Einführung in die Politikwissenschaft 3534248252, 9783534248254

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Einführung in die Politikwissenschaft
 3534248252, 9783534248254

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Was ist Politik?
II. Polity: Das Grundgesetz
III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen
IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien
V. Policy: Familienpolitik
VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?
VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie?
VIII. Internationale Beziehungen: Theorien
IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN
X. Europawissenschaft
XI. Vergleichende Staatslehre
XII. Globalisierung
XIII. Klimapolitik
XIV. Demografie
Literaturverzeichnis
Register

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Peter Nitschke

Einführung in die Politikwissenschaft

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Frank Schlumm Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-24825-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72573-1 eBook (epub): 978-3-534-72574-8

Inhalt Vorwort

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I. Was ist Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Polity: Das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen

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IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien . . . . . . . . . .

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V. Policy: Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit? . . . . . . . . . . . .

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VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie? . . . . . .

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VIII. Internationale Beziehungen: Theorien . . . . . . . . . . . . . .

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IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

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XI. Vergleichende Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XII. Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XIII. Klimapolitik

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XIV. Demografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis

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X. Europawissenschaft

Register

Vorwort Politikwissenschaft ist eine Disziplin, die einen scheinbar einfachen Gegenstand zum Zweck ihrer Analysen macht: die Politik. Doch was tatsächlich Politik ist, wie sie funktioniert und in welche anderen Bereichen des modernen Lebens Politik hineinstrahlt, darüber gibt es ganz unterschiedliche Ansichten, je nachdem, welche Methode oder Theorie man hierfür anlegt. Man kann Politik total auffassen, dann wäre alles, was existiert und von Menschen bearbeitet wird, auf die eine oder andere Weise politisch. Man kann Politik auch abgrenzen von anderen Analyserichtungen auf Individuen und Gesellschaft, z.B. der soziologischen, der juristischen oder der ökonomischen Betrachtung, dann ist Politik durch eine spezifische Dimension gekennzeichnet. Die Politikwissenschaft operiert genau genommen an der Schnittstelle zwischen beiden Auffassungen, sowohl einer omnipräsenten als auch einer spezifischen Dimension von Politik. Politikwissenschaft ist hierbei jedoch nicht identisch mit ihrem Betrachtungsgegenstand. Politik und die Wissenschaft von der Politik sind zwei verschiedene Bereiche. Politik ist gekennzeichnet durch eine Akteurskonstellation, in der Menschen handeln und dieses Tätigwerden als Politik bezeichnet wird. In der Politikwissenschaft geht es hingegen um die Betrachtung, Nachzeichnung und Analyse dieses Handelns, um ein besseres Verständnis darüber zu bekommen, wie Politik funktioniert. Politikwissenschaft zeigt die Regeln auf, in denen sich Politik abspielt. Ob diese Regeln dann tatsächlich die richtigen sind und ob man die politische Realität dann damit versteht, sei dahin gestellt. Spätestens an der Unterscheidung von Theorie und Praxis lässt sich in der Politikwissenschaft bei der Analyse trefflich streiten und diskutieren. Die vorliegende Einführung in die Politikwissenschaft folgt dieser TheoriePraxis-Differenz. Sie zeigt auf, wie komplex Politik ist und mit welchen differenten Fragestellungen und Analysemustern die Politikwissenschaft als Fachdisziplin ihrem Untersuchungsgegenstand beizukommen versucht. Die Ausdifferenzierungen in der Politikwissenschaft selbst sind mittlerweile enorm: in über 30 Teildisziplinen lässt sich die politische Analyse spezifizieren. Die klassische Einteilung zwischen a) Politischer Theorie, b) Politischer Systemanalyse (Deutschlands) und c) Internationaler Politik ist bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten einer vielschichtigen Differenzierung in den Inhalten gewichen. Politikfeldanalyse, Verwaltungswissenschaften, Politische Bildung, Vergleichende Staats- und Regierungslehre, Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik, die Politik der Inneren Sicherheit etc. – an Themenstellungen besteht wahrlich kein Mangel. Die vorliegende Einführung versucht daher in insgesamt vierzehn Themenbereichen eine Übersicht zu ermöglichen, bei der jeweils die Grundfragen der Teildisziplin skizziert und erläutert werden. Hierbei richtet sich das Konzept dieser Einführung nicht wie bei den vielen anderen Einführungen, die es

Vorwort

zum Thema Politikwissenschaft auf dem deutschen Buchmarkt gibt, an die Studierenden der Politikwissenschaft im Speziellen, sondern an ein studentisches Publikum, welches politikwissenschaftliche Fragestellungen im Nebenfach oder gar nur in einzelnen Modulen oder Kompetenzen präsentiert bekommt. Es handelt sich also vornehmlich um eine Einführung in die Politikwissenschaft für Nicht-Politikwissenschaftler(innen). Studierende der Sozialwissenschaften, der Bildungs- und Erziehungswissenschaften oder der Kulturwissenschaften sind die Zielgruppe für diese Einführung. Die vierzehn Themengebiete sind so konzipiert, dass die grundlegenden Probleme in der jeweiligen Forschungsrichtung der Politikwissenschaft genannt werden, jedoch hinsichtlich ihrer strittigen Diskussionspunkte nur in Hinweisen angezeigt werden, damit die Perspektive für die zentralen Fragestellungen im Überblick beibehalten werden können. Es geht also nicht um die Interpretationsverzweigungen zum Policy-Cycle, sondern um das Referenzschema an sich. Nicht die Vielzahl der Theorien in den Internationalen Beziehungen (IB) ist entscheidend, sondern eine analytische Ordnungsstruktur, mit der man sich dann den diversen Theorien nähern kann. Besonderer Wert ist hier auf die Möglichkeit der Vernetzung der einzelnen Themenfelder gelegt. Querverweise finden sich, wo sie angebracht sind. Die weiterführenden Literaturhinweise sind so gehalten, dass die entsprechende Vertiefung in der Fachdiskussion mit jeweils neuerer und neuester Fachliteratur möglich ist. Dafür wird meist – jenseits der Klassiker – auf Literatur aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verwiesen. Da Politik komplex ist, zumal im Zeitalter der Globalisierung, ist das Bemühen bei der Abfassung der Kapitel darauf gerichtet gewesen, die jeweilige Thematik lebenspraktisch, d.h. mit Bezug auf die bürgerliche Existenz einer im Prinzip meist politikfernen Lebenshaltung, zu gestalten. Der Sinn der Politik kommt für die meisten Menschen oft nur indirekt zustande, nicht fundamental oder gar total, sondern auf eher ungeraden Wegen. Deshalb gibt es immer wieder Beispiele oder Hinweise auf die praktische Ausgestaltung von Politik – jenseits der oft lehrbuchhaften Formeln in der Politikwissenschaft. Das hier gewählte Konzept resultiert aus den Erfahrungen einer fast fünfzehnjährigen Vorlesungszeit, in der die Einführungen zur Politikwissenschaft immer wieder modifiziert und abgewandelt wurden. Zielleitend war zugleich die Erkenntnis, dass die herkömmlichen Einführungen in die Disziplin sich zu sehr an den fachimmanenten Modethemen ausrichten oder aber lediglich schablonär den Traditionen in der Selbstinterpretation des Faches folgen. Da aber viele Standorte in der Politikwissenschaft in Deutschland ihre je eigene Schulinterpretation zur Grundlage der Einführungen machen und damit der Stellenwert bestimmter Teildisziplinen je nach Standort überwiegt, ist hier der Versuch unternommen worden, mehr als nur einen IB-Ansatz, eine Politische Theorie oder eine Politikfeldanalyse zur Politikwissenschaft als Einführung zu machen. Dank gilt an dieser Stelle meinen beiden Mitarbeitern, Martin Schwarz und Jochen Steinkamp, die meine Ausführungen aufmerksam gelesen und mit vielen wichtigen Ergänzungsvorschlägen kommentiert haben. Dass ich den meisten Vorschlägen dabei nicht gefolgt bin, liegt in der Auffassung begründet, dass die hier beschriebenen Effekte und Phänomene der Politik ohnehin schon komplex genug sind. Eine Verdichtung und Erweiterung kann

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Vorwort

und soll sich gerade aus der Einführung heraus ergeben. Insofern sei hier besonders den Studierenden der Einführungsvorlesungen aus den letzten fünfzehn Jahren gedankt, denn es ist gerade ihr jeweiliges Verstehen oder NichtVerstehen, was zum vorliegenden Konzept beigetragen hat. Peter Nitschke

Vechta, den 11. April 2012

I. Was ist Politik? Was ist Politik? Diese Frage ist so alt wie die Beschäftigung mit der Politik. Sie ist eine der klassischen Fragen der Politikwissenschaft überhaupt (vgl. auch Meyer 2010). Sie hat die alten Griechen ebenso beschäftigt wie uns heutzutage. Jede Epoche, jede Zeit hat und muss darauf eine Antwort finden. Die Antworten auf die Frage nach dem Sinn und der Qualität von Politik sind nicht zu allen Zeiten identisch, das demonstriert allein schon der Blick auf die Politische Ideengeschichte: von Aristoteles bis zur Gegenwart lässt sich ein großes Panorama an differenten Inhaltszuschreibungen und Bedeutungsverschiebungen festmachen, bei denen einzig und allein über die zweieinhalb Jahrtausende hinweg der Begriff relativ konstant bleibt, jedoch die Verständnisweisen dazu oft nicht unterschiedlicher sein könnten. Eigentlich ist die Politikwissenschaft (in Deutschland) eine recht junge Disziplin. Wirklich selbständig jenseits der Ummantelung durch die Staatswissenschaften der Jurisprudenz oder den Bedeutungszuweisungen der Politischen Philosophie ist das Fach erst nach 1945 mit einem eigenständigen Profil etabliert worden (vgl. Bleek 2001). Doch zeigt sich gerade am Politik-Begriff, wie weit bis in die Antike hinein eine „Wissenschaft von der Politik“ reicht (vgl. Lietzmann/ Nitschke 2000). Die sprachlichen Adaptionen aus dem Amerikanischen, demzufolge political science bzw. science of politics eine Wissenschaft von der Politik beinhalte, wie es eine der ersten Professuren für die neue Disziplin in den 1950er-Jahren anzeigte, oder eine „Politologie“ (im Gleichklang zur Soziologie), eine „Politische Wissenschaft“ oder eine „Politikwissenschaft“, die mitunter auch als Plural in Form von „Politikwissenschaften“ vorkommt, demonstrieren allesamt eine gewisse Schwankung im wissenschaftlichen Profil des Faches. Allgemein hat sich mittlerweile über die Jahrzehnte hinweg die Terminologie von der Politikwissenschaft als Konsens durchgesetzt, wenn auch nach wie vor die einzelnen Institute an den deutschen Universitäten ganz unterschiedliche Bezeichnungen führen. Politikwissenschaft ist demnach die Disziplin, die sich mit spezifischen Fragen, Problemen und Erscheinungsformen von Politik beschäftigt. Doch damit ist die Frage noch nicht geklärt, was denn überhaupt das Kennzeichen von „Politik“ ist? Der Blick in die Begriffsgeschichte ist hier zunächst hilfreich, weil die Bedeutungsunterschiede schon in der Entstehung des Begriffs in der griechischen Antike in ihren jeweiligen Schwankungen deutlich werden. Politikos ist zunächst ein Verständnis für einen Bürger, der als politisches Subjekt tätig wird und hierbei bestimmte Rechte und Pflichten in Anspruch nehmen darf. Der Ordnungsrahmen für das Tätigwerden dieser „Bürger“ ist die Polis, ein Begriff, der gemeinhin mit „Stadt“, „Staat“ oder „Burg“ übersetzt wird. Ein weiterer Begriff hierzu ist die Politeia, die den Staat als „Verfassung“ im normativen wie auch im funktionalen Sinne kennzeichnet. Daran lässt sich eine Bedeutungszuweisung anknüpfen, die Handlungen anzeigt, die in einem öffentlichen Interesse, spezifisch im Kontext eines Gemeinwohls, praktiziert werden (vgl. auch Weber-Schäfer 2000).

Politikwissenschaft als Disziplin

Politik-Begriff in der Antike

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I. Was ist Politik?

Bedeutungsebenen von Politik

Politikwissenschaft als Vermittlung von Demokratie

Egal, ob man nun den heutigen Politik-Begriff mehr von der Polis oder von der Politeia ableitet, sind die Bedeutungszuweisungen recht vielschichtig. Vor dem Hintergrund einer über zwei Jahrtausende gehenden Debatte kann man mit Politik folgende Vorstellungen und Faktoren identifizieren: a) Das Gute (im Leben der Menschen) b) Eine öffentliche Ordnung c) Gemeinwohl d) Die Verwirklichung des guten Lebens der Bürger e) Macht f) Herrschaft g) Die Ordnung von Allem h) Die Sache des Staates i) Die Repräsentation der Interessen des Volkes j) Regierungshandeln k) Parteienherrschaft l) Diktatur m) Demokratie n) Öffentlich legitimiertes Handeln. Spezifisch ist also Politik zu keinem Zeitpunkt nur als Frage der demokratischen Ordnung verstanden worden. Weit ausholende normative Bedeutungszuweisungen wie etwa in der Vorstellung der aristotelischen Lehre vom glückseligen Leben der Bürger, die mittels einer entsprechenden Politik gestaltet werden müsse, haben nicht nur im Mittelalter, sondern bis weit in die Moderne hinein den Politik-Begriff geprägt (vgl. hier auch Horn/NeschkeHentschke 2008). Keineswegs muss (und darf) Politik auch nur mit der Perspektive auf den Staat verbunden werden. Das wäre eine unzulässige Verkürzung und ist sicherlich gerade ein in der deutschen politischen Kultur gern gepflegtes Missverständnis, wenn man Politik nur mit staatlichem Handeln identifiziert wird. Genauso wenig ist Politik nur eine Sache der Demokratie. In anderen Herrschaftsformen, wie etwa der Monarchie, der Aristokratie oder auch der Tyrannis (um beim antiken Beispiel zu bleiben), wird ebenso konkret Politik gemacht. Nur sind die Zuordnungen andere als in einer Demokratie. Wenn die Politikwissenschaft als eine Wissenschaft von den Spielformen der Politik handelt, dann muss sie sich all diesen unterschiedlichen Formen widmen. Und sie muss sie vor allem kritisch perspektivieren. Das gilt insbesondere auch dann und dort, wo die Politikwissenschaft die demokratischen Grundlagen von Politik thematisiert und analysiert. Zweifellos ist die Politikwissenschaft, nicht nur in Deutschland, eine demokratische Wissenschaft. D. h., sie ist eine Disziplin, deren Sinn und Bemühen in der (richtigen) Interpretation demokratischer Ordnung liegt. Von daher ist die moderne Politikwissenschaft eine Demokratiewissenschaft. Wäre sie eine Wissenschaft, die nur von der Diktatur handelt – oder nur von der Monarchie, dann wäre dies schon problematisch für ein kritisches Verständnis von Politik. Eine derartige Wissenschaft wäre dann lediglich systemstabilisierend, indem stets nur eine apologetische Argumentation für die Strukturen von Macht und Herrschaft verlangt und erlaubt wäre. Das hat mit Politikwissenschaft nichts zu tun. Eher mit Ideologie. Insofern ist es kein Zufall, dass autoritäre und totalitäre Sys-

I. Was ist Politik?

teme keine Politikwissenschaft kennen und zulassen. Staaten, die der Doktrin des real existierenden Sozialismus gefolgt sind, haben eine Politikwissenschaft, welche die Elemente und Erscheinungsformen von Herrschaft, etwa beim Regierungshandeln, kritisch hinterfragt, nicht gekannt. Gesellschaften, die auf Clan- bzw. Stammeskulturen basieren, die einen Begriff des Öffentlichen nicht entwickelt haben, demonstrieren entweder ein unterentwickeltes Verständnis oder eben ein Nichtverstehen von Politik, die sich an einer gemeinschaftsfähigen, gleichwohl aber eben auch pluralistischen Ausrichtung von Ordnung im Raum auszeichnet. Gleiches gilt für Gesellschaften, die aufgrund einer religiösen, im Kern also theologischen, Interpretation die Rolle des Menschen in der gemeinschaftlichen Ordnung festlegen und hierbei nur dogmatische Grundsätze für die Politik zulassen. Genau genommen existiert in solchen Gesellschaften ein Politik-Begriff, wie er von der Politikwissenschaft in ihrem demokratischen Profil voraus- gesetzt wird, nicht. Denn die Vorstellung von einem Demos-Kratos (einer Herrschaft des Volkes) basiert auf der anthropologischen Annahme, dass Individuen in freiheitlicher Selbstverfügung eine ihnen gemeinsame Ordnung (eben die Ordnung aller) formulieren und organisieren. In dem Moment, in dem eine Gemeinschaft der Gläubigen per göttlicher Verfügung oder prophetischer Erleuchtung begründet wird, sind Faktoren wie Freiheit, Subjektivität und Vernunft irrelevant. Sie sind jedenfalls dann keine eigenständigen Bestimmungsmuster für das Dasein mehr, sondern unterliegen den (dogmatischen) Maximen des Glaubens. Insofern haben islamische Gesellschaften, wenn sie sich fundamentalistisch orientieren, ein Problem mit einem Politik-Begriff, der auf die Herstellung von Öffentlichkeit bei gleichzeitiger Individualität in der Verschiedenheit der Interessen (und eben nicht in der Gleichheit) ausgerichtet ist (vgl. auch Tibi 2004: 74 ff.). Politikwissenschaft als eine Wissenschaft, die sich mit dem demokratischen Profil schwerpunktmäßig beschäftigt und identifiziert, ist insofern immer auch eine kritische Wissenschaft gegenüber dem Untersuchungsgegenstand. Alles andere wäre ansonsten auch reine Apologie. Mitunter leiden allerdings auch politikwissenschaftliche Untersuchungen (etwa zur Parteienfrage) unter einer allzu großen Nähe zum Untersuchungsgegenstand. Dann bekommen politikwissenschaftliche Aussagen affirmative, lediglich systembestätigende Muster und wirken ähnlich ideologisch motiviert wie man dies in Zeiten des real existierenden Sozialismus an Lippenbekenntnissen von Wissenschaftlern des SED-Regimes in der DDR kannte. Der Politik-Begriff in der Politikwissenschaft in Deutschland geht daher (wie auch in den übrigen Ländern der westlichen) Welt nicht zufällig von einem pluralistischen, im Prinzip kontroversen Meinungsbild zum Verständnis von Politik aus. Heterogen ist dieses Meinungsbild deshalb, weil sich auf der Basis von individuellen Interessen zwar gruppenspezifische Strukturen der Interessenwahrnehmung abbilden lassen, diese jedoch untereinander letztlich kontrovers bleiben, weshalb die Austragung von Konflikten zum Prinzip der demokratischen Ordnung gehört – immer unter der Voraussetzung, dass diese Konflikte nicht mit den Mitteln der Gewalt ausgefochten und entschieden werden (vgl. u.a. Saage 2005, Schmidt 2010). Das bedeutet, dass ein demokratischer Politik-Begriff keinen abschließenden, rundherum gültigen Wahrheitsanspruch hat. Selbstverständlich gilt

Demokratie und Öffentlichkeit

Kritische Analyse

Pluralität

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I. Was ist Politik?

Aufklärung über Handlungsalternativen

es für die Politikwissenschaft, wahrhafte Zustände im Sinne der Realität zu ermitteln und aufzuzeigen. Jedoch ist dieses Realitätsbewusstsein nicht zu verwechseln mit einem Glaubenskredo auf Wahrhaftigkeit. Insofern bleiben politikwissenschaftliche Aussagen über Zustände in der Politik relational, bezogen auf Zeit, Raum und die Akteure, um die es geht. Kritisch muss und darf hierbei immer in Rechnung gestellt werden, dass sich zu einem beliebigen Sachverhalt stets mehr als nur eine vernünftige Option in der Auslegung, in der Deutung, aber auch in der Erkenntnis der politischen Realität ergibt. Die Realität im Sinne der Handlungsmöglichkeiten und deren Folgen bleibt letztlich offen für Alternativen. Und davon gibt es mehr als nur eine. Wann und wo immer Politiker (wie etwa Gerhard Schröder als Bundeskanzler) behaupten und behauptet haben, dass es zu ihrer Politik keine Alternative gäbe, ist es geradezu Aufgabe der Politikwissenschaft die Handlungsalternativen aufzuzeigen. Stets gibt es mindestens eine weitere Alternative, genau genommen sogar eine Mehrzahl von Varianten. Insofern die Politikwissenschaft kritisch auf vernünftige Alternativen zur offiziell formulierten Entscheidungslogik in der Politik hinweist, sei es bei den Parteien, den staatlichen Institutionen oder einzelnen Politikern, ist sie als demokratische Disziplin zugleich eine Aufklärungswissenschaft. Sie klärt auf über den Sinn und Unsinn in politischen Handlungen und verweist, das ist spezifisch ihr höchstes Gut, auf Optionen zur Verbesserung des Bestehenden. Aufklärung über Politik kann gar nicht genug erfolgen, besonders in einer Zeit, in der die meisten Bürgerinnen und Bürger gerade auch in Demokratien paradoxerweise weit vom politischen Geschehen entfernt sind. Die Beziehung zur Politik ist für viele Zeitgenossen in Deutschland oft nur rudimentär ausgebildet. Umfragen ergeben stets einen bemerkenswerten Mangel an Kenntnissen über die Wirkungs- und Funktionsweisen des politischen Systems. Der Politik-Begriff lässt sich auch nicht auf den Staat begrenzen, sondern beinhaltet im Grunde sämtliche Verhaltensweisen, welche Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen im öffentlichen Raum betreffen. Insofern ist für das demokratische, politikwissenschaftliche Analysebild die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit konstitutiv. Dies ist aber keineswegs juristisch, im Sinne einer staatsrechtlichen Terminologie, zu verstehen. Vielmehr ist politisch immer das, was für eine Mehrzahl von Menschen in der Öffentlichkeit von Interesse ist. Die Herstellung in der Legitimation dessen, was im öffentlichen Interesse ist, stellt dabei selbst schon einen politischen Vorgang dar. Mechanismen in der Kommunikation des Öffentlichen, die Rolle der Medien, der Parteien und der Verbände umfassen das weite Feld funktionaler wie normativer Aspekte, in deren Rahmen sich Politik manifestiert. Es ist dann jeweils eine Frage nach den Zielsetzungen, mit denen sich politische Themen und Akteure gewichten und verstehen lassen. Somit sind die Ziele von Politik kennzeichnend für das Politikverständnis selbst. Hierbei kann man analog zu den Bedeutungsinhalten auf eine Varianz hinsichtlich der Zielsetzungen verweisen. Auch wenn dabei unendlich viele Möglichkeiten adressiert werden können, lassen sich doch besonders für das demokratische Profil von Politik folgende zehn Faktoren als zentrale Ziele festmachen:

