich aber bald auf besonders wichtige Themen wie das Gesundheits-, Wohn- und Erziehungswesen, die Arbeitsverhältnisse u. a. konzentrierten. Soziale und politische Phänomene wurden nun systematisch beobachtet, beschrieben und analysiert. Entscheidend war, daß man auf die Repräsentativität der Untersuchungseinheiten für die Gesamtheit und die Vergleichbarkeit der durch verschiedenste Informationsquellen wie statistische Unterlagen, literarische Zeugnisse, Repräsentativerhebungen, Befragungen, Beobachtungen und persönliche Dokumente gewonnenen Daten achtete. Kennzeichen dieser empirisch-sozialwissenschaftlichen Bewegung war folglich, daß an die Stelle spekulativer Verallgemeinerungen Datenerhebungen, Umfragen und Beobachtungen traten. Die frühen empirischen Sozial- und Politikforscher konnten sich allerdings überhaupt nicht vorstellen, nur jeweils einen Teil der interessierenden Population zu erforschen. Sie waren der Ansicht, daß man nur dann über zuverlässige, die Gesamtbevölkerung beschreibende Informationen verfüge, wenn man alle oder zumindest eine möglichst große Zahl der Menschen beobachten oder befragen würde. Der Gedanke, daß es auch möglich sein sollte, nur einen Teil der Population zu erforschen und dennoch zuverlässige Informationen über die Gesamtheit zu erlangen, war ihnen völlig fremd. So war es geradezu revolutionär, als Arthur L. Bowley (1869-1957), dem die bedeutendsten methodischen Durchbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts

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gelangen, in einer Studie über das Armutsproblem in einer Gemeinde erstmals das Stichprobenverfahren anwandte. Wieder sollten jedoch Jahrzehnte vergehen, bis sich die Ziehung von Zufallsstichproben allgemein in der Politikforschung durchsetzen konnte. Die großen Anstrengungen, die zur empirischen Aufarbeitung politischer und sozialer Bereiche unternommen wurden, regten auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zahlreiche methodische Neuerungen an. Jetzt wurden ausgefeilte statistische Verfahren zur Analyse von Zusammenhängen zwischen einzelnen Merkmalen entwickelt, wurde die Formalisierung von Modellen mittels mathematischer Darstellungen vorangetrieben. Eine besondere Faszination ging von der Idee aus, Phänomene zu quantifizieren. Viele Forscher sahen den Vorteil der Quantifizierung darin, durch die Anwendung mathematischer Verfahrung die Datenauswertung zu verbessern. Emory S. Bogardus (1882-1973) entwickelte in den zwanziger Jahren erstmals Skalen zur Umformung qualitativer Messungen von Attitüden (Ablehnung von Fremdgruppen) in numerische Meßwerte. Immer mehr Sozialwissenschaftler glaubten, Einstellungen und Verhaltensweisen seien mittels dieser Methoden objektiver festzustellen und zu vergleichen, als sie es bis dahin für möglich gehalten hatten, und griffen die Skaüerungsverfahren, wie man sie heute nennt, schnell auf. Ein großer Innovationsschub für die empirische Politikforschung ging schließlich in den 30er Jahren von der „Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle" in Wien aus. Paul F. Lazarsfeld (1901-1976), der mit Besorgnis das Anwachsen faschistischer Bewegungen beobachtete, war daran gelegen, die Gründe dafür herauszufinden. In der höchst innovativen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit" aus dem Jahre 1933 machte er mit seinen Mitarbeitern von einer Vielzahl von Erhebungstechniken Gebrauch. Zur Begründung der Ergebnisse wurden die unterschiedlichsten Methoden eingesetzt. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann die akademische empirische Politikforschung in systematischer Weise die Methoden der Stichprobenziehung, Befragung, Beobachtung und Inhaltsanalyse sowie Verfahren wie die - als erste multivariate sozialwissenschaftliche Analysetechnik - von Lazarsfeld u.a. entwickelte mehrdimensionale Tabellenanalyse in den Kanon des Lehrstoffes aufzunehmen. Diese Methoden wurden in den vergangenen Jahrzehnten zu den wichtigsten Verfahren der angelsächsischen Politikforschung.

3. Geisteswissenschaftliche Methoden Da Erkenntnisse mittels Sprache übermittelt werden, entwickelte sich schon in der Antike eine Lehre, den Sinn alter Texte oder fremder Sprachen, aber auch göttliche Zeichen und Weisungen zu entschlüsseln und in eine vertraute Sprache zu übersetzen sowie zwischenmenschliche Kommunikation zu erleichtern. So bemühten sich vor allem Philologen darum, den Sinn von Dokumenten zu eruieren. Als Bezeichnung dafür hat sich später der Ausdruck „Hermeneutik" eingebürgert. Die Methoden, die zu diesen Zwecken entwickelt wurden, bezeichnet man als hermeneutische Methoden. Diese beinhalten Regeln, die die Angemessenheit der Interpretation sprachlicher Dokumente gewährleisten sollen. Diesem ursprünglichen Zweig der Hermeneutik entstammt die Übersetzungslehre sowie die Textanalyse, deren Zweck darin bestehen sollte, Schriften anderer Autoren zu verstehen. Die Auslegung der Heiligen Schrift bildete ein herausragendes Tätigkeitsfeld der Hermeneutik. Hermeneutische Verfahrensweisen wurden auch benutzt, um die Autorität der klassischen Texte für Entschei-

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düngen zu nutzen, sie sollten Handlungen anleiten und Orientierungen bieten. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) deutete die Hermeneutik als eine allgemeine Theorie der Auslegung und des Verstehens, die von Wilhelm Dilthey (1833-1911) dann im 19. Jahrhundert als Wissenschaftslehre ausgebaut wurde. Hermeneutische Forschung kommt mithin besonders dort zum Zuge, wo man Briefe oder andere Dokumente als Quellengrundlage heranzieht wie z. B. in biographischen Forschungen, die den Zweck haben können, politische Verhaltensweisen und Einstellungen eines Individuums verständlich zu machen. Um beispielsweise die Texte aus dem Nachlaß einer historischen Persönlichkeit angemessen interpretieren zu können, sind häufig beträchtliche geschichts- und sprachwissenschaftliche Kenntnisse nötig. Man wird derartige historische Äußerungen nur dann richtig verstehen können, wenn man den Stil der betreffenden Zeit kennt, den man wiederum am besten kennenlernt, wenn man Briefe und andere Dokumente dieser Zeit studiert. Historische Dokumente würden sich gegenseitig erhellen, d . h . , man verstehe einen historischen Text entsprechend der Absicht des Senders, wenn man ihn im Kontext anderer relevanter Texte betrachte. In diesem Sinne spielt die Hermeneutik in allen Wissenschaften eine Rolle, da Forschungsergebnisse im allgemeinen in Form geschriebener Texte vorliegen, die die Grundlage der weiteren Forschung bilden. Um die Lektüre von Fachliteratur und allgemein die Interpretation von Texten zu erleichtern, dient ein beträchtlicher Teil des Studiums der Politikwissenschaft dem Erwerb hermeneutischer Fähigkeiten. In dem Bestreben, den geisteswissenschaftlich orientierten Wissenschaftlern ein eigenständiges Methodenideal interpretierender Erkenntnis zu verschaffen, beziehen sich in neuerer Zeit Politikwissenschaftler auf eine andere Art Hermeneutik. Dahinter verbirgt sich das Bestreben, die Kulturwissenschaften - die Wissenschaften von den Menschen - von den sogenannten Naturwissenschaften abzugrenzen. Man glaubte diese Abgrenzung vornehmen zu können, indem man den Natur- und Kulturwissenschaften je eigene Zielsetzungen und Methoden zuordnete. So ging Wilhelm Windelband (1848-1915) von einem prinzipiellen Unterschied zwischen den Natur- und Kulturwissenschaften aus. Er vertrat die Ansicht, bei den Naturwissenschaften handele es sich um nomothetische, auf die Gewinnung von Gesetzeswissen ausgerichtete, bei den Kulturwissenschaften hingegen um idiographische, d . h . Einzigartigkeiten untersuchende Wissenschaften. Im Zeichen des sich im 19. Jh. ausbreitenden Psychologismus leitete schließlich Dilthey eine neue hermeneutische Bewegung ein, in deren Vordergrund nicht das Verständnis von Texten, sondern die Rekonstruktion fremden Seelenlebens stand. Mit Dilthey wandelte sich die Hermeneutik von der Textinterpretation zu einer sogenannten Methodenlehre der Geisteswissenschaften, in deren Mittelpunkt das Verstehen rückte, mit dessen Hilfe sich aus menschlichen Äußerungen psychische Phänomene erschließen ließen. Als Verfahren, auf dem die Geltung von Interpretationsaussagen beruhen sollte, favorisierte Dilthey zeitweilig die Empathie, d.h. ein nacherlebendes Sichhineinversetzen in fremde Personen. Die Handlungen von Menschen sind danach verstehbar, weil die Menschen über die Fähigkeit verfügen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, sich in ihre Motive und Empfindungen einzufühlen, Fremdpsychisches durch Eigenpsychisches nachzuvollziehen. Als Methode hierzu sollte die Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens dienen. Dilthey erkannte jedoch, daß die Einfühlung keinVerifikationsverfahren ist und daß man von Hintergrundwissen, der Methode der Induktion und vergleichenden Verfahren Gebrauch macht, d . h . die untersuchten Verhaltensweisen unter ein Deutungsschema subsumiert und folglich Regeln der Art

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„Eine Äußerung X im Kontext Y gilt als Z" angewandt würden. Der sich rasch auf die verschiedenen Disziplinen ausbreitende Psychologismus begünstigte allerdings eine sehr unklare Ausdrucksweise und rief schnell eine Gegenbewegung hervor.

C. Entwicklungen in der neueren Wissenschaftstheorie Als eine Gegenbewegung zum deutschen Idealismus kann die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der angelsächsischen Philosophie herausbildende analytische Philosophie angesehen werden, die vor allem mit den Namen George Edward Moore (1873-1958) und Bertrand Russell (1872-1970) verbunden ist. Angesichts der Verschwommenheit der sprachlichen Ausdrucksweise in der zeitgenössischen Philosophie, die rationale Argumentation behinderte, wurde die Forderung nach einer intersubjektiven, präzisen und situationsunabhängigen Sprache immer lauter. Entsprechend wurde der Klärung philosophischer Sätze große Aufmerksamkeit zuteil. Russell versuchte, mittels logischer Konstruktionen höchst komplexe und undurchsichtige Sachverhalte zu analysieren. Zu diesem Zweck sollte eine formale, nach exakten Regeln aufgebaute Sprache aufgebaut werden, die jene Mehrdeutigkeiten vermeidet, mit der die Alltagssprache behaftet ist. Ludwig Wittgenstein (1889-1951) setzte Russeis Programm um, indem er eine Beschreibung für den Aufbau komplexer Sätze aus einfachen Sätzen gab. Während die analytische Sprachphilosophie die Bedeutung von Sätzen zu klären und ihre Struktur zu untersuchen versuchte, unternahm der logische Empirismus den Versuch, empirische Sätze zu begründen. Die moderne Methodenlehre ist in ihrer heutigen Form vor allem aus dem logischen Empirismus hervorgegangen, der im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts in Wien entstand. Von der empiristischen philosophischen Tradition, für die Namen wie Locke, Hume und Mill stehen, übernahm der logische Empirismus die These, alle wissenschaftlichen Erkenntnisse seien entweder analytischer Natur (die Sätze der Logik und Mathematik) oder empirischer Natur (die Sätze über einen politischen Objektbereich). Weiter behauptet er, alle Begriffe zur Beschreibung der Welt seien der Erfahrung entnommen, alle Aussagen über einen empirischen Objektbereich (z.B. politische Einstellungen der Bevölkerung oder die Ursachen von Kriegen) dürften daher ausschließlich durch Beobachtungen begründet werden. Der Empirismus war also der Auffassung, daß sich alle theoretischen Aussagen vollständig auf Aussagen über Beobachtbares zurückführen lassen. Vom traditionellen Empirismus unterscheidet sich der logische Empirismus in erster Linie durch seinen extensiven, in diesem Maße bis dahin ungekanntem Gebrauch der modernen Logik. Vor dem Aufstieg des logischen Empirismus war jedoch schon Immanuel Kant (1724-1804) zu der Erkenntnis gelangt, daß jede Erfahrung Annahmen über allgemeine Gesetze voraussetzt. Kants Einsicht wurde später Grundlage der Popperschen Forschungsmethodologie. Bereits im Jahre 1934 veröffentlichte Karl Popper (1902-1994) mit der „Logik der Forschung" ein Werk, das eine überzeugende Widerlegung empiristischer Auffassungen enthielt. Nach der empiristischen Auffassung basiert Wissenschaft auf dem Sammeln und Registrieren von Beobachtungsdaten. Nach Popper kann darauf jedoch keine Erfahrungswissenschaft gründen, da die einzige Möglichkeit, zu allgemeinen Aussagen zu gelangen, in induktiven Schlüssen bestünde. Popper lehnt die Induktion als untauglich ab, da man ein Induktionsprinzip benötigt, das den Schluß von Beobachtungen auf allgemeinen Sätzen rechtfertigt. Über ein solches Induktionsprinzip verfügen wir jedoch nicht. Seit Popper bilden

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nicht mehr Beobachtungen, sondern Theorien die Basis der Wissenschaft. Theorien müssen jedoch ständig mit der Erfahrung konfrontiert werden. Den Beobachtungen kommt weiterhin eine zentrale Bedeutung zu, Beobachtungen gehen jedoch in der Theorie nicht mehr voraus, sondern sind maßgebliche Prüfinstanz. Da eine empirische Verifikation der allgemeinen Sätze mangels Induktionsprinzips unmöglich ist, bleiben Theorien immer hypothetisch. Nach Popper handelt es sich bei Theorien nicht um Offenbarungen der Vernunft, wie die klassischen Rationalisten glaubten, oder um aus Sinneswahrnehmungen hergeleitete Verallgemeinerungen, sondern um Erfindungen, um theoretische Konstruktionen. Popper schlug als einzig haltbare wissenschaftliche Methode vor, theoretische Interpretationen fortwährend der Möglichkeit der Widerlegung auszusetzen. Dies sei es, was die wissenschaftliche Methode von anderen Erkenntnismethoden unterscheide. Nach Popper unternehmen Wissenschaftler immer wieder Anstrengungen, ihr theoretisches System in Übereinstimmung mit den Erfahrungsdaten zu bringen, d.h. sie wenden Strategien an, um bevorzugte Theorien zu retten, indem sie Erfahrungsdaten verwerfen oder nachträglich konstruierte Hilfshypothesen heranziehen. Angesichts dieses Sachverhalts führte er als oberste Regel ein, durch die gewählten Verfahren mögliche Widerlegungen der von den Wissenschaftlern behaupteten Aussagen nicht zu verhindern. Entsprechend betrachtet Popper die ganze Wissenschaftsgeschichte als Folge von Vermutungen, Widerlegungen, revidierten Vermutungen und neuen Widerlegungen. Der auf Popper zurückgehende Kritische Rationalismus schlägt vor, in einem ersten Schritt gewissermaßen probeweise eine Hypothese anzunehmen. Diese Vermutung soll in einem zweiten Schritt möglichst strengen Tests, d.h. systematischen Widerlegungsversuchen unterworfen werden. Erst wenn die Hypothese der logischen und empirischen Kritik standhält, soll sie als vorläufig gerechtfertigt gelten. Ein in diesem Sinne kritischer Politikwissenschaftler würde folglich seine Thesen immer wieder der Kritik aussetzen, und seine ernsthafte wissenschaftliche Haltung würde daran erkennbar werden, daß er seine Thesen nicht zu immunisieren versucht, ja es begrüßen würde, wenn ein anderer Politologe aufzeigen würde, welche Probleme mit der von ihm vertretenen Auffassung verbunden sind. In neuerer Zeit betonen immer mehr Wissenschaftstheoretiker, daß wissenschaftliche Theorien nicht endgültig bewiesen oder widerlegt werden können. Imre Lakatos (1922-1974) führte u. a. die Zählebigkeit wissenschaftlicher Theorien an und verwies darauf, daß Wissenschaftler im allgemeinen eine Theorie nicht aufgeben, weil Tatsachen ihr widersprechen würden. Statt die Theorie aufzugeben, würden sie eine rettende Hypothese erfinden oder die Schwierigkeiten der Theorie einfach vergessen und sich anderen Problemen zuwenden; eine Tatsache, die den Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn (geb. 1922) zu der Hypothese führte, der Wissenschaftsfortschritt basiere lediglich auf einer irrational motivierten Änderung der Überzeugung der Wissenschaftlergemeinde. Hätte Kuhn recht, gäbe es kein Kriterium von Wissenschaft, keine Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und geistigem Niedergang. Die Beobachtung dessen, was tatsächlich in der Wissenschaft geschieht, hat somit zu der Behauptung geführt, bei dem Unternehmen Wissenschaft handele es sich um keine rationale Angelegenheit. Diese Position wurde insbesondere von dem Philosophen Paul Feyerabend (1924-1994) in seinem Buch „Wider den Methodenzwang" verbreitet. Politikwissenschaftler, die Feyerabends extreme Sichtweise teilen, behaupten, die Wissenschaft weise keine besonderen Eigenschaften auf. Sie erwekken den Eindruck, als ob die Wahl zwischen Theorien wie Erklärungen des Wahlver-

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Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

haltens eine Wahl sei, die ausschließlich durch die persönlichen Werte und Wünsche des einzelnen bestimmt wird, nicht durch methodologische Regeln. Lakatos, der diesen Standpunkt ablehnte, schlug vor, große wissenschaftliche Leistungen nicht an isolierten Hypothesen, sondern an ganzen Forschungsprogrammen zu messen. Ein solches Forschungsprogramm wie etwa das der individualistischen Sozialwissenschaft zeichnet sich durch einen harten Kern (in diesem Falle die Rationalitätsannahme), eine elastische Schutzzone und einen hochentwickelten Problemlösungsapparat aus. Jedes Forschungsprogramm habe seine ungelösten Probleme, und tatsächlich haben alle bekannten Theorien Probleme, so daß in gewisser Hinsicht alle existierenden wissenschaftlichen Theorien als widerlegt zu betrachten wären. Dennoch sind die Theorien, von denen die Wissenschaftler tagtäglich Gebrauch machen, nicht gleich gut. Lakatos machte nämlich auf einen anderen äußerst wichtigen Sachverhalt aufmerksam: Alle positiv bewerteten Forschungsprogramme sind in der Lage, neue Tatsachen vorauszusagen. Die Leistungsfähigkeit einer Theorie bemißt sich Lakatos zufolge daran, ob sie Tatsachen prognostiziert, von denen der Konstrukteur der Theorie vorher nie zu träumen gewagt hätte oder die konkurrierenden Programmen und Theorien widersprechen. Eine schlechte Theorie erkennt man dagegen daran, daß sie hinter den Tatsachen hinterherhinkt. Soweit die - zugegeben mit sehr breitem Pinsel gemalte - Skizze der Entwicklung des Themengebiets „Forschungslogik und Forschungstechniken der Politikwissenschaft". Wir wollen im folgenden den Prozeß und die Untersuchungsformen politikwissenschaftlicher Forschungen eingehender darstellen.

Literatur Über die Geschichte der Wissenschaftstheorie informieren Alan F. Chalmers, Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, Berlin etc. 1986; John Losee, A Historical Introductionto the Philosophyof Science, 2., Überarb. u. erw. Aufl., Oxford und New York 1980; Peter T. Manicas, A History and Philosophy of the Social Sciences, Oxford und New York 1987; und Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Band 1, 7. Aufl., Stuttgart 1989. Einen Überblick über die Entwicklung der Hermeneutik bietet Alwin Diemer, Elementarkurs Philosophie: Hermeneutik, Düsseldorf 1977. Die Geschichte der empirischen Sozialforschung wird am ausführlichsten dargestellt bei Horst Kern, Empirische Sozialforschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, München 1982. Knappe Überblicke bieten auch Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser, Methoden der empirischen Sozialforschung, München und Wien 1988, Kp. 1; und Heinz Maus, Zur Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung, in: René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1973. Die neuere Debatte über die Forschungslogik und den Fortschritt der Wissenschaften geht von Karl R. Popper, Logik der Forschung, 8. Aufl., Tübingen 1984, und ders. Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge, London 1963, aus. Unterschiedliche Sichtweisen werden vertreten in den Arbeiten von Feyerabend, Kuhn und Lakatos: Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1979; Imre Lakatos, Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationale Rekonstruktion, in: John Worrall und Gregory Currie (Hrsg.), Imre Lakatos. Philosophische Schriften, Bd. 1, Braunschweig und Wiesbaden 1982; und Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main 1986. Die Fortschritte in den Sozialwissenschaften seit der Jahrhundertwende werden von Karl. W. Deutsch, Andrei S. Markovits und John Platt (Hrsg.), Advances in the Social Sciences 1900-1980. What, Who, Where, How?, Lanham, New York und London 1986, aufgezeigt.

III. Forschungsprozeß und -formen

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III. Forschungsprozeß und -formen A. Phasen der Politikforschung Forschung läßt sich als ein Prozeß von Entscheidungen oder, aus einer etwas anderen Perspektive, als eine Strategie zur Lösung von Problemen begreifen. Jede Forschung beginnt mit einem Problem, d. h. mit einer Schwierigkeit, die der direkten Erreichung eines erwünschten Zieles im Wege steht. Das kann eine offene Frage sein, etwa nach dem Anteil der Beamten unter den sogenannten Märzgefallenen, also den unmittelbar nach der „Machtergreifung" beigetretenen NSDAP-Mitgliedern. Es kann ein theoretisches Problem sein wie die Frage nach der substantiellen Gültigkeit des Konstrukts „Autoritäre Persönlichkeit", oder es kann sich um eine praktische Aufgabe handeln wie die Suche nach geeigneten Strategien zur Bekämpfung rechtspopulistischer Protestparteien. Dies zeigt schon, daß die wissenschaftlichen Probleme, die Politologen zu lösen beabsichtigen, sehr unterschiedlich sein können. Dennoch ähneln sich die Problemlösungsversuche. Um einen erwünschten Zustand zu erreichen, werden in allen Untersuchungstypen gezielt Methoden als Problemlösungsmittel eingesetzt. Vernünftige Problemlösungsstrategien bestehen in einer systematischen Planung aller zur Zielerreichung nötigen Schritte. Dabei ist darauf zu achten, daß diese Problemlösungen bestimmten Qualitätskriterien genügen, um als adäquat angesehen werden zu können. Diese Kriterien beziehen sich u.a. auf die Eindeutigkeit der verwendeten Begriffe, den Informationsgehalt von Aussagen, die Struktur von Begründungen, Erklärungen und Prognosen etc. Die Entscheidungen, vor denen ein Politikforscher im Laufe eines Projektes steht, lassen sich in eine gewisse zeitliche und systematische, je nach Forschungsstand, verfügbaren Daten, erprobten Methoden und Zielsetzung allerdings variierende Reihenfolge bringen. Eine eindeutige, für alle Forschungsvorhaben verbindliche Abfolge der zu fällenden Entscheidungen gibt es folglich nicht. Doch durchlaufen Politikwissenschaftler, die eine empirische Untersuchung durchzuführen beabsichtigen, typischerweise die im nachstehenden Schaubild (s. S. 81) dargestellten typischen Arbeitsschritte. Zunächst ein Wort zur Problemfindung und Formulierung der Fragestellung. Die erste Entscheidung im Forschungsprozeß betrifft stets die Fragestellung einer Untersuchung, von der aus sich der Gang der Forschung über die Phase der Untersuchungsplanung und der eigentlichen Durchführung der Untersuchung bis zur Verwertung der Ergebnisse erstreckt. Im allgemeinen wird man bei der Bearbeitung einer bestimmten Fragestellung zunächst damit beginnen, bereits im Schrifttum veröffentlichte Problemlösungsvorschläge ins Auge zu fassen. Sodann wird man diese Lösungsvorschläge kritisch diskutieren und mit neuen, alternativen Lösungsideen konfrontieren. Ein Forschungsprozeß kann durch sehr verschiedene Anlässe in Gang kommen. So ist es denkbar, daß ein Politikwissenschaftler einen politischen bzw. gesellschaftlichen Zustand als unerwünscht wahrnimmt (z.B. das Erstarken einer extrem rechten Partei, einen Krieg zwischen zwei Staaten oder Armut und Elend in der Dritten Welt) und mit einer Untersuchung einen Beitrag zur Erklärung des jeweiligen Ereignisses oder zur politischen Problemlösung leisten will. Ein anderer Anlaß könnte sein, daß ein Politikforscher bei der Analyse einer Theorie auf Probleme stößt. So wäre es vorstellbar, daß innerhalb einer Theorie Inkonsistenzen auftreten, was den Forscher veranlassen könnte zu ergründen, worauf diese Inkonsistenzen zurückzuführen sind,

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Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

und ihn zu dem Versuch animiert, selbst eine bessere Theorie zu konstruieren. Er könnte ferner feststellen, daß zu einem theoretischen Problem zwar mehrere Untersuchungen vorliegen, daß die Autoren jedoch sehr unterschiedliche Erklärungen anbieten oder zu divergierenden Resultaten gelangen. Dies gilt z.B. für das Konzept der Parteiidentifikation, worunter wir eine längerfristige, affektiv verankerte Bindung des einzelnen an eine bestimmte Partei verstehen. Bis heute ist nicht restlos geklärt, ob die festgestellten Schwankungen der Meßwerte auf die mangelnde Zuverlässigkeit des Meßinstruments oder auf die Ungeeignetheit des Konstrukts für den deutschen Kontext zurückzuführen sind. Ein Dritter schließlich mag von einer Partei, einem Verband oder einer Behörde den Auftrag bekommen, ein politisches Problem zu untersuchen und Handlungsempfehlungen auszuarbeiten. Bei den meisten Auftragsforschungen wird das Thema mehr oder weniger genau vom Auftraggeber bestimmt. Je nach vorgegebener Fragestellung und Budgetrahmen ist der Entscheidungsspielraum des Politikforschers in derartigen Fällen beschränkt. Erheblich größer ist der Entscheidungsspielraum hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes und der Problemstellung, wenn ein Politikwissenschaftler ein Forschungsprojekt selbst initiiert. In der Praxis ist das die Regel: Aus sogenannten Drittmitteln, etwa von der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder der Stiftung Volkswagenwerk geförderte Projekte stellen auch in der Politikwissenschaft den Löwenanteil aller universitären Forschungsprojekte. Die Anlässe für eine Untersuchung können also unterschiedlich sein. Gemeinsam ist aber allen Anlässen, daß sie sich auf Probleme beziehen. Als ein wissenschaftliches Problem bezeichnet man eine Frage, deren Beantwortung für den Fortschritt der Wissenschaft von Bedeutung ist. Für den Gang jeder Wissenschaft sind jedoch nicht nur relativ gesicherte empirische Befunde von Bedeutung. Auch das Aufspüren wissenschaftlicher Probleme ist für den Erkenntnisfortschritt von äußerster Wichtigkeit. So sehen sich Politikwissenschaftler immer wieder mit dem Problem konfrontiert, daß eine Gegenstandstheorie außerstande ist, stichhaltige Erklärungen oder zutreffende Prognosen zu liefern. Das kann dazu führen, daß ein Forscher als selbstverständlich akzeptierte Aussagen in Frage zu stellen beginnt. Wissenschaftliche Fragen sollten möglichst präzise formuliert werden, denn je unschärfer die Fragen sind, die ein Politikwissenschaftler aufwirft, desto mehrdeutiger können die Antworten darauf ausfallen, desto weniger lassen sie sich für praktische Handlungsanweisungen benutzen. Hat man sich einmal für eine konkrete Fragestellung entschieden, so besteht der nächste Schritt darin, das Untersuchungsgebiet zu strukturieren. Es empfiehlt sich, die Problemsituation möglichst präzise zu beschreiben und zu analysieren, Ausschau zu halten nach geeigneten Erklärungshypothesen und eventuell erst Explorationen vorzunehmen, um das Vorwissen zu erweitern. So könnte eine Untersuchung über Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern mit Interviews, Gruppendiskussionen oder teilnehmender Beobachtung bei den Betroffenen beginnen, um zu einem ersten Verständnis der Problematik und zur genaueren Formulierung von Forschungsfragen zu gelangen. Eine Exploration kann besonders nützlich sein, wenn der Politikforscher Aspekte des in Frage stehenden Problems entdeckt, die seinem Vorverständnis widersprechen, oder wenn nur wenig Literatur zu dem Problem vorliegt. Zur Lösung von Problemen stellt man zunächst Vermutungen darüber an, wie eine mögliche Lösung aussehen könnte. Ein Politikforscher wird zur Lösung eines relevanten Problems Hypothesen aufstellen, für die einige plausible Gründe sprechen. Er konstruiert also ein Modell der vermuteten Zusammenhänge, wobei er sinnvollerweise auf die theoretischen Wissensbestände in

III. Forschungsprozeß und -formen

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der Literatur zurückgreift. Da jede Theorie gewisse Schlußfolgerungen impliziert, kann man überdies aus dem theoretischen Gebäude Hypothesen oder Sätze ableiten, die prinzipiell erfahrbare Zustände beschreiben. So ließe sich aus der Theorie der Parteiidentifikation folgern, daß im Falle von Unzufriedenheit mit der jeweiligen Partei starke Identifizierer eher zur Wahlenthaltung neigen, während schwach Identifizierte in einem solchen Falle eher zum Parteiwechsel tendieren. Diese abgeleiteten Konsequenzen der Theorie können dann empirisch überprüft werden. Der Ausgangspunkt eines Forschungsprojektes sind also immer theoretische Vorstellungen, die im einen Falle mehr, im anderen Falle weniger explizit ausgeführt werden. Ohne derartige Hypothesen wüßte kein Politikwissenschaftler, worauf er bei seiner empirischen Untersuchung achten soll. Nur solche Hypothesen können die Politikwissenschaft voranbringen, die überprüfbare Konsequenzen haben. Aus pragmatischen Gründen sollte man sie explizit aufführen, da dies den intersubjektiven Nachvollzug erleichtert. Je nach Gegenstand erfordert die empirische Überprüfung der Sätze einen mehr oder weniger großen Aufwand. Man wird sich also überlegen müssen, wie man solche Sätze überprüfen kann. Zu diesem Zweck werden Prüftechniken entwickelt und auf ihre Relevanz und Zuverlässigkeit hin geprüft. Schließlich wird die Prüfung durchgeführt, werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund des Korpus des verfügbaren Wissens interpretiert, müssen die Annahmen und die Genauigkeit der tatsächlich eingesetzten Methoden bewertet und eventuell neue Probleme formuliert werden. Ein Teil der theoretischen Phase besteht aus der Literaturanalyse, d. h. der Sichtung und Bewertung der zum Forschungsgegenstand vorliegenden Fachliteratur. In den Fällen, in denen man ein praktisches Problem lösen möchte, wird man sich auf die Suche nach verwertbaren Erkenntnissen begeben. Oft wird man entdecken, daß die Erkenntnisse nicht ausreichen. Dies kann den Anlaß für eine größere Untersuchung ergeben, die eher an der Erforschung von Grundlagenproblemen orientiert ist. Werden im Laufe der Forschung Erkenntnisse über bestimmte Zusammenhänge gewonnen, so kann man diese zur Lösung praktischer Probleme heranziehen. Daher besteht eine ständige Herausforderung der Politikwissenschaft darin, die Erkenntnisse über politische Zusammenhänge zu erweitern, also Theorien zu konstruieren. Liegt für einen ausgewählten Gegenstandsbereich keine ausgearbeitete Theorie vor, so kann man zunächst versuchen, Theorien verwandter Gegenstandsbereiche zu übertragen. Will man etwa erklären, wie sich Regierungsparteien verhalten, kann man so vorgehen, daß man bewährte Theorien heranzieht, die sich in allgemeiner Form auf menschliches Handeln beziehen. So bieten viele soziologische, sozialpsychologische und ökonomische Theorien erste Ansatzpunkte für die politikwissenschaftliche Theoriebildung. Ein anderer Weg ist der, bestehende Theorien zu modifizieren. Ein dritter Weg ist schließlich, eine ganz neue Theorie zu konstruieren, eine Tätigkeit, die viel Kreativität verlangt und zu weiteren Überprüfungsschritten führen muß. Denn es wurde von uns bereits darauf hingewiesen, daß die Art und Weise, wie man zu einer Theorie gelangt, nichts darüber aussagt, ob die Theorie mit den Tatsachen übereinstimmt, also richtig ist. Zur Lösung von Problemen ist es zunächst einmal sinnvoll, bevorzugt solche theoretischen Erkenntnisse heranzuziehen, die sich bewährt, d.h. empirischen Widerlegungsversuchen standgehalten haben. Es ist unmittelbar einsichtig, daß die Ergebnisse, Probleme und Wege der Forschung von anderen nachvollziehbar sein müssen. Anders ist Überprüfung nicht möglich. Um das, was ein Politikforscher tut, auf welche Probleme er im Forschungsprozeß gestoßen ist und was er an Erkenntnissen über einen bestimmten Objektbe-

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reich in Erfahrung gebracht hat, zu übermitteln, haben sich in der Geschichte der Wissenschaft Fachsprachen herausgebildet. Erst diese ermöglichen eine intersubjektive Wissenschaft, die Transparenz und Nachprüfbarkeit der Ergebnisse und eine ökonomische Forschungs- und Lehrpraxis. Politikwissenschaftler behandeln viele Gegenstände. Dabei führen sie zahlreiche Operationen durch, die die Alltagssprache nicht kennt, d.h. wofür sie keine Worte hat. Hinzu kommt, daß viele Begriffe der Alltagssprache mehrdeutig sind, wodurch die Verständigung erschwert wird. Diese Situation führt dazu, daß Politikforscher gelegentlich genötigt sind, neue Ausdrücke einzuführen, die sodann in die Fachsprache eingehen und zum Gegenstand der Lehre werden. Als Beispiele ließen sich Begriffe wie „Cleavage", „Polyzentrismus", „Anomie", „Rigidität", „Heteronomie", „Postmaterialismus" etc. aufführen. Daneben benutzt die Politikwissenschaft zahlreiche Ausdrücke der Alltagssprache. Da mit der Zunahme des Anteils an spezieller einzelwissenschaftlicher Terminologie die Verständigung von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen schwieriger wird, sollte man sich möglichst an die gebräuchliche Terminologie halten. Würde jeder Politikwissenschaftler die von ihm benutzten Ausdrücke in einer unterschiedlichen Art und Weise verwenden, würde Politikwissenschaft unmöglich gemacht. Um verstehen zu können, was eine Theorie impliziert, und um feststellen zu können, inwieweit eine Theorie zutrifft, ist es notwendig, die Bedeutung der in der Theorie benutzten zentralen Ausdrücke präzise anzugeben. Viele Begriffe politikwissenschaftlicher Theorien sind allerdings derart ungenau formuliert, daß es schlechtweg unmöglich ist festzustellen, ob sie einen Sachverhalt angemessen beschreiben oder nicht. In den meisten Theorien, die z.B. einen so schillernden Begriff wie „Politische Kultur" verwenden, ist völlig unklar, was genau darunter verstanden wird. Man bezeichnet die Phase im Forschungsprozeß, in der solche theoretischen Klärungen erfolgen, als „Konzeptspezifikation". In dieser Phase müssen u . a . Entscheidungen getroffen werden, die die Wahl der Begriffe, die Definitionen und die Auswahl der Indikatoren betreffen. Ein Politikwissenschaftler wird darüber nachdenken müssen, ob die Begriffe einen empirischen Bezug haben, ob die gemeinten Sachverhalte beobachtbar sind und überlegen, welche Schwierigkeiten dabei auftreten können. Ferner ist zu klären, welche Skalenniveaus den Daten angemessen sind und welche gültigen und zuverlässigen Instrumente zur Feststellung der gemeinten Sachverhalte vorliegen. Je präziser die Konzeptualisierung einer Untersuchung ist, desto eher wird sie auch einen Beitrag zur Lösung des anstehenden Problems liefern. Die Konzeptualisierung beeinflußt alle weiteren Entscheidungen, die der Forscher trifft. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie man feststellen kann, ob eine Personengruppe unter einen Begriff fällt, welche Befragten also beispielsweise aufgrund welcher Eigenschaften in die Kategorie der Neuen Mittelschicht, der Wechselwähler oder der politisch Entfremdeten zu subsumieren sind. Der Politikforscher ordnet zu diesem Zwecke den benutzten theoretischen Begriffen beobachtbare Sachverhalte (sogenannte Indikatoren) zu. Man nennt diesen Vorgang die „Operationalisierung" von Begriffen. In dieser Phase des Forschungsprozesses wird man sich auch Gedanken darüber machen, welche Instrumente sich sinnvoll, d. h. gegenstandsadäquat einsetzen lassen. Oft benutzte Meßinstrumente der empirischen Politikforschung sind z.B. Fragebögen und systematische Inhaltsanalysen, über die wir an einer späteren Stelle dieses Kapitels noch ausführlicher berichten werden. Sodann muß der Forscher eine Entscheidung darüber herbeiführen, ob er nur einige ausgewählte oder alle Elemente des Gegenstandsbereichs untersuchen will. Hat man beispielsweise die Absicht,

III. Forschungsprozeß und -formen Kin Ablaufschema des empirischen Forschungsprozesses

f Theorie Fragestellung

H I N

Hypothesenformulierung, Konzeptspezifikation, Operationalisierung

T E R

Untersuchungsdesign

G

U

l

N

Festlegung der Untersuchungseinheiten

R

D W I S

Festlegung der Datenerhebungsmethoden

S E N

Datenerfassung und -analyse

Interpretation und Bewertung der Hypothesen

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Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

Aussagen über die politischen Einstellungen der wahlberechtigten Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland zu machen, so steht man vor dem Problem, daß man selbst bei unbeschränktem Budget nicht alle Bewohner befragen kann. Um trotzdem zu gültigen Aussagen zu kommen, wird man von speziellen Auswahlverfahren wie systematischen oder Zufallsstichproben Gebrauch machen müssen. Der Bestimmung der Untersuchungseinheiten folgt die Datenerhebung. Zu diesem Zwecke sind in den letzten Jahrhunderten verschiedene Erhebungsmethoden entwikkelt und verfeinert worden. Zu den wichtigsten Methoden der Datenerhebung zählen Interviews, Beobachtungen und Inhaltsanalysen. Die tatsächlich durchzuführenden Arbeiten in dieser Phase hängen davon ab, welche Methoden der Datenerhebung man wählt. Die Wahl der Datenerhebungsmethode wiederum ist abhängig von der konkreten Fragestellung der Untersuchung und der Zugangsweise zu Personen und Dokumenten. Entscheidet man sich für die Durchführung einer Befragung, so wird man viel Zeit für die Konstruktion der Fragebögen aufwenden müssen. Läßt man die Interviews von anderen, etwa Studenten oder Mitarbeitern, durchführen, müssen diese ausgewählt, geschult und kontrolliert werden. Bei größeren Studien wird die Feldforschung in der Regel professionellen Meinungsforschungsinstituten wie EMNID, GETAS, INFRATEST, MARPLAN oder SINUS übertragen. Die erhobenen Daten werden anschließend protokolliert, aufbereitet und bereinigt. Bevor man mit der Auswertung der Daten beginnen kann, müssen die Daten außerdem eine bestimmte, EDV-gerechte Struktur aufweisen. Für die Datenanalyse schließlich läßt sich eine Vielzahl unterschiedlicher statistischer Auswertungstechniken einsetzen. Dabei ist darauf zu achten, daß zur Analyse der Daten möglichst angemessene statistische Modelle eingesetzt und alle für die Problemformulierung relevanten Daten ausgewertet werden. Die Auswertungsphase endet schließlich mit einer Antwort auf das eingangs formulierte Problem. Der Forscher trifft jetzt die Entscheidung, ob die Ausgangshypothese verworfen oder bestätigt wird. Unter Umständen schlägt er eine Modifizierung der Ausgangshypothese vor. Die Erfahrungen, Probleme und Ergebnisse fließen sodann in den Forschungsbericht ein, der - falls veröffentlicht, was beileibe nicht immer der Fall ist - Bestandteil des Korpus des verfügbaren Wissens wird. Wenn ein Politikforscher nicht an der Erarbeitung von neuem Wissen über die empirischen Zusammenhänge in der politischen Welt interessiert ist, sondern beabsichtigt, einen sogenannten praktischen Vorschlag zu unterbreiten, greift er im allgemeinen auf das durch die empirische Forschung angehäufte Wissen zurück und prognostiziert auf dieser Basis, welche von mehreren möglichen alternativen Handlungsweisen am ehesten den per Konvention unterstellten Zielvorgaben entspricht. Ein Politikwissenschaftler, der einen unerwünschten Zustand wahrnimmt und die Absicht hat, wirksame Maßnahmen zur Behebung des unerwünschten und zum Erreichen eines gewünschten Zustandes vorzuschlagen, wird zuvor jedoch den unerwünschten Zustand (Ist-Situation) möglichst präzise und vollständig beschreiben und das zu erreichende Ziel (Soll-Zustand) genau formulieren. Auf dieser Basis wird er dann unter Hinzuziehung des vorhandenen, für seine Fragestellung einschlägigen theoretischen Wissens Maßnahmen empfehlen, die vermutlich den Ist-Zustand in den Soll-Zustand überführen, wobei er mögliche Nebeneffekte explizit in seine Analyse miteinbeziehen sollte. Das sogenannte Hintergrundwissen, gemeint ist das verfügbare, für den jeweiligen Forschungsgegenstand relevante Wissen, ist in allen Phasen der politikwissenschaftlichen Forschungen in die Überlegungen einzubeziehen. Alle Entscheidungen, die ein

III. Forschungsprozeß und -formen

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Politikwissenschaftler innerhalb eines Forschungsprojekts fällt, sind auf das zu beziehen, was bereits als erkannt gilt, d.h. das Forschungsvorhaben soll in einem systematischen Zusammenhang mit dem bereits Gekannten stehen. Dies gilt sowohl für die Theoriebildung als auch für die herangezogenen Forschungsinstrumente. Da die Ergebnisse der Forschung dem Hintergrundwissen oftmals widersprechen, sind dann die entsprechenden Aussagen zu korrigieren, wodurch sich wiederum das Hintergrundwissen verändert. Der korrigierte Korpus des Wissens kann dann zum Ausgangspunkt neuer Forschungen werden und so fort. Die allgemeine Grundregel kritischer Forschung lautet daher, ständig Gegenargumente zu den in bestehenden Theorien benutzten Aussagen und Methoden vorzubringen und diese kritisch zu prüfen, um auf diese Weise die Forschung in Gang zu halten und der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. In diesem Sinne beschreibt auch die dialektische Triade, d.h. der Dreischritt von These, Antithese und Synthese, den Prozeß der Wissenschaftsentwicklung. Dialektik hat sich darüber hinaus aber auch als eine Bezeichnung für eine ganze Reihe methodisch und inhaltlich unterschiedlicher Ansätze eingebürgert. Den Anlaß der Forschung und die Gewinnung von Hypothesen pflegt man mit „Entdeckungszusammenhang" zu bezeichnen. Die methodologischen Schritte, die der Politikwissenschaftler zur Lösung des Forschungsproblems unternimmt, nennt man „Begründungszusammenhang". Der Begründungszusammenhang bezieht sich also auf die Geltung der Ergebnisse. Die Effekte politikwissenschaftlicher Untersuchungen fallen demgegenüber in den sogenannten Verwertungszusammenhang. Zur Wirkung einer Untersuchung zählt z.B., ob die Untersuchung tatsächlich einen Beitrag zur Lösung des gestellten Problems darstellt. Hierher gehört auch die praktische Nutzung der erarbeiteten Ergebnisse. Will man die Ergebnisse für praktische Zwecke nützen, so gilt, daß sich diese um so eher im positiven Sinne verwerten lassen, je genauer die Forschung durchgeführt wurde und je fundierter die Aussagen begründet sind. Die adäquate Begründung dessen, was als politikwissenschaftliche Erkenntnis ausgegeben wird, ist eine notwendige Bedingung der praktischen Verwertung.

B. Untersuchungsformen In der Forschungspraxis verläuft ein konkretes Forschungsprojekt nicht immer in der oben beschriebenen Art und Weise. Vor allem vier Aspekte haben einen Einfluß auf den zu verfolgenden Ansatz: der Zweck der Forschung, die zur Verfügung stehenden Ressourcen, die Art der zugrundeliegenden Daten und die verfügbaren Forschungstechniken. Was den Zweck der Forschung anbetrifft, kann ein Politikwissenschaftler das Ziel verfolgen, eine Theorie zu konstruieren, eine ausgebaute Theorie an der Erfahrung zu testen, noch unverständliche Ereignisse zu erklären, auf der Basis vorliegender Erkenntnisse Möglichkeiten auszuloten, ein soziales Problem in den Griff zu bekommen, zwei theoretische Konzeptionen miteinander zu vergleichen, einen Realitätsausschnitt zu beschreiben, ein Feld explorativ zu erkunden, Hypothesen zu testen oder erst finden zu wollen etc. All dies sind legitime Unterfangen der Politikwissenschaft, die unterschiedliche Untersuchungsformen verlangen. Je nach dem Erkenntniszweck spricht man auch von deskriptiven, analytischen, erklärenden, prognostischen bzw. praktischen, evaluativen, experimentellen, theorietestenden oder explorativen Untersuchungen. Die Grundforderung, die an alle Untersuchun-

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Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

gen gestellt wird, ist die, daß der Forschungsplan der Untersuchung angemessen ist. Es soll dabei der Forschungsplan den Vorzug erhalten, der das in Frage stehende Problem auf dem einfachsten Wege zu lösen verspricht. Von deskriptiven Studien spricht man, wenn Politologen die als relevant erachteten Aspekte eines Gegenstandsbereiches lediglich beschreiben, d. h. über die Daten einer Untersuchung berichten, ohne in expliziter Weise auf eine zuvor formulierte Theorie Bezug zu nehmen oder eine Theorie explizit anzuführen, die die Beschreibung lenkt. Ein Forscher, der derart verfährt, hat noch keinen theoretischen Anspruch. Es gilt allerdings zu bedenken, daß eine voraussetzungslose Beschreibung eines politischen Gegenstandsbereiches unmöglich ist; immer fließt Hintergrundwissen in die Beschreibung mit ein. Deskriptive Studien können vor allem dann bedeutsam werden, wenn sie zuvor unbekannte Ereignisse beschreiben, deren Kenntnis dann wiederum in das Hintergrundwissen einfließt. Viele historische Untersuchungen stellen Beispiele für Forschungen mit primär beschreibendem Erkenntnisinteresse dar. Hierunter fallen beispielsweise solche bekannten historisch-narrativen Werke wie Winston Churchills „Der Zweite Weltkrieg" (1948) oder Theodor Mommsens „Römische Geschichte". Deskriptive Studien können auch in explorativer Absicht erstellt werden, wenn man sich mit einem neuen Untersuchungsgegenstand vertraut machen oder Hypothesen generieren will. In explorativer Absicht wird zunächst die Literatur gesichtet, werden Dokumente eingesehen, informelle Gespräche oder unstandardisierte Interviews geführt. Eine klassische explorative Untersuchung ist z.B. die oben erwähnte Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal" von Lazarsfeld, Jahoda und Zeisel aus dem Jahre 1933. Viele Politologen geben sich jedoch mit der reinen Beschreibung von politischen Objektbereichen nicht zufrieden. Sie versuchen Theorien zu konstruieren oder zu rekonstruieren, Erklärungen oder Handlungsanweisungen vorzuschlagen oder Theorien oder zumindest einzelne Hypothesen zu überprüfen. So haben Seymour Martin Lipset u.a. in ihrer Studie „Union Democracy" (1956) das von Robert Michels aufgestellte „eherne Gesetz der Oligarchie" überprüft und nachgewiesen, daß das Gesetz nicht allgemein, wie lange Zeit angenommen, sondern nur unter bestimmten Bedingungen gilt. Um theoretische Untersuchungen handelt es sich auch dann, wenn man versucht, eine Theorie einer Nachbardisziplin auf Objektbereiche der Politikwissenschaft anzuwenden, wie das beispielsweise Anthony Downs in seiner innovativen, eine ganze Schule begründenden Studie „Ökonomische Theorie der Demokratie" (1957) getan hat. Verfolgt man eine explorative Absicht, so eignen sich hierzu in besonderer Weise Fallstudien. In Fallstudien geht man im allgemeinen von einzelnen, interessant erscheinenden Fällen aus, die man in ihren für die jeweilige Fragestellung relevanten Aspekten möglichst vollständig zu beschreiben sucht. Fallstudien können allerdings auch in der Absicht durchgeführt werden, Theorien an Einzelfällen zu testen. Gegenstand von Fallstudien können einzelne Personen sein, aber auch Institutionen wie Parteien und Verbände oder ganze Gesellschaften. So handelt es sich bei Studien über eine Politikerpersönlichkeit wie Konrad Adenauer, bei Untersuchungen einzelner sozialer Verbände oder Parteien, aber auch bei der Darstellung des politischen Systems der Bundesrepublik oder Frankreichs um Einzelfallstudien. Sie bieten sich vor allem dann als Untersuchungsform an, wenn man über einen politischen Untersuchungsgegenstand nur sehr geringe Kenntnisse hat. Beschränkt man sich allerdings aus ökonomischen Gründen in Fällen, in denen mehrere Personen oder Institutionen vergleichend untersucht werden könnten, auf nur eine Person oder Institution, d. h.

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verzichtet man auf Auswahlverfahren, hat dies zur Konsequenz, daß sich die gewonnenen Ergebnisse nicht verallgemeinern lassen. Man kann diesen Nachteil unter Umständen jedoch durch eine differenzierte Datenerhebung wenigstens teilweise wieder wettmachen. Ein Forscher kann eine eigene Datenerhebung durchführen oder auf durch andere Forscher oder Institutionen erhobenes Material zurückgreifen. Im ersten Fall spricht man von einer Primärerhebung, im zweiten von einer Sekundäranalyse. Außerdem kann er nicht primär für die Forschung hinterlassene Daten aufbereiten (Dokumentenanalyse). Bei Primärerhebungen handelt es sich um Untersuchungen, in denen der Forscher seine Daten selbst sammelt oder von anderen nach einem von ihm ausgearbeiteten Forschungsplan erheben läßt. Das kann wiederum auf verschiedene Weisen geschehen. Von Feldforschung spricht man, wenn sich der Forscher selbst in das Untersuchungsgebiet begibt und eigenhändig die ihm wichtig erscheinenden Daten vor Ort sammelt. Hierzu zählt beispielsweise die teilnehmende Beobachtung. Der Vorteil der Feldforschung besteht darin, daß man als Primärforscher selbst den Datenerhebungsprozeß kontrollieren kann. Eine vor allem in ethnologischen Studien auftretende Gefahr besteht jedoch darin, daß sich der Forscher zu sehr von den Eindrücken vor Ort beeindrucken läßt oder zu selektiv an seinen Forschungsgegenstand herangeht. Denkbar ist dies etwa bei Untersuchungen politischer Entscheidungsprozesse, wo der Wissenschaftler selbst den Entscheidungsgremien angehört oder im Verlaufe seiner Forschungen ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl zu bestimmten Personengruppen entwickelt. In größeren Projekten wird die Arbeit auf mehrere Personen oder Institutionen verteilt. In repräsentativen Umfragestudien übernehmen heutzutage fast immer kommerzielle Institute die Feldarbeit. Nachdem die von der Sozialwissenschaft erhobenen Daten der wichtigsten deutschen Umfragestudien heute im Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln archiviert werden und von dort für wissenschaftliche Analysen bezogen werden können, lassen sich beträchtliche finanzielle Mittel einsparen, wenn man sich auf Sekundäranalysen beschränkt, d.h. auf vorhandene, im Sinne der Fragestellung einschlägige Datenbestände zurückgreift. Da die Daten jedoch unter einer anderen Perspektive und ganz bestimmten theoretischen Gesichtspunkten erhoben wurden, reichen die verfügbaren Daten nicht für jede Fragestellung aus. Erweitert werden können die Möglichkeiten sekundäranalytischer Forschungen, wenn man mehrere Datenquellen miteinander verknüpft. Neben den von der Wissenschaft gesammelten Daten können, soweit zugänglich, die Daten der statistischen Ämter und anderer Organisationen herangezogen werden, aber auch Aufzeichnungen aus privater Hand wie Korrespondenzen, Tagebücher etc. Vor allem die sogenannten prozeß-produzierten Daten, d. h. die in der alltäglichen Arbeit verschiedener Organisationen anfallenden Aufzeichnungen wie Akten, Karteien und Verzeichnisse aller Art bieten eine wahre Fundgrube auswertbarer Daten. Auch bei der Analyse historischer Massenakten treten die Probleme der Auswahl und Verarbeitung auf. Während man bei gegenwartsbezogenen Fragestellungen eigene Erhebungen durchführen kann, muß man sich bei vergangenheitsbezogenen Fragestellungen notgedrungen mit der Dokumentenanalyse begnügen. Historiker sind so gesehen fast immer Sekundäranalytiker. Der Überprüfung von Zusammenhängen dienen verschiedene Untersuchungsformen, die alle dem naturwissenschaftlichen Experiment nachempfunden sind. So kann ein Politikforscher die Hypothese, die einen Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen herstellt, experimentell überprüfen, indem er die Beziehungen zwischen zwei Merkmalen unter verschiedenen Bedingungen beobachtet und vergleicht. Die Bedin-

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gungen können dabei in zeitlicher, räumlicher oder anderer Hinsicht variieren. Es handelt sich bereits um ein einfaches Quasi-Experiment, wenn ein Politikforscher das Verhalten von Abgeordneten in Parlamentsausschüssen, auf Parteitagen und öffentlichen Versammlungen hinsichtlich der von ihnen vertretenen Argumentationen vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Konzeption von Abgeordnetenrollen vergleicht, d.h. beispielsweise die Hypothese prüft, ob die jeweilige Bezugsgruppe einen Einfluß auf die Argumentation eines Politikers hat. Die Güte von vergleichenden Untersuchungen hängt u. a. davon ab, inwieweit es gelingt, sogenannte Störfaktoren, die für die Ergebnisse verantwortlich sein können, zu kontrollieren, d.h. auszuschließen. Wie erwähnt, ziehen Politologen in den verschiedensten Phasen ihrer Untersuchungen die Schriften von Kollegen heran. In vielerlei Zusammenhängen müssen historische Quellen ausgewertet oder die Aussagen politischer Theoretiker interpretiert werden. Steht im Mittelpunkt politologischer Arbeit die Ermittlung sprachlicher Äußerungen, so kann man von hermeneutischen Untersuchungen sprechen. Bei der Interpretation sprachlicher Äußerungen wird im allgemeinen zunächst versucht, unter Zuhilfenahme des verfügbaren theoretischen Wissens den eventuellen Sinn der in Frage stehenden Äußerungen zu erschließen. Auf der Basis dieses Vorverständnisses erfolgt die Auslegung bzw. Interpretation. Man wird dann schrittweise neue Erfahrungen und Wissensbestände hinzufügen. Ob eine Interpretation eines Textes zutreffend ist, wird durch eine Betrachtung des Kontextes der jeweiligen Äußerung überprüft, indem man nach weiteren Äußerungen sucht, die die einmal unterstellte Bedeutung bestätigen oder widerlegen, also eine andere Deutung für angebracht erscheinen lassen. Auch bei einer hermeneutischen Interpretation steht am Anfang einer Untersuchung eine Fragestellung, in der sich das Vorverständnis ausdrückt, welches es sodann explizit zu machen gilt. Es wird geprüft, welche der alternativen Deutungen sich im Handlungs- bzw. Argumentationszusammenhang zu bestätigen scheinen oder unwahrscheinlich sind. Man prüft schrittweise, ob bestimmte Elemente mit dem erschlossenen Zusammenhang verträglich sind, ein Vorgang, der so lange wiederholt wird, bis alle Äußerungen miteinander verträglich sind. Um zu einem angemessenen Gesamtverständnis zu gelangen, sollte man es vermeiden, die Äußerungen des zu Interpretierenden an fremden Maßstäben wie denen des Interpreten zu messen. Man spricht ih diesem Zusammenhang auch von der hermeneutischen Autonomie des Objekts. Der hermeneutische Grundsatz der Ganzheit meint, daß ein Objekt nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang betrachtet werden sollte. Das heißt: Einzelne sprachliche Äußerungen können erst im Kontext der relevanten sprachlichen Äußerungen verstanden werden. Soweit einige Anmerkungen zum Forschungsprozeß und den verschiedenen Untersuchungsformen. Bevor wir uns mit den speziellen Methoden der empirischen Politikwissenschaft befassen, wollen wir uns etwas eingehender mit der Forschungslogik der Politikwissenschaft, also mit der wissenschaftstheoretischen Grundlage des Faches, beschäftigen.

Literatur Am ausführlichsten über den Weg empirischer Forschung informiert Heine von Alemann, Der Forschungsprozeß. Eine Einführung in die Praxis der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 1977. Kurze Darstellungen des Forschungsweges finden sich u. a. in Jürgen Bortz, Lehrbuch der

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Statistik. Für Sozialwissenschaftler, 2., verb. Aufl. Berlin usw. 1985, S. 1-21; und ders., Lehrbuch der empirischen Forschung. Für Sozialwissenschaftler, Berlin usw. 1984, Kp. 1; Helmut Kromrey, Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung, 4. durchges. Aufl., Opladen 1990, Kp. 2; Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser, Methoden der empirischen Sozialforschung, München und Wien 1988, Kp. 3; Achim Schräder, Einführung in die empirische Sozialforschung, Stuttgart 1971. Wie qualitative Sozialforschung abläuft, darüber informiert Uwe Flick, Stationen des qualitativen Forschungsprozesses, in: Uwe Flick u.a. (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, München 1991, S. 147-173. Über die verschiedenen Untersuchungsformen kann man sich in den erwähnten Büchern von Heine von Alemann (Kp. 4) und Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser (Kp. 5) informieren. In die Logik und den Aufbau von Untersuchungsanordnungen führt Catherine Hakim, Research Design. Strategies and Choices in the Design of Social Research, London 1987, ein. Dieselbe Autorin behandelt auch ausführlich die Sekundäranalyse: Catherine Hakim, Secondary Analysis in Social Research, London 1982. Einen Überblick über Einzelfallanalysen gibt Robert K. Yin, Case Study Research, London 1985; über unterschiedliche Formen des Experiments Ekkart Zimmermann, Das Experiment, Stuttgart 1972. Hermeneutische Methoden werden dargestellt bei Josel Bleicher, Contemporary Hermeneutics. Hermeneutics as Method, Philosophy and Critique, London 1980; Helmut Danner, Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik, 2. überarb. Aufl., München und Basel 1989; und Kurt Wuchterl, Methoden der Gegenwartsphilosophie, 2. verb. Aufl., Bern und Stuttgart 1987. Einen Überblick über unterschiedliche mit dem Namen Dialektik versehene Ansätze geben Alwin Diemer, Elementarkurs Philosophie: Dialektik, Düsseldorf 1976; sowie Roland Simon-Schäfer, Dialektik, Kritik eines Wortgebrauchs, Stuttgart-Bad-Cannstatt 1973.

IV. Zur Analyse und Geltung politikwissenschaftlicher Aussagensysteme A. Begriffe 1. Begriffsbildung U m den Austausch von Forschungsergebnissen ermöglichen und den Sinn von Sätzen mitteilen zu können, muß man angeben, in welcher Weise die verwendeten Ausdrücke gebraucht werden. W e n n Politikwissenschaftler Erklärungen für Ereignisse geben oder formulieren, sind diese nur nachvollziehbar, wenn aus den Ausführungen hinreichend klar hervorgeht, wie die eingesetzten Ausdrücke benutzt werden. D a ß die relevanten Begriffe einen eindeutig bestimmten Inhalt erhalten, dient dem Zweck, Klarheit darüber zu schaffen, worüber man spricht. Dies ist in der Politikwissenschaft besonders wichtig, weil viele der von ihr benutzten Ausdrücke aus der Umgangssprache übernommen werden; dort aber ist die Verwendung häufig nicht hinreichend festgelegt. D i e Alltagssprache wird von vielen Wissenschaftlern als problematisch angesehen, weil es ihr an expliziter, eindeutiger und präziser Bedeutungsfestlegung mangelt. D a sie den Zwecken der Wissenschaft nicht immer genügt, tendiert jede Wissenschaft dazu, eine eigene Fachsprache mit speziellen Begriffen zu entwickeln, indem schon bekannte Ausdrücke präzisere Bedeutungen bekommen oder neue Wörter mit feststehendem Sinngehalt eingeführt werden. D a z u muß man aus der Menge aller Objekte und ihrer Merkmale einige auswählen und bestimmten Zeichen zuordnen, so daß Begriffe

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entstehen. So ordnet man dem Wort „Priester" die Menge der ordinierten Geistlichen zu, die in der katholischen Kirche tätig sind. Die Zuordnung teilt mit, wofür das Zeichen „Priester" steht. Sie erfolgt mit Hilfe semantischer Regeln. Unter einem Begriff versteht man ergo eine feste Zuordnung von Zeichen und Eigenschaften, den sogenannten Designata. Zwischen einem Wort und dem, was es bezeichnet, besteht jedoch keine ein für allemal feststehende Zuordnung. Wird die Zuordnung revidiert, d. h. eine andere Zuordnung vorgenommen, so ändert sich der Begriff. Erst die Zuordnung von Wörtern zu Designata schafft also einen Begriff. Es ist folglich scharf zwischen einem Wort bzw. Ausdruck (den Zeichen) und einem Begriff (der Verbindung des Worts mit dem Bezeichneten) zu unterscheiden. Viele Debatten der Politikwissenschaft haben sich nachträglich als Scheinkontroversen entpuppt, in denen man Worte mit Begriffen verwechselte. Dies gilt beispielsweise für einen erheblichen Teil der Demokratisierungsdebatte in den siebziger Jahren, wo hauptsächlich um inhaltsleere Worthülsen gestritten wurde. Je nach den Regeln der Zuordnung von Bedeutungsinhalten zu sprachlichen Zeichen kann die Bedeutung von Begriffen dabei ein- oder mehrdeutig, präzise oder vage sein. Will man eine Begriffsverwirrung vermeiden, so kommt man in vielen Forschungszusammenhängen nicht daran vorbei, auf die doppelte oder dreifache Verwendung von Ausdrücken hinzuweisen. In diesem Fall sollte man angeben, in welcher Weise die entsprechenden Ausdrücke im eigenen Forschungszusammenhang benutzt werden. Generell sind zwei Verfahren der Bestimmung von Begriffen wissenschaftlicher Aussagensysteme zu unterscheiden: die Definition und die Explikation. Unter einer Definition versteht man eine Operation, bei der ein Zeichen bzw. Wort (das sog. Definiendum) mit einem anderen sprachlichen Ausdruck gleichgesetzt wird (dem Definiens). Definiendum und Definiens sind folglich Synonyme. Sie stellen das Resultat einer sprachlichen Verabredung dar, eine Sprachkonvention, die weder wahr noch falsch, sondern nur mehr oder minder nützlich sein kann. Definitionen dienen der Regelung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs. Eine ihrer wichtigsten Funktionen besteht darin, ein bestimmtes Zeichen oder einen ganzen Komplex von Zeichen durch ein anderes, kürzeres oder prägnanteres Zeichen zu ersetzen. In theoretischer Hinsicht sind solche Definitionen zwar überflüssig, da sich jederzeit wieder ohne Bedeutungsverlust das Definiendum durch das Definiens ersetzen läßt; praktisch jedoch können sie im Sinne von Verständlichkeit und Sparsamkeit unentbehrlich sein. Manchmal wird von diesen Abkürzungsdefinitionen die Nominaldefinition unterschieden, in der festgelegt wird, welche Bedeutung einem Ausdruck von nun an zukommen soll. Wie die Abkürzungsdefinition besteht die Nominaldefinition in einer Festlegung darüber, daß zwei Ausdrücke gleichbedeutend sein sollen. Da diese Definitionsart im Definiens jedoch ausschließlich bekannte Begriffe verlangt, führt dies zu dem Problem, daß die Begriffsbestimmung an irgendeiner Stelle abzubrechen ist, so daß in ein theoretisches Aussagensystem immer auch Undefinierte Grundbegriffe eingehen. Welche Grundbegriffe Undefiniert akzeptiert werden können, kann nur im Kontext des konkreten Aussagensystems entschieden werden. Als Beispiel einer solchen Nominaldefinition mag die folgende Bestimmung des Begriffs „Politische Kultur" dienen: „PK (läßt sich) umschreiben als die Verteilung von politischen Kenntnissen, politischen Wertüberzeugungen, politischen Einstellungen und politischen Verhaltensweisen innerhalb einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt" (Peter Reichel, Politische Kultur, in: Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1981, S. 322)

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Eine andere Form der Begriffsbestimmung ist die analytische Definition. Häufig stellt sich nämlich das Problem, herauszufinden, wie ein Ausdruck in einem bestimmten Kontext, etwa einer wissenschaftlichen Abhandlung, verwendet wird. Für die Überprüfung von Theorien beispielsweise sind analytische Definitionen von großer Bedeutung. Unter Benutzung hermeneutischer Verfahren beschreibt man den Sprachgebrauch eines bestimmten Autors oder einer Autorengruppe. Die Problemlösung besteht dann in einem beschreibenden Satz, in dem mitgeteilt wird, daß der Autor A den Ausdruck B im Kontext K in der beschriebenen Bedeutung verwendet. Im Falle der analytischen Definition führt man also eine Bedeutungsanalyse durch; man versucht die Abkürzungs- oder Nominaldefinitionen anderer zu rekonstruieren. Eine derartige Bedeutungsanalyse kann freilich zu wahren oder falschen Ergebnissen führen. Im Gegensatz zu den Abkürzungs- und Nominaldefinitionen kommt der analytischen Definition daher die Eigenschaft zu, wahr oder falsch zu sein. Oftmals versuchen Autoren einen Gegenstand zu definieren, indem sie alle Eigenschaften aufzählen, von denen sie meinen, daß sie zum „Wesen" der Objekte gehören, auf die der betreffende Ausdruck zutrifft. In diesem Falle handelt es sich um sogenannte essentialistische Definitionen oder Realdefinitionen. So haben zum Beispiel zahlreiche Autoren Eigenschaften aufgezählt, die ihrer Ansicht nach zum „Wesen" von Parteien gehören. Eine solche essentialistische Begriffsfestlegung liegt vermutlich Rainer-Olaf Schultzes Definition von Parteien in Pipers Wörterbuch der Politik, Band 1, zugrunde, wenn er formuliert: „Parteien sind . . . Ausdruck von Interessenkonflikten, die sie artikulieren und politisch organisieren, die sie gleichzeitig aber auch ,aufzuheben' trachten" (S. 657). Im allgemeinen handelt es sich bei dieser Art von Realdefinitionen um Versuche, direkte Beziehungen zwischen Ausdrücken bzw. Zeichenketten und Objekten herzustellen. Intendiert wird zumeist, erschöpfend und ein für allemal die Natur oder den Wesensgehalt des betreffenden Gegenstands zu bestimmen. Im Falle des Ausdrucks „Partei" wird in zahlreichen Schriften immer wieder versucht, endgültig festzulegen, was eine Partei im Kern ausmacht, d. h. was eine Partei tatsächlich ist. Diese Art von Definition ist, soweit sie auf den unscharfen und vieldeutigen Begriff des Wesens abstellt, äußerst problematisch; sie wird daher von der modernen Wissenschaftslehre verworfen, ist aber im politikwissenschaftlichen Schrifttum nach wie vor verbreitet. Von der Definition ist die sogenannte Begriffsexplikation zu unterscheiden, die immer dann nützlich ist, wenn man in der theoretischen Literatur unpräzise Ausdrücke vorfindet, die eine Überprüfung nicht gestatten, wo jedoch eine Überprüfung der Theorien möglich wird, wenn man die zentralen Begriffe präzisiert. Ein Politikwissenschaftler, der mit dieser Situation konfrontiert ist, wird versuchen, die vorhandenen, aber ungenauen Begriffe gemäß bestimmter Kriterien zu präzisieren. Dieser Vorgang heißt Explikation. In der Politikwissenschaft werden z.B. auf diese Weise häufig alltagssprachliche Begriffe in die Fachsprache überführt, in der sie dann eine verschärfte Bedeutung erhalten.

2. Analyse von Begriffen Die Wissenschaftssprache wird hinsichtlich der Beobachtbarkeit häufig in zwei einander ausschließende Klassen deskriptiver Begriffe zerlegt: in Beobachtungsbegriffe und theoretische Begriffe. Beobachtungsbegriffe lassen sich entweder aufgrund direkter bzw. relativ leichter Beobachtungen anwenden (hierzu zählen beispielsweise Begriffe wie Bevölkerung, Alter, Abgeordneter, Geschlecht etc.). Theoretische

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Begriffe oder Konstrukte bezeichnen demgegenüber Sachverhalte, die nicht direkt beobachtbar sind (etwa: Entfremdung, Konservatismus, Wahlabsicht, Frustration, Ethnozentrismus etc.). Diese Begriffsart benötigt direkt erfahrbare Indikatoren, die auf das Vorliegen des durch den Begriff gemeinten Sachverhalts hindeuten. Sogenannte Zuordnungs- oder Korrespondenzregeln verknüpfen in derartigen Fällen theoretische und Beobachtungsbegriffe einerseits, Beobachtungsbegriffe und Sachverhalte andererseits, wobei diese Zuordnungsregeln semantisch mehr oder weniger exakt zutreffen können. Zur Klasse der theoretischen Begriffe zählen die Dispositionsbegriffe, denen in der Politikwissenschaft eine besondere Bedeutung zukommt. Unter Dispositionsbegriffen versteht man Begriffe, in denen Gegenständen eine gewisse Fähigkeit oder Neigung zugesprochen wird, unter genau angegebenen Umständen in bestimmter Weise zu reagieren. Dispositionen stellen keine unmittelbar wahrnehmbaren Eigenschaften oder Beziehungen dar. Sie äußern sich vielmehr durch regelmäßige, voraussagbare Verhaltensweisen. Beispiele für Dispositionsbegriffe sind: rechtsradikal, konservativ, autoritär etc. Die konservative Einstellung kann sich z.B. in der Kleidung oder in gewissen Moralvorstellungen, durch das Ankreuzen bestimmter Antworten in einem Fragebogen, aber auch durch bestimmtes Wahlverhalten äußern. Der psychologisch-theoretische Begriff „rechtsextrem" läßt sich z.B. über eine Nominaldefinition bestimmen, indem man die Menge der den Begriff konstituierenden Eigenschaften aufzählt. Allerdings ist die Aufzählung von Eigenschaften für praktische Zwecke unzureichend. Man weiß zwar, was man unter „rechtsextrem" verstehen soll, doch kann man noch nicht feststellen, ob z.B. eine Person X als rechtsextrem zu bezeichnen ist oder nicht. Notwendig ist ein weiterer Vorgehensschritt, welcher dieses zu leisten vermag. Dispositionsbegriffe wie „rechtsextrem" müssen in empirisch angebbare Ereignisse übersetzt werden. Die übliche Methode ist die, daß man diese Person einen Fragebogen ausfüllen läßt, sie also einer Art Test unterwirft. Jemand gilt per definitionem dann als rechtsextrem, wenn er in einer Befragung oder beim Ausfüllen einer entsprechenden Einstellungsskala einen Wert erreicht, der einen zuvor festgelegten Schwellenwert übersteigt. Was die Begriffsform angeht, so unterscheidet die Wissenschaft drei Arten: klassifikatorische oder qualitative, komparative und quantitative oder metrische Begriffe. Klassifikatorische Begriffe sind die einfachste Begriffsform. Sie haben den Zweck, Gegenstände eines Bereiches in verschiedene Klassen zu zerlegen. Ein Klassifikationssystem ist z.B. die Einteilung der Menschen nach ihrer Nationalität oder Religion, der Parteien nach der politischen Ideologie etc. Verschiedene Klassifikationssysteme können sich überschneiden. So kann man die Menschen zugleich nach ihrem Geschlecht, ihrer Rasse, ihrer Nationalität, ihrem Beruf, ihrem Alter etc. in verschiedene Klassen einteilen. Kriterien, die bei der Klassifikation berücksichtigt werden müssen, sind: 1. Die durch die Begriffe festgelegten Klassen von Gegenständen sollen eindeutig abgegrenzt sein. Die einzelnen Kategorien der Einteilung sollen sich wechselseitig ausschließen. 2. Jeder Gegenstand eines Bereichs soll in eine der durch die Begriffe gebildeten Klassen fallen. Man sagt auch: Die Klasseneinteilung soll erschöpfend sein. Eine große Anzahl von Alltagsbegriffen liefert jedoch keine befriedigende Klassifikation. Das beruht einerseits auf der Vagheit der Klassenbezeichnungen und hat die Konsequenz, daß für einige Fälle unklar bleibt, unter welchem Begriff sie zu subsumieren sind. Andererseits werden Ausdrücke von ein und derselben Person nicht stets in derselben Bedeutung verwendet und von Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft in verschiedenen Bedeutungen gebraucht.

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Die Errichtung eines Systems von Begriffen ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Es soll helfen, die Ereignisse möglichst übersichtlich und genau zu beschreiben. Klassifikatorische Begriffssysteme sollen sich als wissenschaftlich fruchtbar erweisen. Fruchtbar in wissenschaftlicher Hinsicht sind sie, wenn sie sich zur Gewinnung von Regelmäßigkeiten bzw. sozialen oder politischen Gesetzen eignen. Aus diesem Grund werden Begriffssysteme ersetzt, wenn keine Aussicht besteht, daß auf ihrer Grundlage Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Welt erzielt werden. Darüber hinaus werden klassifikatorische Begriffssysteme an dem von ihnen vermittelten Informationsgehalt gemessen. Sagt man, daß einem Objekt eine Eigenschaft in mehr oder minder großem Maße zukommt, so benutzt man einen komparativen Begriff. Man spricht einem Gegenstand eine Eigenschaft in mehr oder minder großem Maße zu, indem man ihn bezüglich der in Frage stehenden Eigenschaft mit anderen Objekten vergleicht. Dem einstelligen klassifikatorischen Begriff „konservativ" entsprechen beispielsweise die zweistelligen komparativen Begriffe „konservativer als", „weniger konservativ als" und „ebenso konservativ wie", die eine Person oder Personengruppe nicht einfach als konservativ oder nicht konservativ charakterisieren, sondern deren politische Grundhaltung durch den Vergleich mit anderen Personen oder Personengruppen näher bestimmen. Komparative Begriffe haben den Vorteil, feinere Unterscheidungen zu ermöglichen als klassifikatorische Begriffe, so daß genauere Beschreibungen und gesetzesartige Aussagen formuliert werden können. Am wissenschaftlich fruchtbarsten aber sind die metrischen Begriffe, die die genaueste Beschreibung empirischer Phänomene erlauben. Zu den bekannteren metrischen Begriffen in der Politikwissenschaft zählen u. a. die Begriffe Stimmenanteil, Fraktionalisierung, Industrialisierung, Bruttosozialprodukt. Der große Vorteil metrischer Begriffe besteht darin, daß sie die Anwendung mathematischer Methoden ermöglichen. Die Einführung solcher Begriffe ist jedoch recht kompliziert. Andererseits haben sich die in dieser Sprache gebildeten gesetzesartigen Aussagen als viel einfacher und genauer erwiesen als die klassifikatorischen. Aus diesem Grund stellen die mit Hilfe dieser Begriffe gebildeten gesetzesartigen Aussagen wirksamere Instrumente für wissenschaftliche Prognosen und Erklärungen dar als die mit Hilfe qualitativer Begriffe gebildeten. Um den Maßstäben von Wissenschaftlichkeit zu genügen, werden die politikwissenschaftlichen Begriffe hinsichtlich der Kriterien Eindeutigkeit, Präzision, Konsistenz und theoretische Fruchtbarkeit beurteilt. Mehrdeutig ist ein Begriff dann, wenn einem Zeichen unterschiedliche Bedeutungen zukommen. Mehrdeutigkeit erschwert die Kommunikation. Sie ist die Quelle zahlreicher verbaler Auseinandersetzungen in den Sozialwissenschaften. Ein Begriff ist unpräzise, wenn man bei Objekten nicht entscheiden kann, ob sie unter den Begriff fallen oder nicht. Unpräzise Begriffe sind z. B. solche politikwissenschaftlichen Alltagsbegriffe wie „Gemeinwohl", „liberal" und „demokratisch". Extrem unpräzise Begriffe nennt man auch Leerformeln. Daß derartige Begriffe, etwa „sozial ausgewogen", dennoch oft benutzt werden, liegt vor allem an ihren stark emotionalen konnotativen Bedeutungen. Sie spielen besonders zur Rechtfertigung oder Abwehr nahezu beliebiger politischer Maßnahmen eine wichtige Rolle, für wissenschaftliche Erkenntnisse aber sind sie unbrauchbar. Das Kriterium der Konsistenz bezieht sich auf die Einheitlichkeit der Zuordnung von Zeichen und gemeinten Sachverhalten. Begriffe sollen konsistent verwendet werden, um die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Wissen-

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schaftlern nicht unnötig zu beeinträchtigen. Verwendet ein Forscher die Begriffe völlig unpräzise und inkonsistent, so sind seine Ausführungen intersubjektiv nicht nachvollziehbar. Da solche Aussagen inhaltlich nicht kritisiert werden können, entsteht eine dogmatische Wissenschaft, in der Wissenschaftler bestimmte Satzgebilde lediglich wiederholen. Die theoretische Fruchtbarkeit bezieht sich schließlich darauf, inwiefern die Begriffe dazu beitragen, dem wissenschaftlichen Ziel näher zu kommen. Hat ein Politikwissenschaftler z. B. das Ziel, eine Theorie zu konstruieren, die in der Lage sein soll, praktische Probleme zu lösen, so ist ein Begriff dann theoretisch fruchtbar, wenn er zur Realisierung dieses Zieles beiträgt.

B. Aussagen 1. Normative, logische und empirische Sätze In der Alltagssprache werden verschiedene Arten von Sätzen benutzt. Man kann unterscheiden zwischen Befehlssätzen (Imperative), Ausrufesätzen, Normsätzen, Wertsätzen, Bittsätzen, Fragesätzen und Deklarativ- bzw. Behauptungssätzen. Für die empirische Wissenschaft sind besonders die Behauptungssätze von Bedeutung, da nur sie über die Realität informieren; für die normative Politikwissenschaft spielen die Norm- und Wertsätze eine große Rolle. Zu den Behauptungssätzen gehören Sätze wie die folgenden: „Die Leser der Politischen Vierteljahresschrift sind zu 95% Politologen" , „Studentin Gabi Müller bekommt 500,- DM BAFÖG", „Wenn eine Partei über einen längeren Zeitraum an der Regierung beteiligt ist, dann finden sich unter ihren Mitgliedern überdurchschnittlich viele Beamte". In all diesen Sätzen wird etwas über mindestens ein Objekt ausgesagt. Nicht jeder Satz zeigt etwas auf, sondern nur derjenige, der wahr oder falsch sein kann. Solche Sätze heißen Aussagesätze. Sie haben die Funktion zu informieren, zu sagen, daß etwas der Fall ist. Dieses Kriterium unterscheidet Aussagesätze von Wunschsätzen, Imperativen und Wertsätzen. Wer einen Aussagesatz verwendet, der erhebt immer einen Wahrheitsanspruch. Ob Aussagen wahr oder falsch sind, hängt ab von dem Sinn der verwendeten Ausdrücke und den Tatsachen, auf die sie sich beziehen. Die Gültigkeit einer empirischen Aussage ist letztendlich allein mit logischen Mitteln nicht feststellbar. Um das Zutreffen eines empirischen Satzes zu prüfen, ist es erforderlich, ihn mit Fakten zu konfrontieren. Ob eine empirische Aussage angenommen wird, hängt dann davon ab, inwieweit sie mit den Tatsachen übereinstimmt. Zeigt die empirische Analyse, daß eine Aussage mit den Tatsachen übereinstimmt, so wird die Aussage vorläufig angenommen, andernfalls wird sie vorläufig verworfen. Eine logische Untersuchung kann klären helfen, unter welchen Bedingungen eine empirische Analyse akzeptabel erscheint. Aussagen, deren Wahrheitswert sowohl von dem Sinn der verwendeten Ausdrücke als auch von den Tatsachen abhängt, nennt man synthetisch. Sie dominieren in der empirischen Politikforschung. Hingegen wird ein politikwissenschaftlicher Satz analytisch genannt, wenn der Wahrheitsgehalt allein durch logische Analyse zu ermitteln ist. Analytisch sind alle Aussagen, deren Wahrheit oder Falschheit allein aufgrund der Bedeutung der verwendeten Zeichen festgestellt werden kann. Hierzu zählen z.B. alle Sätze der Logik und Mathematik, aber auch alltagssprachliche Sätze wie „Politikwissenschaft-

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ler sind Menschen" oder „Beamte beziehen ein Gehalt". So ist eines der Definitionselemente von „Beamter", daß er für seine Tätigkeit ein Gehalt bezieht. Zur Feststellung der logischen Wahrheit derartiger Aussagen reicht es aus, die Bedeutung der verwendeten Begriffe zu kennen. Analytische Sätze spielen vor allem in systemtheoretischen Ansätzen eine überaus wichtige Rolle. Sätze, die sich damit befassen, was sein soll, was man also für wünschbar hält, zählt man zu den normativen Sätzen. Sie sind häufig von der Interessenlage und den persönlichen Wertvorstellungen des jeweiligen Sprechers geprägt. Persönliche Vorlieben können freilich keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Man kann z.B. leicht und für jeden nachvollziehbar feststellen, daß im Deutschen Bundestag Abgeordnete der PDS sitzen. Ob das angenehm ist, wird individuell unterschiedlich beantwortet werden. Normative Sätze in diesem Sinne können demnach keine Aussagen sein und müssen strikt von diesen unterschieden werden. Als Politikwissenschaftler sollte man deutlich zwischen solchen subjektiv beeinflußten Sätzen einerseits, faktischen und logischen Aussagen andererseits unterscheiden. Ein Normsatz im engeren Sinne ist ein Satz, in dem geltende Gebote, Verbote oder Erlaubnisse ausgedrückt werden. Beispiele für Normsätze sind: „Stehlen ist verboten", „Politiker sollen nicht lügen", „Die Menschenwürde ist unantastbar". Bei normativen Sätzen dieser Art handelt es sich um Sätze, die zwar gültig oder ungültig, nicht aber wahr oder falsch sein können. Eine besondere Form normativer Sätze sind Wertsätze, in denen Ausdrücke wie „gut", „schlecht", „schön" etc. wesentlich vorkommen. Als ein Werturteil wird ein Satz bezeichnet, in dem man zu einem Sachverhalt in positiver oder negativer Weise Stellung nimmt und dabei ein normatives Prinzip, d.h. einen Wertstandard oder eine Verhaltensmaxime in Erwartung eines entsprechenden Verhaltens als gültig unterstellt. In diesem Sinne bedeutet beispielsweise der Satz „Die Verteilung des Sozialprodukts in der Bundesrepublik Deutschland ist gegenwärtig ungerecht", daß die Verteilung des Sozialprodukts in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig den als gültig unterstellten Gerechtigkeitsprinzipien nicht entspricht und daher in der Absicht kritisiert werden sollte, einen gerechteren Zustand durch Umverteilung herbeizuführen. Von bloßen Entschlüssen, Wünschen oder Stellungnahmen unterscheiden sich also Werturteile vor allem dadurch, daß man für sie einen höheren Grad von Objektivität in Anspruch nimmt. Werturteile sind Sätze, die Verhaltensweisen, Stellungnahmen und Entscheidungen als gerechtfertigt deklarieren. Personen, die derartige Sätze äußern, fordern andere Personen implizit zu bestimmten Handlungen auf. Anders als empirische Aussagen können sie jedoch ebenfalls nicht wahr oder falsch sein, da sie empirisch weder bestätigt noch widerlegt werden können.

2. Eine Einteilung der empirischen Sätze Manchmal behaupten Politikwissenschaftler, daß etwas an einem bestimmten Ort und an einem bestimmten Zeitpunkt der Fall ist, wie z.B. „Am Fachbereich Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin studierten im Sommersemester 1991 rund 5000 Studentinnen und Studenten" oder „Am 29. Juni 1990 wurde Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum Gesamtberliner Ehrenbürger ernannt". Sätze, die behaupten, daß etwas an einem bestimmten Ort an einem bestimmten Zeitpunkt der Fall ist, heißen singuläre Sätze. Häufig sagen Politikwissenschaftler nur etwas über ein Merkmal eines Objektbereichs aus. So könnte ein Politologe behaupten: „Es gibt eine liberale Partei im Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland". Sätze, in denen mit raum-zeitlichem Bezug behauptet wird, daß etwas für mindestens ein Objekt eines

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Objektbereichs zutrifft, heißen raum-zeitlich-begrenzte Existenzsätze. Diese bilden eine Teilklasse der singulären Sätze. Begnügt man sich bei seiner Forschung mit derartigen Existenzaussagen, so bewegt man sich ausschließlich auf der Ebene der Beschreibung. Die Wissenschaft ist aber nicht nur an solchen relativ leicht zu begründenden singulären Sätzen interessiert, sondern auch an Sätzen, die einen gewissen Allgemeinheitsgrad aufweisen. So sind Politologen je nach Forschungszusammenhang nicht primär daran interessiert, welche Eigenschaften eine ganz bestimmte Person aufweist, sondern daran, welche Merkmale die Mitglieder einer Personengruppe kennzeichnen. Ein Beispiel wäre der Satz „Alle Politikwissenschaftler lesen die Politische Vierteljahresschrift", der etwas über alle Personen aussagt, die als Politikwissenschaftler bezeichnet werden, und zwar ohne Bezug auf die Zeit und den Ort. Er behauptet (wie sich versteht: fälschlicherweise), daß alle Personen, die zu dem Objektbereich Politologe gehören, eine ganz bestimmte Eigenschaft haben, nämlich die Politische Vierteljahresschrift zu lesen. Solche Sätze werden als Allsätze bezeichnet. Ein Ziel der Politikwissenschaft besteht darin, Theorien zu formulieren. Bestandteile von Theorien sind, wie wir noch sehen werden, Gesetze bzw. besser: Gesetzesaussagen. Auch wenn die Gesetzesartigkeit seit den dreißiger Jahren von zahlreichen Wissenschaftstheoretikern eingehend studiert wurde, gibt es doch bis heute keine allgemein akzeptierte Lösung. Das Problem der Gesetzesartigkeit von Sätzen ist eines der schwierigsten Probleme der Erfahrungswissenschaft überhaupt. Dennoch findet der Gesetzesbegriff in allen Wissenschaften weitgehende Anwendung, weil Erklärung und Prognosen bzw. Handlungsanweisungen den Gesetzesbegriff zwingend voraussetzen. Übereinstimmung herrscht, daß eine Gesetzesaussage die syntaktische Form eines Allsatzes haben oder zu einem solchen sprachlich äquivalent sein muß. Für ein angemessenes Verständnis sozialwissenschaftlicher Gesetze ist es wichtig, einen objektiven gesetzmäßigen Zusammenhang von einem wissenschaftlichen Gesetz, der Gesetzesaussage, zu unterscheiden. Unter einem objektiven gesetzmäßigen Zusammenhang, einer Gesetzmäßigkeit, versteht man eine Erscheinung des Sozialgeschehens selbst, unter einem wissenschaftlichen Gesetz eine Aussage, mit der man diesen Zusammenhang abzubilden versucht. Allgemein unterscheidet man statistische und deterministische Gesetze. Die deterministischen Gesetze haben die Form „Alle X sind Y", die statistischen Gesetze die Form „Es besteht die Wahrscheinlichkeit p, daß ein X ein Y ist". So handelt es sich bei dem Satz „Wenn eine Person ein Arbeiter ist, dann wählt sie SPD" um ein deterministisches Gesetz. Es besagt, daß für alle Personen X gilt: Wenn eine Person X die Eigenschaft besitzt, Arbeiter zu sein, dann wählt X SPD. Ein Politikwissenschaftler, der einen solchen Satz schreibt, behauptet: Falls Herr Schultz Arbeiter ist, wählt Herr Schultz SPD. Er behauptet, daß Personen, die als Arbeiter gezählt werden, ohne Ausnahme SPD wählen. Deterministische Gesetze, sie heißen auch nomologische Aussagen, behaupten also, daß jedesmal, wenn bestimmte Bedingungen vorliegen, auch gewisse andere Bedingungen auftreten. Sagt man hingegen, daß lediglich in einem bestimmten Prozentsatz der Fälle das Auftreten eines Ereignisses Y auf X folgt, so behauptet man ebenfalls eine allgemeine Aussage, die jedoch dadurch eingeschränkt wird, daß es eine bestimmte festliegende Wahrscheinlichkeit dafür gibt, daß X die Bedingung für das Auftreten von Y ist. In diesem Fall handelt es sich um statistische oder probabilistische Gesetzesaussagen. Statistische Aussagen sind in der Politikwissenschaft häufig anzutreffen. Ein sozialwissenschaftliches Gesetz lautet z.B., daß eine Organisation

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als Reaktion auf äußere Krisen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu straffer Zentralisierung neigt als während normaler, krisenfreier Perioden. Ein anderes lautet: „Personen, die Sachentscheidungen akzeptieren, tendieren im Durchschnitt eher zur CDU als Personen, die Sachentscheidungen nicht akzeptieren". Auch bei den folgenden Sätzen handelt es sich um statistische Aussagen: „Etwa 35 Prozent der Arbeiter wählten die Nationalsozialisten", „Meistens gewinnt die C D U in überwiegend katholischen Gebieten das Direktmandat", „Lehrer sind viel häufiger Mitglieder von Parteien als Arbeiter". Die Tatsache, daß in den empirischen Wissenschaften fast ausschließlich (wenn nicht ausschließlich) statistische Gesetzmäßigkeiten vorkommen, unterstreicht die Bedeutung der Statistik für diese Wissenschaften. Gesetzesartige Aussagen können im Gegensatz zu logischen und mathematischen Sätzen nicht aus logischen oder mathematischen Gründen wahr oder falsch sein, und sie können im Gegensatz zu Sätzen wie „Alle Junggesellen sind unverheiratet" in ihrem Wahrheitsgehalt nicht allein durch die Bedeutung der in ihnen vorkommenden Begriffe bestimmt werden. Deterministische und statistische Gesetze heißen Kausalgesetze bzw. kausale Aussagen, wenn in ihnen eine kausale Abhängigkeit zwischen mindestens zwei Größen behauptet wird. Eine kausale Abhängigkeit liegt gemäß empirischer Konvention dann (und nur dann) vor, wenn die Veränderung einer Größe X (unabhängige Variable) von einer Veränderung einer Größe Y (abhängige Variable) begleitet wird, die abhängige Variable sich zeitlich nach und nicht vor der abhängigen Variablen verändert und keine Störgröße für die Veränderung verantwortlich ist. Von Kausalgesetzen spricht man, wenn man eine Beziehung von abhängiger und unabhängiger Variablen im Sinne einer Verursachung annimmt. So spricht man z. B. dann von einer Kausalbeziehung, wenn man sagt, daß Deprivation Protestverhalten hervorruft oder behauptet, daß das Mehrheitswahlrecht ein Zweiparteiensystem begünstigt. Von den kausalen Aussagen sind prinzipiell korrelative Aussagen zu unterscheiden, die das gemeinsame Auftreten mehrerer Sachverhalte, etwa von gesellschaftlicher Isolierung und politischer Entfremdung, behaupten. Im Gegensatz zu kausalen Aussagen sagen korrelative Aussagen nichts über die Einflußrichtung eines Merkmals aus; so ist nicht klar, ob gesellschaftliche Isolierung zu politischer Entfremdung führt oder umgekehrt oder ob beide Erscheinungen, die häufig gemeinsam auftreten, also miteinander korrelieren, von einem dritten Faktor abhängen. Korrelative Aussagen behaupten lediglich, daß zwei oder mehr Merkmale in einer gewissen, empirisch beobachtbaren Beziehung stehen. In der Alltagssprache werden Korrelationsbeziehungen jedoch oft fälschlicherweise kausal gedeutet. Im politikwissenschaftlichen Schrifttum findet man häufig die Bezeichnung „Hypothese". Mit einer Hypothese meint man eine theoretische Erwartung bzw. Vermutung, d . h . eine Aussage, die für wissenschaftliche Zwecke angenommen wird, ohne schon als wahr erkannt zu sein. Wichtig ist, daß alle möglichen Satzarten als Hypothesen fungieren können: Existenzaussagen und Allsätze, analytische und synthetische Aussagen, deterministische und probabilistische Sätze, korrelative und kausale Aussagen. Häufig spricht man von Hypothesen, wenn eine allgemeine Aussage erst wenig geprüft wurde, und von Gesetzen, wenn sich Hypothesen bewährt haben. Der Sprachgebrauch ist in diesem Falle aber nicht einheitlich. Hypothesen können je nach ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Sprachebenen in theoriesprachliche und beobachtungssprachliche Hypothesen unterschieden werden, unter dem Aspekt der Formalisierung lassen sich formalisierte und nichtformalisierte Hypothesen gegeneinander abgrenzen, hinsichtlich des Inhalts Zusammenhangs-,

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Unterschieds- und Veränderungshypothesen, nach ihrer Stellung im Forschungsprozeß Ausgangs-, Arbeits- und Ad-hoc-Hypothesen, nach dem Grad ihrer Integration in Aussagengefüge isolierte und systembezogene Hypothesen etc. Um die Beziehungen zwischen Merkmalen zu präzisieren, ist es oft angebracht, sprachliche Ausdrücke in mathematische Sätze zu transformieren. Eine mathematische Transformation zwingt zur Eindeutigkeit und hat den Vorteil, daß die Beziehungen zwischen Eigenschaften bzw. Variablen schneller und effektiver analysiert werden können. Eine mathematische Gleichung mit drei erklärenden Merkmalen hat z.B. die folgende allgemeine Form: Y = a + bjXj + b 2 x 2 + b 3 x 3 . Die Symbole stehen für Objekte und Eigenschaften der Objekte. Will man beispielsweise den Einfluß von drei Merkmalen auf das Abschneiden der Parteien bei der Abgeordnetenhauswahl vom Januar 1989 bestimmen, so kann Y t stehen für den Anteil der Republikaner, Y 2 für den der Alternativen Liste, Xj für den Anteil der Einwohner mit islamischer Religionszugehörigkeit, X 2 für den Anteil der Jungwähler und X 3 für den Anteil der Arbeiter in den 1742 Berliner Stimmbezirken. Berechnet man die Werte, so ergeben sich folgende Gleichungen: für die Republikaner Y j = .3 - .1-Islam + .5 Jung + . 1-Arbeit und Y 2 = 16 + .4-Islam-1.1-Jung- .3-Arbeit für die Alternative Liste. Die Gleichungen besagen dann folgendes: Wenn der Arbeiteranteil in den Stimmbezirken, der Prozentsatz der Bewohner mit islamischer Religionszugehörigkeit und der Prozentsatz der Jungwähler einen bestimmten Wert hat, dann ergibt sich der Stimmenanteil der AL bzw. der REP bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin (West) 1989. Gleichungen dieser Art lassen sich auch als Je-desto-Sätze formulieren: Je höher der Prozentsatz der Bewohner mit islamischer Religionszugehörigkeit, desto höher ist (im Schnitt) der Stimmenanteil der AL. Je höher der Prozentsatz der Arbeiter, desto geringer ist tendenziell der Stimmenanteil der AL, und desto höher ist der Prozentsatz der Republikaner. In empirischen Forschungsberichten finden sich zahlreiche derartige Aussagen.

3. Kriterien zur Beurteilung politikwissenschaftlicher Sätze Zur Beurteilung von Sätzen im wissenschaftlichen Schrifttum werden im allgemeinen folgende Merkmale herangezogen: Gültigkeit, Überprüfbarkeit und Informationsgehalt. Diese Kriterien erlauben es, die in der Politikwissenschaft benutzten Sätze in bezug auf ihre Bedeutung im Forschungsprozeß einzustufen. Politikwissenschaft im objektiven Sinne besteht nicht aus einer Ansammlung isolierter Sätze, sondern aus Aussagengefügen bzw. -systemen der Disziplin. Soll einem Aussagensystem ein beschreibender, erklärender oder prognostischer Wert hinsichtlich eines Gegenstandsbereiches zukommen, so ist auf die logische Korrektheit der Aussagenverbindungen zu achten. Die Grundforderung, die an alle wissenschaftlichen Aussagengebäude gestellt wird, ist die der logischen Widerspruchsfreiheit bzw. logischen Konsistenz. Enthält ein Satzgefüge einen logischen Widerspruch, so läßt sich daraus nämlich gleichzeitig eine Behauptung und deren Negation und damit jede beliebige Aussage ableiten. Darüber hinaus sind logisch widersprüchliche Aussagensysteme völlig uninformativ, d. h. sie sagen nichts über die Beschaffenheit der Realität aus, wie die folgenden Beispiele belegen: „Hier steht ein Baum und hier steht kein Baum"; „Die Wiedervereinigung ist ein Erfolg und ein Desaster"; „Die SPD ist zugleich links und doch wieder nicht links" etc. Hinsichtlich des Gültigkeitsanspruchs können Aussagen mit dem Anspruch auf apriorische oder auf aposteriorische Gültigkeit formuliert werden. Sätze, die aprio-

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risch gültig sein sollen, bedürfen keiner Konfrontation mit der Erfahrung. Diese Sätze gelten per Konvention. Hierher gehören die logischen Sätze, die Definitionen und die wertenden Sätze. Die empirischen Sätze erheben demgegenüber einen aposteriorischen Gültigkeitsanspruch, entsprechend müssen sie sich an der Erfahrung bewähren. Das heißt, die empirische Analyse ist hier die letzte Instanz. Eine weitere Forderung an politikwissenschaftliche Aussagesysteme ist die der intersubjektiven Verständlichkeit bzw. Präzision oder Eindeutigkeit der Aussagen. Sind die Sätze unklar formuliert, so können verschiedene Personen aus ihnen unterschiedliche Bedeutungen herauslesen. Die Aussagensysteme sind um so eindeutiger, je genauer die Bedeutung der benutzten Ausdrücke festgelegt ist. Darin, daß wissenschaftliche Sätze intersubjektiv nachprüfbar sind, liegt deren Objektivität. Um Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, gebraucht man zweckmäßigerweise Verfahren der Definition und Explikation. Zu der logischen Konsistenz und der intersubjektiven Verständlichkeit tritt als drittes wichtiges Kriterium wissenschaftlicher Aussagensysteme über die Realität das der Prüfbarkeit, d.h. die Möglichkeit der Feststellung der faktischen Gültigkeit der Aussagen. Es wird gefordert, daß ein Aussagensystem, das sich auf einen Objektbereich der Realität bezieht, im Prinzip an der Erfahrung scheitern können muß. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß nur dort, wo gewisse Vorgänge sich wiederholen bzw. reproduziert werden, diese auch nachgeprüft werden können. Beobachtungen pflegt man wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen, wenn man sie nicht durch wiederholte Beobachtungen nachgeprüft und sich davon überzeugt hat, daß es sich nicht um eine Fehlwahrnehmung oder ein zufälliges Zusammentreffen handelt. Zum Verständnis empirischer politikwissenschaftlicher Aussagen ist es nützlich zu wissen, daß diese alle möglichen Sachverhalte in zwei Teilklassen zerlegen: in die Klasse der Sachverhalte, denen sie genügen und die Klasse, die sie ausschließen. Seit Popper nennt man die erste der beiden Klassen den Spielraum, die zweite den Informationsgehalt bzw. empirischen Gehalt der Aussage. Der Informationsgehalt von Aussagen ist definiert als die Zahl ihrer potentiellen Falsifikatoren. Den Bereich der Aussagen, in dem die Aussage wahr wird, nennt man den logischen Spielraum einer Aussage. Je höher der Informationsgehalt einer Aussage ist, desto geringer ist ihr logischer Spielraum. Da verschiedene empirische Sätze unterschiedlich viel über die Wirklichkeit aussagen, kann man den Informationsgehalt von Sätzen vergleichen. In der Politikwissenschaft gibt es eine Reihe Sätze mit niedrigem Informationsgehalt und eine große Anzahl von Sätzen mit hohem Informationsgehalt. Wenig informativ ist z. B. der Satz „Die Erfahrungen aus der Zeit von 1980 prägen weithin das politische Verhalten der Mittelschichten nach 1980". Eine politikwissenschaftliche Hypothese sagt um so mehr aus, d. h. sie hat einen um so größeren empirischen Gehalt, je mehr sie verbietet, je größer also die Menge der potentiellen Falsifikatoren ist. Werden Sätze, die unabhängig von den Wahrheitswerten ihrer Teilsätze wahr sind (Tautologien), als Gesetze in Aussagengefügen benutzt, ist es wichtig zu wissen, daß damit keine empirischen Gesetze formuliert werden und daher auch keine Prognosen erstellt werden können. Eines der bekanntesten Gesetze der Sozialwissenschaften, bei dem es sich um eine Tautologie handelt, ist das von Marx formulierte Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, das derart formuliert ist, daß sich die Mehrwertrate immer erhöht, wenn die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und die Profitrate unverändert bleibt. Tautologisch ist dieses „Gesetz", da es sich hierbei nicht um ein informatives sozialwissenschaftliches Gesetz, sondern um eine Definition handelt.

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Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

C. Theorien 1. Theoriebegriff Ein Kennzeichen einer entwickelten Wissenschaft ist, daß sie über Theorien verfügt. Der Theoriebegriff ist dabei allerdings unscharf. Oft spricht man schon von Theorie, wenn nur eine Hypothese oder ein Begriffsgerüst gemeint ist. Sinnvoll scheint die wohl gängigste Auffassung zu sein, wonach unter einer Theorie ein in einem Begründungszusammenhang stehendes System miteinander verbundener, relativ allgemeiner Aussagen zu verstehen ist. Theorien informieren über Teile der Realität und dienen der Organisation von Systemen gesetzesartiger Aussagen, was erst eine einheitliche Erfassung eines größeren Forschungsbereiches ermöglicht. Jede entwikkelte Wissenschaft verfügt über solche Aussagesysteme allgemeiner Gesetze, aus denen sich spezielle Gesetze ableiten lassen. Und eine Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, die vorhandenen gesetzesartigen Aussagen in umfassenderen theoretischen Systemen zu integrieren. Soweit sich Theorien auf einen empirischen Objektbereich beziehen, erheben sie wie Tatsachenaussagen einen Wahrheitsanspruch. Aufgrund ihrer relativen Allgemeinheit erlauben sie sowohl Vorhersagen über Fakten, die erst in der Zukunft zu erkennen sind, als auch Prognosen über Tatsachen der Vergangenheit, die bislang noch nicht bekannt sind. Ferner ermöglichen sie die Erklärung von Ereignissen. Bei einer empirischen Theorie sind drei Aussageebenen zu unterscheiden: a) die Ebene der Kerntheorie (das ist die Menge der theoretischen Begriffe und theoretischen Postulate), b) die Beobachtungsanweisungen und c) die Korrespondenzregeln, die zwischen den Beobachtungsaussagen und den Begriffen der Theorie vermitteln. In einem ersten Schritt der Theoriebildung müssen die Begriffe durch Definition geklärt werden, die in der Theorie verwendet werden, d.h. der Begriffsapparat ist aufzubauen. Der Zweck ist der, 1. Mißverständnisse und Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, 2. den Teilbereich der Realität einzugrenzen, auf den sich die Theorie bezieht. Der Begriffsapparat einer Theorie dient zum einen der Beschreibung und Klassifizierung der interessierenden Objekte des Gegenstandsbereichs, zum anderen der Sammlung von Beobachtungsmaterial. Nur für den Teilbereich der Realität, auf den sich die Theorie bezieht, beansprucht sie auch Gültigkeit. Der Kern einer Theorie besteht zumeist aus Axiomen. Als Axiome werden die Sätze bezeichnet, die im Kontext einer Theorie selbst nicht bewiesen oder begründet werden, aber zur Begründung abgeleiteter Aussagen notwendig sind. Sie sind die als wahr behaupteten allgemeinsten Aussagen einer Theorie. Ein Satz hat nicht von sich aus die Funktion eines Axioms, sondern immer nur in bezug auf eine Theorie. So wird in der ökonomischen Theorie der Politik rationales Verhalten als Axiom eingeführt, in anderen Zusammenhängen kann dagegen die gleiche Aussage Gegenstand einer Überprüfung sein. Vereinfacht wird in der politikwissenschaftlichen Literatur oft von Annahmen gesprochen. Annahmen sind nicht identisch mit Axiomen; sie sind weiter gefaßt als diese, können allerdings, je nach Aussagengebäude, die Funktion von Axiomen, aber auch von hypothetischen Randbedingungen einnehmen. Die allgemeinen Sätze einer empirischen Theorie implizieren Beobachtbares. Sie teilen die Menge aller Sätze, die Sachverhalte beschreiben, in die Menge der von der

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Theorie erlaubten und verbotenen Zustandsbeschreibungen ein. Eine empirische Theorie, die alle möglichen Zustandsbeschreibungen zuläßt, ist prinzipiell nicht überprüfbar und daher unwissenschaftlich. Die Konsequenzen bzw. Aussagen, die aus Theorien folgen, heißen Ableitungen oder Theoreme. Man kann speziellere Sätze aus einer Theorie u.a. ableiten, indem man an die Stelle der allgemeinen Begriffe einer verwendeten Hypothese einen konkreten Spezialfall einsetzt. Ersetzt man beispielsweise den Begriff „Verhalten" einer allgemeinen Hypothese durch den spezielleren Begriff „politisches Verhalten", so hat man dadurch eine enger gefaßte Hypothese aus einer allgemeinen Hypothese abgeleitet. Ferner haben die Sätze einer Theorie einen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrad. Um Sätze zu überprüfen, zieht man andere Sätze heran. Die Klasse der Sätze, die die letzte Überprüfungsinstanz bildet, bezeichnet man oft als Basissätze-, sie sind die am wenigsten allgemeinen Aussagen einer Theorie. Empirisch ist eine Theorie, wenn sie lediglich empirische und logische Aussagen enthält. Als normativ gilt sie, wenn sie Norm- oder Wertsätze enthält. Normative Theorien weisen ebenso wie die empirischen Theorien sogenannte Axiome auf, nur daß es sich im Falle von normativen Theorien nicht um Axiome mit Informationsgehalt handelt, sondern um allgemeine Wert- oder Normsätze, aus denen nach den Prinzipien der Logik bestimmte Mengen von weniger allgemeinen Norm- bzw. Wertsätzen folgen, so daß Normen- bzw. Wertsysteme entstehen. Zu derartigen normativen Theorien zählen z.B. Theorien, die Bereiche des politischen und sozialen Lebens regeln. Das können Theorien sein, aus denen Forderungen für das sittliche Leben folgen, etwa über die Spielregeln, die das Verhalten der Bürger in Demokratien oder die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung regulieren. Normative Theorien in diesem Sinne organisieren also das Verhalten in bestimmten Bereichen, indem sie Forderungen angemessenen Verhaltens in den jeweiligen Bereichen ausdrücken. So wie die Regeln des Schachspiels das korrekte Spielen, definieren z.B. die methodologischen Regeln die korrekte Vorgehensweise im wissenschaftlichen Bereich. Normative Theorien bestehen also im Kern aus einer Menge von Axiomen, ferner aus der Menge der aus diesen Axiomen mit Hilfe logischer Prinzipien abgeleiteten Sätze. Sie spielen vor allem in der Moralphilosophie und der politischen Philosophie eine herausragende Rolle.1 In den Sozialwissenschaften wird statt von Theorien oft von Modellen gesprochen. Nicht immer ist klar, ob es sich dabei lediglich um eine andere Bezeichnung für theoretische Aussagensysteme handelt oder ob etwas gänzlich anderes gemeint ist. So wird der Name „Modell" nicht selten mit dem Terminus „Theorie" gleichgesetzt, beispielsweise wenn man einmal von Theorien des Wählerverhaltens, ein anderes Mal 1

Der Auffassung, wonach Theorien Systeme von Aussagen sind, wird in neuerer Zeit eine alternative Konzeption gegenübergestellt. Nach der strukturalistischen Theorieauffassung, die mit den Namen Sneed und Stegmüller verbunden ist, wird die klassische Auffassung einer Theorie als Menge von Aussagen durch eine Theorie als eine Kernstruktur und ihre Anwendungsmodelle ersetzt. Nach der strukturalistischen Auffassung ist eine Theorie ein vorläufig offenes Schema, ein Strukturgebilde, das auf verschiedene Gegenstände passen kann. Auf manche Sachverhalte ist eine Theorie anwendbar, auf andere nicht. Dieser Theorieauffassung nach sind Theorien nicht widerlegbar, weil sie empirisch nicht prüfbar sind. Theorien sind Werkzeuge, und Werkzeuge können nicht wahr oder falsch, sondern nützlich oder nicht nützlich sein. Die Eigenschaft, ein theoretischer Begriff zu sein, wird in dieser Konzeption auf eine Theorie bezogen und damit unabhängig von der herkömmlichen Unterscheidung zwischen beobachtbaren und nicht beobachtbaren Dingen.

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von Modellen des Wählerverhaltens spricht, inhaltlich aber das gleiche damit meint. Andererseits versteht man unter Modell auch die formale Struktur (beispielsweise das mathematische Gerüst) einer Theorie, eine Struktur, die wegen ihres formalen Charakters inhaltlich sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Modelle in diesem Sinne wollen lediglich Teilaspekte von Theorien verständlich machen. So erheben Theorien einen unbedingten Wahrheitsanspruch, Modelle dagegen nicht. In den Wirtschaftswissenschaften schließlich wird die Formulierung von Aussagen zur Erklärung bestimmter Ereignisse als Modellbildung bezeichnet. Das Ergebnis der Modellbildung bezeichnen die Wirtschaftswissenschaftler dann als Modell. Das Modell stellt dann ein vereinfachtes Abbild der ökonomischen Realität dar. Die Modellbildung ist häufig mit der Formalisierung von Theorien verbunden, um auf diesem Wege eine größere Präzision zu erreichen, um Konsistenzen bzw. Inkonsistenzen leichter identifizieren und Ableitungen vornehmen zu können.

2. Leistung und Beurteilung von Theorien Die Aufgabe von Theorien ist es, Phänomene zusammenzufassen, zu koordinieren, zu erklären und vorauszusagen. Theorien sind ein Mittel, um Objektbereiche darzustellen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Gegenstandstheorien. Diese beschreiben, was der Fall ist. Wichtig ist, daß die Beschreibung des Forschungsobjektes von der Art der verwendeten Begriffe abhängt. Die Theorie bestimmt damit, in welcher Art und Weise ein Forschungsobjekt dargestellt wird. Darüber hinaus dienen Theorien als Erklärungsmittel. Theorien sind es, die die Frage beantworten, warum das, was der Fall ist, eingetreten ist. Schließlich haben Theorien eine sogenannte Validierungsfunktion. Theorien erst beantworten nämlich die Frage, warum eine vorgebrachte Erklärung gültig ist. Auf dieser Ebene klären Theorien Fragen der Methodologie. Derartige Theorien stellen die Kriterien für die Angemessenheit von Erklärungen, der Meßgenauigkeit, der Reproduzierbarkeit von Meßergebnissen bei konstanten Bedingungen (Reliabilität) und der inhaltlichen Zulänglichkeit eines Maßes (Validität) bereit. Theorien dienen also der Erfassung und Erklärung eines Sachverhalts sowie der logisch-strukturellen Analyse der Begründung und Erklärung dieses Sachverhalts. Eine der wichtigsten Leistungen empirischer Theorien ist die Systematisierung der Erfahrung. Die Systematisierungsleistung besteht darin, daß eine Theorie als eine Menge miteinander verbundener Sätze die empirischen Befunde, einfachen Verallgemeinerungen und weiterreichenden Hypothesen in übersehbarer Weise zusammenfaßt. Liegen über einen Gegenstandsbereich schon eine Reihe von Beobachtungen und Hypothesen vor, so können diese mit der Formulierung einer Theorie auf einen einheitlichen Nenner gebracht werden. Dabei fällt jedoch der Informationsgehalt der Theorie nicht mit der vorliegenden Menge von Befunden und Verallgemeinerungen zusammen. Vielmehr reicht die Theorie weiter und erlaubt Aussagen darüber, was man in Zukunft erwarten kann und was nicht. Man spricht aus diesem Grunde auch von der prognostischen Leistung einer Theorie. Erst empirische Theorien ermöglichen die für praktische Zwecke wichtigen Voraussagen über künftige Ereignisse und Erscheinungen. Eine gute empirische Theorie teilt unter Hinzuziehung der relevanten Randbedingungen ferner mit, was man tun muß, um gewünschte Zustände zu erreichen. Zu fast allen Gegenstandsbereichen liegen mehrere Theorien vor, so daß sich die Frage stellt, welche vernünftigen Gründe Urteile über alternative Theorien ermögli-

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chen. Politische Gegenstandstheorien können unter verschiedenen Aspekten verglichen werden, u.a. hinsichtlich ihrer Darstellungs-, Erklärungs- und Prognoseleistung. Die Betrachtung von politischen Gegenstandstheorien unter diesen Gesichtspunkten trägt zu der Entscheidung über die relative Leistungsfähigkeit mehrerer Theorien bei. Die Darstellungsleistung einer politischen Theorie bemißt sich an ihrem empirischen Gehalt und Wahrheitscharakter. Jede politische Gegenstandstheorie schließt Sätze ein, die mit der Theorie unvereinbare empirische Sachverhalte beschreiben. Diese Sätze nennt man die potentiellen Falsifikatoren einer Theorie. Infolgedessen versteht man unter dem empirischen Gehalt einer politischen Gegenstandstheorie auch die Menge der potentiellen Falsifikatoren dieser Theorie. Schließt eine politische Gegenstandstheorie viele logisch mögliche Sachverhalte aus, so behauptet eine Theorie viel. Schließt eine Theorie nur wenige Sachverhalte aus, so behauptet eine Theorie wenig. Behauptet eine politische Gegenstandstheorie viel und trifft das auch noch zu, was sie behauptet, so ist die Darstellungsleistung dieser Theorie größer als die einer alternativen Theorie, die nur wenige empirische Sachverhalte ausschließt und deren empirische Behauptungen teilweise oder überhaupt nicht zutreffen. Zwar geht die Feststellung des empirischen Gehalts einer empirischen Überprüfung von Theorien voraus, doch um festzustellen, ob das, was die Gegenstandstheorie behauptet, tatsächlich auch zutrifft, führt man empirische Forschungen durch. Um die Leistung von Theorien vergleichen zu können, wird man den empirischen Gehalt der Theorie vergleichen, die Experimente, die zur Prüfung der Theorie durchgeführt worden sind, betrachten und fragen, welche davon negativ und welche positiv ausgegangen sind. Bei den Theorien in der Politikwissenschaft ist es aber häufig der Fall, daß man sich überhaupt nicht zwischen verschiedenen Theorien entscheiden kann. Denn oft verhält es sich so, daß sich verschiedene Theorien ergänzen, d.h. daß jede der verschiedenen Theorien eine ganz bestimmte Klasse von Fragen zu beantworten in der Lage ist, welche die jeweils andere Theorie nicht beantworten kann. Zudem wird man selbst dann, wenn sich herausgestellt hat, daß eine Theorie falsch ist, diese noch nicht gänzlich verwerfen, falls sie wenigstens für die Entwicklung des in Frage stehenden Problems genügt. Man wird sie vernünftigerweise erst aufgeben, wenn eine alternative Theorie zur Verfügung steht, die mehr zu leisten vermag als die alte Theorie.

3. Erklärung Der Ausdruck „Erklärung" wird in umgangssprachlicher Redeweise in vielfältigen Bedeutungsvarianten benutzt. Wissenschaftler denken vor allem an die Erklärung von Vorgängen oder Tatsachen. Politologen versuchen beispielsweise den Ausgang von Wahlen oder den Ausbruch von Kriegen zu erklären. Die Politikwissenschaft beschäftigt sich folglich oft mit Fragen, in denen es darum geht herauszufinden, warum etwas der Fall ist. So könnte man fragen: „Warum ist der Anteil der aus dem öffentlichen Dienst kommenden Mitglieder der SPD in Berlin höher als in Westfalen?" oder: „Warum wählen Katholiken im allgemeinen seltener rechtsradikale Parteien als Nichtkatholiken?" Solche Fragen setzen voraus, daß das Ereignis, nach dessen Erklärung gefragt wird, wahr ist. Gefragt wird im allgemeinen nach den Ursachen oder Bedingungen für das Auftreten von Ereignissen. Gegenstand von Warum-Fragen können jedoch nicht nur Einzelereignisse, sondern auch soziale Regelmäßigkeiten, Gesetze oder Theorien sein. Will man eine derartige Warum-

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Frage beantworten, beschreibt man im allgemeinen zunächst das zu erklärende Ereignis in seinen relevanten Aspekten. So könnte man argumentieren, daß in Berlin prozentual mehr Personen im öffentlichen Dienst beschäftigt sind als in Westfalen und daß allgemein Mitglieder des öffentlichen Dienstes eher dazu tendieren, in Parteien einzutreten, als z.B. Beschäftigte in Industrieunternehmen. Man verweist also zunächst auf Bedingungen, die die Eintrittswahrscheinlichkeit in Parteien erhöhen. Derartige Bedingungen heißen Anfangs-, Rand- oder Antezedensbedingungen. Die Angabe solcher Randbedingungen reicht jedoch nicht zur Erklärung eines Sachverhalts aus. Erklärungsvorschläge enthalten vielmehr immer zwei Komponenten: Anfangsbedingungen, die durch singuläre Sätze, und Gesetzmäßigkeiten, die durch allgemeine Sätze beschrieben werden. Zumeist werden Erklärungen in der politikwissenschaftlichen Literatur nicht in allen Details geliefert. Bisweilen lesen sie sich wie ausführliche Schilderungen, und erst eine genauere Analyse bringt zutage, daß es sich dabei nicht lediglich um eine Beschreibung, sondern um eine Erklärung handelt. Im Falle der wissenschaftlichen Erklärung eines Ereignisses ist also ein raumzeitlich fixiertes Ereignis gegeben, und man fragt sich, warum dieses Ereignis eingetreten ist. Das zu erklärende Ereignis nennt man Explanandum. Will man eine Erklärung dieses Ereignisses liefern, gibt man gewisse Bedingungen an, die vorher oder gleichzeitig gegeben waren. Diese relevanten Bedingungen A l 5 . . . , A n sind die erwähnten Anfangs- oder Randbedingungen. Zudem benutzt man gewisse allgemeine Aussagen G j G n . Die Randbedingungen und die allgemeinen Sätze faßt man unter der Bezeichnung Explanans zusammen. Eine Erklärung besteht nun in der Ableitung des Satzes, der das zu erklärende Ereignis beschreibt, aus den beiden genannten Klassen von Sätzen {A 1 ; ..., A n , G 1 ; . . . , G n }. Es ist dabei unumgänglich, beide Arten von Sätzen zu verwenden, da sich allein aus allgemeinen Aussagen keine Tatsachen erschließen und allein aus singulären Sätzen keine neuen Tatsachen erklären lassen. In jeder Erklärung werden also, ob man will oder nicht, Gesetzesaussagen verwandt. Vom logischen Standpunkt aus ist nun wichtig, daß sich der Satz, der das erklärungsrelevante Ereignis beschreibt, nur dann zweifelsfrei aus den Sätzen des Explanans ableiten läßt, wenn es sich bei der verwendeten Gesetzeshypothese um ein sogenanntes deterministisches Gesetz handelt. In der Politikwissenschaft stehen jedoch, wie ausgeführt, im allgemeinen keine deterministischen Gesetze zur Verfügung, sondern Wahrscheinlichkeitshypothesen. In diesem Falle kann man das zu erklärende Ereignis jedoch nicht mit logischer Notwendigkeit, sondern lediglich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erschließen. In derartigen Fällen spricht die Wissenschaft von induktiv-statistischen Erklärungen. Die Struktur einer wissenschaftlichen Erklärung A t , A^ . . . , A n

Randbedingungen

G p G2, . . . , G n

Gesetzesaussagen (Wahrscheinlichkeitshypothesen)

Explanans

Schluß mit logischer oder induktiver Wahrscheinlichkeit E

Explanandum

IV. Zur Analyse und Geltung politikwissenschaftlicher Aussagensysteme

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In Fällen, wo das zu erklärende Ereignis nicht mit logischer Notwendigkeit aus den Anfangsbedingungen und den gesetzesartigen Aussagen ableitbar ist, wo aber eine statistische Gesetzesaussage behauptet, daß die in Frage stehenden Merkmale mit hoher Wahrscheinlichkeit zusammen auftreten, ist es sehr wahrscheinlich, daß dann, wenn die Anfangsbedingungen {A1; . . . , A n } und die Wahrscheinlichkeitshypothesen {Gi, ..., G n } gegeben sind, auch das Ereignis E auftritt. Das in Frage stehende Ereignis ist also aufgrund der genannten Prämissen mehr oder weniger zu erwarten. Nicht nur singulare Ereignisse, sondern auch Wahrscheinlichkeitshypothesen werden auf diese Weise erklärt. So kann man alle Gesetze, die zur Erklärung singulärer Ereignisse herangezogen werden, selbst wieder für erklärungsrelevant halten. Der Unterschied zwischen der Erklärung von singulären und gesetzesartigen Aussagen besteht darin, daß zur Erklärung singulärer Ereignisse im Explanans mindestens eine Randbedingung angeführt wird, die ein singuläres Ereignis beschreibt. Hingegen kommen in Erklärungen gesetzesartiger Aussagen Sätze, die singulare Ereignisse beschreiben, nicht vor. Gesetzesartige Aussagen werden erklärt, indem man das zu erklärende Gesetz (= Explanandum) aus anderen gesetzesartigen Aussagen (= Explanans) ableitet. Adäquate Erklärungen liegen vor, wenn (1) das Explanandum korrekt aus dem Explanans hergeleitet wird, (2) das Explanans mindestens eine gesetzesartige Aussage enthält, (3) das Explanans empirischen Gehalt besitzt und (4) die Sätze, aus denen das Explanans besteht, wahr sind bzw. sich empirisch bewährt haben. Bei der Erklärung singulärer Ereignisse kommt (5) hinzu, daß das Explanans mindestens eine Randbedingung enthält. Wenn also der Schluß vom Explanans zum Explanandum falsch ist, wird man eine Erklärung nicht akzeptieren können. Des weiteren muß das Explanans mindestens ein Gesetz enthalten, um eine Ableitung des Explanandums aus dem Explanans überhaupt erst zu ermöglichen. Ohne Gesetzesaussage als Prämisse ist eine Ableitung folglich nicht durchführbar. Ein Gesetz allein reicht jedoch nicht aus, um ein singuläres Ereignis zu erklären. Ferner muß das Explanans mindestens eine Randbedingung enthalten, d.h. mindestens einen singulären Satz, der die Randbedingung beschreibt. Oft sind jedoch mehrere Randbedingungen erforderlich. Randbedingungen alleine reichen allerdings ebenfalls nicht aus, um ein singuläres Ereignis zu erklären. Das Explanans muß nur dann keine Randbedingung enthalten, wenn Gesetze erklärt werden sollen, da bei der Erklärung von Gesetzen diese aus anderen Gesetzen abgeleitet werden. Schließlich muß das Explanans wahr sein bzw. sich bewährt haben. Hat sich das in einer Erklärung herangezogene Gesetz als falsch erwiesen, so bezeichnet man nämlich bestimmte singuläre Ereignisse fälschlicherweise als Ursachen. Dies impliziert gleichzeitig, daß das Explanans empirischen Gehalt aufweist, d.h. im Prinzip überprüfbar ist. Und endlich wird bei einer Erklärung stillschweigend vorausgesetzt, daß das Explanandum tatsächlich gegeben ist. Gerade letzteres jedoch ist, so selbstverständlich es klingt, keineswegs immer der Fall. So wurde in der Geschichtswissenschaft viel Erklärungsaufwand betrieben, um die angebliche Resistenz von Arbeitern oder der Oberschicht gegenüber dem Nationalsozialismus vor 1933 zu erklären, obwohl beide Schichten, wie wir heute wissen, keineswegs so immun waren wie ursprünglich angenommen. Die Erklärungen, die im Schrittum anzutreffen sind, weichen mehr oder weniger stark von adäquaten Erklärungen ab. Je nach der Art der Abweichung unterscheidet man daher ungenaue, rudimentäre, partielle, skizzenhafte, fehlerhafte und unvollständige Erklärungen. Um ungenaue Erklärungen handelt es sich, wenn die in der Erklärung herangezogenen Ausdrücke in bezug auf die gestellte Aufgabe undeutlich,

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d.h. nicht klar genug sind. Von rudimentären Erklärungen spricht man, wenn die relevanten Daten oder Gesetze nicht oder nur unvollständig angegeben werden. Eine solche rudimentäre Erklärung liegt zum Beispiel dann vor, wenn man in Weil-Sätzen zwar Ursachen benennt, aber nicht die zur Erklärung benötigten Gesetze. Partielle Erklärungen liegen vor, wenn das zu erklärende Ereignis nicht in allen Aspekten, in denen es beschrieben wird, aus dem Explanans abgeleitet werden kann. Von Erklärungsskizzen spricht man, wenn die Erklärung in einem ungefähren Umriß besteht, mit nur vagen Hinweisen auf relevante Randbedingungen und Gesetze. Um unvollkommene Erklärungen handelt es sich, wenn in einer Erklärung versäumt wurde festzustellen, ob die relevanten Randbedingungen auch tatsächlich gegeben sind, wenn der Schluß vom Explanans auf das Explanandum nicht korrekt ist, wenn das Gesetz keinen oder nur einen geringen empirischen Gehalt hat und wenn ad hoc irgendwelche beobachtbaren Tatbestände als Randbedingungen genannt werden. Hilft bei ungenauen, rudimentären und unvollkommenen Erklärungen oft eine nachträgliche Präzisierung oder Vervollständigung weiter, so muß bei einer fehlerhaften Erklärung eine völlig neue Erklärung vorgeschlagen werden. Sind Politikwissenschaftler am Ablauf von Prozessen interessiert, so zerlegen sie den gesamten Ablauf in einzelne Abschnitte. Das kann in einem rein deskriptiven, aber auch in einem erklärenden Sinne geschehen. Begnügt man sich mit einer Schilderung der einzelnen Phasen, beschreibt man lediglich Ereignisse zu verschiedenen Zeitpunkten, ohne Antworten auf die Warum-Fragen zu liefern, so liegt ein rein deskriptives Interesse vor. Da Erklärungen oft wie Erzählungen vorgetragen werden, d.h. die Randbedingungen und benutzten Gesetzesmäßigkeiten nicht explizit angeführt werden, kann man unter Umständen jedoch allein aufgrund der Formulierungen nicht erkennen, ob ein solches rein deskriptives Interesse vorliegt oder ob nicht doch eine Erklärung beansprucht wird. Unterteilt man den gesamten Prozeß in einzelne Phasen und führt man in erklärender Absicht in den jeweiligen Abschnitten explizit Rahmenbedingungen und allgemeine erklärende Argumente ein, so daß die einzelnen Erklärungen eine Erklärungskette bilden, zeigt man ferner, daß ein bestimmtes Ereignis Endglied einer längeren Entwicklungsreihe ist, so spricht man von einer genetischen Erklärung. In historischen Darstellungen werden zum Beispiel in den einzelnen Erklärungsschritten jeweils neue, nicht weiter erklärte Informationen eingefügt, die dann mithelfen, das Ereignis auf der nächsten Stufe zu erklären. Zur Erklärung von Handlungen werden endlich oftmals sogenannte dispositionelle Motiverklärungen herangezogen. Will man etwa erklären, warum eine Person sich in einer bestimmten Weise verhalten hat, verweist man zunächst auf die Tatsache, daß sich die betreffende Person in einer durch gewisse Merkmale gekennzeichneten Situation befand und eine ganz bestimmte Dispositionsbereitschaft besessen habe. Sodann wird angenommen, daß Personen, die die betreffende Dispositionseigenschaft aufweisen, in Situationen der beschriebenen Art zu ganz bestimmten Reaktionen neigen, und daß aufgrund dieses Zusammenhangs das beobachtbare Verhalten der Person zu erwarten gewesen war.

4. Prognose Die Entwicklung von Prognosen gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Erfahrungswissenschaften. Mit dem Begriff der Prognose bezeichnet man Vorhersagen noch unbekannter Ereignisse auf der Basis bekannter Ausgangsbedingungen. Prognosen

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haben einen äußerst wichtigen praktischen Zweck: Sie verringern die Ungewißheit über das zukünftige Geschehen. Darüber hinaus spielen Prognosen eine wichtige Rolle bei der Überprüfung von Hypothesen und Theorien. Prognosen gelten dann als wissenschaftlich, wenn sie mit Hilfe von Gesetzen und Ausgangsbedingungen gewonnen werden. Wissenschaftliche Prognosen haben eine ähnliche Struktur wie wissenschaftliche Erklärungen. Bei einer Prognose sind die Hypothesen { G 1 ; . . . , G n } und die Randbedingungen { A 1 ; . . . , A n } gegeben; gesucht wird eine Aussage, die ein bisher unbekanntes Ereignis beschreibt. Der Unterschied zwischen Erklärungen und Prognosen ist daher ein eher pragmatischer, der in dem zu verfolgenden Zweck und den Anforderungen an die verwendeten Ausgangsbedingungen zu finden ist. Während man von einer Erklärung spricht, wenn der zu beschreibende Sachverhalt bereits stattgefunden hat und erst nachträglich die geeigneten Randbedingungen sowie gesetzesartigen Aussagen dazu sucht, aus denen zusammen das zu erklärende Ereignis ableitbar ist, spricht man von Prognosen, wenn die Anfangsbedingungen und Gesetze gegeben sind und aus diesen anschließend noch unbekannte Ereignisse abgeleitet werden. Ist also bei Erklärungen das Explanandum gegeben und das Explanans gesucht, so ist bei Prognosen das Explanans gegeben und das Explanandum gesucht. Ein wichtiger Unterschied zwischen einer Prognose und einer Erklärung besteht ferner darin, daß nicht alles, was für prognostische Zwecke benutzt werden kann, auch zu Erklärungszwecken verwendbar ist. Gelingt es einem Politikwissenschaftler, eine erfolgreiche Erklärung anzugeben, so liefert er damit immer auch eine potentielle Prognose. Erweist sich aber eine wissenschaftliche Prognose eines Politologen als zutreffend, so liefert er noch keine potentielle Erklärung. In den empirischen Wissenschaften hat man es in der Regel mit statistischen bzw. probabilistischen Prognosen zu tun. Als statistische Prognosen werden Voraussagen angesehen, in denen Wahrscheinlichkeitsgesetze zur Anwendung gelangen. Angenommen, ein Ereignis und ein Gesetz, das behauptet, bestimmte Ereignisse riefen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit andere Ereignisse hervor, seien gegeben. Dann kann aus rationalen Gründen mit einer angebbaren Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden, daß ein betreffendes Ereignis eintreten wird. Um aus einer Theorie eine Prognose abzuleiten, muß man also zuerst der Theorie eine hinreichende Menge von Aussagen über den Zustand des betreffenden Objektbereichs, d.h. über die von der Theorie als relevant erachteten Größen, hinzufügen. Man muß also zunächst die Werte der relevanten Variablen kennen. Ob Prognosen Erfolg haben, hängt davon ab, inwieweit es gelingt, die Ausgangssituation hinreichend genau zu beschreiben und inwieweit Störungen auftreten. Das Auftreten von Störungen kann dazu führen, daß ein vorausgesagtes Ereignis nicht eintritt. Aus diesem Grunde ist es notwendig, sich Klarheit darüber zu verschaffen, welche potentiellen Störungen nach dem Stand der Forschung in Frage kommen. Denn erst dann, wen man sich Klarheit über mögliche Störfaktoren verschafft hat, kann man sie auch in Prognosen mit berücksichtigen. Hierher gehört beispielsweise das Problem, daß Vorhersagen nicht selten das Vorhergesagte selbst bewirken oder zumindest beeinflussen können oder aber ihrer Realisierung entgegenwirken. Im ersten Fall spricht man von self-fulfilling prophecy, im zweiten von self-destroying prophecy. Kündet ein Politikwissenschaftler das Eintreten eines gewissen Ereignisses an, so kann dies nämlich das Verhalten bestimmter Personen derart beeinflussen, daß erst die Verhaltensänderung die Vorhersage bestätigt oder verhindert. Beispiele finden sich tagtäglich an der Börse. Aber auch einige der Prognosen von Karl Marx dürften u. a. deshalb nicht eingetreten sein, weil die Voraussage bestimmter Entwick-

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lungen (etwa der zunehmenden Verelendung immer breiterer Schichten) Kräfte mobilisiert hat (die Sozial- und Arbeitsgesetzgebung), die ihrem Eintreffen entgegenwirkten.

D. Die Geltung politikwissenschaftlicher Aussagensysteme 1. Begründungen Der Frage, wann Aussagen im politikwissenschaftlichen Schrifttum Gültigkeit beanspruchen können, kommt eine zentrale Bedeutung zu. Sie betrifft die Gründe, die Aussagen stützen, nicht dagegen die Frage, warum etwas eingetreten ist. Begründungen problematisieren, warum man glauben soll, daß das, was behauptet wird, mit den Tatsachen übereinstimmt. Nicht alles, was im Prinzip begründet werden kann, muß in einem Untersuchungszusammenhang auch begründet werden. Nicht begründet werden müssen z.B. Definitionen, Annahmen und Fragen. Begründet werden müssen dagegen als wahr behauptete Sätze über die Realität. Ein Politikwissenschaftler, der etwas über einen Objektbereich behauptet, schuldet hierfür eine Begründung. Begründet werden müssen zweitens auch Handlungsanweisungen, d. h. Sätze, in denen ausgesagt wird, eine festgelegte Personengruppe solle eine bestimmte Handlungsalternative wählen. Wie oben ausgeführt wurde, werden im politikwissenschaftlichen Schrifttum verschiedene Arten von Sätzen behauptet. Je nach Art der behaupteten Sätze wird die Begründung mehr oder weniger komplex. Nach der Art des Aufweises des behaupteten Sachverhalts unterscheidet man direkte und indirekte Begründungen. Die direkte Begründung einer Aussage besteht im Aufzeigen des behaupteten Sachverhalts. Die einfachste Methode besteht darin, daß man den in Frage stehenden Sachverhalt vorweist. So macht ein Politikforscher, der die Aktivitäten von Parteitagsdelegierten untersucht, von der direkten Begründung Gebrauch, wenn er anläßlich eines Parteitages in sein Protokll schreibt: „An dieser Parteiversammlung nehmen 200 Delegierte der Partei teil. Von diesen haben sich 46 zu Wort gemeldet". Diese Form der direkten Begründung ist relativ problemlos, und Personen, die die gleiche Sprache sprechen, werden relativ schnell Einigkeit in den betreffenden Fragen erzielen können. Das Zutreffen solcher Sätze kann durch sorgfältige Beobachtung nachgewiesen werden, denn jeder Beobachter kann ihre Wahrheit im Prinzip bestätigen oder verwerfen, vorausgesetzt: die Beobachter haben sich zuvor über die Sprachverwendung aufgrund eines theoretischen Konzeptes geeinigt. Besteht der Sachverhalt, so spricht man von einer Verifikation, besteht der Sachverhalt nicht, so spricht man von einer Falsifikation von Beobachtungssätzen. Letztendlich beruhen solche Raum-Zeit-Angaben auf Konventionen, sie werden per Beschluß anerkannt, indem die beteiligten Forscher einen fraglichen Basissatz für zuverlässig bzw. akzeptabel halten. Davon zu unterscheiden ist eine andere, immer noch häufig im politischen Schrifttum anzutreffende Form der direkten Begründung, in der die unmittelbare Einsicht behaupteter allgemeiner Aussagen postuliert wird: der sogenannte Evidenzbeweis. Es wird gesagt, eine Erkenntnis sei evident, wenn sie klar und deutlich, d.h. dem aufmerksamen Analytiker unmittelbar gegenwärtig sei. Dabei werden politische und soziale Phänomene per Intuition begriffen. In der empirischen Politikwissenschaft spielen sie in bezug auf die Geltung einer politikwissenschaftlichen Aussage nur eine

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untergeordnete Rolle, was nicht heißt, daß man nicht auch kraft Intuition zu wertvollen Hypothesen gelangen kann. Im Falle der indirekten Begründungen werden Begründungsmittel wie Zeugenaussagen, Dokumente, Experimente, Statistiken, Beobachtungen, Befragungen und Begründungsmethoden wie Diskurse oder allgemeine Denkmethoden wie die Deduktion, Reduktion und Induktion herangezogen. Ein Politikwissenschaftler, der politische Persönlichkeiten studiert, wird seine Darstellung u.a. auf Tagebücher, autobiographische Notizen, Briefe, persönliche Akten etc. aufbauen. Er muß sich dabei jedoch stets der Möglichkeit bewußt sein, daß derartige Quellen gefälscht sein können oder dort aufgestellte faktische Aussagen nicht den Tatsachen entsprechen. So weisen nach Auffassung von Zeitgeschichtlern die Memoiren des früheren Vorsitzenden der FDP, Erich Mende, ungewöhnlich viele faktische Fehler auf, dient das Spandauer Tagebuch Albert Speers stärker der moralischen Entlastung seines Verfassers als der historischen Wahrheitsfindung. Die Begründungsmittel stellen das Material bereit, das die Grundlage der Begründung abgibt. Hinzu treten die Begründungsmethoden, die man wiederum in zwei Klassen unterteilen kann, und zwar in die allgemeinen Begründungsmethoden und die speziellen Begründungs- und Überprüfungsmethoden der empirischen Politikwissenschaft, die zu den Methoden der empirischen Sozialforschung zählen. Die am weitesten verbreitete und älteste allgemeine Begründungsmethode ist die argumentativ-abwägende Methode. Sie vollzieht sich in der Regel in folgenden Schritten: Zunächst formuliert man das Problem einer Entscheidungsfrage oder stellt eine These auf. So könnte man fragen: „Ist die Politikwissenschaft eine Wissenschaft?" Dann stellt man alle Fakten zusammen, von denen angenommen wird, daß sie für die These sprechen. Danach zählt man alle Gründe und Fakten auf, die gegen die These sprechen. In dieser Phase sichtet man also das vorliegende Tatsachenmaterial. Nun wägt man die Argumente, die für und gegen die These sprechen, ab. Nach der Abwägung antwortet man auf die aufgeworfene Entscheidungsfrage, d.h. man fällt eine begründete Entscheidung. Endlich entkräftet man jene Argumente, die gegen die Problemlösung vorgebracht wurden. Dieses argumentativ-abwägende Verfahren liegt u.a. gerichtlichen Urteilsbegründungen zugrunde, wenn es um die Bemessung der Strafe geht. Aber auch in der Politikwissenschaft findet diese Methode weite Anwendung. Problematisch ist das Verfahren jedoch insofern, als diese Methode lediglich eine subjektive Gewißheit vermittelt. Hat man eine Entscheidung gefällt, so kann man nur sagen, daß man die vorgebrachten Argumente abgewogen und eine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen getroffen hat. Strenge Schlußfolgerungen können mittels eines derartigen Verfahrens nicht gezogen werden. Vielmehr wird man in argumentativ-abwägenden Begründungszusammenhängen zur Abstützung des Urteils und zur Untermauerung der herangezogenen Argumente von den allgemeinen Begründungsmethoden der Induktion, Reduktion, Deduktion und/oder spezieller empirischer Forschungsmethoden Gebrauch machen. Unter einer Deduktion versteht man eine Ableitung eines Satzes aus einem oder mehreren anderen Sätzen. Den abgeleiteten Satz nennt man die Konklusion, den Satz oder die Sätze, aus denen die Konklusion abgeleitet wird, die Prämisse(n). Eine Deduktion besteht folglich immer aus mindestens zwei Aussagen. Sie besagt, daß man, wenn die Prämissen richtig sind, mit Sicherheit darauf schließen kann, daß auch die Konklusion ein sicher behaupteter Satz ist. Als Prämisse dient meist ein Axiom, eine allgemeine wissenschaftliche Verfahrensregel, ein allgemein akzeptierter Satz der Politikwissenschaft oder ein ethisches Prinzip. In einem konkreten Begründungs-

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Zusammenhang stellt die zur Anwendung kommende Prämisse einen Satz dar, dessen Wahrheit bereits belegt, dessen Akzeptanz zum Zwecke der Untersuchung unterstellt oder per Konvention eingeführt wird. So geht die ökonomische Theorie der Demokratie von der Prämisse aus, daß sich Personen rational verhalten, d.h. daß die Individuen entsprechend ihren Präferenzen die von ihnen wahrgenommenen Handlungsalternativen bewerten und schließlich diejenige Handlungsalternative wählen, die ihren eigenen Präferenzen am ehesten entspricht. Wenn diese Prämisse zutrifft, dann folgt daraus mit Notwendigkeit, daß sich auch die Wähler oder die Mitglieder von Parteien in diesem Sinne rational verhalten. Gültig ist eine derartige Deduktion genau dann, wenn die Behauptung der Prämisse bzw. Prämissen und die Verneinung der Konklusion einen Selbstwiderspruch ergibt. Ob eine Deduktion gültig ist, beruht folglich einzig auf der logischen Beziehung zwischen den Prämissen und der Konklusion. Davon strikt zu unterscheiden ist die faktische Gültigkeit der Prämissen und der Konklusion. Auch eine Deduktion mit empirisch unzutreffenden Prämissen und falscher Konklusion ist gültig, wie das folgende Beispiel zeigt: Alle Politologen sind Politiker. Alle Politiker fahren Fahrrad Alle Politologen fahren Fahrrad. Würde man die Prämissen behaupten und die Konklusion verneinen, widerspräche man sich nämlich selbst. Wenn aber die Prämissen wahr sind, dann folgt daraus mit Notwendigkeit, daß auch die Konklusion wahr ist. Ein Politikwissenschaftler, der bestimmte Prämissen behauptet, behauptet damit immer auch all ihre Konklusionen. Man sagt daher, daß die Deduktion eine Methode ist, die die Wahrheit der Prämissen auf die der Konklusionen überträgt. Eine äußerst wichtige Eigenschaft gültiger Deduktionen ist die der Rücküberführung der Falschheit. Erweist sich eine Konklusion als empirisch falsch, so muß eine der Prämissen ebenfalls falsch sein, ein Sachverhalt, der bei der Überprüfung von Hypothesen eine herausragende Rolle spielt. Die Methode der Deduktion stellt aufgrund der genannten Merkmale eine äußerst wichtige Methode der Kritik dar. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen. Eine zentrale Hypothese der Partizipationsforschung lautet: „Je stärker eine Person durch ihre berufliche Tätigkeit zeitlich in Anspruch genommen wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich an Protesten beteiligt". Diese Aussage kann umformuliert werden in die Aussage: „Wenn eine Person beruflich stark in Anspruch genommen wird, dann beteiligt sie sich nicht an Protesten". Dieser Satz stellt eine allgemeine sozialwissenschaftliche Gesetzesaussage dar. Aus der Gesetzesaussage „Wenn eine Person beruflich stark in Anspruch genommen wird, dann beteiligt sie sich nicht an Protesten" und der Beobachtung „Albrecht Schultz ist durch seine berufliche Tätigkeit zeitlich stark in Anspruch genommen" läßt sich die Voraussage begründen: „Albrecht Schultz wird sich nicht an der kommenden Protestaktion beteiligen". Bei der Deduktion darf das allgemeine Gesetz bzw. die gesetzesartige Aussage nicht problematisch sein. So muß sich beispielsweise die Aussage „Wenn eine Person beruflich stark in Anspruch genommen wird, dann beteiligt sie sich nicht an Protesten" bewährt haben. Bei Begründungen entscheidend ist, ob der Satz, der die WennKomponente beschreibt, gesichert ist, ob also z.B. die starke berufliche Inanspruchnahme einwandfrei beobachtet ist. Um dies festzustellen, werden die speziellen Methoden der empirischen Politikwissenschaft angewandt. Eine andere häufig im politikwissenschaftlichen Schrifttum anzutreffende Art der

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Begründung ist die Reduktion. Bei der Reduktion kennt man ein empirisches Gesetz und einen weiteren Satz, der einen beobachteten Sachverhalt der Dann-Komponente eines Wenn-Dann-Satzes beschreibt. Aus der Kenntnis dieser beiden Sätze schließt man dann auf einen Satz, der die Wenn-Komponente des betreffenden Wenn-DannSatzes beschreibt. So ließe sich aufgrund der Sätze „Wenn Personen sozial benachteiligt sind, dann beteiligen sie sich an Protestaktionen" und „Personen beteiligen sich an einer Protestaktion" behaupten: „Die Personen sind sozial benachteiligt". In genau dieser Art und Weise gehen z.B. viele Untersuchungen sozialer Bewegungen vor. Besonders häufig ist diese Art der Begründung in historischen Arbeiten anzutreffen. Allerdings handelt es sich bei Begründungen dieser Art um kein allgemeingültiges Verfahren, da die behauptete Folgerung alles andere als zwingend ist, denn natürlich kann das Protestverhalten der betreffenden Personen auch durch ganz andere Faktoren hervorgerufen worden sein. Bei der Induktion handelt es sich um ein Begründungsverfahren, in dem man von beobachteten Einzelfällen auf generelle Aussagen schließt. Die für die Sozialwissenschaften bedeutendste Form der Induktion ist die sogenannte unvollständige Induktion, bei der die induktiv gewonnene Konklusion über die Prämissen hinausgeht. Man unterscheidet zwei Formen der unvollständigen Induktion: die induktive Verallgemeinerung und die voraussagende Induktion. Bei der induktiven Verallgemeinerung schließt man von einer Teilmenge auf eine Gesamtmenge. Zunächst wird behauptet, daß für alle Elemente einer Teilmenge eine gewisse Eigenschaft zutrifft. Sätze, die den Objekten diese Eigenschaften zuordnen, fungieren als Prämissen. Dann wird behauptet, diese Eigenschaft treffe für alle Elemente in der Gesamtmenge zu. Durch Beobachtung wird nun festgestellt, daß in der Tat für alle Elemente der Teilmenge eine bestimmte Eigenschaft zutrifft, woraus dann geschlossen wird, daß alle Fälle der Gesamtmenge diese Eigenschaft besitzen. a, hat die Eigenschaft E

Ea,

ai hat die Eigenschaft E

Ea t

a n hat die Eigenschaft E

Ea n

Alle a haben die Eigenschaft E Bei der voraussagenden Induktion schließt man von einer Teilmenge auf eine andere Teilmenge. In den Prämissen behauptet man zunächst, alle Elemente einer Teilmenge wiesen eine gewisse Eigenschaft auf. Man behauptet sodann die Konklusion: Auch alle Elemente einer in Frage kommenden anderen Teilmenge wiesen diese Eigenschaft auf. Ein Politikwissenschaftler macht von der voraussagenden Induktion also dann Gebrauch, wenn er die Eigenschaften, die er den beobachteten Fällen zuschreibt, auf eine ganz bestimmte Menge von unbeobachteten Fällen überträgt. Die voraussagende Induktion stellt eine Abschwächung der induktiven Verallgemeinerung dar. Statt von endlich vielen beobachteten Fällen auf ein allgemeines Gesetz schließt man lediglich auf die nächsten beobachteten Fälle. Dieser induktive Schluß scheint weniger riskant als der erste. Ein Beispiel für eine voraussagende Induktion ist folgende: Ein Wahlforscher beobachtet, daß Katholiken in Westfalen und in Baden viel eher dazu neigen, CDU zu wählen als SPD. Anschließend schließt er aus dieser Beobachtung, daß auch die Katholiken in Hessen zur CDU tendieren. Eine große Anzahl der Sätze über politische Zusammenhänge ist durch das

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Verfahren der Induktion begründet. Damit sind jedoch erhebliche Probleme verbunden, die u.a. mit der Auswahl der Fälle und möglichen störenden Nebeneinflüssen zusammenhängen können. Darüber hinaus liegt der Induktion ein Gesetz zugrunde, welches besagt, daß gleiche Umstände gleiche Wirkungen hervorrufen. Ohne dieses von allen Politikwissenschaftlern unterstellte Axiom könnte man keine Forschung betreiben, kein Verhalten voraussagen und keine praktischen Ratschläge geben. Bereits David Hume hat darauf hingewiesen, daß man zwar mittels induktiver Verfahren keine gesicherten Erkenntnisse erlangen kann; die mit Hilfe dieser Verfahren gewonnenen Erkenntnisse stellen aber seiner Auffassung nach dennoch das Beste dar, was man erreichen kann, um sich im Leben zu orientieren. Selbstverständlich kann man nicht die Schlußfolgerung ziehen, alle Politiker seien Lügner, nur weil man einen Politiker der Lüge überführt hat. Eine notwendige Bedingung jeder induktiven Verallgemeinerung ist, daß genügend unabhängige Beobachtungen gemacht worden sein müssen, bevor eine Verallgemeinerung gerechtfertigt ist. Andernfalls handelt es sich bloß um voreilige Schlüsse. Eine Möglichkeit, die Zahl der Beobachtungen zu erhöhen, könnte im genannten Beispiel darin bestehen, Politiker über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Aber dennoch würde eine Anzahl derartiger Beobachtungen eine unbefriedigende Grundlage für eine Verallgemeinerung bieten. Es ist notwendig, verschiedene Politiker unter einer Vielzahl von Bedingungen zu beobachten. Erst dann, wenn sich herausstellen sollte, daß sämtliche Politiker aller Parteien unter allen Bedingungen lügen, ist es gerechtfertigt, aus der Menge der Beobachtungsaussagen ein allgemeines Gesetz zu generalisieren. Lügt jedoch ein bestimmter Politiker in einer bestimmten Situation nicht, ist die Verallgemeinerung ungerechtfertigt. Induktive Begründungen heißen auch unvollständige Begründungen, da sie in gewisser Hinsicht lediglich einen Sachverhalt plausibel machen. Immer aber nimmt man dabei auf Wahrscheinlichkeitsgesetze Bezug, ohne die auch plausible Begründungen nicht möglich sind.

2. Die Theorieabhängigkeit der Wahrnehmung Induktion und Deduktion sind Verfahren, die in verschiedenen Begründungszusammenhängen ihre Berechtigung haben. Beide Verfahren liefern gleichwohl keine sicheren Erkenntnisse. Die Deduktion muß irgendwelche letzten Annahmen als bereits begründet voraussetzen, während die Induktion die Geltung des Induktionsprinzips voraussetzt. Nach induktivistischer Auffassung sollen Politikwissenschaftler mit gesundem Menschenverstand das, was sie wahrnehmen, gewissenhaft berichten und auf dieser Grundlage Theorien bilden. Dieser Sichtweise zufolge stellen singulare Sätze reine Beschreibungen dar, die unabhängig von anderen Sätzen wahr oder falsch sind. Stellt man fest, daß ein singulärer Satz einer Theorie widerspricht, müsse man die Theorie preisgeben, den singulären Satz jedoch beibehalten. Diese phänomenalistische, von den Erscheinungen der Dinge ausgehende Position hat sich als unhaltbar erwiesen, denn einerseits sind Sinneswahrnehmungen Ergebnis von gesteuerten Abstraktionsleistungen, die immer schon Klassennamen und theoretische Begriffe voraussetzen, andererseits sind auch alle Wahrnehmungserlebnisse hypothetisch. Was ein Mensch wahrnimmt, hängt zu einem Teil von seinen früheren Erfahrungen, seinem Wissen und seinen Erwartungen ab. Einer Beobachtungsaussage geht folglich immer irgendeine Theorie voraus, und sie wird immer in der Sprache einer Theorie abgefaßt. Als Konsequenz sind Beobachtungsaussagen genauso fehlbar wie Theorien. Der einfache Satz „Albrecht Schultz beteiligt sich an einer Protestaktion" setzt

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z.B. die Existenz von so etwas wie Protestaktionen voraus. Man kann daher einen entsprechenden Beobachtungssatz nur protokollieren, wenn man weiß, was eine Protestaktion ist und über eine Theorie verfügt, die bestimmte äußerliche Erscheinungen mit theoretischen Begriffen verbindet. Da man aber in verschiedenen Theorien des Protestes unter Protest etwas völlig Unterschiedliches verstehen kann, ist die Entscheidung darüber, ob eine Protesthandlung vorgelegen hat, nur bezüglich einer explizierten Theorie des Protests nachprüfbar. Ansonsten hat die Beobachtung wissenschaftlich keinerlei Bedeutung. Beobachtungsaussagen werden also in der Sprache einer Theorie formuliert; sie sind nur so genau wie das begriffliche Gerüst dieser Theorie. Um genau beobachten zu können, benötigt man eindeutig formulierte Theorien. Den Ausgangspunkt von Wissenschaft können Beobachtungsaussagen mithin nicht bilden. Dennoch spielen sie eine bedeutende Rolle in der Wissenschaft. Will man beispielsweise Aussagen über Intentionen von Personen überprüfen, so kann man dies nur, wenn man die Begriffe auf Tatbestände zurückführt, die der Beobachtbarkeit näherstehen. Man wird solche beobachtbaren Tatbestände finden müssen, die mit den Intentionen verbunden sind, d.h. mit ihnen korrelieren oder von ihnen verursacht sind. Nimmt man eine derartige Zuschreibung von beobachtbaren Tatbeständen zu Intentionen vor, benötigt man theoretische Annahmen, die die beobachtbaren Tatbestände mit den Intentionen in Beziehung setzen. Diese theoretischen Annahmen müssen selbst wieder überprüfbar sein. Hinzu kommt, daß sich auf Sinneswahrnehmungen gestützte Auffassungen immer wieder als falsch erweisen können. Ein und derselbe Beobachter mag je nach Verfassung unterschiedliche Beobachtungen machen, verschiedene Beobachter mögen zu voneinander abweichenden Ergebnissen kommen. Spätestens seit Popper ist anerkannt, daß es vorurteilslose Wahrnehmungen nicht gibt. Wahrnehmungen sind immer mehr oder minder theoriegeprägt. Man sagt auch: Beobachtungen sind theoretisch imprägniert, d.h. mit Theorie beladen. Erstens zeichnen die theoretischen Vorannahmen das aus, wonach zu suchen ist. Zweitens wird das Beobachtete in der Sprache von Theorien erfaßt. Drittens gibt es keine nur passiv aufzunehmenden Daten. Die Daten werden immer im Lichte theoretischer Annahmen interpretiert. Die Idee des naiven Positivismus, daß theoretisch neutrale Beobachtungen das Fundament der Theoriebildung abgeben würden, hat sich als unhaltbar erwiesen. Als Konsequenz werden solche Beobachtungen eher registriert, welche die von einer Person bevorzugte Theorie begünstigen. Aufgrund dieser mittlerweile anerkannten Tatsache hat Popper eine Alternative vorgeschlagen, deren Hauptgesichtspunkt es ist, nicht ständig nach Beobachtungen Ausschau zu halten, die die theoretischen Aussagensysteme stützen, sondern nach solchen Beobachtungen zu suchen, die in der Lage sind, die von den Menschen konstruierten theoretischen Systeme zum Einsturz zu bringen. Nur wenn man die Aussagen der Politikwissenschaft ständig der Kritik aussetzt, erfährt man etwas über deren Haltbarkeit, kann man Irrtümer korrigieren.

3. Die Überprüfung empirischer Hypothesen Eine praktische Folgerung aus den genannten Problemen ist die Empfehlung, nicht mehr möglichst viele Gründe zugunsten einer Hypothese zu suchen, sondern theoretische Aussagen immer wieder möglichst strengen Tests zu unterziehen. Überprüft werden können aber nur solche Aussagensysteme, aus denen beobachtungssprachlich formulierte Folgerungen abgeleitet werden können. Sonst können diese weder

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bestätigt noch überprüft werden. Alle empirischen Hypothesen müssen zumindest prinzipiell mit der Erfahrung konfrontiert werden können; die Erfahrung muß sie stützen oder erschüttern. Hypothesen, die sich gegenüber allen möglichen Beobachtungen indifferent verhalten, sagen nichts über Tatsachen aus. Man kann eine deterministisch formulierte Aussage oder eine Theorie über die politische Wirklichkeit überprüfen, indem man aus den theoretischen Aussagen Beobachtungssätze ableitet und anschließend mittels geeigneter Verfahren feststellt, ob diese Sätze zutreffen. Erweisen sich die abgeleiteten Beobachtungssätze (Prognosen) als wahr, gilt das theoretische System als bewährt oder vorläufig bestätigt. Sind die Beobachtungssätze falsch, gilt das Aussagensystem als vorläufig falsifiziert. Eine Theorie gilt dann als bewährt, wenn sie zahlreichen strengen Widerlegungsversuchen standgehalten hat. Haben sich die Prognosen bewährt, so muß das nicht unbedingt auch in Zukunft so sein. Bei derartigen Überprüfungen nimmt man nicht selten auf bereits als wahr akzeptierte Beobachtungssätze oder auf akzeptierte andere Theorien Bezug. Man stellt also fest, ob sich gewisse Sätze hinsichtlich des einschlägigen Hintergrundwissens bewähren. Eine weitere Möglichkeit der Prüfung theoretischer Aussagensysteme besteht in der Konfrontation mit alternativen Theorien. Man kann z.B. feststellen, ob zentrale theoretische Aussagen von zwei oder mehr Theorien über denselben Objektbereich sich logisch widersprechen. Dies würde die Behauptung der einen Theorie zur Negation der anderen Theorie machen, denn beide Theorien können nicht gleichzeitig wahr (wohl aber gleichzeitig falsch) sein. Aus diesem Grund ist eine Theorie immer auch eine kritische Instanz einer anderen Theorie. Widersprechen sich die Aussagen zweier Theorien nicht, so bedeutet das andererseits nicht, daß die beiden Theorien auch wahr sind. Schließlich kann man Theorien überprüfen, indem man nach internen Widersprüchen Ausschau hält. Theorien, die widersprüchliche Aussagen enthalten, informieren nicht über die Realität. In einem derartigen Fall ist mindestens eine zentrale Aussage der Theorie falsch, die man dann eventuell eliminieren oder modifizieren muß. Enthält das Aussagensystem keinen logischen Widerspruch, so folgt daraus noch keine Übereinstimmung mit den Tatsachen. Widerspruchsfreiheit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung einer zutreffenden empirischen Theorie. Erst eine Ergänzung der logischen Kritik durch eine faktische kann letztlich eine Entscheidung darüber herbeiführen, ob eine empirische politische Theorie den Tatsachen entspricht. Aber auch eine Konfrontation mit den Daten ermöglicht keine endgültige Entscheidung, da auch in eine faktische Überprüfung einer empirischen Theorie theoretische Vorannahmen einfließen. Immer werden bei der Entscheidung über die Ablehnung oder die Annahme von Beobachtungssätzen Hintergrundtheorien herangezogen, die sich ihrerseits als falsch erweisen können. Alle Entscheidungen darüber, ob eine Aussage als wahr oder als falsch anzusehen ist, sind daher als vorläufig anzusehen, weil sie prinzipiell revidierbar sind. Da selbst Beobachtungsaussagen hypothetisch sind, weil zu deren Gewinnung immer schon generelle und singulare Aussagen herangezogen werden, wird die methodologische Forderung erhoben, diese angewendeten Hilfstheorien zu explizieren. Auch wenn man keine endgültige Entscheidung über die Güte eines theoretischen Aussagensystems herbeiführen kann, stellt sich doch die Frage, wie zwischen zwei Theorien zu entscheiden ist. Liegen mehrere Theorien zum gleichen Objektbereich vor, wird man sich fragen, welche davon sich besser bewährt hat. Bewähren können sich politologische Gegenstandstheorien aber nur, wenn sie Prüfungen ausgesetzt

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werden. Um festzustellen, welche von zwei alternativen Gegenstandstheorien leistungsfähiger ist, kann man festzustellen versuchen, welche Erfolge und welche Mißerfolge eine Theorie vorzuweisen hat. Politikwissenschaftler, die ernsthaft daran interessiert sind, herauszufinden, welche der zu einem Gegenstandsbereich vorliegenden Theorien leistungsfähiger sind, werden also versuchen, die Leistungsfähigkeit der Konkurrenten zu ermitteln. Eine Theorie kann sich bewähren, indem sie befriedigende Erklärungen und richtige Prognosen erlaubt. Zieht man eine Theorie zu Erklärungszwecken heran, so kann sie scheitern, weil sie das fragliche Ereignis nicht zu erklären vermag. Unter Umständen wird bei einem Erklärungsversuch ein Faktum abgeleitet, das dem zu erklärenden Ereignis widerspricht. Oder sie ist zu überhaupt keiner Antwort auf die Frage in der Lage, obwohl sie für die Erklärung dieser Art von Ereignissen zuständig ist. Bei Prognosen kann eine Theorie insofern scheitern, als ein aus der Theorie abgeleiteter • noch unbekannter Satz sich als unzutreffend erweist.

4. Zur Begründung von Norm- und Wertsätzen Fragt man nach der Begründung von normativen Sätzen, ist es sinnvoll, drei Sachverhalte zu trennen. Insoweit Sätze über den Zustand eines Normen- oder Wertesystems berichten, also die Existenz von bestimmten Regeln behaupten, können sie mit erfahrungswissenschaftlichen Mitteln begründet werden. So gilt z. B. in der Bundesrepublik Deutschland der normative Satz „Es ist geboten, im Straßenverkehr rechts zu fahren", in England aber der normative Satz „Es ist geboten, im Straßenverkehr links zu fahren". Von der empirischen Untersuchung von Normensystemen ist die Aufstellung von normativen Sätzen zu unterscheiden. Spricht man Gebote oder Verbote aus, so setzt man stillschweigend schon die Geltung allgemeiner Normen als Axiome voraus. Zu begründen ist dann, ob die normativen Sätze in dem entsprechenden theoretischen System gelten oder nicht. In diesem Fall führt man die zu begründenden normativen Sätze auf empirische Sätze und logische Operationen zurück. Die empirischen Sätze sollen dabei die näheren Umstände beschreiben und eine Antwort darauf geben, welche Konsequenzen und Nebenwirkungen die Umsetzung der Normen unter den beschriebenen Umständen wahrscheinlich haben wird. Außerdem wird man die Frage zu beantworten versuchen, ob die Realisierung der Verhaltensregeln bezüglich der höheren, vorausgesetzten Normen erwünscht ist. Hier gehen zwar auch empirische Sätze in die Begründung mit ein, doch wird immer schon eine höhere, mit den Methoden der empirischen Wissenschaften nicht zu begründende Norm vorausgesetzt. Nur durch empirische Sätze lassen sich Aussagen über die Geltung unbedingter Gebote, Verbote und Erlaubnisse nicht begründen. Letztendlich ist immer eine Entscheidung darüber zu fällen, ob ein Zustand gewollt oder nicht gewollt ist. Normen können daher niemals als wahr oder falsch, jedoch unter den gegebenen Prämissen als den höherrangigen Zielen entsprechend oder nicht entsprechend charakterisiert werden. Normative Sätze, die derartig begründet werden, besitzen eine nur relative Geltung, da sie allein in bezug auf die entsprechenden normativen Axiome begründet sind. In der Jurisprudenz z.B. sucht man zunächst ein geltendes Gesetz, unter das der zu behandelnde Sachverhalt subsumiert werden kann. Diese Rechtsnorm fungiert im Begründungszusammenhang als Axiom, stellt bestimmte Voraussetzungen a, b, . . . , n auf und knüpft an das Vorliegen dieser empirischen Tatbestände eine Rechtsfolge. Man schließt von einer allgemeinen Regel auf einen Einzelfall, macht also von dem allgemeinen Denkverfahren der Deduktion

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Gebrauch, um eine konkrete Handlungsanweisung zu begründen. Dabei handelt es sich um kraft staatlicher Anordnung geltende Rechtsnormen. Auch Politologen, die einen wertenden Satz aufstellen, erheben einen Anspruch darauf, daß der Wertsatz rational begründbar ist. Wer den Satz anzweifelt, der kann in eine Diskussion (Diskurs) eintreten und seine Argumente gegen den wertenden Satz einbringen. Die Frage, die sich dann stellt, ist die, ob es Kriterien gibt, die gültige von ungültigen Argumenten unterscheiden. So kann beispielsweise derjenige, der ein wertendes Urteil wie zum Beispiel „Der Politiker A hat schlecht gehandelt" äußert, einen Grund und eine Regel anführen, aus der das Urteil logisch folgt. In dem genannten Fall könnte als Grund der Satz „Der Politiker A hat gelogen" und die Regel „Lügen ist schlecht" angeführt werden. Akzeptiert man die Regel und ist erwiesen, daß der Politiker gelogen hat, so zwingt dies dazu, den wertenden Satz „Politiker A hat schlecht gehandelt" als gültig anzuerkennen. Zweifelt man dessen Gültigkeit an, so kann man entweder die Gültigkeit des Grundes oder der Regel abstreiten. Wird nun die Regel „Lügen ist schlecht" angegriffen, so muß man Argumente vorbringen, die diese Regel rechtfertigen. In rationalen Argumentationen wird man dann z. B. derart vorgehen können, daß man auf negative Konsequenzen hinweist, die eintreten würden, wenn man Lügen nicht negativ beurteilen würde. Bei diesem Schritt wird wiederum von einer Regel Gebrauch gemacht, nämlich von einer Regel, die sagt, daß die entsprechenden Konsequenzen als „schlecht" anzusehen sind. Da natürlich auch hier wieder die Geltungsfrage gestellt werden kann, scheint ein infiniter Regreß unausweichlich. Vermieden werden kann ein infiniter Regreß nur dadurch, daß die Begründung irgendwo abgebrochen und durch einen Beschluß ersetzt wird. Während die einen eine derartige Situation als ausweglos bezeichnen, schlagen andere zu deren Rettung sogenannte pragmatische Regeln des Diskurses vor, deren Einhaltung zwar keine endgültige Gewißheit, aber doch ein vernünftiges Ergebnis gewährleisten soll. Um einzelne normative Sätze unmittelbar zu begründen, gibt es also mindestens zwei Möglichkeiten: entweder man begründet sie durch Unterordnung unter eine allgemein akzeptierte Regel oder durch Aufzeigen negativer Handlungsfolgen. Vorausgesetzt ist immer, daß ein bestimmter Zustand, der den Anlaß zur Anwendung der Regel oder des Aufzeigens von Handlungsfolgen gibt, tatsächlich gegeben ist. Ob er gegeben ist und ob die Handlungsfolgen tatsächlich unter den entsprechenden Bedingungen zu erwarten sind, ist Gegenstand der ErfahrungsWissenschaft. Derjenige, der in gewissen Situationen auf zu erwartende Folgen aufmerksam macht, setzt weiterhin eine Regel voraus, wonach die zu erwartenden Folgen als „gut" oder „schlecht" zu beurteilen sind. Die Regel selbst kann gerechtfertigt werden, indem man die Folgen der Regel aufweist. In Begründungen von Norm- und Wertsätzen in der Politikwissenschaft geht es meistens um relative Geltungsfragen, also um Begründungen von normativen Sätzen auf der Basis nicht hinterfragter Normen- oder Wertesysteme. Damit bleibt die Begründung der letzten Werte, die des Normen- und Wertsystems selbst relevant. Die dritte Frage der Begründung von Norm- und Wertsätzen betrifft schließlich die generellen ethischen Grundprinzipien. Auf die Begründbarkeit derartiger normativer Sätze zielen die ethischen Theorien ab, die den Gegenstand der Moralphilosophie bzw. praktischen Philosophie bilden. Eine Leitfrage der praktischen Philosophie ist z. B. die Frage nach dem moralisch richtigen bzw. guten Tun. Ob eine Handlung als gut angesehen werden muß, bemißt sich in teleologischen an dem Wert der Resultate von Handlungen, in deontologischen an dem Wert der Handlungsweise selbst und in

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intensionalistischen ethischen Theorien an dem Wert der Absicht, die dem Tun zugrunde liegt. Die verschiedenen ethischen Theorien bergen jedoch noch viele ungelöste Probleme. In der Politikwissenschaft sind sie darüber hinaus bisher kaum aufgearbeitet worden.

Literatur Als Einführungen in die Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften sind zu empfehlen: Karl Acham, Philosophie der Sozialwissenschaften, Freiburg und München 1983; Bernard P. Cohen, Developing Sociological Knowledge: Theory and Method, Englewood Cliffs, N. J., 1980; Hartmut Esser, Klaus Klenovits und Helmut Zehnpfennig, Wissenschaftstheorie, Band 1: Grundlagen und Analytische Wissenschaftsteorie, Bd. 2: Funktionalismus und hermeneutisch-dialektische Ansätze, Stuttgart 1977; Karl-Dieter Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften. Einführung in Probleme ihrer Theoriebildung, erweit. Neuaufl., Reinbek 1976; und Alan Ryan, Die Philosophie der Sozial Wissenschaften, München 1973. Einige der hier angesprochenen Aspekte behandeln auch Oscar W. Gabriel, Methodologie der Politikwissenschaft, in: ders., Grundkurs Politische Theorie, Köln und Wien 1978; Hans Kammler, Logik der Politikwissenschaft, Wiesbaden 1976; Norbert Konegen und Klaus Sondergeld, Wissenschaftstheorie für Sozialwissenschaftler. Eine problemorientierte Einführung, Opladen 1985 sowie Dieter Ruloff, Geschichtsforschung und Sozialwissenschaft. Eine vergleichende Untersuchung zur Wissenschafts- und Forschungskonzeption in Historie und Politologie, München 1984. Aus der Perspektive des Konstruktivismus führt Oswald Schwemmer, Handlung und Struktur. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 1987, in die Thematik ein. Sehr gute Überblicke über die allgemeinen wissenschaftlichen Denkmethoden geben Albert Menne, Einführung in die Methodologie. Elementare allgemeine wissenschaftliche Denkmethoden im Überblick, Darmstadt 1980; und Joseph M. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 8. Aufl., München 1980. Das Standardwerk der modernen Wissenschaftslehre ist Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, wichtig sind insbesondere Bd. 1: Erklärung, Begründung, Kausalität, 2., verbesserte Aufl., Berlin u.a. 1983, und Bd. 2: Theorie und Erfahrung, 1. Halbband: Begriffsformen, Wissenschaftssprache, empirische Signifikanz und theoretische Begriffe, Berlin u. a. 1974. Eine ausgezeichnete Darstellung ist ferner Franz von Kutschera, Wissenschaftstheorie. Grundzüge der allgemeinen Methodologie der empirischen Wissenschaften, 2 Bde, München 1972. Das Standardwerk zur Begriffsbildung ist Carl G. Hempel, Grundzüge der Begriffsbildung in den empirischen Wissenschaften, Düsseldorf 1974. Probleme sozialwissenschaftlicher Erklärungen werden diskutiert in: Bernhard Giesen und Michael Schmid (Hrsg.), Theorie, Handeln und Geschichte. Erklärungsprobleme in den Sozialwissenschaften, Hamburg 1975. Die Bedeutung der Formalisierung von Theorien betonen u. a. Hubert M. Blalock, Theory construction. From verbal to mathematical formulation, Englewood Cliffs, N.J., 1969; und Rolf Ziegler, Theorie und Modell. Der Beitrag der Formalisierung zur soziologischen Theoriebildung, München und Wien 1972. Qualitätsmerkmale von empirischen Theorien werden herausgearbeitet von Klaus Pähler, Qualitätsmerkmale wissenschaftlicher Theorien. Zur Logik und Ökonomie der Forschung, Tübingen 1986. Eine ausführliche Diskussion der Kriterien zur Beurteilung von empirischen Theorien findet sich ferner in dem von Gerard Radnitzky und Gunnar Andersson herausgegebenen Band Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft, Tübingen 1980. Über die Theoriedebatte in der Soziologie der 70er Jahre informieren die Beiträge in Karl Otto Hondrich und Joachim Matthes (Hrsg.), Probleme des Theorienvergleichs, Neuwied und Darmstadt 1978. Daß Beobachtungen und Beobachtungsaussagen theorieabhängig sind, wird besonders unterstrichen in den Schriften von Popper und Feyerabend: Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, 4., verb. u. erw. Aufl., Hamburg 1984; PaulK. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main 1986, Kp. 6u. 7. In die Logik der Normen führt Franz von Kutschera, Einführung in die Logik der Normen, Werte und

116 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre Entscheidungen, Freiburg und München 1973, ein. Von dem gleichen Autor stammt eine ausgezeichnete Diskussion ethischer Theorien: Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, Berlin und New York 1982. Ein Beispiel für eine ausgezeichnete Arbeit auf dem Gebiet der politischen Philosophie ist John Rawls, ATheory of Justice, Cambridge, Mass., 1971 (deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975).