I. Was ist Politik?

1. Ordnung 2. Sicherheit 3. Wohlstand 4. Frieden 5. Freiheit 6. Partizipation 7. Unterordnung 8. Durchsetzung von Recht 9. Machterlangung 10. Gerechtigkeit. Die Klassifizierung dieser Ziele darf man jedoch nicht im Sinne der Höherwertigkeit eines der Ziele vor den jeweils anderen verstehen. Zweifellos sind Parameter wie Gerechtigkeit, Freiheit und Partizipation elementar auf der Basis der Formulierung der Menschenrechte, die für das demokratische Politikprofil die anthropologischen wie hermeneutischen Voraussetzungen liefern. Doch zur Partizipation gehört ebenso die Unterordnung im Sinne einer Einordnung in das Gesamt der Regeln der demokratischen Politik. Deshalb ist die Durchsetzungsfähigkeit von Rechtsansprüchen konstitutiv für das pluralistische Politikverständnis. Der Rechtsstaat, die normative Einsicht und Akzeptanz, dass individuelle Freiheit zugleich auch die Verpflichtung zur Einhaltung und Bewahrung der Gesetze beinhaltet, gehört damit zu den Grundlagen der demokratischen Kultur. Diese ist bezogen auf den einzelnen Bürger, seinen individuellen Möglichkeiten und Beschränkungen, Politik pur. Eben deshalb hat Aristoteles auch den Menschen als ein zôon politikon verstanden wissen wollen, als ein politisch denkendes und handelndes Lebewesen – in der bewussten Unterscheidung zur Tierwelt (vgl. Aristoteles 1986, dazu auch Höffe 2005: 620 f.). Bienen und Ameisen haben zwar auch eine Ordnung, wir sprechen dabei sogar von einem „Staat“, doch basiert diese Ordnung auf einem biologischen Determinismus, bei dem, nach allem, was wir wissen, die chemische Kodierung den Ausschlag gibt. Das bedeutet, dass die einzelne Ameise oder Biene gar nicht anders kann, als sich so zu verhalten, wie sie sich verhält. Eine Subjektivität stellt sich hier nicht ein, weil es keinen freien Willen zu einer Entscheidung gibt. In Unterscheidung zur Ordnung und Hierarchie in den Staaten der Tierwelt hat Aristoteles daher zu Recht den Staat der Menschenwelt, die Polis, als einen Akt der Ordnungskonzeption begriffen, bei dem die Vernunft des Menschen den Ausschlag dafür gibt, wie er sich hierbei verhält. Aufgrund der eigenen Mängelstruktur bedarf der Mensch einer Regelung von Handlungsabläufen unter seinesgleichen, bei denen im Austausch von Arbeitsleistungen wechselseitige Vorteile für die Beteiligten entstehen. Da die Koordination dieser sozialen Beziehungen zentral eine Ordnungsfrage ist, stellt sich für das Zusammenleben der Menschen die Politikfähigkeit fast zwangsläufig ein. In der bewussten Suche nach der richtigen oder besten Form des Zusammenlebens erfährt sich der Mensch als Vernunftwesen in seiner eigenen Qualität. Deshalb ist er ein politisches Lebewesen. Ohne die Politik, so die Botschaft seit Aristoteles, kann der Mensch als Gattungswesen nicht überleben. Der moderne Politik-Begriff, wie er in der deutschen Politikwissenschaft ebenso wie in der anglo-amerikanischen political science verwendet wird,

Ziele von Politik

Der Mensch als politisches Lebewesen

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I. Was ist Politik?

Trias der Politikebenen

Polity

Policy

ist dieser Orientierung an dem antiken Ursprungsbild treu geblieben, auch (und gerade) wenn hier mittlerweile eine ganze Reihe von Verfeinerungen und Differenzierungen vorgenommen worden sind. Bestimmte normative Zuordnungen, wie sie Aristoteles vorausgesetzt hat, werden heute sicherlich nicht mehr unumstritten geteilt (vgl. dazu Kapitel VI), doch der Gebrauch in der Terminologie verweist auf Referenzbilder in der griechischen Antike. Die Politikwissenschaft unterscheidet im Gegensatz zur herkömmlichen, d.h. umgangssprachlichen Verwendung von Politik drei unterschiedliche Bedeutungsebenen. Das sind im Einzelnen: 1. Polity 2. Policy 3. Politics. Die Polity gibt die Form an, innerhalb der sich Politik abspielt oder abspielen soll, die Policy die jeweiligen Inhalte und die Politics zeigen die Prozesse an (vgl. auch Hofmann/Dose/Wolf 2007, Pelinka/Varwick 2010, Naßmacher 2010). Gegenüber dem üblichen Sprachgebrauch ist es also ein dreidimensionales Verständnis von Politik, mit dem die Politikwissenschaft operiert. Hinter dem Begriff der Polity verbirgt sich der griechische Ursprung von Polis und Politeia. Im Grunde ist die heutige anglisierte Gebrauchsform ein Ergebnis der Übersetzung aus dem Hochmittelalter, als man aus der Polis in der lateinischen Sprache der Kleriker eine politia gemacht hat (vgl. Rubinstein 1987). Damit wird der formale Charakter von Politik angezeigt, d.h. es geht hierbei um Verfassungsfragen, um Normen und Institutionen. Die Verfassungen von Staaten (wie etwa das Grundgesetz) lassen sich unter dem Aspekt der Polity behandeln. Normative Grundfragen nach der Verfasstheit von Gesellschaften, vorrangig hier beispielsweise der Geltungsanspruch der Menschenrechte, gehören in diese Dimension. Aber auch Fragen nach der (richtigen) Relation von Religion und Politik, der Begründung von moralischen Werten sind zentral für die Polity. Grundsätzlich lässt sich diesem Rahmenverständnis alles zuordnen, was im weitesten Sinne zur Politischen Kultur eines Landes und einer Nation gehört (vgl. auch Nitschke 2010). Symbolhafte Handlungen, Einstellungsmuster von Wertüberzeugungen, Weltanschauungsfragen gehören in den Referenzrahmen der Polity. Die Polity ist damit das grundsätzlich Konstitutive für die Politik überhaupt. Ohne die entsprechenden Institutionen, welche normativ wie funktional die Alltagsabläufe prägen, lässt sich Politik gar nicht als eine spezifische Daseinsform des Menschen erkennen. Bei der Frage nach den Institutionen, in denen sich Politik manifestiert bzw. die Politik umsetzen sollen, geht die Dimension der Polity allerdings auch schon merkbar in das Feld der Policy über. Der Begriffsursprung ist hier der Gleiche wie bei der Polity. Der griechische Referenzbegriff ist dann allerdings nicht mehr die Polis, sondern spezifischer die Politeia, die in der latinisierten Umsetzung über politia in der spätmittelalterlich-prämodernen Form der Policey die Inhalte von Politik anzeigt. Aus der Policey-Frage resultiert nicht nur thematisch eine Ordnung, die als Polizeiwissenschaft in der Prämoderne in Kontinentaleuropa für Verwaltungsfragen Standards gesetzt hat (vgl. Maier 1980), aus der sich dann wiederum sukzessive ein Verständnis für Polizei als rein exekutive Institution ergibt (vgl. Nitschke 1992), sondern eben

I. Was ist Politik?

auch die Erkenntnis, dass spezifische Materien einer jeweils spezifischen Politik bedürfen. In der Policy-Analyse geht es daher um die konkreten Themen, die Inhalte von Politik. In der deutschen Übersetzung von Politikfeld-Analyse wird deutlich, dass die Themen mitsamt ihren Akteuren jeweils einem ganz bestimmten Bereich zuzuordnen sind. Politik ist also hinsichtlich der Inhalte stets auch eine Frage nach dem Arbeitsfeld, in dem sich politische Aktionen manifestieren, ihre Akteure operieren. Vor dem Hintergrund der Verfassung (etwa des Grundgesetzes) als Polity, sind somit als Politikfelder die einzelnen Aufgabenbereiche für Regierungshandeln anzuzeigen, z.B. die Gesundheitspolitik, die Bildungspolitik, die Innere Sicherheit, die Sozialpolitik etc. Das lässt sich nicht immer sauber abgrenzen von der dritten Dimension der politikwissenschaftlichen Betrachtung, der Ebene der Politics. Die Übergänge sind hier, wie schon zwischen Polity und Policy, durchaus fließend. Politics müsste im Deutschen eigentlich mit Politiken übersetzt werden, tatsächlich ist es gerade jener Terminus, der umgangssprachlich meist für Politik eingesetzt wird, wenn von Politik die Rede ist. Die Frage nach den Akteuren in den diversen Politikfeldern führt zwangsläufig zur Frage nach der Bestimmbarkeit der Regeln, nach und mit denen diese Akteure in der Politik agieren. Vor allem wird dann relevant, welche Art von Logik die handelnden Akteure, Politiker, Verbändevertreter, Bürger(innen) für ihre Entscheidungsfindung ansetzen und umsetzen. Mit der Dimension von Politics wird daher der Prozess als solcher beschrieben und analysiert. Die Interessenlagen und -gegensätze spielen hier ebenso eine Rolle wie die Techniken der Macht, mit denen die jeweiligen Akteure ihre Ziele durchsetzen können oder eben damit scheitern. In den Politiken wird die Strukturfrage als jeweils konkrete Handlungsoption empirisch relevant (vgl. auch Kevenhörster 2003). Die Psychologie der handelnden Akteure, ihre Diskurse sowie ihre faktischen Taten stehen in der politikwissenschaftlichen Bewertung hinsichtlich der Vernunftansprüche zur Disposition. Politik ist nie nur das, was sprachlich angezeigt wird, sondern vor allem das, was tatsächlich gemacht wird. Spätestens bei dieser dritten Dimension wird deutlich, dass die Politikwissenschaft nicht nur eine theoretische oder lediglich theoretisierende Disziplin ist, sondern im Kern eine Tatsachenwissenschaft. Sie orientiert sich bzw. hat sich zu orientieren an den Fakten, den Geschehnissen, um diese dann in einem allerdings nicht affirmativen Sinne zu dechiffrieren und zu analysieren. Der Bereich der empirischen Sozialforschung ist daher für die Politikwissenschaft so elementar (vgl. Häder 2010), weil ein Verständnis für Wirklichkeit nur über den Weg einer empirischen Beweiserhebung gewonnen bzw. kritisch gegenüber Dogmen reflektiert werden kann. Da nichts so beweglich, d.h. in Veränderung begriffen ist, wie die Wirklichkeitszustände in der Politik, sind somit die Methoden und Arbeitstechniken in der Politikwissenschaft dem nachhaltigen Aufspüren von sich permanent verändernden Bedingungen a) spezifisch – und werden b) prozessual angepasst (vgl. auch Simonis/ Elbers 2010). Bleibt abschließend die Frage, in welcher Weise die Politikwissenschaft nach ihrem Selbstverständnis zwischen und unter den anderen Disziplinen einzuordnen ist. Von den Bestimmungsmustern aus der Frühphase der Disziplin in der Bundesrepublik Deutschland, die mit Ansprüchen auf den Titel

Politikfelder

Politics

Empirische Wissenschaft

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I. Was ist Politik?

Disziplinäre Querverbindungen für die Poilitikwissenschaft

einer „Königsdisziplin“ oder einer „Integrationswissenschaft“ argumentierten (vgl. hier Schneider 1967), hat man mittlerweile zu Recht Abstand genommen. Die Politikwissenschaft ist weder die Summe noch die Spitze aller übrigen Geistes- und Sozialwissenschaften. Allerdings bildet sie erkennbar jede Menge Querverbindungen zu Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Verwaltung-, Staats- und Rechtslehre. Im Grunde lässt sich thematisch gesehen gar keine Relation hier ausschließen. Dies ist das irritierend-eigentümliche Kennzeichen von Politik überhaupt, dass sich ihre Erscheinungsformen inhaltlich in ganz verschiedenen Daseinsbereichen und dementsprechend auch wissenschaftlichen Perspektiven wiederfinden lassen. Wenn man als Zentrum von Politik die Frage nach der richtigen Ausgestaltung von Macht und Herrschaft und deren Legitimierung ansieht, dann ist dieser Kern von Politik in der Praxis umso komplexer und widersprüchlicher, je mehr man sich auf die thematischen Ränder hin zubewegt. Gerade das aber macht die Politik so interessant.

II. Polity: Das Grundgesetz Die Frage nach der Verfassung steht in der Tagespolitik meist nicht im Vordergrund, obwohl sie das konstitutive Element für alltägliche Politik ist, besonders wenn diese demokratisch sein will. Denn in und mit der Verfassung wird der normative Referenzrahmen festgelegt und wird definiert, in welcher Weise die Institutionen hierzu stehen sollen bzw. wie sie überhaupt arbeiten (vgl. u.a. Preuß 1994, Vorländer 1999). Die Polity als Verfassungsfrage liefert demnach die Grundlagen der Legitimation von Politik. In Demokratien ist dies die geschriebene Verfassung, es kann aber auch die Qualität der Politischen Kultur insgesamt sein, die zur Frage nach der Verfasstheit einer Gesellschaft, eines Volkes, einer Nation Auskunft gibt. Nicht notwendigerweise benötigt ein Volk eine geschriebene Verfassung, um sich politische Institutionen mit einem gesetzlichen Regelwerk aufzuerlegen. Großbritannien als Urmodell der Demokratie kommt bis zum heutigen Tage ohne eine geschriebene Verfassung aus. Die Legitimation der Politik kann auch durch die Systematik einer von Fall zu Fall bezogenen Interpretation stattfinden, bei der die Tradition als solche die Standards setzt, mit denen Politik gemacht wird. Die englische Orientierung an einem Common-LawModell, bei dem die historische Beweisführung kraft der Traditionen in der Gesellschaft den Ausschlag gibt (vgl. auch Pocock 1990), ist jedoch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts einmalig, in gewisser Weise sogar ein Anachronismus, da selbst Diktaturen ihre Herrschaft in Verfassungstexten deklarieren. Generell legen Staaten ihre Herrschaftsstrukturen und die Erwartungshaltungen an die Bürgerinnen und Bürger in Verfassungen fest. Die Polity zeigt insofern den Ordnungsrahmen an, in dem sich die staatliche Politik bewegt und – sofern es richtige Demokratien sind – wo ihre Grenzen liegen. Die amerikanische Verfassung ist hier historisch eine der ersten, in der die Fragen nach der Qualität und dem Gestaltungsspielraum der politischen Institutionen im Zusammenhang mit der Bewertung des Individuums als politisches Subjekt systematisch durchdacht worden ist (vgl. Lhotta 2010). Auch wenn schon in der Antike Verfassungsfragen kontrovers diskutiert und reflektiert worden sind und bereits Aristoteles die politische Ordnung seiner Wahlheimat Athen in einer systematischen Beschreibung festgehalten hat (vgl. Aristoteles 1993), so ist doch der Typus der verbindlich formulierten Verfassung ein Produkt der Neuzeit, spezifisch des 18. Jahrhunderts. Dem zeigt sich auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet. Die deutsche Verfassung folgt systematisch den konstitutionellen Verfassungsfragen des 19. Jahrhunderts (vgl. u.a. Mayer-Tasch 1991, Grimm 1987). Insofern lässt sich mit dem Grundgesetz (GG) paradigmatisch anzeigen, a) was die normativen Bedingungen sind, unter denen die Bürger und Bürgerinnen in Deutschland ihre Existenz organisieren (können), und was sie dabei b) praktisch beachten müssen, damit diese Selbstorganisation in Staat und Gesellschaft auch funktioniert (vgl. GG 2009).

Verfassung

Common Law in Großbritannien

Grundgesetz

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II. Polity: Das Grundgesetz

Adenauers Leistung

Stabilität und Dynamik des Grundgesetzes

Verfassungen wie das Grundgesetz fallen jedoch nicht einfach vom Himmel, sondern sind das Ergebnis bestimmter (oft über lange Zeiträume hinweg ausgetragener) Diskurse, in denen vor allem einzelne Persönlichkeiten allein durch die Kraft ihrer Argumente oder ihren Tatendrang den Ausschlag geben können. Das gilt auch für die Entstehungsphase des Grundgesetzes, das ohne die Persönlichkeit Konrad Adenauers in dieser Weise nicht zustande gekommen wäre. Mit der Person Adenauers verbindet sich nicht einfach nur die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Entstehung und Ausgestaltung für die ersten eineinhalb Jahrzehnte, sondern eben auch ein nicht unwesentlicher Teil der Systematik und der normativen Qualität der demokratischen Verfassung selbst. Am Anfang war Adenauer, kann man ohne Übertreibung sagen (vgl. Schwarz 1986). Die Polity der Bundesrepublik verbindet sich maßgeblich mit seinem Namen. Die Westanbindung der Bundesrepublik im Rahmen der Europäischen Integration, der Beitritt zur NATO, all dies verbindet sich mit Adenauers Wirken, das keineswegs unumstritten war, sondern im Gegenteil heftige Kontroversen bis hin in die eigene Partei hinein ausgelöst hat. Adenauer war zum Zeitpunkt der Debatte und Ausgestaltung des Grundgesetzes ein Mann in einem Alter, in dem man sich eigentlich eher aus der Politik verabschiedet. Das ist für die Betrachtung des Grundgesetzes nicht unwichtig, weil Adenauer als zwar nicht alleiniger, so doch wichtiger Stichwortgeber und Vermittler von Interessen eine Perspektive an die demokratische Verfassung stellte, die weitgehend von normativen Mustern aus dem 19. Jahrhundert bestimmt war. Was die Männer und (vier) Frauen im Parlamentarischen Rat im Mai 1949 beschlossen haben, ist von Adenauer als Vorsitzenden des Rats mit seiner Unterschrift besiegelt worden. Das Grundgesetz war gedacht als Provisorium, als Vorverfassung vor der eigentlichen nationalen Verfassung, die erst dann zustande kommen sollte, wenn das deutsche Volk wieder vereint sein würde. Herausgekommen ist jedoch eine bemerkenswert gut durchdachte Verfassungsstruktur, die derart erfolgreich geworden ist, dass sie auch nach der deutschen Wiedervereinigung nicht aufgegeben worden ist, sondern zu Recht als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland weiterhin gilt. Das Grundgesetz hat ungeachtet seiner ursprünglich provisorisch gedachten Rolle die zwei wesentlichen Fragen, die an eine nationale Verfassung gestellt werden, erstaunlich systematisch beantwortet: 1) wie sehr trägt eine Verfassung zur Stabilität eines Staates bei – und 2) wie sehr können gleichzeitig Prozesse der Veränderung in einer Verfassung so implementiert werden, dass die Substanz dieser Verfassung nicht darunter leidet? Nachhaltigkeit und Dynamik sind im Grundgesetz recht gut austariert. Im mittlerweile über 60jährigen Bestehen des Grundgesetzes wird dem gesellschaftlichen Wandel ebenso Rechnung getragen wie der Orientierung an der Stabilität des politischen Systems und seiner normativen Grundlagen. Das erklärt den Erfolg der Verfassung, die allen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zum Trotz sich in ihren Kernaussagen treu geblieben ist. Eine Änderung des Grundgesetzes lässt sich im Parlament nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit herstellen. Diese hohe Hürde erklärt, warum Grundgesetzänderungen nicht täglich stattfinden. Modischen Meinungen ist damit ein Riegel vorgeschoben. In den 60 Jahren von 1949 bis 2009 ist das

II. Polity: Das Grundgesetz

Grundgesetz genau 60 mal geändert worden, also statistisch eine Änderung pro Jahr. Die meisten Verfassungsänderungen hat es jedoch erst nach der deutschen Wiedervereinigung gegeben. Dies ist allerdings nicht so sehr durch die Wiedervereinigung selbst bedingt, sondern durch den gleichzeitig ablaufenden Prozess der Europäischen Integration, da mit dem Vertrag von Maastricht (1992) eine ganze Reihe von Änderungen im Grundgesetz notwendig wurden, um die deutsche Verfassung für die Europäische Union (EU) anschlussfähig zu machen (vgl. Nitschke 1997). Der Aufbau des Grundgesetzes folgt einer strengen Systematik, nach welcher die einzelnen Themenbereiche (Normen, Staatszielbestimmungen, Institutionen, Akteure) klar zuzuordnen sind. Im Einzelnen sind dies: Präambel I. Grundrechte II. Der Bund und die Länder III. Der Bundestag IV. Der Bundesrat V. Der Bundespräsident VI. Die Bundesregierung VII. Die Gesetzgebung des Bundes VIII. Die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung IX. Die Rechtsprechung X. Das Finanzwesen Xa. Verteidigungsfall XI. Übergangs- und Schlussbestimmungen. In den insgesamt 146 Artikeln wird das Leben der Bürgerinnen und Bürger, ihr Umgang mit den Institutionen des Staates, die Mechanismen zwischen den staatlichen Instanzen, ihre Zuständigkeiten und Abhängigkeiten als Ordnungsstruktur dargelegt und mit einer möglichst klaren juristischen Terminologie geregelt. Für das Verständnis, was diese Verfassung alles beinhaltet, ist es für den einzelnen Bürger nicht notwendig, die Artikel des Grundgesetzes jeweils für sich auswendig gelernt haben zu müssen. Im Prinzip reicht eine grobe Orientierung aus, mit der man sich auf dem Boden des Grundgesetzes zurechtfinden kann. Der Dschungel der Institutionen ist zunächst auch zu komplex, als dass man erwarten könnte, der Bürger würde von einem Alltagsverständnis der Politik aus das Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat, die Funktionen und Kompetenzen des Bundeskanzlers, die Rolle des Bundespräsidenten etc. so ohne Weiteres verstehen. Mitunter haben selbst Politiker hier ihre Probleme. Was aber hingegen erwartet werden kann für das Verstehen des Grundgesetzes, ist die normative Zuordnung, welche die Verfassung für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes vornimmt. Hier appelliert das Grundgesetz geradezu an die Maximen der Vernunft und der Einsichtsfähigkeit in Form einer Selbstreflexion durch den mündigen Bürger. Dieser Appellcharakter drückt sich auch gleich in der Präambel aus, die der Verfassung vorangestellt ist. Das ist zunächst schon ungewöhnlich, denn eine Verfassung benötigt nicht notwendigerweise auch eine Präambel. Die meisten westlichen Verfassungstexte kommen ohne eine solche aus. Adenauer und Co. waren jedoch der