V. Spezielle Methoden der empirischen Politikwissenschaft A. Sozialwissenschaftliche Messungen Eine der Hauptforderungen an jedes empirische Aussagensystem ist, wie mehrfach betont, seine Überprüfbarkeit. Inwieweit Theorien tatsächlich überprüfbar sind, hängt zu einem großen Teil von ihren zentralen Begriffen ab. Um entscheiden zu können, ob und in welchem Maße ein begrifflich intendierter Sachverhalt in der Realität vorliegt, muß hinreichend klar sein, welche Operationen notwendig sind, um die notwendige empirische Überprüfung durchzuführen. Die Angabe dieser Operationen heißt Operationalisierung. Im Zusammenhang mit der Begriffsbildung ist daraufhingewiesen worden, daß einige Begriffe nicht direkt mit Beobachtungsdaten konfrontiert werden können. In derartigen Fällen ist eine Überprüfung nur möglich, wenn man zuerst mittels einer semantischen Analyse den Bedeutungsgehalt der zentralen Begriffe feststellt. Man wird die theoretischen Konstrukte darauf hin analysieren, welche Eigenschaften den Objekten zukommen, die unter den entsprechenden Begriff fallen. So setzt sich beispielsweise der Begriff Lebensqualität u. a. aus den folgenden Dimensionen bzw. Teilaspekten zusammen: Umweltqualität, Wohnumwelt, Wohnung, Konsummöglichkeit, Freizeit, Berufs-, Arbeits- und Familiensituation. Erst wenn man Informationen über diese Aspekte gesammelt hat, läßt sich ein Urteil darüber abgeben, in welchem Maße Lebensqualität vorliegt. Da auch diese Teilaspekte des Begriffs immer noch Konstrukte darstellen, wird man in einem nächsten Operationalisierungsschritt deren Dimensionen, etwa der Umweltqualität, herausarbeiten müssen etc. Bei fast allen politikwissenschaftlich relevanten Begriffen handelt es sich um theoretische Konstrukte. Das Problem besteht in der Rechtfertigung der Zuordnung eines Indikators zu dem jeweiligen theoretischen Begriff. Je nach Problemlösung unterscheidet man definitorische, korrelative und schlußfolgernde Indikatoren. Im Falle sogenannter definitorischer Indikatoren definiert die Meßanweisung den theoretischen Begriff. Beispielsweise wird in vielen Untersuchungen Bildung als höchster Schulabschluß definiert. Der Schulabschluß selbst kann dann durch Befragung oder Beobachtung festgestellt werden. Bei den sogenannten korrelativen Indikatoren mißt man etwas anderes als das vom theoretischen Begriff bezeichnete, nimmt aber an, daß das, was man mißt, in einem engen Zusammenhang mit dem eigentlich zu messenden Sachverhalt steht. So wird in vielen Untersuchungen des rechtsextremen Einstellungspotentials auf ausländerfeindliche Einstellungen verwiesen. Tatsächlich mißt man damit aber nicht die in Frage stehende Einstellung, sondern nur einen intern korrelierenden Teilaspekt eines komplexeren Phänomens. Etwas anders gelagert ist das Beispiel, wo ein Politikforscher am sozialen Status von Personen interessiert ist, ohne die den sozialen Status kennzeichnenden Eigenschaften wie Bildung, Beruf und Einkommen in Erfahrung bringen zu können. Er wird in diesem Falle möglicherweise die Wohnungsausstattung als Indikator für den sozialen

V . Spezielle Methoden der empirischen Politikwissenschaft

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Status wählen. Dabei geht er von der Vermutung aus, daß die Art der Wohnungsausstattung eng mit dem sozialen Status zusammenhängt. Die Rechtfertigung der Zuordnung eines Indikators zu einem theoretischen Konstrukt ist ein Problem der Validität. Ein Indikator wird genau dann als gültig (oder valide) angesehen, wenn er das anzeigt, was mit dem Begriff bezeichnet wird. Während bei den sogenannten definitorischen Indikatoren die Gültigkeit aufgrund der begrifflichen Zuordnung von Konstrukt und Indikator semantischer Natur ist (man spricht daher auch von logischer Validität), ist die Gültigkeit der korrelativen Indikatoren faktischer Natur (deshalb spricht man hier auch von empirischer Validität). In allen anderen Fällen muß der Zusammenhang zwischen Indikatoren und Begriffen theoretisch begründet werden. Ermittelt man z.B. mittels eines Fragebogens Einstellungen eines Befragten, so faßt man gewisse Antworten des Befragten als Indikatoren für das Vorliegen bestimmter Einstellungen auf. Um diese Beziehung aber herstellen zu können, benötigt man eine Theorie des Befragtenverhaltens. Die Vermittlung zwischen Beobachtungsaussagen und den theoretischen Begriffen übernehmen sogenannte Korrespondenzregeln, das sind Hypothesen über die Korrespondenz von Indikatoren und Konstrukten. Den Gesamtzusammenhang verdeutlicht die folgende Abbildung: Ko

Fi

Dl

D2

Do

theoretisches Konstrukt

D,

abgeleitete

Korresspondenzregel

Indikator rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr Realität rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr

Schon bei der Planung einer Untersuchung muß festgelegt werden, in welcher Weise die erhobenen Informationen ausgewertet werden. Dies betrifft auch meßtheoretische Probleme, weshalb ebenfalls bereits in der Planungsphase entschieden werden muß, wie die zu untersuchenden Merkmale oder Dimensionen eines Begriffes erfaßt werden sollen. Wie in der Naturwissenschaft ist auch die Sozialwissenschaft auf die Messung von Teilaspekten oder einzelnen Eigenschaften beschränkt. Niemals kann ein soziales Objekt in seiner Gesamtheit durch Messung erfaßt werden. Jeder Forscher muß folglich die Frage beantworten, wie in einem gegebenen Untersuchungszusammenhang die für die jeweilige Fragestellung wichtigen Eigenschaften gemessen werden können. Man ordnet beim Messen Objekten oder Ereignissen gemäß einer bestimmten Regel bzw. Abbildungsvorschrift Zahlen zu. Stellt der Forscher fest, inwieweit einem Objekt ein Merkmal bzw. eine Eigenschaft zukommt, hat er folglich bereits eine Messung vorgenommen. So ist selbst die Benennung von Parteimitgliedern mit der Ziffer 1 und Nicht-Parteimitgliedern mit der Ziffer 0 nach

118 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

der vorstehenden Definition eine Messung, da einem Objekt (hier einer Befragungsperson in einer Umfrage) nach einer Regel (nur Parteimitglieder bekommen die 1) eine Zahl zugeordnet wird. Diese Zuordnungen werden per Konvention eingeführt, sie können also nicht wahr oder falsch, sondern nur innerhalb eines bestimmten Forschungszusammenhangs mehr oder weniger nützlich sein. Eine Menge empirischer Objekte, der nach einer zuvor festgelegten Regel eine Menge Zahlen zugeordnet wird, bildet eine Skala. Je nach Niveau unterscheidet man in der empirischen Forschung Nominal-, Ordinal-, Intervall- und Verhältnisskalen. Um eine Nominalskala handelt es sich, wenn die Skala nur eine Identifikation oder Klassifikation zuläßt. Geht es in einer Untersuchung darum festzustellen, ob ein bestimmtes Merkmal oder eine bestimmte Eigenschaft vorhanden ist, so handelt es sich bei der Messung um eine Identifikation (z.B. die Identifikation einer Partei als „konservativ" oder „nicht konservativ"). Erfordert die Fragestellung eine mehrschichtige Einteilung der Untersuchungsobjekte, so spricht man von einer Klassifikation. Die Einteilung der Parteien in christliche, konservative, sozialistische, liberale, ökologische und kommunistische Parteien stellt eine solche Klassifikation dar. Läßt sich in einer empirischen Untersuchung feststellen, daß eine bestimmte Eigenschaft bei einem Untersuchungsobjekt stärker ausgeprägt ist als bei einem anderen, ohne daß die Angabe einer Differenz möglich ist, spricht man von einem ordinalen Meßniveau, und die Skala, die diese Kleiner-Größer-Relationen (d.h. Rangordnungen) abbildet, heißt Ordinalskala. Bei den meisten Skalen in den Sozialwissenschaften handelt es sich um Ordinalskalen. Eine Rangordnung liegt zum Beispiel vor, wenn eine Person die Parteien der Bundesrepublik Deutschland danach ordnet, wie sie ihr gefallen. Kann man zudem davon ausgehen, daß gleiche Zahlenwerte gleiche Merkmalsdifferenzen repräsentieren, spricht man von einer Intervallskala. Dies ist, zumindest dem Anspruch nach, z.B. bei den aus der Meinungsforschung bekannten Skalometer-Fragen gegeben, bei denen Parteien und Politiker auf einer Skala von - 5 bis + 5 bewertet werden sollen. Schließlich heißen Skalen, bei denen darüberhinaus noch der Nullpunkt definiert ist, Verhältnis- oder Ratioskalen. Ein Beispiel für eine Verhältnisskala in der Politikforschung ist der Stimmenanteil einer Partei oder die Fraktionalisierung von Parlamenten, wenn diese in Raes' Fraktionalisierungsindex ausgedrückt wird. In den empirischen Wissenschaften strebt man ein möglichst hohes Meßniveau an, was vor allem drei Vorteile hat: Erstens ermöglicht ein höheres Meßniveau die Nutzung höherer mathematischer Verfahren, zweitens sind genauere Überprüfungen und Prognosen möglich und drittens steigt mit dem Skalenniveau auch der Informationsgehalt politikwissenschaftlicher Aussagen. Das Meßniveau der erhobenen Daten hat darüber hinaus einen erheblichen Einfluß darauf, welche Auswertungsmethoden in der Phase der Datenanalyse eingesetzt werden können, d . h . welche statistischen Verfahren zulässig sind. Das Ziel eines Meßvorgangs, möglichst exakte und fehlerfreie Meßwerte zu liefern, wird jedoch selten vollständig erreicht. Praktisch alle Meßvorgänge schließen mehr oder weniger große Meßfehler mit ein. Um diese abschätzen zu können, sind verschiedene Kriterien entwickelt worden, wovon zwei von besonderer Wichtigkeit sind: Die Gültigkeit und die Zuverlässigkeit von Messungen. Die Zuverlässigkeit oder Reliabilität einer Messung beschreibt die formale Meßgenauigkeit. Man beurteilt sie danach, in welchem Maße wiederholte Messungen die gleichen Werte liefern. Ein Meßinstrument, das bei wiederholten Messungen unter ansonsten gleichen Umständen völlig unterschiedliche Ergebnisse liefert, kann nicht als zuverlässig betrachtet

V. Spezielle Methoden der empirischen Politikwissenschaft

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werden. So sollten bei der wiederholten Anwendung einer Konservatismusskala bei den gleichen Personen die selben oder doch sehr ähnliche Konservatismuswerte herauskommen, sonst kann man nicht davon ausgehen, daß die Skala eine bestimmte politische Grundhaltung, Konservatismus, mißt. Um die Reliabilität zu bestimmen, sind verschiedene Techniken wie die Test-Retest- und die Paralleltestmethode entwickelt worden. Aber selbst im Falle hoher formaler Meßgenauigkeit kann eine Messung im Sinne der Fragestellung völlig unbefriedigende Ergebnisse liefern, falls das Meßinstrument etwas anderes erfaßt als beabsichtigt. Diese inhaltliche Meßgenauigkeit, die dadurch definiert ist, daß ein Meßinstrument tatsächlich das mißt, was es messen soll, bezeichnet man als Gültigkeit oder Validität eines Meßinstrumentes. Man unterscheidet drei Formen der Validität: Inhalts-, Kriteriums- und Konstruktvalidität. Die Inhaltsvalidität bezieht sich darauf, daß die gewählten Indikatoren, etwa die Items einer Extremismusskala, alle Aspekte eines theoretischen Begriffs berücksichtigen, d.h. (im übertragenen Sinne) eine repräsentative Stichprobe aus der Grundgesamtheit aller möglichen Indikatoren des betreffenden Konstrukts darstellen. Kriteriumsvalidität dagegen ist entweder dann gegeben, wenn mit Hilfe des benutzten Meßinstruments aufgestellte Prognosen durch andere Instrumente bestätigt werden (beispielsweise die Meßergebnisse einer neuen, kürzeren Einstellungsskala durch die Meßergebnisse einer bereits bewährten, längeren Skala) oder wenn die mit dem fraglichen Instrument erzielten Ergebnisse mit den Ausprägungen des Merkmals in bestimmten Kriteriumsgruppen übereinstimmen (so sollte eine Religiositätsskala in der Lage sein, sehr religiöse Menschen, also etwa die Mitglieder eines klösterlichen Ordens, von eindeutig Nicht-Religiösen, also etwa den Mitgliedern eines Freidenkerverbandes, zu unterscheiden). Leitet man endlich aus einem Konstrukt überprüfbare Aussagen über den Zusammenhang des Konstrukts mit anderen theoretischen Begriffen ab und weist nach, daß diese Zusammenhänge tatsächlich in der hergeleiteten Weise bestehen, so liegt Konstruktvaliditätvor. Dies könnte beispielsweise für den Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus, Ethnozentrismus und Xenophobie, also Fremdenfeindlichkeit, erfolgen. Die Methoden zur Konstruktion von Meßinstrumenten nennt man schließlich Skalierungs- oder Skalierverfahren. Das Ergebnis eines Skalierungsverfahrens nennt man ebenfalls eine Skala. In der Politikwissenschaft werden Skalierungsverfahren vor allem zur Messung von politischen Einstellungen eingesetzt. Dabei definiert man zunächst das zu untersuchende Merkmal möglichst exakt. Sodann werden Überlegungen darüber angestellt, für welchen Personenkreis und für welche Verhaltensbereiche ein Test gelten soll. Man sammelt anschließend Material, das die Grundlage der Formulierung von Items abgibt. Items sind häufig Aussagen, denen eine Person mehr oder weniger zustimmen oder die sie mehr oder weniger ablehnen kann. Eine Einstellungsskala besteht in der Regel aus mehreren Items, die alle die gleiche Dimension messen sollen. In der Praxis der Politikforschung werden verschiedene Typen von Skalen eingesetzt, die bekanntesten sind die Thurstone-, Likert- und Guttmann-Skalen und das Semantische Differential, auf die wir hier jedoch nicht näher eingehen können. Sie werden in jedem guten Lehrbuch der Methoden der empirischen Sozialforschung behandelt.

120 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

B. Methoden zur Auswahl der Untersuchungseinheiten Noch bevor ein Politikwissenschaftler mit der eigentlichen Datenerhebung beginnt, muß er zwei weitere Fragen klären: Er muß sich erstens Klarheit darüber verschaffen, über welchen Objektbereich Aussagen gemacht werden sollen, und zweitens festlegen, auf welche Elemente einer Population er seine Untersuchung bezieht. In der empirischen Sozialforschung heißt die Menge aller gleichartigen Individuen, Objekte oder Ereignisse, über die Aussagen angestrebt werden, Grundgesamtheit. Will man beispielsweise bestimmen, wie häufig Demokratieverdrossenheit in Deutschland vorkommt, so bildet die Bevölkerung der Bundesrepublik die Grundgesamtheit. Ist man dagegen daran interessiert, wie die Jugendlichen in Berlin Politiker beurteilen, so bilden die Jugendlichen in Berlin die Grundgesamtheit. Um in Erfahrung zu bringen, wie häufig eine bestimmte Eigenschaft in einer Grundgesamtheit vorkommt, ist es arbeitsökonomisch oft nicht durchführbar, alle Elemente der Grundgesamtheit, also beispielsweise alle Wahlberechtigten, in die Untersuchung einzubeziehen. Erhebt ein Politikforscher die Daten für alle Elemente einer Grundgesamtheit, so handelt es sich um eine Voll- bzw. Totalerhebung. Volkszählungen zum Beispiel stellten bisher Vollerhebungen dar; in Zukunft wird sich das wahrscheinlich ändern. Praktisch durchführbar sind für den Sozialforscher Vollerhebungen nur, wenn eine überschaubare Anzahl von Untersuchungseinheiten vorliegt, wie dies etwa in Studien über politische Eliten oder Parteitagsdelegierte der Fall ist, oder wenn territoriale Einheiten wie die Wahlkreise der Bundesrepublik Deutschland oder die westlichen Industriestaaten die Untersuchungslemente bilden. Überwiegend beschäftigt sich die politikwissenschaftliche Forschung aber mit relativ großen Populationen wie den deutschen Wahlberechtigten, den Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland oder gar der gesamten Erwachsenenbevölkerung in den EU-Ländern. In derartigen Fällen würden Totalerhebungen einen zu hohen organisatorischen, finanziellen und zeitlichen Aufwand erfordern. Liegt Untersuchungen lediglich eine Teilmenge aus der Grundgesamtheit zugrunde, handelt es sich um eine Teilerhebung. Von Auswahl oder Stichprobe spricht man, wenn die Elemente der Teilerhebung nach festgelegten Regeln bestimmt werden, andernfalls operiert man mit willkürlichen Auswahlen. Um willkürliche Auswahlen in der politischen Forschung geht es immer dann, wenn die Entscheidung über die Aufnahme unkontrolliert erfolgt und im Ermessen des Auswählenden liegt. Auswahlen dieser Art stellen z. B. die beliebten Hörerbefragungen der Rundfunkanstalten nachmittags um drei auf dem Bahnhofsvorplatz oder auch Umfragen unter Dozenten der Politikwissenschaft dar, die Aussagen über „die" Politikstudenten aus den ihnen bekannten Studentinnen und Studenten ableiten. Für wissenschaftliche Zwecke sind derartige Auswahlen unbrauchbar, da die Grundgesamtheit nicht sinnvoll definiert und die Auswahlwahrscheinlichkeit für jedes Element der Grundgesamtheit vor der Auswahl nicht angebbar ist. Erfolgt die Auswahl nach festen Regeln, sind aber inferenzstatistische Techniken nicht anwendbar, spricht man von bewußten Auswahlen. Hierzu zählen Expertengespräche, aber auch die Auswahl typischer oder extremer Fälle. Untersucht man beispielsweise das Verhältnis zwischen dem Studienaufwand und den Leistungen von Politologiestudenten und betrachtet dabei lediglich die besten Studenten, so ist es natürlich nicht erlaubt, den ermittelten Zusammenhang auf schlechtere Studenten zu übertragen. Ein Politikforscher, der extreme Fälle auswählt, kann auch nur über diese extremen Fälle etwas aussagen. Aus diesem Grund ist die Auswahl von extremen Fällen als generelles Auswahlverfahren ungeeig-

V. Spezielle Methoden der empirischen Politikwissenschaft

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net. Wählt man Fälle aus, die man als typisch für die Grundgesamtheit ansieht, so stellt sich freilich auch hier die Frage, welche Kriterien eine Untersuchungseinheit erfüllen muß, um in die Auswahl zu gelangen. Denn selbstverständlich muß man schon die Verteilung in der Grundgesamtheit kennen, um einen Fall als typisch zu charakterisieren; man unterstellt dann, daß sich die ausgewählten Fälle von den nicht ausgewählten Fällen in den forschungsrelevanten Aspekten nicht unterscheiden; man macht also von einer normalerweise nicht zu überprüfenden Annahme Gebrauch. Vor allem in der Marktforschung wird den einzelnen Interviewern oftmals vorgegeben, welche Merkmale die zu befragenden Personen aufweisen müssen. Das Ziel besteht darin, in der Stichprobe hinsichtlich der vorgegebenen Merkmale ein Abbild der Grundgesamtheit zu haben. Diese Stichproben heißen Quota- oder Quotenverfahren. Vor allem die Merkmale Geschlecht, Alter und Beruf dienen, isoliert oder kombiniert, als Auswahlkriterien. Dieses Verfahren weist jedoch, obwohl damit recht genaue Schätzungen möglich sind, statistisch eine Reihe von Mängeln auf. So ist bei Quotenauswahlen kein statistisch gesicherter Schluß auf die Grundgesamtheit erlaubt. Den Schluß von ausgewählten Fällen auf die Grundgesamtheit und den statistisch gesicherten Test von Hypothesen gestatten lediglich Wahrscheinlichkeits- bzw. Zufallsauswahlen. Sie liegen nur dann vor, wenn jedes Element einer Grundgesamtheit die gleiche oder eine berechenbare Chance hat, in die Stichprobe zu gelangen. So kann man zuverlässige Informationen über die Demokratiezufriedenheit in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland nur dann gewinnen, wenn die Personen, die die Basis der Aussagen über Demokratiezufriedenheit bilden, nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden. Nur in dieser Weise sind die in Stichproben gefundenen Mittelwerte (etwa hinsichtlich der Beurteilung der Spitzenpolitiker) innerhalb bestimmter Vertrauensbereiche und Fehlergrenzen auf die Gesamtbevölkerung übertragbar. Allerdings muß man bedenken, daß auf der Basis von Stichproben erstellte Schätzungen, und darum handelt es sich, immer mit sogenannten Zufallsfehlern behaftet sind. Im Falle mehrerer unabhängiger Stichproben würden aufgrund zufälliger Abweichungen die Mittelwerte der verschiedenen Auswahlen um einen bestimmten Wert herum streuen. Wie groß eine Stichprobe sein soll, hängt davon ab, welche Merkmalsaufgliederungen ein Wissenschaftler vornehmen möchte und welche Fehlergrenzen er bei der Schätzung zu tolerieren bereit ist. Streuen die den politischen Forscher interessierenden Eigenschaften in der Grundgesamtheit sehr stark und sollen nur kleine Fehler toleriert werden, so wird man eine entsprechend große Stichprobe ziehen müssen. Wenn z. B. gültige Aussagen über die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland beabsichtigt sind, geht man in der empirischen Politikforschung im allgemeinen von einer Stichprobengröße zwischen 1000 und 3000 aus. Dem Politikforscher stehen mehrere Möglichkeiten offen, einfache Zufallsstichproben zu ziehen. Liegen Listen aller Elemente der Grundgesamtheit vor, bezeichnet man die Stichprobe als Karteiauswahl. Zu den für die Politikwissenschaft relevanten Techniken zählt u. a. das Ziehen jeder n-ten Karte (z. B. aus der Einwohnermeldekartei oder aus der Mitgliederkartei einer Partei) oder das Ziehen von Personen mit bestimmten Anfangs- oder Endbuchstaben. Aufgrund einer möglichen systematischen Anordnung der Liste sind diese Verfahren alle mit mehr oder weniger großen Problemen behaftet, die bei der Aufstellung des Ziehungsplans berücksichtigt werden müssen. Werden die Elemente einer Grundgesamtheit in Gruppen eingeteilt, und zwar derart, daß jedes Element zu genau einer dieser Gruppen gehört, und wird dann

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aus jeder dieser Gruppen eine Zufallsauswahl gezogen, spricht man von geschichteten Zufallsstichproben. Die geschichtete Wahrscheinlichkeitsauswahl ist dann von Vorteil, wenn die Streuung der interessierenden Merkmale in den einzelnen Gruppen sehr unterschiedlich ist. Unumgänglich ist die geschichtete Zufallsauswahl, wenn die Untersuchung eine bestimmte Mindestfallzahl für bestimmte Gruppen erfordert, wie dies in der Extremismusforschung der Fall ist. Strebt man Aussagen über die Grundgesamtheit an und will man verzerrte Aussagen vermeiden, so muß man in diesen Fällen allerdings die Mitglieder der einzelnen Gruppen unterschiedlich gewichten. Werden die Regeln der Auswahl nicht auf Elemente der Grundgesamtheit, sondern auf räumlich gruppierte Mengen von Elementen angewendet, so handelt es sich um Klumpenauswahlen. In der professionellen politikwissenschaftlichen Forschung am weitesten verbreitet sind mehrstufige Auswahlen, bei denen Gebiets-, Flächen- oder Klumpenstichproben die Auswahlgrundlage weiterer Zufallsstichproben bilden. So wird oft auf der ersten Stufe aus der Menge aller räumlichen Einheiten wie Kreise, Gemeinden oder Stimmbezirke eine Flächenstichprobe gezogen, aus der auf der zweiten Stufe Haushalte oder Personen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden. Liegt auf dieser Stufe keine Auflistung als Auswahlgrundlage vor, stellt der sogenannte Zufallsweg („random route") ein mögliches Verfahren zur zufallsgesteuerten Auswahl der Haushalte dar, bei dem, ausgehend von einer bestimmten Startadresse, ein Adressenermittler einer genauen Begehungsanweisung folgt, um zufallsgesteuert Haushalte zu bestimmen, in denen die Befragung durchgeführt werden soll. Bevor die Datenerhebung beginnen kann, wird in einem zweiten Schritt nach einem zuvor festgelegten Plan ermittelt, welche Person(en) des Haushalts tatsächlich befragt werden soll(en).

C. Methoden der Datengewinnung Wie kann man zu den benötigten Informationen über die Untersuchungseinheiten gelangen? Der Forscher steht bei jeder Untersuchung vor der Entscheidung, die Methode oder Kombination von Verfahren zu wählen, die am besten geeignet ist, die für seine Untersuchungszwecke relevanten Daten zu beschaffen. Dem Politikforscher stehen für diese Zwecke drei technisch ausgereifte und theoretisch begründete Grundmethoden der Informationsgewinnung zur Verfügung: Beobachtung, Befragung und Inhaltsanalyse. Alle drei Methoden knüpfen an alltägliche Vorgehensweisen an.

1. Beobachtung Von einer wissenschaftlichen Beobachtung spricht man, wenn die Beobachtung bestimmten wissenschaftlichen Zwecken dient, geplant und nicht dem Zufall überlassen wird, die Erfassung von sozialen und politischen Sachverhalten kontrolliert abläuft und auf allgemeine Aussagen bezogen wird. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf den Ablauf und die Bedeutung einzelner Handlungen und Handlungszusammenhänge, auf soziale und politische Prozesse und Verhaltensabläufe. In explorativen Studien werden Beobachtungen zum Zwecke der Hypothesengewinnung eingesetzt, um ein noch wenig bekanntes Forschungsfeld zu bearbei-

V. Spezielle Methoden der empirischen Politikwissenschaft

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ten; in anderen Forschungszusammenhängen können sie genutzt werden, um Informationen, die mit anderen Methoden nicht oder schwerer zu ermitteln sind, zur Verfügung zu stellen. In der politischen Forschung gibt es aber auch Bereiche, in denen man auf die Methode der Beobachtung angewiesen ist, weil andere Datenerhebungstechniken nahezu ausgeschlossen sind. So ist zum Beispiel davon auszugehen, daß gewisse Akteure in bestimmten Situationen keine verbalen Auskünfte geben, und oft ist damit zu rechnen, daß verbale Auskünfte zumindest geschönt werden. Versteht man unter direkten Beobachtungen alle Beobachtungen im engeren Sinne, d.h. Beobachtungen, in denen ein Beobachter dem Beobachteten direkt gegenübertritt, so bezeichnet die indirekte Beobachtung alle anderen Datengewinnungsverfahren wie die Auswertung von Dokumenten etc. Zu den wichtigsten direkten Beobachtungen in der empirischen Politikwissenschaft zählen offene und verdeckte, teilnehmende und nichtteilnehmende, strukturierte und unstrukturierte Beobachtungen. Ist den beobachteten Personen oder Gruppen vor Beginn der Beobachtung mitgeteilt worden, daß sie beobachtet werden, d.h. haben die Beobachtungsobjekte Kenntnis von dem Beobachtungsvorgang, so liegt eine offene Beobachtung vor. Wissen die beobachteten Personen hingegen nicht, daß sie beobachtet werden, handelt es sich um eine verdeckte Beobachtung. Da das Verhalten der beobachteten Personen sich oft ändert, wenn sie darüber informiert sind, daß sie beobachtet werden, erfolgt die wissenschaftliche Beobachtung häufig verdeckt. Nimmt ein Politologe im Rahmen einer Untersuchung an den Interaktionen der beobachteten Personen teil, mischt er sich also unter die zu beobachtende Personengruppe, so handelt es sich um eine teilnehmende Beobachtung, hält er Distanz und protokolliert lediglich die Ereignisse, spricht man von einer nicht-teilnehmenden Beobachtung. Erfolgt die Beobachtung auf der Basis eines detailliert ausgearbeiteten Beobachtungsschemas, haben wir es mit einer strukturierten, liegt der Beobachtung dagegen nur eine grobe Anweisung zugrunde, mit einer unstrukturierten Beobachtung zu tun. Ein ausführlicher Beobachtungsplan bestimmt genau den zu beobachtenden Sachverhalt, er dient ferner der Selbstkontrolle und anderen Forschern, die Beobachtung zu wiederholen, um die ermittelten Ergebnisse zu überprüfen. Ein Politikforscher, der die Beobachtungsmethode zur Informationsgewinnung nutzt, selektiert, klassifiziert und verschlüsselt die für die Untersuchungszwecke relevanten Handlungsabläufe oder Ereignisse in genau der Weise, wie dies zuvor im Beobachtungsschema niedergelegt worden ist. Beobachtungen sind immer selektiv, da sich die Aufzeichnungen eines politischen Beobachters stets nur auf einen Ausschnitt eines ablaufenden Gesamtvorgangs beziehen. Aus diesem Grund müssen die hinsichtlich der Fragestellung bedeutsamen Verhaltenseinheiten bestimmt und in ein Kategoriensystem übersetzt werden, um das beobachtete Geschehen entsprechend klassifizieren zu können. Bei der Entwicklung des Beobachtungssystems wird gemeinhin zwischen einem rationalen und empirischen Ansatz unterschieden. Folgt ein Politikforscher dem rationalen Ansatz, so leitet er die Kategorien aus den Begriffen seiner theoretischen Konstruktion oder Hypothese ab. Folgt er dem empirischen Ansatz, so konstruiert er sein Beobachtungsschema auf der Grundlage schon zuvor gemachter Beobachtungen. In der Praxis wissenschaftlicher Beobachtung trifft man jedoch im allgemeinen eine Kombination der beiden Ansätze an. Die Beobachtungskategorien müssen eindeutig definiert sein und die Situationen so strukturieren, daß sich die einzelnen Elemente der Beobachtung leicht identifizieren lassen, Eindimensionalität der Messung gewährleistet ist und alle zum Forschungsgegenstand gehörenden Beobachtun-

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gen erfaßt werden, indem jedes beobachtete Ereignis genau einer Kategorie zugeordnet wird. Weiterhin sollte aus Gründen der beschränkten Wahrnehmungsfähigkeit darauf geachtet werden, daß die Zahl der Kategorien nicht zu groß wird. Wie zuverlässig und genau die durch Beobachtungen im politischen Bereich gewonnenen Erkenntnisse sind, hängt u. a. von der Beobachtbarkeit eines politikwissenschaftlich relevanten Tatbestandes ab. Private Begegnungen zwischen Spitzenpolitikern lassen sich schwerer beobachten als Abgeordnete im Deutschen Bundestag oder Delegierte auf Parteitagen. Die Qualität einer Beobachtung kann aufgrund der geforderten Wahrnehmungs-, Selektions-, Reduktionsleistungen durch verschiedenartige Fehler beeinträchtigt werden. Die Zuverlässigkeit der Beobachterleistung hängt z.B. davon ab, wie groß die Anzahl der zu beobachtenden Kategorien ist und wie häufig diese auftreten. Verhaltensweisen, die relativ selten vorkommen, können leicht übersehen werden, und sehr häufig auftretende Ereignisse können zuverlässig nur unter der Bedingung eines nicht zu umfangreichen Kategoriensystems registriert werden. Häufig tritt der Fehler auf, daß ein Beobachter extreme Ereignisse eher registriert, die Beurteilung zu sehr vom zuerst gewonnenen Eindruck abhängt, zeitliche Einflüsse die Beurteilung und Wahrnehmung beeinträchtigen, Urteile aufgrund besonderer Merkmale verzerrt werden, Eigenschaften und Verhaltensweisen aufgrund einer impliziten Theorie des Beobachters beurteilt werden etc. Schließlich stellt sich das Problem, daß man nur schwer nicht direkt beobachtbare Sachverhalte erschließen kann. Im Falle einer teilnehmenden Beobachtung tritt zusätzlich noch das Problem auf, daß die Interaktion zwischen Beobachter und Beobachteten dazu führen kann, daß sich die Beobachteten beeinflussen lassen, d.h. daß sie anders gehandelt hätten, wenn der Beobachter nicht anwesend gewesen wäre. Eine große Fehlerquelle ist schließlich das aus der Ethnologie bekannte „going native": Beobachter, die sich lange Zeit in einem bestimmten Beobachtungsfeld aufhalten, tendieren dazu, die Sicht der zu beobachtenden Akteure zu übernehmen und die geforderte Neutralität zu verlieren. Zum Gelingen einer Beobachtungsstudie ist aus diesen Gründen eine intensive Beobachterschulung unabdingbar.

2. Befragung Unter einer wissenschaftlichen Befragung versteht man eine zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung von Wissenschaftlern geplante, in Fragebögen oder sonstigen Protokollen oder Aufzeichnungen fixierte Erfassung von sozialen und politischen Sachverhalten, Meinungen, Einstellungen oder Handlungsgründen mittels mündlicher oder schriftlicher Beantwortung von Fragen, die einem ausgewählten Kreis von Personen gestellt werden. Sie ist die derzeit am weitesten verbreitete Methode der Datengewinnung in der empirischen Politikwissenschaft. In der empirischen Forschung unterscheidet man nach Art der Durchführung schriftliche, telefonische und mündliche Befragungen. Im Falle der schriftlichen Befragung beantwortet eine Befragungsperson einen Kanon von Fragen, die im allgemeinen in Form eines Fragebogens postalisch zugestellt werden. Postalische Befragungen erfordern einen geringeren Aufwand und sind daher in der Regel kostengünstiger als mündliche Befragungen. Darüber hinaus werden Interviewerfehler vermieden. Hauptnachteile sind die mangelnde Kontrolle der Interviewsituation (wer hat beantwortet, wie viele Personen waren zugegen und haben mitgeantwortet?) und in den im allgemeinen höheren Ausfallquoten, die zu systematischen Verzerrun-

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gen führen können. Zur Klasse der schriftlichen Befragungen zählt auch die sogenannte Gruppenbefragung, in der eine ausgewählte Personengruppe gleichzeitig anwesend ist und den Fragebogen ausfüllt. Diese Form der Befragung wird vor allem dann gewählt, wenn die Teilnehmer eines Seminars oder Schulklassen befragt werden sollen. Wenn der Interviewer die Befragungspersonen aufsucht, um ihnen Fragen zu stellen oder eine kleine Gruppe gleichzeitig mündlich befragt, spricht man von einer mündlichen Befragung. Das Telefoninterview stellt eine immer gebräuchlicher werdende Sonderform der mündlichen Befragung dar. Hauptvorteil ist die bessere Interviewerkontrolle und der Umstand, daß telefonische Interviews schneller durchgeführt und ausgewertet werden können. Voraussetzung allerdings ist ein Telefonanschluß in (fast) allen Haushalten. Die mündlichen und telefonischen Befragungen können mehr oder weniger strukturiert erfolgen; entsprechend spricht man in der empirischen Forschung von wenig strukturierten, teilstrukturierten und stark strukturierten Interviews. Wird ein Interview ohne Fragebogen durchgeführt und ist es dem Interviewer überlassen, die Fragen gemäß den Vorstellungen des Befragten zu formulieren und anzuordnen, handelt es sich um ein wenig strukturiertes Interview. Es bietet sich vor allem dann an, wenn die Dimensionen eines Forschungsbereichs noch nicht klar umrissen sind. Zu dieser Kategorie der Befragungen werden die Expertengespräche und die explorativen Interviews gezählt. Wird das Interview auf der Basis vorbereiteter Fragen strukturiert, hat der Interviewer aber die Möglichkeit, je nach Verlauf der Befragung deren Abfolge zu variieren, so liegt ein teilstrukturiertes Interview vor. Einzelinterviews, die auf der Grundlage eines Fragengerüstes durchgeführt werden, nennt man oft auch Leitfadengespräche, Intensivinterviews oder Tiefeninterviews. Bei dieser Befragungsart kann genauer nachgefragt, können Sachverhalte intensiver erfaßt werden. Liegen für alle Befragungspersonen die gleichen Formulierungen der Fragen vor und werden die Fragen in gleicher Reihenfolge auf der Grundlage eines standardisierten Fragebogens gestellt, so handelt es sich um ein stark strukturiertes Interview. Der Interviewer hat bei der Gestaltung einer derartigen Befragung keinen Spielraum. Der Vorteil stark strukturierter Befragungen besteht in der gleichen Interviewsituation und darin, daß die gewonnenen Informationen eher vergleichbar sind als in wenig strukturierten Interviews. Sind Politikforscher an Veränderungen von Meinungen, Einstellungen, Werten und Verhaltensabsichten interessiert und befragen sie deshalb dieselben Personen zu mehreren Zeitpunkten, spricht man von einer Panelbefragung. Welche Fragen ein Politikforscher stellt, hängt vom konkreten Untersuchungszusammenhang ab. Prinzipiell gilt, daß die Fragen aus den die Untersuchung leitenden Hypothesen herzuleiten sind. In methodologischer Hinsicht stellen die Antworten der Befragungspersonen auf die einzelnen Fragen nämlich Indikatoren der in der Untersuchung relevanten Variablen dar. Sie dienen also u.a. dazu, theoretische Konstruktionen zu überprüfen. Die Konstruktion eines Fragebogens muß sich daher immer auf die untersuchungsleitenden theoretischen Vorstellungen beziehen. So muß man bei einer Befragungsstudie eine klare Vorstellung darüber haben, welche Informationen aufgrund der leitenden theoretischen Idee erhoben werden müssen, ob also Wissen erfragt werden soll, oder ob die Einstellungen, Meinungen und Werte, das Verhalten oder bestimmte Eigenschaften der Befragten von Interesse sind. Die Fragen, die Politikforscher zur Datengewinnung benutzen, sollen möglichst nur einfache Worte enthalten, Slang- und Fachausdrücke und wenig konkrete Begriffe vermeiden, kurz und bündig formuliert sein, nicht suggestiv Antworten provozieren, neutral und nicht hypothetisch formuliert werden, jeweils nur auf einen Sachverhalt bezogen sein und

126 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

keine doppelten Negationen enthalten; geschlossene Fragen sollten überdies sowohl negative als auch neutrale und positive Antwortmöglichkeiten enthalten. Ganz allgemein sollten die Befragten nicht überfordert werden.

3. Inhaltsanalyse Erfolgt die außerwissenschaftliche Analyse von Inhalten eher intuitiv, so handelt es sich bei der Inhaltsanalyse als wissenschaftliche Methode um ein regelgeleitetes und damit intersubjektiv nachvollziehbares Verfahren, bei dem man Eigenschaften von Texten systematisch identifiziert und von diesen Merkmalen aus auf Eigenschaften von Personen oder gesellschaftlichen Gruppen schließt. Dahinter verbirgt sich die Theorie, daß die Menschen mittels Sprache bestimmte Absichten, Einstellungen und Deutungen zum Ausdruck bringen, und daß diese, durch das sozio-kulturelle System beeinflußt, nicht nur Persönlichkeitsmerkmale, sondern auch Eigenschaften der Gesellschaft widerspiegeln. In der Politikwissenschaft wird die Inhaltsanalyse hauptsächlich in der Massenkommunikationsforschung und in Analysen des Wandels von politischen Einstellungen eingesetzt. Sind Dokumente über sehr lange Zeiträume verfügbar, bietet sich die Inhaltsanalyse zur Untersuchung des politischen und kulturellen Wandels an. Auch zur Auswertung von Gruppendiskussionen, Tiefeninterviews, offenen Fragen, von elektronisch aufgezeichneten Gesprächen, Filmaufzeichnungen, schriftlichen Gesprächsprotokollen, Zeitungsartikeln, Flugblättern von Parteien und sozialen Bewegungen, politischen Reden, diplomatischen Dokumenten und historischen Quellen werden inhaltsanalytische Verfahren genutzt. In der empirischen Forschung unterscheidet man eine ganze Reihe von inhaltsanalytischen Techniken. Die am häufigsten verwendeten sind die Frequenz-, Valenz-, Intensitätsund Kontingenzanalyse. Werden in der Frequenzanalyse Textelemente klassifiziert und deren Auftretenshäufigkeit ausgezählt, so werden in der Valenzanalyse zusätzlich positive, neutrale und negative Bewertungen von Sachverhalten untersucht, in der Intensitätsanalyse außerdem deren Intensitäten erfaßt und in der Kontingenzanalyse schließlich untersucht, inwieweit bestimmte Sprachelemente miteinander auftreten. Zur Durchführung einer Inhaltsanalyse bestimmt man im ersten Schritt die Art der Texte, die für das Forschungsproblem bedeutsam sind. Ist man beispielsweise an der Analyse des Wandels der Bewertungen der Spitzenpolitiker in der Bundesrepublik Deutschland interessiert, könnte man z.B. die politischen Kommentare in den Tageszeitungen der Jahre 1949 bis 1994 auswählen. Die Texte, die einer Inhaltsanalyse zugrunde gelegt werden, sollen also für die Fragestellung relevant sein. Nach der Bestimmung der Textart besteht der nächste Schritt darin, aus der Klasse der relevanten Texte eine Stichprobe zu ziehen und die Zähleinheiten, d.h. die Merkmalsträger zu bestimmen. Merkmalsträger können z.B. Worte, Wortgruppen, Sätze oder Satzteile sein, aber auch Textabschnitte, ganze Artikel oder Seiten, Schlagzeilen oder Überschriften, Briefe, Reden und Aufsätze sowie Minutenabschnitte von Fernsehsendungen. Einen herausragenden Stellenwert nimmt im Verlauf einer Inhaltsanalyse die Entwicklung eines brauchbaren Kategorienschemas ein, das auf der Basis genauer theoretischer Vorstellungen definiert werden muß. Mit Hilfe der Kategorien sollen die für die Forschungsfrage theoretisch relevanten Dimensionen eines Objektbereiches gemessen werden. Das Kategorienschema selbst hat dabei gewissen formalen Anforderungen zu genügen. So müssen sich die einzelnen Kategorien gegenseitig ausschließen, sollen die Kategorien erschöpfend sein, darf sich jede einzelne Kategorie auf nur genau eine Dimension beziehen. Erst wenn das Katego-

V. Spezielle Methoden der empirischen Politikwissenschaft

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rienschema diesen Anforderungen genügt und sich in einer Probeauswertung (Pretest) bewährt hat, können die Daten ermittelt, verschlüsselt, maschinenlesbar aufbereitet und endlich einer statistischen Analyse unterzogen und inhaltlich interpretiert werden. Alle Methoden zur Gewinnung von Informationen lassen sich hinsichtlich (a) der Reaktionen, der ihr Einsatz hervorruft, (b) der Standardisierung und (c) der Popularität unterscheiden. So muß man sich vor dem Einsatz eines konkreten Verfahrens fragen, welche erwünschten oder unerwünschten Veränderungen ein Einsatz der Methode bei den Untersuchungsobjekten bewirkt. Aus der Methodenforschung weiß man beispielsweise, daß Befragte nicht nur auf die gestellten Fragen reagieren, sondern auch auf das Auftreten desjenigen, der die Fragen stellt. Personen, die wissen, daß sie beobachtet werden, stellen ihr alltägliches Verhalten oftmals darauf ab, eine „gute Figur" zu machen, d.h., sich im Sinne sozialer Erwünschtheit zu verhalten. Ferner muß man bei der Gewinnung von Informationen Überlegungen über den Grad der Standardisierung des Erhebungsinstruments anstellen. Hier wird man je nach Fragestellung und Untersuchungsobjekt eine mehr oder weniger hohe Standardisierung anstreben. Manchmal ist es angebracht, Texte nach einem zuvor festgelegten Auswertungsschema zu analysieren, ein andermal kann es zweckmäßig sein, Texte in herkömmlicher Weise zu interpretieren. Auf keinen Fall aber sollte man eine Methode nur deshalb wählen, weil sie als besonders populär gilt. Und ebenso sollte man auf eine Methode nicht nur deshalb verzichten, weil man mit ihr nicht vertraut ist. Immer ist die Entscheidung für oder gegen eine Datenerhebungsmethode auf den Zweck der Untersuchung und die Beschaffenheit der Untersuchungsobjekte zu beziehen. Dabei muß sich der Politikforscher stets vergewissern, ob er mit den angewandten Erhebungsmethoden zuverlässige Informationen ermittelt und ob er damit tatsächlich diejenigen Merkmale erhebt, die im Rahmen der Untersuchung bedeutsam sind, da nur dann die Resultate als gültig angesehen werden können.

D. Aufbereitung, Analyse und Interpretation der Daten Nach der Datenerhebung steht der Forscher zunächst vor einem Berg ungeordneter Daten, wobei es sich um einen Stapel ausgefüllter Fragebögen, Beobachtungsprotokolle oder auch um eine Reihe von Bandaufzeichnungen etc. handeln kann. Bevor er mit der Datenanalyse beginnen kann, muß er die Daten ordnen und formal und technisch aufbereiten. Die Analyse der Daten wird erheblich erleichtert, wenn die Daten in einer ganz bestimmten Art und Weise aufbereitet werden. Zunächst wird man eine Liste aller erhobenen Merkmale (auch Variablen genannt) mit allen möglichen Ausprägungen anfertigen und mit der Erstellung eines Codeplans beginnen, der für jede Kategorie aller Variablen genau einen speziellen Wert (Code) enthält. Bei der Codierung dieser Informationen, etwa der Antworten auf offene Fragen in einer Befragung oder der Protokolle von Diskussionen zwischen Politikern, handelt es sich im Prinzip um eine Inhaltsanalyse sprachlichen Materials. Die Vercodung besteht darin, die erhobenen Informationen nach dem Codeplan in Codes umzusetzen. Heute werden die erhobenen Daten im allgemeinen mit Hilfe von Computern ausgewertet. Hierfür stehen an den Universitätsrechenzentren Großcomputer zur Verfügung; mittlerweile setzen sich aber auch für die Datenanalyse die immer leistungsfähiger werdenden Mikrocomputer durch. Für die Analyse der Daten

128 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

stehen verbreitete Statistikprogrammpakete wie SPSS („Statistical Package for the Social Sciences") zur Verfügung. Um die erhobenen Informationen mittels Computer auswerten zu können, müssen die Daten zuvor maschinell lesbar gemacht werden. Zum Zwecke der Analyse wird man die Daten in einer ganz bestimmten Struktur aufbereiten, und zwar in Form einer großen Tabelle, deren Zeilen jeweils eine Untersuchungseinheit (Gebietseinheit, befragte Personen etc.) und deren Spalten jeweils eine Variable darstellen. Eine derartige Tabelle heißt Datenmatrix. Wie bereits erwähnt, beginnt jede politische Forschung mit einem Problem, und der Zweck der Forschung besteht darin, eine Antwort auf die aufgeworfenen Fragen zu finden. Die Planung der Untersuchung, die Auswahl der Untersuchungseinheiten, die Erhebung und Aufbereitung der relevanten Daten beeinflussen zwar die gesuchte Antwort in erheblichem Maße, doch Aussagen über die Annahme oder Verwerfung von Hypothesen sind erst nach einer Auswertung der erhobenen Daten möglich, die neben klaren theoretischen Vorstellungen statistische Kenntnisse voraussetzt. Welche Analyseverfahren anzuwenden sind, hängt vom Ziel der Forschung, von der Menge und der Qualität der Daten und der Komplexität des Forschungsproblems ab. Ausgangspunkt jeder Datenanalyse bildet die univariate Analyse, das ist die Untersuchung einzelner Merkmale; sie dient der Beschreibung des vorliegenden Materials und bildet die Vorstufe aller weiteren Analyseschritte. Hierbei handelt es sich um Grundauszüge einzelner Spalten einer Datenmatrix; einzelne Variablen werden also isoliert betrachtet; Beziehungen mit anderen Variablen wird noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Auf dieser Stufe zählt man z. B. aus, wieviele Personen welche Partei zu wählen vorgeben oder wie unterschiedlich die Situationen vor Ausbruch eines Krieges sind etc. Die Ergebnisse der univariaten Analyse werden in Tabellen oder Grafiken dargestellt, die alle für das Verständnis notwendigen Angaben enthalten. Eine einfache Subgruppenanalyse liegt bereits vor, wenn man deskriptive Statistiken der Häufigkeitsverteilung einer bestimmten Variablen in verschiedenen Subgruppen vergleicht; ein Beispiel wäre das Abstimmungsverhalten von weiblichen und männlichen Parteitagsdelegierten. Handelt es sich um quantitative Variablen, so besteht die Möglichkeit der Zusammenfassung von Werten, um die Daten auf diese Weise knapper und präziser darstellen zu können. Hierzu eignen sich statistische Maßzahlen wie der Mittelwert oder die Standardabweichung. Mittelwerte teilen uns die Lage oder die zentrale Tendenz einer Häufigkeitsverteilung mit. Der Mittelwert selbst kann durch Streuungsmaße näher beschrieben werden, die erkennen lassen, inwieweit die Meßwerte im Schnitt vom Mittelwert abweichen. In der deskriptiven Statistik werden mehrere Arten von Mittelwerten und Streuungsmaßnahmen unterschieden. Die wichtigsten Mittelwerte (Lageparameter) sind das arithmetische Mittel, der Median und der Modus. Die wichtigsten Streuungsmaße sind die Varianz, die Standardabweichung und die Streubreite. Die Interpretation sozialwissenschaftlicher Daten kann erleichtert werden, wenn man sich die Verteilungen graphisch vergegenwärtigt. Die am häufigsten anzutreffenden graphischen Darstellungsformen sind das Balkendiagramm und das Polygon. Die graphische Darstellung zeigt, welche Verteilungsform ein Merkmal annimmt. Man kann so unmittelbar erkennen, welcher Lageparameter zur Charakterisierung der Verteilung am besten geeignet ist. So zeigen sich bei mittlerer, gleichmäßiger Zustimmung zumeist glockenförmige Verteilungen, während eine U-förmige Verteilung auf eine ambivalente Ausprägung hindeutet. Entweder stimmt man engagiert zu oder man lehnt engagiert ab. Konzentrieren sich Einstellungen auf dem einen oder

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anderen Ende einer Skala, so liegen schiefe Verteilungen vor. Mehrgipfelige Verteilungen deuten auf ein mehrdimensionales Merkmal oder darauf, daß die Population inhomogen ist. Ist man an den Beziehungen interessiert, die zwischen den Merkmalen bestehen, so muß man zu weiterführenden Analyseverfahren übergehen. Die bivariate Analyse ist die erste Stufe, in der die einzelnen Merkmale nicht mehr isoliert betrachtet werden, sondern wo untersucht wird, welche Beziehungen zwischen jeweils zwei Variablen bestehen, insbesondere ob zwei Eigenschaften gemeinsam oder unabhängig voneinander auftreten oder sich verändern. Man vergleicht dann die Werte von jeweils zwei Spalten einer Datenmatrix mit dem Ziel, hypothetisch angenommene Regelmäßigkeiten, die in gesetzesartigen Aussagen zum Ausdruck gebracht werden, zu prüfen. Wenn ein gleich großer Anteil der Männer und der Frauen in den Parteien aktiv ist, besteht zwischen den Merkmalen Geschlecht und Parteiaktivität keine Beziehung. Man sagt auch, daß keine Assoziation vorliegt und die beiden Merkmale unabhängig voneinander variieren. Hier wird schon deutlich, daß alle statistisch begründeten Aussagen über Zusammenhänge zwischen Merkmalen auf Vergleichen beruhen. Eine Schwierigkeit, die in diesem Zusammenhang auftritt, ist, wie gefundene Beziehungen zu interpretieren sind. Hat ein Politikforscher etwa festgestellt, daß zwischen zwei Merkmalen A und B eine positive Beziehung besteht, kann eine kausale Interpretation völlig in die Irre führen, wenn nicht dritte Faktoren in die Betrachtung einbezogen werden, die möglicherweise einen Einfluß auf die Art der Beziehung zwischen den beiden Merkmalen A und B haben. Es kann sich nämlich erweisen, daß die Beziehung zwischen A und B nicht mehr vorhanden ist, wenn ein dritter Faktor C kontrolliert wird. Es kann aber auch sein, daß die Kontrolle von C dazu führt, daß die ursprünglich gemessene Beziehung zwischen A und B stärker oder schwächer wird, oder daß eine Beziehung zwischen A und B erst dann zum Vorschein kommt, wenn C in die statistische Analyse einbezogen wird. All diese Umstände muß man bei der Interpretation berücksichtigen. Politikforscher sind aber nicht nur daran interessiert, ob zwischen zwei Merkmalen eine Beziehung besteht, sie wollen auch wissen, wie stark die Beziehungen sind. Um hierüber Auskunft zu erlangen, bietet die beschreibende Statistik mehrere Verfahren an, die in allen guten Einführungen in die statistische Datenanalyse zu finden sind. In der Regel liegen einer Untersuchung keine einfachen Hypothesen zugrunde. Zumeist sind komplexere Hypothesen, die Zusammenhänge zwischen mehreren Merkmalen behaupten, zu prüfen. Die meisten sozialwissenschaftlichen Theorien verlangen daher, daß man nicht nur die Verteilung zweier, sondern vieler Merkmale gleichzeitig untersucht. In diesem Fall begibt man sich in das Gebiet der multivariaten Analyse. Für multivariate Analysen stehen ebenfalls diverse statistische Verfahren zur Verfügung. Hierzu zählen die Verfahren der Varianz-, Faktoren-, Regressionsund Pfadanalyse. Bei der Faktorenanalyse z.B. handelt es sich um eine statistische Methode, um das Zusammenwirken einer Reihe unabhängiger Faktoren zu ergründen. Sie ist besonders geeignet, auf induktivem Wege die Anzahl (Faktoren) der unabhängigen Dimensionen zu ermitteln, auf die sich die zwischen mehreren Variablen bestehenden Korrelationen zurückführen lassen. Die Regressionsanalyse eignet sich besonders zur Überprüfung kausaler Hypothesen. Sie gibt Aufschluß über den Zusammenhang zwischen Ursachen (unabhängige Variablen) und Wirkung (abhängige Variable) und liefert Informationen darüber, welcher Anteil der Streuung einer abhängigen Variablen durch die unabhängigen Variablen erklärt wird und wie stark Veränderungen der unabhängigen Variablen die abhängige Variable beeinflussen.

130 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

Sie wird daher häufig für die Beschreibung, Erklärung und Prognose politischer Ereignisse eingesetzt. Wo man es allerdings mit sehr komplexen Theorien bzw. Zusammenhängen zu tun hat, ist es notwendig, die theoretischen Gebäude zunächst als sogenannte Kausalmodelle zu rekonstruieren, bevor das Geflecht der Merkmale empirisch überprüft werden kann. Zur empirischen Überprüfung kann man dann die verschiedenen Verfahren der Pfadanalyse einsetzen. Neben der beschreibenden ist die schließende Statistik (Inferenzstatistik) für die politische Forschung von großer Bedeutung. Wenn das Interesse über die vorliegenden Daten hinausgeht, wenn man Schlußfolgerungen auf der Basis beschränkter Informationen zu ziehen beabsichtigt, ist man auf die Inferenzstatistik verwiesen. Ein Politikforscher, der daran interessiert ist, seine Analyseresultate zu verallgemeinern, zieht Konzepte der schließenden Statistik heran, um Aufschluß darüber zu erlangen, inwieweit seine Resultate als Basis für Generalisierungen taugen, und er bedient sich ihr, wenn er von den errechneten Werten auf entsprechende Werte der Grundgesamtheit schließt. Es ist schon erwähnt worden, daß nur dann wahrscheinlichkeitstheoretisch begründete Aussagen über die Grundgesamtheit gemacht werden können, wenn es sich bei der Auswahl, die der Analyse zugrundeliegt, um eine Zufallsauswahl handelt. Alle inferenzstatistisch begründeten Aussagen über Grundgesamtheiten stützen sich auf wahrscheinlichkeitstheoretische Konzepte. Entsprechend umfangreich ist das Feld der Inferenzstatistik. Inwieweit die anhand von Stichproben gewonnenen Ergebnisse auf die Grundgesamtheit generalisiert werden dürfen, d.h. tatsächlich bestehende Sachverhalte des Objektbereiches widerspiegeln, und inwieweit es sich bei einem bestimmten Resultat um ein zufällig zustande gekommenes Ergebnis handelt, wird im Rahmen sogenannter Signifikanzprüfungen beantwortet. Unerläßlich sind sie vor allem dann, wenn gruppenspezifische Unterschiede beurteilt werden müssen. Kann man beispielsweise davon ausgehen, daß die Mittelwerte 1,28 und 1,43, die sich in einer empirischen Untersuchung in Hinsicht auf die Beurteilung des Bundeskanzlers durch Arbeiter und Angestellte ergeben haben, einen echten Unterschied ausdrücken, oder handelt es sich um einen zufällig zustande gekommenen Unterschied; mit anderen Worten: drückt die Differenz von 0,15 aus, daß die Arbeiter den Bundeskanzler tatsächlich positiver beurteilen als die Angestellten oder nicht? Das Vorgehen bei Signifikanzprüfungen entspricht der von Hypothesenprüfungen. Im ersten Schritt formuliert man die sogenannte Nullhypothese (HQ), derzufolge die empirisch festgestellten Unterschiede zufallsbedingt sind. Genau das Gegenteil behauptet die sogenannte Alternativ- bzw. Arbeitshypothese (Hj), die annimmt, die zu Tage geförderten Unterschiede seien nicht zufällig zustande gekommen. Ob die Nullhypothese als bestätigt oder als widerlegt zu betrachten ist, hängt vom Ausgang des Signifikanztests ab. Wird durch den Signifikanztest die Nullhypothese falsifiziert, gilt dies als Beleg für die tatsächliche Existenz der im Datenmaterial beobachteten Differenzen; die Alternativhypothese wird folglich akzeptiert. Bei diesen Schlußfolgerungen handelt es sich um induktive Schlüsse, die bekanntlich auf Wahrscheinlichkeitsüberlegungen basieren. Alle induktiven Schlüsse implizieren jedoch eine bestimmte Irrtumswahrscheinlichkeit. Welche Irrtümer ein Politikforscher zu machen bereit ist, muß er vor der Datenanalyse durch Angabe des Signifikanzniveaus festlegen. In der politischen Forschung arbeitet man international im allgemeinen mit dem 5%- oder 1%-Signifikanzniveau. Wählt man ein 5 % Signifikanzniveau, so ist man bereit, in fünf von 100 Fällen eine falsche Entscheidung zu fällen; zieht man das 1%-Signifikanzniveau vor, so akzeptiert man lediglich in

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einem von 100 Fällen einen Fehler. Welcher konkrete Signifikanztest in einer Untersuchung gewählt wird, ist abhängig vom Skalenniveau der Daten, von der Verteilungsform des Datenmaterials und von der Art der Stichprobe. D i e bekanntesten Signifikanztests sind der Chi 2 -Test für nominal skalierte Variablen und der t-Test für metrische Variablen.

Literatur Die speziellen empirischen Methoden der Politikwissenschaft unterscheiden sich nicht von denen anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen. Überblicke über die Methoden findet man in allen guten Lehrbüchern der empirischen Sozialforschung. Den Status eines Klassikers nimmt mittlerweile das von René König herausgegebene Handbuch der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 1962, ein. Neuere Handbücher sind: Erwin Roth (Hrsg.); Sozialwissenschaftliche Methoden. Lehr- und Handbuch für Forschung und Praxis, 2. Aufl., München und Wien 1987 und Jürgen Koolwijk und Maria Mieken-Mayser (Hrsg.), Techniken der empirischen Sozialforschung, 8 Bde., München 1974ff. Aus der Vielzahl der Einführungen sei besonders verwiesen auf: Peter Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, 6. neubearb. u. erw. Aufl., Berlin und New York 1991; Robert A. Bernstein und James A. Dyer, An Introduction to Politicai Science Methods, Englewood Cliffs, N.J., 1979; Jürgen Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, 14. Aufl., Opladen 1990; Helmut Kromrey, Empirische Sozialforschung, 4. Aufl., Opladen 1990; Renate Mayntz, Kurt Holm und Peter Hübner, Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie, 5. Aufl., Opladen 1978; Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser, Methoden der empirischen Sozialforschung, 2. Aufl., München und Wien 1989. In die Methoden der qualitativen Sozialforschung führen Walter Spöhring, Qualitative Sozialforschung, Stuttgart 1989; und Siegfried Lamnek, Qualitative Sozialforschung, Bd. 2: Methoden und Techniken, München 1989, ein. Diese Literatur behandelt alle wichtigen Aspekte der empirischen Forschung. Probleme, die mit der Konzeptionalisierung verbunden sind, diskutiert Hubert H. Blalock, Conceptualization and Measurement in the Social Sciences, Beverly Hills und London 1985. Einführungen in die Testtheorie sind Bernhard Orth, Einführung in die Theorie des Messens, Stuttgart usw. 1974; und Heinrich Wottawa, Grundriß der Testtheorie, München 1984. Einen ausgezeichneten Überblick über die Skalierverfahren gibt Friedrich Sixl, Meßmethoden der Psychologie, 2. Aufl., Weinheim 1982. OtisD. Duncan, Notes on Social Measurement, Historical and Criticai, New York 1984, diskutiert Probleme sozialwissenschaftlicher Messungen. Auswahlverfahren behandeln ausführlich: Ferdinand Böltken, Auswahlverfahren. Eine Einführung für Sozialwissenschaftler, Stuttgart 1976; Fritz Pokropp, Stichproben. Theorie und Verfahren, Königstein/Ts. 1980. Einen guten Überblick über die Befragungstechnik geben Schnell, Hill und Essen in dem oben erwähnten Buch. Eine verläßliche Grundlage bietet ferner Erwin K. Scheuch, Das Interview in der Sozialforschung, in dem von René König herausgegebenen Handbuch der empirischen Sozialforschung. Dem Zusammenhang von Frageformulierung und Antwortverhalten gehen Howard Schuman und Stanley Presser, Questions and Answers in Attitüde Surveys, New York 1981, nach. Über Telefonumfragen informieren James A. Frey, Gerhard Kunz und Günther Lüschen, Telefonumfragen in der Sozialforschung. Methoden, Techniken, Befragungspraxis, Opladen 1990. Mit den Einwänden, die Kritiker an der Methode üben, setzt sich Catherine Marsh, The Survey Method: The Contribution of Surveys to Sociological Explanation, London 1982, auseinander. Grundlegend zur sozialwissenschaftlichen Inhaltsanalyse ist Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in die Theorie, Methode und Praxis, Opladen 1983. Einen hervorragenden Überblick über die Methodologie der Inhaltsanalyse gibt ferner Klaus Krippendorff, Content Analysis, Beverly Hills 1980. Peter Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 1988, führt aus der Perspektive qualitativer Sozialforschung in die Materie ein. Für die computergesteuerte Inhaltsanalyse sei auf Robert P. Weber, Basic Content Analysis, Beverly Hills 1985, verwiesen. Über die Beobachtung informiert Karl-W. Grümer, Beobachtung, Stuttgart 1974. Aus der Praxis der teilnehmenden Beobachtung berichten die Beiträge in Reiner

132 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre Aster (Hrsg.), Teilnehmende Beobachtung: Werkstattberichte und methodologische Reflexionen, Frankfurt/M. und New York 1989. Einen guten Überblick bietet auch das oben erwähnte Buch von Lamnek. Mit der Datenaufbereitung beschäftigt sich Nicholas Bateson, Data Construction in Social Surveys, London 1984. Eine elementare Einführung in die sozialwissenschaftliche Datenanalyse gibt Hans Benninghaus, Einführung in die sozialwissenschaftliche Datenanalyse, München 1990. Beschreibende und hypothesenprüfende Verfahren behandelt ausführlich Jürgen Bortz, Lehrbuch der empirischen Forschung - für Sozialwissenschaftler, Berlin 1984. Eine ausgezeichnete Einführung in die Statistik ist Andrew S. C. Ehrenberg, Statistik oder der Umgang mit Daten, Weinheim 1986. Diejenigen, die sich gründlicher mit Statistik befassen möchten, seien u. a. auf Jürgen Bortz, Lehrbuch der Statistik. Für Sozialwissenschaftler, 2. Überarb. Aufl., Berlin usw. 1985, verwiesen. Ottar Hellevik, Introduction to Causal Analysis. Exploring Survey Databy Crosstabulation, London 1984, ist eine gute Einführung in die mehrdimensionale Tabellenanalyse. In die gebräuchlichsten multivariaten Analyseverfahren führen Klaus Backhaus u.a., Multivariate Analysemethoden. Eine anwendungsorientierte Einführung, 5., rev. Aufl., Berlin usw. 1989; sowie Manfred Küchler, Multivariate Analyseverfahren, Stuttgart 1979, ein. Vorteile und Grenzen einiger Methoden der empirischen Forschung werden in dem hervorragenden Buch von Morton Hunt, Die Praxis der Sozialforschung. Reportagen aus dem Alltag einer Wissenschaft, Berlin und New York 1990, aufgezeigt.

VI. Streitfragen Wie in allen Wissenschaften, streiten auch Politologen über Fragen, die die Methodologie der Disziplin betreffen. Was die Zielsetzung der Politikwissenschaft angeht, findet man unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Politikwissenschaft in erster Linie an Gesetzesaussagen oder singulären Sätzen einerseits, an technischen, praktischen oder emanzipatorischen Zielen andererseits interessiert zu sein habe. Kontrovers beantwortet werden auch Fragen, die das Verstehen und Erklären betreffen: ob die Politikwissenschaft eine verstehende oder erklärende Wissenschaft sei, das Verstehen dem Erklären entgegenstehe, oder ob es sich um zwei wissenschaftslogisch unterschiedlich zu bewertende Verfahren handele. Einen breiten Raum hat in der Diskussion der vergangenen Jahrzehnte die Frage nach der Rolle normativer Sätze in der Politikwissenschaft eingenommen. Unterschiedlich beurteilt wird darüber hinaus die in der empirisch-analytischen Wissenschaft anzutreffende Unterscheidung zwischen der Entstehung und Geltung von Theorien, die praktische Bedeutung empirischer Theorien sowie die Rolle der Logik und Methoden der empirischen Politikforschung. In Hinsicht auf das Erkenntnisziel der Politikwissenschaft wird vielfach ein Gegensatz zwischen einer nomologischen und idiographischen Zielsetzung konstatiert. Diese auf Windelband zurückgehende, von Dilthey verschärft vorgetragene Unterscheidung wird insbesondere von Anhängern einer normativ-ontologisch orientierten Politikwissenschaft propagiert. Vertreter der empirisch-analytischen Politikwissenschaft hingegen halten diese prinzipielle Trennung für unfruchtbar. Diejenigen, die einen prinzipiellen Unterschied postulieren, behaupten im Anschluß an Dilthey, in der physikalischen Welt liefen alle Vorgänge nach unveränderlichen Gesetzen ab, während menschliche Handlungen nicht als regelgeleitet zu begreifen seien. Eine empirische Politikwissenschaft, die nur Aussagen anstrebe, die räumlich und zeitlich unbeschränkt Gültigkeit besitzen, verfehle daher ihren Gegenstand. Da es der empirischen Politikwissenschaft bisher nicht gelungen sei, raum-zeitlich unbeschränkt gültige Aussagen aufzustellen, sondern lediglich empirische Regelmäßigkeiten behaupte, die nicht wirklich zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene herange-

VI. Streitfragen

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zogen werden könnten, habe sich das empirisch-analytische Wissenschaftsprogramm selbst ad absurdum geführt. Von empirisch-analytischer Seite wird eingeräumt, die Politikwissenschaft verfüge in der Tat bisher kaum über raumzeitlich-unbegrenzt gültige Gesetze; mittlerweile aber stünden doch schon relativ viele gut bewährte, hinreichend allgemeine, wenn auch raum-zeitlich beschränkte gesetzesartige Aussagen zur Verfügung. Die Kritik an der empirischen Politikwissenschaft dürfte zum Teil daher rühren, daß man eine falsche Vorstellung von den Vorgehensweisen und Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften hat. So wird unterstellt, es handele sich bei naturwissenschaftlichen Gesetzen immer um deterministische und nicht um probabilistische Gesetze. Tatsächlich haben jedoch die weitaus meisten naturwissenschaftlichen ebenso wie praktisch alle sozialwissenschaftlichen Gesetze probabilistischen Charakter. Auch wird übersehen, daß die Erfahrungswissenschaften keineswegs ausschließlich an nomologischem Wissen interessiert sind, daß selbst naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur Erfassung einzelner Ereignisse dienen. Dennoch dürfe nicht übersehen werden, daß alle Politikwissenschaftler, gleich welcher wissenschaftlichen Couleur, immer irgendwelche raumzeitlich-unbeschränkt gültigen Aussagen oder Regeln anwenden, die als Prämissen ihres Aussagensystems fungierten, weil es nämlich nur so möglich sei, irgendwelche gültigen Schlüsse zu ziehen und Erklärungen oder Handlungsanweisungen zu geben. Jede Schlußfolgerung, jedes Urteil, jede Interpretation benötige allgemeine Prinzipien, nur würden diese in den meisten Fällen nicht explizit genannt; sie seien aber prinzipiell rekonstruierbar und damit kritisierbar. Die unterschiedliche Auffassung über die Rolle genereller Aussagen dürften zum Teil aus den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Politikwissenschaftler herrühren. Während etwa Politologen, die ideengeschichtlich orientiert sind, primär an der Erfassung des Individuellen interessiert sind, nämlich z.B. herauszubekommen beabsichtigen, was ein bestimmter politischer Theoretiker in einer Schrift zum Ausdruck bringen wollte und wodurch er sich bezüglich der Begründung von einem anderen Theoretiker unterscheidet, interessieren sich andere eher für die Entwicklung von Parteien und Gesellschaftssystemen oder die Bedingungen politischer Stabilität. Es ist leicht einzusehen, daß in ideengeschichtlichen Arbeiten, die auf der Basis historischer Quellen erstellt werden, implizit eine ganze Reihe Gesetze oder Hintergrundtheorien herangezogen werden, z.B. Gesetze, diezwischen Quellen und Fakten vermitteln. Allerdings ist es meistens nicht nötig, sie in ideengeschichtlich und primär historisch orientierten Arbeiten eigens zu explizieren. Versucht man aber herauszufinden, unter welchen Bedingungen liberal-demokratische Systeme überleben, so ist das Erkenntnisziel auf allgemeine Aussagen gerichtet. Und in Abhandlungen über die Stabilität von Demokratien sind diese allgemeinen Aussagen zu explizieren. Bewährte allgemeine Aussagen werden dann wieder unter Einsetzung von konkreten Randbedingungen herangezogen, um bestimmte Zustände liberaldemokratischer Systeme zu diagnostizieren. Der auf Mißverständnissen beruhende Streit darüber, ob es sich bei der Politikwissenschaft um eine individualisierende oder eine generalisierende Wissenschaft handelt, hat sich daher als völlig unfruchtbar erwiesen. Angemessener ist es, von einer Arbeitsteilung auszugehen, und die unterschiedliche Rolle empirischer Aussagen je nach Begründungszusammenhang zu beachten. Während die einen in erster Linie an der Beschreibung individueller Ereignisse interessiert sind, sind andere vor allem auf der Suche nach sozialwissenschaftlichen Gesetzen und deren Begründung. Schwelt der Streit über die Frage, ob die Politikwissenschaft an Einzelfällen oder an

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Regelmäßigkeiten interessiert ist, seit den Anfängen der Etablierung des Faches an den Universitäten, so wurde mit der Unterscheidung dreier Erkenntnisinteressen durch Habermas ein neuer Streit in die bundesdeutsche Politikwissenschaft hineingetragen. Seit Habermas unterscheiden einige Politologen zwischen einem technischen Erkenntnisinteresse der empirisch-analytischen, einem praktischen Erkenntnisinteresse der normativ-ontologischen und einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse der sogenannten kritisch-dialektischen Politikwissenschaft. Jedem der drei Erkenntnisinteressen seien unterschiedliche Methoden wissenschaftlicher Forschung zu eigen. Der systematisch betriebenen empirisch-analytischen Politikwissenschaft wird vorgeworfen, lediglich ein technisch manipulierbares Wissen zu liefern. Denjenigen Politologen, die der Habermasschen Position der Verbindung von Wissenschaftstypen und Erkenntnisinteressen folgen, wird von empirisch-analytischer Seite ein mangelndes Verständnis empirischer Theorien entgegengehalten. Empirisch gehaltvolle Theorien, die die empirische Politikwissenschaft zu konstruieren beabsichtigt, sind nach diesem Verständnis Voraussetzung für praktische Handlungsanweisungen. Diejenigen, die bestimmte Ziele verfolgen, werden bei den Überlegungen, die sie zur Realisierung dieser Ziele anstellen, die entsprechenden empirischen Theorien berücksichtigen, um die anvisierten Ziele optimal, d.h. mit möglichst wenig Kosten und unter Vermeidung negativer Nebenwirkungen zu erreichen. Die Vorstellung, daß einige Theorien praktischen Zwecken, andere technischen und wieder andere emanzipatorischen Zwecken dienen, wird verworfen, da eine zutreffend empirische Theorie stets für beliebige Zwecke verwertbar ist. Die Gegner liberal-demokratischer Systeme ziehen die Erkenntnisse der empirischen Demokratieforschung ebenso heran wie deren entschiedensten Befürworter. Die Interessenlehre der sogenannten kritisch-dialektischen Politikwissenschaft übersieht leicht, daß man zur Herstellung einer freien und vernünftigen Gesellschaftsordnung in erster Linie das von ihnen als „technisch" apostrophierte (und damit abgewertete) Wissen der empirischen Wissenschaften benötigt. Wie man unschwer beobachten kann, wird in der politischen Praxis tatsächlich auf mehr oder weniger gute empirische Theorien zurückgegriffen. In der Entwicklung der Humanwissenschaften wird seit Dilthey eine These vertreten, die auch das Methodenverständnis vieler Politikwissenschaftler geprägt hat: Wie einige Nachbardisziplinen verfüge die Politologie über eine von der Erklärung grundsätzlich verschiedene, ja dieser sogar überlegenen Methode, nämlich die Methode des Verstehens. Dieser methodische Unterschied differenziere grundlegend zwischen Human- und Naturwissenschaften. Während das Erklären die angemessene Methode der Naturwissenschaften darstelle, sei das Verstehen den besonderen Bedürfnissen der Geistes- und Sozialwissenschaften angemessen. Unter Berufung auf Dilthey wird in diesem Zusammenhang immer wieder betont, die Vorgänge in der Natur unterlägen einer „blinden Naturkausalität" und würden dementsprechend erklärt. Menschliches Handeln dagegen könne nicht erklärt, sondern nur verstanden werden, weil man auf die Motive der beteiligten Personen zurückgehen müsse. Gegen diese Ansicht vom Gegensatz zwischen Erklären und Verstehen ist von empirisch-analytischer Seite eingewandt worden, das Verstehen könne zwar das Erklären begleiten und erleichtern; auch mache man von verschiedenen Formen des Verstehens Gebrauch; doch komme dem Verstehen im Forschungsprozeß eine ganz andere Rolle zu als dem Erklären. Jede Wissenschaft mache von Erklärungen Gebrauch; daher könne das Verstehen dem Erklären nicht entgegengesetzt werden. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion habe sich überdies gezeigt, daß es sinnlos ist, den Natur- und Geisteswissenschaften je eigene Methoden zuzuordnen.

VI. Streitfragen

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Sowohl in den Natur- als auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften spielten Verstehen und Erklären nebeneinander eine wichtige Rolle. Unstrittig sei ferner, daß das Verstehen eine wichtige heuristische, d.h. erkenntnisfördernde Funktion erfülle. Erklärungen könne es jedoch nicht ersetzen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sollte man verschiedene Verwendungsweisen des Wortes „Verstehen" unterscheiden. Viele Streitigkeiten sind nämlich darauf zurückzuführen, daß unterschiedliche Verwendungsweisen des Ausdrucks nicht hinreichend Berücksichtigung fanden. Ein Politologe kann beispielsweise eine mathematische Gleichung, die den Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren politischen Größen ausdrückt, verstehen. Er versteht sie, wenn ihm die Gleichungen vertraut bzw. die Ableitungen klar sind. In diesem Sinne ist das Verstehen nicht nur eine grundlegende Operation der Politologie, sondern aller Wissenschaften. Man nennt dieses Verstehen Zusammenhangsverstehen. Man spricht ferner davon, daß man eine Äußerung einer Person versteht, wenn die Bedeutung der Äußerung adäquat gedeutet, d. h. ein sprachlicher Ausdruck als Äußerung eines Sinnes aufgefaßt wird. Dieses Ausdrucksverstehen kann allerdings nicht als eine Methode aufgefaßt, sondern muß als ein Ergebnis angesehen werden. Es gibt zudem Situationen, in denen man zwar den Sinn einer Äußerung versteht, aber nicht, warum eine Person gerade das sagt, was sie sagt. Dies kann man eventuell zutage fördern, wenn man die seelischen Vorgänge der fraglichen Person nachvollzieht, d.h. die Motive und Intentionen zu eruieren versucht. Dieses einfühlende Verstehen wird der Erklärung häufig gegenübergestellt. Um eine Klärung des Verstehensproblems herbeizuführen, muß man diese unterschiedlichen Bedeutungen klar auseinanderhalten. Die Methode des Verstehens läßt sich wie folgt rekonstruieren: Will man verstehen, warum eine Person oder eine Personengruppe eine bestimmte Handlung ausführt, so versucht man, sich in die Lage dieser Person oder Personengruppe zu versetzen. Man verschafft sich Klarheit über die Situation, in der sich die Person oder die Personengruppe befindet, und bemüht sich, in die Welt dieser Person oder Personengruppe einzudringen, indem man ihre politischen Einstellungen, Meinungen, Normen, Erfahrungen etc. in Erfahrung zu bringen versucht. Sodann versucht man, sich die Motive und/oder Erwartungen der Akteure zu vergegenwärtigen, durch welche die Entscheidung beeinflußt wird. Der Politikforscher führt in diesem Fall also ein Gedankenexperiment durch, wie es auch im Alltag fortwährend bei der Interpretation alltäglicher Handlungen anzutreffen ist. Man versteht eine Handlung dann durch Einfühlung, wenn man eine auf persönlicher Erfahrung beruhende Regel auf die zu verstehende Handlung anwendet. Diese Methode des Verstehens läßt sich jedoch keiner bestimmten Schule zuordnen und auch nicht der Erklärung als Alternative entgegensetzen. Denn bei der Methode des Verstehens in diesem Sinne handelt es sich um ein heuristisches Verfahren, das zu gewissen Hypothesen führen kann, die dann in einem nächsten Schritt als Sätze einer Erklärung verwendet werden können. Die Frage der Hypothesengewinnung ist jedoch zu trennen von der Frage der Geltung einer Hypothese. Ein Gedankenexperiment der beschriebenen Art gibt nämlich keine verläßliche Auskunft darüber, ob die mittels Verstehen gewonnenen Sätze der Wissenschaft auch zutreffen, es macht eine Überprüfung nicht überflüssig, sondern erfordert diese in einem zweiten, nachfolgenden Schritt. Hermeneutische Analysen, die eine derartige Methode des Verstehens anwenden, sind somit für die Gewinnung von Hypothesen überaus nützlich. Bevor derart gewonnene Sätze über die Realität aber als vorläufig gesichert gelten können, müssen sie durch empirische Verfahren überprüft werden. Überstehen die mittels der Methode des Verstehens gewonnenen

136 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

Verhaltensregelmäßigkeiten empirischen Überprüfungen, so können sie für Erklärungen und Handlungsanweisungen herangezogen werden. Werden die empirischen Prüfungen durchgeführt, und bewähren sich die zugrundegelegten Verhaltensregelmäßigkeiten, so kann man von einem objektiven Verstehen sprechen, das wiederum als eine Form der wissenschaftlichen Erklärung angesehen werden kann. Zurecht ist von Verstehens-Theoretikern darauf hingewiesen worden, daß das Verstehen in gewisser Hinsicht auch umfassender als das Erklären ist. Wenn man versteht, warum bestimmte Personen sich so und nicht anders verhalten, kann man im Prinzip immer auch eine Erklärung geben. Wenn man das Verhalten von Personen erklären kann, muß man aber noch nicht verstanden haben, warum die betreffenden Personen sich in einer bestimmten Weise verhalten haben. Denn in einer Erklärung kann man zwar von Regeln Gebrauch machen, denen Menschen folgen, man muß es aber nicht, während in Verstehensakten derartige Regeln immer benutzt werden. Vertreter der Frankfurter Schule haben im sogenannten Positivismusstreit in ihrer allgemeinen Wissenschaftskritik auch starke Vorbehalte gegenüber der Logik geäußert und systematisches Denken pauschal kritisiert und abgewertet. Während man in den empirisch-analytischen Wissenschaften darauf besteht, daß Aussagensysteme konsistent aufgebaut sind, um widersprüchliche Aussagen auszuschließen, stehen einige Vertreter der Frankfurter Schule dieser Forderung ohne Verständnis gegenüber. Dies dürfte darauf beruhen, daß man der Logik einige Eigenschaften zugeschrieben hat, die sie nicht besitzt. So hat etwa Theodor Adorno im sogenannten Positivismusstreit (der gar nicht um den Positivismus, sondern um den Kritischen Rationalismus Poppers ging) Widersprüche, die er in der Wirklichkeit zu registrieren meinte, mit logischen Widersprüchen gleichgesetzt und aus der Tatsache, daß die Logik auf dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit aufgebaut ist, die Schlußfolgerung gezogen, daß man mittels der Logik keine gesellschaftlichen Widersprüche in den Griff bekommen könne. Habermas hat schließlich darauf aufbauend einen Gegensatz zwischen Logik und Hermeneutik zu konstruieren versucht. Später haben Vorbehalte gegenüber der Logik sogar in einige Lehrbücher der Politikwissenschaft Eingang gefunden. Man hat dabei übersehen, daß Hermeneutik und Logik zwei verschiedene Dinge sind. Während die Logik sich ausschließlich mit den Regeln vernünftigen Argumentierens beschäftigt und Auskunft darüber gibt, unter welchen Umständen ein Schluß gültig ist, bezieht sich die Hermeneutik darauf, wie eine Interpretation zustande kommt. Simon-Schäfer hat aus diesem Grund gegen Habermas und Adorno eingewandt, daß sich Sinnverstehen und zwischenmenschliche Kommunikation nicht in einer dem logischen Denken fremden Sphäre vollziehen und man nicht zwischen logisch und hermeneutisch verfahrenden Wissenschaften trennen könne. In der Praxis verfährt die Politikwissenschaft je nach Forschungszusammenhang sowohl hermeneutisch verstehend wie bei der Interpretation von Texten und Handlungen als auch logisch schließend, so z.B., wenn aus Prämissen Konklusionen abgeleitet werden oder wenn die Verträglichkeit von Theorien zu prüfen ist. In einer kritischen Analyse der Möglichkeiten sozialwissenschaftlicher Forschung formulierte zu Anfang dieses Jahrhunderts Max Weber das sogenannte Prinzip der Wertfreiheit. Es geht von dem Umstand aus, daß man erfahrungswissenschaftlich nicht begründen kann, was jemand soll, darf oder nicht darf, sondern lediglich, was man kann oder unter Umständen auch, was man will. Daraus leitete Weber die Forderung ab, Wissenschaftler sollten die Ergebnisse der Forschung und Stellungnahmen, die diese Ergebnisse als erfreulich oder unerfreulich beurteilten, strikt auseinanderhalten. Weber stellte mit diesem Prinzip eine noch heute in der Politikwissenschaft

VI. Streitfragen

137

weit verbreitete Praxis in Frage, derzufolge Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ihre eigenen politischen Vorlieben und Abneigungen als Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis auszugeben pflegen. Das Webersche Prinzip der Wertfreiheit hat sich in der Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum trotz seiner logisch zwingenden Begründung, nach der aus einem Seinssatz niemals ein Sollenssatz abgeleitet werden kann, nicht durchgesetzt. Gegen die Wertfreiheitsthese wird häufig vorgebracht, eine wertfreie Sozialwissenschaft sei entweder unmöglich oder nicht wünschenswert, eine angemessene politische Forschung verlange vielmehr auch Werturteile. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es nützlich, zunächst mit Albert zwischen drei die Wertproblematik berührenden Problemen zu unterscheiden: der Wertbasis der Wissenschaft, Werten als Objekt erfahrungswissenschaftlicher Forschung und dem eigentlichen Werturteilsproblem. Sehr oft wird gegen die Wertfreiheitsthese eingewandt, eine wertfreie Forschung sei unmöglich, weil Wertungen die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes und die Fragestellung beeinflußten. Daß solche Faktoren eine erhebliche Rolle im Forschungsprozeß spielen, wird auch von deren Befürwortern nicht bestritten. Es ist aber deshalb kein stichhaltiges Argument gegen die Wertfreiheitsthese, weil die Frage normativer Voraussetzungen von Wissenschaft die Wertfreiheitsthese nicht berührt. Diese bezieht sich ausschließlich auf sozialwissenschaftliche Aussagenzusammenhänge, nicht aber auf die Entstehung und Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Daß normative Gesichtspunkte insbesondere bezüglich der Problemstellung, des Begriffsapparates und der Auswahl der zu prüfenden Theorie eine Rolle spielen, dürfte von niemandem bestritten werden. Auch hat bereits Max Weber darauf hingewiesen, daß Werte Gegenstand der Forschung sein können. So analysieren Politikwissenschaftler Wertvorstellungen ganzer Nationen und ausgewählter Gruppierungen im historischen Kontext; sie versuchen herauszufinden, welche Werte in welcher Gesellschaft auf welche Weise verankert sind und welche Faktoren die Herausbildung von Wertstrukturen beeinflussen. Zudem untersuchen Politikwissenschaftler, welche Folgen bestimmte Wertstrukturen unter gewissen Bedingungen für gesellschaftliches Handeln zeitigen können. Wieder andere Politikwissenschaftler prüfen, inwieweit bestimmte Werte miteinander vereinbar sind und welches Verhältnis zwischen wertenden Sätzen besteht. Nun wird aber, wie oben schon angeschnitten, gelegentlich die These vertreten, das subjektive Interesse des Forschers beeinflusse nicht allein seine Problemstellung, sondern auch seine Problemlösung. In der Tat dürften viele vorgebrachte Problemlösungen von den subjektiven Interessen der Beteiligten beeinflußt worden sein, d.h. Wertgesichtspunkte können durchaus in vielen Fällen zur Annahme oder Ablehnung von Aussagen geführt haben. Die Befürworter der Wertfreiheitsthese sind aber der Meinung, diese Praxis könne so wenig als Argument gegen die Wertfreiheitsthese verwendet werden wie die Existenz oder die Zunahme von Tötungsdelikten den Mordparagraphen des Strafgesetzbuches widerlegen würden. Auch die Gegner des Wertfreiheitsprinzips akzeptierten schließlich die Regel, daß ausschließlich intersubjektive Überprüfungsmethoden und nicht etwa subjektive Wertungen über die Richtigkeit von Aussagen entscheiden. Die eigentlich strittige Frage auch unter Politologen ist, inwieweit politikwissenschaftliche Sätze selbst normativen Charakter haben müssen. Während die einen meinen, als Wissenschaftler sagen zu können, welche politischen Ziele richtig oder falsch sind, lehnen die anderen (als Wissenschaftler!) Behauptungen über die Richtigkeit politischer Zielsetzungen ab, da diese empirisch nicht zu begründen sind. Die

138 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre

Kontroverse berührt also zum einen die Frage, ob eine Politikwissenschaft, die Werturteile über ihren Gegenstandsbereich formuliert, überhaupt möglich ist, und zum anderen, ob eine normative Politikwissenschaft notwendig ist. Die Anhänger der Wertfreiheitsthese pochen darauf, den unterschiedlichen Geltungsanspruch von Werturteilen und Tatsachenaussagen anzuerkennen und lediglich die Tatsachenaussagen, zu denen auch begründete Handlungsanweisungen zählen, als wissenschaftlich zu beurteilen, und Bewertungen faktischer Zustände den einzelnen Wissenschaftlern und Studenten selbst zu überlassen. Keinem Politologen wird folglich von der Position der Werturteilsfreiheit her verboten, zu politischen Ereignissen Stellung zu nehmen. Was gefordert wird, ist lediglich eine strikte Trennung von politisch-wertenden und Tatsachenaussagen; individuelle politische Bewertungen dürfen nicht als wissenschaftlich ausgegeben werden, da sie nicht entsprechend begründet werden können. Den Befürwortern dieser Position wird manchmal entgegengehalten, sie verfalle damit einem blinden Dezisionismus. Erkennen Politologen den Unterschied von Tatsachen und Entscheidungen an, so folgt daraus lediglich die Forderung, die beiden Bereiche auseinanderzuhalten, nicht jedoch ein blinder Dezisionismus und auch keine Diskriminierung der praktischen Vernunft. Schon Weber erkannte es als legitim an, daß Wissenschaftler politische Überzeugungen haben; er wollte sie nur aus der Wissenschaft heraushalten, um so möglichst unpolemische und sachliche Diskussionen zu ermöglichen und Wissenschaftler nicht aufgrund ihrer politischen Weltanschauung zu diskriminieren. Verfechter einer wertenden Politikwissenschaft stehen darüber hinaus auf dem Standpunkt, eine wertfreie empirisch-analytische Politikwissenschaft habe keinerlei Relevanz für die politische Praxis, was auf eine Unterschätzung der praktischen Verwertbarkeit empirischer Theorien hinausläuft. Die Vertreter der empirischanalytischen Wissenschaft betonen demgegenüber immer wieder, zuerst müßten theoretische Anstrengungen unternommen werden, d.h. zuerst seien Theorien zu konstruieren, denn nichts habe sich als derart praxisrelevant erwiesen, wie bewährte, informative Theorien. Eine Politikwissenschaft, die über zutreffende gehaltvolle Theorien verfüge, stelle Wissen über wahrscheinliche Entwicklungen, die sich unter bestimmten Bedingungen vollziehen, und über alternative Handlungsmöglichkeiten bereit. Inwieweit empirische Theorien verwertbar sind, hänge ausschließlich von ihrem Informationsgehalt und ihrem Objektbereich ab. Die Wissenschaft könne nur unter Verwendung bewährter empirischer Theorien Politikern und anderen Adressaten begründete Handlungsempfehlungen unterbreiten. Subjektive Wertpräferenzen der Forscher spielten hierfür keine Rolle. Auch hänge die Praxisrelevanz der Politikwissenschaft nicht von der Verwendung normativer Sätze ab, wie einige Politikwissenschaftler unterstellen. Bereits im Abschnitt über die historische Entwicklung der Forschungsmethodologie haben wir auf die seit der Aufklärung für die empirisch-analytischen Wissenschaften konstitutive Untersuchung von Entdeckungs- und Begründungszusammenhang von Theorien hingewiesen. Für den Bereich der Begründung politikwissenschaftlicher Erkenntnisse ist danach die Methodologie der Politikwissenschaft einschließlich der empirischen Sozialforschung von zentraler Bedeutung. Hingegen ist der Entdekkungszusammenhang politikwissenschaftlicher Aussagen Thema der Wissenschaftsgeschichte, -psychologie und -Soziologie. Die Kritische Theorie lehnt die in den modernen empirisch-analytischen Wissenschaften gemachte Unterscheidung zwischen der Entstehung und Geltung einer wissenschaftlichen Aussage als ideologisch ab. Die Gültigkeit von Aussagen der Wissenschaftler sei abhängig von deren Interes-

VI. Streitfragen

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sen. Nach Auffassung der empirisch-analytischen Politikwissenschaftler ist eine Theorie aber nicht deshalb richtig oder falsch, weil sie von einem kommunistischen, sozialdemokratischen oder liberalen Politikwissenschaftler stammt. Nicht das gesellschaftliche Interesse entscheidet über die Annahme einer politikwissenschaftlichen Aussage, sondern die kritische Prüfung auf der Grundlage methodologischer Überlegungen. Fortschritt in der Politikwissenschaft resultiert aus der Konkurrenz miteinander rivalisierender theoretischer Konzepte und Forschungsprogramme. Die enge Verknüpfung von empirischer und theoretischer Forschung ist von uns wiederholt zum Ausdruck gebracht worden. Gesetzesartige Aussagen können nicht ausschließlich aus Beobachtungsaussagen gewonnen werden, oft sind sie sogar lediglich ein Produkt der Phantasie. Theoretische Aussagen sind daher ständig mit der Realität zu konfrontieren. Daß dies nur mittels geeigneter Methoden geschehen kann, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Doch wird der empirischen Politikwissenschaft von traditionellen Politikforschern vorgeworfen, sie erhebe die Methoden zum Selbstzweck und perfektioniere ihre Methoden ständig, statt sich den eigentlich wichtigen Problemen zuzuwenden. Die empirischen Politikforscher würden mit ihren Methoden lediglich zu trivialen Ergebnissen gelangen. Um diesen Vorwurf in ein hübsches Aperçu zu fassen: Alles, was sich zählen lasse, zähle nicht; und alles, was zähle, lasse sich nicht zählen. Ferner wird kritisiert, die empirische Politikwissenschaft ordne die Theorie der Methode unter. Im Hinblick auf den Vorwurf mangelnder Relevanz empirischer Forschung ließe sich dieser Kritik entgegenhalten, daß eine politikwissenschaftliche Arbeit nicht an sich, sondern immer nur hinsichtlich einer bestimmten Fragestellung bzw. Forschungsprogramms relevant oder irrelevant sein kann. Eine Untersuchung ist hinsichtlich der einen Fragestellung folglich relevant, hinsichtlich der anderen hingegen völlig irrelevant, und zwar unabhängig davon, welche Methoden angewendet werden. Überdies stehen die Ergebnisse einer politikwissenschaftlichen Untersuchung nicht schon vor deren Durchführung fest, man kann daher immer erst nachträglich beurteilen, inwieweit Forschungsergebnisse verwertbar sind. Manchmal stellt sich die Relevanz einer Forschungsarbeit sogar erst Jahre später heraus. Darüber hinaus ist die Originalität der Fragestellung von großer Bedeutung. Welche Methoden angemessen sind, läßt sich nur in Abhängigkeit von der Fragestellung einer Untersuchung entscheiden. Nicht die Methode bestimmt die Fragestellung, sondern die Fragestellung die Methode, d. h., die Wahl der Methoden darf nicht willkürlich erfolgen. Politikwissenschaftler setzten Methoden ein, um etwas über die Geltung politikwissenschaftlicher Aussagen in Erfahrung zu bringen. Da aber eine einmal angewandte Methode nicht alle Probleme löst und selbst wieder der Verbesserung bedarf, sind auch Diskussionen über die Leistungsfähigkeit und vor allem die Verbesserung der Methoden wünschenswert. Die Beschäftigung mit Methoden ist also notwendig und daher positiv zu bewerten. Vor allem gegenüber den statistischen Methoden werden Vorbehalte geäußert, die jedoch häufig genug auf Unkenntnis über die Leistungsfähigkeit der statistischen Auswertungsverfahren beruhen. Statistik erschöpft sich nicht in der Zusammenfassung und Darstellung von Daten. Gerade die Entwicklung multivariater statistischer Analyseverfahren hat die politikwissenschaftliche Forschung vorwärts gebracht. Erst multivariate Verfahren ermöglichen die empirische Überprüfung komplexer Aussagensysteme. Gelegentlich wird auch kritisiert, die Anwendung bestimmter Methoden erfordere einen zu hohen Aufwand, der in keinem Verhältnis zum Ertrag stünde. Solche Kritik legt jedoch letztlich der Bewertung von Problemstellungen, Methoden und Erträgen subjektive Maßstäbe zugrunde. So halten manche Politikforscher

1 4 0 Teil II: Grundzüge der politikwissenschaftlichen Forschungslogik und Methodenlehre m e t h o d o l o g i s c h e U n t e r s u c h u n g e n für w e i t g e h e n d überflüssig, a n d e r e s e h e n nicht so r e c h t ein, w a r u m m a n viel W e r t auf b e s c h r e i b e n d e zeit- und ideengeschichtliche A r b e i t e n legt. D i e F r a g e des Verhältnisses v o n A u f w a n d und E r t r a g ist unserer A u f f a s s u n g n a c h j e d o c h solange u n f r u c h t b a r , wie nicht an k o n k r e t e n

Arbeiten

aufgezeigt wird, w o die E r h e b u n g und A u s w e r t u n g d e r I n f o r m a t i o n e n zu aufwendig ist und w e l c h e M e t h o d e n zur L ö s u n g w e l c h e r P r o b l e m e i n a d ä q u a t sind. E m p i r i s c h e Politikforscher halten d a h e r ihren Kritikern e n t g e g e n , ihre Kritik an d e r V o r g e h e n s w e i s e d e r empirischen Politikwissenschaft sei wenig ü b e r z e u g e n d , d a nicht aufgezeigt w e r d e , wie m a n die v o n d e r empirischen Politikforschung a n g e g a n g e n e n P r o b l e m e mit a n d e r e n M e t h o d e n und weniger A u f w a n d lösen k ö n n e ; dies w ü r d e allerdings v o r a u s s e t z e n , d a ß die Kritiker d e r empirisch-analytischen F o r s c h u n g s m e t h o d o l o g i e dieser eine a u s g e a r b e i t e t e alternative M e t h o d o l o g i e e n t g e g e n s e t z e n . S o l a n g e diese nicht existiert, bleibt uns im Sinne einer r a t i o n a l e n H a n d l u n g s s t r a t e g i e nichts a n d e r e s übrig, als uns in u n s e r e r empirischen A r b e i t d e r v e r f ü g b a r e n M e t h o d e n zu b e d i e n e n und uns auf die M e t h o d o l o g i e zu b e r u f e n , die wir i m vorliegenden K a p i t e l skizziert haben.

Literatur Unterschiedliche Positionen werden neuerdings von Oscar W. Gabriel, Konflikt oder Kooperation? Zur Beziehung zwischen traditioneller und empirischer Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, und Eberhard-Schütt-Wetschky, Praxisorientierte Politikwissenschaft. Kritik der empirisch-analytischen und behavioralistischen sowie der traditionellen normativen Position, vertreten, die beide in dem von Peter Haungs herausgegebenen Band Wissenschaft, Theorie und Philosophie der Politik. Konzepte und Probleme, Baden-Baden 1990, erschienen sind. Wissenschaftstheoretische Positionen der Soziologie, die auch die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung prägten, finden sich in Theodore W. Adorno u.a., D e r Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin 1969. Verschiedene Sichtweisen der Geisteswissenschaften finden sich in dem von Roland Simon-Schäfer und Walther Ch. Zimmerli herausgegebenen Band Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, Hamburg 1975. Darstellungen unterschiedlicher Positionen in der Politikwissenschaft finden sich u.a. in Ulrich von Alemann und Erhard Forndran, Methodik der Politikwissenschaft. Eine Einführung in Arbeitstechniken und Forschungspraxis, 4., Überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart usw. 1990; Carl Bohret, Werner Jann und Eva Kronenwett, Innenpolitik und politische Theorie. Ein Studienbuch, 3., neubearb. u. erw. Aufl., Opladen 1988; Wolf-Dieter Narr, Theoriebegriffe und Systemtheorie, 4. Aufl., Stuttgart usw. 1976; Frieder Naschold, Politische Wissenschaft. Entstehung, Begründung und gesellschaftliche Einwirkung, Freiburg und München 1970; Klaus von Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung, München 1972. In der von Robert H. Schmidt herausgegebenen Textsammlung Methoden der Politologie, Darmstadt 1967, sind einige ältere Beiträge der Vertreter unterschiedlicher Richtungen der Politikwissenschaft versammelt, in der von Karl Acham herausgegebenen Schrift Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978, werden einige für die Methodenlehre der Politikwissenschaft wichtige Probleme diskutiert. Die Sicht der normativen Politiktheorie findet sich u. a. bei Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied 1962, und Dieter Oberndorfer, Politik als praktische Wissenschaft, in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik, Freiburg im Br. 1962. D e r empirisch-analytischen Richtung zuzurechnen sind u. a. Arnold Brecht, Politische Theorie, Tübingen 1961 und Hans Albert, Traktat überkritische Vernunft, 4 . , verb. Aufl., Tübingen 1980. Eine kritisch-dialektische Position vertritt u . a . Jörg Kammler, Gegenstand und Methode der politischen Wissenschaft, in: Wolfgang Abendroth und Kurt Lenk (Hrsg.), Einführung in die politische Wissenschaft, 2. Aufl., München 1974. Ausführlicher findet sich die Position bei deren führendem Vertreter: Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, erw. Aufl.,

VI. Streitfragen

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Frankfurt am Main 1985. Über verschiedene Streitfragen in der amerikanischen Politikwissenschaft nach 1945 informiert Jürgen W. Falter, Der „Positivismusstreit" in der amerikanischen Politikwissenschaft. Entstehung, Ablauf und Resultate der sogenannten Behavioralismus-Kontroverse in den Vereinigten Staaten 1945-1975, Opladen 1982. Der klassische Text zur Werturteilsfrage ist Max Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 19,1904. Die Werturteilskontroverse ist neuerdings von Herbert Keuth, Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit, Tübingen 1989, umfassend und kompetent aufgearbeitet worden. Ein klassischer Text zur Methode des Verstehens ist Theodore Abel, The Operation Called „Verstehen", in: American Journal of Sociology, Jg. 54,1949 (deutsch in: Hans Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, Tübingen 1964). Zum Verhältnis von Erklären und Verstehen sei auf den Beitrag von Günter Patzig, Erklären und Verstehen. Bemerkungen zum Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, in: Neue Rundschau, Jg. 84, 1973, verwiesen. Zum Theorie-PraxisProblem aus kritisch-rationaler Sicht Hans Albert, Traktat über rationale Praxis, Tübingen 1978.

Teil III: Politische Ideengeschichte (Arno Mohr)

I. Das Thema Wie so manches, was die Politikwissenschaft ihr eigen nennt, ist auch der Arbeitsbereich der politischen Ideengeschichte keine ausschließliche Domäne dieser Disziplin, denn sie ist gezwungen, die Ergebnisse anderer Wissenschaften wie vor allem der Philosophie, aber auch der Soziologie, zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Jedoch hat es, seit man im internationalen Maßstab von einer selbständigen Politikwissenschaft sprechen kann - in den USA vor, in Europa und anderswo nach dem Zweiten Weltkrieg - , eigentlich nie einen Zweifel daran gegeben, daß dieses weite Feld zu den Hauptbestandteilen des Faches zu zählen sei. Selbst ein Autor wie der Engländer T. D. Weldon, der aus seinen antiessentalistischen Neigungen nie einen Hehl gemacht hat, hatte nach dem Krieg erstaunlicherweise davor gewarnt, das Studium der Klassiker zu vernachlässigen, sofern man deren Einsichten nicht als ,ewige Wahrheiten' zu verkaufen sucht. Praktische politische Probleme könnten ohne Rückgriff auf bestimmte philosophische Vorstellungen nicht diskutiert werden (Weldon, 20, 22). Belege gibt es also genug für die Behauptung, daß die Geschichte des politischen Denkens zum definitiv verbindlichen Kanon der Politikwissenschaft gehört, ob im Forschungs-, Lehr- oder Prüfungsbereich. Jede Fachbibliographie sorgt dafür, daß wir in dieser Hinsicht nicht enttäuscht werden. Als die International Political Science Association Ende der 40er Jahre in Verbindung mit der UNESCO daran ging, das Lehrgebäude der „political science" zu umgrenzen und mit einer gewissen Verbindlichkeit auszustatten, stand die Einbeziehung der Ideengeschichte außerhalb jeglicher Diskussion. Die nationalen politologischen Vereinigungen unterhalten ideengeschichtliche Sektionen, deren Ausdifferenzierungs- und Spezialisierungsgrad sich meist spiegelbildlich zur Gesamtsituation des Faches bestimmen läßt. Wer zum erstenmal die führende politologische Fachzeitschrift der Welt, die American Political Science Review, aufschlägt, der wird sich vielleicht im ersten Moment fragen, ob er sich nicht in ein mathematisches Kabinett verirrt habe, wenn er sich mit dem hochformalisierten Duktus einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Artikeln konfrontiert sieht, aber er wird schnell wieder seine Befriedigung finden, und das Gefühl, doch die richtige Zeitschrift zur Hand genommen zu haben, wird rasch wiederkehren, wenn er zwischen diesen schwerverständlichen Texten auf Aufsätze über Plato, Machiavelli, Hobbes oder Hegel stößt. Gerade die Anlage der allgemeinen Fachzeitschrift, die ein unvermitteltes Nebeneinander von Abhandlungen über platonische Dialoge und solchen unter Zuhilfenahme mathematischer Ableitungen erlauben, scheint die vielbeschworene Pluralität der Politikwissenschaft nicht nur zu suggerieren, sondern auch nachhaltig zu beweisen. Unantastbar ist die Stellung der Ideengeschichte auch im Lehr- und Prüfungsbereich. Es gibt bei uns in Deutschland kaum einen politikwissenschaftlichen Fachbereich, der nicht ideengeschichtliche Veranstaltungen anbietet, vielleicht nicht in jedem Semester - das ist abhängig von der personellen Ausstattung der Institute. Die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft zählt die „Geschichte der politischen Ideen" sowie „zeitgenössische politische Theorien und Ideologien" in ihren Empfehlungen für den Diplom- und den Magisterstudiengang vom März 1982, die noch Für wertvolle Hilfe danke ich Horst Schmitt und Bernd Platzdasch.

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Teil III: Politische Ideengeschichte

allgemein anerkannt sind, zu den Kernbereichen des Faches. In den meisten Studienund Prüfungsordnungen der Hochschulen findet die Ideengschichte Erwähnung. Niemand stellt offenkundig die prinzipielle Bedeutung der Geschichte des politischen Denkens für die Politikwissenschaft grundsätzlich in Frage; aus einer Aufstellung der Interessensgebiete amerikanischer Politologen aus den 80er Jahren erfahren wir z.B., daß der Bereich Systems of political ideas in history gut vertreten ist (Kirkpatrick/Andrews, 366). Und doch müssen wir uns von Kennern der Materie sagen lassen, daß das Interesse an diesem Gebiet im Durchschnitt in den letzten zwei Jahrzehnten zurückgegangen ist. Dies ist der Befund von John Gunnell für die Situation der amerikanischen Politikwissenschaft, dies ist ebenso der Befund Udo Bermbachs für die entsprechende Situation in der alten Bundesrepublik. Fügen wir ein paar äußerliche Indikatoren hinzu: Wenn wir uns einmal den Rezensionsteil der APSR vornehmen, so werden wir feststellen, daß in den 60er Jahren die History of Political Thought noch ausdrücklich vorkommt, daß sie in den 70er und zum größten Teil noch in den 80er Jahren im Bereich Normative Theory (in Absetzung von Empirical Theory) und neuerdings im Bereich Political Theory aufgeht. Ist bei uns der Ideengeschichte in den Einführungsbüchern noch vor über 20 Jahren eigene Kapitel gewidmet worden, so ist dies später nicht mehr der Fall. Der Traité de science politique, das neue große französische Einführungswert (1985), enthält keinen eigenen Abschnitt über die Ideengeschichte, diese Materie verliert sich in der Theorie der Politik. Die Vernachlässigung ideengeschichtlicher Themen in den Lehrveranstaltungen in der Bundesrepublik ist sei Ende der 60er Jahre mehr und mehr mit Händen zu greifen, und Mitte der 80er Jahre sieht sich Hans-Hermann Hartwich genötigt, den Tatbestand abnehmender Beachtung dieses Gebietes zu registrieren (Hartwich 1987, 25). Die eben beschriebene Situation ist paradox, denn einer allseit anerkannten Unterdisziplin der Politikwissenschaft droht die Marginalisierung. Die Entwicklung scheint darauf hinauszulaufen, daß die Ideengeschichte zu einem Propädeutikum herabgesetzt wird, zu einer Vorschule dessen, was wir „Politische Theorie", „Political Theory", nennen, inklusive dessen, was als „Politische Philosophie" bezeichnet wird, eines Erkenntnistyps, der vorrangig die systematische Erörterung normativer Fragestellungen betreibt. Es scheint, daß heute ein Stadium erreicht worden ist, in welchem der Vorgang der Absorption der Ideengeschichte durch die Politische Theorie zu seinem Ende gebracht worden ist. Die diachrone Perspektive der Ideengeschichte wird verdrängt durch den systematischen Charakter der Fragestellungen der Politischen Theorie. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, daß Politische Theorie dort sich zu exponieren vermag, wo sie eine empirische Fundierung hat, wo nicht die Autorität eines Klassikers in die Waagschale geworfen werden muß, um die Plausibilität und Tragfähigkeit einer bestimmten Aussage zu rechtfertigen, sondern die konkrete Forschung am Gegenstand selbst. Robert Dahl, einer der Matadoren des Behavioralismus, also derjenigen Richtung, die zwei bis drei Jahrzehnte nach 1945 der amerikanischen Politikwissenschaft den Stempel aufgedrückt hat, für die nur Tatsachen, keine ungeprüften Lehrmeinungen zählen, hat diese Einstellung in seiner Modern Political Analysis (1963) auf den Punkt gebracht. Er bezweifelt hier, ob das Studium der Schriften von Aristoteles, von Machiavelli, von Rousseau oder der Federalist Papers zu einem Verständnis des modernen politischen Prozesses auch nur in Ansätzen führen würde. Und je mehr Erfahrung man im Umgang mit empirischer Forschung zu machen in der Lage ist - was weitgehend auch vom nationalen Traditionszusammenhang und sozialen und mentalen Kontext abhängt - , um so

I. Das Thema

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größer wird sich die Distanz zur eigenen Überlieferungsgeschichte bestimmen. Im übrigen spricht man dann nicht mehr von Ideen-, sondern neuerdings von Theoriengeschichte (s.u.). Das kommt nicht von ungefähr, wird doch hierbei der Eindruck zu erwecken gesucht, nicht nur, als ob „Ideen" und „Theorien" dasselbe meinten, vielmehr ebensosehr, als ob sich der Sachgehalt einer vergangenen Idee a posteriori in eine moderne Theorie übersetzen ließe, freilich unter sträflicher Außerachtlassung des fundamentalen Strukturunterschieds in der Erkenntnisgewinnung zwischen einst und jetzt. Der Leitstern ist dann die zeitgenössische Theorie, alles andere bleibt Vorgeschichte, klassisch, vollkommen, gewiß, aber eben unzeitgemäß. Der Rekurs auf die Denkgeschichte wird dann aber unglaubwürdig, denn man mißbraucht die Klassiker als Gallionsfiguren für den Ausweis eigener Größe und Würde. Ein wahrlich .lehrreiches' Beispiel hierfür bietet die Komparatistik, die vergleichende Politikforschung, wenn ihre Vertreter immer wieder Aristoteles als ihren Ahnherrn bemühen, um so eine ehrwürdige Tradition in Erinnerung zu rufen, obwohl es sehr fraglich erscheint, das, was Aristoteles vor über 2000 Jahren betrieben hat, mit den Forschungsprogrammen der modernen Politikwissenschaft zu vergleichen. Im allgemeinen wird dort vermehrt auf die Überlieferung zurückgegriffen, wo man sich noch im Geburtszustand befindet und wo es seine Zeit braucht, bis man sich gleichsam „theoretisch" zu seinem Material verhalten kann. Dies war genau die Situation in der Bundesrepublik. Hier war die Politikwissenschaft anfangs in ihren empirischen Teilen in hohem Maße ideengeschichtlich ausgerichtet. Die Einsichten des klassischen Denkens waren in vielerlei Hinsicht die normativen Fixpunkte der Deskription der politischen Institutionen, der politischen Prozesse oder des politischen Verhaltens. Wer in der empirischen Forschung mit Kategorien wie Legitimität, Repräsentation oder Gewaltenteilung operierte, für den war es eine Selbstverständlichkeit, die „wesentlichen" Denker zu befragen und mit ihnen die Argumentation zu bestreiten. Später, als in der Bundesrepublik das Zeitalter der analytischen Wissenschaftstheorie angebrochen war und die ,facts and figures' das Maß aller Dinge zu werden versprachen, hat man dies als einen Fortschritt in der politikwissenschaftlichen Erkenntnis angenommen, ohne die verborgenen normativen und damit auch historisch verortbaren Ideengehalte, die darin aufgefunden werden können, zu bedenken bzw. zu thematisieren. Eines der bedeutendsten Werke auf dem Gebiete der politischen und Sozialphilosophie in den letzten zwanzig Jahren ist ganz ohne Zweifel John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit. Rawls verfolgt darin die Absicht, die „Hauptstrukturen des Gerechtigkeitsbegriffs im Sinne der Lehre vom Gesellschaftsvertrag" systematisch zu erfassen und sie auf eine höhere Abstraktionsstufe zu stellen. Er vermochte dies aber nur zu leisten in der produktiven Auseinandersetzung mit den Klassikern Locke, Rousseau und Kant (12,27 f. Anm. 4). Rawls ist kein Einzelfall eines zeitgenössischen Theoretikers, sein Gedankengebäude an die Erkenntnisse der Überlieferung anzuschließen. Das legt den Schluß nahe, daß jede systematische Beschäftigung mit Problemen der politischen Philosophie bzw. Theorie auf eingehenden Kenntnissen der Ideengeschichte beruhen muß. Dies ist ein erster Grund, warum hier das politische Denken in seiner systematischen Form nach im Mittelpunkt stehen soll. Die spöttische Bemerkung Luhmanns, es sei heute untunlich, die Beschäftigung mit den großen Werken der Vergangenheit bereits als theoretische Forschung auszugeben (Soziale Systeme, 7), geht ins Leere. Der zweite Grund ist mehr pragmatisch-didaktischer Natur, aber nicht minder bedeutend. Schon im ersten Beitrag des Verfassers ist die Forderung erhoben

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Teil III: Politische Ideengeschichte

worden, auf eine Vertiefung des methodologischen Bewußtseins bei den Studierenden hinzuarbeiten. Schließlich hat es die fachlich betriebene Ideengeschichte versäumt, eine gezielte methodische Schulung der Studenten hinsichtlich des Interpretierens historischer und zeitgenössischer Texte in Gang zu bringen. Zwar steht noch die nonchalante Bemerkung Kenneth R. Minogues im Räume, wonach es für einen Ideenhistoriker zweifelsohne ratsamer sei, sich nicht mit methodologischen Fragen zu beschäftigen, da dies ihn von seiner eigentlichen Arbeit nur abhalte (543, 548). Trotzdem glaubt der Verfasser, daß es nötig sei, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, und er versteht seine Darlegungen als eine Alternative, diesem zumindest im deutschsprachigen Raum anzutreffenden Mangel ein wenig abzuhelfen. Freilich muß fairerweise zugestanden werden, daß die Ausführungen einige Lükken aufweisen, die vor allem die Frage der Eingrenzung des Gegenstandsbereichs betreffen. In verschiedenen Partien des Beitrages wird der Leser Hinweise auf Forschungsgebiete vorfinden, die nicht unbedingt zum herkömmlichen Arbeitsfeld der politischen Ideengeschichte gerechnet werden. Dem korrespondiert die Ansicht des Autors, daß politisches Denken nicht ausschließlich bezogen werden darf auf die geistigen Produkte einzelner mehr oder weniger origineller Intellektueller. Geschichte des politischen Denkens ist auch Geschichte von Mentalitäten gegebener Gruppierungen, Interessen, Nationen u. ä. Politisches Denken ist nicht ausschließlich logozentristisch ausgerichtet, in sich kohärent und schlüssig. Die vorliegende Darstellung ist dieser Einsicht freilich nur unvollkommen gerecht geworden. Primär bleibt sie im Kern an der Methodenlehre des Verstehens von mehr oder weniger philosophischen Texten gebunden. Der Verfasser ist sich aber vollkommen darüber im klaren, daß das Potential einer politischen Ideengeschichte - oder sollte man dieses Fach nicht besser „Politische Ideenlehre" bezeichnen? - mehr hergibt, als dies bisher wahrgenommen worden ist.

II. Entwicklung der Disziplin Historismus und Positivismus haben bewirkt, daß ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten großen Lehrbücher und Kompendien zur Geschichte der Philosophie erscheinen: in Deutschland vor allem zu nennen der Grundriß der Geschichte der Philosophie von Ueberweg (1863ff.), in England The History of Philosophy von Lewes (1866), in Frankreich die Histoire de la philosophie von Janet und S6ailles (1880). Die weitergehende Spezialisierung der Wissenschaften hat dazu geführt, daß nunmehr auch die Bezirke der Politik und des Staates philosophiegeschichtlich behandelt worden sind. Den Anfang macht in Europa wohl Paul Janets Werk über L'histoire de la philosophie morale etpolitique, das im Jahre 1853 erschienen ist. Janet war Liberaler und als solcher von dem naiven Fortschrittsglauben seiner Zeitgenossen erfüllt, der Prozeß des Wissens und damit auch der Menschwerdung vollziehe sich seit den ersten Anfängen im Altertum in stetigem Aufstieg, bis er im liberalen Verfassungsstaat seine höchste Entfaltung erreicht habe. Die Politik setzt „la morale" - ein ethisches Empfinden würden wir im Deutschen sagen - voraus. Ohne die „moeurs" (die Sitten), ohne die „vertu" (das tugendhafte Handeln) ist der Staat nicht denkbar. Die Abfolge der großen Ideen sind Ausdruck dieser Entwicklung. Seit der zweiten Auflage freilich treten die Gesichtspunkte der politischen Philosophie zuungunsten der Moralphilosophie deutlich in den Vordergrund. Äußerliches Zeichen ist der veränderte Titel; er lautet nummehr: Histoire de la sciencepolitique dans ses rapports

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avec la morale. Offenkundig zollt hierbei Janet dem Vordringen der empirischen Methoden in den Staats- und Sozialwissenschaften Tribut. Seine ganze Bewunderung gehört den „observateurs" und den „empiriques", paradigmatisch ausgedrückt Aristoteles für die Antike, Montesquieu für die Neuzeit. Nicht der Piatonismus als entschiedene Form der Unterordnung der Politik unter die Moral und noch weniger der Machiavellismus als Form der völligen Trennung der Moral von der Politik können den Maßstab der Beurteilung abgeben. Diese Art der „Dualisierung" und konfrontativen Einordnung des ideengeschichtlichen Stoffes hat viele Nachahmer gefunden, wenngleich die Akzentsetzung sich beträchtlich verschieben sollte. Eingang in die späteren Überblicke und Gesamtdarstellungen der Geschichte des politischen Denkens hat auch ein zweiter Gesichtspunkt gefunden, der wohl zum erstenmal bei Janet zum Vorschein gekommen ist: das Aufstellen eines Kanons der zu behandelnden Autoren, die berühmten wie die weniger berühmten, wirkungsmächtige wie ephemere Figuren, der im großen und ganzen beibehalten und jeweils ergänzt worden ist. In Deutschland haben im 19. Jahrhundert vor allem Robert von Mohl und Johann Caspar Bluntschli für eine Systematisierung der Geschichte der politischen Ideen Sorge getragen. Ähnlich wie Janet geht von Mohl in seiner dreibändigen Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften (1855/58) von der Vorstellung aus, daß das „Menschengeschlecht" und damit auch die staatlichen Einrichtungen und die Anschauungen davon sich gleichsam spiralförmig „zu besseren Zuständen ausbildet". Dies geschieht jedoch nicht so, daß aus einem Satz zwangsläufig sich der Folgesatz ergeben müsse. Allenfalls entsteht ein Panorama zeitlich aufeinander folgender theoretischer Ausarbeitungen. Die Entwicklung des politischen Denkens gehorcht keinem inneren Prinzip, sondern offenbart sich als ein unsystematisches Gegen- und Nebeneinander unterschiedlicher Lehrmeinungen, bedingt durch die „nationeilen" Eigentümlichkeiten. Allenfalls bestimmte „Gesichtspunkte" läßt von Mohl gelten, um der Vielfalt des politischen Denkens eine gewisse Ordnung zu verleihen. Auch Bluntschli hat seine Geschichte des Allgemeinen Staatsrechts und der Politik (1864) aus dem Geiste des Liberalismus und des Konstitutionalismus verfaßt. Er setzt mit dem 16. Jahrhundert ein, weil das Mittelalter unfähig gewesen sei, ein Staatsbewußtsein auszubilden, und ohne dessen Existenz sei eben keine Staatswissenschaft denkbar. Bluntschlis großer Gegner ist der Klerikalismus und entsprechende Regenerationsversuche seiner Zeit. Überall dort erblickt er Verirrung und Niedergang des staatswissenschaftlichen Urteilens, wo der „Sturmlauf der Reaktion" als Prinzip der Theokratie den diametral entgegenstehenden „Grundcharakter unseres Zeitalters", das Element der individuellen Freiheit, hinwegzureißen droht. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts läßt sich nun eine interessante Entwicklung feststellen. Die Historiographie des politischen Denkens beginnt dort Gestalt zu gewinnen und zu expandieren, wo eine selbständige Politische Wissenschaft im Entstehen begriffen ist - wie in den USA - und wo die Politik als Lehrfach nicht unter die Fittiche der juristischen Staatslehre gekommen ist wie in England. Auf dem Kontinent, vornehmlich in Deutschland und Frankreich, hat die entschiedene Hinwendung zum Staats- und Verfassungsrecht und ihre Konzentrierung auf die jeweils vorliegenden Verhältnisse eine weiter ausgreifende Ideengeschichte entweder nicht zugelassen oder sie allenfalls an Randzonen geduldet. Das Staatsrecht war ahistorisch, sein positivistischer Einschlag sperrte sich gegen eine den Notwendigkeiten des historischen Zeitalters entspringenden Begründung. Bluntschli und von Mohl können wohl als die letzten prominenten Repräsentanten einer nicht-juristischen Staatswis-

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senschaft bezeichnet werden. Als eine Ausnahme kann der Italiener Gaetano Mosca genannt werden, der in seiner Geschichte der politischen Doktrinen seit der Antike davon ausging, daß die Politik im Grunde vom jeweiligen Grad der Ideen, Überzeugungen und Emotionen, die eine Epoche prägen, abhängt. Andererseits können die Doktrinen nur in bezug auf den entsprechenden Typ von politischer Organisation verstanden und analysiert werden. In England legt im Jahre 1890 mit Frederick Pollock bezeichnenderweise ein erklärter führender Jurist des Landes eine einflußreiche Introduction to the History of the Science of Politics vor, die auch ins Deutsche übersetzt worden ist, freilich als Geschichte der Staatslehre, nicht der Wissenschaft der Politik. Wie unjuristisch Pollock argumentiert hat, geht einfach daraus hervor, daß für ihn nicht nur Aristoteles der Stammvater dieser Wissenschaft ist, sondern daß es darüber hinaus dessen Methode ist, die dieser Wissenschaft jene Anerkennung verleiht, die ihr durch die Jahrhunderte hindurch gewährt worden ist. Als das zeitliche nächste grundlegende Werk zur politischen Ideengeschichte muß die dreibändige History of Political Theories des Amerikaners William Archibald Dunning erwähnt werden, die 1902 zu erscheinen begann und erst 1920 zum Abschluß kam. Es ist sicherlich im geringsten die Tatsache, daß Dunning sein Werk John W. Burgess, einem der Begründer einer empirischen political science, gewidmet hat, wenn er von Charles E. Merriam, dem Wegweiser des a-metaphysischen Behavioralismus, in dessen American PoliticalIdeas aus dem Jahre 1920 mit Lob überhäuft wird. Der Respekt Merriams vor Dunning hält freilich kaum fünf Jahre vor; danach spricht er despektierlich vom „formal" approach seines Mentors, der den methodologischen Erfordernissen der Zeit nicht mehr gewachsen sei. Trotz dieses Verdikts des Papstes der political science als politischer Verhaltenslehre in den USA hat Dunning Karriere gemacht, denn es gab bis zu Sabines großem Werk (s.u.) nichts Vergleichbares. Es ist das Leitmotiv des Dunning'schen Werkes, die politischen Theorien in engster Berührung mit den entsprechenden politischen Tatsachen in der Geschichte zu bestimmen bzw. zu beurteilen, nicht in bezug auf ethisch-moralische Aspekte, wie noch bei Janet. In gewisser Weise bleibt Dunning auch auf den Staat als die Grundfigur des politischen Lebens fixiert; und so mag er leichtes Spiel darin gefunden haben, den Beginn der Entwicklung politischer Theorien dort ansetzen zu lassen, wo die Idee des Staates zu einem bestimmenden Faktor in der Existenz einer menschlichen Gemeinschaft wird, in den altgriechischen poleis. Ausdrücklich spricht Dunning z. B. in seinem Kapitel über Machiavelli dem Florentiner die Qualifikation ab, einen Beitrag für die „Staatslehre" geleistet zu haben, also auch keinen Beitrag für die Theorie des Staates, als vielmehr für die „Politik", und es ist bezeichnend, daß im englischen Text diese beiden Begriffe auf Deutsch erscheinen (1,293). Dunning sieht es als das fundamentale Problem der politischen Theorie an, auf welchen Prinzipien die Rechtmäßigkeit der Autorität von Regierungen und staatlichen Institutionen gegründet sind; seine Ideengeschichte ist nichts anderes als eine Geschichte der Lösung dieses Kardinalproblems des politischen Denkens (III, 416). Im Jahre 1925 erscheint in England ein zweibändiges Werk zum fraglichen Thema mit dem etwas seltsam anmutenden Titel Studies in the History of Political Philosophy before and after Rousseau. Man könnte annehmen, daß der Genfer Bürger Rousseau als Maßstab einer ideengeschichtlicher Abhandlung fungiert. Doch Rousseau kommt in dem Kompendium überhaupt nicht vor. Darüber hinaus ist der Titel auch gar nicht eine Schöpfung des Autors, Charles E. Vaughan, sondern posthum gewählt worden. Dazu muß man wissen, daß Vaughan als Herausgeber der vielleicht heute noch maßgebenden Edition der politischen Schriften Rousseaus gelten kann. Auch Vaug-

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han kann sich eine Geschichte des politischen Denkens nur in Verbindung mit der realen politischen Geschichte vorstellen. Grundthema des Denkens ist das Verhältnis des Individuums zur staatlichen Gemeinschaft. Es liegt im Wesen des Staates, die individuelle Freiheit mit den Restriktionen der Institutionen, das Recht mit Freizügigkeit zu versöhnen. Das ist die Funktion des Sozialvertrags, dessen theoretische Begründung Vaughan zur vornehmsten Aufgabe der politischen Philosophen rechnet (I, 11).

Auch Charles Mcllwains The Growth ofPolitical Thought in the West aus dem Jahre 1932, ein weiteres namhaftes Werk der politischen Ideengeschichte, macht die Rückbezüglichkeit politischer Theorien zur Praxis zum großem Thema der Ideengeschichte. Ja, die großen theoretischen Konzeptionen erscheinen allenfalls als Nebenprodukte aktueller politischer Handlungen, die oftmals schon lange abgelaufen sind, bevor von ihnen in denkerischer Absicht Notiz genommen worden ist. Im Grunde genommen ist politische Theorie eine Unterabteilung der Wissenssoziologie, die Theorie ein Produkt des sozialen Milieus. Ähnlich wie bei Janet stellt Mcllwain auf die moralisch-ethische Basis der Politik und des Denkens über sie ab; sie gilt es jeweils explizit zu demonstrieren. Die einflußreichste Ideengeschichte stellt zweifelsohne George H . Sabines A History of Political Theory dar, die im Jahre 1937 zum erstenmal erschien und 1973 ihre vierte Auflage erlebt hat. Und in den deutschen Textbüchern und Überblicken wird immer wieder auf die Leistung des amerikanischen Philosophieprofessors hingewiesen; eine Übersetzung ist gleichwohl nie zustande gekommen. Der enzyklopädische Charakter des Werkes ist das Ergebnis eines Unterfangens, dem Bedürfnis nach Vollständigkeit Rechnung zu tragen, alle Haupt- und Nebenfigurem des politischen Denkens in Antike, Mittelalter, Neuzeit und Industriezeitalter zu erfassen und, ihrer Bedeutung gemäß, darzustellen, so daß niemand in Vergessenheit geraten könne. Jedes Folgewerk kann sich an Sabine orientieren. Über Jahrzehnte hinweg hatte es freilich den Anschein, als daß Sabine Späteren den Mut genommen hat, ein vergleichbares Buch zu konzipieren, denn es wurde fraglos ein „Klassiker" in der wissenschaftlichen Literatur. Im Grunde genommen handelt es sich um ein „relativistisches" Werk, relativistisch deshalb, weil es nach Sabine keine allgemeingültigen politischen Theorien gebe. Die Bezüglichkeit der Ideen an das jeweilige soziale Milieu wird hervorgehoben; jeder Autor bleibt unweigerlich an das Normensystem einer gegebenen Gesellschaft oder Kultur gekettet, an die Problemkonstellationen, die Beurteilungsmaßstäbe, die Vorurteile. Sabine bewertet die Geschichte des politischen Denkens ganz im Sinne des Liberalismus, der in der Tradition Ansätze für eine Verbesserung moderner menschlicher Gemeinschaften sieht. Niemand kann sich besser dünken als das Vergangene. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die Historiographie des politischen Denkens eine weitergehende Ausdifferenzierung, analog der organisatorischen Ausweitung der Politikwissenschaft in vielen Ländern. Drei Tendenzen können dabei beobachtet werden: (1) Zunächst kann festgehalten werden, daß die „Geschichten" des politischen Denkens, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen und die einen größeren Bekanntheitsgrad erfuhren, im Grunde genommen reine Bestandsaufnahmen waren, darum bemüht, dem Objektivitätsideal der Wissenschaft zu entsprechen. Den neueren Autoren fehlt die Unbefangenheit ihrer Vorgänger, dem komplexen und heterogenen Stoff eine teleologische Zielrichtung zu unterschieben oder ihm mit subjektiven Bewertungen zu begegnen. Die politische Ideengeschichte wird als ein genuiner

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Gegenstandsbereich dieser Disziplin identifiziert und will auch als solcher unvoreingenommen behandelt werden. Zunächst machen sich vor allem französische Gelehrte hier um die Sache verdient. Den Anfang macht 1949 Jean-Jacques Chevallier mit seinem Buch Les grandes oevres politiques de Machiavel ä nos jours, in welchem „politiques" auf den Staat bezogen bleibt. Zehn Jahre später erscheint Jean Touchards Histoire des ideäs politiques, die aus dem historischen Kontext heraus erläutert werden. Mit Marcel Pr61ots' Histoire de idees politiques wird wohl die erste, den Bedürfnissen der Studenten entgegenkommende Ideengeschichte veröffentlicht, als in Frankreich an den Rechtsfakultären Anfang der 60er Jahre dieser Bereich zu einem obligatorischen Prüfungsfach erklärt wird. Zustimmend wird der Generaldirektor der UNESCO mit den Worten zitiert, daß es unmöglich sei, die gegenwärtige politische Realität zu analysieren, ohne ein Bewußtsein von den großen Werken des politischen Denkens, die den Weg zur Humanität gewiesen hätten, zu besitzen. Innerhalb der deutschen Politikwissenschaft war zwar die Neigung weit verbreitet, fehlende empirische Befunde über politische Systeme durch tiefgehende Ausflüge in die Ideengeschichte zu kompensieren und vielerorts die Klassiker zu monumentalisieren; große Synthesen sind jedoch nie in Angriff genommen worden. Und wo doch hie und da Versuche unternommen wurden, diesem Mißstand abzuhelfen, kam man über mehr oder weniger geglückte Textkollektionen eigentlich nie hinaus. Immerhin war der gute Wille vorhanden, die Studenten, die sich ja für ihre Examina mit politischer Ideengeschichte beschäftigen mußten, nicht alleine zu lassen und ihnen ein paar Handreichungen darzubieten. Die dreibändige Geschichte des politischen Denkens von Gerhard Möbus und Otto-Heinrich von der Gablentz (1957ff., ein Leitfaden im Rahmen der Berliner Reihe „Die Wissenschaft von der Politik"), und eine Ausgabe Klassiker der Staatsphilosophie, veranstaltet von Arnold Bergstraesser und Dieter Oberndörfer (1962), beides Textsammlungen, waren eigentlich alles, was in den ersten beiden Dekaden ihres Bestehens die Politikwissenschaft an ideengeschichtlichen Einführungen zuwege gebracht hat. Erst Ende der 60er Jahre kam etwas mehr Bewegung in diesen Bereich, als von München aus Initiativen zur Verbesserung der Situation ergriffen wurden. Hans Maier und andere gaben zwei Bände Klassiker des politischen Denkens heraus; und unter dem Einfluß von Eric Voegelin erschien seit 1968 eine mehrbändige Geschichte des politischen Denkens in Taschenbuchform, deren zweifelloser Vorzug darin bestand, daß sie auch außereuropäische Ideenkreise für wert befand, ihnen einen legitimen Platz in der politischen Geistesgeschichte einzuräumen. Leider wurde diesem fraglos ambitionierten Unternehmen auf halbem Wege unverdienterweise das Lebenslicht ausgeblasen, so daß es Fragment blieb. Erst das von Iring Fetscher und Herfried Münkler herausgegebene Handbuch der politischen Ideen (1988ff.) hat sich wieder der schwierigen Aufgabe gestellt, das immense Material zu ordnen und für Lehrzwecke nutzbar zu machen. (2) Die zweite Tendenz in der Behandlung des ideengeschichtlichen Materials, die von einem verstärkten normativ-moralischen Impetus getragen war, resultierte unmittelbar aus den entsetzlichen Erfahrungen mit den Diktaturen von rechts und links und mit den Geschehnissen des Weltkrieges. Die geistigen Produkte des menschlichen Denkens wurden daraufhin geprüft, inwieweit sie mitverantwortlich zu machen waren für die restlose Enthemmung politischer und gesellschaftlicher Triebkräfte, wie sie sich vor allem in Europa zeigte, mitschuldig für die Entwürdigung des menschlichen Daseins in Gestalt organisierten Wahnsinns. Wo lagen die philosophischen Ursprünge von Nihilismus und Terror? Und wo lagen die Quellen, auf die man sich besinnen, ja, die man geradezu erst (neu)entdecken mußte, um den menschlichen

III. Begriffs- und Abgrenzungsfragen

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Gemeinschaften das wieder zurückzugeben, was sie fatalerweise in Vergessenheit geraten ließen: die Würde des Menschen, Werte wie Freiheit und Toleranz. Das war der Maßstab, an dem über weite Strecken nach 1945 die Geschichte des politischen Denkens gemessen wurde. Und die Befassung mit der ideengeschichtlichen Thematik in den ersten zwanzig Jahren der deutschen Politikwissenschaft lebte geradezu von dem großen Einsatz von Demokratie und Totalitarismus. Es war so, daß die wesentlichen Denker der Vergangenheit eingeteilt wurden in solche, die sich als geistige Vorläufer des demokratischen Gedankens für eine weiterführende Argumentation heranziehen ließen, und solche, die anscheinend die Struktur der totalitären Gewaltherrschaft antizipierten und folglich dem Bannstrahl der Verachtung anheimfielen. Zwei Werke hatten dabei erhebliche Auswirkungen auf die internationale Diskussion, nicht zufällig von deutschsprachigen Emigranten veröffentlicht. Das eine zählt zu den Gründungsurkunden der wiedererwachten philosophischen Naturrechtslehre, das andere zu den Grundschriften des gesellschaftlichen Pluralismus. Naturrecht und Geschichte von Leo Strauss (1953) kämpft gegen den Relativismus der historischen Denkweise an, indem es zu den geschichtlichen Wurzeln unmittelbar einsichtiger „ewiger Wahrheiten" zurückging: die Ausarbeitung der klassischen Naturrechtslehre bei Piaton und Aristoteles, ihre theologische Überund Umformung durch die Patristik und durch Thomas, die daraufhin erfolgte säkularisierte Reaktion auf diese Sakralisierung durch Hobbes und Locke, schließlich der Verfall der Naturrechtslehre bei Rousseau und Burke. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde von Karl Raimund Popper, 1945 erschienen, beinhaltet eine rasante Attacke des Autors auf Piaton, Hegel und Marx als die Begründer geschlossener Systeme, vor deren Verheißungen im Hinblick auf die Begründung und Stabilisierung dynamischer demokratischer Gesellschaften nicht genug gewarnt werden konnte. Dagegen setzte Popper auf Sokrates, der freimütig zugegeben habe, daß er nur wisse, daß er nichts wisse, sowie Kant, den erklärten Verteidiger der Gedankenfreiheit. (3) Die dritte Tendenz betraf Fragen und Problematisierungen des Forschungsansatzes und der Methodologie, die sich analog zu gewandelten Einsichten über die Rolle und die Funktionsweise der Geistes- und Sozialwissenschaften einzustellen begannen. Ihre Diskussion wird im folgenden im Mittelpunkt stehen.

III. Begriffs- und Abgrenzungsfragen 1. Allgemeine Überlegungen Das Gebiet, um das es hier geht, hat viele Namen. In Deutschland ist vor allem der Ausdruck „Politische Ideengeschichte" heimisch geworden. Man spricht auch von „Geschichte der politischen Philosophie", „Geschichte der politischen Theorien", und neuerdings scheint sich der Ausdruck „Theoriengeschichte" durchgesetzt zu haben. Auch im angelsächsischen Sprachbereich ist die Bezeichnung nicht eben einheitlich: „History of political Theory" steht neben „History of political thougt" oder „History of political philosophy" oder „History of political ideas". Und in Frankreich ist die Situation nicht viel anders: Die einschlägigen Aktivitäten beziehen sich auf die Geschichte der „idees politiques", der „philosophie politique", des „penseö politique", der „doctrines politiques". Walter Euchner hat in einem Lehrbuchbeitrag vor über 20 Jahren eingeräumt, daß es wenig Sinn habe, sich Gedanken über die adäquate Terminologie zu machen. An

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dieser etwas phlegmatischen Einstellung hat sich bis heute nichts geändert, zumindest in Deutschland nicht. In Amerika und in England ist die Diskussion bedeutend weiter vorangeschritten, und die angloamerikanischen Autoren zeigen sicherlich ein größeres Interesse daran, die Laxheit im Sprachgebrauch einzudämmen, obwohl sie sich im Grunde genommen in der konkreten Ausführung nicht mehr an die eigenen reflektierten Vorgaben halten, sondern das machen, was man immer schon gemacht hat: eine Historiographie der Leistungen großer Denker.

2. Philosophiegeschichte Es gilt als selbstverständlich, was unter Philosophie (philosophy, philosophie) zu gelten habe: eine Tätigkeit des Geistes, bewußt sich argumentativ, reflexiv und vernünftig auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben, die Dinge nicht so stehen lassen, wie sie einem vorkommen, sondern nach ihrem Wesen, ihren Zusammenhängen, ihren Bedeutungen, ihrem Sinn etc. zu fragen und darüber nachzudenken. Dabei ist es einerlei, ob sich das Denken auf die Religion, die Kultur, die Gesellschaft, die Kunst oder eben die Politik oder ob sie sich auf die eigenen Voraussetzungen beziehen mag. Analoges läßt sich vom Ausdruck „Denken", „thought", sagen. Vorausgesetzt wird auch, daß die Fähigkeit, die Dinge zu reflektieren und auf den Begriff zu bringen, nicht jedem gegeben ist und folglich die Quelle der Philosophiegeschichte und des Philosophierens überhaupt die Schriften einzelner Denker ist, von denen wir sagen, daß sie für die Aufwerfung und Lösung bestimmter Fragen eine autoritative Stellung einnehmen und uns Fingerzeige an die Hand geben, wie wir uns dazu zu verhalten haben. Das, was Philosophie, philosophy etc. ist, wird im allgemeinen nicht expliziert, geschweige denn präzisiert; es läßt sich auch gar nicht bewerkstelligen. Denn die Bedeutung oder besser gesagt: der Bedeutungswandel von Philosophie erschließt sich erst im Durchgang durch seine Geschichte. Insoweit gehen die einzelnen Autoren von einem Vorverständnis von Philosophie aus.

3. Ideengeschichte Wenn die Historiker des politischen Denkens den Ausdruck Ideengeschichte verwenden, dann übersehen sie oft, daß dieser Begriff mehr beinhaltet als die bloße Aneinanderreihung der Ideen bedeutender Denker; insoweit betreiben die Historiker der politischen Philosophie Etikettenschwindel. Vielmehr geht der Begriff und das mit ihm Gemeinte weit über dieses Feld hinaus, und es ist gerade hinsichtlich der zeitgenössischen Diskussion um den methodischen Zugriff auf die Geschichte des politischen Denkens wichtig, sich dieser Tradition zu erinnern. Die „Geschichte der Ideenlehre" ist eine spezifisch deutsche Spielart des historiographischen Umgangs mit Gegenständen des Denkens. Sie ist zuerst zu Beginn des 18. Jahrhunderts von J. Brucker konzipiert worden, also weit vor der Herausbildung der idealistischen Philosophie, und faßt in ihrem Kern die „Idee" als Kategorie für historische Tendenzen, Kräfte, Motive etc. in der Sphäre des Denkens. Hundert Jahre später hat Wilhelm v. Humboldt im Gefolge des deutschen Idealismus die Auffassung vertreten, daß alle geschichtlichen Ereignisse bzw. Erscheinungen nicht als gegeben zu betrachten und zu untersuchen seien; sondern sie seien durchwaltet von Ideen, die sie beherrschten. Humboldt sieht die Aufgabe des Historikers, nicht allein des Ideenhistorikers, darin, das Streben einer Idee nach Verwirklichung nachzuzeichnen. Ideen sind nicht an Personen gebunden, sondern sind Signaturen der Zeit, der sie entsprin-

III. Begriffs-und Abgrenzungsfragen

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gen bzw. die sie prägt. Ranke hat daran weitergearbeitet und die großen sittlichen Mächte als Konkretisierung einer allgemeinen Idee charakterisiert. Der Hegelianer Johann G. Mußmann entwickelte eine Philosophiegeschichte, die sich an der Aufeinanderfolge und der Entfaltung von Ideen als Maßstab orientiert (1830). Einen weiteren wichtigen Impuls erhält die Ideengeschichte durch den an Ranke und Dilthey geschulten Historiker Friedrich Meinecke. In seinen grundlegenden Werken wie Die Idee der Staatsräson (1924) und Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates (1907) stellt er die epochemachenden Grundideen des bürgerlichen Zeitalters in den Mittelpunkt und macht sie zu den leitenden Prinzipien historischer Entwicklung. Die behandelten Ideen werden allerdings niemals losgelöst von den großen Persönlichkeiten des politischen Denkens und der politischen Praxis gesehen. Es gibt Ideen, die nach Verwirklichung drängen. Realisiert werden sie durch die großen Persönlichkeiten des Geistes und der Staatskunst; es ist das Werk großer einzelner, nicht gesellschaftlicher Kräfte. Eine radikalere Position nimmt der englische Geschichtsphilosoph R. G. Collingwood ein, der uns noch in einem anderen Zusammenhang begegnen wird. Nach Collingwood ist Geschichte immer Geschichte des Gedachten: „Für die historische Erkenntnis existiert nur das Gedachte." (Denken, 108). Collingwood versteht demzufolge politische Geschichte als Geschichte des politischen Gedankens: „Sie ist keine Geschichte politischer Theorien', sondern die der Gedanken, die den politisch Tätigen beherrschten..." (ebd.). Es ist unschwer zu erkennen, daß Collingwood unter Ideen und ihrer Geschichte mehr versteht als das, was konventionelle Historiker des politischen Denkens zu subsumieren gewohnt sind: Nicht allein die Gedanken bedeutender Denker, sondern jede Äußerung und auch jede Handlung historischer Gestalten sind „ideell". Ist Collingwoods Ansatz im Bereich der Geschichte des politischen Denkens zunächst noch folgenlos geblieben, so erhält der Bereich der Ideengeschichte durch die Arbeiten des amerikanischen Philosophen Arthur O. Lovejoy seit den 30er Jahren einen neuen Auftrieb. Lovejoy hat den Versuch unternommen, mittels seines Begriffs der „unit-idea" die auseinanderstrebenden Konzepte der verschiedenartigen Disziplinen, die sich mit den Manifestationen des menschlichen Geistes abgeben - wie z. B. die Geschichtsphilosophie, die Geschichte der Philosophie, die Sprach-, Religions-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte - , unter einem Dach zusammenzufassen. Unter „unit-ideas" versteht Lovejoy Typen von Kategorien, Gedanken, Einstellungen, Annahmen, Dogmen, philosophische Lehrsätze etc., deren historischer Entwicklung nachgegangen werden soll. Eine „unit-idea" besitzt im Grunde genommen ein Eigenleben, eine eigene Geschichte unabhängig von den Personen, die ihr Ausdruck verleihen. Trotz mancher Kritik, die auch in Amerika gegen die Intentionen Lovejoys vorgebracht worden sind, hat sich in der Folgezeit eine Vielzahl von Nachahmern gefunden, die sich explizit auf sein Werk beziehen. Das von Lovejoy 1940 begründete Journal of the History of Ideas ist das Organ dieser Art von interdisziplinärer Ideengeschichte. Allerdings hat sich in der angelsächsischen Welt mehr der Begriff der intellectual history als der der „history of ideas" durchgesetzt (so bei Kelley, 1990, 18). Die Vertreter der „intellectual history" legen Wert auf die Feststellung, daß sie über den Objektbereich der traditionellen „history of philosophy" hinausgehen wollen. Schon 1950 hat Crane Brinton dazu ausgeführt, daß es der „intellectual history" vorrangig darum gehe, nachzuzeichnen, „what a few men write or say and what many men actually do". Brinton beschränkt jedoch die Analyse auf die „intellectual classes",

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Teil III: Politische Ideengeschichte

weil er Schwierigkeiten sieht, die Beziehungen zwischen diesen und den „many men" sachgerecht herauszuarbeiten. Es ist die Aufgabe des „intellectual historian", sowohl über abstrakte philosophische Konzepte wie auch über die damit zusammenhängenden Konkretisierungen in der Praxis Material zu sammeln. (1950,7,9). Und kürzlich hat Donald R. Kelley gemeint, daß „im weitesten Sinne" „intellectual history" nicht mit dem Kanon der Philosophie übereinzustimmen brauche oder mit anderen akademischen Anstrengungen; sondern dieser Zweig sei ein Ansatz historischer Erkundung und Interpretation ganz allgemein. Die „history of philosophy" ist allenfalls ein Sprößling einer allgemeineren „intellectual history". Richard Rorty hat dazu bemerkt, daß die „intellectual history" das Rohmaterial für eine „history of philosophy" liefere. Sie ist der Boden, auf dem die Geschichte der Philosophie zu gedeihen vermag. Dabei geht es weniger um die Frage, wer nun als Philosoph angesehen wird und wer nicht. Vielmehr geht es darum festzustellen, wann eine „unit-idea" den ursprünglichen philosophischen Kontext, dem sie meist entstammt, verläßt und in Zusammenhänge gerät, die nicht unbedingt etwas mit Philosophie zu tun haben müssen oder einen Mangel an philosophischer Prägung aufweisen. So kann Mandelbaum 1965 von der „migratory history" einer „unit-idea" sprechen (1965, 59). Und nach Rortys Dafürhalten soll die „intellectually history" eher ihr Augenmerk auf diejenigen Intellektuellen einer bestimmten Zeit richten, die von größerem Einfluß auf ihre Umgebung gewesen seien als die „großen Philosophen".

4. Geistesgeschichte Obzwar der Ausdruck „politische Geistesgeschichte" dem deutschsprachigen Schrifttum fremd ist, muß an dieser Stelle eine kurze Erörterung des Begriffes Geistesgeschichte erfolgen, da er eine Perspektive eröffnet, die über die herkömmlich betriebene Philosophie- wie Ideengeschichte sowohl sachlich als auch methodisch hinausweist und auch für politologische Fragestellungen von außerordentlicher Bedeutung sein kann. Der Terminus „Geistesgeschichte" ist dem allgemeineren Begriff Geisteswissenschaften nachempfunden, unter den Gegenständen alles das zusammenzufassen und in der Erinnerung wachzuhalten, was unter dem Titel „Philosophie des Geistes" im enzyklopädischen System Hegels entwickelt worden ist und mit seinem Untergang nach dem Tod des Meisters ohne inneren wissenschaftlichen Halt zu werden versprach. Es ist insbesondere die Leistung Wilhelm Diltheys gewesen, die „Geisteswissenschaften" in entschiedener Absetzung von den Naturwissenschaften zu begründen. „Geistesgeschichte" ist nach dem Begründer dieses Zweigs der historischen Forschung in Deutschland nach 1945, Hans-Joachim Schoeps, nichts anderes als historische Zeitgeistforschung. Im „Zeitgeist" offenbaren sich die Anschauungen, Stimmungen, Überzeugungen, die geistigen Tendenzen einer gegebenen geschichtlichen Epoche, die das „Gesamtbild" eines Zeitalters definieren (Schoeps, 14). Schoeps sieht im „Nationalgeist" Herders bzw. im „Volksgeist" Hegels entfernte Anzeichen der Zeitgeistforschung; seine Einsichten sind ohne diese Traditionen gar nicht denkbar. Es sei eine bestimmte Bildungsstufe des Geistes, der Geist der Zeit eben, die die gemeinsame Wurzel von Staat, Recht etc. ausmache, wie Hegel ausgeführt hat. Dilthey hat an diese Tradition angeknüpft und der historischen Analyse die Aufgabe gestellt, „in den konkreten Zwecken, Werten, Denkungsarten die Übereinstimmung in einem Gemeinsamen aufzufinden, das die Epoche regiert." (zit. Schoeps, 23). Methodisch reicht die Geistesgeschichte über Philosophie- und Ideengeschichte

IV. Kategorien ideengeschichtlicher Erkenntnis

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hinaus, als sie ihre Quellen weniger in den großen überzeitlichen Kulturschöpfungen der Menschheit oder in den bedeutenden Manifestationen einzelner Denker erblickt, sondern in den Äußerungen der „an die Zehntausende mittlerer und kleinerer Geister" (Schoeps, 62). Das Lebensgefühl der kleinen Leute wird zum wichtigsten Orientierungsmerkmal einer so verstandenen Geistesgeschichte. Insofern betreibt sie in gewisser Weise das Geschäft der vor allem in Frankreich entwickelten, in Deutschland als „fortschrittlich" gepriesenen Mentalitätsgeschichte. Die Sache der Zeitgeistforschung ist aber nicht allein die Untersuchung der Tendenzen und Kräfte, die sich in ihrer Epoche jeweils durchgesetzt und die Vorherrschaft errungen haben; vielmehr richtet sie ihr Augenmerk in gleichem Maße auch auf jene Entwicklungen, die im Kampf um Einfluß und Geltung zu kurz gekommen, auf der Strecke geblieben sind. So würde sich für unseren Fall eine „politische" Geistesgeschichte nicht nur mit dem politischen Bewußtsein der funktionalen und geistigen Eliten zu befassen haben, sondern ebensosehr auch mit dem Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten.

5. Theoriegeschichte Der Ausdruck Theoriegeschichte hat in der deutschen Politikwissenschaft erst in den letzten zehn Jahren in der Literatur Fuß fassen können, und es scheint sich zu bestätigen, daß er nach und nach den älteren Begriff „Ideengeschichte" in den Hintergrund drängen wird. Hauptverantwortlich für diese Tendenz ist vor allem das gestiegene Theoriebewußtsein zu machen, das die Disziplin erfaßt hat. Dabei wird das politische Denken vergangener Jahrhunderte im Lichte der modernen Theoriebildung erfaßt. Der Sachgehalt einer älteren Idee oder eines älteren Ideenkomplexes wird gleichsam a posteriori, also im Nachhinein, in eine moderne Theorie übersetzt, freilich unter Außerachtlassung des fundamentalen Strukturunterschieds in der Erkenntnisgewinnung zwischen einst und jetzt (vgl. Tl. I). Würden wir allerdings das moderne Theorieverständnis, wie es im vorangegangenen Beitrag von Jürgen W. Falter und Jürgen R. Winkler entwickelt worden ist, zum Maßstab heranziehen, dann dürfte lediglich ein kleiner Teil der gesamten Ideengeschichte als Theoriegeschichte bezeichnet und auch in Anspruch genommen werden. So sind etwa die Anschauungen eines Aristoteles oder Machiavelli keine Theorien im heutigen Sinne. Die Komparatistik kann sich nicht so ohne weiteres im Rückgriff auf Aristoteles eine traditionsreiche Geschichte zulegen, denn es erscheint mehr als fraglich, ob das, was Aristoteles gelehrt hat, mit dem Forschungsprogramm der modernen „comparative politics" kompatibel ist. Wenn im folgenden meist von „Ideengeschichte" die Rede ist, dann ist dies auf pragmatische Gründe zurückzuführen. Zwar ist dieser Ausdruck wissenschaftsgeschichtlich ,vorbelastet'; aber er scheint immer noch der neutralste zu sein, um hier synonym für alle anderen Bedeutungen zu stehen.

IV. Kategorien ideengeschichtlicher Erkenntnis 1. Der interdisziplinäre Kontext Das Phänomen der Interdisziplinarität läßt sich ungefähr wie folgt charakterisieren: In ein gegebenes Erkenntnisobjekt teilen sich verschiedenartige Wissenschaften. Das Ziel ist, die beschränkte Perspektive der Einzeldisziplinen zu übersteigen und mit

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übergreifenden Fragestellungen zu operieren, um so zu einem besseren Verständnis zu gelangen. Interdisziplinarität kann institutionell verankert oder informell ausgelegt sein. Ein bezeichnendes Beispiel für den ersten Fall ist das Frankfurter „Institut für Sozialforschung". Die Ideengeschichte ist ein Beispiel für eine informelle, aus der Sache sich ergebende Forschungspraxis. Bezieht man diese an sich relativ unproblematische Feststellung auf einzelne Denker, so dürfte doch plausibel sein, daß man beispielsweise die intellektuelle Entwicklung Marxens verfehlen würde, würde man sie allein von der Philosophie oder allein von der Ökonomie her untersuchen wollen. Einem Politikwissenschaftler wird der innere Sachzusammenhang der Schriften Thomas von Aquins nur dann zugänglich werden, wenn er ihn im Lichte der Theologie zu begreifen sucht. Nicht anders wird es sich mit der Zeitgeist- oder der Mentalitätsgeschichte verhalten. Die Überzeugungen und Gewohnheiten der höfischen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert können nur in einer Gesamtschau historischer, soziologischer und anderer Gesichtspunkte analysiert werden. Gelegentlich haben Politikwissenschaftler mit Erleichterung behauptet, es sei durchaus von Vorteil, daß die Ideengeschichte nicht allein in die Zuständigkeit ihres Faches falle, sondern das Interesse vieler Disziplinen auf sich gezogen habe - und zwar lange, bevor eine selbständige Politikwissenschaft existiert habe. Das ist zwar ein recht hübsches Apercu, bezeichnet indes nicht das, worauf es hier ankommt. Denn schließlich ist es offensichtlich, daß die Probleme dieses Gebietes sachadäquat nur in einem interdisziplinären Zusammenhang bewältigt werden können. Das entsprach übrigens bereits den Forderungen Lovejoys und seiner Schule: die Zusammenführung und Zusammenarbeit aller Wissenschaften, die sich unter den verschiedenartigsten Gesichtspunkten mit der Geschichte des Denkens beschäftigen. Lovejoy hat insgesamt zwölf Disziplinen benannt, die dafür in Frage kommen würden: Geschichte der Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Ethnologie und Völkerkunde, Sprachgeschichte, Religionsgeschichte, Vergleichende Literaturwissenschaft, Kunst- und Kulturgeschichte, Wirtschaftsgeschichte (inclusive Dogmengeschichte), Bildungsgeschichte, politische und Sozialgeschichte sowie die Wissenssoziologie (Lovejoy, in 1948, lf.). Die Interdisziplinarität wird von den Ideenhistorikern auch gar nicht in Zweifel gezogen, sondern im Gegenteil mit Entschiedenheit gefordert. Die entscheidende Frage ist jedoch - dies allerdings wird kaum erörtert - , welche einzelwissenschaftlichen Ergebnisse, Methoden und Ansätze in den Forschungs-, vor allem aber in den Lehrbetrieb der Politikwissenschaft einfließen, angewendet oder überhaupt zugelassen werden. Die Bereitschaft, als Politikwissenschaftler auf die Ergebnisse und - was leider immer seltener wird - auch auf die Methoden der betreffenden Wissenschaften zurückzugreifen und von ihnen sachgemäß Gebrauch zu machen bzw. diese Wissenschaften als Ganze mit ihren Ansätzen dem kanonisierten Kernbestand der Politologie hinzuzufügen, hängt wesentlich von der Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes ab. Sie definiert den Maßstab, der angibt, welcher Grad an interdisziplinärem Engagement jeweils aufgebracht werden muß. Gerade im Bereich der Ideengeschichte spielt die Kategorie des Raumes eine maßgebliche Rolle, die Grenzen der Interdisziplinarität festzulegen oder bestehende zu verschieben.

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2. Der Raum Das Forschungsinteresse der politischen Ideengeschichte erstreckt sich in geographischer Hinsicht vornehmlich auf den europäisch-nordamerikanischen Raum, wie er vom abendländisch-christlichen Weltbild geprägt ist. Leitender Gesichtspunkt ist dabei das Ausmaß der religiös, politisch und wirtschaftlich motivierten Durchsetzungskraft, Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit der Ideen der Alten Welt. Das Interesse beginnt schon in bezug auf die Religionen der Erde, die von den alten Kolonialmächten unterworfen worden sind, relativ schnell zu erlahmen. Lediglich dort, wo der Marxismus hat Fuß fassen können - wie in China oder in Südostasien - , haben die politisch-sozialen Ideen für die Wissenschaft einen spezifischen Wert erhalten. Weite Teile des Globus allerdings werden von der Analyse nicht erfaßt und bleiben im Dunkeln: die präkolonialen Epochen in Lateinamerika, Schwarzafrika und Asien; die islamische Welt; die altorientalischen Reiche, die Hochkulturen Indiens, Chinas und Japans. Hier müßte dann auf Disziplinen wie die Orientalistik, die Islamistik, die Ostasienwissenschaften, die Altamerikanistik, die Indologie oder auf ethnographisches Material zurückgegriffen werden. Es soll nicht verschwiegen werden, daß es vereinzelt Versuche gegeben hat, die vorherrschende eurozentristische Sichtweise aufzubrechen und die peripheren Regionen der Weltgeschichte unter ideengeschichtlicher Perspektive zu untersuchen. Speziell die Schule um Eric Voegelin hat sich der Aufgabe unterzogen, im Rahmen ihrer Geschichte des politischen Denkens Bände über das islamisch-arabische Gedankengut oder über das kaiserliche China vorzulegen. Auch ist es sicherlich als ein Fortschritt zu bezeichnen, wenn in Pipers Handbuch zur Geschichte des politischen Denkens u.a. der Alte Orient oder das hinduistische Indien Erwähnung finden. Man sollte sich stets vor Augen halten, daß es sich hier um Hochkulturen handelt, deren spezifische historische Leistungen den Respekt der modernen Forschung geradezu hervorrufen muß und zu einem lohnenswerten Arbeitsfeld auch für Ideenhistoriker werden sollte. Die sogenannten „kulturlosen" Räume wie etwa Zentralasien, Schwarzafrika oder die pazifische Inselwelt hatten bislang noch nicht das Glück, von der Ideengeschichte entdeckt, geschweige denn in ihr Forschungsprogramm aufgenommen zu werden.

3. Die Zeit und die Epochen Vor mehr als zwanzig Jahren hat Klaus von Beyme achselzuckend festgestellt: „Politische Ideengeschichten im Überblick blieben bisher Sklaven der Chronologie" (Ideengeschichte, 1969,44). Einerseits entspricht diese Behauptung vollkommen der vorwaltenden Forschermentalität. Es ist jahrzehntelange Übung, die einzelnen Denker in fast schon annalistischer Form in der Reihenfolge ihres zeitlichen Wirkens darzustellen. Was das Ordnungsprinzip der Periodisierung anbelangt, greift die Ideengeschichte auf die von Cellarius im 17. Jahrhundert begründete Dreiteilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit zurück, daraufbauend, daß das für die allgemeine, und das heißt vor allem für die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen, gedachte Einteilungsschema automatisch auch für die Geschichte des Denkens gelten könne. Zwar orientiert man sich auch an genuin philosophiegeschichtlichen Epochenbezeichnungen wie Humanismus, Aufklärung etc.: Doch die Gliederung des Stoffes am Vorbild der allgemeinen Geschichte bleibt im Prinzip gewahrt, mit entsprechenden Ausdifferenzierungen. Doch schon Autoritäten wie Kant oder Comte haben die Chronologie nicht als Bedingung von Geschichtsschrei-

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bung anerkannt, sondern umgekehrt die geschichtlichen Begebenheiten und ihre Ordnung nach Maßgabe der Vernunfterkenntnis als Substrat der Zahlen bestimmt. Auf der anderen Seite ist aber schwer vorstellbar, Geschichte ohne Bezug auf temporale Strukturen schreiben zu wollen. Selbst die von v. Beyme mindestens für die Politikwissenschaft geforderte systematische Betrachtungsweise kann ohne Anbindung an die Diachronie nicht auskommen, wie ein auch nur flüchtiger Blick in die einschlägigen Arbeiten zeigt. Dann ist es nicht der einzelne Denker, der als Produzent von Ideen das Interesse hervorruft; sondern „Subjekt" der Analyse wird der Begriff und das darin ausgedrückte Problem. Systematisch betriebene Ideengeschichte ist dann nichts anderes als Begriffs- bzw. Problemgeschichte (s.u.). Ob es sich um Leo Strauss' Naturrecht und Geschichte, Theodor Eschenburgs Autorität (1965), Voegelins Order and History (1956ff.) u.a. handelt: Die großen systematischen Werke der Geschichte des politischen Denkens von bleibendem Wert beruhen auf der Beachtung der historischen Dimension. Dabei ist es ein kaum mehr ausrottbares Vorurteil zu meinen, es gebe eine gleichsam natürliche' Unvereinbarkeit von historischer und systematischer Betrachtungsweise im Rahmen der Ideengeschichte (und der Politikwissenschaft ganz allgemein). Dem entspricht die Entgegensetzung innerhalb der Geschichtswissenschaft, die seit dem Aufkommen der Soziologie unvermindert in einem scheinbaren Dualismus von „Ereignis" und „Struktur" verharrt. Eine etwas reflektiertere Diskussion der Kategorie Zeit aus der Sicht einer mehrheitlichen strukturalistisch sich verstehenden Disziplin wie die Politikwissenschaft wird zu einem eher entgegengesetzten Urteil kommen. Wir haben ja gesehen, daß ein Hauptmotiv der Ideengeschichte darin besteht, sie für bestimmte aktuelle Fragestellungen nutzbringend zu verwenden. So machen Politologen nichts anderes als das, was eine der zentralen Legitimationsgründe der Geschichtswissenschaft bezeichnet, nämlich dem Topos von der historia magistra vitae zu entsprechen, also aus der Geschichte .lernen' zu können und auch zu wollen, mit der Konsequenz, sich aus dem Bedeutungsgehalt vergangener Geschichte Handlungsanweisungen für zukünftiges politisches Gestalten vorgeben zu lassen. Wenn die Politikwissenschaft diesen Extrapolationsvorgang als legitim erachtet, dann kann sie sich einer Problematisierung der historischen Zeit und der Zeitlichkeit geschichtlicher Ereignisse, Phänomene etc. nicht mehr entziehen. Sie muß sich beispielsweise Fragen gefallen lassen wie: Können Machiavellis raggione di stato, Hobbes' Leviathan oder Rousseaus religion civile mit ihrer spezifischen denkgeschichtlichen Verortung für die zeitgenössische Diskussion ,operationalisiert' werden? Offenkundig scheinen auch Ideenhistoriker das Axiom der pragmatischen Historiographie zu teilen, wonach die Geschichte für zukünftige Generationen ein nutzbringendes Moment an sich habe, die Möglichkeit wiederholbarer Ereignisse also durchaus naheliege. Der Historiker Reinhart Koselleck gibt jedoch zu bedenken, daß erst genügend strukturelle Bindungen vorliegen müßten, damit von einer Analogie der Ereignisse gesprochen werden könne. Thukydides, Machiavelli, Montesquieu oder Robert Michels hätten mit derartigen Bedingungen gerechnet (Vergang. Zukunft, 155). Koselleck gibt dem Historismus zwar recht in dessen Ansicht von der Singularität historischer Ereignisse. Doch ließen sich aus deren Mannigfaltigkeit Strukturen herauspräparieren, „die den Handlungsspielraum der Zukunft zugleich bedingen und eingrenzen" (ebd. 157). Erst so werde Geschichte verfügbar sein. Im übrigen steht auch die empirische Sozialforschung gar nicht so weit weg von einer solchermaßen verfahrenden Historie, soweit sie nämlich Prognosen mit Wahr-

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scheinlichkeitscharakter aufstellen will. Es ist dasselbe, wie wenn Historiker oder Ideengeschichtler von Vergangenem auf Zukünftiges zu schließen suchen. Und so ist es auch kein Zufall und erscheint zwingend, wenn von Beyme der Ideengeschichte durchaus auch eine gewisse prognostische Kraft zubilligt (55ff.). Das zeitliche Nacheinander, seine Beachtung und schließlich Kanonisierung durch das historische Dogma, dem auch die Ideengeschichte folgt, läßt sich auch unter einem weiter gefaßten Blickwinkel erörtern. Die Kategorie „Zeit" wird dann zu einem Bewegungsfaktor von geschichtlicher Entwicklung. Sie meint dann mehr als die bloße Aufgliederung der Ideengeschichte nach chronologischer Art, sondern sie erscheint als Maßstab, nach der so etwas wie „Fortschritt", seine Gleichmäßigkeit, Verlangsamung oder Beschleunigung, bestimmt werden kann. „Fortschritt" umschreibt dann nicht nur die Fortentwicklung von Geschichte im naturalistischen Sinne, sondern ebensosehr als Fortbildung im Sinne einer qualitativen Steigerung im Vergleich zum Vorher. An der Zeit läßt sich für den Betrachter der Grad der Fortschrittlichkeit der geschichtlichen Phänomene festmachen. Ihm erscheint dann etwas als ,modern' oder ,antiquiert',,zeitgemäß' oder ,überholt'.

4. Der Personalismus Die Ideengeschichte ist überwiegend personalistisch ausgerichtet. Es ist schon erstaunlich, daß eine sich systematisch verstehende Disziplin wie die Politikwissenschaft auf dem Gebiet der Ideengeschichte größere strukturelle Zusammenhänge außer acht läßt und das einzelne Individuum zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen nimmt, obwohl methodologische Aspekte der Biographieforschung nicht reflektiert werden (dazu u. Kap. VII). Im ausschließlichen Mittelpunkt des Interesses steht der einzelne Denker oder Intellektuelle. Diese Vorgehensweise scheint von der Voraussetzung auszugehen, daß so etwas wie ,Denken' im Sinne von rationaler Durchdringung eines Sachverhalts, von Originalität, von argumentativer Kraft, geistiger Frische, von Weitsicht etc. immer an einzelne wenige Individuen gebunden bleibt, kaum an Gruppen, Parteigänger oder Massen. Dabei wird offenbar unterstellt, daß das kaum entwickelte politisch-soziale Bewußtsein bei den Massen erst durch die Wirksamkeit einer Art intellektueller Avantgarde zu politischer Durchschlagskraft sich fortbildet. Die Untersuchungen über die sich im 19. und 20. Jahrhundert herausgebildeten ideologischen Strömungen belegen dies: Geistige Gruppen- und Massenphänomene werden kaum Gegenstand ideenhistorischer Behandlung. Am Beispiel der von Werner Hofmann vorgelegten Ideengeschichte der sozialen Bewegung (1971) sehen wir, daß selbst marxistische Autoren sich nicht von der personalistischen Sehweise zu lösen vermocht haben und im Grunde genommen einen sozialistischen Theoretiker nach dem anderen abhandeln. Auch eine problemgeschichtliche Studie wie Kurt Sontheimers Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1962) bleibt letztlich an Personen hängen, wenngleich hier mit einigem Recht: Konservatives Denken im strengen Sinne ist nicht die ideologische Vorlage einer Massenbewegung, sondern Geburt einer elitären Bildungsschicht.

5. Schriftlichkeit und Mündlichkeit Geschichtlichkeit offenbart sich vornehmlich in Schriftlichkeit. In dieser Vorstellung beruhte lange Zeit das Erbe des Historismus. Von ,Geschichte' wurde dann gesprochen, wenn ihre Überreste in schriftlicher Form fixiert dem Historiker zugänglich

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waren. Der Ägyptologe Jan Assmann arbeitet seit einiger Zeit im Blick auf das Phänomen des kulturellen Gedächtnisses mit dem Begriff der Hypolepse, um der politischen Identität früher Hochkulturen nachzuspüren. Hypolepse kommt vom Griechischen hypolepsis und meint die Anknüpfung an das bereits Gesagte innerhalb eines bestimmten Kommunikationszusammenhanges. Dabei wird nach dem Prinzip verfahren, in dem, was man ausdrücken will, nicht immer von vorne anfangen zu müssen, sondern das Vorangegangene aufzunehmen, sich also in ein laufendes Kommunikationsgeschehen einzuschalten. Voraussetzung ist freilich, daß das bereits zum Ausdruck Gebrachte, auf das man sich bezieht, als Texte, die gewisse kanonische Evidenz besitzen, fixiert ist. Jeder hypoleptische Prozeß kann nur dann vonstatten gehen, wenn eine Schriftkultur existiert, die die Fähigkeit besitzt, Gesagtes in Texte zu verfestigen, die sich von der Situation, in der sie entstanden und auf die sie sich bezogen, unabhängig machen und gleichsam kanonisiert werden können. Die Erkenntnisse der Prähistorie, der Archäologie, der orientalischen Disziplinen und der Ethnologie haben aber später dazu geführt, daß jene postulierte Abhängigkeit des geschichtlichen Verstehens von schriftlichen Quellen usurpiert wurde. Es scheint jedoch so zu sein, daß im Falle der Ideengeschichte die Dominanz des Prinzips der Schriftlichkeit weiterhin besteht und die Abschüttelung der traditionellen Annahmen des Historismus noch nicht gelungen ist. Das Grundmaterial der Ideengeschichte sind im allgemeinen Texte. Texte wiederum bleiben an Schriftlichkeit gebunden. Ohne deren Existenz keine Texte, und ohne Texte keine Möglichkeit der Selbstauslegung menschlicher Gesellschaften und ohne diese keine Ideengeschichte. Offenkundig gehen noch immer die meisten Ideenhistoriker davon aus, daß die „Domestizierung des Geistes" (so der Sprachforscher Jack Goody), wie sie zum ersten Male im alten Griechenland zum Tragen gekommen sei, erst mit der Entwicklung einer Alphabetschrift gelingen konnte. Der amerikanische Altphilologe Eric Havelock hat dies in zugespitzter Form in die These von der „Geburt der Philosophie aus dem Geist der Schrift" (und Schrift meint hier Alphabetschrift) gekleidet (Preface to Plato, 1963).