Verfassungsänderungen

Themenbereiche des Grundgesetzes

Präambel des Grundgesetzes

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II. Polity: Das Grundgesetz

Das Deutsche Volk

Die Verantwortung vor Gott

Meinung, dass aufgrund der besonderen Umstände wegen der Teilung Deutschlands, der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Abgründe, die das Dritte Reich hinterlassen hatte, eine Präambel für das Provisorium der Verfassung wichtig sei. Die Präambel zum Grundgesetz zeigt insofern an, in welche Richtung man sich diese Verfassung denken soll und wer ihr Adressat ist (GG 2009: Präambel): „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Das Deutsche Volk wird hier mit dem normativen Anspruch auch im Hinblick auf die Einwohner in der sowjetischen besetzten Zone hin formuliert. Es ist aber zunächst nicht mehr als ein Appell. Auch der Blick auf Europa ist vor dem Hintergrund des soeben beendeten Zweiten Weltkriegs der Hinweis auf eine politische Zielsetzung, dass ein Frieden auf dem Kontinent dauerhaft nur erreicht werden kann, wenn der Nationalstaat sich einbettet in eine Struktur, die von einer Gemeinsamkeit der Staaten in Europa ausgeht. Aber das ist zunächst (noch) Zukunftsmusik. Entscheidender für das Verständnis des Grundgesetzes ist der normative Anspruch, der gleich zentral im ersten Satz der Präambel erhoben wird: die Verantwortung vor Gott. Dieser Passus war durchaus strittig in der Debatte des Parlamentarischen Rats, letztlich haben sich hier Adenauer und seine christlich-konservativen Mitstreiter durchgesetzt. Sie haben auf die Relation zu Gott vor allem deshalb gedrungen, um die normative Perversion, die das Dritte Reich in seiner Rechtskonstruktion ergeben hatte, deutlich zu kennzeichnen. Denn das NSSystem blieb trotz aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit formal betrachtet ein Rechtsstaat. Aus der Sicht von Adenauer und Co. war es gerade der Positivismus einer ganz auf Mehrheiten und Macht ausgerichteten Politik, der dazu geführt hat, dass Auschwitz möglich wurde. Wenn man nur noch den Menschen gegenüber verantwortlich ist, eventuell sogar nur noch einem einzigen Führer, dann gibt es keine Schranke mehr für ein individuelles Gewissen, denn dann kann die Mehrheit mit Macht diktieren, was das Richtige sei. Die Humanität des Menschen in seiner individuellen Existenz und geistigen Verfasstheit kann und darf aber niemals zentral durch die Politik definiert werden. Dann wäre es jedenfalls keine demokratische Politik mehr, sondern eine Totalitäre. Die Verantwortung vor Gott kennzeichnet daher eine Appellinstanz, die sich sowohl normativ wie auch funktional dem Machtanspruch der irdischen Welt (und dazu gehört Politik immer) entzieht. Was politisch geboten erscheint, muss daher noch keineswegs richtig sein, erst recht dann nicht, wenn eine Mehrheit auf den Straßen lautstark oder sogar mit Gewalt dies einfordert. Der Bezug zu Gott als Appellinstanz gleich zu Beginn des Grundgesetzes im ersten Satz der Präambel verweist also auf eine normative Dignität und Größe, die sich dem rein positivistischen Verständnis von Politik entzieht. Jenseits aller Macht des Staates gibt es immer noch eine Macht, die größer ist. Was Wahrheit ist, kann nie allein durch Gesetze, die Menschen nach ihren Launen und begrenzten Vernunfteinsichten machen, bestimmt werden. Insofern bleibt mit dem Gottesverweis immer ein Rest an Unverfügbarkeit für die

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Politik bestehen (vgl. auch Walther 2004). Genau daran erinnert der Passus in der Präambel. Diese Erinnerung ist jedoch heute strittiger denn je. Heutzutage würde es für eine solche Formulierung im Deutschen Bundestag vermutlich keine Mehrheit mehr geben. Nicht zufällig waren Gerhard Schröder und Joschka Fischer bei ihrer Vereidigung zum Bundeskanzler bzw. Außenminister 1998 die ersten Politiker, die ihre Ämter in einer Bundesregierung ohne den Eid auf Gott geleistet haben. Für viele Parlamentarier und Politiker generell ist der Gottesverweis ein Indikator geworden, der ihrer Ansicht nach nicht in die Verfassung gehört. Die rechtsphilosophischen und normativen Gründe, die Adenauer und Co. motiviert haben, spielen in der Gegenwart keine zentrale Rolle mehr. Ein Terminus, wie der von dem Willen beseelt, in der vom Verständnis einer Seele ausgegangen wird, die dann auch noch unsterblich sein soll, ist für Atheisten nicht hinnehmbar. Papst Benedikt XVI. hat daher nicht zufällig in seiner programmatischen Rede im Deutschen Bundestag (2011) betont, wie sehr die christliche Auslegung des Naturrechts die Vernunftansprüche des Menschen als Bürger mit bestimmt. Es geht nicht einfach um eine Vernunft, „die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann“ (Benedikt XVI. 2011: 2). Es geht vielmehr um eine Vernunft, die einen ethischen Kern aufweist, der nicht hintergehbar ist, aus welchen praktischen Gründen auch immer. Das setzt ein Bewusstsein voraus bzw. eine Anerkennung, dass man als Mensch von der Natur (und in der Natur) gemacht worden ist, die nicht einfach durch willkürliche Verfügungen anderer Menschen im Namen einer sogenannten richtigen Politik zerstört werden darf. „Der Mensch“, so Benedikt XVI. (ebd.), „ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“ Der Hinweis auf die christlichen Grundlagen des modernen Naturrechts gilt auch in Bezug auf Artikel 1 des Grundgesetzes (GG 2009: Art. 1.1): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser Satz stellt gewissermaßen als Eingangskode in das Grundgesetz die Substanz aller weiteren Grundrechte dar. Der Appell an die Würde des Menschen, die unantastbar sei, ist in dieser Zuordnung einzigartig. Keine andere demokratische Verfassung kennt eine solche Festlegung, schon gar nicht an derart prominenter Position. Insofern ist Artikel 1, Satz 1 des Grundgesetzes eine deutsche Besonderheit. Sie wird nur verständlich vor dem Hintergrund der Exzesse des Dritten Reiches. Die Väter und Mütter des Parlamentarischen Rats wollten mit diesem Satz gegenüber den Abgründen in der Staatlichkeit des Dritten Reiches eine eindeutige Schranke ziehen. So etwas wie Ausschwitz, das als Paradigma steht für Massenmord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im staatlichen Auftrag, soll und darf sich nicht wiederholen. Nicht der Staat steht in der demokratischen Kultur des Grundgesetzes voran, sondern es ist das Individuum, der einzelne Bürger, der als Mensch sein natürliches Menschenrecht stets behält, egal wie die sozialen und politischen Umstände sein mögen. Der demokratische Verfassungsstaat hat die Verpflichtung, die Würde seiner

Christliches Naturrecht

Artikel 1 des Grundgesetzes

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II. Polity: Das Grundgesetz

Die Würde des Menschen

Artikel 2 des Grundgesetzes

Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Diese müssen allerdings auch untereinander diese Würde als wertvolles Gut ihrer Existenz betrachten. Doch was ist die Würde des Menschen? Die meisten Zeitgenossen betrachten die Frage der Würde als einen Ausdruck für ihre individuelle Selbstverwirklichung. Dabei hat dies eigentlich gar nichts mit der Würde zu tun. Die Würde eines Menschen manifestiert sich in der Qualität seiner Selbstachtung, der Art und Weise, wie jeder Einzelne über sich denkt und wie er oder sie von anderen Menschen behandelt werden will. Die Selbstachtung ist die Zuschreibung der Identität einer Person. Sie ist damit integraler Bestandteil dessen, was einen jeden Menschen zu einer natürlichen Persönlichkeit macht. Dieses natürliche Anrecht auf die je eigene Selbstachtung im Sinne einer Selbstauslegung als Person kann und darf niemanden genommen werden. Die Würde ist damit ein konstitutives Element für die Menschenrechte insgesamt. Wer sich hieran vergeht bzw. dies bewusst in Abrede stellt, vergeht sich nicht nur an der jeweiligen Person (und ihrer Würde), sondern auch an den Grundsätzen des deutschen Verfassungsstaats, der mit Artikel 1(1) GG seine oberste Maxime formuliert. Da jeder Mensch seine Würde als Akt einer Selbstzuschreibung seiner personalen Identität versteht (vgl. auch Quante 2010), muss der Staat im Rahmen seiner Institutionen die Relation der Würdeverhältnisse unter den Bürgern garantieren bzw. dort wiederherstellen, wo (und wenn) diese diskreditiert werden. Der Satz von Artikel 1 zielt auf die Unantastbarkeit. Die Aussage, demzufolge die Würde eines Menschen unantastbar ist, wirkt paradox, da faktisch jederzeit die personale Würde bestritten werden kann, Bürgerinnen und Bürger in ihrer Selbstwertschätzung diskreditiert, verleumdet, angefeindet und verletzt werden. Die Verfassungsväter insistieren mit ihrer Formulierung hingegen auf die Unabdingbarkeit der Würde, die auch dann bestehen bleibt, wenn sie de facto angegriffen wird. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine metaphysische Aussage: egal, wie die Rechts- und Herrschaftsverhältnisse sein mögen, das Recht des Menschen in Bezug auf seine Würde bleibt nicht verhandelbar, ist vom Staat nicht zu verändern – so, wie auch der Gottesbezug sich der staatlichen Verfügung entzieht. Artikel 1(1) GG bezieht sich in erster Linie auf die normative Disposition der Bürgerinnen und Bürger, materielle Verpflichtungen (vor allem seitens des Staates) sind damit nicht gemeint. Daher sind die immer wiederkehrenden Versuche, z.B. im Bereich der Sozialpolitik, etwa bei der Sozialhilfe etc., mit der Würde des Menschen zu argumentieren, von der Rechtsprechung her abgelehnt worden. Anders verhält es sich hier hingegen bei der Aussage von Artikel 2 GG, in der es um die freie Entfaltung der Persönlichkeit geht. Insbesondere Satz 2 von Artikel 2 hat hier in der jüngeren Vergangenheit Furore gemacht (GG 2009: Artikel 2.2): „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Diese Festlegung betrifft unmittelbar die konkrete Ausgestaltung in der politischen Praxis, vor allem im Vollzug der staatlichen Institutionen. Artikel 2 (2) ist wie Artikel 1 vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Dritten Reiches geschrieben worden. Folter und Verstümmelung im staatlichen Auftrag sollen hiermit eindeutig unterbunden werden. In die Freiheitsrechte einer Person

II. Polity: Das Grundgesetz

kann nur auf der Grundlage von Strafgesetzen und polizeilichen Bestimmungen eingegriffen werden. Doch das, was sich auf dem Papier so schön eindeutig lesen lässt, ist in der Praxis mitunter komplizierter. Wie der Fall eines Geiselnehmers und Mörders in Frankfurt am Main im Jahre 2002 zeigt, kann eine Situation auftreten, in der sich die ermittelnden Polizisten in einer Zwickmühle befinden. Der Täter hatte ein Kind entführt und ermordet und war drei Tage später nach erfolgter Geldübergabe von der Polizei verhaftet worden. Der Täter stritt zunächst alles ab und suggerierte bei der Vernehmung, dass die Geisel noch leben würde, gab jedoch das Versteck nicht preis. Daraufhin erlaubte der zuständige Polizei-Vizepräsident, dem Täter im Verhör Gewaltanwendung anzudrohen. Der Vizepräsident machte über diesen Sachverhalt eigens einen Aktenvermerk. Aus Angst vor der angedrohten Gewaltmaßnahme gab der Täter dann das Versteck der bereits toten Geisel preis (vgl. u.a. Broder 2011). Gegen den Polizei-Vizepräsidenten wurde ein Verfahren wegen Aussageerpressung eingeleitet, das mit einer Verurteilung zur Geldstrafe 2003 abgeschlossen worden ist. Im gleichen Jahr wurde der Täter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen der besonderen Schwere der Schuld verurteilt. Im Juli 2010 klagte er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bekam in Teilen seiner Anklage Recht. Demzufolge haben die Beamten Hessens bei ihrem seinerzeitigen Vorgehen gegen die internationale Konvention zum Folterverbot verstoßen, welche von der Bundesrepublik Deutschland mit unterzeichnet worden ist. Über diesen und ähnlich gelagerte Fälle hat sich in der Öffentlichkeit wie auch in der juristischen Fachwelt eine heftige Debatte entfacht. Das Verhalten des Frankfurter Vizepräsidenten galt vielen als praktikabler Ausweg aus einer extremen Situation. Das geltende Recht sieht jedoch eine solche Lösung für die Ermittlungsbehörden nicht vor. Unter dem Begriff der Rettungsfolter führen Strafrechtler und Kriminologen nicht erst seit diesem Fall eine Diskussion darüber, ob und inwiefern es bei bestimmten Notsituationen für den Staat doch erlaubt sein könne, Ermittlungen mit Gewaltanwendung zu betreiben (vgl. Nitschke 2005). Die Pro- und Kontra-Debatte wird besonders auch im Hinblick auf Bedrohungslagen wie die von 9/11 geführt. Was darf der Staat tun, wenn es zum Äußersten kommt? Darf ein Verteidigungsminister z.B. ein gekapertes Flugzeug abschießen lassen, wenn damit ein Anschlag wie am 11. September 2001 zu erwarten ist? Mehrfach ist hier auch das Bundesverfassungsgericht zu einem Urteil aufgefordert worden. Bisher ist mit dem Verweis auf einen staatlichen Notstand die Sachlage allerdings nicht klarer geworden. Artikel 2 (2) scheint eindeutig, doch in der Praxis zeigen sich Spannungspunkte für die Auslegung. Beim Finalen Rettungsschuss, mit dem die Polizei Geiselnehmer gezielt töten darf, wenn Gefahr für das Leben der Geiseln droht, geht es schon lange nicht mehr um die körperliche Unversehrtheit der Person. Die Erlaubnis zur gezielten Liquidierung ist Bestandteil der Gesetze für die Polizeien der Länder. Theorie und Wirklichkeit liegen aber nicht nur bei Artikel 2 (2) GG nicht deckungsgleich. Streng genommen trifft dies für die meisten Punkte der Verfassung zu. Der praktische Wirklichkeitsvollzug in und durch die Politik muss unterschieden werden von der juristischen Terminologie, die ein Text wie das Grundgesetz pro forma anzeigt. Das gilt z.B. auch für Artikel 3 GG. Hier heißt es in Satz 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Damit

Folterverbot

Notsituationen in der Debatte

Artikel 3 des Grundgesetzes

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II. Polity: Das Grundgesetz

Gleichheitsgebot

Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern

Staatsziele

ist jedoch nicht gemeint, dass alle Bürger den gleichen gesetzlichen Bestimmungen unterliegen. Zwar ist das Recht als Gesetz für alle gleich, aber in der Qualität der Anwendung unterliegt jeder differenten Bestimmungsmöglichkeiten, die von dem jeweiligen Kriterienkatalog abhängen, die angesetzt werden. Zwischen jugendlichen und erwachsenen Straftätern wird zu Recht unterschieden. Auch die Frage der Höhe des Einkommens führt zu einer unterschiedlichen Behandlung durch die Steuergesetze. Artikel 3 (1) GG meint also zunächst nur die formale Gleichheit in der Perspektive auf die gesetzlichen Bestimmungen. Welche das dann konkret für einen Bürger sind, hängt von seiner Einordnung in spezifische Bereiche der Altersgruppen, der Erwerbtätigkeit, der personalen Verantwortung etc. ab. Auch der zweite Satz von Artikel 3 formuliert einen Rechtsanspruch, der in der Faktizität der Erscheinungsformen in der Praxis dazu geführt hat, dass die Umsetzung a) lange hat auf sich warten lassen und b) bis zum heutigen Tage immer noch Defizite aufweist. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es da (GG 2009: Artikel 3.1). Doch weil die politische und ökonomische Praxis in Deutschland trotz dieser Aussage über Jahrzehnte hinweg eine andere war, hat die rot-grüne Bundesregierung 1999 einen Zusatz zu Artikel 3 (2) eingebracht, der da lautet (ebd.): „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Damit erkennt der Verfassungsgeber, der Deutsche Bundestag, an, dass die sozialpolitische Realität in der Frage der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern in der deutschen Gesellschaft nach wie vor reformbedürftig ist. Zwar werden im öffentlichen Dienst die Prinzipien der Frauenförderung bzw. (neuerdings) der Gleichstellungspolitik schon seit mehr als 30 Jahren verfolgt, d.h. beispielsweise, dass es für gleiche Arbeit den gleichen Lohn gibt, doch sind es vor allem bestimmte Bereiche der Privatwirtschaft, z.B. im Bankenund Versicherungssektor, die sich bisher durch eine recht einseitige Männerdominanz und eine unterschiedliche Bezahlung (zu Lasten der Frauen) auch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts nach wie vor auszeichnen. Die Realität einer Verfassung wird immer durch die politische und ökonomische Praxis bestimmt. Insofern ist deutlich zu unterscheiden zwischen den normativen Aussagen, die im Grundgesetz signifikant formuliert werden, und der alltäglichen Praxis in ihrer konkreten Ausgestaltung. Das erweist sich vor allem im Hinblick auf die Staatsziele, von denen das Grundgesetz gleich vier in einem einzigen Artikel thematisiert. Während in den Artikeln 1–19 die Grundlagen der Menschenrechte als Freiheitsrechte für den einzelnen Bürger formuliert und in ihren Grundzügen umrissen werden, zeigt Artikel 20 die Strukturprinzipien des Staates an. Gleich der erste Satz von Artikel 20 indiziert die vier zentralen Staatsziele für die deutsche Verfassung (GG 2009: Artikel 20.1): „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, heißt es hier lapidar in aller Kürze. Dahinter verbergen sich folgende Staatszielbestimmungen für das deutsche Volk: 1) Republik 2) Demokratie 3) Sozialstaatlichkeit 4) Föderalsystem.

II. Polity: Das Grundgesetz

Es mag auch auf den ersten Blick verwundern, warum Demokratie nicht mit dem Republikgedanken identisch sein soll. Tatsächlich ist es jedoch richtig gewesen, dass die Verfassungsväter 1949 hierin eine Unterscheidung vorgenommen haben. Nicht alle Staaten, die sich Demokratie nennen, betonen zugleich den Charakter einer Republik – und umgekehrt sind auch nicht alle Republiken dieser Welt automatisch auch eine Demokratie. China z.B. nennt sich eine Volksrepublik und betont auch (derzeit), wie wichtig der Volksgedanke (vermittelt über die Partei) sei, doch eine Demokratie ist das Land zweifellos nicht. Umgekehrt ist Frankreich eine Demokratie, betont aber vom konstitutionellen Selbstverständnis das republikanische Element. Worin besteht also der Unterschied? Die Differenz liegt a) in der historischen Erscheinungsform des Begriffs und b) in dem damit verbundenen Institutionenverständnis. Auch wenn der Demokratie-Begriff durch das Beispiel Athens im 5. Jahrhundert v. Chr. der historisch ältere Begriff ist, so stellt doch die Zuordnung des Staates zur Republik für die Entstehungsphase des modernen europäischen Staates seit dem 16. und 17. Jahrhundert die strukturell zunächst relevantere Bedeutungsfunktion dar. Die Republik verweist demzufolge auf eine Herrschaft im Namen des Volkes, ohne dabei notwendigerweise mit den Wahlmechanismen der Demokratie verknüpft zu sein. Denn Demokratie meint zunächst nichts anderes als den reinen Akt der Wahl sowie die Schaffung bestimmter prozeduraler Voraussetzungen hierfür. Streng genommen geht es bei einer reinen Demokratie immer (nur) um Direktdemokratie. Diese aber hat sich im modernen Staat in vollständiger Weise nirgendwo umsetzen lassen. Was zur Herrschaftswirklichkeit wurde, und daran appelliert das Grundgesetz, ist hingegen die repräsentative Demokratie, also die Repräsentation der Interessen der Bürger durch gewählte oder nominierte Mandatsträger (vgl. auch Duso 2006). Das Verständnis des Staates als Republik, die vor allem dadurch besteht, dass Gesetze die normative und funktionale Grundlage des Staates bilden, ist hingegen die ältere Traditionslinie in der europäischen Staatsgeschichte. Der prämoderne Republikanismus zeigt in dieser Hinsicht das an, was heute mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zum Bestandteil einer jeden Demokratie geworden ist (vgl. u.a. Pocock 1975, Skinner 1978). Die Lehre von der Gewaltenteilung ist zentrales Element einer jeden republikanischen Verfassung. Auf diesen Sinnzusammenhang haben sich Adenauer und Co. bezogen und deshalb heißt es in Artikel 20 (1) GG auch nicht Bundesdemokratie, sondern dort ist von der Bundesrepublik die Rede. Das impliziert, dass gute Demokraten allesamt auch (und vor allem) Anhänger der Republik sind, also die staatlichen Institutionen, weil sie im Auftrag des Volkes agieren, achten. An diesen Kontext idealerweise zu erinnern, ist gerade in der heutigen Zeit nicht verkehrt. Demokratie als normativer Ausdruck für die Legitimation durch das Volk kann nur funktionieren, wenn die staatlichen Institutionen rechtsstaatlich auf der Grundlage der Gesetze agieren. Neben dem Rechtsstaatsprinzip wird in der Formulierung von Artikel 20 (1) GG auch der Sozialstaatsgedanke genannt. Es ist dies eine der wenigen Stellen im Grundgesetz, an denen auf diesen Sachverhalt hingewiesen wird. Die Ausrichtung auf eine Soziale Marktwirtschaft, wie sie in den Artikeln 14 und 15 GG anklingt, bekommt hier ihre strukturelle Zuordnung und Bestäti-