Derartige Anschauungen müssen jedoch zumindest in zweifacher Hinsicht relativiert werden. Erstens läuft die Ideengeschichte Gefahr, diejenigen Kulturkreise - ob historisch oder zeitgenössisch - von der Betrachtung auszuschließen, die ihre Erinnerungsleistungen nicht durch das Prinzip der Schriftlichkeit fixiert haben, wo also so etwas wie eine „Schriftkultur" nicht vorhanden war (bzw. ist) und wo das „kulturelle Gedächtnis" (Jan Assmann) auf andere Weise symbolisiert wird. Zweitens wird dem Tatbestand der Sprachlichkeit von Denken kaum Beachtung geschenkt. Sprachlichkeit geht ja Schriftlichkeit voraus, und es wird ja geradezu als entscheidender Vorteil der Alphabetschrift etwa gegenüber dem Prinzip der Konsonantenschreibung der ägyptisch-semitischen Schriften genannt, daß es jene war, in welcher sich eine unmittelbare Beziehung zwischen Sprache und Schrift feststellen läßt. Interessant ist es aber, daß es die Griechen als „Erfinder" dieses Prinzips waren, die zur Schriftlichkeit von Denkleistungen eine Art gebrochenes Verhältnis besaßen. Die homerischen Epen, die attischen Tragödien oder die platonischen Dialoge haben ihren jeweiligen Entstehungsgrund in der Sprache, in verbalisierter Form, die schriftliche Fixierung begann erst später. Im Falle Piatons hat aber ein moderner Interpret wie Ernst Heitsch gezeigt, daß Piaton zwar den Möglichkeiten der Sprache, eine philosophische Wahrheit auszudrücken, den Vorzug vor der Schriftlichkeit gegeben hat, weil Sprache eben situationsgerechter wirkt. Aber warum hat Piaton viele hundert Seiten aufgeschrieben, warum hat er ein Werk von beachtenswertem Umfang

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hinterlassen? Offensichtlich hat Piaton dem schriftlichen Prinzip nicht die Geringschätzung entgegengebracht, die man dem Dialog Phaidros, wo dieses Problem klassisch thematisiert wird, entnehmen zu können glaubte (Heitsch 1992). Aber auch die scholastischen quaestiones und „Summen" (etwa die Summa Theologiae des Thomas von Aquin) gehören in diesen Rahmen, ebenso Predigten (Miethke 1990). In allen diesen Formen dominierte ursprünglich das mündliche Element. Erst in einem zweiten Durchgang wurden die darin verhandelten strittigen Gegenstände in schriftliche Formen umgegossen. Man sollte sich also einer gewissen Eigenbedeutung des Mündlichen, auch wenn das darin zum Ausdruck Gekommene mit der schriftlichen Wiedergabe koinzidiert, bewußt sein, wenn man mit solchen Texten zu tun hat. Das Prinzip der Mündlichkeit vermag eine gänzlich andere Wirkung zu erzielen, als wenn dasselbe später schriftlich aufgezeichnet wird, weil das Publikum als Zuhörerschaft ein ganz anderes Wahrnehmungs- und Auffassungspotential mitbringt als ein Lesepublikum. Wer also als Ideenhistoriker Wirkungsgeschichte betreiben will, sollte sich diesen Zusammenhängen nicht verschließen (vgl. auch u. über Formen und Gattungen).

6. Probleme Wer die Ideengeschichtsschreibung durchmustert, der wird schnell den Eindruck gewinnen, daß sich das Denken seit alters her mit Problemen unterschiedlichster Art befaßt hat: ethische, erkenntnistheoretische, methodische, politische, metaphysische, ontologische, logische u.a. Probleme. Philosophiegeschichte ist dann nichts anderes als Problemgeschichte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machte C. F. Bachmann den Vorschlag, die Geschichte der Denksysteme von den Grundproblemen her zu begründen; dabei ging er von der Voraussetzung aus, „daß gewisse Aufgaben die Kerngestalt aller Systeme darstellen." (zit. HWbPH. 7, 1411). „Problem" wird dabei im Sinn des griechischen Ursprungswortspröblema verstanden, das noch im Neukantianismus als eine in einem philosophischen Zusammenhang stehende schwierige Aufgabenstellung bezeichnet wird. Die neukantianische Diskussion um die Problemgeschichte wurde eingeleitet durch Windelbands Geschichte der Philosophie, die den bezeichnenden Untertitel Geschichte der Probleme und zu ihrer Lösung erzeugten Begriffe trägt. Windelband geht von der Vorstellung aus, daß sich die Hauptprobleme in der Philosophie wiederholen, ebensosehr ihre Lösungen. Eduard Zeller zufolge, dem ersten Historiker der griechischen Philosophie, wird die Geschichte einzelner Philosophen in die Geschichte der Philosophie verwandelt, die eine geschichtliche Einheit, unbeschadet der höchst unterschiedlichen Antwortsuche der Philosophen, bildet. Nicolai Hartmann hat in einem grundlegenden Beitrag betont, daß das Wesenselement der Philosophiegeschichte nicht die denkenden Individuen seien, sondern die philosophischen Probleme. Die Größe eines Denkers bemißt sich dann daran, inwieweit dieser das Problem wiederzuerkennen imstande war. Diese Annahme impliziert, daß Probleme als transzendentale, das heißt überzeitliche Entitäten, Bedingung der Möglichkeit von Philosophiegeschichte sind. Entsprechend den großen Vorbildern Descartes und Kant scheint die Vernunft als etwas Ungeteiltes und Allgegenwärtiges, die es zu erkennen gilt. Stets sind es dieselben Probleme, die die Systeme durchlaufen, jenseits der besonderen Eigenart des einzelnen Philosophen, sie zu fassen und zu untersuchen. Sie konstituieren den Sinnzusammenhang der Philosophiegeschichte. Die Probleme sind vorhanden; der Denker kann sie nicht ändern oder ignorieren: „Es ist nicht durch ihn geworden und

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nicht von ihm zu vernichten." (Hartmann, 1910, 470). Die Einheit der Probleme bildet die Einheit der historischen Kontinuität, hinter der die Einheit der Vernunft steht. Neben der Flüchtigkeit der Weltbilder gibt es bleibende Errungenschaften der Erkenntnis, die sich in der Universalität der philosophischen Probleme widerspiegeln (Hartmann, 1936, 18). Von daher erhält die Rede von der Philosophie als einer philosophia perennis ihren spezifischen Sinn. Die politische Ideengeschichte ist in großen Zügen nichts anderes als Geschichte der Hauptprobleme des politischen Denkens - Probleme, die Begriffe wie Macht, Herrschaft, Legitimität, Repräsentation, Autorität, Freiheit und andere aufgeworfen haben. Unabhängig von den Personen, die darüber nachdachten, unabhängig von dem sozialen und politischen Kontext, der auf diese Personen und ihre Gedanken einwirkte, und unabhängig von den Adressaten, auf welche hin das Nachdenken über politische Zusammenhänge und Probleme gerichtet war: Die Probleme, die das politische Denken stimulierten, wurden als zeitlos, als immer wiederkehrend betrachtet, und in den sog. „Great Books" fanden sie anscheinend ihre angemessene Behandlung. So bemerkte ganz in diesem Sinne schon vor bald vierzig Jahren Andrew Hacker, daß es z. B. das Problem der majority-rule sei, das unser Interesse hervorrufe, nicht das aber primär, was eine Person namens John Locke darüber zu Papier gebracht habe (Hacker, 786). Sheldon Wolin hat beispielsweise die Geschichte der politischen Philosophie als einen kontinuierlichen Dialog mit dem Problem der Ordnung charakterisiert (Wolin, 1960, 11). Ein anderes, „deutsches", Beispiel ist Ulrich Steinvorths Stationen der politischen Theorie: Das Buch versteht sich expressis verbis als eine Problemgeschichte in bezug auf die Verbindlichkeit klassischer politischer Theorien für gegenwärtige Problemlagen, in diesem Falle für das Problem der individuellen Freiheit. Trotz aller Unterschiede im allgemeinen und im einzelnen sehen alle untersuchten Autoren (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Hegel, Marx, M. Weber) in der Freiheit das höchste menschliche Gut. Das größte Interesse an der Ideengeschichte als Problemgeschichte hatten im Rahmen der Politikwissenschaft auf jedenfall die Bewunderer und folglich auch Bewahrer der klassischen politischen Philosophie, die trotz tiefgreifender historischer Wandlungen und Zäsuren von der Stetigkeit und Gleichgerichtetheit politischer Probleme auszugehen pflegten. So weist Leo Strauss darauf hin, daß eine naturrechtliche Begründung der Politik ohne das Problem der Grundlagen der Gerechtigkeit undurchführbar sei. Strauß und andere wie Eric Voegelin haben immer wieder das Problem der gemäßen Ordnung menschlicher Gesellschaften als die zentrale Kategorie des politischen Denkens seit seinen Ursprüngen im klassischen Griechenland angesehen. Dieses Problem wird sich immer neu stellen und von ungeteilter universeller Bedeutung sein, ungeachtet der verschiedenartigsten Antworten, die im Laufe der Jahrhunderte darauf gegeben worden sind. Aus der Sicht der Althistorie hat der Franzose Paul Veyne eine solche Vorgehensweise in Frage gestellt: Nur weil die Griechen Wörter wie polis, Demokratie, Freiheit, Bürger erfunden hätten, hätten sie noch lange nicht „ewige Wahrheiten" über Politik verkündet, die für uns heute noch Gültigkeit hätten. Man solle sich lieber darauf beschränken, „Geschichte zu schreiben" (Veyne, 13). Da dieses Problem weder in der allgemeinen Geschichtswissenschaft noch in der Ideengeschichte gelöst ist, wird uns das Wie auch hier zentral beschäftigen müssen (s. Kap. VII). Aber auch diejenigen „intellectual historans", die nicht unbedingt den „Klassizismus" der Strauß- oder Voegelin-Schule teilen, sondern von diskurstheoretischen Annahmen, wie sie etwa von Habermas oder Derrida vertreten werden, fasziniert sind, liegen auf der Linie einer Ideengeschichte als Problemgeschichte. Ein Beispiel

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hierfür ist Martin Jays Marxism and Totality (1984). Jay sieht das Konzept der Totalität bei Lukacs zuerst paradigmatich gefaßt, aber noch ungelöst belassen, so daß sich daraus in der Folgezeit eine Art Diskurs, ein Argumentationsstrang entwickelt, in welchem das ursprüngliche Paradigma kritisch assimiliert, reproduziert, in Frage gestellt, revidiert und schließlich „dekonstruiert" wird, so daß der Diskurs über das Konzept „Totalität" selbst zum Problem wird.

V. „Klassiker" des politischen Denkens 1. Begriff Die politische Ideengeschichte tritt uns häuptsächlich in der Gestalt von Klassikern entgegen. Ein Blick in die Literatur belegt dies überdeutlich: Klassiker des politischen Denkens (Maier u.a.), The contemporary relevance ofthe classics of politicalphilosophy (Germino), The great dead philosophers (Rorty), Les grandes oevres politiques de Machiavel d nos jours (Chevallier), Classics of political thought and modern political analysis (Bluhm) sind Titel von und Bezeichnungen in einschlägigen Veröffentlichungen. In den Darstellungen stoßen wir immer wieder auf dieselben Namen, die uns wie selbstverständlich als „Klassiker" über die Lippen kommen: Aristoteles, Machiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu, Marx und viele andere. Wir stoßen aber auch auf Namen, die uns weit weniger vertraut sind, und die in Forschung und Lehre eher eine marginale Rolle spielen, wenn nicht überhaupt ignoriert, aber gleichwohl als „Klassiker" bezeichnet werden und in keinem anspruchsvollen Gesamtüberblick fehlen: Wilhelm von Ockham, Vitoria, Mariana, Althusius, Sir Filmer, die Levellers, Lorenz von Stein, Mosca u.a. Welche Kriterien müssen also erfüllt sein, um als „Klassiker" gelten zu können? Der Ausdruck klassisch (sowie die entsprechenden Ableitungen) hat seine Wurzel im Lateinischen classicus, ein Ausdruck, der den Angehörigen der höchsten Steuerklasse in der römischen Kaiserzeit bezeichnet. Noch in der Antike wird er auf die Literatur, später auch auf die Kunst übertragen: „Klassisch" ist dann das Vorzügliche, das Mustergültige, das Paradigmatische (Beispielhafte), dem nachzueifern eine hohe Aufgabe darstellt. In der Neuzeit gewinnt der Begriff eine terminologische Präzisierung: Er wird nun ausdrücklich für die Literatur und Kunst der Antike verwendet. „Klassisch" ist das, was die Griechen und Römer an kulturellen Schöpfungen hervorgebracht haben. Aber schon in Frankreich wird der Ausdruck classique seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch für die erste Blütezeit der Nationalliteratur im 17. Jahrhundert benutzt. In Deutschland sprechen die Zeitgenossen Goethes und Schillers noch keineswegs von der deutschen „Klassik" in der Literatur. Der Epochenbegriff der „Weimarer Klassik" setzt sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch. Die Kunstwissenschaft hält allerdings noch an der historisch definierten Unterscheidung von „Klassik" (Antike) und dem „Klassizismus" (Imitation der Klassik in der Moderne) fest. Als im 19. Jahrhundert im Verlagswesen der Brauch sich einbürgert, sogenannte „Klassiker-Ausgaben" herauszugeben, um damit ein weites Lesebedürfnis der gebildeten Schichten zu befriedigen, nimmt dies Nietzsche zum Anlaß, das „Klassische" an sich zu retterf>und auf wenige Werke einzuschränken. Von „Klassikern" im außerliterarischen und -kunstwissenschaftlichen Raum spricht wohl zuerst der Marxismus, wenn damit die Werke der Begründer Marx und Engels gemeint sind,

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zu denen dann später die bolschewistische Doktrin die Werke Lenins und Stalins hinzugefügt hat. Im Gefolge davon handelt man dann von den „Klassikern" der Nationalökonomie, der Soziologie - und auch der politischen Ideen.

2. Kriterien der Bestimmung „Klassikern" schreibt man also eine gewisse Vorbildfunktion in bezug auf das Denken und Handeln künftiger Generationen zu. In bezug auf das Verfassungsleben hat Peter Häberle ausgeführt, daß Klassikertexten die positive Eigenschaft zukommt, Probleme zu benennen, Teilaspekte für Problemlösungen zu liefern, als Instrumente von Rationalisierung des Verfassungslebens zu fungieren, kurz: sie besitzen für die nachfolgenden Generationen paradigmatischen Wert. Wie werden aber Klassiker zu „Klassikern"? Für Leo Strauss und seine Anhänger ist die Sache relativ einfach zu entscheiden; sie kommen der ursprünglich historischen Bedeutung von „klassisch" am nächsten, wenn sie dieses Etikett ausschließlich für die politische Philosophie Piatons und Aristoteles' angewendet wissen wollen. Alles, was danach gekommen ist, sind allenfalls Derivate der „classical Solution" (Strauss). Anders J. B. Sanderson: Er hat 1968 einmal der Versuch unternommen, Kriterien für die Qualität eines „Klassikers" zu benennen und ist dabei auf fünf gekommen: „comprehensiveness" (Universalität des Blickwinkels) und Kohärenz, Originalität, Dauer und Einfluß, Plausibilität, Illustrations- und Antizipationskraft (Fähigkeit, die eigene Gesellschaft zu analysieren und Entwicklungen vorherzusehen). Dabei setzt er voraus, daß die maßgeblichen Autoren als politische Philosophen über die menschliche Gemeinschaft als Ganzes reflektieren mit dem Ziel, die menschliche Situation zu verbessern. In der Realität treffen so gut wie nie alle Kriterien auf einen klassischen Autor zu; der eine oder andere Gesichtspunkt bleibt immer unterbelichtet. Das entwertet aber keinen der Denker. Ja, die Tatsache, daß die Liste der „Meisterdenker" von Zeit zu Zeit Wandlungen unterworfen bleibt, es vielfach zu Neu- und Umbewertungen kommt, manche in Vergessenheit geraten, während andere wieder ins Bewußtsein gerückt werden und eine Renaissance erleben, führt Sanderson zu der Schlußfolgerung, keinen der Autoren von vornherein aus der Geschichte des politischen Denkens auszuschließen.

3. Das Interesse an den „Klassikern" Die von Sanderson aufgezählten Charaktereigenschaften eines Klassikers mögen zunächst einmal dessen Rezipierung motivieren. Dieser Vorgang markiert in der Regel den Anfang einer Tradierung und Überlieferungsgeschichte. Was weckt aber das Interesse an den „Klassikern"? So unterscheidet Häberle den illustrativen, den historisch darstellenden und den legitimatorischen „Zitiertyp" (Häberle, 36). Subsumieren wir den ersteren Typ einem antiquarischen Interesse, fügen wir einen pragmatischen Typ hinzu und differenzieren wir den legitimatorischen Typ weiter aus, so erhalten wir folgende Einteilung: (a) Das antiquarische Interesse ist ein Topos, der mindestens seit Nietzsches Essay Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) geläufig ist. Hier wird der Geschichte die Aufgabe zugewiesen, „mit Treue und Liebe" dorthin zurückzublikken, woher man komme und worin man geworden sei. Es ist die Pflege des seit alters Bestehenden für solche, die nach uns kommen (Nietzsche, 27f.). Der Ideenhistoriker

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verhält sich dann antiquarisch, wenn er eine Bestandsaufnahme des vorhandenen Materials vornimmt, es registriert und chronologisch oder sachlich einordnet. Der Zweck der Übung soll allein darin bestehen, dem Leser einen Eindruck von der Vielfältigkeit und der Verschiedenartigkeit des politischen Denkens zu verschaffen. Aus diesem immensen Fundus werden dann, je nach Intention, die Zitate zur besseren Illustration eines Sachverhaltes oder eines Argumentationsganges ausgewählt, ohne nun unbedingt die Ansichten des Klassikers teilen zu müssen. (b) Ein pragmatisches Interesse liegt dann vor, wenn der Ideenhistoriker über die reine Bestandsaufnahme hinaus gezielter die Frage nach dem Nutzen der Geschichte des politischen Denkens stellt. Ihren geistesgeschichtlichen Ort hat dieser Topos in der Maxime, daß man aus der Geschichte lernen könne, die uns seit den Tagen des Thukydides bekannt ist. Meist wird diese Frage vor dem Hintergrund der Gegenwart gestellt - etwa wenn ein Problem auftaucht und versucht wird, die Geschichte nach möglichen Lösungsversuchen abzufragen; etwa wenn sich den Argumenten vergangener Denker bedient wird, um theoretische oder philosophische Probleme, die uns beschäftigen, besser in den Griff zu bekommen. Oder der Forscher oder Student ist einfach wißbegierig, gegenwärtige Probleme auf der Grundlage vergangener Ideen zu verstehen, ohne unbedingt irgendwelchen unmittelbaren Nutzen daraus zu ziehen; so umreißt z.B. Sanderson die Aufgabe eines Historikers als Rekonstruktion der Vergangenheit aus reiner Wißbegierde (Sanderson 1968, 50). Eine reflektierte Position nimmt Dante Germino ein, wenn er herausstellt, daß es eigentlich nicht die Lösungen sind, die die Aussagekraft früherer Denker für uns Zeitgenossen fruchtbar machen läßt, sondern die Fragen, die sie stellen und denen wir auch heute nicht auszuweichen vermögen: die Frage nach dem Menschen, die Frage nach der Gesellschaft, die Frage nach der Geschichte (dazu u. mehr). Insoweit sind die classics „touchstones" der politischen Philosophie (Germino, 1975, 237ff.). (c) Meist werden aber die Schriften der Klassiker für bestimmte Zwecke und Ziele oder gewisse ideologische Bedürfnisse eingesetzt und entsprechend „frisiert", um so durch deren Autorität und Authentizität die vorgebrachten Argumente wirksamer zu untermauern. Die Rechtmäßigkeit einer Handlung, eines Argumentes, eines Komplexes von Gedanken, einer Philosophie, ja, einer ganzen Wissenschaft wird unterstützt und zusätzlich verstärkt durch Anleihen in der Ideengeschichte. Das Interesse daran steigert sich in dem Maße, wie die vorgebrachten Ziele, Absichten, Zwecke, die mit bestimmten Handlungen etc. verbunden werden, noch recht diffus erscheinen, wenn Neuland betreten wird, aber man doch beachtet werden will und nach Anerkennung strebt. Dann läßt sich meist beobachten, daß man sich in der Geschichte rückversichert, um so die Ehrenhaftigkeit seiner Anstrengungen zu unterstreichen und bei skeptischen Gemütern Eindruck zu erwecken. Wir stoßen in der wissenschaftlichen Literatur oder in der politischen Tagesauseinandersetzung immer wieder auf Wendungen wie „Dieses Problem habe x schon vor x Jahren (Jahrzehnten, Jahrhunderten) klar gesehen" oder „Schon der und der habe gesagt, daß...". Nicht nur werden auch die früheren Denker im Blick auf aktuelle Probleme als weitsichtig angesehen; man versucht auch aus der Retrospektive darzutun, daß bereits in vergangenen Epochen bestimmte Themen wahrgenommen und zur Sprache gebracht, von den nachfolgenden Generationen gleichwie aber ignoriert bzw. verdrängt worden seien. So sind entschiedene Befürworter des Föderalismus in Deutschland weit ins Mittelalter zurückgegangen (z.B. auf die Ideen des spätmittelalterlichen Konziliarismus), um ihre Vorstellungen stichhaltig untermauern zu können.

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Teil III: Politische Ideengeschichte

Eine Variante des legitimatorischen Interesses ist die Ansicht, die Ideengeschichte als Verfallsgeschickte aufzufassen und dementsprechend die Klassiker zu charakterisieren. Hier erscheint die Geschichte des Denkens als Abfall von der ursprünglichen Thematik der Philosophie, die im Laufe der Entwicklung, aus welchen Gründen auch immer, in Vergessenheit geraten ist. Die Geschichte der Philosophie denaturiert, weil sie sich nicht mehr den Blick frei hält für die Grundfragen und Grundprobleme des anfänglichen Denkens. So haben die Erneuerer der klassischen Naturrechtslehre wie Leo Strauss etwa - deren Geschichte als Verbiegung der originären Einsichten des griechischen Denkens gesehen. Für Strauss sind die Lehren eines Hobbes, Locke oder Rousseau nichts anderes als herausragende Beispiele einer Preisgabe der als allgemeingültig und überzeitlich anerkannten Theorien des ursprünglichen naturrechtlichen Traditionsbestandes. Die moderne politische Philosophie hat nur mehr noch „derivative character" (What is political philosophy, 28). Der Rückbezug auf die Anfänge dient dann als Etablierung eines neuen philosophischen Begründungszusammenhangs. Ein anderes Beispiel ist die Bewertung der Aufklärung durch konservative Theoretiker des 20. Jahrhunderts wie Hans Freyer oder Arnold Gehlen. Diese haben in ihr und in der durch sie hervorgerufenen Entzauberung und Entmythologisierung der Welt den eigentlichen Sündenfall der weltanschaulichen Kämpfe der folgenden Jahrhunderte und der Infragestellung und Auflösung aller menschlichen Ordnung erblickt. Eine letzte Form legitimierender Ideengeschichte läßt sich als konstruierte Ideengeschichtsschreibung bezeichnen. Diese bewertet die einzelnen Denker und ihre Anschauungen danach, wie diese bestimmte ideologische Positionen begründet bzw. befördert haben (dazu o. Kap. II). Exemplarisch läßt sich diese Sichtweise an Dolf Sternbergers Drei Wurzeln der Politik festmachen: Die "Politologik", die gleichsam, „einzig wahre" Politik, wird von Aristoteles hergeleitet, die „Dämonologik", die in Hitler ihren schlimmsten Vollstrecker gefunden hat, wird auf Machiavelli zurückgeführt. Die „Eschatologik", die Wurzel des RAF-Terrorismus, hat ihren geistesgeschichtlichen Grund im Werk des Augustinus. Ein älteres, aber nicht weniger zweifelhaftes Beispiel war, einen direkten Zusammenhang zwischen Luther und Hitler zu konstruieren und daraus die psychische Konditionierung der Deutschen als obrigkeitsgefügiges Volk herzuleiten.

4. Kanonisierung, Schulenbildung, Epigonentum Diese Vorgänge gehen aber über das einfache Rezipieren hinaus und verweisen zunächst auf die Kanonisierung der klassischen Schriften. Das Wort Kanon verweist begriffsgeschichtlich auf inhaltliche Verbindlichkeit und Festlegung von Normen, an denen nichts geändert werden darf. Seine Herkunft ist die Baugeschichte, wo Kanon eine Art Maßstab, Richtmaß dargestellt hat; erst später ist der Begriff auf menschliche Zusammenhänge übertragen worden. Die Kirche hat durch ihre spezifische Verwendung dem Kanonbegriff eine neue Bedeutung zugemessen: Kanon wird nunmehr ein verbindlicher Bestand an heiliger Literatur genannt, der ein für alle Mal feststehen soll (vgl. Assmann 1992). Dabei zeigte sich, daß der Prozeß der Kanonisierung oft in Schematisierung und Dogmatisierung endet. Dabei erscheint es einerlei, ob die Klassiker zu Richtgrößen erhoben werden kraft Autorität der Kirche, kraft Autorität der Verfassung bzw. des Gesetzgebers oder kraft Autorität der Wissenschaft. Auf jeden Fall wird ihnen eine Funktion zugeschrieben, die dazu dienen soll, bestimmte religiöse Glaubensinhalte, politische Doktrinen oder wissenschaftliche Erkenntnis-

V. „Klassiker" des politischen Denkens

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weisen zu bekräftigen und gegnerische zu widerlegen. Wir erkennen diesen Prozeß vor allem im christlichen Mittelalter. Hier hat die Rezeption des Aristoteles im 13. Jahrhundert - über die Vermittlung durch islamische Philosophen - zu dessen Kanonisierung durch die Kirche geführt. So schrieben die Statuten der Pariser A r t i s t e n f a k u l t ä t v o n 1255 v o r , d a ß d i e Physik,

d i e Metaphysik,

d i e Ethik u n d d i e

naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles studiert werden mußten. Seine Politik war vom Spätmittelalter an bis ins 18. Jahrhundert Gegenstand des Studiums. Piaton hingegen war zwar bekannt, ging aber kaum in das Bildungsgut der Gelehrten ein. Indirekt lebte aber der Piatonismus im Mittelalter durch Plotin, den bedeutendsten Neuplatoniker, der zwar nicht ausdrücklich rezipiert wurde, aber doch insgeheim präsent geblieben war. Schon auf Augustinus hat Plotin maßgebend gewirkt, obwohl dieser sich später nach seiner Bekehrung selbstkritisch davon distanziert hat. Piaton wird eigentlich erst durch seine Entdeckung und neuplatonisierte Interpretation durch florentinische Gelehrte im 15. Jahrhundert zu einer festen .klassischen' Größe im abendländischen Bewußtsein. Oder um ein Beispiel aus dem außereuropäischen Raum zu liefern: die Stellung des Konfuzius (6. Jahrhundert v.Chr.) in der chinesischen Kaiserzeit und seine Renaissance in der Sung-Ära (10.-13. Jahrhundert). Auch die mongolischen Besatzer haben es nicht verhindern können, daß die Schriften des Konfuzius weiterhin zum Kanon des Studienpensums der höheren Bildungsschichten zählten. Auf der staatlichen Ebene ist das berühmt-berüchtigte Beispiel einer Kanonisierung die Verbiegung der Lehren von Marx und Engels durch Stalin zu einer orthodoxen Weltanschauungslehre und einer politischen Doktrin, deren Befolgung zu strengster gesellschaftlicher Pflicht wurde. Aber auch außerhalb des sowjetischen Lagers sind die Theorien Marxens und Engels' als sakrosankt erklärt worden. Im kommunistischen China ist jahrzehntelang Mao auf ähnliche Weise verehrt und außerhalb jeglicher Kritik gestellt worden. Nicht einmal Aristoteles ist diese zweifelhafte Ehre zuteil geworden, als unumstößliche Autorität des Denkens und des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens anerkannt zu sein; man denke nur an die Verurteilung der Rezeption der aristotelischen Schriften an der Pariser Universität durch den ortsansässigen Bischof im Jahre 1277. Kanonisierung ist gewissermaßen die Fortesetzung eines anderen Vorganges, der Einordnung eines Werkes als „klassisch" in einen ganz bestimmten Sinnzusammenhang. Wenn wir hier vom Kontext der politischen Ideengeschichte ausgehen, so zeigt uns die einschlägig vorhandene Literatur an, daß es so etwas wie einen Kanon von Schriften gibt, der die Grenzen der Kommentierung eben dieser die Ideengeschichte fundierenden Text festlegt. Im Unterschied zu religiös-kirchlichen Texten, bei denen die Träger ihrer Kanonisierung und ihre Interessen, die Adressaten und die „Interpreten" der Texte klar identifizierbar sind, ist dies in bezug auf einen philosophischwissenschaftlichen Kanon nicht so eindeutig. Oben ist zwar von der Autorität der Wissenschaft als Trägerin eines Kanonisierungsprozesses gesprochen worden. Aber diese Autorität im Falle der Wissenschaft beruht nicht auf Zwang, sondern auf Übereinstimmung. Diese Konvention, was zum Kanon gehören solle und was nicht, bleibt mannigfaltigen Wandlungen und Selektionsprozessen unterworfen, die von den Fragestellungen und Orientierungen, die jeweils die Wissenschaft prägen, abhängen. Recht besehen, betreibt eigentlich jede politische Orientierungsrichtung ihre eigene „Kanonisierungspolitik". Leonhard Nelson hat einmal (1918) festgestellt, daß es primär nicht die Originalitätssucht der einzelnen Denker gewesen sei, die den Fortschritt in der Philosophie

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ausgemacht habe, sondern die Sicherung der Ergebnisse des ursprünglichen Denkens durch die Wahrung seiner Kontinuität infolge schulmäßiger Tradierung von Generation zu Generation, wobei die am besten ausgerüstete Schule den Sieg davongetragen habe bzw. davontragen würde (Nelson, 249, 251). Philosophische oder wissenschaftliche Schulen bilden sich meist im Umkreis von großen Denkern, die aufgrund ihres originären Ranges und ihrer Ausstrahlungskraft damit rechnen können - oder dies auch gezielt steuern - , daß die Erinnerung an ihr Werk nicht verkümmere und für seine Aktualisierung Sorge getragen werde. Die Herausbildung von Schulen hat sich immer dort leichter durchsetzen lassen, wo eine gewisse institutionelle Form für die Vermittlung der Lehren des Meisters gefunden worden ist, die als Voraussetzung für seine langfristige Sicherstellung unerläßlich erschien. Wie im ersten Beitrag schon angedeutet, hat es philosophische Schulen schon im Altertum gegeben; und seit sich die Universitäten seit dem 18. Jahrhundert in Europa neu zu strukturieren begannen, ist die Schulenbildung eher die Regel als die Ausnahme. Was in unserem Zusammenhang aber interessiert, ist, daß die innere Dynamik des Meister-Schüler-Verhältnisses dazu führt, daß die Meister zu Klassiker und die Schüler zu Epigonen oder - wie im Altertum - zu Doxographen werden. Oft ist es die umtriebige Arbeit der Epigonen, denen es die Meister zu verdanken haben, daß ihre Lehren im Strom der Geschichte nicht untergehen, sondern ihre bleibende Bedeutung behalten. Der Klassiker lebt gewissermaßen in den Interpretationen und Kommentaren der Epigonen weiter, wobei nicht selten die Grenzen zu Dogmatismus und Panegyrikertum fließend werden. Auch hier spielen wieder institutionelle Ausprägungen eine nicht zu gering zu schätzende Rolle. Beispiele sind die Rolle der aristotelischen Doxographen wie Theophrast im Altertum, der Thomismus in der katholisch inspirierten politischen Philosophie, der Hegelianismus im frühen 19. Jahrhundert in Berlin, der Marxismus in seinen verschiedensten Spielarten, die „Kritische Theorie", der österreichische Positivismus, die Carl-Schmitt- oder die Voegelin-Schule im Staatsrecht bzw. in der Politikwissenschaft. Auch dort, wo es zu keinen festgefügten und klar zuordbaren Schulbildungen gekommen ist, verfügt das Epigonentum in bezug auf die Sicherung und Weiterentwicklung der Klassikerwerke über eine Bedeutung, die selten genug nicht in den rechten Blick gerät; wir werden dies hinsichtlich des „text/context"-Ansatzes in der Ideengeschichte deutlicher sehen.

VI. Der Umgang mit den Texten 1. Das Ziel ideengeschichtlicher Erkenntnisgewinnung: Fragen des Verstehens von Texten Die Klassiker - oder das, was jeweils dafür gehalten worden ist bzw. gehalten wird treten uns zunächst in ihren Schriften, in Texten also, gegenüber. Wenn wir es überspitzt ausdrücken wollen, dann sind es eigentlich erst die Texte, die den Klassiker zum Klassiker gemacht und das lebhafte Interesse der Nachwelt hervorgerufen haben. Kaum jemand würde sich für Machiavelli interessieren, hätte er nicht den Principe - und das eine oder andere noch - verfaßt; ähnliches läßt sich für Hobbes, Locke, Rousseau und viele andere vor und nach ihnen sagen. Für die Bestimmung als „Klassiker" bleiben die Biographie, die Lebensumstände oder die Wirkungen zunächst nachgeordnet. Ob es die Karfunkel waren, die Marx quälten, und die ihn veranlaßt haben könnten, seine ganze Wut an der bürgerlichen Gesellschaft auszulas-

VI. Der Umgang mit den Texten

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sen, ist für die Probleme, die im Kapital aufgeworfen sind, völlig irrelevant (Hacker, 777). Der Text ist das Prius, den es zu verstehen gilt; auf ihn ist die Aufmerksamkeit zunächst zu richten. Aber wie ist mit Texten umzugehen? Wie soll man sich ihnen gegenüber verhalten? Was ist eigentlich das Erkenntnisziel, wenn wir uns auf Texte einzulassen gedenken? Seit den grundsätzlichen Auseinandersetzungen um den methodologischen Stellenwert der Geisteswissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat es sich eingebürgert, das Verstehen als die den Geisteswissenschaften eigentümliche und angemessenste Grundoperation der Erkenntnisgewinnung in bezug auf ihre Phänomenbereiche, zu denen auch die Textanalyse gehört, anzuerkennen. Der rasante und unaufhaltsam wirkende Aufstieg der Naturwissenschaften hat bei vielen Philosophen und Kulturwissenschaftlern die Furcht ausgelöst, die Geisteswissenschaften könnten im Gegenzug dazu ohne die luzide Ausarbeitung eines spezifischen methodologischen Rahmens, der dem naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal nacheifert, einer sachgemäßen Erschließung ihrer Erkenntnisobjekte nicht mehr gerecht werden und nur noch in die Beliebigkeit subjektiver Meinungsbildung abgleiten. Deswegen haben Autoren wie Wilhelm Dilthey (1833-1911) und Wilhelm Windelband (1848-1915) - besonders der letztere einen strengen Dualismus zwischen dem Erklären als dem naturwissenschaftlichen und dem Verstehen als dem geisteswissenschaftlichen Erkenntnisziel konstruiert. Zitieren wir im folgenden die klassischen Worte Windelbands vom Jahre 1894: „Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische Urteil, das der anderen der singulare assertorische Satz.. So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten G e s t a l t . . . Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften; jene lehren, was immer ist, diese was einmal war. Das wissenschaftliche Denken i s t . . . in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen ideographisch." (zit. Schnädelbach, 77f.). Dilthey hat zwar noch die Möglichkeit offen gelassen, daß die Naturwissenschaften in ihrer Praxis nicht immer nomothetisch und analog dazu die Geisteswissenschaften nicht immer ideographisch vorgehen. Aber die Vorstellung von der Dichotomie von „Erklären" und „Verstehen" und ihrer unterstellten Unvereinbarkeit war nun einmal geboren und sollte die weitere theoretisch-methodische Grundlagendiskussion der Geistes- und Sozialwissenschaften zumindest in Deutschland nachhaltigst bestimmen (Vgl. dazu auch die entsprechenden Passagen in dem Beitrag von Winkler/Falter). Der wissenschaftslogische Ort der scharfen Grenzziehung zwischen „Verstehen" und „Erklären" erscheint mehr als eindeutig. Doch diese Schranke zwischen diesen beiden Operationen der Erkenntnis muß nicht naturgegeben sein. In seinem grundlegenden Werk über Erklären und Verstehen hat ja ein berühmter Vertreter der analytischen Wissenschaftsphilosophie wie Georg H . von Wright die Lücke zwischen den beiden Erkenntnisakten dadurch zu schließen versucht, indem er das „Verstehen" als Vorbedingung für jede „Erklärung" bestimmte (wobei „Verstehen" bezogen bleibt auf die Frage, „von welcher Art" etwas sei, nicht aber, was dieses bedeute, v. Wright, 124). Wir können uns aber auch durchaus vorstellen, ein Phänomen oder eine Beziehung zwischen Phänomenen erst dann zu verstehen, wenn man uns den entsprechenden Sachverhalt aufgrund unterschiedlicher Informationen erklärt hat. Und je mehr Erklärungsschritte - so können wir weiter unterstellen - unternommen

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worden sind, um so wahrscheinlicher erscheint es, daß wir das Phänomen oder den Phänomenzusammenhang verstanden haben. So hat man infolge der Einführung immer weiterer zusätzlicher Hypothesen und Erklärungen Abstand von der Vorstellung nehmen müssen, Auftreten und Ausbreitung des Nationalsozialismus alleine auf den Zerfall des parlamentarischen Systems bzw. auf das Institut des Verhältniswahlrechts zurückzuführen, und hat dadurch ein besseres Verständnis des Zusammenbruchs der Weimarer Republik gewinnen können. Der Umkehrschluß lautet, daß, je weniger Erklärungen gegeben werden, um so geringer die Wahrscheinlichkeit sein wird, ein zureichendes Verständnis von dem interessierenden Sachverhalt zu erhalten. Wir verstehen demnach eine Sache nicht oder nur sehr unvollkommen, wenn ein Mangel an Erklärungen vorherrscht oder wenn sich die Forschung auf Quasierklärungen stützt, deren Begründungskern in den Schriften bestimmter Autoritäten zu suchen ist. Nach dieser Logik wäre die Erklärung gewissermaßen die Voraussetzung oder besser gesagt: die Vorstufe des eigentlichen Verstehensaktes, den man als Summe aller Erklärungen oder aber als eine ganz neue Qualität bezeichnen kann. Dies letztere ist dann der Fall, wenn wir zwar viele Erklärungsversuche zu einem gegebenen Sachverhalt vorliegen haben, aber doch uns außerstande sehen, die Zusammenhänge zu vestehen. So haben Historiker wie Sozialwissenschaftler zwar versucht, mit mancherlei empirisch untermauerten Hypothesen, die durchaus einsichtig sind, das neonazistische Treiben in Deutschland zu erklären. Aber können wir das Fatale dieses Phänomens trotz dieser vielen Erklärungen wirklich verstehen? Es ist offensichtlich, daß sich hier zwischen dem Erklären und dem Verstehen eine Lücke auftut, so daß beide Erkenntnisweisen für sich genommen irgendwie in der Luft hängen und nicht mehr ineinander verfließen können. Daß es sich offenkundig mit dem Verständnis von schriftlichen Überlieferungen, von Texten also, ähnlich verhält, braucht wohl nicht betont zu werden. Dort, wo Texte die Quelle historischer Aussagen darstellen, ergeben sich zwangsläufig dieselben Konsequenzen. Wir sagen ja etwa bei der Lektüre eines klassischen Werkes der politischen Ideengeschichte auch: Erkläre mir diesen Text oder diese Textstelle, so daß ich ihn bzw. sie verstehen kann. Analog zu oben hat die Erklärung die Funktion einer Voraussetzung bzw. einer Vorstufe und das Verstehen die Funktion einer Bewertung des Erklärten. So ähnlich hat Paul Ricaeur, einer der Hauptvertreter des französischen Strukturalismus, versucht, die Disparität zwischen Erklären und Verstehen aufzulösen und eine logische Beziehung zwischen beiden Operationen herzustellen. Bei ihm sind die Erklärungsschritte, durch welche der Text rekonstruiert werden soll, gleichbedeutend mit der Hypothesenbildung; das nachfolgende Verstehen hat dann den Rang der Hypothesenbestätigung. Ricaeur spricht hier aber ausdrücklich von Validierung und nicht von Verifizierung, um den Wahrscheinlichkeitscharakter des Verstandenen klar herauszustreichen und gegen den Exaktheitsanspruch der naturwissenschaftlichen Methodologie abzugrenzen. Gerade in unserem Falle, der Textanalyse, erhebt sich allerdings die Frage, welche Aspekte bei der Erklärung von Texten berücksichtigt werden müssen, um die Wahrscheinlichkeit eines „richtigen" Verstehens so schlüssig wie möglich zu belegen. Da wir statt „erklären" für unsere Zwecke auch „auslegen" sagen können, verweist dies auf den Problemzusammenhang der Interpretation. Bevor wir verstehen wollen, müssen wir erst verstanden haben zu interpretieren.

VI. Der Umgang mit den Texten

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2. Das Mittel des Sinnverständnisses: Fragen der Interpretation Die Auslegung schriftlicher Zeugnisse ist Sache der Hermeneutik. Schon die Herkunft des Wortes aus dem Griechischen belegt dies. Hermeneutik ist nichts anderes als die Kunst des Verkündens, Dolmetschens oder Erklärens einer verschlüsselten Botschaft. Der Ausdruck scheint seinen mythischen Ursprung in dem Götterboten Hermes zu haben, der die Ratschläge der Götter unter die Menschen zu bringen hatte, die sie aber erst entziffern, interpretieren müssen, um den göttlichen Willen zu begreifen und ihr Handeln danach auszurichten. Im christlichen Abendland ist der Hermeneutik eine herausragende Rolle bei der Auslegung der Heiligen Schrift zugewachsen. Es sind also Theologen gewesen, die ihren Wert erfaßt und ihr die Richtung gegeben haben, nämlich - wie es die Kirchenväter getan haben - ihr eine spezifische Funktion bei der Ausarbeitung einer für die christliche Welt dogmatischen und allgemeinverbindlichen Interpretation der biblischen Schriften zuzuweisen. Lebte der christliche Glaube jahrhundertelang durch die Weisungen kirchlicher bzw. theologischer Autoritäten und wurde von daher gesehen eine Weiterentwicklung der hermeneutischen Kunstlehre als nicht mehr zwingend anerkannt und praktisch lahmgelegt, so sollte sie durch die Reformation und die Durchsetzung des Protestantismus eine ungeahnte, gleichwohl fruchtbare Renaissance erleben und in anderem Gewände von nachhaltigster Wirkung sein. Nach Luther sollte von nun an der Autorität der Tradition der Gehorsam verweigert werden und an deren Stelle ein Verständnis der Schrift selbst gesucht werden. Durch den Rückgriff auf den Buchstaben (sola scriptum) und seine rechte Auslegung sollte das Wort Gottes verständlich gemacht werden. „Die Heilige Schrift legt sich selbst aus", heißt es bei Luther. Es geht allererst um Freilegung der verschütteten Ursprünge der biblischen Überlieferung, um das Zurechtrücken von Verzerrungen, die die Dogmatik der Scholastik zu verantworten hat. Parallel dazu hat im Reformationszeitalter eine wieder zum Leben erweckte Platon-Lektüre zu philologischen Anstrengungen geführt, die auf Ausarbeitung einer objektiven Methode der Schriftauslegung abzielten. Diese Neuorientierung ist vor allem Melanchthon zu verdanken, der nun das rechte Studium der Bücher zum vorzüglichen Anwendungsfeld der Hermeneutik gemacht hat. Und in freilich sehr rudimentärer Form klingt bei einem der maßgeblichen protestantischen Bibelexegeten der Epoche, bei Flacius, das an, was viel später als „hermeneutischer Zirkel" in die Begriffssprache der Wissenschaftsmethodologie Einzug halten und diese wesentlich mitbestimmen sollte: nämlich jede Stelle der Heiligen Schrift grundsätzlich aus dem Zusammenhang des Textganzen sowie den darin enthaltenen Parallelstellen zu erklären. Schließlich geht es um Wahrung der dogmatischen Einheit des Kanons, nicht um isolierte Auslegung einzelner Textstellen, die doch nur in pedantischer Disputation endete und den Gesamtzusammenhang aus den Augen verlöre. Eine weitere zentrale Perspektive der Hermeneutik ist durch den Pietismus eröffnet worden, der in seiner Lehre von den Affekten zum ersten Male mit einer Art, wenn auch Fragment gebliebenen, „Psychologisierung" eine Interpretationsfigur ins Spiel zu bringen wußte, die wesentliche Elemente hermeneutischer Lehren des 19. Jahrhunderts und der in diesen eingeschlossenen sog. immanenten Textanalyse antizipiert hat: Das Interesse richtet sich nicht mehr ausschließlich auf die Lektüre des Textes als solchem, sondern ebensosehr auf die Gewinnung eines Verständnisses der mitschwingenden Empfindungen des Autors, von woher sich dessen inspirative Kraft herleitet. Eine weitere wichtige Fragestellung und Akzentsetzung der Hermeneutik finden wir bei Chladenius. Johann Martin Chladenius (1710-1759) weist in seiner Allgemeine(n)

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Geschichtswissenschaft (1752) erstmals das Moment des, wie er sich ausdrückte, „Sehe-Punktes" - des Aspektes, wie wir heute sagen würden - als maßgeblich für ein Verstehen und seine Einordnung von „Geschichten" auf. Die Wahrheit dieser „Geschichten" erschließt sich nun nicht mehr durch eine einzig richtige Vorstellung von ihnen, sondern durch die je und je unterschiedliche Perspektive, die vom Betrachter gewählt worden ist. Erst Schleiermacher kommt das im Blick auf die weitere Entwicklung unschätzbare Verdienst zu, in Absetzung von den reformatorischen Ansätzen die hermeneutische Theorie auf eine völlig neue Stufe gehoben und ihr die entscheidende Wendung gegeben zu haben, die sie zum Orientierungspunkt aller weiteren Diskussionen gemacht hat. Für Schleiermacher kommt der Hermeneutik die Aufgabe zu, substantiell über die engere Lehre von der Auslegung hinauszugreifen. In ihr thematisiert sich die Problematik von Verstehen überhaupt. Oder umgekehrt ausgedrückt: Hermeneutik ist die Kunstlehre von der Vermeidung von Mißverständnissen - Mißverständnissen, die nicht auf einen subjektiven Mangel an Interpretationstalent und -fertigkeit, sondern auf Beschänktheit menschlich-kommunikativer Rede ganz allgemein hinweisen. Aus dieser Tatsache hat Schleiermacher den Schluß gezogen, daß nicht allein das Ausgesprochene und sein objektiver Gehalt, sondern ebensosehr der Sprechende und seine unverwechselbare Individualität Gegenstand hermeneutischer Betrachtung zu sein habe. So tritt neben die traditionelle grammatische gleichberechtigt die psychologische Analyse, neben die Textanalyse die Verfasseranalyse. Auf letztere will Schleiermacher eine seiner Zentralkategorien, die Divination, bezogen wissen, die sich nicht - wie üblich angenommen - mit „Sichhineinversetzen" in die psychologische Grundbefindlichkeit des Autors, in seine biographische Entwicklung wiedergeben läßt, nicht mit „Einfühlen", sondern mit „Ahnen/Erahnen", was etwas ganz anderes meint. Dabei nimmt Schleiermacher die von der reformatorischaufklärerischen Hermeneutik begründete Methode, daß eine Textstelle nur aus dem Werkzusammenhang zu erschließen sei, wieder auf und wendet sie auf das psychologische Verständnis an: Jedes Gedankengut ist immer als Ausdruck der Totalität des Lebenszusammenhangs eines und desselben Menschen begreifbar. Das führt Schleiermacher dazu, das Zirkuläre der hermeneutischen Erfahrung dahin zu fassen, daß das Einzelne nicht nur Abkömmling des Allgemeinen sei, sondern umgekehrt von den Teilen her das Ganze erst verstehbar werde. Insofern ist die Vorläufigkeit allen Verstehens gewissermaßen vorgezeichnet, zumal sich dieser Kreis ständig erweitert und verändert und auch das Verstehen des Einzelnen davon nicht unberührt bleibt. Auch Johann Gustav Droysen (1808-1884), der große Historiker, der die Integrationsleistung der Schleiermacherschen Hermeneutik und den neuen Anforderungen der Geschichtswissenschaft vollbracht und in seiner Historik Ausdruck gegeben hat, ist sich der Eigentümlichkeit der zirkulären Struktur des Verstehensvorgangs bewußt gewesen. Als Ausdrucksverstehen gefaßt, charakterisiert er ihn als das Rückschließen einer Äußerung auf ein Inneres als Ursprung derselben. Wie bei Schleichermacher bleiben hier Ganzes und Teile aufeinander bezogen: „Das einzelne wird verstanden in dem Ganzen, und das Ganze aus dem einzelnen." So kann Droysen sagen, daß Verstehen sowohl auf Induktion wie auf Deduktion beruht. (Historik, § 10, 329). Über Droysen zu den Intentionen Schleiermachers zurückgehend, hat Dilthey den Versuch unternommen, eine Verstehenslehre zu begründen, die wesentliche Elemente von Schleiermachers Charakteristik einer Hermeneutik enthält. So beispielsweise das Theorem vom hermeneutischen Zirkel: Bei Dilthey firmiert er unter dem

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Begriff der Lehre vom „Induktionsschluß von einzelnen Lebensäußerungen auf das Ganze des Lebenszusammenhangs", die aber auch die hier unausgedrückte Rede vom vorgegebenen Ganzen, auf das hin die Teile sich zubewegen, mitführt. (Dilthey, 260). Das zweite ist die Transzendierung des dialektischen Verhältnisses von Text und Textzusammenhang in Richtung auf das Verhältnis von Lebensäußerung und Lebenstotalität. Das führt bei Dilthey zu der Konsequenz, das Verstehen als drittes Organon der Geisteswissenschaft neben dem Erlebnis und dem Ausdruck aufzufassen. Stellen das Erlebnis und sein Ausdruck noch ein singuläres Moment, als „ein Wissen von einem Einmaligen" (Dilthey, 170), dar, so hebt erst das Verstehen diese Beschränktheit auf und gibt den Blick frei auf ein das einzelne umgreifende Gemeinsame und Allgemeine. Verstehen ist dann nichts anderes als ein Versichern von Gemeinsamkeit, welche sich zeitlich-epochal unterschiedlich äußert. Im Hinblick auf die Verstehens- und Auslegungsstruktur der philosophischen Hermeneutik, die unten eine gesonderte Behandlung erfährt, ist diese Charakteristik eine wesentliche Vorwegnahme. Als ein weiterer zentraler Topos in Diltheys Theorie ist die Kategorie des Wirkungszusammenhangs anzusehen: das Ineinanderwirken und „die gegenseitige Abhängigkeit von Interpretation, Kritik, Verbindung der Quellen und von Synthese eines geschichtlichen Zusammenhanges." (Dilthey, 186). Hierbei schreibt Dilthey dem Epochenbegriff eine besondere Rolle zu: In einer bestimmten Epoche haben die einzelnen Personen „den Maßstab ihres Wirkens in einem Gemeinsamen". (Dilthey, 189). Für den Forscher kommt es nunmehr darauf an, gewissermaßen den „Geist des Zeitalters", die maßgeblichen, die Epoche bestimmenden Tendenzen und Kräfte zu identifizieren. In diesem Gemeinsamen und allen seinen Teilen spiegelt sich die Bedeutsamkeit des Zeitalters. Dilthey nimmt ferner einen Gedanken vorweg, der zentral für unsere Erläuterung einer philosophischen Hermeneutik sein wird: nämlich die Stellung des Erkenntnis suchenden Subjekts in bezug auf seinen Gegenstand. Der Historiker in seinem Tun, das seinen Grund ganz im Erlebnis hat, ist wesenhaft mit dem ihn umgebenden Wirkungszusammenhang verschmolzen: „Dies Milieu wirkt auf das Subjekt und empfängt Wirkungen von ihm." (Dilthey, 197). Überspitzt kann Dilthey zu der Formulierung gelangen, daß dies nichts anderes impliziere, als ein „Wiederfinden des Ich im Du" (Dilthey, 235). Über das „Sichhineinversetzen" (in einen Menschen oder in ein Werk) und weiter über das „Nachbilden" bzw. „Nacherleben" des dort aufgefundenen Lebenszusammenhangs stößt Dilthey zum eigentlichen Kern des Verstehens, der Auslegung, vor. Auslegung nennt er das „kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen" (Dilthey, 267). Und da der sprachliche Ausdruck die höchste Form geistigen Lebens ist, sind es die schriftlichen Überreste, in denen sich allererst die Interpretation als Modus der Auslegung vollendet. Dilthey, ganz in der Nachfolge Droysens, fährt fort, daß Auslegung notwendigerweise die kritische Durchdringung der ermittelten Quellen fordert, mit dem Ziel von deren „Reinigung". Gemäß der Defintion des Induktionsprinzips, dem sich Dilthey bekanntlich verpflichtet fühlte, bestimmt sich das Verstehen von in Worten ausgedrückten Lebensäußerungen durch Probieren in aufsteigender Weise: Die Zusammensetzung von Worten ergeben durch Konstruktion ihren Sinn, die aus Sätzen bestehenden Glieder eines Ganzen ergeben dessen Strukturzusammenhang (Dilthey, 272). So ist es nur folgerichtig, wenn Dilthey die Auslegung philosophischer Systeme in der Weise vorzunehmen vorschlägt, entwicklungsgeschichtlich die Bedeutung der einzelnen Schriften im Blick auf das Ganze herauszuarbeiten. Nicht umsonst hat

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Dilthey seinen Ruhm mit biographischen Arbeiten über Hegel und Schleichermacher begründen können. Mit dem Werk Diltheys hat die Ausarbeitung einer methodologischen konkurrenzfähigen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik ihren vorläufigen Höhepunkt und Abschluß gefunden. Zwar hat es im Anschluß daran nicht an Versuchen gemangelt, die mit dem Verstehensproblem aufgeworfenen Fragen weiterzuführen - teils unter dem Eindruck der phänomenologischen Forschungen Husserls - bzw. anders zu begründen. Denken wir an Heinrich Rickerts Versuch, Diltheys Trinität von Erleben, Ausdruck und Verstehen als vorkritisch, metaphysisch zu verwerfen. Doch die zentralen Kategorien, die wir für die folgenden Betrachtungen benötigen, liegen bei Dilthey und der Tradition, die ihn befruchtet hat, bereits ausgebildet vor. Erst mit dem Wirken Martin Heideggers macht sich eine radikale Verschiebung der Fragestellung der Hermeneutik und des Verstehens bemerkbar, die für unsere Zwecke von ausschlaggebender Bedeutung sein wird (s. eingehender u. Kap. VII, 7).

3. Das Material der Interpretation: Editionsfragen 3.1. Zur Situation von „Klassiker"-Ausgaben In seinem Überblick über den Standort der politischen Ideengeschichte hat Klaus von Beyme vor über zwanzig Jahren feststellen müssen, daß es kaum brauchbare Editionen von Klassiker-Schriften gibt. Im Jahre 1984 kam Günther Trautmann nicht umhin zu berichten, daß sich an dieser Situation nichts wesentlich geändert hatte. Auch zu Beginn der 90er Jahre scheint man sich noch in der Gewißheit zu wiegen, ohne besondere Anstrengungen in editionspraktischer Hinsicht ideengeschichtliche oder philosophisch-systematische Forschung und Lehre betreiben zu können. Das trifft auf die Situation in Deutschland und auf die Geschichte des politischen Denkens seit der Neuzeit zu. Darüber hinaus zeigt die deutsche Erfahrung, daß lange Zeit Fachpolitologen im allgemeinen keinen besonderen Ehrgeiz darauf verwendet haben, selbst als Veranstalter von Klassiker-Ausgaben in Erscheinung zu treten - von vereinzelten Auswahlbänden abgesehen. Interessanterweise gilt dies gerade auch für jene Wissenschaftler, deren Hauptinteresse doch die Ideengeschichte bzw. die politische Philosophie ist. In Deutschland ist weder aus der Voegelin-Schule noch aus dem Umkreis von Bergstraesser eine kritische Ausgabe hervorgegangen, die über die Praxis hinausgegangen ist, sich lediglich mit Vor- oder mit Nachworten begnügen zu wollen - von Horst Denzers Pufendorfausgabe der Verfassung des deutschen Reiches (Stuttgart 1976) einmal abgesehen. Iring Fetscher (Comte, Hobbes, Marx/Engels), Walter Euchner (Locke) und Cornelius Mayer-Tasch (Locke) scheinen zu den wenigen zu zählen, die sich dieser Aufgabe gestellt haben. Auch in jüngster Zeit scheint die Enthaltsamkeit der Fachvertreter gegenüber der Herausgabe von Klassiker-Werken recht ausgeprägt zu sein. Wenige Ausnahmen - wie die Edition verschiedener Schriften Rousseaus durch Herbert Meier - belegen dies. Greifen wir im folgenden ein paar Beispiele aus der Editionspraxis heraus, die die Unzulänglichkeiten der Forschung deutlich machen: Thomas von Aquins Schrift Über die Herrschaft der Fürsten liegt immer noch nur in einer älteren Übersetzung vor, zudem ohne jeglichen kritischen Apparat. Noch existiert keine kritische Gesamtausgabe der Werke Machiavellis. Die spanischen Jesuiten bleiben unübersetzt oder liegen - wie im Falle Suarez' - nur in einer älteren Auswahl vor. Jahrzehntelang mußten die Ideenhistoriker, wollten sie sich mit Bodin auseinandersetzen, auf eine

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Ausgabe der Six Livres de la République aus dem Jahre 1583 zurückgreifen. Erst in den 80er Jahren ist eine deutsche Übersetzung entstanden. Eine kritische Ausgabe besitzen wir auch vom Werk des Althusius nicht. Auch hier muß die Forschung auf eine jahrhundertealte Ausgabe seiner Politica methodice digesta zurückgreifen (aus dem Jahre 1614). Von Montesquieus Hauptwerk De l'ésprit des lois (1748) liegt immer noch keine vollständige kritische Ausgabe vor. Edmund Burke hat noch nicht die kritische Werkausgabe, die ihm aufgrund seines Ranges eigentlich zukommen müßte. Seine Betrachtungen über die Französische Revolution (1790) existieren auf Deutsch weiterhin in der berühmten Übertragung von Friedrich Gentz vom Jahre 1793, die selbst wiederum eine Interpretation darstellt. Die Arbeiten von Lorenz von Stein liegen lediglich in Nachdrucken aus dem vorigen Jahrhundert vor. Legionen von Marxismusforschern und Marxisten haben auf den Zeitpunkt warten müssen, bis Mitte der 70er Jahre in Ostberlin eine historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe, die diesen Namen auch verdient, initiiert worden ist, deren Weitererscheinen nach dem Untergang der DDR glücklicherweise gesichert bleibt. Von den politischen Denkern des 20. Jahrhunderts sind bis jetzt allenfalls Max Weber und Arnold Gehlen die Ehre zuteil geworden, in einer historisch-kritischen Edition verewigt zu werden. Die Arbeiten von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno liegen zwar gesammelt vor, können aber nicht als ,kritisch' im editionsphilologischen Sinne bezeichnet werden. Ähnliches gilt für die kursierenden Ausgaben der Schriften Carl Schmitts, die nicht den Erfordernissen einer kritischen Werkedition genügen. Von den zahlreichen Figuren im zweiten oder dritten Glied der Geschichte des politischen Denkens, die dessenungeachtet ihren ideenhistorischen Eigenwert besitzen, gar nicht zu reden. Was die philosophischen Schriften des griechischen und römischen Altertums sowie der mittelalterlichen Welt anbelangt, so haben hier klassische Philologen und Theologen - die letzteren aus sehr durchsichtigen Gründen - eigentlich schon im Renaissance* und Reformationszeitalter, sodann verstärkt und mit vollem Einsatz philologischer Methoden im Sog des Historismus die Grundlagen gelegt. Auch die Schriften der großen Reformatoren wie Luther, Melanchthon oder Calvin sind aus praktischen Gründen in Gesamtausgaben zugänglich. In bezug auf die Neuzeit scheint es insbesondere im angelsächsischen Sprachbereich, vor allem in England, mit Werkausgaben besser bestellt zu sein. Zwar hat die Hobbes-Forschung lange darunter gelitten, daß eine kritische Werkausgabe erst im Entstehen begriffen ist; deshalb muß immer noch die veraltete Molesworth-Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert herhalten. Lediglich dem Leviathan ist ein besseres Schicksal widerfahren. Die zur Zeit noch meistbenutzte Ausgabe der Werke John Lockes stammt aus dem Jahre 1824, wenngleich die von John Yolton veranstaltete, auf 30 Bände berechnete Clarendon édition (1975ff.) inzwischen große Fortschritte gemacht hat (Stand April 1994: 17 Bände, davon acht Bände Briefe). Trotz dieser Widrigkeiten hat es speziell in England genug Anstrengungen gegeben, die wichtigsten Texte der Ideengeschichte in gediegener wissenschaftlicher Ausstattung für Forschung und Lehre bereitzustellen. Der Schwerpunkt liegt auf der englischen Geistesgeschichte. Denken wir an die Leviathan-Ausgabe von Michael Oakeshott (Oxford 1946), die von Peter Laslett herausgegebenen Two Treatises ofGoverment von Locke (Cambridge 1960) oder an die Political Works von James Harrington, die Pocock vorgelegt hat (1977). Denken wir aber auch an ein sehr frühes Werk englischer Editionskunst, an die Political Writings of Jean Jacques Rousseau von Vaughan aus dem Jahre 1915 (s.o.). Aufmerksam gemacht werden darf vor allem auf die für Studenten sehr erschwinglichen Cambridge Texts in the History of Political Thought.

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3.2. Geschichte und Begriff der historisch-kritischen Edition Aus dem Vorstehenden erhellt offenkundig, daß die Forschung auf sog. historischkritische Ausgaben - ob einzelner Schriften oder Gesammelter Werke - angewiesen bleibt, um wissenschaftlich arbeiten bzw. um Irrtümer in der Interpretation ausschließen oder zumindest verringern zu können. Was ist also das „Historisch-Kritische" an einer Edition? Wiederum ist ein kurzer historischer Rückblick recht hilfreich bei der Beantwortung dieser Frage. Man kann davon ausgehen, daß eine „historisch-kritische" Edition dann erst möglich wurde, als eine „historisch-kritische" Methode ausgearbeitet war, mit deren Hilfe die zu edierenden Texte behandelt werden konnten. Zum ersten Male hat davon Pierre Bayle (1647-1706) in seinem Dictionnaire historique et critique von 1697 Gebrauch gemacht. Ganz der cartesianischen Gedankenwelt verhaftet, geht es Bayle um die Aufdeckung von Irrtümern und ihrer künftigen Vermeidung durch Kritik der historischen Fakten; auch die Bibel fällt unter dieses Postulat. Textkritik im heutigen philologischen Sinne ist dies aber noch nicht. Philologisch gesehen ist jedoch bereits dem Mittelalter der Ausdruck critica nicht unbekannt, und zwar im Sinne von iudicare (beurteilen), iudicium (Untersuchung). Dieser Wortgebrauch gerät allerdings in Vergessenheit, um erst im Zeitalter des Humanismus wieder zu neuer Blüte zu gelangen, als nun die ersten Texte der antiken Klassiker bearbeitet werden. Dabei greifen die humanistischen Philologen auf die von den alexandrinischen philologoi der hellenistischen Zeit entwickelten Methoden sprachlicher und sprachhistorischer Textkritik zurück. Diese werden jedoch später im 18. und 19. Jahrhundert erweitert um eine die historischen Voraussetzungen mitbedenkende Analyse. Das Element des,Historischen' ist nun nicht mehr nur Objekt der .Kritik', sondern selbst Organon historisch-kritischer Editionspraxis. Die bahnbrechenden Schrittmacher sind dabei Friedrich A. Wolf (1759-1824) und dessen Schüler August Boeckh (1785-1867). Beide haben die Philologie als historische Wissenschaft verstanden. Insbesondere bei Boeckh kommt es zu der entscheidenden Verbindung seiner historischen Textkritik mit der Theorie der Hermeneutik, wie sie Schleiermacher begründet hat: Wenn Boeckh der Überlieferungskritik die dreifache Aufgabe stellt, erstens herauszufinden, ob die Überlieferung mit der historischen Wahrheit übereinstimmt, zweitens festzustellen, wenn dies nicht der Fall ist, was das Angemessenere sei, und drittens zu prüfen, was das Ursprüngliche sei, dann ergibt sich für ihn die zwingende Schlußfolgerung, daß dies nur im Verein mit der Hermeneutik vollbracht werden könne. Für Boeckh ist Philologie die Quelle des Verstehens. Und erst, als mit der nachkantischen Epoche der Prozeß der Historisierung der Philosophie eingesetzt und damit die Philosophengeschichte als Gegenstandsbereich zunehmende Anerkennung gefunden hat, ist die historisch-kritische Methode in bezug auf die Sicherung der Überlieferung und ihrer Edierung nicht mehr wegzudenken und heute zum Maßstab der Editionsphilologie geworden. Alle Einzel- oder Studienausgaben, die sich aus praktischen Gründen bestimmten Einschränkungen beugen müssen, die aber doch gewissen editionsphilologischen Standards standhalten wollen, geraten unversehens in Beweisnot, wenn die Selektionskriterien dargelegt werden müssen. Denn stets enthält eine Auswahlausgabe einen Mangel in sich, der zudem eigens zu begründen ist. Es liegt in der Immanenz der historischen Denkweise, das Werk eines Autors in seiner Entwicklungsgeschichte dokumentarisch zu belegen und öffentlich zu machen. Zum Werk gehören nicht nur die Drucke, also die vom Autor autorisierten Veröffentlichungen, oder die Nach- und Raubdrucke, sondern auch der handschriftliche Nachlaß, sei es in Form von Briefen, Vorlesungen, Vorlesungsnachschriften, Manu-

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Skripten, fragmentarischen Stücken, Notizen etc. Dies ist der Gesichtspunkt des Textsortenprinzips. Eine historisch-kritische Edition muß neben der Textpräsentation natürlich noch mehr bieten. Zunächst müssen die präsentierten Texte mit einem kritischen Apparat versehen werden, der die Varianten unterschiedlicher Textfassungen enthält. Die Fassung, für die sich letztlich entschieden worden ist, soll orthographisch und hinsichtlich der Interpunktion getreu wiedergegeben werden. Alle weiteren Abweichungen können in den Apparat verbannt werden. Des weiteren muß eine historisch-kritische Edition mit auf Vollständigkeit bedachten erklärenden Anmerkungen zu den Texten aufwarten (z.B. der vom Autor benutzten Literatur, zu Anspielungen). Ein editorischer Bericht soll über die Textkonstitution informieren, ebenso über Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Texte. Das Paradigma einer derart konzipierten historisch-kritischen Werkedition ist die von Dilthey angeregte Kant-Ausgabe, die bekannte Akademieausgabe (der erste Band ist 1902 erschienen, das Projekt ist noch nicht abgeschlossen). Nach den Vorstellungen Diltheys sollte die „ganze geistige Hinterlassenschaft" Kants der Forschung zugänglich gemacht werden (zit. H.-U. Lessing, editio, 1989, 19). Diese Forderung stand ganz im Einklang mit der von Dilthey begründeten, auf den Erkenntnissen des Historismus basierenden hermeneutischen Theorie. Es kommt auch nicht von ungefähr, daß es Dilthey gewesen ist, der zum erstenmal 1889 vehement den Plan verfochten hat, Archive für Literatur zu errichten, dort die Nachlässe zu sammeln und auf ihnen aufbauend die geistige Entwicklung der großen Denker zu studieren. Die Arbeitsweise eines Editors hat beispielgebend im vorigen Jahrhundert Karl Lachmann (1793-1851) charakterisiert, wobei allerdings erste Ausarbeitungen bereits durch den italienischen Humanisten Lorenzo Valla (gest. 1457) erfolgten. Lachmann hat dabei die in der Klassischen Philologie angewandten Methoden auf die Germanistik übertragen, von dort haben sie ihren Weg, freilich zum Teil in stark modifizierter Form, in andere Geisteswissenschaften gefunden. Am Anfang steht die recensio, die kritische Sicherung und Musterung der Textzeugen, die die noch von Schleiermacher applizierte divinatio, die ein subjektives „Erahnen" ausdrückt, ausschaltet. Die recensio dient vor allem der Rekonstruktion des ursprünglichen Textes, unter Aufspürung und Vermeidung der eingetretenen Textverderbnisse. Durch Kollationierung (Vergleichung) unterschiedlicher Textvarianten gelangt der Herausgeber zu einer Fassung, von der er meint, sie käme dem Original am nächsten. Die emendatio stellt sodann den Prozeß der Reinigung und Berichtigung von als fehlerhaft erkannten Textfassungen dar und rundet die Textkritik ab. Diese Verfahren schienen im Bereich der klassischen Philologie sachadäquat, wenn man bedenkt, daß die vorhandenen Überlieferungen aus der Antike, aber zum Teil auch aus dem Mittelalter, keine originalen Handschriften sind, sondern Abschriften, deren Texttreue mit zunehmendem zeitlichen Abstand abnimmt. Doch haben schon im Bereich der Mediävistik die Postulate Lachmanns Kritik hervorgerufen: So nimmt es nicht wunder, wenn ihre Anwendung auf neusprachliche und moderne Texte, besonders und gerade philosophischer Art, so nicht mehr geteilt werden können. Wir werden unten noch darauf zurückkommen.

3.3. Probleme historisch-kritischer Editionsarbeit Sowohl für den Bearbeiter als auch für den Benutzer einer historisch-kritischen Edition sind die damit verbundenen Probleme teils schnell ersichtlich, teils sind sie impliziter Natur, werden also erst durch Reflexion einsehbar. Editionsarbeit ist

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prinzipiell von interpretatorischer Art. Eine welturteilsfreie Textkonstituierung gibt es nicht, und dort, wo sie behauptet worden ist, zeigt sich ein gewisses irrationales Moment am positivistischen Urteilsvermögen. An drei Beispielen soll dies verdeutlicht werden: 3.3.1. Probleme mit der Überlieferungslage Wie schon oben angezeigt, ist diese vor allem hinsichtlich der antiken Autoren äußerst unklar. Alles das, was wir heute an Ausgaben von Piaton oder Aristoteles besitzen, ist nicht original verbürgt, sondern erst aufgrund höchst komplizierter, sich über Jahrhunderte erstreckender Weitergabe- und Kopierprozesse zu uns gekommen. Erst die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert hat hier die Überlieferungssituation gebessert, aber nicht ein für alle Mal gelöst. Das, was wir von den antiken Autoren besitzen, liegt uns lediglich als Abschriften mittelalterlicher oder humanistischer Kopisten vor. Die älteste Ausgabe der Politik des Aristoteles ist, als Beispiel, eine Übersetzung in ein schlechtes Latein durch den flandrischen Dominikaner Wilhelm von Moerbeke aus dem 13. Jahrhundert; das griechische Original ist verlorengegangen. Fünf weitere Kopien auf Griechisch stammen aus dem 15. Jahrhundert. Trotz dieser recht dunklen und ungewissen Textgeschichte geht man davon aus, daß den antiken Schriften, auch wenn sie völlig unautorisiert vorliegen, ein bestimmter Grad von Zuverlässigkeit nicht abgesprochen werden könne. Man weiß jedenfalls, daß die antiken Texte bereits im Altertum in der alexandrinischen Schule, die sich an der Bibliothek von Alexandria im zweiten vorchristlichen Jahrhundert gebildet hat, sachgemäße Bearbeiter von erstaunlich hohem Range gehabt haben, die Kriterien der Textkonstruktion erstellt haben, die Vorbild für alle späteren Herausgeber gewesen sind. Es ist sogar die Behauptung aufgestellt worden, daß, wer die Leistungen der Alexandriner herabsetze, auch die Texte der antiken Autoren, wie wir sie heute kennen, mit äußerster Skepsis betrachten müsse. (Die Textüberlieferung, 223) Zwar fehlt für die Platon-Texte die alexandrinische Bearbeitung. Doch geht der rekonstruierte Archetypus auf ein Schulexemplar der Akademie zurück. Aber erst über eine seit dem 9. Jahrhundert in Byzanz einsetzende rege Kopistentätigkeit und durch weitere Vermittlungsschritte gerät Piaton in das Blickfeld der Humanisten, die den Philosophen geradezu wiedererweckten und philologisch neu bearbeiteten. In Florenz, wo Cosimo Medici 1459 eine platonische Akademie stiftete, entwickelte vor allem Ficino (gest. 1499) eine maßstabsetzende Arbeit in puncto Übersetzung, Kommentierung und Emendation, die bis ins 18. Jahrhundert Wirkung zeigen sollte. Die Ausgabe, auf die immer noch als die maßgebliche vertraut wird, sie würde den „echten" Piaton liefern, stammt von dem französischen Humanisten Guillaume Bud6. Aber tritt uns hier wirklich der „echte" Piaton entgegen? Hier muß auf ein Thema eingegangen werden, das unter den Vertretern der klassischen Philologie und der Philosophie heiß diskutiert wird: nämlich das Thema des exoterischen und des esoterischen Piaton (s. auch u. Kap. VII, 4). Der ,exoterische' Piaton ist repräsentiert in seinen überlieferten Dialogen; sie sind der schriftliche Ausdruck seines philosophischen Denkens. In den fünfziger und sechziger Jahren haben die beiden Tübinger Platon-Forscher Konrad Gaiser und Hans-Joachim Krämer der Schriftlichkeit des platonischen Philosophierens die sich in seinen Vorträgen manifestierende Sprachlichkeit gegenübergestellt und in der esoterischen, ungeschriebenen Lehre Piatons den substantiellen Bestandteil seines Denkens identifiziert, ohne dessen Berücksichtigung sich lediglich ein ,halbierter' Piaton uns bieten

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würde. Doch wird immer wieder betont, daß der substantielle Wert der Dialoge durch die ungeschriebene Lehre nicht geschmälert, geschweige denn ersetzt werde. Unter Esoterik ist dabei nicht eine Geheimlehre gemeint, etwa im Stile der Pythagoreer, sondern eine Lehre, die dem engeren Schülerkreis vorbehalten bleiben sollte. Dieser Kreis hat die ungeschriebene Lehre weitergetragen. Dafür haben Gaiser und Krämer etliche Nachweise geliefert. Aber auch im geschriebenen Werk selbst lassen sich etliche Hinweise auf die ungeschriebene Lehre finden, so auch in der Politeia. Im Mittelpunkt steht die sog. Lehre von den Prinzipien, die den Zahlen und den Seinsarten vorgegeben sind, und die sich in den Dialogen nicht findet. Die „Tübinger Schule" geht davon aus, daß sich diese Lehre nur im mündlichen Gespräch zu dem entwickelt hat, als was sie gedacht worden ist; Piaton habe eine schriftliche Fixierung nicht gebilligt, weil diese nur zu Mißverständnissen führen würde und der innere Gehalt dieser Lehre sich nicht voll würde erschließen lassen. Es liegt also in der Logik der Sache selbst, daß Piaton der mündlichen Überlieferung den Vorzug vor der Schriftlichkeit gegeben hat. Die Ansichten der „Tübinger" hat natürlich die Kritik von Philologen und Philosophen auf sich gezogen. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. An diesem Beispiel sollte lediglich demonstriert werden, welche Schwierigkeiten die Überlieferung antiker Texte aufwerfen.

3.3.2. Probleme mit den Textsorten Auch das Textsortenprinzip wirft einige Schwierigkeiten auf. Die Frage, welche Sorten von Text in eine historisch-kritische Ausgabe aufgenommen werden sollen, damit sie dieser Etikettierung auch entspricht, und welche als entbehrlich gelten können, läßt sich nicht mehr mit rein philologischen oder editionspraktischen Argumenten klären, sondern greift unmittelbar in interpretatorische Belange ein. So gibt es Fälle, wo die Berücksichtigung bzw, Nichtberücksichtigung bestimmter Textsorten in entscheidendem Maße den Gang der Interpretation und damit des Verständnisses von Texten beeinflussen und zu Verwirrungen in der systematischen Einordnung des jeweiligen Denkers führen können. Das berühmteste Beispiel ist vielleicht Hegel. Bekanntlich hat Hegel - von ein paar Rezensionen und längeren Aufsätzen abgesehen und neben der für den Gebrauch der Studenten gedachten Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (erstmalig 1817) - lediglich drei Werke im Druck erscheinen lassen: die Phänomenologie des Geistes (1807), die Wissenschaft der Logik (1812-1816) und die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Alle diese drei Schriften haben auf die Nachwelt und bis heute eine gewaltige Wirkung ausgeübt. Aber dies haben auch die „Vorlesungen" über die Philosophie der Geschichte, die Ästhetik, die Geschichte der Philosophie, die Religionsphilosophie. Diese „Vorlesungen" haben aber nicht - wie etwa im Falle Husserls oder Heideggers - den Denker selbst zum Urheber, sondern sind Nachschriften seiner Schüler, von denen aber die Hegelforschung annimmt, daß in ihnen der geistige Wille des Philosophen zum Ausdruck kommt. Das heißt, es sind „Werke", die von ihrem Schöpfer nicht autorisiert worden sind. Zum Teil sind sie bereits in die erste Gesamtausgabe, die vom „Verein von Freunden des Verewigten" zwischen 1832 und 1845 herausgegeben worden ist und an der sich die im Studienbetrieb häufig benutzte „SuhrkampAusgabe" orientiert hat, aufgenommen worden. Dies trifft insbesondere auf die Rechtsphilosophie zu. An ihr schieden sich über Generationen von Wissenschaftlern hinweg die Geister. Denn wer die gedruckte Ausgabe von 1821 zu Rate zieht, wird zu dem Schluß kommen müssen, hier erscheine ein restaurativer Hegel, der dem

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Obrigkeitsstaat seiner Zeit nicht nur huldigt, sondern ihn auch philosophisch beweist, indem er ihn auf den Begriff bringt. Konsultiert man aber zusätzlich die Vorlesungsnachschriften seiner Hörer, so ersteht vor uns ein ganz anderer, liberalerer Hegel, der durchaus nicht das, was existiert, als wirklich und daher notwendig anzuerkennen bereit ist und der die Legitimität der fürstlichen Gewalt in Zweifel zieht, weil sie nicht mehr zeitgemäß ist. Was stellt nun aber den „authentischen" Hegel dar? Lediglich das gedruckte Werk von 1821 oder auch - oder nur - die Nachschriften? Darf man dann unterscheiden zwischen einem exoterischen Hegel, wie er in der Publikation zum Vorschein kommt, und einem esoterischen Hegel, der in seinem Vortrag in indirekter Überlieferung vieles von dem modifiziert und zurücknimmt, was er schriftlich ausdrücklich autorisiert hat? Heute neigt die Forschung dazu, größeres Gewicht auf die Nachschriften zu legen. Die vom Hegel-Archiv der Universität Bochum betreute, von der DFG unterstützte Ausgabe der Gesammelten Werke (1968ff.) hat diesen Weg eingeschlagen und den Unterschied zwischen Werk und handschriftlichem Nachlaß aufgehoben. Und Ideenhistoriker wie Dieter Henrich oder Karlheinz Ilting haben viel Mühe investiert, um möglichst vieler dieser Nachschriften habhaft zu werden, um aus ihnen ein getreues Hegelbild zu zeichnen. Auch in bezug auf diese Praxis steht Dilthey Pate, wenn dieser an den Hegel-Biographen Haym anknüpfen will, die Hegeische Philosophie entwicklungsgeschichtlich unter Auswertung nachgelassener Manuskripte zu erforschen. (Vlg. dazu auch u. Kap. 7.1)

3.3.3. Zwischen „Autorisierung" und „Authentizität" Bereits am eben dargestellten Beispiel Hegel ist dieses Problem aufgetaucht. Wie hat sich eine sachgemäße Edition dazu zu verhalten? Autorisierung meint, daß ein Werk gleichsam erst mit dem Imprimatur seines Urhebers zum Druck gelangen, d.h. veröffentlicht werden kann. Editionsphilologisch spricht man dann von einer „Ausgabe letzter Hand"; sie stelle eine Art Vermächtnis des Autors dar und gebe seine Intentionen am angemessensten wieder. Diese Annahme wird aber in Theorie und Praxis der Edition literarischer und philosophischer Schriften nicht so ohne weiteres geteilt. Ganz im Sinne des Historismus und der Dilthey-Schule wird auch argumentiert, daß nach dieser Vorgehensweise eher eine ahistorische, die Entwicklungsgeschichte des Werkes nivellierende Sichtweise Platz greifen würde. Daraus ist geschlossen worden, daß nicht die Ausgabe „letzter Hand" die Geschichtlichkeit eines Werkes offenbare, sondern eine Ausgabe „erster Hand". Damit ist nicht unbedingt die Wahl des Erstdrucks als Vorlage favorisiert, sondern die Wahl einer „Fassung früher Hand". Maßgebend ist nicht die Botschaft des Autors, sondern der Text selbst; entsprechende Verfügungen des Autors (oder seiner Erben), nur „gereinigte" Texte der Wissenschaft zu hinterlassen - wie dies etwa im Falle Schopenhauers oder Nietzsches geschehen ist - , kann die Forschung nicht unwidersprochen hinnehmen. Sie muß sowohl Produktions- als auch Rezeptionsgeschichte kritisch wiedergeben und kritisch zu würdigen wissen. Erst dies gibt den Blick frei auf die Authentizität des Autors. „Authentisch" heißt aber auch, sich in der editorischen Behandlung von Orthographie und Interpunktion jeglicher Modernisierung sorgsamst zu enthalten. Ebenso darf kein Text aufgrund bestimmter Regeln normiert werden. Beide Verfahren würden die Historizität des Werkes ad absurdum führen. Im vorliegenden Zusammenhang muß auf eine Theorie eingegangen werden, die besonders im angelsächsischen Sprachgebiet entwickelt und in der editorischen Praxis erfolgreich eingesetzt worden ist, nämlich die copy text theory. Sie wird uns hier auch

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deswegen zu interessieren haben, weil eine der vorbildlichsten Editionen im Bereich der politischen Ideengeschichte, die vielgerühmte Herausgabe von Lockes Two Treatises of Government von Peter Laslett, genau nach diesem Schema konstituiert worden ist. Die „copy text theory" besagt, daß alle überlieferten Texte verderbt, daß diese Verderbnisse zu erkennen und zu berichtigen seien. Im Mittelpunkt des Interesses dieser Art von Textkritik stehen die Entstehungsbedingungen und die Umstände der Drucklegung der überlieferten Texte. Dabei soll den Intentionen des Autors soweit wie möglich entsprochen werden. Praktisch sieht dies so aus, daß diejenige Druckfassung als der „authentische" Text in die Edition aufgenommen wird, von dem man glaubt, er würde dem Willen des Autors am ehesten entsprechen. Die vorliegenden Textvarianten werden dann so behandelt, als ob sie sozusagen Lesarten ein und desselben Textes seien. Daß dabei die vom Historismus aufgestellten Postulate über den Haufen geworfen werden, liegt auf der Hand; das historische Element bleibt auf der Strecke. Die „copy text theory" ist vor allem von W. W. Greg in den vierziger Jahren in England begründet worden. Fortentwickelt hat diese Methode in den fünfziger Jahren der Amerikaner Fredson Bowers, und es ist gerade Bowers gewesen, mit dem Laslett in dieser Zeit in bezug auf die Locke-Ausgabe eng zusammengearbeitet hat. An mehreren Stellen in seiner Einleitung hat Laslett klar herausgestellt, daß es ihm darauf angekommen sei, einen Text zu präsentieren, der die eindeutigen Absichten Lockes zu erkennen geben würde. Den authetischen Locke glaubt Laslett in der dritten Auflage der „Two Treatises" vom Jahre 1698 gefunden zu haben. In seiner Analyse der Druckgeschichte geht Laslett davon aus, daß die erste Auflage von 1690 nicht mehr als eine Flickarbeit dargestellt habe, so daß Locke, der ja als Verfasser anonym bleiben wollte, mit dem Druck äußerst unzufrieden gewesen sei und sicherlich den Druck unterbrochen habe. Auch die zweite Auflage aus dem Jahre 1694, die zwar eine Menge von Änderungen und Zusätze enthalten hat, hat den Intentionen Lockes, die er damit verband, überhaupt nicht entsprochen. Erst die dritte Auflage vier Jahre später habe nach Laslett hier Abhilfe geschaffen und der Nachwelt den „echten" Locke nahegegbracht; sie enthalte nun den „text for posterity" (Laslett, 127), wie ihn Locke sich für die Leser gewünscht habe. Ganz analog den Praktiken der hellenistischen Alexandriner kontaminiert nun Laslett diese Fassung mit den anderen Drucken (1., 2., 4. und 5. englische Auflage, 1. Auflage der „Collected Edition" sowie die erste französische Auflage von 1691) und gewinnt so die Vorstellung von einer angemessenen, den Zielen Lockes entsprechenden Edition. Nach den Gesichtspunkten der in Deutschland vorwaltenden Editionspraxis literarischer und philosophischer Überlieferungen würde die Laslett-Ausgabe nicht den Erfordernissen einer auf Authentizität hin orientierten Werkedition gerecht werden.

VII. Wege des Textverständnisses In seiner methodischen Grundlegung der Historie hat Droysen vier Formen der Interpretation unterschieden: Die pragmatische Interpretation ordnet das Material und unterzieht es einer kritischen Bewertung. Die Interpretation der Bedingungen bezieht sich auf die Bedingungen des Raumes, der Zeit und der Mittel, worunter Droysen auch die moralischen Stimmungen, Vorurteile etc. subsumiert. Die psychologische Interpretation sucht ein Verständnis der Willensakte der historischen Persönlichkeiten zu gewinnen. Und schließlich richtet sich die Interpretation der Ideen

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auf eine Analyse der „sittlichen Mächte", in deren Wirken der einzelne aufgeht, und die die Tendenz der Zeit bestimmen. Stellen wir diese Stufungen des Interpretierens den Ergebnissen der politischen Ideengeschichte gegenüber, so wird im folgenden manches von dem, was bei Droysen methodologisch entwickelt worden ist, wiederkehren, und die Ideenhistoriker hätten hier viele Irrtümer und viel Streit vermeiden können, wenn sie die einzelnen Ansätze nicht antinomisch als „fortschrittlich - nicht fortschrittlich" zensiert, sondern ein Bedingungs- und Ergänzungsfeld verschiedenartigster Gesichtspunkte systematisch ausgearbeitet hätten.

1. Die textimmanente Interpretation Viele Ideenhistoriker nehmen an, Interpreten der Ideengeschichte würden bei ihren Analysen „textimmanent" verfahren, wenn diese den historisch-soziologischen Kontext ausklammerten und sich ausschließlich auf den „Text an sich" beschränkten. Das ist jedoch eine falsche Vermutung. Strenggenommen kennt die politische Ideengeschichte überhaupt nicht die textimmanente Interpretation. Erstens haben selbst Autoren wie Leo Strauss oder Eric Voegelin oder ihre Epigonen, die man in der Regel mit dieser Methode in Verbindung bringt, ihre Forschungen immer im Blick auf die veränderten politisch-kulturellen Entwicklungen betrieben. Daß sie in den philosophischen Anstrengungen der klassischen Politiklehre einen überzeitlich wirkenden Kern glaubten ermittelt zu haben, der als Maßstab späterer neuzeitlicher politischer Modelle und Anschauungen herhalten mußte, ist richtig, sagt aber noch nichts über die methodische Anlage ihrer Interpretationen aus. Zweitens muß wieder in Erinnerung gerufen werden, daß der Begriff der textimmanenten Interpretation (oder der Werkinterpretation) geistesgeschichtlich klar definiert ist. Er ist ein Produkt der Literaturwissenschaft. Im deutschen Sprachgebiet haben vor allem Emil Staiger und Wolfgang Kayser diese Methode nach dem 2. Weltkrieg zum obersten Prinzip der Auslegung literarischer Texte gemacht. In den USA hat die literaturwissenschaftliche Bewegung des New Criticism mit R6n6 Wellek als seinem wichtigsten Vertreter an der Spitze den intrinsic approach, also die Analyse des Werkes selbst, als Leitmotiv literaturwissenschaftlichen Forschens unter Außerachtlassung biographischer, entwicklungsgeschichtlicher und sonstiger sozialer Aspekte herausgestellt. Im Vordergrund der Analyse sollen Stilkriktik und immanente Textdeutung stehen. Der Interpret soll vom Kunstwerk ergriffen werden, dessen Evidenz zu begreifen und zu beschreiben suchen. Stil- und Formanalyse werden zu den entscheidenden Eckpfeilern der Analyse. Staiger und den anderen Vertretern dieser Richtung war es insbesondere darum zu tun, die Beliebigkeit der Deutungen, die durch externe ideologische und politische Zweckmäßigkeitserwägungen fixiert blieben, durch die Hinwendung auf das Werk, auf den Text selbst, zu durchstoßen und auf eine neue und, wie sie meinten, wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Es gibt freilich einen wichtigen politischen Bereich, in welcher der immanenten Interpretationsmethode eine - wenn nicht die - zentrale Funktion zugeschrieben wird: die Auslegung der amerikanischen Bundesverfassung durch den Supreme Court. Wer nachvollziehen kann, welche Rolle die Verfassung nicht nur in der politischen Praxis, sondern auch im politischen Denken Amerikas spielt und daß dasselbe auch für den „Hüter der Verfassung", den Supreme Court, gilt, wird ermessen können, was es heißt, eine Verfassung auszulegen. Es gibt nämlich in der amerikanischen Rechtskultur eine maßgebliche Richtung, deren Verfassungsver-

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ständnis mit dem Begriff original intentionalism umschrieben wird, einer Variante des juristischen Positivismus. Damit soll angezeigt werden, daß dasjenige Verfassungsverständnis angemessen ist, das den Intentionen der Verfassungsväter am ehesten gerecht wird, welche sich im Text der Verfassung selbst ausdrücken. Dazu gehören alle verfügbaren Materialien der Epoche der Verfassungsgebung, nicht nur die Protokolle der Philadelphia Convention, sondern auch die zeitgenössischen Zeitungsartikel und nicht zuletzt die Federalist Papers. Alle späteren zeitbedingten Umdeutungen widersprechen dieser Doktrin zufolge der Ursprünglichkeit des Verfassungstextes. Den Gerichten kann somit auch keine rechtssetzende Funktion zugeschrieben werden. Die Vertreter des „originalism" pochen auf die Positivität des Textes und nur auf diese allein. Es ist die Immanenz des Verfassungstextes, besser gesagt: Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, das jegliche Auslegung leitet. Eine Auslegung am Maßstab des geschichtlichen Wandels ist demzufolge nicht statthaft. Die Verfassung ist ein Text pure, wie er in einer historischen Situation gefaßt worden ist, kein geschichtliches Dokument, das beliebig auslegbar ist. Dieser Aufgabe hat sich nun eine constitutional hermeneutics verschrieben, die auf eine Anpassung der Verfassungsgrundsätze an die geschichtliche Entwicklung hinzielt (s.u. Kap. 7). Im Gegensatz zur amerikanischen Diskussion ist die deutsche Verfassungsinterpretation vielschichtiger und vielseitiger. Heute unterscheidet man im allgemeinen vier Auslegungsweisen: die grammatische, die nach dem Sprachsinn fragt, die logischsystematische, die auf den gedanklichen Zusammenhang des Rechts- bzw. Verfassungssatzes abstellt, die teleologische, die den Zweck bzw. den Grund der einzelnen Norm ermittelt, und die historische, die auf die Entstehungsbedingungen abzielt. Schon im frühen 19. Jahrhundert bei Savigny finden wir diese Unterscheidung auf die gesamte Rechtswissenschaft angewandt. Während noch dieser die sachgemäße Interpretation in der Zusammenführung der vier genannten Modi sieht, wird heute die Ansicht geteilt, daß die Handhabung je eine dieser Auslegungsarten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen werde. Wir sehen dies anhand der Auseinandersetzung zwischen den sogenannten „Subjektivisten" und „Objektivisten". Die „Subjektivisten" (wie Savigny) gehen davon aus, daß Auslegen bedeute, sich in die Motive und Gedanken, kurz: in die Normsituation des Gesetzgebers bzw. Verfassungsgebers „hineinzuversetzen". Nichts anderes hat der Immanentismus der historischen Schule dem Interpreten abgenötigt. Es zählt für den Interpreten allein der „Wille" des pouvoir constituant, den es zu ermitteln gelte. Grundlage der Interpretation ist folglich nicht nur der Text der Verfassung bzw. des Gesetzes, sondern alle erreichbaren Materialien, die die Entstehung der geschaffenen Normen bedingt haben. Ein schlagendes Beispiel für diesen Gesichtspunkt ist die gegenwärtige Asylrechtsdiskussion. Alle diejenigen, die eine Änderung des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG angestrebt haben mit dem Argument, es sei den Absichten der seinerzeitigen Verfassunggeber ferngelegen, mit dieser Norm die Aufnahme zehntausender von Flüchtlingen verfassungsgemäß zu garantieren, weil dies aus den Materialien der verfassunggebenden Gremien nicht hervorgehe, wären demnach „Subjektivisten". Im Gegensatz dazu zielt die Auslegungsmethode der „Objektivisten" (wie Radbruch) auf die Erfassung des Sinnes des Gesetzes bzw. der Verfassungsnorm, der sich von der Intention der ratio legislatoris löst und unabhängig von ihr ein Eigenleben zu entfalten beginnt. Die „Objektivisten" gehen so von der Wandelbarkeit juristischen Verstehens aus, da sich mit der Gesamtkultur auch die Rechtskultur historisch fortbildet. In der Behandlung der philosophischen Hermeneutik wird dieser Gedankengang erneut aufgenommen.

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2. Gattungen und Publikum politischer Ideen Die textimmanente Interpretation kontinentaler wie angelsächsischer Spielart richtet ihre Untersuchungen vorwiegend auf Fragen der Form- und Gattungsgeschichte, der Symbolik und Metaphorik literarischer Werke. In derartigen Fragestellungen liegt allerdings ein Schlüssel für die Anwendung dieser Methode für entsprechende Probleme der Geschichte des politischen Denkens. Schon bei Wolfgang Kayser, einem der prominentesten Vertreter der immanenten Literaturwissenschaft, lassen sich vor allem in bezug auf die Darbietungsform der Epik bestimmte Hinweise entdecken, die auf ein zusammenwirkendes Dreiecksverhältnis von Autor, Werk und Leser (bzw. Publikum) hindeuten (Kayser, 201, 349ff.), ein Gesichtspunkt, der bei ihm in der weiteren Untersuchung allerdings ausgeblendet bleibt. Diese Feststellung betrifft vor allem das Element des Publikums, das hier interessiert. In der Literaturwissenschaft hat erst die Rezeptionsästhetik, fest verknüpft mit dem Namen des Romanisten Hans Robert Jauß, die Frage nach dem Adressaten von Literatur (und von Texten überhaupt) fundamental neu gestellt und daran eine geschichtliche Theorie der Literaturwissenschaft zu entfalten gesucht. Hier wird der Faktor ,Publikum' nicht mehr als Marginalie des literarischen Produktions- und Distributionsprozesses abgetan, sondern vielmehr davon ausgegangen, daß das Publikum so etwas wie einen „aktiven Anteil" am „geschichtlichen Leben" eines Werkes hat (Jauß, 169). Essteilt sich für Jauß die dringliche Aufgabe, den Erwartungshorizont zu rekonstruieren, „vor dem ein Werk in der Vergangenheit geschaffen und aufgenommen wurde" bzw. herauszufinden, „wie der einstige Leser das Werk gesehen und verstanden haben kann." (183). So wie beispielsweise der Prosaist die Erwartungen des „ersten Lesers" zu stillen sucht, indem er sich einer bestimmten Gattung verschrieben hat, so mag es sich auch mit dem politischen Denken verhalten. Kaum ist jedoch bis heute der Forderung Klaus von Beymes entsprochen worden, diesem Problem eigene systematische Untersuchungen zu widmen. Dieser hat vor Jahren die einzelnen literarischen Gattungen des politischen Denkens zu klassifizieren unternommen und dabei fünf Gattungsarten unterschieden: philosophische Grundlegungen, politische Essays, juristische Kompendien, Statusbeschreibungen bzw. Entwicklungsanalysen politischer Gemeinwesen, propagandistische Literatur (v. Beyme 1969,42f.). Kein philosophischer oder politischer Schriftsteller hat nur für die Schublade geschrieben. Immer ist ein Adressat mit im Spiel, auf den hin sich das vom Autor Intendierte, in gewissen Fällen von ihm wörtlich Vorgetragene, meist aber schriftlich Fixierte bezieht. Der Faktor .Publikum' erscheint somit als ein konstitutives Element von Textverstehen. Publikum und Gattung lassen sich nicht voneinander trennen. Die Gattung selbst bleibt wesensmäßig eingebunden in einen soziokulturellen Kontext und von diesem her bestimmt. Die protestantische alt- und neutestamentliche Bibelexegese hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts für diesen Sachverhalt den terminus technicus „Sitz im Leben" geschaffen. Die seinerzeitige Exegetik hatte sich gefragt, woher die Verschiedenheit der Formen literarischer Zeugnisse komme. Die Antwort bestand darin, den Grund in den verschiedenartigen Lebenszusammenhängen zu suchen, in denen Autoren wie Leserschaft sich jeweils befunden haben. Die hierbei vorwaltenden Bedürfnisse, Erfordernisse, Erwartungen und Gegebenheiten spiegeln sich in den Gattungsformen verbalisierter und schriftlicher Manifestationen. Gemäß dieser Theorie ist etwa der „Sitz im Leben" einer Predigt der Gottesdienst; hier gewinnt sie erst ihren eigentli-

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chen Sinn, nicht in ihrer späteren gedruckten Form (Koch 34ff., 112). Wer hier nicht den Unterschied bei der Analyse einer Predigt erkennt und den „Sitz im Leben" mißachtet, wird zu falschen Schlußfolgerungen verleitet. Analog dazu wäre etwa der „Sitz im Leben" einer Vorlesung die Universität; auch hier ist der Unterschied zur späteren Drucklegung zu beachten. Allgemein ist also zu sagen, daß es keine gattungs- wie keine leserneutralen literarischen Werke gibt. Wer gattungs- und formgeschichtlich arbeitet, muß den jeweils andersgelagerten „Sitz im Leben" beachten und gegebenenfalls rekonstruieren. Im Bereich der Geschichte des politischen Denkens hat man für die politische Theorie des europäischen Spätmittelalters den Versuch unternommen, auf dem Hintergrund des Zusammenhanges von Gattung und Publikum zu neuen Einsichten zu gelangen. Exemplifiziert worden ist dies an der politischen Traktatliteratur, die damals weit verbreitet war. Dabei stand weniger die Frage im Zentrum, aus welchem Kontext heraus die Texte erstellt worden sind, sondern auf welchen konkreten Lebenszusammenhang hin sie wirken sollten. Sehr gut läßt sich an den Schriften des Marsilius von Padua (der Defensor Paris) und des Wilhelm von Ockham (der Dialogus) zeigen, für welchen Leserkreis diese bestimmt waren und wer davon einen Nutzen hatte und wer nicht. Vor dem Hintergrund der großen Auseinandersetzung zwischen der päpstlichen Kurie und dem kaiserlichen Hof Ludwigs des Bayern in München gehörten beide dem Beraterstab des Kaisers an und suchten seine Politik gegenüber der Kirche zu rechtfertigen. Aber sie taten es nicht im Interesse einer allgemeinen Öffentlichkeit, sondern lediglich für einen kleinen, klar abgegrenzten Leserkreis: die Theologen und Juristen an den Universitäten, Ordensangehörige, die Kleriker an den Fürstenhöfen und bei der Kurie. Immerhin bedienten sich Marsilius und Ockham (und viele andere auch) des Lateinischen zur Verbreitung ihrer Gedanken, nicht einer Volkssprache. Man wird also deren Vorstellungen erst zureichend bewerten können, wenn man den „Sitz im Leben" ihrer Streitschriften - hier der Hof des Kaisers - in der Analyse nicht vernachlässigt (Miethke, l f f . ) .

3. „Text-context"-Diskussion und Konstellationsanalyse 3.1. Der kontextualistische Ansatz: der „linguistic turn" in der Ideengeschichtsschreibung Von John Plamenatz, einem wichtigen amerikanischen Ideenhistoriker, stammt der Ausspruch, einen Text verstehen heißt, ihn immer wieder und wieder lesen („over and over again", Man and Society, I, p. x). Für einen Forscher auf dem Gebiet der Geschichte des politischen Denkens wie dem Engländer Quentin Skinner erscheint eine solche Einstellung als eine höchste unbefriedigende Vorgehensweise. Skinner ist der herausragende Protagonist einer ideengeschichtlichen Interpretationsschule, die gelegentlich auch als Cambridge historiographism charakterisiert worden ist (Zukkert), und sich im Laufe der 60er Jahre herauszubilden begonnen hat. Es handelt sich hierbei um eine Art „revisionistischer" Richtung innerhalb der Ideengeschichte, der es darum geht, den vorherrschenden orthodoxen „textualism" - oder, um einen anderen Ausdruck Skinners zu verwenden, „scripturalist tendency" - , der grundsätzlich von der,Autonomie' des Textes, der Schrift, ausgeht, in die Schranken zu weisen und ihn als unvollständiges und unvollkommenes Instrument der Klassikeranalyse vorzuführen. Neben Skinner sind vor allem noch John Dunn, W. H . Greenleaf und J. G . Pocock zu nennen. Zwei neuere Arbeiten sind z. B. Bruce Mazlish's The Meaning

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of Karl Marx (1984) und Richard Ashcraft's Revolutionäry Politics & Locke's Two Treatises of Government (1986). Neuerdings wird sogar zwischen dem „hard linguistic contextualism", als dessen paradigmatischer Repräsentant Pocock angesehen wird, und einem „soft linguistic contextualism", für den Skinner stehen soll, unterschieden (Bevir 1992). Skinner ist nicht der einzige dieser Schule, der versucht hat, der „neuen" Richtung eine methodologische Basis zu verschaffen. Da er sich aber am frühesten und auch intensivsten damit befaßt hat, soll im folgenden sein Ansatz erläutert werden. Es war gerade sein Wissen um die politische Philosophie Hobbes' und vor allem um die traditionsreiche Hobbes-Exegetik, die Skinner veranlaßt haben, über Alternativen der Ideenhistoriographie nachzudenken. Skinner hat sich nämlich gefragt, wie es möglich sei, daß es so große Unterschiede in der Interpretation der Schriften Hobbes' geben könne. Wie kann es angehen, daß so maßgebende und z.T. schulbildende Hobbes-Forscher wie Leo Strauss, Howard Warrender, F. C. Hood, C. B. McPherson oder J. W. N. Watkins zu so disparaten Ergebnissen gelangten? Skinner kommt nun zu dem Schluß, daß dieser in der Tat rätselhafte Zustand nicht einfach so zu erklären ist, als ob die Divergenzen in der Interpretation auf „falsches" Lesen der Texte und sich daraus ergebende „falsche" Schlüsse zurückzuführen sei. Er nimmt vielmehr an, daß diese doch so erfahrenen Gelehrten bzw. überhaupt der überwiegende Teil der Ideenhistoriker nicht .historisch' genug denke und vorgehe. Stattdessen sitzt die Ideengeschichte immer noch einigen Mythen auf, die den Blick auf eine realistische Forschung trüben. Dazu gehört einmal die Vorstellung von der Existenz einer philosophia perennis, nach welcher philosophische Probleme von Generation zu Generation weitergereicht und in immer neuen Varianten angegangen werden (s.o.). An welcher Stelle z. B. hat Hobbes Machiavellis Kritik der traditionellen politischen Philosophie geteilt, wie Leo Strauß einfach angenommen hat? Radikal bestreitet Skinner die Ansicht von der vermeintlichen Existenz zeitloser universeller Begriffe und ihrer Bedeutungen, die freizulegen als zentrale Aufgabe der Philosophiegeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert vertreten wird. In dem Aufsuchen eines bestimmten Ideentyps - z . B . der Idee der Repräsentation - durch alle Geschichtsepochen hindurch gelangt die Ideengeschichte dann zu scheinbar evidenten Erklärungen wie der, daß z. B. Machiavelli die Grundlagen für Marx gelegt habe, oder der, daß in Sir Edward Coke der geistesgeschichtliche Gewährsmann für die Ursprünge des „judicial review" gesehen wird (obwohl er von dieser Rechtsfigur noch gar keinen Begriff gehabt haben konnte, wie viele Kommentatoren seiner Entscheidung in Bonham's Case angenommen haben). Ein anderer Mythos, gegen den Skinner zu Felde zieht, besteht in der weitverbreiteten Meinung, alles, was die Klassiker produziert hätten, hätten sie in der Absicht getan, ihren Schriften so etwas wie Kohärenz zu verleihen. So kann Skinner (gegen Warrender) argumentieren, in Hobbes' Werk würde man gewiß eine innere Stringenz im Aufbau und in der Beweisführung vorfinden, wenn man ihn nur ausgiebig hin und her wende bzw. in ihn das hineinlese, was der Interpret zu erwarten gedenke. Ein dritter Mythos schließlich, dem verfallen zu sein Skinner dem ideengeschichtlichen Konventionalismus vorwirft, läßt sich dadurch kennzeichnen, daß - als Folge des Kohärenz-Mythos - das Gesamtwerk eines Denkers von inneren Antinomien gereinigt würde, um so die Geschlossenheit des Werkes aufzuweisen. Marx hat danach seine methodologische Strategie im „Kapital" noch nach Art der Hegeischen Dialektik ausgerichtet (obwohl dies als zweifelhaft erscheint und neuerdings auch bestritten worden ist, so etwa von Fred E. Schräder). Gehört es denn nicht zur .Normalität'

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einer intellektuellen Biographie, Widersprüche und Brüche vorweisen zu können? Es gibt Fälle, wo dies eindeutig nachweisbar ist, so etwa bei Wittgenstein. Es gibt aber auch Fälle genug, wo diese Gegensätzlichkeit von „früh" und „spät" durchaus hervortritt, wo dann aber die Interpreten ersichtlich Mühe haben, diesen Umstand rational zu begründen, weil sie ihn sich nicht vorstellen können. Gegen alle diese Mythologien bringt Skinner nun eine Sichtweise in Stellung, deren erkenntnistheoretische Verortung in der im angelsächsischen Sprachraum entwickelten „Philosophie der normalen Sprache", der philosophy ofordinary language, liegt. Seine maßgebenden Gewährsleute sind Wittgenstein und John L. Austin, sein metatheoretischer Hintergrund die von Wittgenstein stammende Theorie der ,Sprachspiele' sowie - darauf aufbauend - die von Austin konzipierte Theorie der ,Sprechakte'. In dem epigrammatischen Spätwerk der Philosophischen Untersuchungen hat sich Wittgenstein von seiner noch im Tractatus logico-philosophicus von 1921 vertretenen Ansicht distanziert, es existiere so etwas wie eine Idealsprache, durch welche sich die Welt als Tatsache exakt ausdrücken lasse. In den „Untersuchungen" wird das den Naturwissenschaften nachempfundene Exaktheitspostulat preisgegeben, und an dessen Stelle tritt die Vorstellung von der Kontextabhängigkeit der Begriffe und der in sie gelegten Bedeutungen. „Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? - Im Gebrauch lebt es." (Phil. U., 432) In diesem Aphorismus liegt die fundamentale Einsicht Wittgensteins. Diese geht davon aus, daß sich der Sinn einer sprachlichen Äußerung nicht, wie oft unterstellt wird, aus ihrer Bedeutung, sondern aus ihrem Gebrauch erschließe. Werden Äußerungen verschieden gebraucht, so stellen sich auch entsprechend verschiedene Bedeutungen ein. Es gibt also entsprechend verschiedene Bedeutungsverschiebungen. Wenn dies so ist, dann sind auch philosophische Fragen, die auf das , Wesen' (essentia) bestimmter Begriffe hinzielen, im Grunde sinnlos. Nicht nach dem „Was" - was ein Begriff eigentlich bedeute - , sondern nach dem „Wie" - wie er gebraucht werde - , soll gefragt werden. Der jeweilige Gebrauch einer Äußerung hängt nun aber von der jeweiligen Absicht (Intention) des Sprechenden ab. Die Absicht wiederum bleibt gebunden an den Kontext, auf den hin und in dem ein Sprechakt vollzogen wird. Ändern sich die Kontexte, ändern sich analog dazu die Intentionen und entsprechend der Gebrauch von Äußerungen, folglich auch ihre Bedeutung. Austin hat die Wittgensteinschen Implikationen weiter differenziert und den Anfang zu einer Theorie der Sprechakte gelegt. Hier sind es insbesondere die performativen Sätze, worauf sich Austins Interesse richtet. „Performative" Sätze heißen Äußerungen, in welchen nämlich eine Handlung „vollzogen" wird. Äußerungen sind nicht einfach Akte des bloßen Sagens oder rein geistige Ausdrücke, sondern Handlungen. Die gesamte Handlung, etwas zu sagen, nennt er einen lokutionären Akt, sofern die Äußerung Bedeutung hat. Austin - und ihm nachfolgend Skinner interessiert jedoch vor allem die Untersuchung der sog. illokutionären Sprechakte. Lassen sich ,lokutionäre' Sprechakte als eindeutige Äußerungen definieren, die für sich stehen, ist,illokutionären' Sprechakten hingegen eine Zwei- oder Mehrdeutigkeit inhärent, die sich erst dann auflösen lassen, wenn man die Umstände - bzw. den Rahmen von Konventionen und Verhaltensregeln, wie Wittgenstein sagen würde vor Augen hat, in welcher die Äußerung getätigt wird, d.h. auch, insofern sie eine Rolle spielen. Als ,lokutionär' bezeichnet Austin einen Sprechakt, daß man überhaupt etwas sagt; ,illokutionär' wird dann ein Sprechakt genannt, indem man etwas sagt. Als dritter Typus in Austins Theorie erscheint derperlokutionäre Sprechakt, der den erfolgreichen Vollzug eines Sprechaktes, der in der Wirkung der Handlung auf

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einen anderen besteht, bezeichnet. Austin stellt nun fest, daß ein illokutionärer Akt nur dann gelingt, wenn er auf das Gegenüber eine gewisse Wirkung erzielt; diese besteht im allgemeinen darin, daß die Rolle des Sprechaktes und seine Bedeutung verstanden werden, man muß also verstanden werden. Skinner hat nun Austins Theorie auf die Geschichte des politischen Denkens übertragen und so sein linguistisches Interpretationsmodell zu begründen unternommen. Wesentlich ist dabei, daß man die Aussagen der Klassiker der politischen Philosophie dann versteht, wenn man sie als intendierte Äußerungen in bezug auf bestimmte Situationszusammenhänge liest. Austin folgend, unterscheidet Skinner zwischen einer Intention, die einer vollzogenen Handlung vorausgeht( („to do x"), und einer Intention, aus welcher nicht nur die Handlung folgt, sondern aus der sich überdies die Charakterisierung ihres Zweckes bestimmten läßt („in doing x"). Ein Verständnis über eine gegebene Äußerung (in unserem Falle z.B. über bestimmte ,statements' in einem Text) zu gewinnen, heißt, beide Weisen in Betracht zu ziehen: die Bedeutung der Äußerung und der in ihr intendierte illokutionäre Gehalt. Beides kann nicht allein durch das Studium des sozialen Kontextes, dem sie zugehören, ausgeglichen werden. Man kann so Texte bestenfalls erklären, aber nicht verstehen. Zur Illustrierung gibt Skinner das folgende Beispiel: Machiavelli führt im 15. Kapitel seines Fürsten u.a. aus, daß ein Fürst nicht allein nach moralischen Grundsätzen handeln könne, ohne nicht sträflich seine Macht preiszugeben. Skinner stellt nun zwei Alternativen auf, die in bezug auf ein Verständnis der Textstelle Wahrheitsgehalt banspruchen können: Sind derartige Empfehlungen für moralische Traktate jener Zeit typisch und selbstverständlich gewesen und daher häufig vorgebracht worden? Oder entsprach es dem Geist der Zeit, dies füglich zu unterlassen, weil es sich nicht schickte? Im ersteren Falle kann die geäußerte Absicht nur darin bestehen, eine allgemein akzeptierte Haltung lediglich aufzugreifen und zu bestätigen. Im zweiten Falle jedoch liegt die Absicht der Äußerung darin, eine etablierte moralische Ansicht zu verwerfen (diese unterschiedlichen Deutungen lassen sich tatsächlich in der Literatur nachweisen). Nun kann aber offenkundig nur eine dieser Alternativen richtig sein. Darüber hinaus bewirkt die Entscheidung, welche nun die richtige Behauptung sei, ein Verständnis dessen, was Machiavelli zu bezwecken beabsichtigte. Er kann das eine oder das andere gewollt haben. Wie ist aber nun Machiavellis Absicht korrekt zu ermitteln? Nach Skinner geht dies weder über eine Analyse der in der Textstelle gemachten Feststellung selbst und ihrer Bedeutung, noch über ein Studium des sozialen Kontextes. Denn der Kontext ist so strukturiert, daß er beide Möglichkeiten zulassen würde. Daraus folgt für Skinner, daß, um von sich sagen zu können, man habe historische Texte verstanden, es nicht genügt zu begreifen, was gesagt worden ist, oder daß sich die Bedeutung dessen, über das etwas gesagt worden ist, gewandelt hat. Dagegen kommt es darauf an herauszufinden, wie das, was gesagt wurde, gemeint war, und welche Beziehungen es gegeben haben mag zwischen verschiedenartigen Feststellungen innerhalb desselben Kontextes. Es ist unrealistisch und auch bedeutungslos anzunehmen, jemand philosophiere für spätere Konzepte bzw. antizipiere diese. Weder gibt es determinierte Ideen mit überzeitlichem Charakter, zu deren Artikulierung und Klärung die einzelnen Denker nur noch ihren Beitrag leisten. Noch läßt sich von einer Ideengeschichte als solche sprechen; sondern man kann dies lediglich von einer Geschichte „on the various agents" tun, welche eine bestimmte Idee in bezug auf eine konkrete Situation gebrauchen. Es gibt nur eine Geschichte von ,statements'. Das erfordert die Hinwendung zu einem contextual reading, wobei der Text und die dort zum Ausdruck

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gebrachten Vorstellungen in ihrer Gesamtheit als intendierter „act of communication" erscheinen. Dieser „linguistic turn" in der Geschichte des politischen Denkens ist darauf gerichtet, die aktuelle Absicht eines Autors gleichsam zu dekodieren und sichtbar werden zu lassen .Seine Absicht läßt sich nur mit den Fragen, die er stellt, und mit den Antworten, die ergibt, ermitteln, nicht hingegen mit den unsrigen. Es gibt nur individuelle Antworten auf individuelle Fragen. Die Möglichkeit einer Transzendenz leugnet Skinner ganz entschieden. So weist die Skinner'sche Kritik an der traditionellen Textanalyse a-essentialistische und a-normativistische Züge auf: Man tut dem Realismus in der Ideengeschichtsschreibung Gewalt an, dem , Wesen' von etwas - der Politik, des Staates, des Naturzustandes etc. - nachzujagen, um sie dann als allgemeingültige Normen auszugeben; es macht keinen Sinn, von unwandelbaren Normen und essentiae zu sprechen. Man würde freilich Skinner gänzlich mißverstehen, würde angenommen werden, er verstünde unter dem Begriff social context dasselbe, was ein Marxist verstehen würde, nämlich das Vorhandensein einer Art Kausalitätsverhältnis von Basis und Überbau. Der Begriff hat bei ihm eine rein linguistische Dimension erhalten. Sich auf ihn zu beziehen heißt, alle in einer gegebenen Kommunikationsgemeinschaft vorfindbaren konventionellen Bedeutungsweisen von Äußerungen zu berücksichtigen, die jemand für sich in Anspruch nehmen kann, wenn er die Absicht hat zu kommunizieren. Das Studium aller auf den fraglichen „social context" bezogener Tatsachen könne dann als kompensierender Teil des linguistischen Textverständnisses herangezogen werden. Später hat Skinner näher zu erörtern versucht, daß, um ein Verständnis über einen klassischen Text gewinnen zu können, es primär darauf ankommt, das ideologische Umfeld des einzelnen Klassikers zu untersuchen. Insbesondere in seinen Arbeiten über die Foundations of Modern Political Thought (1978) oder in seinen Hobbes- und Machiavelli-Untersuchungen hat Skinner sein Modell am empirischen Material zu erproben gesucht. So spricht er hinsichtlich Machiavellis von dessen geistiger Befruchtung durch die Orti Oricellari-Gruppe in Florenz. Skinners Bedeutung liegt zweifelsohne darin, daß er die Mängel der reinen Text- sowie der ausschließlichen „social-context"-Analyse durch eine Interpretationsweise auszumerzen sucht, die man durchaus als historisch-relativistisch bezeichnen darf. Wenn uns schon weder die zentralen Fragen der Klassiker noch die Antworten, die sie darauf erteilt haben, Ratschläge an die Hand geben können, so liegt doch der Gewinn des Studiums der Ideengeschichte darin, wenigstens zu erkennen, daß es eine Verschiedenheit lebensfähiger moralischer Annahmen und politischer Verpflichtungen gibt. Aus der Vergangenheit Lehren zur Lösung unserer eigenen Probleme ziehen zu wollen heißt, einer Täuschung zu erliegen. Die Ansichten Skinners sind nicht unwidersprochen geblieben. Zum einen ist an ihm kritisiert worden, daß er zwar hohe methodologische Ansprüche stelle, in seinen konkreten Analysen jedoch kaum anders verfahre als viele Ideenhistoriker auch, die im allgemeinen auf methodologische Erörterungen verzichteten, aber doch auch zu wertvollen Ergebnissen gelangten. Desweiteren ist kritisiert worden, daß Skinner allzu vereinfachend eine Identität jener Konzepte, die von einer „philosophia perennis" ausgehen, mit der von ihm stark bezweifelten textual Methode herstellt, die so gar nicht feststellbar ist. Ebenso widerstreitet Skinners Leugnung einer Perennialität der Philosophie seinem eigenen Konzept bzw. seiner Forschungsleistung. Denn die Rationalität von Sprechakten wird unbefragt in der Rückschau als „perennial" genommen. Der Ideenhistoriker ä la Skinner muß in seinen Analysen nachgerade von der ,Idee' eines Sprechaktes ausgehen und erweist dadurch ungewollt dessen trans-

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zendente Rolle. Eine andere Frage, die an Skinner gerichtet worden ist, ist die, ob es überhaupt für den heutigen Forscher möglich sei, sich in die Situation eines Denkers hineinzuversetzen, die uns nur noch durch mehr oder weniger brauchbare und zuverlässige Überlieferungen gewärtig ist. Damit ist ein erkenntnistheoretisches Problem tangiert, das uns weiter unten bei der Behandlung hermeneutischer Fragen noch intensiver beschäftigen wird. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die von Skinner geforderte Erforschung des intellektuellen Klimas des Klassikers ihrerseits wieder sich auf Texte beziehen muß und so das Ausgangsproblem wieder auftaucht: Wie sind die Intentionen der Angehörigen des Umfeldes zu eruieren?

3.2. Die Konstellationsanalyse: Dieter Henrich Nicht unter ausdrücklicher Berufung auf Skinner, aber doch in eine ähnliche Richtung geht der Versuch des Philosophen Dieter Henrich, die denkerischen Leistungen einzelner Persönlichkeiten nicht autonom, sondern als Ergebnis eines vorgängigen kommunikativen Prozesses zu erklären, an dem verschiedene Gruppen von Individuen beteiligt gewesen sind. Henrichs Exerzierfeld ist die nachkantische Philosophie des deutschen Idealismus, die gewöhnlich durch Fichte, Schelling und Hegel bestimmt ist. Ihm geht es vornehmlich um die Skizzierung der Konstellation, in welcher ein Denken sich zu entwickeln vermochte, und nicht allein um die Wahrnehmung philosophischer Probleme', die ihrer Lösung harrten und deren Existenz als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Eine oftmals unterstellte Linearität des philosophischen Erkennens von Kant zu Hegel kann so nicht mehr als Maßstab der Bewertung des deutschen Idealismus geltend gemacht werden. Dabei hat Henrich in seinen Forschungen über diese Periode der Philosophie eine überraschende Entdeckung gemacht: Um die idealistischen Systeme verstehen zu können, muß die Aufmerksamkeit auf die Vermittlungsleistung von Figuren gelenkt werden, die sich im Umkreis der „Großen" befunden haben, die längst in Vergessenheit geraten sind, die aber gleichwohl im Bezugssystem des philosophischen Diskussionsprozesses eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. So geraten die Arbeiten eines Jacobi oder eines Reinhold, die die Kantischen Intentionen fortgeführt und umgebildet haben, in ein anderes Licht. Und wer kennt schon einen Carl Imanuel Diez, wer einen Jacob Zwilling? Aber es sind nicht nur solche relativ unbekannten Figuren, die nun plötzlich als Lieferanten philosophischer Stichworte auftauchen. Es ist vor allem Henrichs Verdienst, daß er zum Beispiel die Rolle Hölderlins für die Entwicklung der Hegeischen Philosophie mittels seiner Konstellationsanalyse - ohne diese zunächst theoretisch begründet zu haben - herausgestellt hat. Es ist die Absicht Henrichs, diesen intellektuellen Gedankenaustausch zu rekonstruieren und von ihm her die Motivierung philosophischen Denkens und seine innere Abrundung in den bekannten idealistischen Systemen zu begreifen. Methodisch muß die konventionelle Werkforschung, die nur den einzelnen Autor in den Blick nimmt, in die Konstellationsforschung, die den komplexen Kommunikationszusammenhang sieht, überführt werden. Die von Henrich propagierte Konstellationsforschung läßt sich dort überall einsetzen, wo raum-zeitlich begrenzte und überschaubare gedankliche Austauschbeziehungen zwischen verschiedenen Intellektuellen stattgefunden haben: im klassischen Athen, im Byzanz der Spätantike, im Florenz der Renaissance, im Pariser Emigrantenmilieu der Restaurationsära, im Wiener fin de siècle. Die tieferen Schichten von

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Max Webers wissenschaftlichem und politischem Denken nach Maßgabe des Konstellationsansatzes im Lichte des „Heidelberger Geistes" vor dem 1. Weltkrieg freizulegen, wäre zweifelsohne ein lohnendes forschungspraktisches Unterfangen.

4. Das Problem von „esoterischer" und „exoterischer" Lehre: Die Kunst, „zwischen den Zeilen zu lesen" In bezug auf Piaton hat Heidegger davon gesprochen, die Lehre eines Denkers sei das „in seinem Sagen Ungesagte, dem der Mensch ausgesetzt wird, auf daß er dafür sich verschwende."(Piatons Lehre von der Wahrheit, 5). Nur wenn wir uns auf das je und je „Gesagte", also offenkundig auf schriftlich Bezeugtes, einlassen, vermögen wir das je und je „Ungesagte" eines Denkers zu erfassen. Darin ermißt sich die „Wahrheit" seines Werkes. Ist dies als Anweisung an den Interpreten zu verstehen, bei der Analyse von Texten das zu tun, was man umgangssprachlich mit „zwischen den Zeilen lesen" bezeichnet? Auf Heidegger trifft dies wohl nicht zu. Denn Heidegger zielt mit seiner Fundamentalontologie eher auf die Hebung des „Unverborgenen" ab, wenn er vom „Ungesagten" handelt, kaum auf eine Dichotomisierung der platonischen Lehren. Nicht umsonst wird hier Piaton erwähnt. Wir haben ja oben schon davon erfahren, daß es Anzeichen genug gibt, innerhalb der „classics" eine „öffentliche" (iexoterische) von einer „geheimen" (esoterischen) Lehre zu unterscheiden. Bekanntlich ist der philologische Aufwand immens, aus den exoterischen Teilen des Werkes die esoterischen Partien freizulegen. Damit ist aber noch nicht die entscheidende Frage gestellt, geschweige denn beantwortet, warum Piaton Veranlaßung haben konnte, gewisse Teile seiner Lehre der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Lassen wir einmal dahingestellt, ob Heidegger davon eine Vorstellung besessen hat. Auf jeden Fall eröffnet sich mit seiner Rede vom „Ungesagten im Gesagten" eine Dimension, die im Bereich der Ideengeschichtsschreibung von nicht zu unterschätzender Bedeutung bei der Auslegung von Texten ist. Im 20. Jahrhundert hat wohl zuerst Leo Strauss auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht und ihn intensiver diskutiert. Aber schon Lessing hat Ende des 18. Jahrhunderts in bezug auf die antiken Philosophen zwischen einer exoterischen und einer esoterischen Lehre unterschieden. Die Frage behandelte er in drei kleineren Schriften: Leibniz von den ewigen Strafen, Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (beide 1773) sowie Ernst und Falk (1777/1780). Leo Strauss hat in seiner Argumentation - niedergelegt in einem unveröffentlichten Essay aus dem Jahre 1939 und erst seit ein paar Jahren zugänglich an Lessings Einsichten angeknüpft bzw. diese auf Lessing selbst bezogen: daß intelligente Menschen gezwungen sind, die Wahrheit in verschleierter Form aufzuschreiben; Lessing schrieb zwischen den Zeilen über die Kunst, zwischen den Zeilen schreiben zu können. So interpretiert Strauss Lessings Verteidigung von Leibniz' Motiv, an den orthodoxen Wahrheiten von der ewigen Verdammnis bzw. von der Trinität festzuhalten, als Ausfluß dessen, was die antiken Philosophen vollbracht haben: als exoterische Redeweise. Trifft ein Philosoph eine ,exoterische' Feststellung, so bezieht sich diese nicht auf eine Gegebenheit, sondern auf eine bloße Möglichkeit; das heißt, der Philosoph glaubt strenggenommen nicht an das, was er schriftlich zum Ausdruck gebracht hat. Es ist freilich speziell die Beschäftigung mit der jüdischen (und auch mit der arabischen) Philosophie des Mittelalters, insbesondere der des Moses Maimonides (1138-1204), gewesen, die Strauss veranlaßt hat, seine Ansichten über exoteric teaching schärfer zu fassen. Ergebnis ist ein 1941 veröffentlichter Essay mit dem Titel

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Persecution and the Art of Writing. Seine Botschaft läßt sich ungefähr wie folgt wiedergeben: In Phasen gefährlicher persönlicher Bedrohung oder gewalttätiger Verfolgung durch die herrschenden Autoritäten haben sich die Intellektuellen soweit sie in einem dissidenten Verhältnis zur Obrigkeit gestanden haben - gezwungen gesehen, zu besonderen sprachlichen Techniken der Mitteilung philosophischer Wahrheiten zu greifen. Sie waren so befähigt, die Wahrheit über die wesentlichen Dinge „zwischen den Zeilen" zum Ausdruck zu bringen. Freilich ist es nur einer exklusiven intelligenten Minorität vergönnt, die ,wahren', verborgenen Intentionen des einzelnen Autors zu erkennen, zu verstehen, worauf es diesem angekommen ist, und seinen Text dementsprechend auszulegen. Die .eigentliche' Meinung des Autors ist folglich keineswegs notwendigerweise identisch mit dem, was explizit sich in seinem Werk niedergeschlagen hat. Mögliche Widersprüchlichkeiten oder Ungereimtheiten in der Argumentationsführung können so nicht mehr ausschließlich auf Unzulänglichkeiten des Autors zurückgeführt werden, sondern gründen in dem gesellschaftlich-politischen Zwang, sich unscharf und zweideutig artikulieren zu müssen. Strauss hat am Beispiel des Maimonides zu zeigen versucht, wie dieser in seinem für einen kleinen Adressatenkreis bestimmten Führer für die Unschlüssigen dieses Problem zu lösen unternommen hat. Maimonides hat sich in dem Bemühen, die Starrheit des streng jüdischen Gesetzesdenkens (in der Thora) philosophisch (und das hieß damals: aristotelisch) aufzubrechen und auf eine Erneuerung des jüdischen Denkens hinzuarbeiten, der Technik des bewußt kontradiktorischen Redens bedient, um prohibitiven Maßnahmen zu entgehen. Er führt damit die breite Öffentlichkeit bewußt hinters Licht, aber die .Wissenden' werden nicht im Unklaren gelassen, worauf der Philosoph abzielt. Strauss sieht nun die Aufgabe des Interpreten nicht darin, die vorgefundenen Widersprüche zu erklären, sondern einfach herauszufinden, von welcher der beiden Feststellungen Maimonides überzeugt war, daß sie der Wahrheit entsprach, und welche er lediglich als Mittel benutzt hat, ebendiese Wahrheit zu verbergen. Um die Wahrheit in den Widersprüchen zu entdecken, bedarf es freilich gewisser Fingerzeige im Text selbst, wie Strauss bemerkt, die selbst wieder erkannt werden müssen. An diesem Punkt läßt sich eine der Schwierigkeiten bei dieser Interpretationsweise festmachen. Kann man sich dann einfach mit der Feststellung zufrieden geben, verständigen Menschen sei die wahre Absicht des betreffenden Autors unmittelbar einleuchtend, wenn man nur „zwischen den Zeilen" zu lesen vermag? Aber wie ist „zwischen den Zeilen" zu lesen? Das ist die entscheidende Frage, die sich hier stellt. Diese Alternative, in der exoterischen Redeweise eine tiefverborgene esoterische Intention, die ,Eigentlichkeit' des Textes, aufzuspüren und decodieren zu können, wird interessanterweise meist bei der Interpretation von Werken konservativer' Richtung gewählt, sei es aus Gründen, konservativen' Autoren in Zeiten politischer Unterdrückung Verständnis entgegenzubringen, sei es aus Gründen, konservative' Autoren zu demaskieren und ihre .wahren' Absichten bloßzulegen. Im folgenden erörtern wir für jeden der beiden Fälle ein Beispiel: Betrachten wir zunächst einen Autor, dessen ideologische Affinität zum Dritten Reich offenkundig ist, Hans Freyer. Freyer war als Soziologe an der Universität Leipzig einer der prominentesten Radikalkonservativen und „Völkischen" während der Weimarer Republik, der das Aufkommen des Nationalsozialismus und dessen Machtübernahme begrüßt hat. Der Amerikaner Jerry Z. Muller hat nun unter Zuhilfenahme der von Strauss entwickelten Kategorien der „art of writing" zu

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demonstrieren gesucht, wie Freyer „neu" zu lesen sei, wenn man sich dazu bereit erklärt, bei Freyer „zwischen den Zeilen zu lesen", um unschwer festzustellen, wie er von einem relativ frühen Zeitpunkt an von der nationalsozialistischen Idee enttäuscht war und sich vom System abzuwenden begann. Als Interpret darf man nur nicht „textpositivistisch" vorgehen und das Gedruckte für die Wahrheit des Autors halten; sondern man muß sich angewöhnen, eine subtile Form des Lesens zu entwickeln, um die Dynamik des Freyerschen Denkprozesses im Dritten Reich einigermaßen ermessen zu können. Insoweit relativiert sich das Bild vom Opportunisten Freyer, der nach dem sog. „Röhmputsch" 1934 seine Enttäuschung über die Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschlands nicht mehr verbergen konnte, der aber auch keinen offenen Widerstand leistete. Muller kommt nun zu dem Schluß, daß man die enttäuschten Konservativen - Freyer ist ja nur ein schlagendes Beispiel, auch Carl Schmitt kann hier genannt werden, auf den diese Feststellung zutrifft - ,besser' zu verstehen vermag, wenn man die literarischen Produktionsbedingungen in einer Diktatur in Rechnung stellt. Anders als in offenen Gesellschaften, in denen die Möglichkeit besteht, das öffentlich zu machen, was man auch wirklich denkt, müssen die Intellektuellen in .geschlossenen' Systemen, um sich verständlich zu machen, literarische Formen finden, die ihnen dazu verhelfen können, der staatlichen Zensur eine Schnippchen zu schlagen. Muller verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten der Skinner-Schule, indem er dem Interpreten die Aufgabe stellt, sich von der Analyse des Textes an sich und seiner Statik zu lösen und vielmehr stärker auf den gesellschaftlich-politischen Kontext, in welchem der betreffende Autor denkt und produziert, abzuheben. Erst wenn man diese Seite berücksichtigt, so Muller, verbietet es sich wohl von selbst, beispielsweise Freyers „Machiavelli"-Buch vom Jahre 1937 als typisch „faschistisch" zu charakterisieren; man wird der Wahrheit gerechter, wenn man es als Ausdruck einer persönlichen Enttäuschung nimmt. Beruft sich Muller (und mit ihm manch anderer Relativist konservativen Denkens) im Grunde auf die Prämissen der kontext-orientierten Ideengeschichtsschreibung, so hat umgekehrt Skinner erhebliche Bedenken gegenüber dem Strauss'schen Ansatz geltend gemacht. Nach Skinner bleibt die Theorie Strauss' unweigerlich an zwei Annahmen gebunden. Die erste undiskutierte Voraussetzung ist, daß originell im Denken zu sein notwendigerweise auch heißt, subversiv zu sein. Und zum zweiten setzt Strauss voraus, daß gedankenlose Leute gleichzeitig sorglose Leser sind. Weiter wendet Skinner kritisch ein, daß Strauss kein plausibles Kriterium dafür angibt, wann der Interpret im Text aufhören soll, „zwischen den Zeilen zu lesen". Ferner bleibt die Frage im Räume stehen, wie ein historischer Zeitraum als Epoche der Verfolgung und Meinungsunterdrückung zu definieren sei, damit wir einen konkreten Anhaltspunkt bekommen, wann wir subtil zu lesen haben. Über die Einwände Skinners hinausgreifend, besteht das Problem, warum der Korpus der Ideengeschichte Denker genug aufzuweisen hat, die trotz Verfolgung und Unterdrückung sich nicht gescheut haben, das unter die Leute zu bringen, was sie wesentlich bewegte und was sie ausdrücken wollten. Hobbes und Locke haben ihre Heimat - wenn auch nur zeitweise - verlassen müssen und haben doch in ihren Schriften ziemlich unverblümt ihre Ansichten vertreten. Montesquieu war vor den Nachstellungen der staatlichen Autoritäten nicht gefeit und hat es trotzdem als kein zwingendes Bedürfnis angesehen, „zwischen den Zeilen" schreiben zu müssen. Oder denken wir an den chronisch vagabundierenden Dissidenten Rousseau: Niemand muß „zwischen den Zeilen" lesen, um zu verstehen, was dieser mit seinen Abhandlungen bezweckt hat. Erinnert sei an einen Philosophen wie Jakob Böhme, der vom Bannstrahl der kirchlichen Obrigkeit erfaßt wurde, sich

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bei den inquisitorischen Verhören opportunistisch verhielt, in seinen Schriften indes keine Abstriche von seinen Überzeugungen machte. Alles in allem scheint es der Standort des Betrachters, seine Affinität bzw. seine Distanz gegenüber den Grundeinsichten des einzelnen Denkers zu sein, um diesen als einen schäbigen Opportunisten oder als einen raffinierten Verschleierer seiner,wahren' Intention zu charakterisieren. Das Problem von exoterischer und esoterischer Lehre kann sich auch stellen, wenn ein Text .politisch' ausgelegt wird, ohne daß in ihm expressis verbis von Politik die Rede ist. Das exoterische Element ist dann das, was man als die „Positivität" des Textes bezeichnen kann, also das, was in diesem explizit verhandelt wird. Wenn Heidegger in seiner Fundamentalontologie die Frage nach dem Sinn von Sein stellt, wird hier eben Ontologie getrieben und nicht über Politik nachgedacht. Wie kann es nun aber geschehen, gerade an Heideggers Philosophie zu demonstrieren, daß sie ein großartiger Versuch darstellt, eine zutiefst politische Botschaft in bewußt verstellter Sprache zu verkünden? Dies ist nämlich die These des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, die er in seinem Essay über Die politische Ontologie Martin Heideggers aufstellt und zu begründen sucht. Für Bourdieu ist die Philosophie Heideggers insgesamt eine zwar subtile, aber doch unzweideutige politische Manifestation der sog. konservativen Revolution', wie diese intellektuelle Bewegung der Gegner der Weimarer Republik im allgemeinen bezeichnet wird. Wie ist eine solche Einschätzung aber bei einem Werk wie Sein und Zeit nachzuweisen, in welchem doch so scheinbar rätselvolle Termini wie das „Unhafte der Umwelt", die „Zuhandenheit", das „Man", die „Geworfenheit", das „Gerede", die „Sorge als Sein des Daseins" und andere mehr vorkommen, die selbst die Fachphilosophen in Verwirrung gestürzt haben und die allesamt nicht der politischen Sprache angehören? Niemand würde etwas dagegen einzuwenden haben, dies zu bestätigen. Bourdieu sieht dies jedoch anders. Er fordert die Aufgabe der Trennung von .philosophischer' und politischer' Lektüre; vielmehr stellt er die Doppeldeutigkeit des Heideggerschen Werkes heraus. Heideggers Grundanliegen ist primär politisch, es äußert sich freilich aber spezifisch philosophisch. Der Philosoph ist zutiefst geprägt durch den völkischen Zeitgeist, aber es entspricht seiner Rolle als Philosoph und seiner Zugehörigkeit zum philosophischen „Produktionsfeld", seine politisch-ethischen Prinzipien in sublimierter Form offenzulegen. Bourdieu ist von Skinners Kontexttheorie gar nicht weit entfernt, wenn er sich der Aufgabe der „Rekonstruktion der Struktur des philosophischen Produktionsfeldes" (14) annimmt. Und er scheint einer materialistischen Interpretationsweise nachzueifern, wenn er von der Untersuchung dieses „Produktionsfeldes" über die Stellung der Professoren in der deutschen Gesellschaft bis zur „Rekonstruktion der gesamten Gesellschaftsstruktur Deutschlands während der Weimarer Republik" aufsteigend ein Verständnis über Intentionen und Bedingungen von Heideggers Denken gewinnen will. Bourdieu spricht der Autonomie philosophischen Produzierens jegliche Relevanz ab. Alles vollziehe sich bei Heidegger in philosophischer Verwandlung. Spricht dieser vom „Eigentlichen" und „Uneigentlichen", dann ist diese Antinomie zu lesen als Gegensatz von „Elite" und „Masse". Die Heideggersche „Sorge" ist dann der philosophische Ausdruck für die wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik. Bei Heidegger heißt es in Sein und Zeit, daß die Sterblichen „das Wohnen erst lernen müssen". Bourdieu übersetzt diese Äußerung in bezug auf die vorherrschende Wohnungsnot. Brechen wir hier mit den Beispielen ab. Zentraler ist die Erörterung folgender Fragen: Wie zeigen sich die gemachten Beobachtungen Bourdieus am Textmaterial?

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Wo liegen die Anhaltspunkte im Text, von denen her sich die verborgene Lehre Heideggers erschließen läßt? Hier wird der Soziologe Bourdieu merklich unkonkret. „Verstehen" erscheint dann bei ihm recht vage im Sinne von Verständnis von bloßen Andeutungen, „zwischen den Zeilen" lesen zu können, Nachvollzug der Assoziationen des Verfassers und Wiedererkennen dessen, was der Text,eigentlich' sagen will. Die Schwierigkeiten einer derartigen Textanalyse dürften wohl hinlänglich hervorgetreten sein. 5. Die soziologisch-historische Analyse 5.1. Der Stellenwert der sozialgeschichtlichen Perspektive In der deutschen ideengeschichtlichen Literatur der vergangenen zwanzig Jahre ist oftmals der Eindruck zu erwecken versucht worden, als stelle der sozialhistorische Ansatz etwas .Modernes' und 'Neuartiges' im Verstehen klassischer Texte dar, ein Erzeugnis umwälzender Neuerungen in der Behandlung politischer und sozialer Ideen. Dieser Eindruck täuscht jedoch ganz gewaltig. Descartes hat erstaunlicherweise eingeräumt, daß es zwar so gut wie keinen Unterschied zwischen dem Denken eines Deutschen oder dem eines Franzosen gibt, wohl aber einen zwischen einem abendländischen Denker und einem Chinesen oder Kannibalen, und daß es oftmals die Gewohnheit sei, die unser Urteil bestimme. Allerdings relativiert Descartes diese Vermutung sofort wieder, wenn er feststellt, daß sich Wahrheit ganz gewiß nicht durch Vielstimmigkeit erzielen läßt, sondern ihre Quelle allein im rechten Gebrauch der Vernunft, fern nationaler und kultureller Besonderheiten hat. Diese Auffassung hält sich praktisch bis in das Zeitalter Hegels durch, als die Geschichtlichkeit des Denkens philosophisch virulent wird. In Hegels Geschichte der Philosophie erscheinen die einzelnen Denker sozusagen als „Geschäftsträger" des absoluten Wissens, unabhängig ihrer Herkunft und ihres sozialen Kontextes. Der Befund zeigt indes weiter, daß doch dann später im 19. Jahrhundert einigen Autoren der engeren politischen Ideengeschichtsscheibung die unmittelbare Verbindung von politischen Ideen und politischem Leben geläufig gewesen ist. In Deutschland ist es vor allem Robert von Mohl gewesen, der in seiner Geschichte der Literatur der Staatswissenschaften der Frage der sozialen Bedingungen für die Entstehung politischer Ideen nachgegangen ist. Eine Theorie über die Beschaffenheit des Staates ist nicht apriori deduzierbar: Der Engländer geht „direkt auf die näher liegenden und für das Leben unmittelbar wichtigen Fragen" zu (S. 24); der Franzose neigt zur geistreichen Auffassung von Tatsachen; der Deutsche wiederum will zu tieferer philosophischer Erforschung vorstoßen. Und was hätte nicht das spanische staatswissenschaftliche Denken erreichen können, wäre es nicht der weltlichen Erstickung durch Philipp II. und der geistigen durch Torquemada zum Opfer gefallen! Wird nun dieser gesellschaftliche Aspekt in Deutschland in der relevanten Literatur jahrzehntelang nicht mehr aufgenommen, so sind es vor allem die Angelsachsen, die sich dieses Zusammenhanges bewußt werden. Dies beginnt bei Blakey in der Mitte des vorigen Jahrhunderts und führt zu John Neville Figgis, der 1896 in seiner berühmten Studie über The Divine Right of Kings davon ausgegangen war, daß politische Theorien nicht unabhängig von den politischen Voraussetzungen studiert werden können, daß es allein der Druck der Verhältnisse sei, auf Grund welcher eine Lehre entwickelt werde (p. 4). Vergessen wir nicht eine Autorität wie Sir Lewis Namier (1888-1960), der in seinen Studien zur Geschichte des englischen Parlamenta-

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rismus im 18. Jahrhundert gegenüber dem Einfluß von Ideen äußerste Skepsis walten ließ, ihnen bestenfalls den Wert von Rationalisierungen gegebener gesellschaftlicher und politischer Strukturen hat zubilligen wollen. Vergessen wir auch nicht einen Autor wie R. H. Tawney, der in seinem klassischen Werk über Religion and the Rise of Capitalism vom Jahre 1926 zu dem Ergebnis gelangt ist, daß sich aus dem sozialen Kontext des Puritanismus der „Geist" des Kapitalismus und der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung erklären läßt. Denken wir, um ein prominentes Beispiel aus der Zeit nach 1945 anzuführen, an Barrington Moore's bedeutende Studie über Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, in welchem er das Aufkommen reaktionärer sozialer Vorstellungen von dem Vorhandensein einer grundbesitzenden Oberklasse abhängig macht. Sogar ein Naturrechtsdenker wie Leo Strauss hat eine sociology ofphilosophy zu begründen angeregt, um die Philosophen als eine besondere Klasse zu bestimmen und so ihre existentielle Eigentümlichkeit als intellektuelle Minderheit in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu unterstreichen. Wir sollten auf jeden Fall von der Vorstellung Abschied nehmen, daß die Ideenhistoriker so einfältig gewesen seien, die politischen Gegebenheiten als die eine, die politischen Ideen aber als eine ganz andere Sache zu betrachten. An dieser Tatsache ändert auch die jeweils vertretene politische Auffassung nichts: Wir sollten uns davor hüten, alle diejenigen, die die gesellschaftliche Bedingtheit politischen Denkens und Räsonnierens erkannt zu haben glaubten, als .fortschrittlich', alle anderen freilich, die von einem Eigenleben der Ideen überzeugt waren, als .konservativ' zu charakterisieren. Ein immer weiter nach rechts tendierender Ideenhistoriker wie Bernard Willms, der entschieden die sozialgeschichtliche Stellung des politischen Denkens in seinen Studien berücksichtigt hat, erscheint hierfür als ein gutes Beispiel. Die Frage ist also nicht, ob es einen Zusammenhang von politischer Realität und politischen Ideen gibt; sondern die Frage ist, ob das politische Denken von den realen Verhältnissen determiniert wird - und wenn ja: in welchem Maße - , oder ob lediglich eine lose Beziehung, die durchaus auch wechselseitig bestimmt sein kann, zwischen beiden Sphären besteht.

5.2. Der biographische Gesichtspunkt Wenn man sich einen Überblick über die verschiedenartigsten Gattungen der ideengeschichtlichen Literatur verschaffen will - Einführungen, Textsammlungen mit Erläuterungen, Monographien etc. - , dann stößt man in der Regel meist auf dasselbe Gliederungsprinzip: Leben, politische Zeitumstände, Werk und gelegentlich noch Wirkung eines Denkers, wobei die beiden ersten Gesichtspunkte auch oft vertauscht sind (wie etwa in Röhrichs Sozialgeschichte politischer Ideen). Fest steht, daß die Ideenhistoriker dem Element des Biographischen hinsichtlich der Interpretation einzelner Ideen im allgemeinen einen gewissen Stellenwert zuzubilligen bereit sind, der über das rein Informative hinausgeht. Oft handelt es sich jedoch um Vorspiegelungen von Ansprüchen, die nicht erfüllt werden können. Denn in der Regel vermißt der aufmerksame Leser das Bindeglied zwischen den biographischen Daten und dem sozialgeschichtlich-politischen Hintergrund wie auch den werkimmanenten Interpretationen. Kaum ein ernsthafter Ideenhistoriker wird wohl der spöttischen Selbsteinschätzung des Thomas Hobbes folgen können, der von sich behauptet hatte, die Nachricht vom Angriff der spanischen Armada 1588 auf England habe dazu geführt, daß seine Mutter am 5. April desselben Jahres eigentlich Zwillinge zur Welt gebracht habe, nicht nur ihn, sondern auch die Furcht, die in seiner politischen Philosophie eine

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so zentrale Rolle spielen sollte und manches erklären könne. Schwerlich wird man auch der These folgen können, die antisemitischen Ausfälle Marx' und einige theoretische Konsequenzen daraus seien auf die Konversion seines Vaters vom Judentum zum Protestantismus zurückzuführen. Läßt sich die Wendung Lenins zum Marxismus dahin interpretieren, daß diese es ihm erlaubt hat, sich mit seinem Bruder Sascha und mit seinem Vater zu identifizieren, wie Victor Wolfenstein 1967 in seiner Studie über The Revolutionary personality erklärt hat? (S. 117) Oder, um ein letztes Beispiel zu nennen: Ist die mentale Krise, die John Stuart Mill im Alter von zwanzig Jahren erfaßte und die ihn vier Jahre heimsuchen sollte, dafür verantwortlich zu machen, daß er sich von den kaltherzigen utilitaristischen Vorstellungen lossagte, den bislang unerkannten sympathetischen Aspekten des menschlichen Lebens, die die Erziehung seines Vaters James Mill ihm vorenthalten hatte, sich öffnete und aufgrund dieser persönlichen Katastrophe der Blick frei wurde für die Entwicklung seiner liberalistischen Lehre? Ein Blick auf die Herkunftsdisziplinen zeigt, daß das Arbeiten mit biographischen Mitteln in der Ideengeschichte sehr unterschiedlich gehandhabt wird. In der Politikwissenschaft, in der das Studium von Institutionen und Gruppen im Zentrum des Interesses steht, sind biographische Gesichtspunkte kaum berücksichtigt worden. Oder besser gesagt: Von ihnen ist nur insoweit Kenntnis genommen worden, soweit das politische Denken unmittelbare politische Wirkung gezeigt hat. Dies geschah weniger bei Denkern und Theoretikern, als bei Politikern, denen es gegeben war, auch originell politisch zu denken. Ansonsten war eine spezifisch personenbezogene Politikanalyse innerhalb der Politikwissenschaft nicht üblich. Und nur dort, wo auf die traditionelle narrative Biographie zugunsten der Anwendung dezidierter theoretischer Konzepte verzichtet worden ist, konnte sich die einzelne Arbeit im Kontext des „mainstream" der Disziplin behaupten. Zu denken ist dabei vor allem an Lewis Edingers Biographie über Kurt Schumacher. Die Soziologie teilt in noch höherem Maße das Schicksal der Politikwissenschaft. Die Soziologiegeschichte kennt zwar die von dem Amerikaner Thomas und dem Polen Znaniecki zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelte „biographische Methode"; gleichwohl ist diese nicht für die Analyse einzelner Persönlichkeiten bestimmt, sondern für soziale Gruppen. Allerdings verrät das jüngste Interesse für disziplingeschichtliche Forschungen in beiden Fächern einen gewissen Trend, biographische Aspekte stärker zu berücksichtigen (man vergleiche etwa die Emigrationsforschung). Die „klassische" biographische Methode ist Sache der Geschichtswissenschaft, wohlgemerkt: einer Geschichtswissenschaft, wie sie der Historismus verstand. Diese von ihm inaugurierte Form der Biographie versteht sich mindestens seit Droysen als ein Akt des „Sich-hinein-Versetzens" des Historikers in die Seele seines Helden, um so einen Zugang zu dessen Empfindungsweise und Gedankenkreis zu gewinnen. Es ist jedoch auch hier zu beobachten, daß die Wechselbeziehung zwischen Person und Werk zwar meist angedeutet, aber selten belegt wird. Entweder überwiegt das biographische Moment oder das philosophische. Klaus von Beyme hat richtig bemerkt, daß die historische Biographie dann ihren Sinn hat, wenn mit ihrer Hilfe Denker analysiert werden, die unmittelbaren politischen Einfluß anstrebten, ihn gefunden haben oder aber gescheitert sind. Wir brauchen nur an die großen Theoretiker und Propagandisten der modernen Ideologien zu denken, die auch reichlich biographisch untersucht worden sind. Aber blicken wir auch auf die Antike zurück und behalten einen Theoretiker wie Cicero im Auge, dessen staatsphilosophische Schriften unzweideutig durch den Bürgerkrieg motiviert waren. Und selbstverständ-

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lieh war und ist der Einsatz der biographischen Methode in diesem Sinne dann von Nutzen, wenn dem Handeln derjenigen, die den Gang der politischen Entwicklung wesentlich bestimmt haben, ihr Denken gegenübergestellt wird und man daran geht, Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen beiden festzustellen. In diesen Zusammenhang sollte auch die Prosopographie einbezogen werden, eine Methode, die insbesondere in den Altertumswissenschaften, zum Teil auch in der Mediävistik angewandt wird und nichts anderes meint als die Erfassung möglichst aller ermittelbaren Personen einer bestimmten Gruppe einer bestimmten Zeit und innerhalb eines gegebenen Raumes. In der sog. historischen Sozialforschung werden prosopographische Fragestellungen seit den 70er Jahren im Rahmen einer kollektiven Biographie aufgenommen, wie sie insbesondere durch den englischen Historiker Lawrence Stone methodologisch fundiert und in seinen Arbeiten über die englische Aristokratie des 16. und 17. Jahrhunderts praktiziert worden ist. Stone versteht unter „kollektiver Biographie" die Untersuchung von allgemeinen Merkmalen einer Gruppe handelnder Personen durch das zusammenfassende Studium ihres Lebenslaufes. Diese Methode läßt sich durchaus auch für die Ideengeschichte fruchtbar machen. Sammelt man z.B. alle erreichbaren biographischen Daten von Angehörigen einer bestimmten Gruppe von Intellektuellen und setzt diese in Beziehung zu ihren gemeinsamen Zielen, Überzeugungen, so lassen sich durchaus plausible Schlußfolgerungen über Entstehung, Entwicklung und den gruppendynamischen Meinungsbildungsprozeß ziehen. In gewisser Hinsicht verfährt ja die „social-context"-Schule nach dieser Verfahrensweise. Ebenso muß die von Henrich entwickelte Konstellationsanalyse in diese Reihe gestellt werden. Bleibt zum Schluß die Psychoanalyse. Die Psychobiographie als eine ihrer Verzweigungen untersucht das politische Verhalten und Denken einer Persönlichkeit aufgrund ihrer Persönlichkeitsbildung. Sie kann im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zweifelsohne auf eine ertragreiche Tradition zurückblicken und auf Gipfelleistungen wie Erik Eriksons Studie über den jungen Luther (Young Man Luther, 1958, dt. 1975) verweisen. Wenigstens vier Einwände lassen sich gegen den psychobiographischen Ansatz vorbringen: Erstens erscheint es mehr als zweifelhaft, eine historische Persönlichkeit gleichsam a posteriori zu analysieren; es steht ja naturgemäß nicht mehr in der Macht des Psychobiographen, den Analysanden selbst zum Sprechen zu bringen, wie es die psychoanalytische Theorie vorschreibt. Zweitens besteht die Gefahr des psychologistischen Reduktionismus: Komplexe Zusammenhänge werden aus einigen wenigen, meist eher beiläufigen Ereignissen der Kindheit oder der Phase der Adoleszenz hergeleitet. Drittens neigt die Psychobiographie dazu, ihre „Objekte" primär als pathologische Fälle zu behandeln, so daß der Faktor „Normalität" ausgeblendet bleibt und sekundär wird. Und als vierter Kritikpunkt wäre der latente Determinismus zu nennen, der vielen psychoanalytisch motivierten Biographen zugrundeliegt. Dabei wird kaum die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß ein Subjekt, sobald es sich zu sich selbst zu verhalten versteht, in gewisser Weise ein Eigenleben abseits seiner frühkindlichen Erlebnisse und Traumata führen kann. Es bleibt nicht mit jeder Äußerung und jeder Handlung an sein frühkindliches Stadium unvermittelt rückgekoppelt. Insofern leuchtet es nicht ein, wenn z.B. Mazlish in seiner Studie über die beiden Mills immer wieder beteuert, daß das Anwendungspotential der Freudschen Kategorien im Vergleich zu anderen Ansätzen keineswegs überbewertet worden sei.

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Immerhin spielt bei ihm die Figur des Ödipuskomplexes eine tragende Rolle, wenn er die Funktion des Vater-Sohn-Verhältnisses in der englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts analysiert. 5.3. Der Aspekt der gesellschaftlichen Determiniertheit von Ideen Im Jahre 1962 veröffentlichte der kanadische Politologe C. B. MacPherson seine Studie über The Political Theory of Possessive Individualism. Sie enthält Untersuchungen über die politischen Vorstellungen Hobbes', der Levellers, Harringtons und Lockes. Das Grundmotiv des Buches ist es, die in vielerlei Hinsicht vernachlässigte soziale Abhängigkeit und Bedeutung politischer und moralischer Urteile in ihrem vollen Gewicht zu berücksichtigen und die Aufmerksamkeit der Interpreten darauf zu lenken. Nehmen wir als Beispiel MacPhersons Deutung der Intentionen des Thomas Hobbes: Hobbes ist keineswegs von einem abstrakten Menschenbild, wie es die klassische, vor-neuzeitliche Naturrechtslehre nahegelegt hätte, ausgegangen, als er die Prämissen seiner politischen Philosophie zu entwickeln begann, sondern er hatte bereits eine klare Vorstellung von dem in konkreten gesellschaftlichen Beziehungen stehenden Menschen, worauf er seine weiteren Theorien aufbaute. McPherson suchte nachzuweisen, daß es das Modell der englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts war, das Hobbes allen seinen folgenden Deduzierungen zugrundelegte. Die Art und Weise nun, wie MacPherson einen berühmten Klassiker des politischen Denkens ausgelegt hat, hat auch bald innerhalb der deutschen Politikwissenschaft eine sozialgeschichtlich orientierte Interpretationsrichtung angeregt. Diese entwickelte sich nach 1960 zunächst recht zaghaft, um in den 70er Jahren verstärkt an Einfluß zu gewinnen und an Bedeutung zuzunehmen. Wenn dieser Abschnitt mit der Leistung MacPhersons einsetzt, soll damit freilich nicht suggeriert werden, daß die Rezeption seiner zitierten Schrift diese Tendenz initiiert hätte. Aber es ist sicherlich nicht verkehrt zu behaupten, daß MacPherson nicht wenigen deutschen Ideenhistorikern als Wegweiser diente und daß ferner nicht wenige von ihm ganz gut gelebt haben. So sind z.B. große Teile der deutschen Hobbes- und Locke-Interpretation ohne die Vorarbeiten MacPhersons einfach nicht denkbar. Einer der ersten, der die Ideengeschichte mit der Sozialgeschichte zu verbinden unternahm und der in dieser Hinsicht innovativ wirkte, war Iring Fetscher. Aus seiner „Schule" ist insbesondere Walter Euchner zu nennen, der sich als Locke-Interpret hervorgetan hat. Ein Autor wie Bernard Willms hat in seinem Überblick über Die politischen Ideen von Hobbes bis Ho Tschi Minh (1971) im Zusammenhang mit seiner Locke-Interpretation wie selbstverständlich erklärt, daß eine Interpretation die jeweiligen geistes- wie sozialgeschichtlichen Umstände zu berücksichtigen habe, „wenn sie mehr sein will, als eine bloß funktionelle, immanente und unrealistische." (S. 211). Als weitere wichtige deutsche Autoren, die sich dezidiert auf sozialgeschichtliche Prämissen stützen, wären hier zu nennen: Kurt Lenk mit seinen ideologiehistorischen Studien, Richard Saage, der sich mit der niederländischen und englischen politischen Theorie des 16./ 17. Jahrhunderts, aber auch mit den konservativen Doktrinen des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, Zwi Batscha, dem wir eindringliche Studien über die politische Philosophie des deutschen Frühliberalismus verdanken, Herfried Münkler, der die abgebrochene Machiavelli-Rezeption in Deutschland wiederaufgenommen hat, und manch andere mehr. In einer tour d'horizon durch das Teilgebiet „Theoriegeschichte" hat Udo Bermbach die deutschen Ideenhistoriker aufgefordert, der Einbeziehung des sozialgeschichtlichen Kontextes verstärkt Rechnung zu tragen.

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Es ist also auf diesem Gebiet viel in Bewegung geraten, und doch bleibt ein erklecklicher Rest von Zwiespältigkeit, ja, Unzufriedenheit zurück, wobei man fairerweise einräumen muß, daß sich hierin ein allgemeines Charakteristikum der Geschichtsschreibung des politischen Denkens offenbart. Trotz hervorragender Ergebnisse, die die sozialgeschichtlich orientierten Ideenhistoriker produziert haben, glaubten sie sich der Verpflichtung entziehen zu können, den Lesern ihrer Werke eine methodische Anleitung an die Hand zu geben, damit diese daraus etwas lernen konnten. In so gut wie keinem Werk von Rang findet sich ein ausführlicheres Kapitel, das verdeutlicht hätte, nach welchen Kriterien eine sozialgeschichtliche Untersuchung durchzuführen sei. In der ideengeschichtlichen Literatur tritt hier das große Schweigen ein. Die Autoren belassen es in aller Regel bei Andeutungen oder bei mehr oder weniger belanglosen Bemerkungen, die so gut wie nichts zur Erhellung des gewiß sehr schwierigen Problemkomplexes beitragen und viele Studenten ratlos zurücklassen. Es werden Ansprüche bekundet, Ziele angepeilt, aber keine Methodologie der Forschungspraxis geliefert. Ich behaupte damit nicht, daß es eine oder auch nur einige wenige verbindliche Regeln gibt, an die man sich halten kann. Es macht jedoch keiner irgendwelche Anstalten, die sozialgeschichtliche Vorgehensweise reflektierend zu veranschaulichen. Wenn aber schon die entscheidende Frage nicht gestellt wird, ob eine derartige Forderung und ihre Einlösung überhaupt Sinn macht, wie kann dann jemand erwarten, daß auch nur der vage Ansatz einer plausiblen Antwort erkennbar werden kann? Wie also wird nun ,sozialgeschichtlich' interpretiert? Worin soll das ,Sozialgeschichtliche' einer solcherart motivierten Analyse bestehen? Die Arbeitshypothese der Exponenten dieser Richtung besteht darin, daß man die Vorstellungen eines Denkers, die Ideologie einer Gruppe von Intellektuellen oder einer Bewegung nur aus dem Zusammenhang gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller und politischer Strukturen verständlich machen kann. Das Ensemble dieser Beziehungen gibt den Blick frei auf Anlaß, Motivierung und Argumentationsweise unterschiedlicher denkerischer Anstrengungen. Andererseits wird zugestanden, daß das politische Denken selbst wiederum auf die je und je verschiedene soziale Umwelt in unterschiedlichem Ausmaße zurückwirkt, das heißt, im allgemeinen wird eine Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Denken konstruiert, nachdem man begriffen hat, daß es sinnlos sei, der Frage nachzugehen, was zuerst ,da' gewesen sei, die gesellschaftliche Struktur oder das Denken über sie. Freilich gibt es unterschiedliche Handhabungen dieses Ansatzes. Konzentrieren wir uns im folgenden auf drei typische Formen. Die erste Form ist in der Darstellung relativ einfach und wird auch am häufigsten verwendet: die Kontrastierung der politischen Ideen mit der historischen Situation, auf die sie sich beziehen. Der einzelne erscheint dann sowohl als Produkt als auch als bestimmender Repräsentant einer gesellschaftlichen Schicht oder Klasse in einer bestimmten Epoche. Die Ideen widerspiegeln im Grunde die vorgegebene soziale und politische Realität, sie können nur voll verstanden werden, wenn sie als intellektuelle Antwort auf gesellschaftliche Probleme und Widersprüche der Zeit gesehen werden. In der Forschungs- und Darstellungspraxis brauchen die Ideenhistoriker nur alle möglichen relevanten Daten zur sozialen und politischen Geschichte einer bestimmten geschichtlichen Epoche zusammenzutragen, um so die Bedingungen und den Hintergrund des politischen Denkens eines Hobbes, eines Locke usw. zu dokumentieren und weiterhin dieses Denken selbst in seiner Motivierung, seiner Anlage und seinem Gehalt zu verdeutlichen. Nach diesem Schema ist etwa Röhrichs Sozialgeschichte politischer Ideen

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aufgebaut. Durchgehend werden zuerst die Zeitumstände, sodann die Denker, danach die sozialökonomischen Verhältnisse und schließlich die Aussagen des einzelnen Theoretikers vorgestellt. Hobbes und Locke legitimieren so die englische Klassen- und Konkurrenzgesellschaft des 17. Jahrhunderts; Rousseau ist der philosophische Repräsentant des vorrevolutionären Frankreichs, John Stuart Mill erscheint als theoretischer Propagandist der Integration der Arbeiterklasse in die englische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Ein weiteres Beispiel ist Richard Ashcrafts bedeutende Monographie über Revolutionary Politics and Locke's Two Treatises of Government (1986), wo Lockes wirkmächtige Abhandlung als Manifest einer radikalen politischen Bewegung, die sich in den 1680er Jahren um den 1. Earl of Shaftesbury gruppiert hatte, gesehen wird. Die Verzeichnung der historischen Entwicklung und der zentralen politischen Ereignisse bestimmen in der Darstellung Ashcrafts die Rolle von Lockes „Two Treatises". Für Ashcraft ist es eindeutig die Form der Organisiertheit sowie ihr Innenleben, in welchen Ideen und praktische Forderungen ihren Ausdruck finden. Wer wie eben beschrieben verfährt, steckt freilich in einer Zwangslage, die den meisten leider jedoch kaum bewußt wird. Das zentrale Postulat dieser Ideenhistoriker, das Werk eines Denkers aus seiner Zeit heraus verstehen zu wollen, läuft im Grunde auf dasselbe hinaus, was diese Richtung der traditionellen phänomenologischen Interpretationsweise zum Vorwurf macht, nämlich sich in einen Zustand des „Sichhineinversenkens" in einen einzelnen Text oder ein einzelnes Werk versetzen zu lassen. Der einzige Unterschied besteht darin, daß es nun nicht mehr der Text, sondern der Kontext ist, auf den sich die Aufmerksamkeit des Interpreten richtet. Genau an dieser Stelle beginnt aber die Sache schwierig zu werden. Denn erscheint es nicht zwingend, daß das Verstehen der Ereignisse und Entwicklung einer geschichtlichen Epoche das Verstehen von Texten voraussetzt? Alles das, was der politische, der Sozial- oder Wirtschaftshistoriker zusammengetragen hat, hat seine textlichen Ursprünge. Um also einen philosophischen Text im Sinne der sozialgeschichtlichen Ideeninterpretation verstehen zu können, muß ich wiederum auf einen Text zurückgreifen, und um diesen Text zu verstehen, bedarf es eines weiteren und so fort. Letztendlich stoßen wir auf einen infiniten Regreß, der fast schon agnostische Wirkung zeigen kann. Wir werden weiter unten sehen, wie die philosophische Hermeneutik versucht, dieser offenkundigen Aporie zu entgehen. Vielen sozialgeschichtlich orientierten Studien zur Ideengeschichte wohnt zweitens ein verborgener Normativismus inne. Die Interpreten neigen gewöhnlich dazu, mit ihren Arbeiten ein emanzipatorisches Interesse zu verbinden. Die Modellanalysen, die Euchner vor fast 25 Jahren in einem Aufsatz geliefert hat, gehen genau in diese Richtung, indem er die untersuchten Denkinhalte unter demokratietheoretischem Aspekt behandelt hat. Was erbringt eine Analyse vergangener theoretischer Einsichten für die Gegenwartsproblematik, die unter dem Zeichen von Zugewinn an Emanzipation steht? war seine Ausgangsfrage. Auch in dem zitierten Buch von Röhrich verhält es sich nicht anders, wo das Phänomen der Emanzipation eine zentrale Stellung einnimmt und wo die behandelten Werke daraufhin befragt werden, in welcher Weise dieses Problem wahrgenommen bzw. theoretisch zu lösen versucht worden ist. Die normativistische Perspektive deutet also notwendigerweise auf eine Aktualisierung historischer Texte hin: Die Probleme der Vergangenheit werden mit den Augen der Gegenwart wahrgenommen und diskutiert. Da dieser Sachverhalt aber mit den Intentionen der philosophischen Hermeneutik unmittelbar zusammenhängt, wird er am geeigneten Ort kritisch gewürdigt werden.