Die Republik

Die Demokratie

Rechtsstaatsprinzip

Der Sozialstaat

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II. Polity: Das Grundgesetz

Der Föderalismus

Ewigkeitsklausel

gung. Empirisch betrachtet, hat sich dieses Staatsziel zu einem der größten Handlungsfelder für die Bundesrepublik Deutschland ausgeweitet. Im Politikfeld des Sozialen werden die meisten Ausgaben des Staates getätigt – eine Entwicklung, die nicht unbedingt der Intention der Verfassungsgeber entsprach. Die Diskussionen um Soziale Gerechtigkeit als materielle Verteilungsfrage stehen in der deutschen Gesellschaft seit Jahrzehnten voran, prägen die bundesrepublikanische Politik und werden stets mit einer Energie und Heftigkeit ausgetragen, was in anderen politischen Themenfeldern oft ausbleibt. Demgegenüber gerät das vierte Staatsziel etwas in den Hintergrund, obwohl es doch eigentlich neben dem Rechtsstaatsgedanken den prägenden institutionellen Rahmen für die deutsche Demokratie ergibt. Die demokratische Ordnung in Deutschland ist keine zentralistische Staatsordnung, sondern basiert auf einer föderalen Struktur, in der die Länder im Bund als Glieder des Staates eine wichtige Funktion einnehmen. Die 16 Bundesländer, welche die Bundesrepublik insgesamt als Föderation begründen, verdanken ihre Entstehung zwei Faktoren: Einerseits der Intention der westlichen Alliierten, hier insbesondere der USA, nach 1945 keine zentralistische Staatsgewalt in Deutschland mehr zulassen zu wollen, weil der Zentralismus mit der Diktatur des NS-Regimes verbunden war. Mehr noch aber ist ausschlaggebend gewesen, dass der Föderalismus selbst eine lange historische Traditionslinie bis in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation seit dem Spätmittelalter hatte (vgl. u.a. Nipperdey 1983). Sowohl die Weimarer Republik als auch das Deutsche Kaiserreich sind Föderalsysteme gewesen. In dieser Hinsicht ist die Beziehung auf den Bundesstaat keine Neuerfindung, sondern folgt durchaus pragmatisch der Verwaltungserfahrung der Mitglieder des Parlamentarischen Rats, die, wie etwa Adenauer, hier dezidierte Experten in Sachen Föderalismus waren. Eine jede Verfassung lebt von der Substanz ihrer Kernaussagen und der Nachhaltigkeit in ihrer Anwendbarkeit. Die Kernaussagen sind in den Artikeln 1–19 und systematisch für den Staat in Artikel 20 formuliert. Die Frage ist allerdings, wie dauerhaft diese Bestimmungen sind? Darüber kann man zweifellos geteilter Meinung sein (vgl. z.B. Dreier 2009, Hömig 2010). Um gesellschaftlichen Veränderungen vorzubeugen, die letztlich auch zu ZweiDrittel-Mehrheiten im Deutschen Bundestag führen könnten, mit deren erdrückender Dominanz man sich über zentrale Aussagen des Grundgesetzes hinwegsetzen könnte, haben die Verfassungsväter zu einer eigenwilligen Konstruktion gegriffen. In Artikel 79 (3) wird die Veränderbarkeit des Grundgesetzes in bestimmten Punkten für unzulässig erklärt: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Diese auch als Ewigkeitsklausel verstandene Formulierung des Grundgesetzes soll der Verfassung eine immer fortwährende Existenz gewähren. Ist dies realistisch? Ganz abgesehen davon, dass kein westlicher Verfassungsstaat eine derartige Klausel kennt, und abgesehen davon, dass kein Staat ewig bestehen bleibt, wirkt dieser Passus merkwürdig bis hin zur logischen Inkonsistenz. Sicherlich war die Sorge um die Verfassung vor dem Hinter-

II. Polity: Das Grundgesetz

grund der Erfahrungen mit dem NS-System, welches die bestehende Verfassung funktional ausgehebelt hat, gut gemeint. Aber gut gemeint ist nicht notwendigerweise gut gedacht. So, wie der Satz 3 in Artikel 79 formuliert ist, wirkt er wie eine metaphysische Konstruktion durch die Hintertür. Deutschland muss auf ewig ein Föderalstaat bleiben und Artikel 1 muss seinen zentralen Stellenwert für die Verfassung behalten. Dabei lassen sich für die Bestimmung der Würde ganz unterschiedliche Geltungsmuster anzeigen. Normativ wie institutionell wird mit der Ewigkeitsklausel eine Sperre für die Dynamik in der Verfassungsentwicklung angezeigt, die wie eine Tabuisierung für den öffentlichen Diskurs wirken soll. De facto aber können sich Strukturen in der Bundesrepublik allein schon durch internationale Prozesse (wie den der Globalisierung oder der Europäischen Integration) derart gravierend verändern, dass die Verfassung hierzu modifizierend Stellung nehmen muss. Wenn kein Staat ewig existiert, dann ist auch eine demokratische Ordnung nur von längerer Dauer, wenn sie auf Wandel positiv zu reagieren weiß (vgl. auch Nitschke 2007).

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III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen

Moderner Staat

Die drei Dimensionen von Staatlichkeit

Im Grundgesetz werden die Institutionen der Bundesrepublik Deutschland eingehend beschrieben. Dort ist (in den wesentlichen Rahmenbedingungen) festgelegt, wie sie zueinander stehen und was sie dürfen bzw. nicht dürfen. Damit vollzieht sich in der Polity Deutschlands anhand der Bestimmungen der Verfassung die Struktur des deutschen Staates nach 1949. Die Bundesrepublik ist hierin ein durch und durch modernes Staatsgebilde, das aber (wie andere demokratische Staaten auch) in der Gegenwart eine Reihe von Problemen aufweist, die sich allein schon aus der Struktur der Staatlichkeit ergeben. Bevor die zentralen Institutionen im Einzelnen vorgestellt und erläutert werden, ist es daher wichtig, die Strukturprinzipien moderner Staatlichkeit zu verstehen. Der Staat ist im Grunde eine europäische Erfindung, basierend auf den Erfahrungen, die das Zusammenspiel und die wechselseitige Differenz von Religion und Politik seit dem Mittelalter für die europäischen Nationen erbracht hat. Politische Ordnungssysteme hat es zwar immer gegeben, doch meist waren dies an Personen orientierte Verbandssysteme, in denen z.B. die Herkunft qua Geburt oder reine Gewaltstrukturen den Ausschlag gaben. Eine Form der Staatlichkeit, in der Gesetze (vermittelt über einen dafür extra ausgebildeten Beamtenapparat, verbunden mit einem effizienten Steuersystem) den Ausschlag für die politische Ordnung geben, ist so gesehen eine Erfindung der Neuzeit. Die Entdeckung des Staates als einer unabhängig von einer Person zu adressierenden Ordnungsmacht ist zwar seit der Renaissance bekannt, zweifellos aber erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts strukturell wirkungsmächtig geworden. So sind insbesondere das 19. und das 20. Jahrhundert hervorzuheben, in denen sich der ordnungspolitische Aufstieg und die Leistungsfähigkeit des Staates als das zentrale Herrschaftsmodell für Politik durchgesetzt hat. Dies gilt auch (und ganz besonders) für die deutsche Entwicklung (vgl. auch Nitschke 2011). Der Staat wird in Deutschland zur unumstrittenen politischen Ordnungsgröße, bei der mitunter in der Betrachtung der Politik-Begriff gänzlich als eigenständige Größe verschwindet, indem alles und jedes Thema etatisiert, d.h. verstaatlicht wird. Insofern ist es vielleicht auch nicht überraschend, dass es ein deutscher Staatsrechtler war, Georg Jellinek, der mit seiner Allgemeinen Staatslehre (1900) ein Standardwerk vorgelegt hat, das dann selbst für die Begründung des Staates im modernen Völkerrecht die klärenden Grundlagen geschaffen hat (vgl. auch Anter 2010). Nach Jellinek ist der Staat in drei Dimensionen zu begreifen (vgl. Jellinek 1960): 1. Hoheitsgebiet (Territorium) 2. Hoheitsgewalt (Government) 3. Staatsvolk.

III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen

Als weiteren Punkt kann man aufgrund der staatsrechtlichen Diskussion in Verbindung der Faktoren 1–3 als Synthese ansetzen: 4. Die Souveränität. Alle vier Kennzeichen beschreiben das, was einen modernen Staat auszeichnet. Das Territorium, d.h. der Geltungsbereich der staatlichen Gesetze, muss klar bestimmbar sein. Meistens ist dies ein abgerundetes, in sich zusammenhängendes Gebiet mit fest umrissenen Grenzen. Die Hoheitsgewalt bezieht sich dann auf eben jenes Staatsgebiet. Die Legitimation der Regierung für ihr Handeln ist zunächst nur in Bezug auf das Staatsgebiet zu sehen. Die Gewaltfunktion der Regierung ergibt sich durch ihr Gewaltmonopol, d.h. den Anspruch auf die Mittel und Durchsetzungsfähigkeit von Gewaltmaßnahmen, die durch Gesetze und die Verfassungsstruktur legitimiert sind. Keine Regierung ohne ein Volk, das regiert wird. Insofern ist der Bezug des Staates auf ein Volk zwar scheinbar eine Banalität, doch enthält genau dieser Passus eine Reihe von Problemen rechtlicher Art. Wer oder was ist das Volk? Und zwar als Staatsvolk? – Es geht bei der dritten Kategorie nicht um irgendeine Gesellschaft, die in einem Staatsgebiet lebt, also die Einwohner bzw. Bewohner eines Landes, sondern spezifisch um diejenigen Menschen, die als Bürger in Form von Staatsbürgern alle verfassungsgemäßen Rechte (und Pflichten) auf sich vereinigen. Mit dem Kriterium des Staatsvolkes werden zugleich all diejenigen Menschen ausgeschlossen, die zwar auf dem Boden des Staates arbeiten und leben, jedoch den Staatsbürgerpass nicht besitzen. Sie haben nur ein Aufenthaltsrecht im Sinne eines Gastrechts, das meist auch mit der Berechtigung zur Arbeit verbunden wird. Das vierte Kennzeichen, die Souveränität, ist der Schlüsselbegriff, mit dem das moderne Völkerrecht die drei Kategorien von Jellinek zusammenfassend klassifiziert (vgl. u.a. Hobe 2008, Tomuschat 2012). Es ist aber zugleich auch der Begriff, der mittlerweile am deutlichsten zeigt, wie sehr sich der moderne Staat in einer strukturellen Krise befindet. Wenn man Souveränität mit dem griechischen Begriff der Autarkie übersetzt und dabei die Selbständigkeit einer Nation bzw. die eines Staates meint, dann ist ein solcher Zustand heutzutage für keinen Staat dieser Welt mehr gegeben. Selbst die USA als derzeit nach wie vor mächtigstes politisches System sind nicht mehr souverän in dem Sinne, dass man unabhängig von anderen Entscheidungen oder Einflüssen wäre. China bestimmt aufgrund der Dollardevisen, über die es verfügt, mittlerweile die amerikanische Finanz- und Wirtschaftspolitik mit. Eben deshalb wenden sich die USA in ihrer politischen Agenda verstärkt dem pazifischen Raum zu. Auch Deutschland ist wenig souverän: was Frau Merkel als Bundeskanzlerin entscheidet, hängt im Wesentlichen von der Interaktion im Rahmen der Strukturen der Europäischen Union ab. Eine Souveränität im Sinne einer freien Selbstverfügung gibt es hier für keinen Staats- und Regierungschef mehr – auch wenn manche Politiker dies zweifellos gerne so sehen würden oder nach wie vor meinen, dass es so sei! Der Souveränitätsanspruch besteht also völkerrechtlich nur noch auf dem Papier. De facto sind die Strukturen der internationalen Politik mittlerweile in einer derart komplexen Vermischung begriffen, dass von den Inhalten einer staatlichen Souveränität (mit Ausnahme bestimmter Politikfelder) nicht mehr

Gewaltmonopol des Staates

Staatsvolk

Souveränitätsprinzip

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III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen

Ende des souveränen Staates

Entgrenzung des Staates

die Rede sein kann. Vielleicht war dies auch realhistorisch im 19. Jahrhundert der Fall, als man den Begriff zum Maßstab des Völkerrechts gemacht hat, aber das ist für den Gegenwartsbefund an dieser Stelle nicht weiter relevant. Was jedoch von Relevanz ist, ergibt sich in der Konsequenz aus dem Scheitern des Souveränitätskonzeptes: Wenn kein Staat dieser Welt in seiner politischen Handlungslogik unabhängig von den anderen Staaten ist, dann sind auch die Zuordnungsmuster für den modernen Staat anhand der Kategorien 1–3 nicht mehr so klar zu fixieren, wie dies für Jellinek am Ausgang des 19. Jahrhunderts der Fall war. Tatsächlich ist die Frage, wo die staatlichen Grenzen liegen angesichts weltweiter Wanderungsbewegungen, die auf eine Entgrenzung von Räumen, Kulturen und Staatlichkeit zielen, nicht nur eine soziale, sondern auch eine politische, die neu beantwortet werden muss. Wo sind die rechtlichen Grenzen im Zeitalter der Internetkommunikation, bei der in Echtzeit über die Grenzen des Staates hinweg agiert wird? Was sollen noch staatliche Grenzen bewirken, wenn die Organisierte Kriminalität mit der Illegalität ihrer Strukturen diese Grenzen mühelos überwindet? Was bedeutet es für einen Staat, wenn ein zentraler Wirtschaftszweig seiner nationalen Ökonomie (und sogar nur eine bestimmte Firma) zum Global Player aufsteigt und Produkte in aller Welt anbietet? Wo werden dann die Steuern gezahlt und wo werden die Gewinne gutgeschrieben? Mit der Entgrenzung des Staates verliert zugleich die Frage nach der kategorialen Bestimmung des Staatsvolkes ihre absolute Glaubwürdigkeitsfunktion und Legitimation. Wer oder was ist das Volk, wenn im Rahmen der Dynamik der Globalisierung Facharbeiter als sogenannter brain drain in großer Zahl in eine nationale Wirtschaft hinein migrieren und sich damit die Konstellation der arbeitsleistenden Gesellschaft jedes Jahr neu verändert? Das Konzept des Staatsvolkes bzw. der Staatsbürgergesellschaft ging historisch idealisierend von einer nationalen Gesellschaft aus, die in sich selbst sprachlich, kulturell (und oft auch religiös-konfessionell) große Gemeinsamkeiten aufwies (vgl. u.a. Deutsch 1972, Anderson 1988). Das ist aber bei vielen Staaten dieser Welt, auch bei den erfolgreichen Industrienationen des Westens oft gar nicht mehr der Fall. Die USA, Kanada und Australien sind als Einwanderungsgesellschaften nicht zufällig Multi-Nation-States (vgl. Connor 1994). Wenn der Nationalstaat in seiner klassischen Modellbeschreibung seit der Französischen Revolution an sein Ende gekommen ist (vgl. u.a. Zürn 1998, Nitschke 2000), dann stellt sich damit auch die Frage, ob die Kategorie 3, die Regierung, noch in gleicher Weise zu begreifen ist, wie es das traditionelle Staatsmodell unterstellt? Auch hierin ist die Antwort eindeutig: die Erscheinungsformen haben sich derart verändert, dass die Beschreibungsmuster, wie sie etwa das Grundgesetz für die Bundesregierung formuliert, hier einer modifizierenden Revision bedürfen. Das gilt ganz besonders für den Institutionenaufbau in der Bundesrepublik Deutschland. Hier vor allem für die Funktion des nationalen Parlaments. Der Deutsche Bundestag ist das Forum, in welchem sich die Repräsentation des deutschen Volkes als Staatsvolk widerspiegeln soll. Da die Bundesrepublik keine direkte Demokratie ist (vgl. Kapitel II), stellt das nationale Parlament den Ort dar, an dem sich die Interessen des deutschen Volkes in ihrer möglichst breiten gesellschaftlichen Pluralität repräsentieren sollen. Diese Reprä-

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sentanz geschieht über den Umweg der Parteienbildung, weil die Parteien jenes Medium sind, das aus Einzelinteressen Artikulationsforen für Gruppeninteressen herstellt – letztlich sogar mit dem Anspruch auf ein allgemeines Interesse (vgl. auch Kapitel IV). Der Deutsche Bundestag als Forum der konkurrierenden Interessenvertretungen hat hierbei zentral die Funktion der Legitimierung der Politik. Der Bundestag übt daher (wie in allen Demokratien) die Legislativfunktion für die Politik aus, d.h. hier werden die Gesetze gemacht und beschlossen, mit denen dann das Volk regiert wird. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht das etwas anders aus. Zwar ist die Hauptrolle des Deutschen Bundestages die Legislative, d.h. die gesetzgebende Gewalt im Staat. Doch darüber hinaus ist der Bundestag zugleich auch ein Parlament, das sich nach folgenden Kriterien bzw. Funktionen beschreiben lässt (vgl. u.a. Hesse/Ellwein 2004, Gerlach 2010, Beyme 2010): a) Arbeitsparlament b) Regierungsparlament c) Verbändeparlament d) Parlament der Berufspolitiker. Ein Arbeitsparlament ist der Deutsche Bundestag aufgrund seiner Funktion als gesetzgebende Gewalt. Es ist Aufgabe der gewählten Volksvertreter in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete die Gesetze zu machen, d.h. sie zu beraten und mit Mehrheit zu beschließen. Diese Funktion ist zwar selbstverständlich für ein parlamentarisches System, doch meist wird von der Öffentlichkeit übersehen, welches Arbeitspensum dahinter steckt. In diversen Fachausschüssen geht es weniger um das allgemeine Mandat zur Repräsentation des Deutschen Volkes, als vielmehr um die inhaltliche Kompetenz des Abgeordneten für die Debatte über die einzelnen Politikfelder, zu denen die Gesetze erfolgen sollen. Ein juristisches Fachwissen ist hierbei nicht unbedingt notwendig, es ist aber auch nicht verkehrt, wenn man darüber verfügt. Schließlich geht es um die Ausgestaltung von Gesetzestexten. In den Ausschüssen zur Innen-, Gesundheits- oder Agrarpolitik etc. wird die eigentliche Kernarbeit geleistet. Lange bevor ein Gesetzestext zur Entscheidung für das Votum im Bundestag ansteht, wird in diesen Ausschüssen um das richtige Maß der Formulierungen, ihrer Bedeutung für die Umsetzung in der politischen Praxis im Pro- und Kontraverfahren zwischen den Abgeordneten und ihren Parteipositionen gerungen. Diese Form der Arbeitstätigkeit entzieht sich dem Betrachter im Fernsehen. Deshalb ist bei Laien die Verwunderung (und das Unverständnis) oft groß, wenn man bei der Fernsehübertragung von Debatten im Deutschen Bundestag mitunter nur eine Handvoll Abgeordnete auf den Plenarbänken sieht. Die eigentliche Arbeit ist dann schon im Ausschuss geleistet, die Mehrheit ist meist klar (durch die Regierungsparteien) gegeben und das Thema mag dann bei spärlicher Repräsentation ohnehin nur eine Frage für die Fachleute in den Parteien sein. Ein ganz wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag ein Regierungsparlament darstellt. Das entspricht nicht der klassischen Demokratievorstellung, die von einer Trennung der Gewalten im Sinne eines Gleichgewichts der Kräfte (checks and balances), wie etwa beim amerikani-

Bundestag

Arbeitsparlament

Regierungsparlament

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III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen

Verbändeparlament

Abgeordnete als Berufspolitiker

schen System, ausgeht. Für das deutsche Parlament ist hingegen eine Struktur kennzeichnend, bei der die Regierung bei den Abstimmungen im Parlament mit am Tisch sitzt. Und zwar in der Rolle der Stimmberechtigten. In der Regel ist jedes Regierungsmitglied zugleich auch Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Das führt dazu, dass die Regierung Gesetze mit beschließt, die sie selbst in das Parlament eingebracht hat – und die sie vor allem selbst als Exekutive ausführen wird! Eine klare Gewaltenteilung findet hier nicht statt. Die Bundeskanzlerin Merkel stimmt mit über die Gesetze ab, die ihr Kabinett a) vorgelegt hat und b) ausführen wird. Da in der Regel die Gesetzesvorschläge von der Regierung stammen und ganz selten nur von einzelnen Abgeordneten initiiert werden, hat die Regierungsseite im deutschen Parlamentarismus ein Übergewicht, das nicht unproblematisch ist (vgl. u.a. Marschall 2005, Schindler/Schüttemeyer 2010, Ismayr 2011). Der einzelne Abgeordnete hat gegenüber der fachlichen Expertise von hunderten oder gar ein paar tausend Beamten in dem jeweiligen Ministerium mit seinem eigenen kleinen Sekretariat keine Chance auf eine substanzielle Mitgestaltung. Nur im Rahmen der Partei bzw. der Fraktion, also als Gruppe, lässt sich hier eine Interessensgestaltung organisieren. Noch problematischer ist jedoch, dass durch die jeweilige Mehrheit der Parteien, welche konkret die Regierung stellen, zugleich schon die Mehrheit im Parlament festgelegt bzw. strukturiert ist. Von der ursprünglich sowohl verfassungshistorisch wie theoretisch gedachten Funktion einer kritischen Kontrollinstanz ist der Deutsche Bundestag damit weit entfernt. Eine kritische Kontrolle findet dann nur durch die jeweilige Opposition derjenigen Parteien statt, die gerade nicht in der Regierungsverantwortung sind. Die Verfassungsväter haben dieses strukturelle Übergewicht der Regierung im Deutschen Bundestag gewollt, um die Entscheidungsfähigkeit bei der Herstellung der Gesetze gewährleistet zu sehen. Das Parlament soll und muss zu einer Entscheidung kommen, das war eine der Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Die Funktion eines Verbändeparlaments ist hingegen eher ein Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik selbst. Im Grundgesetz steht davon nichts, de facto aber wirken Verbände aller Art, von Wirtschaftsverbänden bis hin zu den Gewerkschaften mit ihren Interessen auf die Abgeordneten ein. In der Regel sind die Bundestagsabgeordneten Mitglied irgendeines oder gleich mehrerer Verbände, deren Interessen sie natürlich bei ihren Entscheidungen mit zu berücksichtigen haben. Gegen diese Lobbyfunktion ist demokratie-theoretisch nichts einzuwenden, da wirtschaftliche und soziale Interessen zunächst auch jenseits der Politik organisiert werden sollen – das ist geradezu ein wesentliches Kennzeichen einer funktionsfähigen Demokratie (vgl. auch Kleinfeld/Zimmer/Willems 2007). Problematisch wird es immer dann und dort, wo dieser Lobbyismus nicht transparent gehalten wird, sich am öffentlichen Diskurs vorbei bewegt und im Hintergrund bestimmte Interessen einseitig abbildet (vgl. Leif/ Speth 2006). Ebenso problematisch ist auch das vierte Kennzeichen für den Deutschen Bundestag, nämlich dass dieses Parlament in zunehmenden Maße ein Forum für Berufspolitiker geworden ist. Politik als Beruf ist seit Max Webers systematischer Reflexion zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem ganz neuen Typus in der (demokratischen) Politik geworden, welcher auch den deutschen Par-

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lamentarismus als Erscheinungsform maßgeblich prägt (vgl. Weber 2002). Personen wie Oskar Lafontaine, Willy Brandt, Wolfgang Schäuble oder Helmut Kohl kamen bereits in jungen Jahren zur Politik – und blieben dort dann ihr Leben lang. Das bedeutet, eine berufliche Karriere findet nur über die Politik statt. Es gibt nichts anderes mehr als ein politisches Leben. Für die fachliche Expertise, für das Wissen um die Spielregeln in der Politik, für den Erfahrungsschatz ist dies zweifellos von Vorteil. Zum Nachteil wird dieses vollständige Leben in und für die Politik jedoch in Bezug auf die Arbeitsperspektive: man bleibt bis zu einem gewissen Grade nur noch in einer spezifischen Denkwelt verhaftet. Neue Strömungen in der Gesellschaft werden dann oft nicht wahrgenommen, nicht (oder zu spät) verstanden, was zu einer strukturellen Entfremdung des parteipolitischen Personals von der Gesellschaft führt. Wer sein Leben lang in der Politik bleibt und damit den ökonomischen Erfolg der eigenen bürgerlichen Existenz sichert, der sucht vorrangig auch nach der Konstanz der eigenen personalen Existenz in der Politik. Die Dynamik gesellschaftlichen Wandels ist dann nicht das zentrale Ziel einer Perspektive, bei welcher der Politiker den Beruf zum Selbstinhalt macht. Austauschprozesse, die stets auch einen Erfahrungsaustausch zwischen ökonomischen, wissenschaftlichen und sozialen Akteuren mit sich bringen, wenn es zu einem personalen Wechsel von der Politik in die Wirtschaft oder Wissenschaft (und umgekehrt) kommt, finden in Deutschland – im Gegensatz zu den USA – viel zu wenig statt. Der Typus des freien Unternehmers, der temporär auch einmal im Deutschen Bundestag sitzt, ist in den Reihen der Abgeordneten unterrepräsentiert. Hausfrauen, immerhin sozial wie ökonomisch keine unwichtige Statusgruppe in der deutschen Gesellschaft, gibt es im Bundestag nicht. Was hingegen überwiegt, ist der Typus des Beamten, a) des Juristen und b) des Lehrers. Beide Berufsgruppen sind geradezu prädestiniert für die Rolle als Berufspolitiker. Die Juristen, weil es im Parlament um die Ausarbeitung von Gesetzen geht. Rechtsfragen sind hier vorrangig, das verlangt nach einer fachlichen Kompetenz schon in Bezug auf die Verwaltungssprache, mit der die staatliche Bürokratie zu adressieren ist. Lehrer sind geeignet, weil sie darauf trainiert worden sind zu kommunizieren – und dies mit einem pädagogisch vermittelnden Imperativ. Die Liste der Minister, die entweder das eine oder das andere waren, bevor sie in die Politik gingen, ist lang. Sie zeugt aber auch davon, dass das parlamentarische System der Bundesrepublik eine strukturelle Staatslastigkeit aufweist, weil eine Beamtenperspektive hier dominiert. Die funktionale Bedeutung des Deutschen Bundestages als Legislative hat insofern auch eine Veränderung in ihrer Wertigkeit erfahren (müssen), da mit der Europäischen Integration in mehrfacher Hinsicht ein gewisser Bedeutungsverlust eingetreten ist (vgl. dazu Kapitel X). Viele wichtige Entscheidungen werden zwar noch von der Bundesregierung getroffen, jedoch geschieht dies auf dem Brüsseler Parkett beim Treffen der Fachminister bzw. der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Das nationale Parlament ist bei diesen Entscheidungen entweder zunächst gar nicht gefragt worden oder muss sich der Sachlogik der Inhalte in ihrer Legitimierung im Nachhinein beugen. Das reduziert den Stellenwert des Deutschen Bundestages als Repräsentanz der nationalen Souveränität.