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Die dritte typische Form sozialgeschichtlicher Interpretation von historischen Texten betrifft die Verwendung von Begriffen und Modellen. Was das Arbeiten mit Modellen angeht, dann muß wieder auf MacPhersons zitierte Studie Bezug genommen werden. Aus der Tatsache nämlich, daß Hobbes selbst von Modellen ausgegangen ist und ein vom Naturzustand unterschiedenes gesellschaftliches Modell seinen Analysen vorausgesetzt hat, rechtfertigt MacPherson für sein Vorhaben die Nützlichkeit einer derartigen Verfahrensweise. Drei Modelle scheinen ihm dabei auszureichen: die traditionsgebundene oder ständische Gesellschaft, die einfache Marktgesellschaft und die Eigentumsmarktgesellschaft. Erst letztere weist alle die Merkmale auf, die für die englische Gesellschaft zu den Zeiten Hobbes (und auch der anderen behandelten Theoretiker) typisch sind, z.B.: autoritative Interpretation und Durchsetzung von Verträgen, Streben nach individueller Nutzenmaximierung, Arbeitskraft als Eigentum des Individuums, einige streben nach mehr Vermögen und Macht, als sie haben, einige haben mehr Besitz oder Talent als andere. Im Lichte dieser (und einiger anderer) Prämissen interpretiert MacPherson die einschlägigen Texte. Der Autor hat kaum sozial- oder wirtschaftsgeschichtliche Literatur eingearbeitet. Und nicht einmal die Autoren, von denen er seine Modelle bezogen hat - Marx, Weber und Sombart werden kritisch diskutiert. Für Röhrich charakteristisch ist die Anwendung der Marxschen Kategorien auf die Geschichte des politischen Denkens als Widerspiegelung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Einsicht in die Zusammenhänge und Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Ordnung, wie sie von Marx und Engels gewonnen worden sind, nimmt Röhrich als so stichhaltig an, daß es nach Meinung des Autors angebracht erscheint, die Begriffe auch auf die Untersuchung vergangener Epochen zu beziehen - zumindest auf jene, in denen das bürgerlich-kapitalistische Element vollständig entfaltet ist und seinem inneren Wesen nach zur Geltung kommt. Röhrich ist von dieser Vorgehensweise so fasziniert, daß er offenbar ganz und gar die tautologische Begründung übersieht, die ihm unterlaufen ist. Daß Marx und Engels eine umfassende Theorie der kapitalistischen Gesellschaftsordnung haben entwickeln können, hänge damit zusammen, daß diese sich erst habe voll entwickeln müssen, um als Gegenstand theoretischer Analyse erfaßt werden zu können - eine These, die von den Klassikern des Marasmus adaptiert worden ist. Das Grundproblem dieses Ansatzes ist jedoch ein anderes; es begleitet die Geschichtsschreibung praktisch seit über hundert Jahren, seit der Zeit, als - zunächst recht zaghaft - einige wenige wagemutige Historiker sich daran gemacht haben, mit theoretischen Konstrukten aus verschiedenen sozialen Wissenschaften den historischen Prozeß zu enthüllen und auf der Grundlage relativ gesicherter Erkenntnisse zu deuten. Die entscheidende Frage war dann die, ob es statthaft sei, Begriffe oder Kategorien der Gegenwart einfach auf die Prozesse mehr oder weniger weit zurückliegender Epochen anzuwenden. Kann man z. B. - wie es einmal Isaiah Berlin in seiner Kritik an MacPhersons Studie gezeigt hat - den Begriff „Klasse" auf die englischen Verhältnisse zu Hobbes oder Lockes Zeit übertragen, obwohl dieser Ausdruck in deren Werk gar nicht vorgekommen ist? Verstellen wir uns dadurch nicht den Zugang zur Vergangenheit und tragen zu deren Verfälschung bei? Wer die Anwendung gegenwärtiger Modelle und Begriffe auf die Geschichte für geboten hält, wird einräumen müssen, daß seine Vorgehensweise sich in nichts von derjenigen unterscheidet, die den überzeitlichen Charakter philosophischer Bestimmungen betont; nur das Verhältnis hat sich verkehrt. Geht die These von der Überzeitlichkeit der politischen Begriffe davon aus, daß am Anfang des Denkens schon alles ausgelegt ist,

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dann geht die These von der Aktualisierung davon aus, daß die Geschichte von ihrem Ende her zu begreifen sei. Ist die eine Richtung prospektiv, so die andere retrospektiv. Bleibt abschließend in diesem Zusammenhang noch ein virulentes Problem aufzuwerfen, das vor allem in den Quarderni del Carcere (den Gefängnisheften) Antonio Gramscis diskutiert worden ist: Wenn eine marxistisch inspirierte und verfahrende Ideengeschichte davon ausgeht, daß das Denken nicht losgelöst von seinem soziohistorischen Kontext gesehen werden kann, wie kann sie es dann für richtig halten, trotzdem die großen Texte der Vergangenheit im Lichte gegenwärtiger Voraussetzungen und aktueller Probleme zu studieren und aus ihnen einen gewissen Nutzen zu ziehen? Liegt darin nicht ein Widerspruch? Wird dann nicht unterstellt, daß es - bei aller Anerkennung einer sozialhistorischen Bedingtheit - doch so etwas wie eine Überzeitlichkeit zentraler Denkbestimmungen und Denkgehalte gibt? Gramscis Antwort darauf war eindeutig: Würden wir alles das aus dem Werk eines großen Denkers eliminieren, was auf seinen sozialen Kontext hindeuten würde, dann würde immer noch ein „Rest" übrigbleiben, der nicht durch diesen Kontext erklärt werden könne; dies wäre sozusagen das ahistorische Moment des gegebenen philosophischen Systems, das überdauert. So hat sich Gramsci nicht gescheut, eine Beziehung herzustellen zwischen seiner Situation und derjenigen Machiavellis, um so über seine eigene theoretische Position sich mehr Klarheit verschaffen zu können. 5.4. Materialistische Positionen Vorhin ist auf die tautologische Struktur der Argumentation bei Röhrich hingewiesen worden. Schon Engels hat die praktischen Hindernisse geahnt, auf die eine konsequente Anwendung der materialistischen Methode stoßen würde, „auf die letzten ökonomischen Ursachen zurückzugehen" (in seiner Einleitung zu Die Klassenkämpfe in Frankreich, 1895). Und Bourdieu hat in seiner Heidegger-Studie spöttisch von den „Materialisten ohne Materie noch Material" gesprochen (S. 136). Versuche in der Richtung sind durchaus bekannt: In seinem 1934 vorgelegten Buch über Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild hat Franz Borkenau das sich im 16. Jahrhundert herausbildende mechanistische Weltbild als Abbild der Vorgänge der Manufakturperiode gedeutet. Der Engländer George Thomson hat in seinen Studien zur altgriechischen Gesellschaft zu zeigen versucht, in welchem Maße die frühgriechische Philosophie ein Produkt der antiken Warenproduktion bzw. der Geldzirkulation gewesen ist. Ein abschreckendes Beispiel in dieser Hinsicht ist die sogenannte Ableitungsliteratur gewesen. Diese Bewegung stellte eine spezielle deutsche Erscheinung dar. Ihre Anhänger verstanden sich als Erneuerer der Marxschen Politischen Ökonomie, deren Bemühungen darauf hinausliefen, die spezifische Formation des Staates der bürgerlichen, insbesondere aber der spätkapitalistischen Gesellschaft aus den Kategorien der Marxschen Warenanalyse, wie sie im ersten Band des Kapital verwendet worden sind, abzuleiten. Das waren die „Kapitallogiker". Leitmotiv war, die Einheit von Logik und Geschichte, kategorialer Analyse und empirischem Material in der Darstellung herauszustreichen. Darin erblickte man den Aussagewert einer materialistischen Analyse. Voraussetzung dafür war ein exegetisches Studium der klassischen Texte. Die unvermeidliche Folge war, daß infolge der fast jesuitisch zu nennenden Hörigkeit gegenüber dem Kapital oder den Grundrissen in der Tat der Buchstabe für die Wirklichkeit genommen wurde. Es bedurfte dann lediglich der „richtigen" Auslegung

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der Klassiker, um die Plausibilität des eigenen methodischen Vorgehens zu verdeutlichen. In qualitativer Hinsicht hat es natürlich große Schwankungen im Erklärungsgehalt der diversen Studien gegeben. Doch allen Arbeiten gemeinsam ist (a) die immanente Betrachtungs- und Interpretationsweise der Texte und (b) - was stärker ins Gewicht fallen dürfte - die Distanzlosigkeit gegenüber den Aussagen von Marx und Engels, obwohl gelegentlich auf die kontingente Erklärungskraft ihrer kanonisierten Schriften hingewiesen worden ist. Das Kardinalproblem der materialistischen Interpretation besteht in der Vermittlung von kategorialer Analyse und sozialer Realität. Heide Gerstenberger hat vor einigen Jahren versucht, im Bereich der Ideengeschichte die materialistische Analyse aus ihren dogmatischen Fesseln zu lösen, indem sie es als wenig fruchtbringend ansah, sich auf eine reine Rekonstruktion der Marxschen Theorien zu beschränken; eine solche hätte allenfalls erläuternden Charakter. Im Gegensatz dazu hält Gerstenberger es für realistischer, von verschiedenen Abstraktionsebenen aus dem Problem beizukommen: von der Grundstruktur einer gesellschaftlichen Formation, von der besonderen Ausprägung einer historischen Gesellschaftsformation, von den historischen Bedingungen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die aufgeführten Fallbeispiele kommen in ihrer methodischen Anlage substantiell diesen Forderungen durchaus nahe, weil sie die Verschränkungen der Produktionsbedingungen von politischsozialen Ideen, deren Anlässe und deren Inhalte thematisieren - Habermas' Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) z.B., Kosellecks Kritik und Krise (1959) oder Negris Die wilde Anomalie, Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft (dt. 1981). Aber es erscheint doch ein wenig zu dürftig, das Etikett,materialistisch' schon dann anzubringen, wenn die Vorstellung von der Autonomie der einzelnen Idee (und des Textes) als inadäquat zurückgewiesen wird. Zudem kann Gerstenberger dem circulus vitiosus nicht ausweichen, textimmanent - mit den Marxschen Kategorien - soziale Phänomene zu bezeichnen. Auch hier stellt sich also die Frage von Auslegungsmodus (sachlich: kategoriale Analyse; polemisch: Exegetik) und Auslegungsgegenstand (das Begreifen der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten).

6. Ideologie, Ideologiekritik und Textverstehen Ideologie kann definiert werden als ein Glaubens- oder Überzeugungssystem, das in einer bestimmten historischen Phase Wirkung zeigt und von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen geteilt wird. Wenn wir uns einmal diese relativ neutrale Definition von Ideologie zu eigen gemacht haben, dann deshalb, weil dieser Begriff impliziert, daß die durch ihn ausgedrückten Überzeugungs- und Sinngehalte in der Konfrontation mit den exakten Wissenschaften empirisch widerlegt werden können. Die behauptete Rationalität von Wissenschaft gewinnt dann die Oberhand über irrationales Denken und gegenüber Glaubenswahrheiten. Die Inhalte erscheinen dann bestenfalls als spekulative Metaphysik, die mit der immer besser vermessenen sozialen Wirklichkeit allerdings nichts mehr gemein hat. In bezug auf unser Thema können wir diesen Trennungsstrich zwischen Metaphysik und Theorie insbesondere in nationalökonomischen Ideengeschichten feststellen. Konsequenterweise heißt es dort auch meist nicht ,Ideengeschichte', sondern Dogmengeschichte - zumindest im deutschsprachigen Raum. Beispielgebend ist hier Joseph A. Schumpeter zu nennen. In seiner History of Economic Analysis, 1954 aus dem Nachlaß herausgegeben und auch ins Deutsche übersetzt, macht dieser einen Unterschied zwischen den ,Visionen' eines Autors, die in dessen ökonomisches Denken einfließen, und der strengen ökonomi-

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sehen Analyse. So würde eine „History of Economic Analysis" an Adam Smiths Wohlstand der Nationen nur das Wie interessieren: Wie argumentierte er und welche analytischen Werkzeuge setzte er ein? Und welchen Nutzen kann man daraus heute noch ziehen? Eine „History of Systems of Political Economy" würde sich primär auf das Was konzentrieren: Was waren Smiths Argumente und was waren seine politischökonomischen Prinzipien? (Schumpeter, 37 f.) Nicht von ungefähr sind die Vertreter der analytischen Wissenschaftstheorie recht enthaltsam in der Aufgabe, Ideengeschichte zu schreiben. So wie die materialistischen Positionen an die Klassiker des Marxismus gebunden bleiben, so verhält es sich strenggenommen auch mit den verschiedenen Strömungen der Ideologiekritik. Ideologiekritisch motiviertes Verstehen steht und fällt mit Marx und Engels, soweit es nicht eine erklärtermaßen emanzipatorische Stoßrichtung aufweist. Sie sind der Abschluß einer Bewegung, die in der grundlegenden Infragestellung weltlicher und kirchlicher Gewalten ihr vordringliches Ziel gesehen hat. Es gilt nun, ideologiekritisch jenes Denken, das nicht mehr mit den Reflexionsbestimmungen der Marxschen Theorie konveniert, in seiner ideologischen Beschränktheit zu entlarven, d. h. nachzuweisen, daß die Analyse mehr verschleiert als aufdeckt, daß sie beim Oberflächlichen stehen bleibt und darüber das Wesentliche gar nicht mehr in den Blick zu nehmen vermag. Ideologiekritik ist ein intellektueller Akt des Durchschauens des falschen Scheins gesellschaftlicher Verhältnisse, deren widersprüchlicher und repressiver Grundzug sich der traditionellen Erkenntnisweise und traditionellen Glaubenssystemen entzieht. Jedes politische Denken nach Marx, das nicht dessen Prämissen teilt, ist ideologiekritisch in dem Sinne interpretiert worden, daß es objektiv nicht die Widersprüche erkennt, die der bürgerlichen Gesellschaft inhärent sind, und daß es folglich nicht die Bedingungen angeben kann, unter denen eine Veränderung ebendieser gesellschaftlichen Formation in Richtung auf Aufhebung jenes Grundwiderspruchs von Kapital und Arbeit, von Herrschaft und menschlicher Emanzipation, vollzogen werden kann. Alles, was nach Marx gedacht wird, aber diesem nicht folgt, unterliegt der Kritik: Nietzsche, die Lebensphilosophie, die Phänomenologie, die Heideggersche Ontologie, der Positivismus und seine Spielarten, der Existentialismus, soweit er nicht marxistisch begründet ist. Eine klassische Studie ideologiekritischer Provenienz ist Adornos Essay über den Jargon der Eigentlickeit, dessen kritisches Potential sich zwar zentral gegen Heideggers Existentialphilosophie richtet, der aber doch insgesamt eine fundamentale Abrechnung mit der „Seinsgläubigkeit" deutscher Philosophie überhaupt vor und nach Auschwitz darstellt. Adorno exerziert hierin die unerhörte Diskrepanz zwischen gesprochenem bzw. geschriebenem Wort und konkreter Wirklichkeit, wenn er von der autoritätssüchtigen „Himmelfahrt des Wortes über den Bereich des Tatsächlichen" spricht. (S. 13) ,Jargon' ist etwas, was die Grenze des Singulären übersteigt und sich als Einheitssprache zu verdichten beginnt; er wird ideologisches Surrogat einer ganzen Gesellschaft in einer bestimmten Phase, universelle Ideologie. Wie wird aber nun jenes philosophische Denken ideologiekritisch bewertet, das vor Marx und Engels wirksam gewesen ist? Es scheint, hier verfährt die Ideologiekritik ,hegelianisch'. Vereinfacht gesagt, hat Hegel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie dargetan, daß alle maßgebliche Philosophie Momente der Darstellung der absoluten Idee sei, das erst in der Hegeischen Philosophie zu seiner begrifflichen Wahrheit gelangt sei. Jeder der vergangenen Philosophen enthält ein „Stückchen" dieser Wahrheit in sich; sein Wert richtet sich an der Art und Weise der Explikation der absoluten Idee. Ideologiekritisch gewendet heißt das, daß die großen

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philosophischen Denker, soweit sie hellsichtig genug gewesen sind, ihre Zeit in Gedanken zu fassen und dadurch gleichzeitig über diese hinauszuweisen, positiv beurteilt werden. Max Horkheimer hat dies einmal am Beispiel des Verhältnisses von Wissen und daraus resultierendem tugendhaftem Handeln festgestellt. Von Sokrates über Thomas, Spinoza bis Hegel reicht seine Ahnengalerie. (Sozialphilosoph. Studien, 66) Dort aber, wo das Denken als reaktiv gesehen wird, weil es sich den Mächten der Epoche angebiedert hat, wird über dieses Denken der Stab gebrochen. Beispielgebend hier die Interpretationen, die Georg Lukacs in bezug auf die deutsche Romantik, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche gegeben hat. Wie aber sei nun nach Art der Ideologiekritik zu lesen? Adorno hat dazu einige hilfreiche Anleitungen gegeben, wobei der zu deutende Text oder zumindest die Aura, in der er steht, die Richtung der Interpretation angibt. In bezug auf die Philosophie Hegels ist der Immanentismus mit Händen zu greifen. Adorno verwirft sowohl das Axiom des „pure et distincte" des Cartesianismus, als ob es Aufgabe der Philosophie sei, ihren Gegenstand vor allen Augen transparent zu machen. Ebenso problematisiert er die traditionelle philologische Methode, die darauf hinausgehe, den subjektiv gemeinten Sinn des Autors herauszuarbeiten. Vielmehr müsse der Leser die in den Texten zur Sprache gebrachten Sachen sich bewegen lassen, die Analyse müsse inhaltlich mitvollzogen werden, auch dort, wo Hegel unklar bleibt, müssen die Implikationen freigelegt werden. Das Vermögen, das dieses bewerkstelligt, ist assoziatives Lesen, ist Phantasie und Imagination. Sein Verfahren ist experimentell: „mögliche Deutungen sich einfallen lassen, vorschlagen, dem Text und dem bereits zufällig Interpretierten kontrastieren." (Skoteinos, 131) In bezug auf den Jargon der Eigentlichkeit, wie er bei Heidegger (und Jaspers) ausgemacht worden ist, wird die Deutung dieser Sprache nicht nur kritisch, sondern erhält zudem eine soziologische Note, um deren Unwahrheit erkenntlich zu machen. In der Negativen Dialektik gibt freilich Adorno zu erkennen, daß eine Kritik von außen der Ontologie nichts anhaben könne, stattdessen müsse diese von innen her angegriffen werden. (S. 104) Beides, sowohl das Verfahren minutiöser Versenkung als auch das Moment der „freien Distanz" (S. 88), kommen dabei zur Geltung. Beide Momente weisen auf ein Weiterdenken der Hegeischen Perspektivik wie auf Philosophie überhaupt hinaus, beide sind nicht anders als reflexiv bestimmt. Und es ist gerade dieser reflexive Aspekt, von dem das Selbstverständnis der Ideologiekritik geprägt ist und das es bei aller scheinbaren Ähnlichkeit von der immanenten Distanzlosigkeit anderer Interpretationsweisen abhebt. Reflexion meint sowohl die kritische Prüfung des Textes als auch die kritische Prüfung des Interpreten in seinem Verhalten dem Text gegenüber. Beide lassen sich nicht voneinander trennen, sind unweigerlich aufeinander bezogen. Textverstehen setzt dann zunächst ein mit einer Analyse des Standortes dessen, der auslegt. Im Jargon der Eigentlichkeit gebraucht Adorno in bezug auf Heidegger das Wort von der „reflektierten Unreflektiertheit" (S. 48), d.h. von der subtilen Verschleierung der Verhältnisse. Es ist zwar das reflexive Vermögen, das jene wabernde Sprache und Attitüde demaskiert und sie zurechtstutzt; aber dazu gehört auch eine Haltung, eine Einstellung von einem selbst, die gemäß dem Postulat der objektivistischen Wissenschaftslehre mit dem Vollzug des Textverstehens zwar nichts zu tun hat, weil sie außerwissenschaftlichen Kriterien unterworfen bleibt, die aber trotzdem unter der Hand das Verstehen leitet und deren kritisches Potential vom je eigenen Erfahrungshintergrund gespeist wird. Somit - so scheint es - schlägt die Stunde der philosophischen Hermeneutik.

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7. Die Perspektive der philosophischen Hermeneutik 7.1. Hermeneutische Situation und Rezeptionsgeschichte Weiter oben ist ausgeführt worden, daß, um etwas .richtig' verstehen zu können, hinreichend genug plausible Erklärungen benötigt werden. Man kann auch sagen, daß etwas verstehen auch heißen kann, etwas zu mir selbst zu machen, etwas zu internalisieren. Das Verstandene wird danach zu einem Selbstverständlichen, wie Alfred North Whitehead einmal gesagt hat (in Gadamer/Boehm, 63ff.), und der Akt des interpretierenden Verstehens zu einem Enthüllen von Evidenzen. Doch zeigt ja die Praxis der Auslegung, daß auf diesem Felde alles andere als auf Übereinstimmung und Dauerhaftigkeit angelegt ist, dem Leser scheint sich vielmehr eine Welt voll von Beliebigkeit und Voluntarismus aufzutun. Der Interpretationen scheint es so viele zu geben wie Interpreten. Skinner hat sich ja seinerzeit gewundert über diese Mehr-, ja Vielstimmigkeit der Hobbes-Interpretation. Wie ist dies zu erklären? Können die Interpreten nicht .richtig' lesen? Verfügen sie über unterschiedliche Textgrundlagen? Liegen hier nur lauter Mißverständnisse vor? Oder verfolgen die einzelnen Interpreten damit bestimmte subjektive Absichten? Wie wir gesehen haben, hat Skinner mit der Entwicklung der „context-Theorie" daraus seine eigene Schlußfolgerung gezogen und versucht, eine akzeptable Lösung anzubieten. Manch anderer Forscher ist ihm darin gefolgt. Der Zweck dieser Übung war einfach der, der Textexegese endlich eine verläßliche Basis zu geben. Aber ist dies überhaupt möglich? Die philosophische Hermeneutik mag darauf eine einleuchtende Antwort geben. Es scheint also so zu sein, daß uns der Weg versperrt ist, dem alten rationalistischen Ideal von der einzig wahren Interpretation nachzueifern, wie es in bezug auf die Heilige Schrift von Spinoza gefordert worden ist. Spinoza war der Ansicht, daß die wahre Methode der Schriftauslegung mit der Methode der Naturerklärung in Übereinstimmung gebracht werden könne: aus Bekanntem wird das noch Dunkle zu erschließen gesucht. Als die Hauptregel der Schriftinterpretation erscheint die Aussage, daß dem Bibeltext keine Lehre zugeschrieben werden könne, die sich nicht mit völliger Gewißheit - im cartesianischen Sinne - aus ihrer Geschichte ergebe. Versuchen wir im folgenden, der verwickelten Angelegenheit dadurch beizukommen, daß wir uns die Situation bewußt machen, in der wir als Interpreten stehen. Oben mag bei dem Leser der Eindruck erweckt worden sein, als ob auf diesem Gebiet nur ein subjektives Meinen und Glauben dominiere. Schon Hegel hat aber in der „Vorrede" zu seiner Rechtsphilosophie gegen seinen zeitgenössischen Widersacher Fries geltend gemacht, daß es in erster Linie darauf ankomme, sich auf den Begriff der Sache dessen zu besinnen, was man philosophisch zu erkennen unternimmt, und sich nicht von Zufälligkeiten, Gemütslagen oder unmittelbaren Wahrnehmungen leiten zu lassen. Die Sache muß philosophisch behandelt werden. Freiheit offenbart sich nicht im Rauschzustand des Augenblicks, sondern allein im Erkennen. An die alte phänomenologische Forderung „zu den Sachen selbst" anknüpfend, hat Heidegger über hundert Jahre später genau im Sinne Hegels dem Interpreten zur Aufgabe gemacht, sich in seinem Tun von der Sache her leiten zu lassen und nur von ihr, und sich gleicherweise von willkürlichen Eingebungen oder von eingefahrenen Denkgewohnheiten zu lösen. In den §§31 und 32 in Sein und Zeit gibt er eine Erörterung der hermeneutischen Situation, die uns hier interessiert, und an die später Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode, das „Gründzüge einer philosophischen Hermeneutik" enthält, anknüpfen wird.

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Heidegger schreibt nun allem Verstehen einen „Entwurfscharakter" zu: Wenn wir uns dazu entschließen, uns auf die Welt einzulassen und zu verstehen suchen, so sind wir, als Verstehende, immer schon im Verstehen mit eingeschlossen. In seinem „Inder* Welt-sein" entwirft der Mensch Möglichkeiten des Erschließens von Welt: „Im Entwerfen auf Möglichkeiten ist schon Seinsverständnis vorweggenommen." (S. 147) So ist nach Heideggers Auslegung als „Ausbildung des Verstehens" (Sein u. Zeit, 148) „nie voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen". (S. 150). Das unterscheidet seine Sicht von einer positivistischen Textbehandlung, für die ,Text' lediglich das ist, was eben ,da steht'. Heideggers Analyse zeigt aber, daß auch der unscheinbarste Blick auf einen Text geprägt ist durch die Vormeinung des Auslegers, „die notwendig in jedem Auslegungsansatz liegt". (Ebd.) Alle Auslegung bleibt vorstrukturiert; es ist immer ein Verständnis vorhanden von dem, auf was sich Verstehen und Auslegen beziehen. Aber wie geht es an, etwas vorauszusetzen, was erst noch zu begründen wäre? So würde ein moderner Wissenschaftstheoretiker fragen. Wohl verstößt jene Zirkelbewegung durchaus gegen alle Regeln wissenschaftlichen Schließens, und natürlich ist dieser Umstand Heidegger auch bewußt gewesen. Doch er sieht in dem Bedürfnis, diesen circulus vitiosus durchbrechen zu wollen, ein fundamentales Mißverständnis von Verstehen. Denn das Entscheidende ist nicht, dem Zirkel zu entgehen, sondern „in ihn nach der echten Weise hineinzukommen." (153) Der hermeneutische Zirkel darf nicht als aporetisches Konstrukt mißverstanden werden, der zu einem lähmenden Skeptizismus führe; er offenbart sich vielmehr als „Ausdruck der existenzialen Vorstruktur des Daseins selbst." (153). Die von Heidegger freigelegte hermeneutische Situation dessen, der ein Verständnis von Welt zu gewinnen sucht, wird dann bei Gadamer zum entscheidenden Ansatzpunkt seiner hermeneutischen Theorie. Gadamer sagt zwar auch, daß die Aufgabe des Interpreten darin besteht, im Umgang mit einem Text den Sprachgebrauch der eigenen Zeit nicht einfach ungeprüft zu übernehmen. Vielmehr soll aus dem Sprachgebrauch des Autors und der Zeitumstände heraus ein Verständnis des Textes gesucht werden. Fraglich ist es jedoch, ob diese Aufgabe überhaupt erfüllbar ist. Können wir gänzlich von unseren Vormeinungen abstrahieren? Müssen wir dies überhaupt anstreben? Nein, entgegnet Gadamer, wir müssen nicht auf unsere Vormeinungen verzichten und sie vergessen. Gefragt ist lediglich Offenheit für die Meinung des anderen - im Gespräch - sowie des Textes - in der Auslegung. Aus dieser Offenheit heraus ergibt sich dann, wie von selbst, daß die hermeneutische Aufgabe in eine sachliche übergeht und von dieser her mitbestimmt wird. Wenn man will, gibt diese Struktur den Maßstab dafür ab, daß nicht Beliebigkeit, sondern Sachadäquanz die Analyse prägt. Der Verstehende muß freilich sich einem Text gegenüber empfänglich zeigen - Heidegger hat dies „Gestimmtheit" genannt - und bereit sein, sich auf ihn einzulassen, unter Einschluß der eigenen Vormeinungen - des eigenen, Vorverständnisses', wie auch gesagt worden ist - und der eigenen Vorurteile. Gadamer leitet in seiner Analyse im folgenden nichts weiter als die Rehabilitierung des Vorurteils im Vollzug des Verständigungsprozesses ein, welches er durch die Aufklärung diskreditiert gesehen hat. Für ihn sind Vorurteile konstitutive Momente des Verstehensprozesses, die notwendig in die Analyse miteingehen und nicht-wie es das naturwissenschaftliche Modell fordert - ausgeklammert, ja überhaupt erst überwunden werden sollen. Aber nicht alle Vorurteile sind legitimiert, Bedingung von Verstehen zu werden. Gadamer erkennt nur solche an, die an Autorität und Tradition gebunden sind. Tradition ist dann etwas, was „ohne Begründung" gilt. (WuM, 285) In bezug darauf bestimmt Gadamer Verstehen nicht so sehr „als eine Handlung der

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Subjektivität", sondern „als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln." (S. 295) In diesem „Zwischen" zwischen der Fremdheit einerseits, die ein überlieferter Text für uns hat, und der Vertrautheit andererseits „ist der wahre Ort der Hermeneutik". (S. 300) Daraus folgert Gadamer die unaufhebbare Differenz zwischen dem Autor und dem Interpreten. Denn eine jede Zeit wird ein überliefertes Stück auf ihre Weise verstehen müssen. Der wirkliche Sinn eines Textes wird so immer durch die je unterschiedliche geschichtliche Situation des Interpreten vorgezeichnet. Der Sinn, den ein Interpret einem Text zumißt, ist immer „mehr" als der Urheber intendiert hat. Es geht hier nicht darum, .besser' zu verstehen, sondern darum, ,anders' zu verstehen. Das Studium der Rezeptionsgeschichte eines klassischen Textes zeigt uns, daß wir entschieden die Möglichkeit verneinen müssen, den bezeichneten Text ein für alle Mal ^erstanden' zu haben. Verdeutlichen wir uns dies an einem beweiskräftigen Beispiel, an Hegels Rechtsphilosophie. Die erste Begegnung des Lesers mit der Rezeption dieses Werkes wird gekennzeichnet sein durch eine verwirrende, geradezu konträre Meinungsvielfalt, die ihm entgegentreten wird: Hegel, der Vollender des deutschen Idealismus; Hegel, der preußische Regierungsphilosoph; Hegel, der Apologet des autoritären Staates; Hegel, der Verräter der Sache des Liberalismus; Hegel, der Usurpator des monarchischen Prinzips; Hegel, die philosophische Wurzel des Marxismus; Hegel, der geistige Geburtshelfer des Totalitarismus; Hegel, der falsche Prophet; Hegel, der meisterhafte Diagnostiker der entfesselten bürgerlichen Gesellschaft. Dies alles sind Quintessenzen von Interpretationen des Hegeischen Denkens, Etikettierungen seines Denkens, die haften geblieben sind, und diese Ambivalenz ist heute noch nicht getilgt, obwohl die Hegel-Philologie in den letzten Jahren viel zur Versachlichung beigetragen hat. Die Rezeptionsgeschichte insbesondere der politischen Philosophie Hegels ist von tiefen Gegensätzen gezeichnet, die vor allem durch seinen berüchtigten Satz in der „Vorrede": „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig" provoziert worden ist. Hat sich Hegel hierdurch mit dem reaktionären preußischen Staat der Restaurationsepoche akkomodieren wollen? So hat Rudolf Haym 1857 gegen den „antidemagogischen und antisubjectivistischen Eifer" gewettert, mit dem Hegel das „Wirkliche" mit der Wirklichkeit des preußischen Staates 1821 identifiziert habe. Fast hundert Jahre später hat Karl R. Popper von der inkriminierten Stelle auf eine „Philosophie der Identität" geschlossen, welche eine durch und durch „preußische Methode" darstelle. „Die Philosophie der Identität dient der Rechtfertigung der bestehenden Ordnung"; es ist dies die Lehre, daß das Bestehende gut sei. (Feinde der offenen Gesell., II, 53). Und wenige Jahre später erläutert Ernst Bloch diesen Satz in Naturrecht und menschliche Würde (1961) als „stockreaktionäre(n) schlechthin". Würde er aber dialektisch gefaßt, so erscheine der erste Teil des Satzes eher revolutionär, weil nur das Vernünftige wirklich sein könne. Aber auch das, was Hegel mit Wirklichem bezeichnet habe, sei mit den Mitteln des gesunden Menschenverstandes nicht zu verstehen; vielmehr müsse ein Verständnis des Begriffes von Wirklichkeit herangezogen werden, wie ihn Hegel in der Logik verwendet habe (Subjekt-Objekt, 247f., 253). Die Nichtidentität von Wirklichkeit als Begriff und Wirklichkeit als empirischer Entität hat auch schon Haym durchaus erkannt; nach ihm legt aber Hegel das Schwergewicht seines Gedankenganges auf den letzteren Bedeutungskomplex. Gewiß, die Hegel-Rezeption ist seit einer Reihe von Jahren in ein ruhigeres Fahrwasser geraten; die unterschwellige Polemik ist einer rationaleren Auseinandersetzung gewichen. In den Vorlesungsnachschriften tritt uns dagegen ein viel konkreterer und kritischerer Hegel vor Augen, ein Hegel,

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der viel prägnanter von einem Geschehenkönnen des Vernünftigen in bezug auf eine sich sträubende Wirklichkeit auszugehen scheint. Aber trotzdem bleibt die Frage, wieso es dazu hat kommen können, daß eine Klärung des zitierten Satzes unter Berücksichtigung des Kontextes des ganzen Hegeischen Systems kaum ernsthaft erwogen geschweige denn in Angriff genommen worden ist. Denn alle die in der gedruckten „Rechtsphilosophie" von 1821 verwendeten Kategorien wie „Vernunft", „Wirklichkeit", „Allgemeinheit", „Besonderheit", „Einzelheit" usf. müssen im Lichte der „Logik" gelesen und gedeutet werden. Was die Kategorie „Wirklichkeit" anbelangt, so hat diese in der „Logik" einen ganz anderen Stellenwert als der Ausdruck „Existenz" oder „Erscheinung". Auf jeden Fall meint „Wirklichkeit" nicht das schlicht „Gegebene". Hegel ist natürlich nicht der einzige prominente Denker, dem in der Rezeption ähnliches widerfahren ist. Piaton erscheint als Vorläufer des totalitären Denkens. In Augustinus wird die Wurzel einer „Eschatologik" gesehen, einer Lehre der „Antipolitik", die noch im Wirken der terroristischen RAF zum Vorschein kommt. Machiavelli ist gleichsam das personifizierte „Böse" und „Satanische" im politischen Leben seit der Renaissance. Rousseau wird dasselbe Schicksal zuteil wie Piaton, ein Vorbereiter totalitärer Politik zu sein, die in Robespierres Gewaltherrschaft ihre Vollendung gefunden habe. Aber es ist nachgewiesen worden, daß von einem nachhaltigen Einfluß des Genfer Bürgers auf die Ideen der Revolution nicht ausgegangen werden kann. Carl Schmitt wird nicht nur von den Konservativen vor und nach 1945 glorifiziert, sondern erfreut sich auch heftiger Sympathie linker Kreise, was seine Kritik am Liberalismus betrifft. Hobbes wird so in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England als Ahnherr des Utilitarismus verehrt und entsprechend gedeutet. Es ist daher kein Zufall, daß es ein Anhänger Benthams gewesen ist, Molesworth, der die erste Gesamtausgabe der Schriften Hobbes' veranstaltet hat. Judith N. Shklar hat 1959 nachgewiesen, in welchen Etappen James Harringtons politische Philosophie im Laufe der Jahrhunderte wieder und wieder umgedeutet und politisch instrumentalisiert worden ist. Und Hans-Georg Gadamer hat in bezug auf die Vorsokratiker mehrere Interpretationsrichtungen identifiziert, die zeitlich ziemlich beieinanderliegen, aber doch auch von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Gerade an diesem letzteren Beispiel läßt sich ein weiteres wichtiges Moment philosophischer Hermeneutik klarmachen, nämlich das der Aktualisierung. Ein zentrales Element der Gadamerschen Untersuchung ist das der Wirkungsgeschichte. Mit diesem Begriff soll zum Ausdruck gebracht werden, daß wir immer bereits den Wirkungen der Wirkungsgeschichte unterliegen, wenn wir ein historisches Zeugnis verstehen wollen. Die durch das Zeugnis plastisch werdende historische Erscheinung kommt nie in ihrer Unmittelbarkeit auf uns zu, sondern stets vermittelt über die Wirkungsgeschichte. Wir haben oben bereits davon gehört. „Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation." (307) Zu dieser hermeneutischen Situation gehört nun wesensmäßig auch das vor allem durch die Romantik verdrängte Moment der Anwendung. Anwendung meint hier nichts anderes als Anwendung des zu verstehenden Textes auf die aktuelle Situation des Interpreten. Im juristischen und theologischen Bereich ist dieser Zusammenhang durchaus konkret greifbar und geistesgeschichtlich begründet. Was den juristischen Bereich anbelangt, so haben bekanntlich (vgl. o. Kap. 7.1.) in der amerikanischen Verfassungsrechtstheorie und -praxis Bestrebungen an Einfluß gewonnen, mit Bezugnahme auf Gadamer sich von der Fiktion zu befreien, als sei ein Verfassungsartikel

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ein Text an sich, der unmittelbar einleuchtet und dessen ursprüngliche Bedeutung jederzeit zur Lösung bestimmter Rechtsfälle abrufbar sei. Man schließt hier an Gadamers Überlegung an, daß sich die Bedeutung eines Textes erst durch die ,Übersetzung' des Überlieferten in unsere Sprache erschließen läßt. Daraus ergibt sich dann die Konsequenz, daß es kein zeitunabhängiges Textverstehen geben könne. Auch Verfassungstexte und ihre Auslegung bleiben davon nicht ausgenommen. Nach dieser Vorstellung muß die richterliche Auslegung des ersten Zusatzartikels zur amerikanischen Verfassung, in dem die Redefreiheit garantiert wird, der gewandelten Funktion der Rede in einer komplexen demokratischen Gesellschaft Rechnung tragen. Die Bedeutung verfassungsrechtlicher Normen läßt sich nie endgültig fixieren; sie ändert sich analog den Wandlungen von Sprache, Moral und Politik. Diese Forderung nach einer constitutional hermeneutics kreuzt sich mit Tendenzen der literarischen Strömung des New Historicism, die sich wiederum mit Ideen der von Derrida begründeten Lehre der Deconstruction (dazu u.) zu verbinden sucht. In bezug auf die historischen Wissenschaften führt nun Gadamer aus, daß es auch hier die Leistung der Applikation sein müsse, durch die erst der Zeitenabstand, der zwischen Werk und Interpret besteht, überbrückt und die „Sinnentfremdung", die dem Text widerfahren ist, aufgehoben wird. (316) Das heißt aber nicht, daß der Interpret in völliger Willkür sich des Textes bemächtigen kann. Wäre dem so, dann wäre der zwar überspitzten, aber deswegen nicht uninteressanten Äußerung des englischen Historikers Edward H. Carr eine gewisse Schlüssigkeit nicht abzusprechen, nach der es ratsamer sei, sich zuerst dem Historiker, der sich mit Ideengeschichte befaßt, seinem sozialen und politischen Umfeld zuzuwenden und dann erst der Geschichte (d.h. also den Texten; Carr, 44). Niemand kann in der Aufgabe der Applikation im Sinne von Konkretisierung sich den Text gleichsam frei verfügbar halten. Der Interpretierende bleibt in seiner verstehenden Handlung vollständig an den Sinn des Textes gebunden. Gadamer schreibt, daß es keinen Leser gebe, der nur lese, was „da stehe": „In allem Lesen geschieht vielmehr eine Applikation, so daß, wer einen Text liest, selber noch in dem vorgenommenen Sinn darin ist. Er gehört mit zu dem Text, den er versteht." (345) Zunächst muß der Text „in sich" zu verstehen gesucht werden und seine inhaltliche Meinung zunächst einmal dahingestellt sein lassen. Denn nur der verstehe, der sich selber aus dem Spiel zu lassen weiß. Allerdings muß es im Bestreben des Historikers liegen, den in Rede stehenden Text durch andere Zeugnisse zu ergänzen bzw. auf seine Echtheit hin zu überprüfen, und nicht ihn für sich zu nehmen. Das meint wohl Gadamer, wenn er von der »Konkretisierungsaufgabe' der historischen Hermeneutik spricht. Sie wurzelt in der Forderung, die Aussage eines Textes „aus der konkreten Situation heraus zu verstehen, in der sie gemacht wird." (340) Im Grunde genommen berührt sich hier die Gadamersche Forderung mit den Prämissen der „context"-Theorie ä la Skinner. Im Bereich der Geschichte ist Interpretation dann gefordert, wenn sich der Sinn eines Textes nicht unmittelbar zeigt, wenn er deutungsbedürftig ist. Darin ist nämlich die eigentliche Aufgabe des Historikers zu suchen, „die historische Bedeutung eines Vorganges im Ganzen seines geschichtlichen Selbstbewußtseins zu bestimmen." (344) An dieser Stelle muß allerdings noch einmal auf die Funktion der „Aktualisierung" als Form des Applikationsvorganges eingegangen werden, da sich hier wichtige Zusammenhänge mit der Praxis ideengeschichtlicher Beschäftigung ergeben. Denn es muß die Frage erlaubt sein, wie sich „Aktualisierung" in concreto vollzieht. Mehrere Ebenen der „Aktualisierung" klassischer Texte lassen sich unterscheiden: (a) Zunächst sind es ideologische Motive, die zu einer „Aktualisierung" und das

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heißt hier: zu einer Instrumentalisierung von Klassikern und ihren Texten führen. Das ist eine allgemeine Tatsache, die nicht näher begründet zu werden braucht. Wissenssoziologie und Ideologiekritik haben je für sich ihren Beitrag zur Erhellung dieses Phänomens geleistet. Jede auf Tat und Veränderung hindrängende politische und soziale Bewegung - sei es in revolutionärer, sei es in retardierender Absicht - hat ihr eigenes Glaubenssystem errichtet, das im allgemeinen und in seinem ideologischen Kernbestand von der Ausschöpfung „seiner" Klassiker zehrt. Dabei ist es völlig unerheblich, ob die als klassisch bezeichneten und im politischen Kampf verwendeten Quellen sachgemäß behandelt werden oder nicht. Allein maßgebend ist der strategisch „richtige" Einsatz der Zitate im Kontext des Aussagesystems, das die jeweilige Ideologie prägt, sowie die Wirkung nach außen hin, die damit bezweckt bzw. erzielt werden soll. (b) Eine weitere Form der „Aktualisierung" ergibt sich daraus, daß wir uns der Argumente der Klassiker bedienen, um gewisse politische Entwicklungen in unserer Gegenwart entweder zu rechtfertigen, zu verwerfen oder einfach ,besser' zu verstehen. So unterschiedlich fixierte Autoren wie Bernard Willms oder Iring Fetscher sehen in einem solchen Vorgehen ein unhintergehbares Erfordernis der politischen Ideengeschichte. Das Interesse, das das Studium der alten Schriften motiviert, wird oft dadurch zu artikulieren gesucht, daß die Fragen, die uns heute angehen und bewegen, im Grunde schon gestellt worden waren, als der Mensch angefangen hat, politisch zu denken. Nur die Antworten darauf fielen immer unterschiedlich aus. In diesem Zusammenhang wird dann oft das Bild vom Steinbruch bemüht: Wir greifen nur diejenigen Teile aus dem Korpus eines Denkens heraus, die wir für unsere Zwecke gebrauchen können. Wie ein Steinbruch kann ein Werkganzes willkürlich ausgebeutet, die einzelnen Stücke form- und sachgerecht bearbeitet werden. Stillschweigend setzen wir stets voraus, daß die Klassiker dieselben Fragen gestellt haben wie wir auch, und daß die Antworten, die sie darauf gegeben haben, unseren Vorstellungen nicht unähnlich sind und daher unserem Denken beliebig verfügbar gemacht werden können. Methodologisch gesehen ist diese Sichtweise nicht unproblematisch. Denn wissen wir im Grunde, ob beispielsweise die Griechen von Politik, Demokratie und ähnlichen Dingen dasselbe gemeint haben, was wir ihnen gerne zu unterschieben bereit sind? Gewiß sind diese Begriffe aus dem Griechischen hergeleitet. Aber können wir sie so ohne weiteres mit ihren sprachlichen Wurzeln in Beziehung setzen, ohne Gefahr zu laufen, die Einzigartigkeit der damit bezeichneten Sachverhalte grundsätzlich in Frage zu stellen? Nehmen wir eigentlich nicht anders wahr als die Griechen, die Lateiner oder die Menschen des Mittelalters? Und wenn schon im Blick auf die Aktualisierung der abendländischen Traditionen Zweifel angemeldet werden können, um wieviel mehr erscheinen diese berechtigt hinsichtlich der außereuropäischen Kulturen und Völker. Es liegt viel Wahrheit in Walter Benjamins These in seinem berühmten Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1934/35), in welchem von der Veränderung der „gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektion" in großen geschichtlichen Zeiträumen und darin eingeschlossen auch von der Veränderung der „Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung" die Rede ist. Das bezog sich zwar auf den Vorgang der Zertrümmerung der Aura - d.h. der Singularität - eines Kunstwerkes im Zuge der ubiquitären Entwicklung der industriellen Reproduktionstechniken. Durchaus läßt sich im Vorgang der Begreiflichmachung historischer Ideen als „Aktualisierung" ein analoges Moment erkennen und kritisch prüfen. Oder hat Moritz Schlick, der theoretische Kopf der „Wiener Schule" des logischen Empirismus, nicht doch recht,

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der grundsätzlich die Möglichkeit der Aktualisierung von Philosophie bestritten hat, denn Philosophie gehöre den Jahrhunderten und nicht dem Tage (Geier, 57). (c) Eine dritte Möglichkeit von „Aktualisierung" besteht darin, bestimmte abstrakte Begriffe, die wir hinsichtlich der Analyse gegenwärtiger Entwicklungen und Strukturen gebrauchen, auf vergangene Zustände zu übertragen, in der Hoffnung, diese besser analytisch in den Griff zu bekommen und folglich auch angemessener verstehen zu können. Das ist ein allgemeines Problem aller historischen Wissenschaften. Die bedeutenden Innovationen in den Geschichtswissenschaften lassen sich gewissermaßen als Reaktionen auf diese fundamentale Problemstellung bestimmen. Die Zweige der Sozialgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Kulturgeschichte leben geradezu von der Anwendung der wissenschaftlich-technischen Sprache des 20. Jahrhunderts auf historische Zusammenhänge. Begriffe wie „Modernisierung", „Modernität" oder „Moderne" sind sinnfällige Beispiele, die auch die Geschichte der politischen Ideen berühren. Oder denken wir an den Terminus „Paradigma" und seine Übertragung auf die Entwicklung der politischen Ideengeschichte, wie man es bei Theo Stammen und Sheldon Wolin nachvollziehen kann. Selbst der Ausdruck „Theoriengeschichte" - wie er oben charakterisiert worden ist - als Äquivalent für „Ideengeschichte" ist als eine Form von „Aktualisierung" zu betrachten.

7.2. Die „Logik von Frage und Antwort" Gadamer geht in seiner Analyse der hermeneutischen Situation jedoch einen bedeutenden Schritt weiter. Gadamer geht es nicht um die Explikation einer hermeneutischen Methodik unter anderen, sondern weit mehr um die Freilegung der Bedingungen, unter denen Verstehen und Auslegen sich vollziehen. Dazu gehört auch eine Untersuchung der Motive des Historikers, der sich einem bestimmten schriftlichen Zeugnis zuwendet und dessen Sinn auszulegen sucht. Damit ist das Wesen der Frage im Zusammenhang des Verstehensprozesses berührt. Schon Droysen hat die Bedeutung des Fragens für die Methodologie der Geschichtswissenschaft erkannt und es in Form der Heuristik zum Ausgangspunkt historischer Erkenntnis gemacht. Hier wird die Frage zum Vehikel des Zweifels an dem, was wir unmittelbar vorfinden und das sich nicht zur Deckung bringen läßt mit dem, was allenthalben tradiert worden ist und daher der kritischen Prüfung harrt. Auch hier ist es das Vorverständnis, die eigene Vorstellungswelt, die Art und Stoßrichtung der Frage induzieren. Die Frage und die Suche nach einer Antwort auf sie sind der erste Schritt historischer Forschung. Doch zurück zu Gadamer: Schon im Zusammenhang mit der Erörterung der Relevanz der, Vorurteile' für das Verstehen ist klar geworden, daß im Verstehen stets die je eigenen Vormeinungen mitgeführt werden; die je eigene Geschichtlichkeit wird immer mitbedacht. Gadamer sagt, daß infolgedessen die Freiheit der Erkenntnis nicht zurückgedrängt, sondern vielmehr erst ermöglicht wird. Sie wird ermöglicht, weil durch das .Mitschwingen' der je eigenen Vormeinungen und Erfahrungen die „Offenheit" der Überlieferung gewahrt bleibt. „Offenheit" meint hier, daß die hermeneutische Situation „offen" ist für je unterschiedlich motivierte Fragen, die wir an den Text herantragen. Konsequent sagt Gadamer: „Man macht keine Erfahrung ohne die Aktivität des Fragens. Die Erkenntnis, daß die Sache anders ist und nicht so, wie man zuerst glaubte, setzt offenbar den Durchbruch durch die Frage voraus..." (368) Gadamer kann so vom „Vorrang der Frage" sprechen. Maßgebend für Erkenntnis wird somit die „Fragestellung", mit der an die Sache herangegangen wird. Wenn

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ein Text verstanden werden soll, so scheint es doch so zu sein, daß er zunächst dem Interpreten wie ein Rätsel vorkommt und seine Frage an ihn geradezu motiviert. Im Grunde genommen muß man eigentlich die Frage verstehen, um den fraglichen Text zu verstehen: „wer verstehen will, muß also fragend hinter das Gesagte zurückgehen. Er muß es als Antwort von einer Frage her verstehen, auf die es Antwort ist." (375) Die Logik der Geisteswissenschaften ist nichts anderes als Logik der Frage. Das Thema der Logik von Frage und Antwort hat Gadamer bei dem englischen Geschichtsphilosophen Robin George Collingwood aufgegriffen. Collingwoods diesbezügliche Erörterungen finden sich in seiner Autobiography, die Gadamer 1955 unter dem Titel Denken ins Deutsche übersetzen und herausgeben ließ. Erstaunlich ähnlich wie Heidegger stellt Collingwood fest, daß ein Historiker erst dann Einsicht in Vergangenes erlangen kann, wenn sie auf etwas gründet, das im Hier und Jetzt der für ihn gegenwärtigen Welt existiert. Die Einsicht aber ist erst das fundamentum des Fragens. Collingwood hat die Erfahrung gemacht, daß man durch das bloße Studium von schriftlich niedergelegten Äußerungen nicht herausfinden kann, was der Betreffende damit gemeint habe. U m dies eruieren zu können, muß man vielmehr die Frage kennen, auf die hin das, was er geschrieben hat, die Antwort darstellt. Versteht man die Frage nicht, versteht man die ganze Lehre eines Philosophen nicht: „Glaube niemals, daß du irgendeine Feststellung eines Philosophen verstehst, bevor du nicht mit der größtmöglichen Genauigkeit entschieden hast, welches die Frage ist, auf die er sie als Antwort gedacht hat." (Denken, 74) Oder, etwas abstrakter formuliert: „Im Nachvollziehen der Gedanken eines anderen denkt er (der Historiker, A. M.) sie selbst." (Denken, 113). Hier setzt nun der weitere Gedankengang Gadamers ein. Die historische Methode verlangt so, daß die Logik von Frage und Antwort auf die geschichtliche Überlieferung angewendet wird. Die geschichtlichen Ereignisse können nur dann verstanden werden, wenn es gelingt, die Frage zu rekonstruieren, „auf die das geschichtliche Handeln der Person jeweils die Antwort war." (WuM 376). Freilich geht Gadamer über Collingwood hinaus, wenn er feststellt, daß sich auf die Aufgabe konzentrieren, was ein Verfasser tatsächlich im Sinne gehabt habe, eine Reduktion der hermeneutischen Aufgabe darstelle. Die hermeneutische Reduktion auf die Meinung des Urhebers eines Textes ist unangemessen. Ganz im Sinne Heideggers und gegen die Verblendung des Historismus gewendet fährt Gadamer fort, daß sich jede Aktualisierung im Verstehen als eine geschichtliche Möglichkeit des Verstandenen zu wissen vermag. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wir müssen der Tatsache gewahr werden, daß nach uns andere immer anders verstehen werden als wir selbst. Dies gründet in der Endlichkeit unseres Daseins. Es ist eigentlich erstaunlich, daß eine Wissenschaft wie die Politologie es bis heute nicht für nötig gefunden hat, so etwas wie eine „Methodologie des Fragens" zu entwerfen. Hat sich doch die Emanzipierung der Politikwissenschaft von den etablierten historischen und Staatswissenschaften - wenigstens in Deutschland nach 1945 weniger gegenstandsbezogen, methodisch oder theoretisch vollzogen, sondern vor allem auch aufgrund eigentümlicher Fragestellungen. Nach dem Wesen der „Demokratie" oder des „Staates" ist nicht historisch, staatsrechtlich oder philosophisch, sondern eben „politikwissenschaftlich" gefragt worden, also aufgrund einer Fragestellung mit ganz besonderer Spezifik, die die Eigenständigkeit dieser neuen Disziplin unter Beweis stellen sollte. Stattdessen wird heute von „Problemen" gesprochen, ohne daß daraufhin reflektiert wird, daß es sich hier um offene Fragen handelt, die nach einer Antwort verlangen. Die Antwort ist dann das, was wir den wissenschaftli-

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chen Erkenntnisprozeß nennen würden. Aber auch hier stoßen wir auf die Frage der Wahrnehmung von Problemen: Was zeichnet einen Sachverhalt aus, daß wir von ihm sagen können, er stelle für uns ein Problem dar bzw. er lasse mehr Fragen zurück als Antworten? Und ist uns dabei nicht oft genug klar geworden, daß wir gestern einen Sachverhalt als problematisch angesehen haben, während er uns heute als völlig nebensächlich erscheinen mag, aber nicht, weil er gelöst worden ist, sondern weil der Gesichtspunkt sich gewandelt hat, unter dem er nunmehr betrachtet wird! (s. Tl. I) Die Schwierigkeit liegt weniger in der Lösung von Problemen, sondern eher im Wandel der Wahrnehmung von Problemen als Probleme. Wenn die Wahrnehmung von Problemen einem ständigen Wandel unterzogen bleibt, dann erscheint doch die Suche nach ,besseren' Theorien, um einem Problem beizukommen - wie es der kritische Rationalismus lehrt - , als eine Illusion. Denn die Forderung nach ,besseren' Theorien kann sich doch eigentlich nur auf ein und dasselbe Problem beziehen. Es scheint doch vielmehr so zu sein, daß es nicht um das Auffinden,besserer' Theorien zu tun ist, sondern um das Auffinden .anderer' Theorien. Eine Theorie zu verwerfen, heißt offensichtlich nicht, an deren Stelle eine .bessere' treten zu lassen, und wenn diese auch nichts taugt, wieder eine ,bessere' und so fort ad infinitum. Damit wird das Bild eines evolutiven Wissensfortschritts suggeriert, der nicht nur aus soziologischen, sondern auch aus Gründen menschlicher Erfahrung und menschlicher Verständigung so nicht faßbar werden kann, wenn wir bereit sind, die „Logik von Frage und Antwort" zu beachten. Ungefähr so ähnlich verhält es sich auch mit der Geschichte des politischen Denkens. Wir haben es hier nicht mit jeweils .besseren' philosophischen Erkenntnisweisen zu tun, sondern mit jeweils .anderen'. Das philosophische Fragen ist jeweils unterschiedlich motiviert, eingebettet in jeweils unterschiedliche historische Kontexte kommunikativer Art, und dementsprechend unterschiedlich fallen auch die Antworten aus. Dürfen wir also wirklich so leichthin behaupten, Kant habe das Humesche Problem in der Weise gelöst, wie es die philosophischen Lehrbücher seit Jahrzehnten tradiert haben? Oder verbirgt sich dahinter nur eine andere Sichtweise, ein anderer Standpunkt, welche Kant zu seinen erkenntnistheoretischen Neuerungen geführt haben? Dürfen wir wirklich annehmen, Marx habe die Probleme, also die Fragen, die Hegel hinterlassen hat, gelöst bzw. beantwortet und den Sachverhalt der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Widersprüche auf ein neues Niveau gestellt? Oder ist seine Frage nicht deshalb eine andere gewesen, weil sich die Bedingungen, auf die sie sich bezogen hat, und ihre Wahrnehmung als problematische verschoben haben? Man soll sich bei der Interpretation von Texten nicht von der Auffassung leiten lassen, daß derjenige .besser' erkennt und versteht, der über den größtmöglichen philosophiehistorischen Erfahrungsschatz verfügt und auf vermeintliche ,Fehler' seiner Vorläufer aufmerksam machen kann, sondern derjenige, der sich der Mühe unterzieht, die Frage zu rekonstruieren, auf die das Werk des einzelnen Autors die gemäße Antwort darstellt. Der neuralgische Punkt dieses Verfahrens ist freilich, daß es stets von neuem gewagt und probiert werden muß - ganz im Sinne der je und je verschiedenen geschichtlichen Situation dessen, der verstehen will. Erst dann können wir zu sinnvollen Aussagen über Texte gelangen. Es scheint, daß Wittgenstein von seinem ganz anderen Standpunkt aus zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen ist. Ist die Logik von Frage und Antwort der philosophischen Hermeneutik im wesentlichen retrospektiv bestimmt, da sie die Frage zu erkennen versucht, die der Antwort vorausgeht, so hat Wittgenstein das Pferd von der anderen Seite her aufgezäumt. Sein entschiedener Antiskeptizismus im Tractatus gründet in der Vor-

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Stellung, daß es sinnlos sei, zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, die Frage auszusprechen. Der Zweifel bestehe nur dort, wo eine Frage bestehe, diese nur, wo es eine Antwort gebe, und die, wo etwas gesagt werden könne (6.5).

8. Konstruktivismus und Dekonstrukthismus Der Konstruktivismus als methodologisches Programm wird hier nur deshalb behandelt, weil in seinem Bannkreis Ansätze einer konstruktivistischen Theorie der Geistesgeschichte entwickelt worden sind, die ein gewisses Interesse beanspruchen können. Der Dekonstruktivismus ist keineswegs - wie man annehmen könnte - der logische Widerpart des Konstruktivismus; ja, er hat mit ihm so gut wie nichts zu tun. Er findet hier nur deshalb Erwähnung, erstens, weil Vertreter der philosophischen Hermeneutik ihn als eine beachtenswerte Herausforderung betrachten; zweitens, weil er im Kontext der aktuellen methodologischen Diskussion in der Geschichtswissenschaft einen zwar umstrittenen, doch herausragenden Platz einnimmt; und drittens, weil der Dekonstruktivismus interessanterweise im Bereich der Internationalen Beziehungen einige Anhänger gefunden hat.

8.1. Konstruktivistische Ideengeschichte Die Methodologie des Konstruktivismus in seiner modernen Form des Radikalen Konstruktivismus, wie er in den USA vor allem von Ernst von Glasersfeld und in Deutschland vor allem von Gebhard Rusch entfaltet worden ist, hat ihre erkenntnistheoretischen Wurzeln in der Systemtheorie sowie in der Theorie selbstreferentieller (autopoietischer) Systeme. Die Arbeiten von Humberto Maturana und Niklas Luhmann enthalten hier die entsprechenden systematischen Entwürfe. Sie führen eine Tradition fort, die von einer phänomenologisch inspirierten Wissenssoziologie ä la Alfred Schütz und Peter L. Berger/Thomas Luckmann (Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, engl. 1966, dt. 1969) in Angriff genommen worden ist. Eine Herleitung der konstruktivistischen Erkenntnistheorie aus diesen Prinzipien kann hier nicht erfolgen, sie ist auch gar nicht erforderlich. Für den vorliegenden Zweck wichtiger dagegen ist es, die zentralen Postulate der konstruktivistischen Denkweise darzustellen, soweit sie auf die Geistesgeschichte Anwendung gefunden haben. Die Philosophie des Konstruktivismus geht davon aus, daß alle Erkenntnis von relativer Natur ist. Die Welt wird als eine konstruierte betrachtet, als solche von jedem einzelnen erzeugt. Eine absolute Wirklichkeit gibt es nicht. Diese Grundeinsichten gelten konsequenterweise auch für Vergangenes. Der eigentliche Ort der historischen Welt ist paradoxerweise nicht die Vergangenheit, sondern das Bewußtsein der heute und jetzt Lebenden. Bereits der Vorgang der Auswahl der Fakten und Daten sowie der Aufweis ihrer Evidenz ist Resultat einer kognitiven Konstruktion. Historiographische Konstruktionen gehen nicht von Daten aus, sondern von Orientierungen über Abläufe von Geschehnissen in der Vergangenheit, Hypothesen, Vorstellungen, Interessen etc., die im Gegenwärtigen verankert sind, leiten die Arbeit des Historikers; erst durch sie wird so etwas wie ,Geschichte' bewußt. Letztendlich gibt es ohne Verfügbarkeit willkürlich gewählter Standpunkte bzw. theoretischer Konzepte keine geschichtliche Erkenntnis. Phänomene wie Subjektivismus, Perspektivismus, Parteilichkeit oder Selektivität sind konstruktive methodische Prinzipien historischer Forschung. Es gilt nach der konstruktivistischen Sichtweise

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das Primat der Nicht-Objektivität bei der Wiedergabe geschichtlicher Zusammenhänge. Allerdings leugnet der konstruktivistisch verfahrende Historiker nicht die Tatsache, daß Menschen in der Vergangenheit anders dachten und lebten als unter den Bedingungen, die für diesen Historiker in bezug auf seine Wahrnehmungen von Geschichte maßgebend sind. Es wird lediglich konzediert, daß geschichtliche Realität naiverweise nicht abgebildet werden könne. Eine weitere Konsequenz ist die folgende: Rückt der Konstruktivismus den Vorgang der Wahrnehmung von Realität (auch von geschichtlicher Realität) in das Blickfeld, dann wird klar, daß der Historiker sein Interesse vornehmlich auf die jeweils unterschiedlich akzentuierten Wirklichkeitsperzeptionen der jeweils Handelnden in vergangenen Epochen richten wird. Es wäre also z. B. falsch - wie Vera Nünning angemerkt hat den Kriegseintritt der USA 1917 dadurch ,besser' erklären zu wollen, daß man einfach Daten anhäuft und präsentiert, die zwar allen Nachgeborenen evident sind, die aber den damals Handelnden in ihrer Gesamtheit gar nicht zugänglich gewesen waren. Zureichend ist allein eine Analyse der jeweils anders gelagerten Wirklichkeitsperzeptionen. Damit sind die Intentionen einer konstruktivistisch betriebenen Geistesgeschichte offengelegt. So meint der amerikanische Historiker Gordon S. Wood mit Blick auf die Analyse der Ursachen der amerikanischen Revolution im 18. Jahrhundert, daß Ideen Mittel sind, mit denen wir Realität auffassen, sie zu verstehen und zu beurteilen oder sie nach unseren Interessen zu manipulieren suchen. Sie formen die Struktur unserer sozialen Welt. Erst durch sie wird soziales Verhalten möglich. Die Bedeutungen, die wir der so erzeugten sozialen Wirklichkeit zuschreiben, werden bestimmt und begrenzt durch die jeweiligen sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten. So weist der historiographische Konstruktivismus auf die wachsende Bedeutung der unbewußten Einstellungen, Denkstrukturen und Mentalitäten hin, die nicht unmittelbar und explizit in durchreflektierte Ideensysteme eingegangen sind, diese gleichwohl aber zumindest mitbedingten. Diese Vorstellungen zwingen den Ideenhistoriker zu einem Umdenken hinsichtlich der Wahl seines Quellenmaterials. Alle Quellen werden nun relevant, die die Wahrnehmungsstereotypen historischer Gruppen oder Individualitäten erkennen lassen. Zwar ist das Prinzip der Schriftlichkeit und die Bezugnahme auf Texte auch für den Konstruktivismus weiterhin bindend; doch wird man sich angewöhnen müssen, auch nichtsprachliche Äußerungsformen historischer Epochen an zentraler Stelle in die Analyse miteinzubeziehen. Um im engeren Felde der politischen Ideengeschichte zu bleiben: Es werden Ausdrucksweisen und Formelemente der politischen Symbolik, der politischen Ikonographie oder der politischen Architektur verstärkt herangezogen werden müssen. Auch das biographische Moment kommt hier stärker zur Geltung. David Lindenfeld (1988, 35, 40) hat so auf die Vorbildfunktion bestimmter Personen für die Wertvorstellungen ganzer Gruppen aufmerksam gemacht. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, daß historische Quellen nicht die Wirklichkeit als solche reproduzieren, sondern eigentlich nur etwas über die Einstellungen, Vorurteile etc. ihrer Verfasser aussagen. Wenn dem so sei, dann ist die Ideengeschichte konstruktivistischer Provenienz kein Arbeitsgebiet unter anderen innerhalb der historischen Wissenschaften, sondern vielmehr ihre Grundlage. Damit berührt sie sich mit den älteren Auffassungen Collingwoods (s.o.). Interessanter erscheint die Verknüpfung der „context"-Theorie im Sinne Quentin Skinners. Ähnlich wie dieser Ansatz hat sich auch der Konstruktivismus darum bemüht, den Stellenwert der Sprache und damit verbunden des Textes als Mittel der Selbstäußerung von historischen Kulturen und Individuen herauszuarbeiten.

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8.2. Dekonstruktivismus Der Dekonstruktivismus, vor allem wie er in Frankreich durch die Arbeiten Jacques Derridas in die zeitgenössische philosophische Diskussion eingeführt worden ist, ist eine erklärte Gegenbewegung gegen das metaphysische Denken. In dieser Hinsicht berührt er sich mit der Fundamentalontologie Heideggers, dessen Denken ja auf eine Destruktion der Metaphysik seit ihren Anfängen in der griechischen Philosophie hinausläuft. Der Dekonstruktivismus zielt auf Zerstörung ab, auf die Auflösung allen bisherigen Denkens, soweit dieses sich auf die metaphysische Tradition berufen kann. Diese Tradition - mindestens bis Hegel - hat stets das Eine, das Identische im Blick gehabt. Es war eine Philosophie der Identität. Das Ursprüngliche war stets als etwas Eines gedacht. Nicht als Antagonisten, sondern als Supplement setzt nun Derrida das Differente, aber nicht so, daß dieses einfach die Stelle des Identischen einnimmt und so wieder nur in die Rolle des Einen schlüpft. In dem Moment der Differenz sieht Derrida immer ein Zugleich, kein Ursprüngliches und ein diesem Nachgeordnetes; d.h., es gibt nicht den Einen Ursprung, sondern ein Ursprungsgeschehen, das in sich different ist. Die Hierarchie des Denkens wird umgewandelt in ein Nebeneinander. Die Philosophie der Differenz ist auf Vielheit und Vieldeutigkeit aus, nicht mehr, wie das klassische Ursprungsdenken, auf Eindeutigkeit. Derrida versucht diese Grundstruktur an dem Verhältnis von Sprache und Schrift herauszupräparieren. Seiner Ansicht nach war alle bisherige Metaphysik phonozentristisch, auf die Sprache hin ausgelegt. Piaton selbst war es ja gewesen, der ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Schrift hegte (in seinem Siebten Brief, 341aff., sowie im Dialog Phaidros, 274bff.). Derrida zufolge ist es aber gerade die Schrift, die, indem das durch sie Bezeichnete sich sozusagen von Autor und Adressat gleicherweise entfernt und verselbständigt, die Veränderbarkeit und die Differenz der Bedeutungen, die in dem Geschriebenen zum Ausdruck kommen sollen, erzeugt. Die Schrift ist kein Zeichen mehr, dem eine ,äußere' Sache entspricht, sondern als Spur aufzufassen, die auf etwas anderes verweist, das nicht unmittelbar gegenwärtig ist, und das wieder auf anderes verweist. Texte, als Produkte von Schreiben, stehen somit nicht in Beziehung zu sozialen Realitäten, sondern wieder zu anderen Texten eines gegebenen Beziehungsgeflechts. Es gibt nach Derrida kein Text-Äußeres. Den Texten ist eigentümlich, daß sie keine Bedeutung festschreiben, sondern sich stets anderen Interpretationen öffnen. Wenn wir verstehen wollen, müssen wir mit Texten umgehen. Der Text hat etwas Offenbarendes, aber auch etwas Verborgenes an sich; er kann Wahrheit zeigen, er kann sie aber auch verborgen halten; er ist eben lediglich eine Spur, die zu dieser oder jener Interpretation hinführt. Ein Angriffspunkt des Dekonstruktivismus ist das Denken in Antinomien, das das abendländische Philosophieren ausgezeichnet habe. So ist „Chaos" der Oppositionsbegriff zu „Ordnung", „rational" der Oppositionsbegriff zu „irrational" etc. Im Bereich der Internationalen Beziehungen wäre „Krieg" der Oppositionsbegriff von „Frieden". In einer Analyse von Kenneth Waltz' Werk Man, the State, and War (1959) führt Richard Ashley aus, daß die Rationalität des westlichen Menschen - das Paradigma Waltz' - sozusagen das Chaos benötigt, um zu eigener Herrschaft zu gelangen. In Waltz' Konzept werde ohne Zweifel aus der Antinomie „Mensch Krieg" eine Hierarchie, in welcher das Bild des „Menschen" privilegiert werde. Dies ist ganz im Sinne des logozentristischen Verfahrens, das Ashley - auf Derrida aufbauend - dekonstruieren will. James Der Derian betont, daß sich mit Fragen der Internationalen Beziehungen beschäftigen heißt, sich auf einen intertextuellen Zusammenhang einzulassen, der keinen letztverbindlichen Schlichter von Wahrheit

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kennt. Michael J. Shapiro z.B. macht geltend, daß es die dekonstruktivistische Methode sei, die aufdecken könne, auf welche Weise bestimmte Bedeutungsmöglichkeiten institutionalisiert und festgeschrieben, andere Alternativen aber stärker marginalisiert werden. So wird versucht, das hierarchische Denken aufzulösen und Denkstrukturen sichtbar zu machen, die der Vergessenheit anheimgefallen sind. Shapiro bewertet dieses Phänomen nicht als einen psychologischen Affekt, sondern als ein textuelles Problem, denn es handelt sich um ein in Texten niedergelegtes und so institutionalisiertes Vergessen.

Epilog I: Korrektes Interpretieren „Can our understanding of old texts be objective?" - Ist diese Frage, die der Ideenhistoriker C. Behan McCullagh 1991 in der Zeitschrift History and Theory (vol. 30,302 ff.) für einen methodologischen Artikel als Überschrift gewählt hat, nicht allzu berechtigt? Die gemachten Ausführungen legen dies zweifelsohne nahe. Die Variationsbreite der Auslegungsmodelle ist beträchtlich, und es zeigt sich deutlich, daß die innere Struktur der einzelnen Interpretationsweisen sehr vieles offenläßt, was die zitierte Frage bezweckt. McCullagh hat seine Position in Auseinandersetzung mit den Anschauungen Derridas und Gadamers gewonnen. Für ihn ist eine objektive und korrekte Auslegung prinzipiell möglich, sofern bestimmten Kriterien entsprochen wurde: Beachtung der semantischen und syntaktischen Regeln der Sprache, in der der jeweilige Text verfaßt ist; Beseitigung aller Zweideutigkeiten, die von diesen Regeln herrühren können; Voraussetzung eines in sich stimmigen „body of information". Erfüllt der Text diese Forderungen nicht, so muß auf den Kontext Bezug genommen werden; stößt auch dann noch eine angemessene Interpretation des fraglichen Textes auf Hindernisse, so muß versucht werden, die Intentionen des Autors zu rekonstruieren. Auf jeden Fall steht für McCullagh fest, daß diejenige historically correct Interpretation der „Wahrheit" am nächsten kommt, die von der Mehrheit der gebildeten Zeitgenossen des Autors geteilt worden ist. McCullagh glaubt, für sich eine Lösung gefunden zu haben, und er hat versucht, sie dem Leser mit plausiblen Argumenten schmackhaft zu machen. Doch können wir diesen Optimismus teilen? Was verschafft uns die Gewißheit, die alten Texte, wie McCullagh sich ausdrückte, korrekt interpretiert zu haben? Wie können wir dies ,beweisen'? Entspricht nur eine der oben beschriebenen Interpretationsmöglichkeiten dem Ideal wissenschaftlicher Korrektheit, oder verhält es sich doch vielleicht so, daß die objektive Auslegung von Texten auf dem Zusammenspiel möglichst vieler methodischer Perspektiven und der Berücksichtigung möglichst unterschiedlicher Gesichtspunkte basiert? Können wir wirklich alle Texte verstehen, wie es McCullagh stillschweigend annimmt (und mit ihm sicherlich viele Ideenforscher auch), oder gibt es auch Grenzen des Verstehens, die der Interpret nicht überschreiten kann? Ja, gibt es überhaupt eine Methode, Texte zu verstehen? Was soll z.B. ein Student von dem Satz des Philosophen Dieter Henrich halten: „Wir wissen noch nicht, wie philosophische Texte zu interpretieren sind." (1976, 9) Dieser sagt dies ausgerechnet mit Blick auf fast zweihundert Jahre Kant-Forschung, wo doch gerade Kant derjenige neuzeitliche Philosoph ist, der am besten erforscht ist. Steht das interpretierende Denken vor der Kapitulation? „Can our understanding of old texts be objective?" - die in dieser Frage aufgeworfene Problematik orientiert sich ausschließlich an Texten des europäischen Kulturkreises: Piaton, Locke, Swift, Machiavelli. Für uns sind das vertraute Namen, und wir

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wissen mit dem Werk, das durch sie zu uns spricht, durchaus etwas anzufangen. Problematisch wird es allerdings, wenn wir den Horizont unseres Verstehens weit darüber hinaus ausdehnen wollen, sowohl in geographischer als auch in zeitlicher Perspektive. Können wir mit dem methodischen Rüstzeug, mit dem wir klassisches und modernes europäisches politisches Denken zu enträtseln versuchen, auch das autochthone Denken nichteuropäischer Abkunft begreifen? Sehen wir uns nicht dazu genötigt, Verschiebungen in unserer mehr oder weniger gewohnten Fragestruktur vorzunehmen und zu andersgearteten Methoden zu greifen? Alles in allem bleibt die entscheidende Frage zurück, ob es eine Art universalistischen Zugriff auf Probleme des Verständnisses unterschiedlicher kultureller Zusammenhänge gibt, wie es die philosophische Hermeneutik ä la Gadamer postuliert. Oder leben wir in einer Welt voller Differenzen, wie es Derrida lehrt, deren Grundstruktur auf Unterscheidbarkeit und Individualisierung hinausläuft, eine Vorstellung, die es aber offenkundig erschwert, das Gespräch zwischen dem Verschiedenartigen überhaupt in Gang zu setzen? Ist in einer solchen Welt oder besser gesagt: Ist in einer solchen Pluralität von Welten so etwas wie Verstehen über die Grenzen hinweg überhaupt möglich? Können wir hier so etwas wie interkulturelle Dialogfähigkeit, die doch heute so dringend gefordert wird, überhaupt voranbringen? Stimmt es wirklich, wie der berühmte amerikanische Philosoph Nelson Goodman behauptet hat, daß wir nicht in einer, sondern in vielen Welten leben, sogenannten „Interpretationswelten" der Wissenschaftler, der Künstler etc. die völlig inkommensurabel seien? (1984). Würde diese These dann logischerweise nicht auch auf unterschiedliche Kulturen und Traditionen zutreffen? Oder würde es einen clash ofthe civilizations, einen Kampf der Kulturen, geben, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington glaubte feststellen zu müssen: auf der einen Seite die auf den Prinzipien von Menschenrechten, Toleranz und demokratischer Gesinnung gründenden westlichen Gesellschaften, auf der anderen Seite der eher fundamentalistisch orientierte muslimisch-konfuzianische Osten, der zum Angriff auf den Westen bläst? (1993). Die Aussichten wären zweifelsohne fatal. Würde danach grundsätzlich das Gespräch zwischen den unterschiedlichen Weltkulturen mißlingen? Nicht, weil wir verschiedenartige Sprachen sprechen und die adäquate Übersetzung der einen in die andere diesen Prozeß hemmen würde; sondern weil die einzelnen Kulturen, Gesellschaften durch ihre Traditionen ganz anders konditioniert sind und dies eine Verständigung per se erschwert. Gadamers hermeneutischer Ansatz suggeriert, daß das Gelingen des Gesprächs mit dem Partner einer fremdartigen Kulturtradition das Einverständnis in der Sache erzeugt. Damit ist freilich nicht gesagt, daß dadurch der Konflikt seines Charakters als Grundkonstante menschlichen Zusammenlebens entkleidet würde. Das Gespräch und qua diesem Einverständnis in einer Sache zu erzielen setzt ja oft den Konflikt als reale Vorgabe voraus. Aber es liegt doch nahe anzunehmen, daß allein schon die Bereitschaft, Konflikte anzugehen und gegebenenfalls aus dem Wege zu räumen, Bedingungen der Möglichkeit des Verstehenkönnens anderer Kulturen impliziert. Wenn man es eigentlich recht bedenkt, so ist der Maßstab des universalistisch ausgerichteten Europäers in seiner Beurteilung fremder Kulturen und fremden Denkens immer noch das rationalistisch-kantische Denken. Das Denken ist so ausgelegt, daß es allen Subjekten gemeinsam ist. Die Unterschiede kultureller, nationaler, gesellschaftlicher Art sind akzidentiell, zufälliger Natur und berühren das Wesentliche der menschlichen Erkenntnisweise nicht. Gewiß, das sind Begründungen der europäischen Geistesgeschichte. Aber man sollte dieser Geschichte auch

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dahin Gerechtigkeit widerfahren lassen, als umgekehrt nichteuropäische Kulturen, Gesellschaften etc. den Anspruch erheben, das europäische Denken verstanden zu haben, wenn sie sich darauf einlassen. Ob das dann in Kritik oder in Affirmation oder in einem Dritten endet, sei dahingestellt. Auf jeden Fall bleibt festzuhalten, daß auch hier Bedingungen der Möglichkeit von Verstehenkönnen freigelegt worden sind, wenngleich man sich über diese Bedingungen selbst nicht immer im klaren zu sein scheint. Im europäischen Denken hat Descartes hierbei vorgearbeitet und eine Tradition begründet, die später Leibniz aufgenommen und in seiner Auffassung von den sogenannten „eingeborenen Ideen" auf den Begriff zu bringen versucht hat: Ist die Seele tabula rasa, oder sind in ihr die Prinzipien verschiedener Ideen eingeschrieben und liefern die Sinne nicht allein partikuläre Wahrheiten? Wem dies zu metaphysisch ist, der möge bedenken, daß ein moderner Linguist wie Noam Chomsky in Leibniz einen Vorläufer und Gedankengeber seiner Theorie der Sprachkompetenz gesehen hat. Danach ist der Mensch mit einer sprachlichen Tiefenstruktur ausgestattet, die dem Geist gegenwärtig ist, welche mit der Oberflächenstruktur der Sprache durch bestimmte transformationelle Operationen verbunden wird. Es muß ein festes System generativer Prinzipien geben, nach dem so etwas wie Sprachbildung erfolgen kann (iSprache und Geist, 1973, 37). Und wem das noch nicht genügt, der sei auf die Erkenntnisse evolutionstheoretischer Arbeiten verwiesen. Diese wenigen Hinweise sollen genügen zu vedeutlichen, daß es durchaus Bedingungen der Möglichkeit interkultureller Verständigung gibt, Verständigung im Gespräch mit dem fremden Partner, Verständigung im Gespräch mit dem fremden Text. Daß diese Möglichkeiten oft genug nicht wahrgenommen, sondern durch die Vorurteile spezifisch kultureller Art absorbiert werden, sollte freilich nicht einem ausweglosen Pessimismus weichen, der nur noch Differenzen sieht. Auf einen Aspekt muß hier freilich noch aufmerksam gemacht werden. Bisher haben wir es lediglich mit Kulturen, Gesellschaften, Traditionen zu tun gehabt, die ein Geschichtsbewußtsen auf der Grundlage von Schriftlichkeit entwickeln konnten. Wie verhält es sich aber hinsichtlich einer korrekten Interpretation der Auffassung vom Zusammenleben und der Organisation in schriftlosen Gesellschaften? Auch diese Völker gehören in den Gesichtskreis einer politischen Ideengeschichte. Wer einen Universalismus im Verstehenkönnen fremder Kulturen - und seien diese noch so ,primitiv', wie jahrhundertelang abschätzig gesagt wurde - , predigt, der muß sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Rüdiger Schott hat in seinem Aufsatz über Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker (1968) anhand einschlägiger Beispiele aus der ethnographischen Literatur überzeugend nachgewiesen, daß auch schriftlose Völker nicht geschichtslos und passives Objekt der Weltgeschichte sind, sondern durchaus über ein differenziertes Geschichtsbewußtsein verfügen. Dies kommt meist zum Vorschein (a) in der Berührung mit anderen ethnischen Gruppen, (b) im Kampf um Rechtstitel innerhalb der eigenen Ethnie, wenn es um deren Begründung geht, oder (c) wenn es um die Herausstellung von individuellen Persönlichkeiten geht. Geschichtsbewußtsein in sog. ,primitiven' Kulturen hat also eine recht praktische bzw. legitimatorische Funktion. Das Problem seiner zureichenden Analyse liegt auf der methodischen Ebene: Es fehlt eine halbwegs geordnete Zeitrechnung, um das mündlich Überlieferte datieren zu können. Ebenso müssen Ungenauigkeiten des mündlich Überlieferten selbst entweder in Kauf genommen oder der Versuch gemacht werden, sie zu eliminieren. Prinzipiell bleibt aber festzuhalten, daß auch bei schriftlosen Gesellschaften die Vergangenheit nicht zeitlos ist, sondern ihre Tradierung und - für den modernen Forscher - ihre Aufzeichnung wie bei den Schriftkultu-

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ren auch auf Projektionen der Gegenwart beruhen. Insofern mag es gerechtfertigt erscheinen, auch in diesem Falle die Instrumentarien universalistischer Verstehenslehren anwenden zu können.