Politik als Lebenszweck

Beamtete Politiker

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III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen Medien als vierte Gewalt

Checks and Balances in der Exekutive

Ein weiterer Bedeutungsverlust ergibt sich durch das Zusammenspiel von Politik und Medien. Die Medien als sogenannte vierte Gewalt im Staat verleiten Politiker geradezu in Sachen Selbstdarstellung, was dazu führt, dass viele Diskussionen zunächst gar nicht im Parlament debattiert werden, sondern in der medialen Öffentlichkeit. Der politische Stil wird dadurch mitunter von seinen Inhalten abgekoppelt: Popularisierungen, Showeffekte und Skandalisierung der jeweils konträren Positionen ersetzen dann die argumentative Sachlogik (vgl. auch Wieczorek 2009). Der Anspruch auf den Nutzen des besseren Arguments, der dem parlamentarischen Geschehen zugrunde liegt, wird hier verzerrt durch Effekthascherei, die wiederum dann oft die (nachgelagerte) eigentliche Debatte im Bundestag beeinträchtigt. Die mediale Vereinnahmung betrifft auch das Tätigkeitsfeld der Regierung, insbesondere ihre verfassungspolitische Rolle im Wechselspiel mit den beiden parlamentarischen Institutionen, a) dem Bundestag, b) dem Bundesrat. Die Bundesregierung ist hierbei jedoch institutionell betrachtet das Schwergewicht im deutschen Staatsgefüge, auch wenn man die Regierungskompetenz bei weitem nicht mit der politischen Funktion der Regierung in Frankreich oder etwa in den USA vergleichen kann. Big Government findet in der Bundesregierung nicht statt, weder an der Spitze in der Amtsrolle des Bundeskanzlers noch in den Gestaltungskompetenzen der Bundesministerien. Das liegt vor allem an der föderalen Struktur der Bundesrepublik, derzufolge die Länder über die meisten Exekutivkompetenzen verfügen, wenn es an die inhaltliche Umsetzung der Gesetzesbeschlüsse aus dem Deutschen Bundestag geht. Checks and Balances ist als Strukturprinzip für den Aufbau der staatlichen Institutionen systematisch gewollt und in Deutschland durch die föderale Struktur umgesetzt worden. Viele Politikfelder kann die Bundesregierung nur über die Mitwirkung der Länderregierungen, d.h. über die Mitgestaltung im Bundesrat erreichen. Die Exekutive ist demnach in Deutschland eine sektoral (nach Politikfeldern) wie auch vertikal (von oben nach unten) zergliederte Erscheinung. Abbildung 1 zeigt die Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen an, die hier für die Bundesregierung institutionell bestehen:

Abbildung 1: Die Bundesregierung zwischen den Institutionen Auch wenn die Darstellung hier nur vereinfacht die Wechselbeziehungen wiedergibt, so wird doch deutlich, wie sehr die Bundesregierung quasi eingehegt ist in ein komplexes Zusammenspiel a) mit dem Bundestag, b) mit dem Bundesrat, und dass diese beiden Foren wiederum aufeinander angewiesen sind. Das Staatsvolk ist hierbei für die Legitimation der Gesetze der eigentli-

III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen

che Souverän, was sich dadurch manifestiert, dass die Bürger die Abgeordneten als ihre Interessenvertreter in den Deutschen Bundestag wählen und darüber hinaus durch das Petitionsrecht sich mit ihren Beschwerden auch direkt an die Bundesregierung in Form der Fachministerien wenden können. Die Bürger wählen aber die Regierung nicht direkt, schon gar nicht denjenigen, der (oder die) ins Bundeskanzleramt einzieht. Die Wahl des Bundeskanzlers ergibt sich über die Mehrheit der Parteien, welche die Regierungsverantwortung übernehmen. Historisch sind das in Deutschland meist Koalitionsregierungen gewesen. Mit der einen Ausnahme von Konrad Adenauer, der in den 1950er-Jahren zeitweilig ohne eine weitere Partei regieren konnte, hat es seitdem in der Geschichte der Bundesrepublik nur Koalitionsregierungen gegeben. Auch das limitiert die Rolle des Bundeskanzlers in seinen Möglichkeiten. Die Ausgestaltung der Regierungsmacht hängt dann nicht unwesentlich vom koordinierten Miteinander der Parteien ab, welche die Regierungsmehrheit haben (vgl. auch Decker 2011). Im Vergleich mit dem englischen Premierminister oder etwa dem amerikanischen Präsidenten ist das Amt des Bundeskanzlers ohnehin stark eingebunden in eine austarierte Machtbalance durch Bundestag und Bundesrat. Auch wenn es verschiedentlich immer wieder Anläufe auf eine Machtpolitik seitens eines Bundeskanzlers gegeben hat, wie etwa bei Gerhard Schröder mit seinen Äußerungen „Basta – So wird es gemacht“, ändert dies nichts an der Tatsache, dass der Bundeskanzler im Vergleich westlicher Verfassungssysteme eine eher eingeschränkte Gestaltungskompetenz hat. Dies gilt auch in Bezug auf die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Bundesregierung selbst. Zwar ist immer wieder von einer Kanzlerdemokratie die Rede, weil die Medien und das interessierte Publikum zentral auf den Mann oder die Frau im Kanzleramt fixiert sind, dennoch ist die Machtposition des Kanzlers auf der Grundlage der Verfassung im Regierungskabinett ebenfalls limitiert. Einerseits hängt der jeweilige Kanzler vom Good-Will seiner Partei ab, was zu keinem Zeitpunkt ein Selbstläufer ist, da es immer parteiinterne Kritiker gibt. Solange ein Kanzler erfolgreich ist, hat er die Mehrheit seiner Parteileute auf seiner Seite. Bei strukturellen Misserfolgen hat noch jede Partei in der Geschichte der Bundesrepublik irgendwann (z. T. erbarmungslos) Schluss gemacht mit der Gefolgschaft. Zweitens hat der Bundeskanzler auf diejenigen Minister seiner Regierung wenig Zugriffsmöglichkeiten, die in der Regierungskoalition nicht seiner Partei angehören. Verfassungsrechtlich ist der Bundeskanzler nur primus inter pares, er steht dem Regierungskabinett zwar vor, doch seine wesentliche Funktion ist eine Moderation der Themen und die Vorgabe der grundlegenden Richtung in der Regierungspolitik. Ein unmittelbares Weisungsrecht gegenüber den Ministern gibt es für den Bundeskanzler nicht. Von der sogenannten Richtlinienkompetenz kann der Bundeskanzler daher auch nur bedingt Gebrauch machen. Er sollte von dieser Kompetenz auch eher absehen, denn wenn man darauf pocht, dann kann dies auch schon das Eingeständnis eines Scheiterns sein. Insofern liegt die viel beschworene Macht des Bundeskanzlers eher in der informellen Ausgestaltung der Regierungspolitik (vgl. auch Florack/Grunden 2011). Gerade aber in dieser Grauzone zwischen formalen Prozessen und informellen Debatten und Entscheidungen besteht für den Bundeskanzler bei

Der Bundeskanzler

Kanzlerdemokratie

Richtlinienkompetenz

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III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen

Der Bundesrat

Stimmenverteilung der Länder im Bundesrat

einer entsprechend taktisch orientierten Politikperspektive eine hohe Varianz an Einflussmöglichkeiten. Die Moderatorenfunktion führt zwar nicht zur Herrschaft im Sinne einer strikten Exekutive, die von oben bis unten schematisch durchregiert, wohl aber zu einer Machtposition im Sinne einer von allen in ihren Erwartungshaltungen zu adressierenden Instanz, an der man nicht vorbeigehen kann. Das eigentliche Gegengewicht zum Bundeskanzler und seiner Regierung ist nicht der Bundestag, sondern der Bundesrat. Als zweite Kammer des deutschen parlamentarischen Systems vertritt der Bundesrat die Interessen der Länder. Die 16 Länder im Bund organisieren in diesem Forum ihre spezifischen Politikansprüche, d.h., die Art und Weise, wie territorial im föderalen System der Bundesrepublik Politik gemacht wird. Die Vertreter der Länder, die im Bundesrat sitzen, sind für diese Form der Repräsentation nicht direkt vom Volk gewählt worden. Sie verdanken ihre Legitimation der Mitgliedschaft in der jeweiligen Landesregierung. Meist sind es die Ministerpräsidenten, die Länderminister oder (je nach Thematik) die Staatssekretäre der einzelnen Fachressorts, die hier über die Gesetze beraten und beschließen. Es sind also – nach einer älteren Terminologie – nur Obrigkeiten, die hier versammelt sind und diskutieren. Da es sich ausschließlich um Regierungsvertreter handelt, ist der Bundesrat im Gegensatz zum Bundestag ein Forum der Repräsentation der Exekutiven in den Ländern. Die Politik, die im Bundestag mit den dort beschlossenen Gesetzen für ganz Deutschland angezeigt wird, bekommt im Bundesrat eine spezifischere, d.h. konkret auf die Bedürfnisse und Leistungsfähigkeit der Länder zugeschnittene Umsetzungsfunktion. Das gilt nicht für alle Politikbereiche, wohl aber für die meisten, da es die Länderverwaltungen sind, die z.B. Sozialpolitik oder Umweltpolitik bis in die kommunale Ebene hinein regeln und umsetzen müssen. Zwischen Bundestag und Bundesrat besteht, wenn man so will, eine produktive Konkurrenzsituation vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessenlagen – a) dem Gesamtstaat, b) dem einzelnen Bundesland. Da aber die Parteien im Bund und in den Ländern (mit der einen Ausnahme der CSU in Bayern) die gleichen sind, bekommt diese systemische Konkurrenz noch einmal eine Aufladung durch die parteipolitischen bzw. ideologischen Positionierungen, die hier vorgenommen werden (vgl. auch Kapitel IV). Regiert z.B. eine bestimmte Partei im Bund, bedarf sie auch der Mehrheitsfähigkeit in den Ländern, um im Bundesrat mit ihren Zielen durchsetzungsfähig zu bleiben. Das ist aufgrund der Verfassungsstruktur schwierig, weil die Stimmen der Länder nach ihrer demografischen Größe gewichtet sind, d.h. bevölkerungsreiche Länder wie etwa Nordrhein-Westfalen (NRW) haben mehr Stimmen im Bundesrat als die kleinen Stadtstaaten Bremen und Hamburg. Im Einzelnen verteilen sich die 69 Stimmen im Bundesrat wie folgt: Große Länder 6 Stimmen = Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg 5 Stimmen = Hessen Mittelgroße Länder 4 Stimmen = Rheinland-Pfalz, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Berlin, Schleswig-Holstein

III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen

Kleine Länder 3 Stimmen =

Saarland, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern

Die Proportionen sind zwar nicht sauber gewichtet hinsichtlich der demografischen Größe, demzufolge ein Bundesland wie NRW mit ca. 18 Millionen Einwohner (immerhin größer als die meisten Nationalstaaten in der Europäischen Union) nur das Doppelte an Stimmen hat wie etwa das Saarland mit seinen knapp über einer Million Einwohnern. Die Relation hinsichtlich der demografischen Bedeutung ist also nur annähernd in der Stimmengewichtung angedeutet. Die Entscheidungs- und Machtkompetenz der Länder wird zudem dadurch noch komplizierter, dass die Länderregierungen (ebenso wie die Bundesregierung) auf der Basis von Parteienkoalitionen zustande kommen. Selbst in Bayern ist die jahrzehntelange Herrschaft der CSU mittlerweile Geschichte. Das bedingt für die Entscheidungen im Bundesrat komplexe Abstimmungsprozesse, denn wenn sich zwei Parteien in der Regierungskoalition in einem Bundesland bei einer Gesetzesfrage nicht einig sind, möglicherweise bedingt durch die Tatsache, dass die eine Partei zugleich auf Bundesebene in der Regierungsverantwortung ist, während sich die andere im Bundestag in der Oppositionsrolle befindet, dann ist eine Stimmenenthaltung für das betreffende Bundesland der einzig gangbare Weg, da die Stimmen der Länder im Bundesrat einstimmig abgegeben werden müssen. Auch muss eine Partei auf regionaler Ebene im Bundesland A nicht die Position teilen, die sie etwa als Koalitionspartner in der Bundesregierung vertritt. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Entscheidungsstrukturen ist das Regieren in der Bundesrepublik Deutschland als ein in sich horizontal wie vertikal zergliederter Prozess anzusehen. Der Föderalismus macht die Entscheidungsfrage für die nationale Politik nicht einfacher, was aber von der Verfassung im Sinne der Teilung der Gewalten ausdrücklich gewünscht ist: Politik soll ein plurales Geschäft in der wechselseitigen Konkurrenz der lokalen, regionalen bis hin zu den nationalen Interessen sein. Die Länder haben hierfür ihre eigene Staatsqualität als Gliederungen des Gesamtstaates zugewiesen bekommen. Dies umfasst im Wesentlichen: a) Eine eigene Verfassung b) Eigene Amtsträger und Institutionen c) Eigene Zuständigkeitsbereiche. Die Kulturhoheit gehört zu den spezifischen Zuständigkeitsbereichen der Länder ebenso wie die Polizeihoheit. In der logischen Konsequenz beinhaltet dies, dass das große Feld der Beamten in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf der Ebene des Bundes eingesetzt wird, sondern im Bereich der Länderverwaltungen. Lehrer und Polizisten stellen das Hauptpersonal der Beamtenschaft in Deutschland.

Komplexität durch wechselnde Regierungskoalitionen

Staatsqualität der Länder im Bund

Kultur- und Polizeihoheit der Länder

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IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien Parteien als Mediatoren von Interessen

Mitwirkung an der politischen Willensbildung

Weltanschauungsmuster

Die Stärke demokratischer Institutionen hängt nicht unwesentlich davon ab, wie pluralistisch das Spektrum der Parteien in einem Land ist. Parteien sind die Interessenvertretung eines Volkes, d.h. sie organisieren die ganz unterschiedlichen Einzelinteressen von Individuen, indem sie diese zu Meinungsclustern zusammenführen und konsens- bzw. mehrheitsfähig machen. Die Stellungnahme eines einzelnen Bürgers als Privatperson ist eigentlich unerheblich, zu einem politischen Vorgang wird diese Position erst dann und dadurch, wenn aus einer Einzelmeinung eine Gruppenmeinung wird, d.h. eine Öffentlichkeit hergestellt wird. Parteien sind so gesehen der Mediator, der aus (zunächst) individuellen Ansichten ein breiteres Meinungsspektrum herstellt, das für die Gesellschaft von Belang sein könnte. Eine pluralistische Gesellschaft, die auf dem Individualismus ihrer Mitglieder basiert, kann ohne die Bildung von Parteien nicht existieren. Parties, Factions sind so gesehen die gesellschaftliche Voraussetzung für jede demokratische Ordnung. Insbesondere die alteuropäische Position des Republikanismus war sich dieser Tatsache stets bewusst. Insofern ist es logisch und konsequent gedacht, dass den Parteien in der Verfassung ein durchaus zentraler Stellenwert eingeräumt wird. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es in Artikel 21 (1) GG. Dies ist allerdings (nur) ein Mitwirkungsrecht, ein Anspruch auf eine superiore Position ist damit für die Parteien nicht gemeint. Der viel zitierte und gescholtene Parteienstaat, zu dem sich die Bundesrepublik entwickelt hat, ist im Grundgesetz so nicht angelegt, sondern eher Ausdruck kommunikativer und organisatorischer Machtverhältnisse in der Ausgestaltung von Politik (vgl. u.a. Walter 2010, Detterbeck 2011). Das hat zum einen spezifisch etwas mit der internen Organisationsstruktur der deutschen Parteien zu tun, zum anderen aber auch mit den Erwartungshaltungen, die von der Gesellschaft an die Politik adressiert werden. Parteien in Deutschland sind in ihrem Kern Weltanschauungsparteien. Sie spiegeln normative Erwartungen und Bewusstseinslagen über Gott und die Welt wider, was dazu führt, dass die Parteien in Deutschland tendenziell (eher als z.B. in den USA) eine grundsätzliche Auslegung von allem vornehmen, was in der Welt passiert. D. h. ästhetische, ökonomische, kulturelle, künstlerische und wissenschaftliche Fragen und Probleme werden von den deutschen Parteien ebenso beantwortet wie soziale und politische. Der Gestaltungsanspruch der Parteien in Deutschland ist so gesehen von einer gewissen Totalität (auf alles) gekennzeichnet. Zur Weltanschauungsfrage werden Probleme vor allem dadurch, dass der jeweiligen Parteiprogrammatik ein umfassendes normatives Bewusstsein als Werthaltung für den einzelnen Bürger zugrunde gelegt wird. Dies lässt sich ideologisch in den Grundhaltungen an jeweils bestimmten (von der Partei) in einer Überhöhung gekennzeichneten Prinzipien festmachen:

IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien

a) Liberalismus = Freiheit b) Sozialismus = Gleichheit c) Konservativismus = Tradition d) Neue Soziale Bewegungen = Emanzipation. Selbstverständlich treten diese Prinzipien relational auch bei den jeweils anderen parteipolitischen Strömungen auf, doch bezogen auf die Reinheit des Prinzips lässt sich der ideologische Kern der aktuellen Parteienlandschaft in Deutschland grob skizziert so einordnen (vgl. auch Bublitz 2010). Die Freie Demokratische Partei (FDP) definiert ihr Selbstverständnis maßgeblich auf die Freiheit des Individuums hin. Das bedeutet zugleich eine Vorstellung vom Staat, der sich in seinen Leistungen zurücknimmt, um die gesellschaftlichen Kräfte nicht zu sehr zu beeinträchtigen. Die Ausgestaltung der Lebenschancen ist demnach zunächst immer ein Akt der freiwilligen Wahl in der Selbstverfügung für das individuelle Subjekt. Die bürgerliche Gesellschaft ist in diesem Verständnis ein Gegenpart zum Staat. Die staatlichen Institutionen können (und sollen) nur die Rahmenbedingungen für die bürgerliche Existenz schaffen und aufrechterhalten – wie sich das Leben gestaltet, ist hingegen Sache eines jeden Einzelnen. Wer das Individuum an erster Stelle setzt, für den ist der Staat nur eine sekundäre Instanz (vgl. auch Dittberner 2010). Gegenüber dieser klassisch liberalen Perspektive hebt der Sozialismus den Gleichheitsgrundsatz für das Zusammenleben der Menschen hervor. Da individuelle Fähigkeiten unterschiedlich ausfallen, sich vor allem Besitzzustände bei den Bürgern sehr unterschiedlich auswirken, wird hier die Sozialität im Sinne der Gemeinschaftsfähigkeit zentral betont. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) bezieht aus diesem Grundgedanken ihre (mittlerweile traditionsreiche) Argumentation. Sie ist nicht zufällig die älteste aller derzeit agierenden Parteien in der Bundesrepublik. Gegründet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat sich diese Partei zur ideologisch wirkungsmächtigsten Plattform der Arbeiterschaft in Deutschland entwickelt (vgl. auch Walter 2011). Auch wenn die Agenda einer Interessenvertretung der Belange des sogenannten kleinen Mannes heutzutage mitunter nur als rhetorische Hülse existiert, so ist der Anspruch der SPD zentral getragen von der Vorstellung, dass soziale Gleichheit nach dem Grundsatz einer sozialen Gerechtigkeit vom Staat aus organisiert werden müsse, man diese wichtige Frage nicht einfach den Beliebigkeiten gesellschaftlicher und ökonomischer Akteure überlassen dürfe. Die Inanspruchnahme staatlicher Institutionen zur Austarierung sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft ist hier das politische Kredo. Diese Zielsetzung wird auf Seiten der Partei Die Linke noch verstärkt (vgl. auch Spier/Butzlaff/Micus/Walter 2011). Hier geht das sozialistische Motiv in eine strikt kommunistische Agenda über, d.h. der Staat darf nicht nur, sondern er muss zentral eine Umverteilung hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse in der Gesellschaft vornehmen, da ansonsten eine Struktur der sozialen Gerechtigkeit nicht hergestellt werden könne. Die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien wie die Enteignung von Unternehmen zugunsten der Ansprüche der Allgemeinheit folgen dieser Argumentationslogik – ebenso wie der Ruf nach einem bedingungslosen Grundeinkommen.

FDP und der Anspruch auf Selbstverfügung

SPD und die Vision von sozialer Gerechtigkeit

Die Linke und das Kredo vom umverteilenden Staat

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IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien CDU/CSU und pragmatischer Konservativismus

Neue soziale Bewegungen

Der Konservativismus ist in dieser Hinsicht (neben dem Liberalismus) das Gegenmodell zum staatlich verordneten Gleichheitsansatz. Konservative Parteien wie die Christlich Demokratische Union (CDU) oder die Christlich Soziale Union (CSU) formulieren einen Anspruch auf Staat und Gesellschaft, bei dem beide Seiten in einer Balance bleiben sollen. Das Leitprinzip ist hierbei die Tradition, d.h. eine Interpretation von Gesellschaft, die in ihren Grundsätzen und Mechanismen den Wandel zwar bejaht, aber zugleich auch auf die Beharrung und Konstanz von etablierten Werten und Institutionen setzt. Reformen, aber keine Revolutionen kennzeichnen die konservative Linie dieser Parteien. Eigentumsverhältnisse werden als grundsätzliche Güter für den Individualanspruch des Bürgers als lebenswichtig angesehen. Darin gleicht der Konservativismus dem Liberalismus. Unterschiede (z.T. gravierende) bestehen jedoch hinsichtlich der Auslegung von Freiheitsansprüchen für das Individuum, dem die beiden christlich-konservativen Parteien stets auch die Verpflichtung zum Allgemeinwohl entgegenhalten. Die Differenzen zur FDP äußern sich dann meist in der Innen- und Rechtspolitik, aber auch auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Betonung des Christlichen für den Politikansatz war zwar historisch in der Entstehungsphase der Bundesrepublik das normative Leitbild, ist aber heutzutage eher in den Hintergrund getreten. Eine Tendenz zum Pragmatismus, der dem konservativen Politikverständnis ohnehin zu eigen ist, überwiegt (vgl. auch Reichart-Dreyer 2011). Die drei genannten ideologischen Grundströmungen (a–c) mit ihren politischen Zuordnungen im Parteiensystem der Bundesrepublik basieren auf den ideologischen Mustern, wie sie sich seit der Aufklärung im Gefolge der Französischen Revolution vor allem im 19. Jahrhundert entwickelt haben (vgl. auch Beyme 2009: 175 ff.). Neu hingegen sind die unter Punkt (d) anzuzeigenden Sozialen Bewegungen. Diese haben sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg strukturell bemerkbar gemacht, nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt. In der Bundesrepublik sind die Neuen Sozialen Bewegungen vor allem auch ein Phänomen der Diskrepanz zwischen den Generationen geworden, hier insbesondere zwischen der Nachkriegsgeneration und ihrer Elterngeneration, die am Zweiten Weltkrieg und vor allem am NS-Regime aktiv teilgenommen hatte. Der Protest der sogenannten 68er-Generation zeigt in dieser Hinsicht einen Aufbruch in eine pluralistisch bis antagonistische Modernität von Staat und Gesellschaft an, bei der die drei etablierten ideologischen Richtungen mehr oder weniger den Antitypus für die neue Politikauffassung darstellen. Zwar reklamieren SPD und FDP ebenfalls den emanzipativen Akt für ihre Politikkonzeption, doch derart radikal (bis hin zur anarchistischen Vorstellung) wurden beide Parteien nicht. Die Zielsetzungen der Neuen Sozialen Bewegungen sind auch keineswegs deckungsgleich, sondern lassen sich inhaltlich nur da in einer Übereinstimmung kennzeichnen, wo es jeweils um die Befreiung von Bevormundung, dem Außerkraftsetzen von Autoritäten und die Distanz zu Konventionen geht. Die außerparlamentarische Opposition der Studenten, der Feminismus, die Friedens- und Umweltbewegung gehen in dieser Logik eine gleiche Zielsetzung ein, inhaltlich jedoch sind die Politikfelder hierbei ganz verschieden. Die Umweltbewegung, die zur Gründung der Partei der Grünen in den 1970er-Jahren führt (vgl. auch Pettenkofer 2012), ist so gesehen nicht die ein-

IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien

zige Formation der Neuen Sozialen Bewegungen. Sie ist aber die bis dato bei Weitem erfolgreichste und nachhaltigste Bewegung, mit der sich das parteipolitische Spektrum in der Bundesrepublik auch gravierend verändert hat (vgl. Lamla 2002). Aus dem klassischen Antagonismus zwischen Sozialismus und Konservativismus, bei dem die FDP über Jahrzehnte hinweg das Zünglein an der Waage spielte, hat sich aufgrund der Etablierung der Grünen als kritische bürgerliche Alternative zunächst ein Vier-Parteiensystem entwickelt, dem nunmehr mit den Linken und der neu vorgetragenen anarchistischen Version der Piraten-Partei eine Sechs- bzw. Sieben-Parteien-Landschaft auf nationaler Ebene gefolgt ist. Auch die Piraten lassen sich den Neuen Sozialen Bewegungen zurechnen, wobei ihre Agenda bisher recht einseitig nur der völligen Freiheit im Internet gilt (vgl. auch Bieber 2012). Insgesamt hat sich damit im Laufe der Jahrzehnte für das Parteienspektrum der Bundesrepublik eine größere Pluralität eingestellt, was nicht selbstverständlich ist, da die Verfassung durch die Vorgabe einer Fünf-Prozent-Klausel den Einzug in den Deutschen Bundestag mit einer recht hohen Hürde versieht. Kleinere Parteien – und hier vor allem Parteien, die neu entstanden sind – haben auf Bundesebene dadurch enorme Startschwierigkeiten zu bewältigen. Die Verfassungsväter wollten mit der Fünf-Prozent-Hürde den Einzug in das Parlament erschweren, auch dies im Rückblick auf die Erfahrungen in der Weimarer Republik. Staaten, die wie Italien oder Israel keine Mindestbeschränkung für die Wahlen vorschreiben, verzeichnen dementsprechend auch eine hohe Anzahl von Parteien (über 30), was die Bildung einer Regierung entsprechend schwierig macht. Stets sind es Mehrparteien-Koalitionen, die sich hier zusammen finden müssen, wobei selbst kleinste Parteien den Ausschlag geben können. Demokratietheoretisch ist das richtig, es erleichtert jedoch keineswegs die Regierungsarbeit. Für die Bundesrepublik hat sich mittlerweile durch die gestiegene Variationsmöglichkeit eines größeren Spektrums an Parteien, welche die Fünf-Prozent-Hürde überschreiten, die Notwendigkeit von Koalitionsregierungen als systemimmanent ergeben. Keine Partei kann mehr allein regieren, weder auf nationaler noch auf regionaler Ebene in den Ländern. Von dem ursprünglich nach 1949 formulierten Anspruch auf Darstellung und Attraktivität einer Volkspartei sind selbst die beiden größeren Parteien CDU und SPD mittlerweile weit entfernt. Während die CDU bei Wahlen und in Umfragen noch bei Werten von zwischen 30 und 40 Prozent in der Zustimmung liegt, ist besonders die traditionsreiche SPD signifikant zurückgefallen. Das zeigt sich auch in der Mitgliederstruktur der beiden großen Parteien. Die SPD, die über Jahrzehnte hinweg die deutlich größere Mitgliederbasis hatte, ist seit dem Jahr 2008 hinter die CDU zurückgefallen. Aber auch die CDU stagniert bei ihren knapp über 500.000 Parteimitgliedern. Wie der SPD, so fällt es auch der konservativen Partei schwer, Mitgliederaustritte durch Neuzugänge mit einer Wachstumsperspektive zu kompensieren. Mit Ausnahme der Grünen und der Piratenpartei verzeichnen alle Parteien hier eine stagnierende bis schrumpfende Mitgliederzahl. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Sie liegen vor allem im sinkenden Milieuzuspruch für die Parteien. Traditionell waren SPD und CDU wie auch die FDP durch jeweils bestimmte Milieus gekennzeichnet: Auf der einen Seite für die Sozialdemokraten die Gewerkschaften, auf der anderen Seite für die

Die Grünen und das Thema „Umwelt“

Hürde der FünfProzent-Klausel

Volksparteien und ihre schwindende Integrationskraft

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IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien Erosion der Milieustrukturen

Organisationsstrukturen der Parteien als Problem

Konservativen der ländliche Raum und ein kirchlich orientiertes Publikum, dies auch ganz unabhängig von der Frage, ob katholisch oder evangelisch. Beide Milieus sind im Laufe der letzten Jahrzehnte in einem enormen Wandel begriffen. Sie haben sich zwar nicht verflüchtigt, doch ist die Sinnhaftigkeit einer bürgerlichen Existenz im Kontext von Klassen und Schichten einer polyvalenten Perspektive gewichen. Die Patchwork-Identität des Bürgers, der sich nicht einfach mehr über einen Arbeitsbegriff, sondern auch über sein Freizeitverhalten, seine familiäre Lebenssituation, seine Karriereperspektiven im Rahmen eines lebenslangen Lernprozesses definiert, macht es für die Parteien schwierig, die normative wie funktionale Bindung einfach von einem bestimmten Milieu her zu definieren. Die FDP war immer nur Klientelpartei, d.h. für ein bestimmtes leistungsorientiertes, gut verdienendes Publikum interessant. Die Grünen haben sich zunächst auch nur monothematisch verstanden, sind dann allerdings im Laufe der letzten 20 Jahre über die Ränder ihres Zentralthemas Umwelt auch mit anderen Themen für ein breiteres bürgerliches Publikum attraktiv geworden. CDU und SPD waren hingegen nach ihrem Selbstverständnis stets eine Partei mit dem Anspruch das ganze Volk zu repräsentieren. Auch die CSU als Sonderfall einer lediglich regional (in Bayern) auftretenden Partei konnte sich zu Recht als Volkspartei empfinden, da sie mehr als einmal über 50 Prozent der Wählerstimmen bei den Landtagswahlen bekam. Doch damit ist erkennbar Schluss. Keine der genannten Parteien wird auf absehbare Zeit wieder an die 50-Prozent-Marke heranreichen. Allen Deutungsversuchen für das Überleben der großen Parteien zum Trotz (vgl. Kronenberg/Mayer 2009), der seit den 1990er-Jahren oft thematisierte Herbst der Volksparteien hat diese strukturell im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts tatsächlich erreicht. Das liegt nicht nur an den veränderten Milieus, die fluktuierender und vielschichtiger geworden sind. Es liegt z. T. auch an den Parteien selbst, die mit ihren internen hierarchischen Strukturen auf die veränderten Kommunikationsbedingungen der sich wandelnden Gesellschaft oft zu spät und bis dato nur unzureichend reagiert haben. Die traditionelle Einteilung in Bundes- und Landespartei, mit ihren jeweiligen regionalen Untergliederungen mit Bezirks- oder Kreis- und Ortsverbänden fördert Machtstrukturen, die auf ein hierarchisches System setzen. Eine Partei ist nicht vergleichbar mit einem Taubenzüchterverband, schließlich geht es um Politik. Machtansprüche sind selbst auf der untersten Ebene in der Lokalpolitik sehr ausgeprägt. Im Grunde verhalten sich dort die Parteistrukturen nicht anders als auf der großen nationalen Bühne. Wer dazu gehören will, wer gar Einfluss geltend machen möchte, ist auf ein personales Zusammenspiel mit den Parteifreunden angewiesen. Das schafft Abhängigkeiten, weil man nur durch die Netzwerke vorankommt. Persönliche Loyalitäten stehen dann oft über den reinen Sachfragen, was all diejenigen abschreckt, die sich inhaltlich für eine bestimmte Politik interessieren, jedoch nicht permanent durch den Meinungszirkel der Parteifreunde bevormundet werden wollen. Je straffer die Organisationskultur innerhalb einer Partei, desto unattraktiver ist die Partei für Quereinsteiger, die um der Sache willen, meist auch nur auf Zeit, die Parteipolitik mitgestalten würden. Nach wie vor verlangen die Parteien in Deutschland zu sehr die sogenannte Ochsentour, d.h. eine jahrelange Parteiarbeit, angefangen von den lokalen über die regionalen bis hin zu den natio-

IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien

nalen Gremien. Für Berufsgruppen, die über ein schmales Freizeitpolster verfügen, ist daher die Mitwirkung in einer Partei wenig erfolgversprechend. Für Personen, die in der Politik ihre berufliche Karriere sehen, wird die Partei hingegen zum reinen Selbstzweck. Ohne die Partei ist man nichts, mit der Partei hingegen kann man scheinbar alles erreichen. Die internen Kommunikationsstrukturen in den Parteien führen immer wieder zu Abschottungstendenzen gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch gegenüber der reinen Parteibasis. Wer nur seinen Mitgliedsbeitrag zahlt, ist von den Entscheidungsprozessen weit weg und wird auch schwerlich auf Mitgliederversammlungen so ohne weiteres Gehör finden. Entschieden wird letztendlich in kleinen Zirkeln. Deshalb sind, das wusste schon Aristoteles, Politiker auf ihre Freundschaftskreise angewiesen (vgl. auch Nitschke 2000). Das fördert den Klüngel und führt zu einem unkritischen Bewusstsein über das eigene Verhalten (vgl. auch Scheuch/Scheuch 1992). Alle Versuche hier zu mehr öffentlicher Transparenz zu kommen, sei es über sogenannte Regionalkonferenzen wie bei der CDU oder über plebiszitäre Mitgliederbefragungen wie bei der SPD, haben den entscheidenden kritischen Punkt nicht überwinden können. Die Parteien sind nicht die Gesellschaft, auch wenn sie sich gerne so sehen mögen. Insofern ist das Schwinden der Attraktivität von Parteien, was ihre Mitgliedszahlen betrifft, für die Demokratie in Deutschland sogar von Vorteil. Politik findet auch jenseits der Parteien statt. So will es auch das Grundgesetz, das bewusst hier nur von einer Mitwirkung in der Willensbildung spricht (vgl. GG 2009: Art. 21.1). Jede Bürgerbewegung, jede Anhörung im öffentlichen Raum ist insofern ein Kennzeichen für den Prozess der politischen Willensbildung, deshalb kommt den Medien auch eine wichtige Vermittlungsfunktion zu. Die Parteien behalten trotz ihrer geringer gewordenen Attraktivität, die man auch als Parteienverdrossenheit in der Demokratie klassifizieren kann, ihren zentralen Stellenwert als Vermittlungsinstanz in der Repräsentation der Interessen des Volkes. In den Deutschen Bundestag und in die Länderparlamente sowie in die kommunalen Ratssitzungen kommt man nur über das Ticket der Partei. Zwar könnte sich theoretisch eine einzelne Person (ohne Parteienhintergrund) für ein Mandat im Deutschen Bundestag bewerben, hierzu ist eine bestimmte Anzahl von Unterschriften erforderlich, doch hat diese verfassungsrechtliche Möglichkeit in der Praxis bisher keine Auswirkung gehabt. Alle Versuche von Seiten unabhängiger Kandidaten in den Bundestag einzuziehen sind in der Vergangenheit (mit Ausnahme des 1. Deutschen Bundestags) an der mangelnden Finanzierung und öffentlichen Repräsentationsfähigkeit gescheitert. Die Parteien bilden das Scharnier für die Repräsentation im Parlament. Sie haben ihre Vermittlungsfunktion von öffentlichen Interessenlagen zu einem Monopol gemacht, in welchem sie selbst die Deutungshoheit über die Politik erlangt haben. Staat und Gesellschaft werden durch das Wirken der Parteien miteinander verbunden. Diese Funktion darf jedoch kein Selbstzweck sein. Wann immer es zu Skandalen in der Geschichte der Bundesrepublik gekommen ist, betraf dies irreguläre Verhaltensweisen des parteipolitischen Personals, welches statt der Arbeit für den Souverän den eigenen Vorteil zum Maßstab seines politischen Engagements gemacht hat.

Politische Willensbildung als Monopol der Parteien

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IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien

Personen- und Verhältniswahl

Überhangsmandate

Die starke Position der Parteien wird im deutschen politischen System durch das Wahlrecht begünstigt. Die Fünf-Prozent-Hürde sichert den bereits etablierten Parteien einen Deutungsvorrang in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu, was die Etablierung neuer Parteien signifikant erschwert. Wer wählt schon gern Verlierer? Auch das komplizierte Wahlsystem in Deutschland trägt dazu bei, dass einmal bereits etablierte Parteien ihre Position recht gut verteidigen können, so lange sie nicht an der magischen Grenze von 5 Prozent sind. Im Gegensatz zum englischen Wahlsystem, das recht einfach nach dem Motto The Winner takes it all funktioniert, bei dem also der bestplatzierte Kandidat mit der einfachen Mehrheit von Stimmen pro Wahlbezirk in das englische Parlament kommt, mischt das deutsche Wahlrechtssystem die Personenwahl als Votum der Mehrheit mit der Maxime einer Verhältniswahl in der Relation zwischen den Parteien (vgl. auch Faas/Maier/Wüst 2011). Die zwei Stimmen, über die jeder Wähler verfügt, werden aufgeteilt in eine Stimme für eine Person und eine Stimme für eine Partei, die sogenannte Zweitstimme. Während mit der Erststimme der direkte Kandidat qua Mehrheitsvotum für einen jeweiligen Wahlbezirk ermittelt wird, entscheidet man mit der Zweitstimme darüber, welchen Anteil die hierdurch gewählte Partei im Bundesgebiet insgesamt einnimmt. Gerade für kleinere Parteien wie die FDP oder Die Grünen und Die Linke ist die Zweitstimme entscheidend, weil sie meist gar keine Chance haben in einem Wahlbezirk die Mehrheit der Stimmen für ihren jeweiligen Direktkandidaten zu erlangen. Über die Anzahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag wurde seit 1985 auf der Grundlage eines komplizierten Berechnungsmodells (nach Hare/Niemeyer) entschieden, das jedoch zu einer Reihe von paradoxen Effekten führte (vgl. auch Nohlen 1990: 84 ff.). Deshalb gilt seit der Bundestagswahl von 2009 als neues Modell das sogenannte Divisorverfahren (nach Sainte-Laguë), welches mit Standardrundungen für die Zahlenwerte operiert. Unabhängig davon kann es jedoch weiterhin passieren, dass eine Partei mehr Direktmandate gewonnen hat, als sie an Zweitstimmen in einem jeweiligen Bundesland zugesprochen bekam. Da die Direktmandate nicht wegfallen, weil sie eine unmittelbare Personenwahl darstellen, führt dieser Effekt dazu, dass es zu sogenannten Überhangmandaten im Deutschen Bundestag kommt. Die Obergrenze von 598 Sitzen im Parlament wird dann je nach den proportionalen Wahleffekten überschritten. In der Legislaturperiode des 17. Deutschen Bundestages (2009–2013) sind dies 622 Abgeordnete bei 24 Überhangmandaten. Insbesondere die beiden großen Parteien CDU und SPD profitieren von diesem Effekt, weshalb (je nach Anzahl der Überhangmandate in der jeweiligen Legislaturperiode) hier auch die Bereitschaft, das Wahlsystem zu ändern, unterschiedlich ausgeprägt ist. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil im Jahr 2008 die Praxis der Überhangmandate als verfassungswidrig eingestuft. Der Gesetzgeber hat seitdem den Auftrag hier ein neues Verfahren zu entwickeln. Die seit 2009 amtierende Bundesregierung in der Koalition von CDU, CSU und FDP ist dem trotz mehrfachen Drängen seitens der Opposition nicht nachgekommen. Ihre deutliche Mehrheit im Parlament hat sie auch dank der Überhangmandate.

IV. Politisches System Deutschland: Die Parteien

Nicht nur in der Organisation des Wahlsystems zeigt sich, wie stark die Parteien ihre Mitwirkungsfunktion in der Selbstinterpretation machtvoll ausdeuten. Dies gilt auch für den Bereich der Zivilgesellschaft insgesamt. Seit den 1990er-Jahren ist auch in Deutschland die Auffassung populär geworden, dass die Gesellschaft jenseits des Staates ihre Interessen auch in Selbstverantwortung organisieren solle. Das Konzept hierfür liefern die USA mit ihrem Verständnis von Civil Society. Daraus hat man in Deutschland in der Terminologie eine Bürgergesellschaft oder eben Zivilgesellschaft gemacht (vgl. Klein 2001). Zwar sind beide Begriffe nicht deckungsgleich, sie treffen sich aber in einem ganz bestimmten Leitbild zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation – im sogenannten Ehrenamt. Das Ehrenamt hat eine Schlüsselfunktion bei der Selbstgestaltung der gesellschaftlichen Kräfte jenseits von Politik und Staat (vgl. auch Nitschke 2005, 2006). Keine Nongovernmental Organisation (NGO), kein Sportverein, keine Kirchengemeinde oder Caritas kann ohne ehrenamtliches Engagement existieren. Die bürgerliche Gesellschaft ist ganz wesentlich auf die unentgeltliche Mitarbeit ihrer Mitglieder angewiesen. Der Non-Profit-Sektor funktioniert nur dann, wenn ehrenamtliches Engagement in Form von Zeit- und Handlungsressourcen eingesetzt werden (vgl. auch Picot 2009). Das gilt auch für das Wirken der Parteien selbst. Sie profitieren in erheblichem Maße von der freiwilligen Leistungsbereitschaft, dem sozialen und politischen Engagement ihrer Mitglieder. Hinter jeder Existenz, in der Politik zum Beruf geworden ist, steckt eine Vielzahl von enthusiastisch ehrenamtlich Mitwirkenden an der Parteibasis. Die Zivilgesellschaft ist als demokratisches Leitverständnis zwischen den Intentionen der Politik, insbesondere denen des Staates, und den ökonomischen Interessen des Marktes anzusehen. In der Praxis sind die Parteien allerdings auch hier in einer nicht unwichtigen Mediatorenfunktion. Was jeweils als relevant für die Selbstgestaltung gesellschaftlicher Interessen angesehen wird, bedarf, sofern es nicht einfach dem Diktat kapitalkräftiger Interessen überlassen werden soll, der wohlwollenden Förderung durch den Staat. Insofern ist auch die Zivilgesellschaft keineswegs frei von der parteipolitischen Perspektive und ihren diversen (finanziellen) Einflussmöglichkeiten in Form der Begünstigung bestimmter Gruppen und Akteure durch die Kommunalund Landespolitik sowie auf nationaler Ebene durch den Bund. Politik in Deutschland muss nicht notwendigerweise über die Parteien stattfinden. Das Engagement gesellschaftlicher Kräfte, meist aus dem mittleren und höheren Bürgertum für eine eigenverantwortliche Organisation, ohne immer gleich den Staat rufen zu müssen, bedarf jedoch einer fortwährenden Ermunterung durch die Politik der Parteien. Insofern schließt sich hier theoretisch wie praktisch ein Zirkelsystem für das Zusammenwirken von Gesellschaft und Staat.