Epilog II: Korrektes Übersetzen Wir sollten uns jetzt mit einem Problem beschäftigen, das im allgemeinen im Zusammenhang mit Fragen des Verstehens von Texten bzw. der interkulturellen Verständigung kaum wahrgenommen wird - zumindest im Kontext einer politischen Ideengeschichte nicht. Das offenkundige Desinteresse an Fragen der Übersetzung schriftlicher Zeugnisse oder sprachlicher Äußerungen mag wohl daher rühren, daß dieser Komplex allenfalls in seiner technisch-handwerklichen Dimension gesehen wird, aber ohne nähere Diskussion der weiterführenden Implikationen, die in ihm verborgen sind, die aber bedacht werden müssen. Das Studium der politischen Ideengeschichte wie überhaupt die Geschichte des Denkens, der Mentalitäten, Überzeugungen, Gesinnungen etc. lebt geradezu von Übersetzungen. Selbst wenn wir eine oder mehrere Sprachen relativ gut beherrschen, würden wir doch zu Übersetzungen - sofern welche vorlägen - greifen, sei es zur Kontrolle der eigenen Bemühungen, sei es, weil einfach die individuellen Kapazitäten beschränkt sind, um das in der fremden Sprache Mitgeteilte durchgängig verstehen zu können. Von Spezialisten der einen oder anderen Fremdsprache wird zwar immer wieder geltend gemacht, daß das Studium des Originals die beste und wohlmeinendste Übersetzung nicht ersetzen könne. Aber auch wenn wir dazu imstande wären: Das Übersetzen als selbsttätiger Vorgang des verstehenden Aneignens eines noch Fremden bliebe der Ausnahmefall, zumindest was die Möglichkeit betrifft, die entsprechenden Texte im Original zu lesen. Uns bleibt demnach nichts anderes übrig, als uns in aller Regel Übersetzungen anzuvertrauen, von denen wir annehmen, daß sie die Vorlage „korrekt" dem Leser verdolmetschen. Können wir uns aber darauf verlassen? Diese Frage stellt sich jemand, der in diese Materie involviert ist, durchaus, aber ist sie auch zwingend zu stellen von jemandem, der in dieser Hinsicht natürlicherweise noch gar nicht von irgendwelchen Zweifeln befallen ist? Und wenn diese Frage aufgeworfen wird: Welches ist der Maßstab, nach dem der Wert oder die .Richtigkeit' einer Übersetzung bestimmt werden kann? Schon allein die Tatsache, daß es von ein und demselben Werk ein halbes Dutzend Übersetzungen geben kann, und zwar parallel, nicht zwangsläufig zeitlich nachgeordnet, müßte stutzig machen. Glaubt der eine Übersetzer den anderen übertrumpfen zu müssen in dem Glauben, dieser habe ungenau, regelwidrig, unangemessen oder gar schlampig übersetzt? Bedeutet nicht - das formalistisch-technische Ideal vor Augen Übersetzen eigentlich so etwas wie „Wort für Wort übersetzen", und wäre dann nicht so etwas wie Wortgewandtheit das Grundgerüst korrekter Übersetzungskunst? Gibt es nicht die objektive Übersetzung? Man könnte sagen, daß diese Objektivität auch dadurch nicht aufgeweicht werden dürfte, wenn bekannt wäre, daß ein englisches Wort z. B. durch zwei oder drei Synonyma ins Deutsche übertragen werden könnte. Hauptsache, sie meinten dasselbe. So oder so ähnlich würde jemand argumentieren, der von dem Faktum der ,Unangreifbarkeit' sprachlicher Ausdrücke und ihrer Bedeutungen durch subjektivistisch getränkte Empfindungen, Gefühlslagen u.ä. ausginge. Aber erinnern wir uns, was oben über die Annahmen und Ergebnisse der philosophischen Hermeneutik ausgeführt worden ist: Übersetzen ist stets ein Akt des Verstehens von Texten. Und da es einen archimedischen Punkt des Verstehens nicht

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geben kann, wir uns also immer zu der Sache, auf die wir uns eingelassen haben, interpretierend verhalten, greifen auch dieselben Kategorien der Hermeneutik, die wir oben kennengelernt haben. Jede Übersetzung ist also eine Interpretation, und der Wert einer Übersetzung bemißt sich somit weniger nach der technisch-formalen Qualität, in der sie dem Original zu entsprechen sucht, sondern in ganz entschiedener Weise nach der argumentativ-vernünftigen Freilegung des Gesichtspunktes, von der her sich das je und je verschiedenartige Interpretieren leitet. Wenn wir uns unserer Situationsgebundenheit eingedenk sind, können wir auch ermessen, ob wir ,korrekt' übersetzen, ohne den Anspruch an die ,Richtigkeit' oder Gültigkeit des Übersetzten aufgeben zu müssen. Übersetzen ist dann nicht mehr bloße Reproduktion einer fremden Sprache in die eigene, sondern - im Falle der Literatur - so etwas wie Nachdichten oder - im Falle der Wissenschaft - Nachdenken. Hierin sind sich die Überlegungen Gadamers (Wahrheit u. Methode, 389) und Karl Dedecius', des bedeutenden Übersetzers slawischer Literatur, ähnlich (Vom Übersetzen, 45). Darin liegt auch die,wahre' Einlösung der Forderung nach der adaequatio in rei in bezug auf den Übersetzungsvorgang: die Überlagerung des Wortkontextes durch den Textkontext, dessen Überlagerung durch den kulturellen Kontext, in den er eingebunden bleibt auf der einen Seite der Gleichung, die Überlagerung der technischen Kompetenz des Übersetzers durch eine erkenntnistheoretische Kompetenz und deren Überlagerung durch Gesellschaft und Kultur vorgegebene ,Kompetenz', Art und Weise des Fragens auf der anderen Seite. Fragen des Übersetzens sind also keine Nebensächlichkeiten, Randprobleme oder zu vernachlässigende Größen, die allenfalls den Spezialisten angehen. In ihnen spiegelt sich eine Sonderform des Verstehens und Interpretierens von Geschriebenem und Gesagtem. Selbst bei der ,getreuen' bzw. sachadäquaten Wiedergabe einzelner Wörter tauchen zwangsläufig diese Probleme auf. Nehmen wir als Beispiel das griechische Wort polis. Die Übersetzungen sind hier sehr unterschiedlich, und jeder liegt eine eigene Interpretation zugrunde. Wie soll man ,korrekt' übersetzen? Soll man polis mit Staat bzw. State (so bei Gigon oder Susemihl bzw. Jowett), mit Staatsverband (so bei Schütrumpf) oder aber mit city-state (Rackham) oder einfach mit city (Lord) übersetzen? Oder soll man polis einfach unübersetzt übernehmen? Aber erst recht müßte man dann für den Gesamtkontext, in dem das Wort steht, von bestimmten Vorstellungen geleitet werden, was mit polis durch die griechischen Autoren zum Ausdruck gebracht werden sollte. Mir scheint, daß die letztere Übertragung die ,getreueste' ist, heißt doch polis in seiner ursprünglichen Bedeutung Stadt, eingeschlossen die Gegend, insofern sie durch Gründung einer Stadt von Menschen bewohnt wird (so die Erläuterungen in Passows Handwörterbuch d. Griech. Sprache, II, 989). Wie kann man denn - so läßt sich völlig legitim fragen - polis mit Staat bzw. Staatsverband wiedergeben, wenn wir mit diesen beiden Begriffen - vor allem in Deutschland - ganz andere Vorstellungen verbinden. Eckart Schütrumpf hat in den Erläuterungen zu seiner Politik-Ausgabe Überlegungen zur sachgerechten Übertragung von polis angestellt, die hier deswegen knapp resümiert werden, weil sie auf einen Sachverhalt verweisen, der das Grunddilemma, ja sogar die Aporie der herrschenden historischen Interpretation bezeichnet. Zunächst grenzt Schütrumpf die Übersetzung von polis auf die beiden Ausdrücke Staat und Stadt ein. Dann fährt er fort, daß er die Wiedergabe mit Stadt „in jedem Falle" für irreführend hält. Schütrumpf begründet dies damit, daß die neuzeitlichen Städte - und an diese sei bei jeder Übersetzung von polis zu denken - keine Souveränität in bezug auf die autonome Bewältigung ihrer Aufgaben mehr besäßen; ihre politische Selbständigkeit

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sei durch die Übertragung von immer mehr Hoheitsbereichen auf übergeordnete Gebietskörperschafen sukzessive ausgehöhlt worden. Da dies aber für die griechische polis so nicht zutreffe, sei polis auch dem Sinne nach mit Staat, nicht mit Stadt zu übersetzen (Schütrumpf, 173f.). Dies Beispiel ist lediglich ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie verwickelt ein Übersetzungsvorgang sein kann, wie beschwerlich es wird, die Gratwanderung zwischen den eigenen zeitgebundenen Vorstellungen und .Vorurteilen' und der berechtigten Forderung nach einer zureichenden Beschreibung historischer Zeiten zu bestehen. Die politische Ideengeschichte ist voll von derartigen Problemen. Übersetzungen, weil sie eben Interpretationen sind, sind in der Lage, das Werk eines Denkers dem Vorurteil des eigenen Traditionszusammenhangs unverhältnismäßig anzugleichen. Als Beleg mögen unangemessene Übersetzungen einer Stelle aus Hegels Rechtsphilosophie ins Englische angeführt werden. Im Zusatz zu § 258 heißt es: „(e)s ist der Gang Gottes in der Welt, daß der Staat ist..." In den englischen Übersetzungen heißt es (1): „The State is the march of God through the world." (2): „The existence of the State is the presence of God upon Earth" . Und (3): „The march of God in the world, that is what the State is." (Nachweise bei Avineri, 393). Wir sehen: Nicht nur sind diese Übersetzungen im semantischen Sinne recht zweifelhaft; Hegel wird durch die Übersetzungen darüber hinaus so uminterpretiert, daß das Vorurteil des angelsächsischen liberalistischen Denkens, in Hegel den Vorläufer von Autoritarismus und Totalitarismus zu erkennen, befestigt wird - eine Leseart, zu der sich der .unvoreingenommene' Leser gedrängt sieht. Das Beispiel erhellt, daß Übersetzungen - in welche Sprachen auch immer - nicht nur eine interpretatorische, sondern auch eine wirkungsgeschichtliche Dimension aufweisen. Denn die Auslegung, die einer bestimmten Übersetzung zugrundeliegt, dient ja schließlich als Arbeitsbasis für diejenigen Interpreten, die auf die einzelnen Übersetzungen angewiesen sind. Richard T. Gray hat diesen Sachverhalt mit Blick auf die Übersetzungsgeschichte Nietzsches ins Englische herausgestellt. So habe der maßgebliche amerikanische Nietzsche-Interpret Walter Kaufmann in seiner Umdeutung des Philosophen ins Psychologische und seiner Herauslösung aus dem metaphysischen Kontext dies auch in seine Übersetzungen miteinfließen lassen. Das in der englischsprachigen Hegel-Tradition verwendete sublation für Aufhebung wird bei Kaufmann mit self-overcoming übersetzt, ein Begriff, der die Freudsche Theorie assoziieren soll. Zentraler ist die Wiedergabe einer Nietzsche unterstellten konsistenten Argumentationsführung durch Kaufmann. Nach Gray führt diese Annahme einer gleichbleibenden Philosophie zu einer bewußten Gleichmäßigkeit in der Übersetzungspraxis (Gray, 692ff.). Das Problem des sachgerechten Übersetzens wird weiter ausgezogen durch Überlegungen, die Barry Smith angestellt hat: „ Über die Nichtübersetzbarkeit der deutschen Philosophie". Hier geht es nun nicht mehr allein um einzelne semantisch-philologische Schwierigkeiten oder wirkungsgeschichtliche Gesichtspunkte, sondern darum, ob man nationalen Denkstilen - auch wenn sie demselben Kulturkreis angehören - in Übersetzungen überhaupt gerecht werden kann. Als Beweis für die Asymmetrie deutsch- und englischsprachiger philosophischer Texte (englischsprachige philosophische Texte seien verständlicher und daher auch leichter zu übersetzen als deutschsprachige) nennt Smith neben syntaktischen, historischen und literarisch-poetischen Gründen die Nähe der deutschen Philosophie zu den intellektuellen Zeitströmungen und zum politischen Leben als einen vierten (gesellschaftspolitischen) Grund, wohingegen englische Philosophen als Repräsentanten eines professionalisierten Faches

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angesehen werden, die vor allem die Technik des Argumentierens pflegen. Deutsche Philosophen antworten darauf, daß ihre englischen Kollegen unfähig seien, einen genuin philosophischen Gedanken überhaupt zu denken. So seien daher alle bisherigen Versuche, Heidegger ins Englische zu übertragen, kläglich gescheitert. Man muß das ganze Verkettungssystem der von Heidegger verwendeten Begriffe kennen, um den begrifflichen Inhalt von dessen Sprache fassen zu können. Wie soll dies aber im angelsächsischen Raum bewerkstelligt werden, wenn doch die Ausbildungstradition im Philosophiestudium darin begründet sei, von vorgegebenen, prästabilisierten, sozusagen atomaren Begriffen auszugehen, um zu lernen, mit diesem Instrumentarium umzugehen? Deutsche Philosophiestudenten würden im Gegensatz dazu angehalten, nicht .eigenständig' zu philosophieren, sondern sich ganz in das Werk einzelner .großer Denker' zu versenken. „Sie lernen nicht, wie man über diese oder jene philosophische Position oder Idee nachdenkt, sondern . . . wie man durch Hegel oder Heidegger philosophiert" (Smith, 299, Hervorheb. i. Text). Wenn schon die Übersetzungstätigkeit innerhalb eines Traditionskontextes - hier des abendländischen - auf beträchtliche Schwierigkeiten stößt, wie muß es dann um die ,Angleichung' eines gänzlich fremden Kulturkreises an die eigene Vorstellungswelt stehen! Mit Bezug auf die Philosophie meint Smith, daß das Vorhandensein einer holistischen Struktur in der Begriffssprache einer Philosophie die Wahrscheinlichkeit ihrer Übersetzbarkeit erhöhe; dies gelte für alle okzidentalen, aber auch für die großen orientalischen Systeme (nur die angelsächsische Philosophie falle aus diesem Rahmen). Von daher mag die Aufgabe lösbar sein, Texte der arabischen, chinesischen oder indischen Philosophie in Übersetzungen vermittelt zu bekommen und ihre Botschaften auch verstehen zu können. Aber wie verhält es sich mit dem weitaus komplexeren Gebiet der Mentalitäten, der Glaubens- und Lebensvorstellungen, Ideologien usw., die gewöhnlich nicht in begrifflicher Strenge in Erscheinung treten? Ist in dieser Hinsicht für einen politischen Ideenhistoriker ,Verstehen' überhaupt möglich? Daß auch die empirische Forschung mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, bezeugt die vergleichende Umfrageforschung, z.B. bei der Erstellung eines Fragebogens, der für unterschiedliche sprachliche Kontexte allgemeinverbindlich und anwendbar sein soll (Niedermayer, 1987, 68f., Schmitt, 1994, 43). Gerade in einer Zeit, welche sich mit einem offensichtlich unbezähmbaren Aufleben fundamentalistischer, aber auch ethnozentristischer Tendenzen planetarischen Ausmaßes konfrontiert sieht, ist diese Frage alles andere als unerheblich, und ich vermag nicht zu sehen, wie sie angegangen werden soll, ohne zuvor der Frage nach der Übersetzbarkeit unterschiedlicher und oft gegensätzlicher Zeugnisse nachzugehen. Davor muß aber wiederum die Einsicht liegen, daß die eigene Sprachwelt die Möglichkeit in sich trägt, ihre Schranken zu durchbrechen und die Verständigung mit fremden Traditionen zu suchen und auch zu bestehen. Denn immer, wie Gadamer ausgeführt hat, „ist es eine menschliche, d.h. eine sprachverfaßte Welt, die sich . . . darstellt" und somit grundsätzlich offen für jede Erweiterung des eigenen Weltbildes (Wahrheit u. Methode, 451).

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VIII. Streitfragen Lücken und Streitfragen in bezug auf die ideengeschichtliche Forschung ergeben sich zum Teil aus dem bisher Gesagten, zum Teil aus zusätzlichen Überlegungen:

1. Gegenstandserweiterung (a) Die herkömmliche Ideengeschichtsschreibung, soweit sie sich der europäischwestlichen Tradition zugehörig fühlt, also auch in der deutschen Politikwissenschaft dominierend wirkt, befindet sich in einem Dilemma. Auf der einen Seite betreibt sie ihr Metier unter dem Signum universalistischer Gültigkeit. Auf der anderen Seite ist dieser geforderte Universalismus aus dem Schatten eines verengten Europazentrismus eigentlich nie herausgekommen. Der Sinn für die Erforschung außereuropäischer geistiger Traditionen - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - war dem Kontext politologischer Ideengeschichtsschreibung bislang fremd, und wenn nicht alles täuscht, wird sich an diesem Zustand auf Dauer nichts Entscheidendes ändern. Das ist bedauerlich. Man überläßt damit das Feld kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie den Ostasienwissenschaften, der Afrikanistik, der Ethnologie, der Kulturanthropologie, der Prähistorie, der Semitistik und anderen, die an ihr Material eben nicht mit den Fragestellungen herantreten, die für Politikwissenschaftler maßgebend sind. Wer die aktuellen politischen Konfliktlagen in den europäischen und außereuropäischen Regionen verstehen will, der muß sich unweigerlich mit den Denkgewohnheiten der beteiligten autochthonen Gruppierungen auseinandersetzen, die deren Interessen und Ansprüchen zugrundeliegen. Natürlich sind damit gewaltige methodische Probleme verbunden, die im Rahmen von politikwissenschaftlicher Forschung, Lehre und Ausbildung mitnichten gelöst werden können. Aber es muß wenigstens so etwas wie Bereitschaft erkennbar sein, sich dieser terra incognita zu nähern. (b) Aber selbst auf ihrem auf das westliche Verständnis fixierten Gebiet hat die politische Ideengeschichte noch unbeackertes Gelände vor sich. So erscheint z.B. als ein Defizit die Verengung des Blickwinkels auf die „Klassiker". Es ist allgemeine Konvention, daß sich die ideengeschichtliche Forschung grundsätzlich auf die Betrachtung der Gedanken und Gedankensysteme einzelner Persönlichkeiten beschränkt, auf die Untersuchung ihrer Gedanken, die Bedingungen ihres Entstehens und die Geschichte ihrer Wirkung. Durchaus mit einigem Recht geht man dabei von der Vorstellung aus, daß es nur einigen wenigen Menschen gegeben war, ihre Epoche gleichsam analytisch auf den Begriff zu bringen und von ihr ein tieferes Verständnis zu erhalten. Dem hat Reinhart Koselleck die Forderung entgegengestellt, daß als Quelle historischer Untersuchung nicht allein der Text eines großen Werkes dienen darf, sondern in gleicher Berechtigung daneben etwa auch ein anonymes Flugblatt. Nur so konnte Koselleck die Bedeutung der Illuminaten und Freimaurerbewegung im 18. Jahrhundert für den Prozeß der europäischen Aufklärung herausarbeiten. Denn die Wirkung dieser weit verstreuten Zirkel speiste sich ja geradezu durch diese Anonymität (Kritik und Krise, Frankf. 1973). Auch Ashcraft hat seine Neubewertung der Funktion von Lockes Treatise in einem politischen Gärungsprozeß nur deswegen vornehmen können, weil er politische Ideen nicht mit politischer Philosophie gleichgesetzt, sich also nicht nur auf „große Bücher" beschränkt, sondern sich auch anderer Quellen bedient hat. Reicht das aber aus, um politische Ideen, die eine bestimmte Epoche prägen,

VIII. Streitfragen

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verstehen zu können? Rechtfertigt sich die Wirkungskraft herrschender und formender Ideen allein aus dem Denken einer relativ kleinen Intellektuellenschicht? Es erscheint einigermaßen verwunderlich, daß selbst der sozialgeschichtliche Ansatz der Ideengeschichte auch nur auf halbem Wege stehen geblieben ist, sich allenfalls mit den materiellen Voraussetzungen des Denkens beschäftigt, aber nicht die Denkgewohnheiten und Mentalitäten der Zeit in den Blick genommen hat. Gerade was letzteren Punkt betrifft, die Analyse der Wirkungskraft einzelner Ideen auf die politischen und gesellschaftlichen Vorgänge der Zeit oder auf die nachfolgenden Generationen, so ist der Einfluß „klassischer" politischer Ideen oft gering geblieben, der Einfluß von weniger originellen Köpfen aber war ungleich größer, ganz abgesehen vom Einfluß der politischen Vorstellungen von Staatsmännern, Heerführern, Politikern und anderen. Müssen nicht auch sie Gegenstand der ideengeschichtlichen Forschung und des akademischen Unterrichts werden? Als Beispiel sei einmal der Begriff der Ideologie und seine heute geläufige pejorative Bedeutung genommen. Die Wendung, die dieser Begriff genommen hat, kann nicht nachvollzogen werden, wenn man sich nicht auf die Gedankengänge Napoleons einläßt. Napoleon nannte die Gruppe von französischen Intellektuellen, die seine diktatorische Politik anfeindeten und angeblich unterminierten, ideologu.es; ihre Lehren waren „Ideologien", Überzeugungen, denen eine staatsfeindliche Qualität zugeschrieben wurde. Eine ideengeschichtliche Diskussion dieses doch zentralen Begriffes der politischen Semantik sollte mit einem Studium der entsprechenden Schriften Bonapartes einsetzen.

2. Probleme des Materials Der Gesichtspunkt der Gegenstandserweiterung in der Ideengeschichtsschreibung setzt natürlich voraus, daß neue Materialien erschlossen werden müssen. Verharren wir zunächst einmal beim Hergebrachten, der Frage der Kanonisierung des politischen Denkens. (a) Editionsfragen: Ein erster Schwachpunkt berührt die Textsituation (s.o. Kap. VI). Wenn lediglich von einigen wenigen Klassikern des politischen Denkens vernünftige, für den wissenschaftlichen Unterricht brauchbare Ausgaben vorliegen, so spricht dies kaum für die Bereitschaft der Forscher, sich dem gewiß nicht einträglichen, aber unabdingbar notwendigen Geschäft der Herstellung von textkritischen Editionen oder wenigstens Einzelausgaben zu widmen. Eine Edition im geforderten Sinne zu veranstalten, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll, ist eine zeitaufwendige Sache, die fast generalstabsmäßig vorbereitet und geplant sein will, die Personal voraussetzt, das die Qualifikation und, was vielleicht noch weit mehr ins Gewicht fällt, den langen Atem besitzt, um ein derartiges Unternehmen auch durchzuziehen, eine Sache schließlich, die ohne eine gesicherte mittel- bis langfristige finanzielle Unterstützung nicht machbar ist. Hieran mangelt es in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Gewiß, die Klassiker des deutschen Idealismus wie Fichte und Hegel, um zwei Beispiele zu nehmen, sind in besten editorischen Händen. Dies alles mag verdeutlichen, daß das Arbeiten mit Texten - auch und gerade unter systematischen Gesichtspunkten - einem Drahtseilakt zwischen Sachadäquanz und Dilettantismus gleichkommt, und so wie die Dinge augenblicklich liegen, steht zu befürchten, daß dieser Zustand noch eine geraume Zeit anhalten dürfte. (b) Weitere Quellen: Der Sinologe Rudolf G. Wagner hat darauf aufmerksam gemacht (1992), wie durch eine sehr spezifische Textinterpretation die Bedeutung der chinesischen Literatur, insbesondere die des Theaters, und ihr politischer Stellenwert

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im Kontext der Epoche der Kampagnen der 50er Jahre charakterisiert werden kann. Wer über chinesisches politisches Denken gerade auch in der maoistischen Epoche etwas in Erfahrung bringen will, vor allem auch in bezug auf die permanenten Auseinandersetzungen einzelner Fraktionierungen innerhalb des Apparates, muß sich mit literarischen Texten befassen, die oft mehr Aufschluß geben als das einschlägige Propagandamaterial oder die politische Publizistik im engeren Sinne. An diesem Beispiel sollte lediglich gezeigt werden, daß der Ideenhistoriker sich nicht allein auf den ausgetretenen Pfaden kanonisierten politischen Denkens zu bewegen hat, sondern sich auf die Suche nach Quellen begeben sollte, die vielversprechende Einsichten in die Denkgewohnheiten einer bestimmten Epoche zutage fördern können. Man braucht übrigens gar nicht den Blick in die Ferne zu lenken, um sich dieser Forderung zu stellen. So hat Hans-Joachim Schoeps im Rahmen seiner Forschungen über die Zeitgeistentwicklung in Deutschland (s.o.) eine Vielfalt von Materialien erschlossen, die in der politischen Ideengeschichtsschreibung noch kaum genutzt worden sind: Predigten und Traktate, Enzyklopädien und Lexika, Biographien und Autobiographien, Tagebücher und Briefe, Karikaturen. Grundlage dieser Quellen sind traditionellerweise Texte, schriftliches Gut. Aber auch nichtschriftliche Quellen sollten herangezogen werden. Darüber ist in bezug auf Formen mündlicher Überlieferung schon gesprochen worden (s.o. Kap. IV). Ein Aspekt soll jedoch nicht unerwähnt bleiben. Schoeps hat auch auf die Bedeutung filmischen und photographischen Materials und seine Auswertung verwiesen. Ebenso ist die Bedeutung von Bildlichkeit und Visualisierung politischen Denkens unverkennbar. Normalerweise und aus systematischen Gründen hätte dieser zuletztgenannte Aspekt im Kapitel über die Kategorien ideengeschichtlicher Erkenntnis behandelt werden müssen. Der notorische Kampf mit dem Platz hat dies leider verhindert. Deshalb beschränke ich mich auf ein Beispiel aus der Kunstgeschichte, um wenigstens die Dimension aufzuzeigen, um die es hierbei geht: Bekanntlich hat eine der großen Kulturnationen Europas, nämlich die holländische, in ihrer Glanzzeit im 17. Jahrhundert keine eigenständige literarische Produktion im allgemeinen bzw. keine nennenswerte politische Denkkultur im besonderen auszubilden vermocht. Singulare Figuren wie Grotius oder Spinoza bestätigen als Ausnahmen eine solche Feststellung lediglich. Wie ist dies zu erklären? Hier hilft vielleicht die kunstgeschichtliche Forschung weiter. Die amerikanische Kunsthistorikerin Svetlana Alpers hat in ihrem bedeutenden Buch Kunst als Beschreibung gezeigt, daß das, was anderswo schriftlich ausgedrückt wurde, in Holland durch Bilder bewerkstelligt wurde. Dabei tritt - ganz im Sinne Bacons und Keplers - der schildernde und beschreibende, nicht der ikonographische Aspekt, also jener, der in tiefere Bedeutungsschichten vorzudringen sucht, in den Vordergrund. Die Malerei als Inbegriff einer Sehkultur - aber auch die Zeichnungen und die kartographischen Werke - bedeuteten nach Alpers für die Konstituierung eines holländischen Selbstbewußtseins im 17. Jahrhundert soviel wie etwa das Theater für das elisabethanische England. (Alpers 1985). Das Beispiel will natürlich nicht zeigen, daß die politischen Ideenhistoriker zu halben Kunsthistorikern erzogen werden sollen. Es soll aber klar machen, daß trotz der weitgehend fehlenden Schriftlichkeit politischer Ideen das politische Denken nicht „schweigt" oder gar „tot" ist, sondern sich nur in einer anderen Form darbietet.

IX. Literatur

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IX. Literatur 1. Hinweise Zu Kap. I: UNESCO, Hrsg.: Contemporary Political Science. A Survey of Methods, Research and Teaching. Paris 1950 (bes. Introduction, Iff.). - T . D. Weldon: Staaten und Staatsgesinnungen. Eine Studie über politische Konflikte (engl. 1946), Wuppertal 1948. - Evron M. Kirkpatrick/ William G. Andrews: United States of America, in: W. G. Andrews, Hrsg.: International Handbook of Political Science, Westport, Con., 1982, 364-382. - H a n s - H . Hartwich: Zur Lage und zu den Entwicklungsperspektiven der politikwissenschaftlichen Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland. Professionelle Leistungen und die Forderung nach mehr „Professionalisierung", in: ders., Hrsg.: Politikwissenschaft. Lehre und Studium zwischen Professionalisierung und Wissenschaftsimmanenz, Opladen 1987, 17-38. - John G. Gunnell: Political Theory: The Evolution of a Sub-Field, in: Political Science: The State of the Discipline, Washington 1983, 3-45. - Udo Bermbach: Über die Vernachlässigung der Theoriegeschichte als Teil der Politischen Wissenschaft, in: ders., Hrsg.: Politische Theoriegeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft (PVS-Sonderheft 15), Opladen 1984, 9-13. - Robert A. Dahl: Modern Political Analysis. Englewood Cliffs 1963 (dt. München 1973). - Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankf./M. 2. Aufl. 1988 (1984). - Kenneth R. Minogue: Method in Intellectual History: Quentin Skinner's Foundations, in: Philosophy 56,1981, 533-552. Zu Kap. II: Art. Philosophiegeschichte, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (künftig HWbPh), Bd. 7,1989,912ff. - Lutz Geldsetzer: Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philosophiegeschichtsschreibung und -betrachtung. Meisenheim 1968. - Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte (frz. 1973). Darmstadt 1990. Zu Kap. III: Walter Euchner: Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte, in: Gisela Kress/Dieter Senghaas, Hrsg.: Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankf. 1972,37-61. - Art Ideengeschichte, in: HWbPh, Bd. 4,1976.136ff.-R. G. Collingwood: Denken. Eine Autobiographie (engl. 1939). Stuttgart 1955. - Arthur O. Lovejoy: The Historiography of Ideas, in: ders.: Essays in the History of Ideas, Baltimore 1948,1-13. - Ders.: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (engl. 1933), Frankf./M. 1985. - Donald R. Kelley: What is happening to the History of Ideas?, in: Journal of the History of Ideas 51,1990, 3-25. Crane Brinton: Ideas and Men. The Story of Western Thought, Englewood Cliffs 1950. - Richard Rorty: The historiography of philosophy: four genres, in: Philosophy in History. Essays on the historiography of philosophy, Hrsg. R. Rorty/J. B. Schneewind/Qu. Skinner. Cambridge 1984, 49 -75. - Maurice Mandelbaum: The History of Ideas, Intellectual History, and the History of Philosophy, in: History & Theory, Beih. 5,1965,33-66. - Art. Geistesgeschichte, in: HWbPh, Bd. 3,1974,207ff. - H . J . Schoeps: Was ist und was will die Geistesgeschichte. Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung. Göttingen 1970. Zu Kap. IV: Klaus von Beyme: Politische Ideengeschichte. Probleme eines interdisziplinären Forschungsbereiches, Tübingen 1969. - Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankf./M. 1989. - Werner Hofmann: Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und20. Jahrhunderts, Berlin 1971. - Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1978 (1962). - Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. - Jack Goody: The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977. - Eric A. Havelock: Preface to Plato, Oxford 1963. - Ernst Heitsch: Wege zu Piaton. Beiträge zum Verständnis seines Argumentierens, Göttingen 1992, v.a. die Beiträge: Piatons Dialoge und Piatons Leser. Zum Problem einer Platon-Interpretation, 9-28, u.: Verständigung im Gespräch, 102-116. - Jürgen Miethke: Die mittelalterlichen Universi-

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täten und das gesprochene Wort, in: Historische Zeitschrift 251, 1990, 1-44. - Art. Problem, Problemgeschichte, in: HWbPh, Bd. 7, 1989, 1397ff. - Wilhelm Windelband: Geschichte der Philosophie, ihre Ziele und Wege (1988), in: ders.: Kleine Schriften, hrsg. v. O. Leuze, Bd. I, Berlin 1910, 410-480. - Nicolai Hartmann: Zur Methode der Philosophiegeschichte, in: KantStudien 15,1910, 459-485. - Ders.: Der philosophische Gedanke und seine Geschichte (1936), in: ders.: Kleinere Schriften, Bd. II, Berlin 1957,1-48. - Andrew Hacker: Capital and Carbuncles: The „Great Books" Reappraised, in: American Political Science Review 48, 1954, 775-786. Sheldon Wolin: Politics and Vision. Continuity and Innovation in Western Political Thought, Boston 1960. - Ulrich Steinvorth: Stationen der politischen Theorie. Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Hegel, Marx, Weber, Stuttgart 1981. - Paul Veyne: Kannten die Griechen die Demokratie? (frz. 1983), in: Chr. Meier/ders: Kannten die Griechen die Demokratie?, Berlin 1988, 13-44. Martin Jay: Marxism and Totality: The Adventures of a Concept from Lukacs to Habermas, Berkeley 1984. Zu Kap. V: William T. Bluhm: Theories of the Political System. Classics of Political Thougt and Modern Political Analysis, Englewood Cliffs 1965. - Art. Klassische (das), in: HWbPh, Bd. 4, 1976, 853ff. - Peter Häberle: Klassikertexte im Verfassungsleben, Berlin 1981. - Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1873), hrsg. v. M. Landmann, 1984. - J . B . Sanderson: The Historian and the,Masters' of Political Thought, in: Political Studies 16, 1968, 43 -54. - Dante Germino: The Contemporary Relevance of the Classics of Political Philosophy, in: Handbook of Political Science, ed. Polsby/Greenstein, Reading, Mass. 1975, Bd. I, 229-281. - Leo Strauss: What is Political Philosophy?, in: ders.: What is Political Philosophy? and other studies, Glencoe 1959, 9-55. - Dolf Sternberger: Drei Wurzeln der Politik, 2 Bde., Frankf./M. 1978. - Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986. - Assmann (s.o. Hinweise zu Kap. IV). - Leonard Nelson: Über die Bedeutung der Schule in der Philosophie (1918), in: ders.: Ges. Schriften in 9 Bänden, Bd. 1, Hamburg 1970,247-257. Zu Kap. VI: Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankf./M. 1983. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), eingeleit. v. M. Riedel, Frankf./M. 1981 (1971). - Georg Henrik von Wright: Erklären und Verstehen (engl. 1971), 3. Aufl. Meisenheim 1991. - Paul Ricaeur: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen, in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hrsg. v. H.-G. Gadamer u. G. Boehm, Frankf./M. 1978, 83-117. - Art. Hermeneutik, Interpretation, in: HWbPh, Bd. 3, 1974, 1061 ff., Bd. 4, 1976, 514ff. - Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Ges. Werke Bd. 1), 6. Aufl. Tübingen 1990 (1960). - F . D. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik (posthum 1838), hrsg. u. eingeleit. v. Manfred Frank, Frankf./M. 1977. - Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752). Neudr. Wien u.a. 1985. - Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. R. Hübner, 2. Aufl. München 1943. -Klaus von Beyme (s.o. Hinweise zu Kap. IV). - Günter Trautmann: Hat Theoriegeschichte Sinn? Anmerkungen zum Forschungsstand einer Teildisziplin, in: Politische Theoriengeschichte, Hrsg. U. Bermbach (PVS-Sonderh. 15), 1984, 250-280. - Herbert Kraft u.a.: Editionsphilologie, Darmstadt 1990. - Herbert Hunger u.a.: Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel (1961), München 1975. - Wilhelm Dilthey: Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie (1889), in: ders.: Ges. Schriften IV, Leipzig/Berlin 1921, 555-575. - H.-U. Lessing: Vollständigkeitsprinzip und Redundanz, in: editio. Internationales Jahrb. f. Editionswissenschaft 3,1989,18-27. - Walter Jaeschke u.a., Hrsg.: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte, Hamburg 1987. - Art. Exoterischlesoterisch, in: HWbPh, Bd. 2, 1972, 865 ff. - Aristoteles. Politik, Buch I (Werke Bd. 9, begr. v. E. Grumach, hrsg. v. H. Flashar), übers, u. erläut. v. Eckart Schütrumpf, Berlin 1991 (v.a. die Einleitung d. Hrsg. 37 ff.). - Konrad Gaiser: Piatons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963. -Hans-G. Gadamer u.a.: Idee und Zahl. Studien zur platonischen Philosophie. Abhandl. d. Heidelberger Akademie d. Wiss., phil.-hist. Klasse, 1968. - Hans-Chr. Lucas/O. Pöggeler, Hrsg.: Hegels Rechtsphilosophie im Zusamenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Stuttgart

IX. Literatur

231

1986. - Wolfgang Bonsiepen: Philologisch-textkritische Edition gegen buchstabengetreue Edition?, in: Hegel-Studien Bd. 19,1984,259-269. - Rolf-P. Horstmann: Der Kampf um den Buchstaben in der Hegel-Forschung der Gegenwart, in: Philosophische Rundschau, 1990,60-79.-Peter Laslett: Editorial Note, in: ders., Hrsg.: John Locke, Two Treatises of Government (1960), Cambridge 1988 (Cambridge Texts in the History of Political Thought), 127-133. Zu Kap. VII.: Art. Interpretation, immanente, in: HWbPh, Bd. 4, 1976, 517 f. - Heinz L. Arnold u. Volker Sinemus: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft, Bd. 1, 9. Aufl. München 1990 (1973), v.a. 341 ff. - Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte (1971), 4. Aufl. München 1977, v.a. 7-28. - Gregory Leyh: Toward a Constitutional Hermeneutics, in: American J. of Political Science 32,1988,369-387. - Hartwin Bungert: Zeitgenössische Strömungen in der amerikanischen Verfassungsinterpretation, in: Archiv d. öffentl. Rechts, 1992,71-99. - Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977 (v.a. § 2: Die Staatsrechtswissenschaft). - Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. Berlin u.a. 1969 (v.a. II, Kap. 3: Die Auslegung der Gesetze). Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft (1948), 11. Aufl. Bernu. München 1965. - H a n s Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankf./M. 1970. - Klaus von Beyme 1969 (s.o. Hinweise zu Kap. IV). - Klaus Koch: Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelexegese (1964), 3., verbess. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1973. Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, hrsg. v. Jürgen Miethke u. Mitarbeit v. Arnold Bühler, München 1992 (v.a. die Einleitung des Hrsg. Miethke, 1-23). John Plamenatz: Man and Society. A critical examination of some important social and political theories from Machiavelli to Marx, Bd. I, London 1978 (1963). - Michael P. Zuckert: Appropriation and Understanding in the History of Political Philosophy: On Quentin Skinner's Method, in: Interpretation 13, 1985 , 403-424. - Mark Bevir: The Errors of Linguistic Contextualism, in: History & Theory 31, 1992, 276-298. - Quentin Skinner: Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: History & Theory 8, 1969, 3-53. - Fred E. Schräder: Restauration und Revolution. Die Vorarbeiten zum „Kapital" von Karl Marx in seinen Studienheften 1850-1858, Hildesheim 1980. - Ludwig Witgenstein: Philosophische Untersuchungen (engl. 1958), Frankf./M. 1971. - John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words) (engl. 1962), 2. Aufl. Stuttgart 1979. - Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought, 2 Bde., London 1978. - Ders.: Machiavelli zur Einführung (engl. 1981), Hamburg 1988. - David Boucher: The Denial of Perennial Problems: The negative Side of Quentin Skinner's Theory, in: Interpretation 12,1984, 287-300. - Ders.: Texts in Context. Revisionist Methods for Studying the History of Ideas, Dordrecht 1985. - (Eine erste deutsche Zusammenfassung dieser Kontroverse konnte leider nicht mehr verarbeitet werden: Hartmut Rosa: Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der .Cambridge School' zur Metatheorie, in: PVS, 35. Jhg. 1994,197-223). Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991 (v.a. 9-46). - Ders.: Hegel im Kontext, Frankf./M. 1971.Martin Heidegger: Piatons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus", Bern, 1947. - Leo Strauss: Exoteric Teaching, Hrsg. K. H. Green, in: Interpretation 14, 1986, 51-59. - Ders.: Persecution and the Art of Writing, Glencoe 1952. - Jerry Z. Muller: Enttäuschung und Zweideutigkeit. Zur Geschichte rechter Sozialwissenschaftler im „Dritten Reich", in: Geschichte u. Gesellschaft 12,1986. 289-316. - Pierre Bourdieu: Die politische Ontotogie Martin Heideggers (frz. 1988), Frankf./M. 1988. Robert von Mohl: Geschichte der Literatur der Staatswissenschaften, in Monographien dargestellt (1853/55), Graz 1960. - John Neville Figgis: The Divine Right of Kings, Cambridge 1896. R. H. Tawney: Religion and the Rise of Capitalism (1926), Harmondsworth 1966. - Barrington Moore: Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt (engl. 1966), Frankf./M., 1974. - Wilfried Röhrich: Sozialgeschichte politischer Ideen. Die bürgerliche Gesellschaft, Reinbek, 1979. - Victor Wolfenstein: The revolutionary personality. Lenin, Trotsky, Gandhi, Princeton 1967. - Bruce Mazlish:

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Teil III: Politische Ideengeschichte

James and John Stuart Mill. Father and Son in the Nineteenth Century, New York 1975. - James W. Anderson: The Methodology of Psychological Biography, in: Journal of Interdisciplinary History 11, 1981, 455-475. - Arno Mohr: Die Rolle der Persönlichkeit in politischen Institutionen. Biographische Ansätze in der Politikwissenschaft, in: BIOS. Zeitschr. f. Biographieforschung u. Oral History, 1990, 225-236. - Klaus von Beyme (s.o. Hinweise zu Kap. IV). - Wilhelm H. Schröder: Kollektive Biographien in der historischen Sozialforschung: Eine Einführung, in: ders., Hrsg.: Lebenslaufund Gesellschaft. Zum Einsatz von kollektiven Biographien in der historischen Sozialforschung, Stuttgart 1985, 7-17. - Lawrence Stone: Prosopographie - englische Erfahrungen (engl. 1971), in: Konrad H. Jarausch, Hrsg.: Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten, Düsseldorf 1976, 64-97. C. B. MacPherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke (engl. 1962), Frankf./M. 1973 (1967). - Bernard Willms: Die politischen Ideen von Hobbes bis Ho Tschi Minh, 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1972. - Richard Ashcraft: Revolutionary Politics & Locke's Two Treatises of Government, Princeton 1986. - Euchner (s.o. Hinweise zu Kap. III). - Isaiah Berlin: Hobbes, Locke and Professor MacPherson, in: Political Quarterly, 1964, 444-468. Friedrich Engels: Einleitung zu „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1845-1850" (1895), MEW 22, 509-527. - Franz Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode (1934), Darmstadt 1976. - George Thomson: Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft, Bd. II: Die ersten Philosophen (engl. 1955), Berlin 1961. - Heide Gerstenberger: Materialistische Ansätze in der Analyse politischer Ideen, in: U. Bermbach, Hrsg.: Politische Theoriengeschichte (s.o. Hinweise zu Kap. I), 161-179. Joseph A. Schumpeter: History of Economic Analysis, New York 1954. - Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankf./M., 7. Aufl. 1974 (1964). - Max Horkheimer: Ideologie und Handeln (1951), in: ders.: Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972, Frankf./M. 1972,59 -67. - Theodor W. Adorno: Skoteinos oder Wie zu lesen sei, in: ders.: Drei Studien zu Hegel (1963), Frankf./M. 1974. - Ders.: Negative Dialektik (1967), Frankf./M. 1975. Alfred N. Whitehead: Verstehen (engl. 1938), in: Gadamer/Boehm, Hrsg.: Die Hermeneutik und die Wissenschaften (s.o. Hinweise zu Kap. VII), 63-82. - Spinoza: Tractatus theologicopoliticus (1670), Opera (lat.-dt.), Bd. 1, hrsg. v. G. Gawlicku. Fr. Niewöhner, Darmstadt 1979 (c. VII). -Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927), 15. Aufl. Tübingen 1979. - Hans-Georg Gadamer (s.o. Hinweise zu Kap. VI). - Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Werth der Hegel'sehen Philosophie (1857), Darmstadt 1962. - Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen (engl. 1944), 2. Aufl. Bern 1970(1958). - Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde (1961), 2. Aufl. Frankf./M. 1975. - Ders.: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (1951), Frankf./M. 1971 (1962). - Judith N. Shklar: Ideology Hunting: The Case of James Harrington, in: American Political Science Rev. 53,1959,662-692. - Edward H. Carr: Was ist Geschichte? (engl. 1961), Stuttgart u.a. 1969. - Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1934/35), in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, 2. Aufl. Frankf./ M. 1980 (1955), 136-169. - Manfred Geier: Der Wiener Kreis im Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1992. - Droysen (s.o. Hinweise zu Kap. VI). - Collingwood (s.o. Hinweise zu Kap. III). - Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung (1921), Frankf./M. 1963. - Theo Stammen: Theoriendynamik in der Politikwissenschaft, München 1976. - Sheldon Wolin: Paradigms and Political Theory, in: P. King/B. C. Parekh, Hrsg.: Politics and Experience, Cambridge, Mass., 1968,125-152. Gebhard Rusch u. Siegfried J. Schmidt, Hrsg.: Konstruktivismus: Geschichte und Anwendung (DELFIN 1992), Frankf./M. 1992 (darin v.a. Vera Nünning: Wahrnehmung und Wirklichkeit. Perspektiven einer konstruktivistischen Geistesgeschichte, 91-118). - Gebhard Rusch: Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte. Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankf./M. 1987. - G. S. Wood: Ideology and the Origins of Liberal America, in: William and Mary Quarterly 44, 1987, 628-640. - David F. Lindenfeld: On Systems and Embodiments as Categories for intellectual History, in: History & Theory 27,1988,30-50. - JaquesDerrida: Randgänge der Philosophie (frz.

IX. Literatur

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1972), Frankf./M. 1976. - Heinz Kimmerle: Derrida zur Einführung, 3. Aufl. Hamburg 1992 (1988). - Philippe Forget, Hrsg.: Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen..., München 1984. - Manfred Frank: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie, Frankf./M. 1980. - James Der Derian/ Michael J. Shapiro, Hrsg.: International/Intertextual Relations. Postmodern Readings of World Politics, Lexington 1989. Zum Epilog I: C. Behan McCullagh: Can our Understanding of old Texts be objective?, in: History & Theory 30,1991, 302-323. - Dieter Henrich: Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Sitz.bericht Heidelberger Akademie d. Wiss., Phil.-histor. Klasse, Heidelberg 1976. - Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung (engl. 1978), Frankf./M. 1984. - Samuel P. Huntington: Im Kampf der Kulturen, in: Die Zeit v. 13. 8. 1993. G. W. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1765 posthum), hrsg. v. W. Schüßler, Stuttgart 1993. - Noam Chomsky: Sprache und Geist (engl. 1968), Frankf./M. 1973. Rüdiger Schott: Das Geschichtsbewußtsein schriftloser Völker, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 12, 1968,166-205. Zum Epilog II: Gadamer (s. Hinweise zu Kap. VI). - Karl Dedecius: Vom Übersetzen. Theorie und Praxis. Frankf./M. 1986.-Aristoteles: Politik, übers, u. hrsg. v. Olaf Gigon, München 1973.Aristoteles: Politik, nach d. Übers, v. Franz Susemihl hrsg. v. Nelly Tsouyopoulos u. Ernesto Grassi, Reinbek 1968. - B. Jowett: Aristotle's Politics (The Works of Aristotle, ed. W. D. Ross, vol. 10), Oxford 1921 (Nachdruck 1961). - Schütrumpf (s. Hinweise zu Kap. VI). - Aristotle: Politics, transl. H. Rackham (The Loeb Classical Library), Cambridge, Mass., 1977 (nach der Ausgabe von 1944, zuerst 1932). - C. Lord: Aristotle The Politics, transl. and with an Introduction, Notes and Glossary, Chicago/London 1984. - Handwörterbuch der Griechischen Sprache begr. v. Franz Passow, 5. Aufl. Leipzig 1852. - Shlomo Avineri: Hegels Theorie des modernen Staates (engl. 1972), Frankf./M. 1976.-Richard T. Gray: Übersetzungsgeschichte als Wirkungsgeschichte. Überlegungen zur Erstellung einer, kritischen' anglo-amerikanischen Nietzsche-Ausgabe, in: Übersetzen, verstehen, Brücken bauen. Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im internationalen Kulturaustausch, Göttingen 1993, Teil I, 685-695. - Barry Smith: Über die Grenzen der Übersetzbarkeit: Eine philosophische Fallstudie, in: ebd., Teil II, 295-301. - Oskar Niedermayer: Vergleichende Umfrageforschung, in: Dirk Bergschlosser/Ferdinand Müller-Rommel, Hrsg.: Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1987, 63-77. - Hermann Schmitt: Befragung, in: D. Nohlen, Hrsg.: Lexikon der Politik, Bd. 2: Politikwissenschaftliche Methoden (hrsg. v. J. Kriz, Nohlen u. R.-O. Schultze), München 1994, 411ff. Zu Kap. VIII: Reinhard Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), 6. Aufl. Frankf. 1989 (1973). - Rudolf G. Wagner: Inside a Service Trade. Studies in Contemporary Chinese Prose, Cambridge, Mass., 1992. - Ders., Hrsg.: Literatur und Politik in der Volksrepublik China, Frankf./M. 1983 (v.a. Einleitung: Literatur als regulierte Selbstaufklärung, 11-21). - Svetlana Alpers: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts (amerik. 1983), Köln 1985. -

2. Weiterführende Literatur 1. Bibliographien Zu verweisen ist zunächst wieder auf die Bibliography ofPolitical Science (s. weiterführende Lit. des ersten Beitrages). - Auf jedenfall zu konsultieren - v.a. auch bei Spezialfragen - : Wilhelm Totok: Handbuch der Geschichte der Philosophie, Frankf./M.: Bd. I: Altertum: Indische, Chinesische, Griechisch-römische Philosophie (1964); II: Mittelalter (1973); III: Renaissance (1980); IV: Frühe Neuzeit: 17. Jahrhundert (1981); V: Bibliographie 18. und 19. Jahrhundert (1986); VI: Bibliographie 20. Jahrhundert (1990). - Ferner finden sich gute bis sehr gute Literaturverweise in den im Text genannten Handbüchern und Überblicken. -

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Teil III: Politische Ideengeschichte

2. Lexika Von zentraler Bedeutung für das Studium der Ideengeschichte sind die begriffsgeschichtlichen Lexika. In deutscher Sprache hier zu nennen sind: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter ( . . . ) und Karlfried Gründer, Basel u. Darmstadt 1971 ff. Insgesamt sind 12 Textbände sowie ein Registerband geplant; bisher erschienen sind 8 Bde. (letzter Bd. 8: R-Sc). Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Spache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner (...), Werner Conze ( . . . ) u. Reinhard Koselleck, 7 Bde., Stuttgart 1972ff. (abgeschlossen). - Daneben ganz nützlich: Lexikon der philosophischen Werke, hrsg. v. Franco Volpi u. Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988. - In englischer Sprache: The Blackwell Encyclopaedia ofPolitical Thought, ed. D. Miller, Oxford 1987. - Frz.: Dictionnaire des œvrespolitiques, ed François Châtelet, Olivier Duhamel, Evelyne Pisier, Paris 1986. -

3. Einführungen, Kompendien Neben den im Text genannten: Norbert Konegen, Hrsg.: Politikwissenschaft IV: Politische Philosophie und Erkenntnistheorie, Münster 1992. - Eberhard Braun u.a.: Politische Philosophie. Ein Lesebuch. Texte, Analysen, Kommentare, Reinbek 1984.-Leider noch fragmentarisch ist die völlig neubearbeitete Ausgabe vom Grundriß der Geschichte der Philosophie, begründet v. Fr. Ueberweg, Basel/Stuttgart. Bislang veröffentlicht: Die Philosophie der Antike, Bd. 3: Ältere Akademie. Aristoteles. Peripatos, hrsg. v. Hellmut Flashar, 1983; Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich und Niederlande, 2 Halbbde., 1993; Die Philosophie des 17. Jahrhunderts, Bde. 3/1 u. 3/2: England, 1988. - Als Einführung heranzuziehen ist in jedem Falle die vielbändige Geschichte der Philosophie, hrsg. v. Wolfgang Rod, München; bisher (Ende 1993) erschienen: Bd. I: Die Philosophie der Antike 1: Von Thaies bis DemokritÇW. Rod), 2. Aufl. 1988 (1976); II: Die Philosophie der Antike 2: Sophisitik und Sokrates, Plato und Aristoteles (A. Gräser),2. Aufl. 1993 (1976); / / / : Die Philosophie der Antike 3: Stoa, Epikureismus, Skepsis (M. Hossenfelder), 1985; VII: Die Philosophie der Neuzeit 1: Von Francis Bacon bis Spinoza (W. Rod), 1978; VIII: Die Philosophie der Neuzeit 2: Von Newton bis Rousseau (W. Rod), 1984; X: Die Philosophie der Neuzeit 4: Positivismus, Sozialismus und Spiritualismus im 19. Jahrhundert (St. Poggi/W. Rod), 1989. - Für das Studium äußerst wertvoll auch die Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, hrsg. v. Rüdiger Bubner, Stuttgart (Reclam): Bd. 1: Antike (W. Wieland), 1978; 2: Mittelalter (K. Flasch), 1982; 3: Renaissance und frühe Neuzeit (O. Stephan), 1984; 4: Empirismus (G. Gawlick), 1985; 5: Rationalismus (R. Specht), 1979; 6: Deutscherldealismus (R. Bubner), 1978; 7: 19. Jahrhundert (M. Riedel), 1981; 8: 20. Jahrhundert (R. Wiehl), 1981. Gunnar Skirbekk u. Niels Gilje: Geschichte der Philosophie. Eine Einführung in die europäische Philosophiegeschichte mit Blick auf die Geschichte der Wissenschaften und die politische Philosophie, 2 Bde. Frankf./M. 1993 (norweg. 1987). - Klassiker der Philosophie, hrsg. v. Ottfried Höffe, 2., verbesserte Aufl. München 1985, Bd. 1: Von den Vorsokratikern bis David Hume; 2: Von Immanuel Kant bis Jean Paul Sartre. Eine maßgebliche amerikanische Ausgabe: Leo Strauß/Joseph Cropsey, eds.: History of Political Philosophy (1963), 3. Aufl. Chicago 1987. - Eine Zusammenstellung einschlägiger Beiträge bietet: Schoolsof Thought in Politics, ed. Brian Bany, Aldershot; bisher erschienen: Bd. 1: Marxism, 2 vols., ed. M. Levi, 1991 ;2: Liberalism, 2 vols., ed. R. J. Arneson, 1991;3; The State and its Critics, 2 vols., ed. A. Levine, 1991; 4: Justice in Political Philosophy, ed. W. Kymblicka, 1992. -

4. Methodologie In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren ist eine uferlose Flut von Arbeiten zu methodologischen Fragen der Ideengeschichte erschienen, von denen die Hinweise oben lediglich einen sehr fragmentarischen Einblick geben. Auf diese Arbeiten wird verwiesen (dort auch dann jeweils

IX. Literatur

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weitere Angaben). Im folgenden soll lediglich auf die deutsche Diskussion verwiesen werden, die - zumindest im Rahmen der Fachpolitologie - kaum nennenswert ist. Lediglich zu Beginn der 80er Jahre ist in der Politischen Vierteljahresschrift (PVS) eine kurze Debatte über den Stellenwert der politischen Ideengeschichte aufgeflammt. Lothar Kramm: Vom Unsinn einer politischen Ideengeschichte, in: PVS 22,1981, 168-180. - Udo Bermbach: Bemerkungen zur politischen Theoriegeschichte, ebd., 181-194. - Claus E. Bärsch: Vom Sinn der Politischen Ideengeschichte für das Studium, ebd., 327-333. - Günther Nonnenmacher: Ideengeschichte zwischen Un-Sinn und Unmöglichkeit, ebd., 423-431. - Die Diskussion ist mit dem Erscheinen des PVS-Sonderheftes 15/1984 Politische Theoriengeschichte, hrsg. v. Udo Bermbach, fortgesetzt worden. Seitdem scheint die Forschung in der sachlichen Bearbeitung ihrer Problemfelder aufgegangen. Zu erwähnen ist allenfalls noch ein Artikel von Wolfgang C. Müller: Politische Theorie und Ideengeschichte: Wozu?, in: Österreichische Ztschr. f. Politikwissenschaft, 23,1994, 213-228. -

5. Fachzeitschriften (teils, die nur, teils, die überdurchschnittlich ideengeschichtliche Beiträge bringen): Archiv für Begriffsgeschichte, 1955 ff. Archiv fir Rechts- und Sozialphilosophie, 1907/08ff. (bis Jhg. 26 [1932/33] als Archiv f. Rechtsund Wirtschaftsphilosophie) History of Political Thought, 1980ff. History & Theory: Studies in the Philosophy of History, 1960/61 ff. Interpretations. A Journal of Political Philosophy, 1970ff. Journal of the History of Ideas, 1940ff. Political Theory, 1972 ff. Review of Politics, 1939 ff. Politisches Denken. Jahrbuch d. Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens, 1991 f. Der Staat, 1962ff.

Teil IY: Politische Systeme (Arno Waschkuhn)

I. Das Thema Politische Systeme dienen der Herstellung allgemeinverbindlicher Entscheidungen in einer Gesellschaft hinsichtlich öffentlicher Problemstellungen, wofür soziohistorisch jeweils bestimmte Institutionen und Verfahren eingerichtet sind oder sich ausgeformt haben. Sie sind gesellschaftlich-evolutionär oder politisch-revolutionär durch kollektives oder systemrelevantes Handeln entstanden und entsprechend auch nach wie vor veränderbar, sofern ihre Legitimationsbasis nicht mehr ausreicht. Sie sind dabei prinzipiell wie aktuell an Akzeptanz (Folgebereitschaft) und Durchsetzung als ihren Stabilitätsbedingungen gebunden und stehen generell im stets gegebenen Spannungsfeld von Statik und Dynamik gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse oder Prozeßabläufe mit unübersehbaren und unbeabsichtigten interdependenten Handlungsnebenfolgen. Politische Systeme reduzieren Weltkomplexität und bilden eine steigerungsfähige Eigenkomplexität aus; sie sind funktional spezifiziert auf das Systemziel der Bestandswahrung durch Anpassungsflexibilität im Hinblick auf externe Einflüsse oder Ereignisse und verfügen als Steuerungssprache über das Medium für legitim gehaltener Macht. Politische Systeme sind Manifestationen von Herrschaft, mitgestaltete oder verschriebene Ordnungsformen mit unterschiedlichen legitimatorischen Ausstattungen oder Erfordernissen. In der funktionalistischen Systemtheorie von David Easton wird ein Input-OutputSchema bevorzugt, das die System-Umwelt-Beziehungen einfangen soll. Für den Lebensprozeß politischer Systeme sei die Frage konstitutiv oder erkenntnisleitend: Wie erreichen es politische Systeme, sich in einer Welt, die zugleich Stabilität und Wandel aufweist, zu behaupten? Der politische Bereich sei als eine komplexe Menge von Prozessen zu interpretieren, durch die bestimmte „Inputs" in bestimmte „Outputs" transformiert werden, die wir bindende Strategien, Entscheidungen oder erfüllende Handlungen (implementierende Aktionen) nennen können. Das politische System ist als ein Handlungssystem zu verstehen, das in eine Umwelt eingebettet ist, deren Einflüssen es ausgesetzt ist und auf die es reagiert. Politische Interaktionen in der Gesellschaft konstituieren mithin ein System, das im Zusammenhang mit seinen physikalischen, biologischen, sozialen und psychologischen Umwelten gesehen werden muß. Ferner wird im allgemeinen Politikmodell von Easton angenommen, daß das politische System ein offenes und adaptives ist, d.h. daß Systeme (hier das politische System) Fähigkeiten besitzen müssen, auf Störungen zu reagieren, um sich den Bedingungen, unter denen sie sich jeweils befinden, anpassen zu können. Eine entscheidende Eigenschaft politischer Systeme sei somit eine außerordentlich hohe Flexibilität in ihrer internen Organisation, um auf je besondere Umweltbedingungen und -herausforderungen (Inputs) entsprechend reagieren oder antworten zu können (Outputs). Vermöge dieser Mechanismen regeln (politische) Systeme ihr eigenes Verhalten, verändern ihre interne Struktur und können sogar ihre fundamentalen Ziele umdefinieren. Den Systemen wird prinzipiell die Fähigkeit zur kreativen und konstruktiven Regulierung von Störungen in Form von innovativ-schöpferischen Anpassungsleistungen zugesprochen, ja dies macht ihren Systemstatus in dynamischer Perspektive eigentlich erst aus. Als politisches System bezeichnet Easton

238

Teil IV: Politische Systeme

hierbei diejenigen Interaktionen, durch die in bindender Weise Werte für eine Gesellschaft gesetzt werden. Die innergesellschaftliche Umwelt besteht aus Systemen bzw. aufeinander bezogenen und systemisch gebündelten Verhaltensweisen, Attitüden oder Ideen, die wir für gewöhnlich Ökonomie, Kultur, Sozialstruktur und Persönlichkeit nennen; sie sind alle funktionale Segmente oder Teilsysteme der sog. Gesamtgesellschaft, der auch das politische (Teil-)System angehört. Die außergesellschaftliche Umwelt wiederum enthält alle Systeme außerhalb dieser Gesamtgesellschaft (internationale oder Supragesellschaft). Beide Umweltsysteme (inner- wie außergesellschaftlich) zusammengenommen konstituieren die Gesamtumwelt eines politischen Systems. Als Input-Indikatoren kommen vor allem Forderungen (demands) und Unterstützungsleistungen (support) in Betracht. Durch diese werden über einen systeminternen Umsetzungsprozeß (conversion process) die Wirkungen von Umweltsystemen in das politische System transmittiert. In analoger Weise fungiert bei Easton in seinem Systemmodell das Konzept der Outputs als Rückkoppelungsschleife (Feedback loop): den „Eingaben" in das politische System korrespondieren gefilterte oder selektive „Ausstöße" des politischen Systems, die (als Reaktion hierauf) zu neuen Inputs führen können. Dieser „politische Lebensprozeß" ist bei Easton demnach zentriert in den Entscheidungen und Aktionen der jeweils Herrschenden, also der „authorities", in der Rolle als „gate-keeper" und „Entscheidungsveranlasser". Konstitutionsmerkmal des politischen Systems in diesem bewußt allgemein gehaltenen Modell ist somit die autoritative und gesamtgesellschaftlich verbindliche Allokation von Werten und Gütern sowie die Mobilisierung von Ressourcen seitens politisch-administrativer Entscheidungseliten als „decision makers". Nach diesem Ansatz ist das politische System ein ausdifferenziertes gesellschaftliches Teilsystem, das funktional spezifiziert ist auf die Persistenz (oder „Überlebensfähigkeit") des Gesamtsystems, insofern es Entscheidungen (Outputs) erbringt, die für die Gesellschaft in toto von existentieller Bedeutung und daher bindend/seinsollend sind. Es ist dies eingespannt in ein „Flußmodell" von „Inputs" (in Form von „demands" - ihnen latent zugeordnet sind die „wants" - sowie „supports") und „Outputs", die zusammen einen Rückkoppelungsprozeß darstellen, wobei in der funktionalen Sichtweise Eastons die „Ausstöße" gegenüber den „Eingaben" weithin überwiegen bzw. beide Ströme (im Sinne von stimulus/response) asymmetrisch sind (auch aufgrund der „withinputs", das sind „Inputs", die von den Entscheidungsträgern selbst ausgehen). Dadurch wird zugleich der beanspruchte Allgemeinheitscharakter des „Environment-input-output-feedback"-Modells selbst problematisch, zumal die Ereignis- und Prozeßabläufe im Inneren des gouvernementalen Entscheidungsbereiches abgedunkelt werden: Der „conversion process" ist demnach Ausfluß eines kybernetischen „Black-boxism", damit verbunden fehlt eine herrschaftskritische Fragestellung bei Easton nahezu völlig. Das ziemlich bekannt gewordene Systemüberlebensmodell von David Easton ist überdies ziemlich vage in bezug auf politische Systemziele, es sei denn, man hält die generelle Ausrichtung auf die Gewinnung von Unterstützung schon dafür. Eastons Erklärungsansätze sind bestenfalls Plausibilitätsbegründungen, die begriffliche Unbestimmtheit und die logische Inkohärenz der einzelnen Variablen (z.B. kann kein Schwellenwert im Hinblick auf „support" angegeben werden) sowie der große Allgemeinheitscharakter aller Elemente des Systems verhindern deren qualifizierende wie quantifizierende Bestimmung. Die meisten Kritiker haben sich auf den banalen Vorwurf der Herrschaftsaffirmation kapriziert und damit auch eine sie

I. Das Thema

239

Input-Output-Schema

Input

Forderungen

Politisches System

Unterstützung

•Output

Rückkopplung Umwelt Diagram 1 A Dynamic Response Model of a Political System Ecological system Biological system Personality system Social system International political systems International ecological systems International social systems

The political system

The intrasocietal • environment

Information feedback

Conversion ot

S Output^Iylemands y y w n < into outputs -Information-1

fhe extra* , societal environment

feedback

Feedback loop

aus: David Easton, A Systems Analysis of Political Life, S. 30

treffende Verkürzung betrieben, zumal sie sich vor lauter kritischem Theoriebewußtsein in der Regel zu schade waren, Gegenkonzepte zu entwerfen. Auch sollte man die allgemeinen systemtheoretischen Modellvorstellungen nicht als Realanalysen mißverstehen, ferner ist eine Weiterentwicklung dieser mehr illustrierenden und wenig operationalisierbaren Ansätze zu konkreten und komparativen Systemanalysen, ergänzt durch spezifischere Theorieansätze und Formalisierungsversuche, denkbar. Diese Konzeptualisierungsversuche sind demnach nicht abgeschlossen, sondern noch immer erweiterungs- und ausbaufähig. Im Kontext der vergleichenden Forschungen zur politischen Kultur hat Gabriel A. Almond als Input-Funktionen des politischen Systems benannt: a) politische Sozialisierung und Rekrutierung (des politischen Personals), b) Interessenartikulation, c) Interessenaggregation, d) politische Kommunikation, als universale Output-Funktionen kommen in Betracht: e) rulemaking, f) rule-application, g) rule adjudication, wobei diese Funktionen (e-g) den traditionellen drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) entsprechen. Im Anschluß an die Staatsdefinition Max Webers, nach welcher der Staat über das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit verfügt, und in Verbindung mit funk-

240

Teil IV: Politische Systeme

tionalistischen Ansätzen wird unter einem politischen System bei Almond ein Interaktionszusammenhang verstanden, der in sämtlichen eigenständigen Gesellschaften die Funktion der Integration und Anpassung, sowohl nach innen wie nach außen, übernimmt, und zwar mittels Anwendung oder Androhung mehr oder weniger legitimen physischen Zwanges. Damit wird auch die Trennung von „Staat" und „Gesellschaft" überwunden, insofern das politische (politisch-administrative) System dahingehend legitimiert und funktional spezifiziert sei, die Ordnung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten resp. ihren Wandel zu kontrollieren. Damit sind ein paar Bausteine oder Elemente einer Theorie politischer Systeme beisammen, die artifiziell und für konkrete Systemanalysen indes noch zu abstrakt sind, zumal ihre Realitätsentsprechung nicht immer eindeutig ist. Wir können allerdings festhalten, daß jedes System generell eine Kombination von Umweltoffenheit und innerer Geschlossenheit aufweisen und herstellen muß, die Rollen- und Entscheidungsträger in demokratisch-diskursiver Weise in sich wechselseitig öffnende Vermittlungs- und Konsensualisierungsprozesse eingespannt sein sollten, um den argumentativen Erfordernissen der Moderne zu entsprechen. Damit rückt heute neben der Systemebene die des kommunikativen Handelns in normativer Sicht in den Mittelpunkt. Nicht gute Ordnung, sondern organisierte Komplexität im Wandel ist der Fixpunkt der sozialwissenschaftlichen Theorieanstrengungen, die auch die Ideengeschichte nur noch als Steinbruch begreifen, insofern spätestens seit der Aufklärung in den neuzeitlichen Politikkonzepten parallel zum Prozeß der Generalisierung von Freiheit und Gleichheit als bürgerlichen Basisnormen die vorherrschenden institutionellen Evolutionsmuster von fiktiven Gesellschafts- bzw. Herrschaftsverträgen und einem soziopolitischen Stratifikationsdenken umgestellt werden auf die Komplexitätssteigerung des politischen Systems.1 Damit sind Interaktionszusammenhänge und nicht Selbstorganisationstheoreme (autopoiesis) gemeint. Darüber hinaus ist die Politikwissenschaft auch in dieser Frage auf anschlußfähige Theorieansätze und Ergänzungen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen immer schon angewiesen, um das Ent- und Bestehen sowie den Wandel von Staats- und Gesellschaftsformationen auf allen Ebenen begreifbar zu machen.

II. Forschungsgeschichte In der antiken resp. klassischen Staatsformenlehre, zurückgehend auf Herodot und Aristoteles, sind erste Typologieversuche unternommen worden, die auf numerischen und qualitativen Kriterien beruhen. Aristoteles (384-322 v. Chr.) hat insgesamt 158 Staatsverfassungen oder Politien sammeln lassen, von denen nur die athenische überliefert ist, die erst 1890 als Papyrus im British Museum in London wiederentdeckt wurde. In seiner sog. ersten Staatsformenlehre (Politik 1278 b 6 - 1279 b 10) entwickelte er ein relativ einfaches Sechserschema, das graphisch so dargestellt werden kann: Der positiven Form der Alleinherrschaft (Monarchie) steht die negative Form der Alleinherrschaft (Tyrannis) gegenüber, der positiven Herrschaftsform weniger (Aristokratie) die negative (Oligarchie), der positiven Manifestation der Volksherrschaft 1

Siehe Udo Bermbach, Politische Institutionen und gesellschaftlicher Wandel. Zum Institutionenverständnis im politischen Denken der Neuzeit, in: ders., Demokratietheroie und politische Institutionen, Opladen 1991, S. 193-211.

241

II. Forschungsgeschichte

quantitatives Kriterium für die Form der Verfassung: die Herrschaftsbeteiligung

qualitatives Kriteri um für die Form der Verf issung ( + ) gut: der gemeinsame Nutzen aller („Gemeinwohl"), „naturgemäße" Verfassungen

(—) schlecht: der Eigennutz der Herrschenden, „naturwidrige" Verfassungen (Entartungen, Parekbasen)

EINER

(1) Königtum

(6) Tyrannis

WENIGE

(2) Aristokratie

(5) Oligarchie Haupttypus: Reiche

DIE MEHRZAHL

(3) Politie „gute Demokratie"

(4) Demokratie Haupttypus: Arme

Dabei stellen die Ziffern (1) bis (6) Rangfolgen dar, und die Typen (4) und (5) gelten als besonders instabil (kritische Verfassungen).

(Politie) ihre Entartung (Demokratie). Der letztere Demokratiebegriff erfaßte später die Ochlokratie, eine Art Pöbelherrschaft, während die Politie eher dem heutigen Verständnis von Demokratie entspricht. Das wird in der sog. zweiten Staatsformenlehre des Aristoteles (Politik 1288 b 10-1295 a 24) deutlich, in deren Zentrum die Politie steht, wobei generell königliche, aristokratische und politische Regierungsformen unterschieden werden, aufgrund des Bezuges zur Polisgesellschaft nur Formen der direkten Herrschaftsausübung in den Blick kommen. Repräsentative Strukturmuster, die dann der Massendemokratie adäquat sind, sind der aristotelischen Politikkonzeption mithin (und verständlicherweise) fremd. Nach Aristoteles ist es die Aufgabe der Wissenschaft, hier der politischen (politike episteme), danach zu fragen, welche die beste Verfassung und wie sie einzurichten sei, welche Verfassung zu welchen Menschen passe bzw. ihnen angemessen sei. Des weiteren sei zu fragen, welche die beste Verfassung unter bestimmten Voraussetzungen sei, und man müsse herausfinden, welche Verfassung der größten Mehrzahl der Staaten angemessen sei. Ebendies sei die Politie, insbesondere im Hinblick auf ihre tatsächlichen Verwirklichungschancen. Aristoteles konzentriert sich auf die Politie im Kontrast zur Oligarchie, Demokratie und Tyrannis (also im Unterschied zu den naturwidrigen Verfassungen, wobei die Politie die „richtige" oder „gute" Demokratievariante darstellt). Die Tyrannei war ja (s. oben) die schlechteste Form und weicht am meisten von der richtigen Formgestalt ab, die zweite die Oligarchie und innerhalb der Entartungserscheinungen (Parekbasen) die Demokratie noch die erträglichste. Die Politie als gute Form der Demokratie, die Aristoteles besonders auszeichnet, ist eine „gemischte" oder „mittlere" Verfassung, welche die Dichotomie oder Zweiteilung von „arm" und „reich" sowie das Spannungsverhältnis von sozialer Ungleichheit und politischer Gleichheit aufhebt und bewältigt, in konstitutioneller Weise ausgleichen und miteinander versöhnen will. Die aristotelische Politie ist eine gelungene Mischung aus oligarchischen und demokratischen Elementen, d.h. sie

242

Teil IV: Politische Systeme

steht zwischen der Aristokratie und der schlechten Demokratieform (Ochlokratie). Die Politie als „mittlere Verfassung" sucht die richtige Mitte zwischen den Dingen zu ermitteln und muß sich durch sich selbst erhalten. Sie ist in der gewandelten Perspektive des Aristoteles die beste Verfassung als Lebensform, die die meisten Menschen tatsächlich zu führen vermögen und sich aneignen können. Die mittlere Verfassung, eine Mittelstands- und Mischverfassung, ist also konkret die beste, wobei Aristoteles durchgängig Strukturanalysen und nicht ideale Ordnungsentwürfe bevorzugt. Hinsichtlich der gemischten Verfassung ließe sich ein großer ideengeschichtlicher Bogen spannen, der von Moses, Lykurg, Solon, Thukydides, Piaton und Aristoteles über Polybios, Cicero, Thomas von Aquin, Gasparo Contarini, Henning Arnisaeus, John Locke, Jean-Jacques Burlamaqui, Calvin, Montesquieu, Edmund Burke und John Adams bis hin zu Carl Schmitt, Bernard Crick, Max Imboden, Dolf Sternberger und Wilhelm Hennis reicht, was hier nicht näher dargetan werden soll. Festzuhalten ist jedoch, daß die aristotelische Wissenschaftstradition und hier insbesondere seine Staatsformenlehre bis weit in das 18. Jahrhundert hinein vor allem an den Universitäten fortlebte. Das von Aristoteles grundgelegte Paradigma hat rd. zwei Jahrtausende einer normalwissenschaftlichen Tradition das Fundament geboten. In der Geschichte der Politikwissenschaft ist kein anderes wissenschaftliches Paradigma auszumachen, das auch nur annähernd eine vergleichbare traditionsprägende Kraft über eine so lange Zeit hat entfalten können. 2 Greifen wir ein weiteres eindrucksvolles Beispiel aus der politischen Ideengeschichte heraus, nämlich das dreiteilige Staatsformenschema von Montesquieu (1689-1755). Die Unterteilung in Republik (mit den Unterformen der Aristokratie und Demokratie), Monarchie und Despotie wird durchgängig überlagert von der binären Unterscheidung in gemäßigte und despotische Regierungen. Montesquieu tritt für die Mäßigung (modération als Staatsqualität) ein. Sein freiheitsbezogenes politisches Systemmodell stellt eine Synthese dar aus Legalität, (vor- und überstaatlichen) Grundrechten, Machtteilung und (geburtsständischer) MischVerfassung. Hierbei ist er im Unterschied zur gängigen Meinung nicht auf eine strikte Trennung (séparation) der Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) fixiert, sondern für Montesquieu ist deren Mischung und gegenseitige Kontrolle als Gewaltenhemmung wesentlich. Insofern ist jede Gewalt in verschiedene Befugnisse (facultés) untergliedert, und jedes Staatsorgan (Wahlvolk, Volkskammer, Adelskammer, Volksgericht, Adelsgericht, Monarch, Minister) und jede soziale Kraft (Monarch, Adel, Volk) erhält ein aus zwei oder drei Gewalten zusammengesetztes Kompetenzbündel zugewiesen. Es lassen sich etwa achtzehn Befugnisse herausfiltern, nämlich - aufgelistet - die Befugnis, ( 1) Repräsentanten zu wählen, ( 2) Gesetze zu statuieren (faculté de statuer), ( 3) den Erlaß von Gesetzen zu verhindern oder zu genehmigen (faculté d' êmpecher), ( 4) das Verhaftungsrecht zu regeln, ( 5) alljährlich die Steuer festzulegen (Steuerbewilligungskompetenz), ( 6) das Steuergesetz zu verhindern oder zu genehmigen, ( 7) alljährlich die Streitkräfte zu regeln, ( 8) diese zu kommandieren, ( 9) die Gesetze auszuführen, 2

Vgl. Theo Stammen, Theoriendynamik in der Politikwissenschaft; München 1976, S. 33.

243

II. Forschungsgeschichte

(10) die Außen- und Sicherheitspolitik zu führen (Entscheid über Krieg und Frieden), (11) den Zeitpunkt und die Dauer der Parlamentssessionen zu bestimmen, (12) verdächtige Bürger im Falle von Verschwörung oder Spionage, gestützt auf eine befristete Sondervollmacht des Parlaments, für beschränkte Zeit zu verhaften, (13) die Ausführung der Gesetze zu kontrollieren, (14) die Minister zu kontrollieren und zur Rechenschaft zu ziehen, (15) der gesetzeskonformen Rechtsprechung, die den Buchstaben des Gesetzes zu entsprechen hat, (16) zu einer das Gesetz mäßigenden Rechtsprechung (ist nicht an den Buchstaben des Gesetzes gebunden, darf dieses aber nur mildern und nicht verschärfen), (17) zur Anklageerhebung im Falle politischer Verbrechen, (18) zur diesbezüglichen Rechtsprechung. Hieraus ergibt sich folgendes Modell, das auf der Teilung (distribution) jeder Gewalt in verschiedene Kompetenzen beruht, also eine partielle Machtteilung und funktionale Verschränkung vorsieht3: MachtteilungsmodeU nach Montesquieu Gesellschaftliche Kräfte:

Gesetzgebende Gewalt

Gewalten: Ausführende Gewalt

Volk (Wahlvolk: 1)

Volkskammer des Parlaments 2,3,4,5,7

Volkskammer des Parlaments 13,14

Volkskammer des Parlaments 17 Volksgericht 15

Adelskammer des Parlaments 2,3,4,6,7

Adelskammer des Parlaments 13,14

Adelskammer des Parlaments 18 Adelsgericht 15,16

König 3,6,11

König und Minister 8,9,10,12

Adel

König

Rechtsprechende Gewalt

-

Numerierung der Befugnisse nach den Zahlen im Text.

Die Volkskammer hat im gesamten Bereich der Gesetzgebung die faculté de statuer et d'empêcher und die faculté d'examiner l'exécution des lois. Der Adel hat eine mäßigende Mittlerrolle zwischen Volk und König. Dem Monarchen und seinen Minstern steht die ausführende Gewalt zu (unter Vorbehalt der einschlägigen Befugnisse der beiden Parlamentskammern), hingegen ist der Monarch von der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen, ihr allerdings auch nicht unterworfen. Hinzu kommt bei Montesquieu die Forderung nach absoluter Gedankenfreiheit und das Postulat der Rechtsgleichheit. Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, muß sie durch Macht beschränkt werden (Gegenmacht, Pluralität der Macht3

Alois Riklin, Montesquieus freiheitliches Staatsmodell. Die Identität von Machtteilung und Mischverfassung, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), S. 420-442, hier: S. 426f.

244

Teil IV: Politische Systeme

träger, Machtmäßigung, -kontrolle und -teilung). Nach Montesquieus eher subjektiver Einschätzung stehen im Kontext seiner auf Machtteilung orientierten Mischverfassung (was sich keineswegs ausschließt) den gesellschaftlichen Kräften als Eignungen zu: Die vielen sind nur zum Wählen geeignet, und die wenigen in der repräsentativen Körperschaft des Parlaments sind für Exekutiventscheide nicht geeignet, sondern es ist ein einzelner für die Ausübung der exekutiven Gewalt vergleichsweise am besten geeignet, weil es in der Regel um schnell zu treffende und durchzuführende Entscheidungen geht. Mit dem Begriff der Republik, auf den sich sein Staatsmodell trotz des Instituts des Königs bereits bezieht, zielt Montesquieu auf die alte Res publica mitsamt ihrer Richtschnur des bonum commune durch die Partizipation aller (Voll-)Bürger ab. Sein theoriespezifisches Vertrauen gründet auf der Regulativkraft menschlicher Institutionen und einem deduktiv zu erschließenden Sinn. Seinem konservativen Liberalismus entsprechend befürwortet er den Konsens der konkurrierenden Gruppen, wobei bis zu Rousseaus identitären Demokratievorstellungen das einfache Volk ausgeschlossen war. Spätestens seit der Französischen Revolution kann dieser Ausschluß als obsolet gelten. Für die gewaltenteilige Mischverfassung trat auch John Adams (1735-1826) ein. Er gehörte dem Komitee an, das unter der Federführung von Thomas Jefferson die amerikanische Unabhängigkeitserklärung entwarf, war maßgeblich an der Verfassung seines Heimatstaates Massachusetts mitbeteiligt und der erste Vize- sowie der zweite Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (sein Sohn John Quincy war sodann der sechste präsidentielle Amtsinhaber). In seinem Hauptwerk „Defense of the Constitutions of Government of the United States of America" (1787/88) analysierte er über fünfzig Verfassungen von der Antike bis zur zeitgenössischen Schweiz, im Zentrum aber steht als Summe der Ideen- und Realgeschichte die Mischverfassung unter Einschluß der neueren Gewaltenteilungsinterpretation. Gute staatliche Institutionen könnten die bisweilen negativen Seiten der menschlichen Natur ausbalancieren und bändigen. Dazu sei allein die gemischte Verfassung imstande, die dann vollkommen sei, wenn diese Elemente zusammenhängend gegeben seien: die Vorherrschaft der Gesetze; das Gleichgewicht sozialer Kräfte, wobei eine machtvolle Einzelperson die Gegensätze der Ober- und Unterschicht vermitteln könne und solle; die Verbindung der einfachen (nach dem Muster „einer - wenige viele") Staatsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie zu drei möglichen Allianzen: König und Aristokratie gegen das Volk, König und Volk gegen die Aristokratie, Aristokratie und Volk gegen den König; die Aufteilung der Staatsgewalt auf Legislative, Exekutive und Judikative, wobei der Legislative alle gesellschaftlichen Kräfte zugeordnet und auch an der Jurisdiktion alle drei sozialen Kräfte beteiligt sind (z.B. stammen die Geschworenen aus dem Volk, ernennt der Präsident die Richter, die aus der gebildeten Oberschicht stammen); die Aufteilung der Legislative in drei Zweige oder Subgruppen mit je für sich einem absoluten Vetorecht; die Staatsorgane mit folgender Zuteilung: der Gouverneur bzw. Präsident mit exekutiven, legislativen und judikativen Funktionen, wobei er allein über die Exekutivmacht verfügt, allerdings über ein Impeachment gestürzt werden kann, das Parlament, bestehend aus zwei gleichberechtigten Kammern (Senat und Repräsentantenhaus) mit legislativen Kompetenzen, die (relativ schwach ausgeprägte) judikative Gewalt, wobei das Oberste Gericht erstaunlicherweise keinen Check (Gegenmacht) gegen das Parlament besitzt (kein Legislatiweto, auch können die Gesetze nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden), und das Wahlvolk, das jedoch in

245

III. Systematische Darstellung

keinem Fall die Richter wählt. Ein allgemeines aktives und passives Wahlrecht gibt es in der Konstruktion von Adams indes nicht. Damit ergibt sich als Überblicksschema4: Gewaltenteilige Mischverfassung nach John Adams Departemente

Legislative (Zweige)

Exekutive

Judikative

Einer Monarchisch

Präsident Vorschläge Veto

Präsident inkl. Außenpolitik

Präsident Ernennung Richter Begnadigung

Wenige Aristokratisch

Senat Vorschläge Veto

Senat Impeachment

Oberstes Gericht Urteile Senat Impeachment

Viele Demokratisch

Repräsentantenhaus Vorschläge Veto

Repräsentantenhaus Impeachment

Schwurgerichte Urteile Repräsentantenhaus Impeachment

Soziale Kräfte und Staatsformen

Wahlvolk (wählt min. Repräsentantenhaus, max. auch Senat und Präsident)

III. Systematische Darstellung 1. Probleme der Typologisierung von politischen Systemen In unserem Jahrhundert hat Karl Loewenstein (1891-1973) in seiner „Verfassungslehre" eine Systematik entwickelt, die von der Art der Machtausübung (geteilt oder konzentriert) ausgeht. Im Rahmen seiner Wissenschaft von der Macht (Kratologie) gelangt er zu einer Hauptunterteilung zwischen Formen des Konstitutionalismus und der Autokratie. Konstitutionelle Systeme seien durch eine kontrollierte Machtausübung gekennzeichnet. Das Wahlpublikum entscheidet darüber, wem es die politische Macht für eine befristete Zeit anvertraut, bestätigt oder entzieht. Zu den durch Gewaltenteilung und Machtkonkurrenz gekennzeichneten konstitutionellen Ordnungeformen zählen die parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssysteme sowie die eidgenössische Direktorialregierung. Hingegen wird in autokratischen Systemen die Praxis der Macht ungeteilt (von einer Person, einer Partei oder Machtclique) ausgeübt. Wahlen dienen der Affirmation, insofern die Machtkonzentration prinzipiell nicht aufhebbar ist. Autoritäre Regime und Totalitarismus werden als Spielarten oder Unternormen der Autokratie verstanden. 4

Riklin, John Adams und die Mischverfassung, in: Zeitschrift für Politik 38 (1991), S. 274-293, hier: S. 284.

246

Teil IV: Politische Systeme

Die an der Unterscheidung zwischen Demokratien und Diktaturen orientierte Klassifikation übersieht oder vernachlässigt, daß es gewisse Formen oder Ansätze der Machtbegrenzung auch in autoritären Herrschaftsformen geben kann und ebenso in konstitutionell ausgeprägten Herrschaftstypen bestimmte Formen der Rollenkumulation und Machtanhäufung. Es ist überdies von zahlreichen Überlagerungen, Vermischungen und Zwischenformen auszugehen, auch sind die jeweiligen Grundtypen keinesfalls konsistent und scheint die Überbetonung des Machtfaktors bei Loewenstein zuungunsten sozioökonomischer oder kultureller Kräfterelationen und Akzentuierungen einer differenzierteren Politikbetrachtung schon vom Ansatz her entgegenzustehen, zumal die Beziehungsgefüge zu den verschiedenen Umwelten des politischen Systems deutlich unterbilanziert bleiben. Eine vielfältige, aber nicht besonders stringente Typologie oder Morphologie, welche überwiegend an formellen Einteilungskriterien und vorgegebenen Beziehungsmustern im Blick auf Vollständigkeit interessiert ist, hat Carl Joachim Friedrich (1901-1984) entwickelt, insofern er allein dreizehn Herrschaftsformen unterscheidet: (1) Anarchy, (2) Tribal rule of the king-priest type, (3) Despotic monarchy (rule over extended territories), (4) Oligarchy by the nobility, either by birth or cooption, (5) Oligarchy by the wealthy, (6) Oligarchy by priesthood-theocracy, (7) Direct democratic rule, (8) Tyranny, (9) Bureaucratic rule under a hereditary monarch, (10) Parliamentary-cabinet rule (government by elected representations): (a) Aristocratic - nobility and wealth predominating, (b) Democratic - all classes included, (11) Presidential-congressional rule (government by an elected president and an elected assembly), (12) Military dictatorship (including pretorian rule), (13) Totalitarian dictatorship.5 Im analytischen Blick auf die institutionelle Struktur der Moderne setzt Richard Münch andere, nämlich handlungstheoretisch6 unterfütterte systemtheoretische Akzente, wobei er von der Interpénétration gesellschaftlicher Subsysteme ausgeht. Für ihn ist die wechselseitige Durchdringung der ausgebildeten Teilsysteme die fortgeschrittenste und allein noch mögliche Form gesamtgesellschaftlicher Integration in der Moderne. Hinsichtlich politischer Entscheidungsprozesse sei normativ anzunehmen, daß das Handeln von Individuen und Gruppen nicht einfach durch Machtanwendung festgelegt, sondern durch Interessenartikulation und Ressourcenmobilisierung prinzipiell auch für Wandel offengehalten wird. Ferner werde der politische Prozeß durch diskursive Verfahren unter generelle Werte subsumiert und durch Kompromißbildung und Formen der Streitschlichtung in eine übergreifende Gemeinschaft eingebunden und kollektiv verbindlich gemacht. Das politische Entscheiden erreiche dadurch ein höheres Niveau der Integration widersprüchlicher Zielorientierungen, einen höheren Grad der Entfaltung sowie der Zusammenführung von Freiheit und Ordnung, Rationalität und Entscheidungsfähigkeit.7 Gerade in modernen Gesellschaften, in denen durch lange Interdependenzketten negative externe Effekte nicht mehr durch Tausch abgearbeitet oder lediglich mit Solidaritätsappellen vermieden werden können, sind Handlungskoordinierungen und Vermittlungsinstanzen funktional notwendig. Eine wechselseitige Dynamisierung und Steuerung erfolgt durch Interaktionsmedien, durch Rollenträger und tragende 5 6

7

Carl Joachim Friedrich, Man and his Government, New York 1963, S. 188 f. Handlungstheorien unternehmen bzw. verfolgen es, das sinnhafte Handeln von Individuen oder Gruppen (Kollektiven) in sozialen Interaktionen zu erklären, vgl. Bernhard Miebach, Soziologische Handlungstheorie, Opladen 1991. Richard Münch, Basale Soziologie: Soziologie der Politik, Opladen 1982, S. 128.

III. Systematische Darstellung

247

Kollektive jeweiliger Subsysteme, wobei jedes dieser Systeme mit eigenen Werten, Nonnen und sozialrelevanten Handlungskollektiven ausgestattet ist bzw. darüber verfügt.8 Überblick über die Subsysteme der Gesamtgesellschaft Subsysteme der Gesamtgesellschaft (und domi- Werte nante Funktionszuschreibung ökonomiinstrumentellsche Ratioökonomisches System (adapta- nalität tion) (A)

Subsystem spezifische

Interpenetra- generalitionszonen/ siertes spezifische Medium Umwelten („Steuerungssprache")

Normen

Rollen

tragende Kollektive

Marktordnung

Produzenten, Konsumenten, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verkäufer, Käufer etc.

Arbeitgeber- Markt/ökono- Geld und Arbeit- mische Resnehmersourcen verbände

Demokratie parlamentapolitisches risch-politiSystem (goalscher Entattainment, goalscheidungsselection) (G) prozeß

Regierungs- Parteien, mitglieder, InteressenAbgeordverbände nete, Wähler, Interessenvertreter

exekutive Ad- politische ministration/ Macht innere und äußere Entscheidungskonflikte

„Gemeinschaftssystem" (integration) (I)

Bürger (citizen)

Klassen, Schichten, religiöse, berufliche, ethnische, sprachliche, regionale Gruppen

affektuelle Einfluß Gemeinschaft/ partikulare Gruppen

Intellektuelle, Experten, Klienten, Laien usw.

Intellektuellen- und Professionellenverbände

Deutungssy- Wertcomsteme, Symbo- mitments, lismus der Re- Argumente ligion/transzendentale Bedingungen sinnhafter menschlicher Existenz

Menschen- Kompround Bürger- mißbildung rechte und Streitschlichtung

intellektusozial-kulturelelle Ratioles System nalität (latent pattern maintenance, tension management) (L)

Diskurse

Wie hat man sich im Paradigma der Interpénétration den Ablauf von Politik im Sinne eines demokratischen Entscheidungsverfahrens vorzustellen? Die Gesamtgesellschaft verfügt also über relativ ausdifferenzierte und dennoch integrierte Teilsysteme. Jedes System ist relativ autonom und dennoch vielfältig mit den anderen 8

Schema nach Münch 1982, S. 115ff. in Waschkuhn 1987, S. 137.

248

Teil IV: Politische Systeme

Diagramm Die Interpénétration der gesellschaftlichen Subsysteme G Zielverwirklichung Spezifikation

Anpassung A Öffnung

Politisches System

Politische Akkumulation durch Steigerung von Macht durch Machtinvestition

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