Zivilgesellschaft und Ehrenamt

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V. Policy: Familienpolitik

Fragestellungen der Politikfeldanalyse

Schema des Policy-Cycle

Die Policy-Forschung (oder besser: Politikfeldanalyse) ist in der deutschen Politikwissenschaft ein zentrales Aufgabengebiet. Ursprünglich eher eine Randerscheinung, hat sich dieser Ansatz im Gefolge der Empirismusdebatten in den Sozialwissenschaften (ausgehend von den USA) auch in Deutschland durchgesetzt und ist mittlerweile geradezu marktbeherrschend (vgl. u.a. Gerlach 2010, Blum/Schubert 2011). Worum geht es bei der Policy-Analyse? Um die Deutung der Inhalte von Politik – jenseits der oft rein normativen Zuordnungen, wie sie die Polity anzeigt. Das lässt sich an drei Fragestellungen zunächst relativ einfach erklären: 1. Was machen politische Akteure? 2. Warum tun sie es? 3. Was ist das Ergebnis ihres Handelns? Die Policy-Analyse fragt also nach den Gründen von Politik, hier insbesondere vor allem auch nach den Handlungschancen und den Ergebnissen in der Praxis. Die Frage (1) nach den politischen Akteuren zielt auf die Inhalte von Politik, Frage (2) auf die Gründe und Frage (3) orientiert sich an dem tatsächlichen Output, den die Politik liefert (oder eben auch nicht liefert). Damit wird die Bewertung von politischen Maßstäben an der empirischen Umsetzung festgemacht. Politikwissenschaft ist hier eine messtechnische, möglichst genaue Dokumentation von Fakten und deren Beurteilung hinsichtlich des tatsächlichen Erfolgs. Vor allem die Bewertung der Interessen der beteiligten Akteure ist hierbei entscheidend (vgl. auch Kevenhörster 2003). Das setzt jedoch voraus, dass man weiß, wer tatsächlich die maßgeblichen Akteure für ein bestimmtes Politikfeld sind. Genau darin besteht schon ein Problem, was die Politikfeldanalyse dadurch in den Griff zu bekommen sucht, indem man die Frage nach den Akteuren, ihren Inhalten und dem jeweiligen Output in einem analytischen Modell abzubilden versucht. Der sogenannte Policy-Cycle ist komplex und variiert je nach Sachlage des Themas und seiner Inhalte. Im Prinzip orientieren sich aber alle Politikfeldforschungen an einem Grundschema, das in einer vereinfachten Darstellung wie in Abbildung 2 aussieht. Wichtig ist zunächst, sich die Arena klar zu machen, in der eine bestimmte Form der Politik stattfindet – und die spezifisch analysiert werden soll. Die Arena ist der Diskursraum, in dem sich die Thematik abspielt. Sie ist zugleich aber auch der physisch-materiale Raum hinsichtlich der Institutionen und Organisationen, die sich hieran beteiligen. Die Arena ist das Feld, in dem der Inhalt einer bestimmten Form von Politik (z.B. die Gesundheitspolitik oder die Politik der Inneren Sicherheit) praktiziert wird.

V. Policy: Familienpolitik

Abbildung 2: Der Policy-Cycle Die Arena wiederum wird beherrscht von den Akteuren, die sich in ihr tummeln. Wie beim Kampf der Gladiatoren in der Zirkusarena im antiken Rom, so geht es auch bei dieser Modellbetrachtung um die Feststellung, wer oder was agiert. Sind es z.B. bestimmte Personen oder Gruppen oder Institutionen und Verbände, die in dem Politikfeld aktiv sind und mit welcher Intensität und mit welchen Mitteln? Was sich im Schema einfach formulieren lässt, ist in der Praxis oft recht schwer einzuordnen. Die Zuordnung von bestimmten Akteuren zu einer Arena ist mitunter äußerst kompliziert, weil manche Akteure in ganz verschiedenen Politikfeldern und in verschiedenen Arenen zu Hause sind. Insofern ist eine klare Zuordnung ein wichtiger Punkt für das Gelingen jeder Policy-Analyse. Kann man die Akteure benennen, dann lassen sich diesen auch entsprechende Ziele für die Arena zuschreiben. Welche Zielsetzung etwa hat ein Interessenverband wie die Privaten Krankenkassen in Bezug auf die Gesundheitspolitik der Bundesregierung? Und wie stehen diese in Konkurrenz zu den Gesetzlichen Krankenkassen? Fragen dieser Art lassen sich dann deutlich auf Zweck-Mittel-Relationen hin überprüfen. Sind die Ziele definiert bzw. klar erkennbar, können die Gestaltungsmittel und Methoden der Akteure zugeordnet werden. Hierbei ist vor allem der Input interessant, d.h. die Qualität (und Quantität) der Maßnahmen, die von den jeweiligen Akteuren in eine Arena eingebracht werden. An diesem Input lässt sich auch entscheiden bzw. ablesen, welchen Output die beteiligten Akteure zugunsten oder zu Lasten ihrer Interessen in der Arena erzielt haben. Das kann man sowohl für die einzelnen Akteure überprüfen, aber auch für die Summe dessen, was eine bestimmte neue Agenda in einem Politikfeld tatsächlich erbracht hat. Ist z.B. ein Einsatz von finanziellen Transferleistungen erfolgt (wie das oft im Bereich der Sozialpolitik geschieht), zeigt die PolicyAnalyse, ob und wie dies im Output umgesetzt wurde. Ein Kreislaufmodell (Cycle) ist dieses Bestimmungsverfahren deshalb, weil die Analyse nie bei einem jeweiligen Output stehen bleibt, sondern (wie auch die praktische Politik) stets weiter voran schreitet, um aus Fehlern oder Misserfolgen zu lernen oder aus erfolgreichen Inputs einen noch größeren Nutzen für den Output zu erzielen. Man muss sich dabei jedoch stets bewusst sein, dass der Policy-Cycle nur ein Modell ist, d.h. ein analytisches

Akteurspositionen

Input und Output der Interessen

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V. Policy: Familienpolitik

Einschränkung der empirischen Aussagemöglichkeiten

Familienpolitik als Beispiel

Definition von Familie

Querschnitt für andere Politikfelder

Schema, mit dessen Hilfe sich die Wissenschaft und auch die Politik in Form der sie beratenden wissenschaftlichen Einrichtungen klar macht, was die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg einer bestimmten politischen Agenda sein können. Der Vorteil dieses Bestimmungs- und Analyseverfahrens liegt in der Fixierung auf messtechnische Methoden und Inhalte. Deshalb ist der empirische Ansatz hier zentral. Allerdings ist dies zugleich auch ein Problem – und zwar in doppelter Hinsicht: a) weil die Daten, die hierbei erhoben und interpretiert werden, stets nur einen bestimmten temporären Sachstand anzeigen. Der jeweilige Ist-Zustand in einem Politikfeld ist damit nur andeutungsweise gekennzeichnet und wird deshalb auch immer mit normativen bzw. ideologischen Aussagen besetzt bleiben. Gleiches gilt b) für die analytische Methodik selbst. Der Status der Definitionen, die für eine empirische Betrachtung vorausgesetzt werden, hat mitunter nur die Qualität von Hypothesen, was die Perspektive auf die Hermeneutik, also die Art und Weise, wie die Daten zu verstehen sind, problematisch macht. Das lässt sich am Beispiel der Familienpolitik veranschaulichen. Die Familienpolitik ist wie viele andere Politikfelder auch ein Querschnittspolitikfeld. D. h., die Zuordnung dessen, was Familie und Politik betrifft (oder genauer: was Politik mit der Familie als sozialer Form von Gesellschaft zu tun hat oder haben könnte) ist schon eine Frage der Definition – und damit ein durchaus ideologisch besetztes Phänomen (vgl. Gerlach 2008a). Zunächst einmal der definitorische Status von Familie: Im Gegensatz zu einem traditionellen Rollenbild von Familie ist die heute gültige, d.h. auch juristisch bei den Sozialämtern praktizierte Definition eine rein funktionale, die sich auf das Zusammensein von Menschen bezieht – egal, wie die Verwandschafts- oder Liebesverhältnisse hierbei aussehen mögen. Eine Familie besteht demnach aus mindestens zwei Personen, die generationenübergreifend in einem gemeinsamen Haushalt leben. Bei dieser Festlegung geht es nicht mehr um die Frage nach der leiblichen Elternschaft oder etwa der Ehe, sondern einzig und allein um die Fürsorgeverpflichtung mindestens einer erwachsenen Person gegenüber einem Kind bzw. Jugendlichen. Die erwachsene Person kann auch die Tante oder die Großmutter sein oder ein amtlicher Vormund. Mit dieser Definition hat sich der deutsche Sozialstaat weitgehend von dem Rollenverständnis einer Familie als Ausdruck einer natürlichen Sozialeinheit verabschiedet. Während andere Kulturen die Natürlichkeit familiärer Lebensverhältnisse betonen, indem ausgehend von einer meist religiös verregelten Sexualität die Lebensgemeinschaft in der Familie als ein Mehrgenerationenvertrag thematisiert wird, geht es in Deutschland nur noch um die Funktionalität der Bedarfssetzung und der Leistungen bezüglich der Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Damit wird tendenziell der an sich natürliche Raum der Familie vom Staat her politisiert, und zwar in einem steigenden Ausmaße, wie es das Grundgesetz nach Artikel 6 (1) gerade nicht vorgesehen hat. Alle möglichen Politikfelder greifen mit ihren Leistungsanforderungen oder auch materiellen Transfermöglichkeiten in den Wirkungsraum der Familie ein. Deshalb ist die Familienpolitik ein Querschnittsthema, was die Inhalte und die Gestaltungschancen nicht einfacher macht. Familienpolitik in Deutschland ist abhängig z.B. von Politikfeldern wie: a) Bildungspolitik

V. Policy: Familienpolitik

b) Gesundheitspolitik c) Steuerpolitik d) Verkehrspolitik e) Sozialpolitik. Gerade die Sozialpolitik bietet einen weit gefassten Rahmen von Interventionsmöglichkeiten für den Staat, der unter der wohlwollenden Perspektive des Sozialen den Familien helfend zur Seite steht, damit aber auch strukturelle Abhängigkeiten geschaffen hat, welche die Selbständigkeit der hierdurch betroffenen Familien in Frage stellt. Das ist recht problematisch, weil doch Familien (egal wie man sie juristisch definiert) seit der historisch bekannten Existenz von Gemeinschaften und Gesellschaften die erste soziale Einheit gebildet haben (und bilden). In jeder halbwegs durchdachten Staatstheorie fungiert daher die Familie im Sinne einer natürlichen sozialen Instanz vor den Institutionen des Staates. Familienstrukturen bleiben auch bestehen, selbst wenn Staaten untergehen. In den meisten Ländern der Dritten Welt funktionieren Wirtschaft und soziales Miteinander nur deshalb, weil trotz staatlichen Versagens die Familienbande den Ausschlag geben. Gerade weil die Familie im Grunde eine vorpolitische Institution ist, stellt sich in Bezug auf die Querschnittsfunktion der Familienpolitik auch die Akteursfrage als ein mehrdimensionales Phänomen dar. Akteure im Bereich der Familienpolitik sind: 1) Familien 2) Kommunen (Länder/Bund) 3) Kirchen 4) Parteien 5) Wohlfahrtsverbände 6) Unternehmen 7) Bundesverfassungsgericht 8) Europäische Union. Dass die Familien in eigener Sache tätig werden im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Existenz, versteht sich. Sie sind damit aber auch zugleich Akteure im politischen Sinne, weil sie a) allein durch die statistische Größe ihrer Anzahl nach ein gesamtgesellschaftlicher Machtfaktor sind und b) über spezifische Familienverbände auch ihre Interessen einzubringen versuchen. Ob das allerdings so erfolgreich ist wie bei anderen Interessengruppen (wie etwa den Gewerkschaften auf der Arbeitnehmerseite oder den Unternehmerverbänden bei den Arbeitgebern), darf bezweifelt werden. Familien sind natürlicherweise immer schon dagewesen (auch vor der Gründung der Bundesrepublik), deshalb hielt z.B. Adenauer eine dezidierte Form der Familienpolitik für nicht notwendig. Aus der Sicht der öffentlichen Verwaltung ist die Familie sehr wohl ein zentraler Adressat – und zwar gezielt in der Bildungs- bzw. Schulpolitik und der Sozialpolitik. Hier sind es insbesondere die Kommunen, die sich um die Familie kümmern, denn im Bereich der Sozialhilfe ist es Aufgabe der Kommunen, bedürftigen Familien zu helfen. Auch hinsichtlich der Primärschulausbildung ist die Einrichtung von Grundschulen eine kommunale Angelegenheit. Zwar werden die Lehrer und Lehrerinnen vom Land besoldet, doch

Familienpolitische Akteure

Öffentliche Verwaltung und Familie

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V. Policy: Familienpolitik

Der demografische Wandel

Kernfamilie

Ökonomische Konstellation familiarer Haushalte

die Gebäude und die Ausstattung sowie die Bezahlung der Hausmeister ist Sache der Kommunen. Neben den Kirchen und karitativen Einrichtungen, die sich um bedürftige Familien kümmern oder ganz grundsätzliche Angebote an die einzelnen Familienmitglieder organisieren, sind die Familien auch in den Fokus der Parteien gerückt. Relativ spät, wenn man das etwa mit Frankreich vergleicht, ist die Familienpolitik in Deutschland ein Thema geworden, das nicht nur ein paar Fachleute in der jeweiligen Partei interessiert (vgl. auch Gerlach 1996, 2008b: 54 ff.). Gleiches gilt auch für die Politikwissenschaft, in der noch vor zehn Jahren kaum ein nennenswertes Interesse an familienpolitischen Fragestellungen existierte. Mittlerweile ist dies ganz anders: Familienpolitik ist eine Policy geworden, in der sich die Parteien mit konträren Angeboten geradezu überbieten wollen. Aus dem Nischenbereich der deutschen Innenpolitik ist dieses Politikfeld zu einem zentralen Bereich in der öffentlichen Aufmerksamkeit geworden. Das hat weniger etwas mit der sozialen Veränderung in der Rolle der Familie zu tun als vielmehr mit einem statistischen Nebeneffekt, der jedoch sozial wie ökonomisch (und damit auch politisch) ganz gravierende Folgen hat – dem demografischen Wandel in der Bundesrepublik. Um 1900 bestand eine typische Familie aus einem Haushalt, der oft deutlich mehr als nur Vater, Mutter und drei bis vier Kinder umfasste. Familienhaushalte mit zehn oder mehr Personen waren keine Seltenheit. Das alteuropäische Ordnungsmodell vom ganzen Haus, in dem die Familie mit zwei bis drei Generationen zusammenlebte, war zwar ein Muster, das der agrarischen Struktur des Landlebens entsprang (vgl. Brunner 1984: 240 ff.), das jedoch auch vom Bürgertum als Idealtypus im 19. Jahrhundert beibehalten worden ist (vgl. auch Huinink 2008: 8 f.). Die Modifizierung mit dem Modell zur Kernfamilie beginnt zwar schon mit der Industrialisierung, strukturell greift dieser Typus jedoch erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Nunmehr kommt es zu dem Standard, der auch die Entstehung und den Verlauf der Bundesrepublik Deutschland in den ersten Jahrzehnten prägte: Vater/Mutter, zwei Kinder. Doch genau dieser Typus ist mittlerweile ebenfalls in Erosion begriffen. Zum einen, weil die ökonomischen Begleitumstände familiärer Lebensführung sich gravierend geändert haben, zum anderen, weil die rechtlichen wie sozialen Vorstellungen zur (natürlichen) Sexualität nicht mehr die gleichen sind. Das hat vor allem etwas mit der Einführung der empfängnisverhütenden Pille zu tun, nach deren Erfindung und Zulassung auf den Markt in den 1960er-Jahren weltweit in den hochentwickelten Ländern der Industrienationen eine sinkende Geburtenrate zu verzeichnen ist. Diese Entwicklung geht einher mit einer veränderten ökonomischen Situation für die Familienhaushalte. Immer schon waren diese auch ein ökonomisches Unternehmen. Die viel beschworene Liebesheirat in der Institution der Ehe war eher eine bürgerlich-romantische Idealisierung. Tatsächlich muss jede Familie in ihrer Haushaltsführung bewirtschaftet werden können. Das stellt erhebliche Anforderungen an die interne Organisation der Familie, vor allem auch an ihre ökonomische Ausstattung. Das traditionale Rollenbild der Familie, wonach einer der beiden Erwachsenen (meist der Mann) als Alleinverdienender den Rest der Familie finanzieren konnte, ist mittlerweile einer komplexeren Realität gewichen. Tatsäch-

V. Policy: Familienpolitik

lich funktionieren die meisten Familien in Deutschland nicht mehr auf dieser ökonomischen Grundlage. In über 60 Prozent der Familien arbeiten mittlerweile auch die Frauen in einem öffentlich finanzierten Erwerbsverhältnis, davon wiederum etwa ein Viertel voll erwerbstätig. Immerhin bleiben aber auch ca. 35 Prozent der Mütter als klassische Hausfrau im Haushalt. Alleinerziehende (verstärkt auch Männer) runden das komplexere Rollenbild für die ökonomische Struktur der Familienhaushalte in der Bundesrepublik ab. Mit dieser Struktur geht ein Trend einher zu immer weniger Kindern pro Familie. Nach Jahren einer deutlich gesunkenen Geburtenquote pro Frau, die statistisch im Bereich zwischen 1,2 und 1,3 Kindern lag, ist mittlerweile die Geburtenrate wieder auf 1,4 angestiegen (vgl. Alexander 2012). Das ist jedoch immer noch zu wenig, um ein massives Schrumpfen der deutschen Gesellschaft zu verhindern. Für Bevölkerungsstatistiker ist 2,1 die magische Zahl. Wenn pro Frau im geburtenfähigen Alter mindestens 2,1 Kinder zur Welt kommen, dann bleibt eine Gesellschaft konstant, kann aufgrund von Einwanderung sogar wachsen. Derzeit hat man diese Konstellation in der westlichen Welt nur in den USA (vgl. auch Kapitel XIV), neuerdings ebenso in Frankreich mit einer Geburtenzahl von 2,01 (vgl. Alexander 2012). Die Perspektive einer über die nächsten Jahrzehnte massiv schrumpfenden Gesellschaft, die mehrere Millionen Einwohner verlieren wird, ist für die Sicherung der Sozialsysteme in der Bundesrepublik Deutschland ein strukturelles Problem. Wer wird all die Rentner und Pensionäre versorgen, vor allem – wie soll das finanziert werden? Das bisherige, in den 1950er-Jahren entwickelte Rentensystem basiert auf einer Umlagefinanzierung per Generationenvertrag. Demzufolge finanziert die jeweils erwerbstätige Alterskohorte die Rentenansprüche der älteren Generation, die im Ruhestand lebt. In der Ära Konrad Adenauers war dieses Modell kein Problem, standen doch demografisch einem Rentner im Ruhestand sechs Arbeitnehmer mit ihren Steuerbeiträgen gegenüber. Diese Relation hat sich im Laufe der Jahrzehnte durch den demografischen Wandel minimiert. Seit 1964 ist die Geburtenzahl rückläufig (vgl. auch Ehrenstein 2010). Weniger Familien mit immer weniger Kindern führen dazu, dass nicht nur Kindergärten und Grundschulen wegen mangelnder Nachfrage geschlossen werden, Ärzte auf dem Land ihre Praxen aufgeben müssen, weil sie ökonomisch nicht mehr rentabel sind, sondern auch die sozialen Sicherungssysteme für das Alter insgesamt in Frage stehen. Die Debatten über private Zusatzversicherungen oder längere Arbeitszeiten für Arbeitnehmer bis zu einer Altersgrenze von 67 und mehr sind insofern Politikfelder (vgl. Siems 2011a), die auch unmittelbar die Familienpolitik mit bestimmen. Das gesamte wohlfahrtsstaatliche Modell in der Bundesrepublik hängt im Wesentlichen davon ab, wie sich die Lebensbedingungen für Familien gestalten lassen. Die sozialen Sicherungssysteme basieren im Kern auf der Voraussetzung, dass die natürlichen Bedingungen für Familiengründungen gewahrt bleiben. „Kinder bekommen die Leute immer“, war die Meinung Adenauers (zit. n. Alexander/Siems 2012: 4). Der demografische Wandel, den man viel zu lange in seiner Bedeutung vernachlässigt hatte, belegt, dass dem nicht so ist (vgl. auch Leibfried 2011). Den ca. 11,7 Millionen Lebensgemeinschaften ohne Kind steht in Deutschland derzeit fast die gleiche Anzahl an Familien mit mindestens einem Kind gegenüber (vgl. Alexander/Siems 2012). Aber

Sinkende Geburtenquote

Der Generationenvertrag

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V. Policy: Familienpolitik

Veränderung der klassischen Alterspyramide

Einwanderungsland Deutschland

Generationennachfolge

Anreizmodell „Elterngeld“

das ist zu wenig, um den demografischen Schwund aufzufangen, der sich bereits jetzt in Deutschland in manchen Regionen mit einer Minusquote von zehn Prozent pro Jahr bemerkbar macht. Der völlige Wechsel in der klassischen Alterspyramide, die historisch in allen Gesellschaften und Kulturen zu veranschlagen war – und die in weiten Teilen der Dritten Welt nach wie vor ihre Gültigkeit hat, gilt eben nicht mehr für die Bundesrepublik Deutschland. Die Vergreisung der Gesellschaft geht einher mit immer weniger Neugeborenen, d.h., der gesellschaftlichen Dynamik fehlen die innovativen demografischen Impulse. In Deutschland leben derzeit schon mehr Rentner als Australien Einwohner (ca. 22 Millionen) hat (vgl. auch Ehrenstein 2010)! Wie ist dieser fatalen Entwicklung, die im Grunde für die gesamte EU gilt, zu begegnen? Allein durch mehr Zuwanderung lässt sich das demografische Problem nicht lösen. Dem Negativsaldo von ca. 200.000 Menschen, die pro Jahr in Deutschland mehr sterben, als dass Kinder zur Welt kommen, kann man mit Einwanderung nicht abhelfen. Zwar ist Deutschland strukturell schon ein Einwanderungsland, jedoch nicht in diesen hohen Zahlen, die zweifellos auch einen gesamtgesellschaftlichen Konsens voraussetzen müssten, der hinsichtlich der Kosten der sozialen Integration von Einwanderern in dieser Größenordnung problematisch wäre. Der demografische Wandel zur kleineren Gesellschaft wird bei der derzeitigen Entwicklung dazu führen, dass Deutschland spätestens ab 2060 nur noch mit einer Einwohnerzahl von 65 bis 70 Millionen Menschen existiert – und damit eine kleinere Bevölkerung aufweisen wird als Frankreich (vgl. Alexander 2012)! Ändern kann man an dieser Entwicklung und der mathematischen Prognose nur dann durch Maßnahmen etwas, wenn man sie in der unmittelbaren Gegenwart einleitet. Genau hierin besteht aber das Problem für die Politik: Welche Maßnahme und welches Mittel führt zu einem lang anhaltenden, d.h. nachhaltigen Erfolg in der Familienpolitik? Bevölkerungswissenschaftler rechnen für die Betrachtung einer Generation mit einer Perspektive von 30 Jahren. Dann hat sich im statistischen Durchschnitt eine jeweilige Generation mit Nachkommen versorgt. In Deutschland stimmt dieser internationale demografische Berechnungsschlüssel jedoch schon seit langem nicht mehr: Die meisten Neugeborenen des Jahres 2009 wurden in Deutschland von Müttern geboren, die zwischen 30 und 34 Jahre alt waren. Rund 28.000 Kinder hatten sogar eine Mutter im Alter von über 40 Jahren zum Zeitpunkt der Geburt (vgl. Ehrenstein 2010: 6). Wenn also in etwa 30 Jahren ein deutlicher Umschwung im Minustrend stattfinden soll, dann muss die Trendsetzung bereits jetzt (heutzutage) eingeleitet werden. Das Problem für eine demokratische Politik, die schließlich die Geburt von Kindern nicht verordnen kann, besteht in der Wahl des richtigen Mittels. Man kann hier nur auf Anreize setzen. Was aber sind in dieser Policy die richtigen Anreize für mehr Kinder? Ist es eine Werte-Debatte, sind es institutionelle Mechanismen oder finanzielle Anreize? Bei der Input-Analyse für die Familienpolitik hat sich die Bundesregierung nach jahrelanger Debatte zu einem Modell der finanziellen Anreize durchgerungen – und zwar einer Finanzierung, die als Kompensation für entgangene Arbeit als Wertschöpfung für die Alimentierung junger Fami-

V. Policy: Familienpolitik

lien gedacht ist. Das sogenannte Elterngeld, das mit Wirkung vom 1. Januar 2007 in Kraft trat, versucht einen Anreiz zu mehr Geburten zu schaffen, indem der Lohnausfall für berufstätige Mütter und Väter für maximal 14 Monate nach der Geburt des Kindes kompensiert wird (vgl. BMFSFJ 2012). Das Finanzierungsmodell richtet sich bewusst an beide Geschlechter: Frauen wie Männer werden für den Ausfall ihrer Erwerbstätigkeit für das in den Monaten nach der Geburt wegfallende Einkommen mit bis zu 67 Prozent kompensiert, maximal jedoch nur bis 1.800 Euro. Eltern, die über gar kein Einkommen verfügen, wie etwa Studierende, werden mit dem Mindestbeitrag von 300 Euro ausgestattet. In der Regel geht diese Finanzierung von zwölf Monaten aus, die um zwei weitere Monate verlängert werden kann, wenn der jeweilige Partner ebenfalls für die Betreuung in der Babyphase einmal zu Hause bleibt. Das Elterngeld ist gedacht gewesen als ein Anreizsystem, das gleich in zweifacher Hinsicht ein Umdenken in der Gesellschaft bezüglich der Geburten- und Erziehungsfrage auslösen soll: 1) in der Zielgruppe junger Frauen aus dem akademischen Bereich, deren Beitrag zur Reproduktionsquote in den letzten 30 Jahren signifikant zurückgegangen ist, was wiederum zur Folge hat, dass kinderreiche Familien meist in bildungsfernen Schichten (oft auch mit Migrationshintergrund) die Geburtenrate aufrechterhalten. 2) in der Zielgruppe der Männer, die hier zu einem neuen Denken und Handeln im Umgang mit dem Nachwuchs stimuliert werden sollen. Warum soll die Früherziehung und Versorgung der Kleinkinder immer nur Sache der Mütter sein? Ein weiteres Ziel steht 3) als Erwartung der modernen Wirtschaft unausgesprochen ebenfalls hinter dem Elterngeld: Wenn beide Partner im Arbeitsprozess sind, dann sollen ihnen durch die Elternphase keine grundsätzlichen finanziellen Nachteile entstehen. Sie sollen aber andererseits auch möglichst zeitnah in den Arbeitsprozess zurückkehren können. Die Implementierung des Elterngeldes erwies sich schon im Startjahr 2007 als Erfolg, der sich bei zwei der angezeigten Ziele über die Jahre mittlerweile verfestigt hat: zum einen haben Männer als Antragsteller für das Elterngeld deutlich zugenommen und vollziehen damit den systematischen Schritt zur Partnerphase in der ersten Grundversorgung des Nachwuchses. Insbesondere die Frauen sind in ihrer Mutterrolle nur so lange verblieben, wie sie mit dem Elterngeld gegenfinanziert wurden. Die Verweildauer zu Hause nach Schwangerschaft und Geburt ist damit signifikant geringer geworden (vgl. Alexander/Siems 2012). Dies gilt jedoch nur für berufstätige Mütter. Frauen, die vor ihrer Schwangerschaft ohne Erwerbsarbeit waren, haben hingegen nur den Mindestsatz von 300 Euro in Anspruch nehmen können. Der Anteil dieser Frauen an der Gesamtzahl aller Antragsstellerinnen ist jedoch nicht gering, was bedeutet, dass das Familienministerium das Ziel, besonders Akademikerinnen und bildungsstarke Schichten mit diesem Konzept anzusprechen, nicht erreicht hat! Auch eine demografische Wende hat sich hierdurch bis dato nicht erzielen lassen. Zwar ist der Abwärtstrend in der Geburtenquote in Deutschland gestoppt worden, doch hat dies weniger mit dem Elterngeld zu tun, als vielmehr mit den (noch) relativ starken Jahrgangskohorten von Frauen im gebärfähigen Alter (vgl. auch Alexander/Siems 2012). Das alles jedoch führt zu Kosten und damit zur Frage, was der Gesellschaft eine moderne Familienpolitik tatsächlich wert ist? Angesichts der grundsätz-

Zielgruppen der Inputmaßnahme beim „Elterngeld“

Der Output entspricht nicht den Erwartungen

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V. Policy: Familienpolitik

Kostenneutralität der Maßnahme

Stellenwert der Familie in Deutschland

lichen Probleme, die durch den demografischen Wandel auf die sozialen Versicherungssysteme mittlerweile zukommen, sollte man meinen, dass ein großes Interesse besteht, hier mehr (und inhaltlich bessere) Leistungen für Familien in Deutschland zu ermöglichen. De facto ist dies jedoch nicht der Fall. Schon die zusätzlichen Milliarden, die das Elterngeld benötigt hat, sind durch eine Reduzierung des Kindergeldes vom 27. auf das 25. Lebensjahr gegenfinanziert worden. Diese Art der Kostenneutralität hat also absurderweise den Familien mit Kindern in der Ausbildung bzw. im Studium Einschnitte gebracht, um sie dann für Familien in der Startphase ihrer familiären Existenz umzuschichten! Nur den nachhaltigen Plädoyers des Bundesverfassungsgerichts ist es in den letzten 20 Jahren zu verdanken, dass überhaupt die Familienpolitik eine größere Aufmerksamkeit in der Gesetzgebung bekommen hat (vgl. auch Alexander/Siems 2012). Alle Vergünstigungen, welche die Familie in Deutschland finanziell bekommt, stellen angesichts der Belastungen, die Familien zu tragen haben, nur einen Bruchteil ihrer ökonomischen Realität dar. Der generative Aspekt der Familie, der überhaupt erst eine Volkswirtschaft am Leben hält, wird dadurch nur teilweise bestätigt. Das führt zu einer fortwährend beklagten Gerechtigkeitslücke, die aber mit schöner Regelmäßigkeit von der Masse der Rentnergeneration und der Singlehaushalte bestritten und ignoriert wird (vgl. auch Alexander 2012). Es stellt sich aber auch die Frage, ob finanzielle Anreize (allein) überhaupt der richtige Weg zur Erneuerung der Familie sind. Egal, ob Krippenplätze wie in Skandinavien oder das gänzliche Fehlen staatlicher Regelungen wie in vielen Länder der Dritten Welt, die Geburtenquote hängt durchaus nicht einfach vom Geld ab (vgl. auch Siems 2011b). Interkulturell betrachtet ist die Frage weitaus entscheidender, welchen positiven Stellenwert Kinder in einer Gesellschaft haben. Wenn der Wille zum Kind in einer Kultur honoriert und angestrebt wird, dann ist Elternschaft eine ganz natürliche Existenzform.

VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit? Wie alle modernen Wissenschaftssysteme bedarf auch die Politikwissenschaft einer theoretischen Begründung ihrer Existenz. Normen, Gesetzmäßigkeiten und Anwendungsformen von politischer Praxis lassen sich nicht einfach empirisch abbilden und nachzeichnen. Das wäre simpler Positivismus. Eine inhaltlich in den Aussageformen subtile Analyse von Politik kommt an einer theoretischen Durchdringung der jeweiligen Thematik nicht vorbei. Wie in den modernen Naturwissenschaften ist daher auch für die Politikwissenschaft die theoretische Perspektive ein Kern der disziplinären Identität. Doch was ist eine Theorie? Der Begriff stammt vom griechischen Ausdruck theoría und meint so viel wie Anschauen, Betrachten, eine Überlegung anstellen bzw. eine Erkenntnis haben. Für alle Theorien gilt grundsätzlich (ohne zunächst auf die Inhalte zu schauen), dass sie mit zwei methodischen Verarbeitungswegen formuliert und organisiert werden können: a) in Form der Deduktion und b) mithilfe der Induktion. Bei der Variante (a) werden die Erkenntnisschritte abgeleitet von einer beliebigen Grundaussage – wie etwa: „In Demokratien sind die Menschen tolerant“, um dann im konkreten Einzelfall feststellen zu können, ob eine Person X oder Y tatsächlich auch als tolerant bezeichnet werden kann. Der Erkenntnisweg geht also vom Allgemeinen zum Speziellen. Bei der Variante (b) verhält es sich genau umgekehrt: hier geht man von einem beliebigen Einzelsatz – wie etwa: „Person X ist tolerant“ – zu einer möglichst allgemeinen Aussage schrittweise über (= „Menschen in Demokratien sind tolerant“). Theorien können beide Verarbeitungswege beinhalten, sie können aber, je nach Ausrichtung, auch nur deduktiv oder nur induktiv angelegt sein. Das hängt z.T. auch von der Reichweite ihrer Aussageformen ab, ob sie z.B. Theorien mit einer universalen Programmatik (wie bei den Menschenrechten) oder Makrotheorien sind, die lediglich eine bestimmte inhaltliche Reichweite haben (wie etwa die Theorien vom Staat) bzw. auch nur im Mikrobereich angesiedelt sein können (wie Theorien über Freiheit als bürgerliches Recht). Die meisten politischen Theorien sind inhaltlich betrachtet, auch wenn sie einen universalen Anspruch proklamieren, nichts anderes als Theorien im Makrobereich, d.h., sie hängen sehr stark von Raum- und Zeitverhältnissen ab, in und mit denen sie formuliert worden sind. Eine jede Theorie liefert Aussagen über die Praxis. Dies nicht einfach im Sinne einer Nachzeichnung dessen, was in der Praxis passiert ist, sondern im Sinne von Regelaussagen, die Ursache und Wirkungsverhältnisse dokumentieren und analysierbar machen sollen. Wie bei einem Schachspiel gilt es, nicht einfach nur einen Zug zu beschreiben, den ein Spieler macht, sondern vor allem hinsichtlich seiner Logik im Rahmen der Regeln des Schachspiels zu erläutern. Das setzt natürlich voraus, dass man die Regeln des Spieles kennt und beherrscht. Mit der Beherrschung der Regelaussagen wird zugleich ein Zustand in der Realität beschrieben, d.h., eine Theorie liefert nicht eine fiktive Spekulation,

Relevanz der Theorie

Deduktion/ Induktion

Reichweite von Theorien

Theorie-PraxisRelation

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VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?

Teilbereiche der Politischen Theorie

Politische Philosophie und die anthropologische Begründung

Macht und Herrschaft

sondern lässt realistische Aussagen in Bezug auf die Wirklichkeit zu. Die Durchdringung der Wirklichkeit führt zu wahren Aussagen, die mit logischer Notwendigkeit formuliert werden können. Theorien liefern also nicht einfach ein ideales Schema für die Praxis, sie zeigen gleichsam den Wahrheitsstatus der Praxis selbst an. Was in der Praxis nicht funktioniert, kann in der Theorie auch nicht richtig sein – und umgekehrt. Sofern eine Theorie-Praxis-Differenz auftritt, gilt es die kausalen Faktoren zu identifizieren, welche diese Differenz erklärbar machen. Die Politische Theorie handelt in dieser Hinsicht (wie alle Theorien in den modernen Wissenschaften) von einer möglichst logischen Durchdringung dessen, was Politik dem Anspruch nach a) normativ und b) praktisch in der Wirklichkeit ist. Hierbei lassen sich ganz unterschiedliche Perspektiven in Bezug auf die Inhalte von Politik festmachen. Das hat zum einen natürlich etwas mit den Themenfeldern der Politik zu tun, also z.B. Fragen der Macht, der Gerechtigkeit, der Tugenden etc., zum anderen aber auch mit der methodologischen bzw. erkenntnistheoretischen Blickrichtung, mit der die Inhalte von Politik behandelt werden können. Die Politische Theorie ist hier nicht eindeutig von Seiten der Politikwissenschaft bestimmbar, sondern sie setzt sich zusammen oder ergänzt sich aus verschiedenen Teilbereichen, die, je nach Interpretationsperspektive, dann mehr zur Philosophie oder etwa zur Geschichts- oder Rechtswissenschaft gehören. Grob klassifiziert kann hier zwischen folgenden Teilbereichen unterschieden werden: a) Politische Philosophie b) Politische Ideengeschichte c) Politische Theorie d) Wissenschaftstheorie. Gegenüber der Politischen Theorie ist die Politische Philosophie die historisch ältere Fassung, in der sich Überlegungen zur Bestimmung von Politik widerspiegeln. Seit der griechischen Antike, seit Platon und Aristoteles, werden Fragen der Macht, der Gerechtigkeit, der Begründung von politischer Herrschaft diskutiert und mit den Mitteln der Logik analysiert. Die philosophische Interpretation legt hierbei stets besonderen Wert auf die ethische Dimension. In der anthropologischen Begründung, wie sich Menschen untereinander verhalten (sollten), wenn sie wechselseitig zu einem guten (gelingenden) Leben beitragen, liegt der Kern der Politischen Philosophie, die stets in ihren Fragestellungen und Antworten nicht abschließbar ist, sondern vielmehr auch das unsystematische, durchaus willkürliche Kriterium jenseits aller systematischen Vorstellungen sucht (vgl. auch Nitschke 2010). Hierin unterscheidet sie sich signifikant von der Politischen Theorie, die demgegenüber die Systematik der Aussageformen und vor allem auch die konzeptionelle Linearität der Inhalte betont. Politische Theorie hat den Anspruch, ein ganzes Gehäuse zu liefern, mit dem man die Frage nach dem Menschen, seinen anthropologischen Bedingungen, seiner Ethik und seinen Handlungsprinzipien in ein Ordnungsmodell von Politik bringen kann. Oft wird hierbei jedoch der institutionelle Ansatz, d.h. die Perspektive auf die Zentren von Macht und Herrschaft in Form der Institutionen der Regierung, bevorzugt. Regierungshandeln, verbunden mit soziologischen Strukturaspekten, steht im Vordergrund. Das führt dazu,

VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?

dass Politische Theorie recht einseitig moderne Erscheinungsformen in der Politik betrachtet (vgl. u.a. Nohlen/Schultze 1995, Beyme 2008, Enzmann 2010), obwohl doch die Klassiker der Politischen Theorie wie etwa Thomas Hobbes oder Jean-Jacques Rousseau darauf verweisen, dass man diese Disziplin gar nicht unter Modernitätskriterien allein betrachten kann, sondern stets auch auf Argumente und Plausibilitätsszenarien anderer Epochen angewiesen ist. Diesen Sinn- und Sachzusammenhang herzustellen, ist Aufgabe und Anliegen der Politischen Ideengeschichte, die man als korrelatives Medium in der Verbindung von Politischer Theorie und Philosophie ansehen kann. Hier werden die oft über Jahrhunderte hinweg leitenden Gedanken und Ideen von Klassikern zur Politischen Philosophie rekonstruiert, (neu) dechiffriert und beständig fortentwickelt. Im Falle von Aristoteles oder etwa Platon ist dies ein Anliegen, welches bereits einen über zwei Jahrtausende umfassenden Diskurs beinhaltet. Die Politische Ideengeschichte dient somit der Sinnvermittlung und Interpretation zu den grundlegenden Begrifflichkeiten der Politischen Theorie. Fragen der Gerechtigkeit, der Macht, der Bedeutung von Herrschaft oder etwa nach dem Sinn der Menschenrechte lassen sich gar nicht ohne eine Rekonstruktion der historisch etablierten Verständnisweisen angemessen diskutieren (vgl. u.a. Willms 1984, Reese-Schäfer 2010). Das beinhaltet zugleich spezielle Probleme im Umgang mit den Texten von Klassikern: a) ihrer Sprache, b) der Geschichtlichkeit, in der sie ihre Argumente platzieren, und c) der Übertragung für die Interpretation in die Jetzt-Zeit, der heutigen Perspektive und ihrer Bedürfnisse. Eine abschließende Perspektive für die Politische Ideengeschichte gibt es daher nicht. Fast jede Generation von Politikwissenschaftlern schreibt an einem jeweils „neuen“ Interpretationszugang zu den Klassikern der Politischen Philosophie und Theorie. Unbestritten ist jedoch, dass ein Überblickswissen grundlegend ist für das Selbstverständnis der Politikwissenschaft. Darin unterscheidet sich die deutsche Politikwissenschaft nicht von der angelsächsischen. Auch der Referenzkanon auf die sogenannten Klassiker der Politischen Theorie ist hier weitgehend identisch, fast schon universal (vgl. u.a. Maier/Denzer 2001, Dryzek/Honig/Phillips 2006, Brocker 2007, Ottmann 2001–11). Während Politische Theorie, Philosophie und Ideengeschichte fließende Übergänge haben, die mitunter thematisch wie methodisch kaum exakt zu trennen sind, ist die Wissenschaftstheorie etwas randständig zu den drei übrigen Teilbereichen. Das hängt damit zusammen, dass diese Disziplin meist der theoretischen Philosophie überlassen bleibt, was allerdings ein Defizit ist für die deutsche Politikwissenschaft. Politische Theorie – das demonstriert schon die Lektüre der Klassiker – lässt sich gar nicht angemessen formulieren, ohne die grundlegenden Fragen der formalen Logik, der Erkenntnistheorie reflektiert zu haben (vgl. auch Ernst 2007). Meist bleibt es bei schematischen Hinweisen auf den Kritischen Rationalismus im Gefolge Poppers (vgl. Popper 1966), doch ist dies zu wenig, denn die inhaltliche Deutung von politischen Themen hängt nicht unwesentlich davon ab, welche Form der Erkenntnistheorie hierbei bevorzugt wird. Die großen, weil internationalen Debatten der letzten Jahrzehnte, etwa zum Konstruktivismus oder zum Nominalismus (vgl. z.B. Foerster u.a. 2006), sind

Politische Ideengeschichte und die Rekonstruktion des politischen Denkens

Klassiker-Analyse

Wissenschaftstheorie und die formale Logik

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VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?

Die Frage der Gerechtigkeit

Platons Theorie

Gerechtigkeit zwischen den Generationen

diesbezüglich in der wissenschaftstheoretischen Betrachtung der deutschen Politikwissenschaft nicht nachvollzogen worden. Einzig beim Siegeszug von Rational Choice hat es hier auch ernst zu nehmende Überlegungen gegeben, die zeigen (vgl. Diekmann 2010), wie elementar die Berücksichtigung neuerer (bzw. anderer) wissenschaftstheoretischer Perspektiven für die Substanz der Politischen Theorie im Speziellen, aber auch für die Politikwissenschaft im Allgemeinen ist. Dabei demonstriert schon die Beschäftigung mit den Klassikern der Politischen Theorie, wie zentral für das Verstehen von Aussageformen in Texten, die in ganz unterschiedlichen Epochen zustande gekommen sind, Regeln der Hermeneutik, der formalen Logik oder auch der Dialektik sind. An einer Grundsatzfrage aus der Politischen Theorie soll hier exemplarisch vorgestellt werden, wie dies umgesetzt werden kann – und vor allem: was es dann bedeutet. Der Beginn der Politischen Theorie in Form eines philosophischen Denkens über Politik findet in den griechischen Poliswelten des fünften bis vierten Jahrhunderts vor Christus statt. Die Fragen und Antworten, die hier formuliert und gefunden wurden, beschäftigen die Politische Theorie z.T. bis heute, sei es in der Perspektive auf die richtige Demokratie oder die Kritik an der Herrschaft des Menschen über den Menschen (vgl. u.a. Barber 1994, Nusser 2005, Gerhardt 2007). Eine der zentralen Fragen zu Macht und Herrschaft, zum richtigen Verhalten des Einzelnen und zur Ordnung des Gesamten ist hierbei der Aspekt der Gerechtigkeit. Die Frage der Gerechtigkeit ist ein elementares Gut in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit. Darauf muss man nicht erst kommen, wenn man moderne Klassiker zur Politischen Theorie wie etwa John Rawls liest oder sich Demonstrationen auf der Straße anschaut (vgl. Rawls 1993). Die erste systematische Bearbeitung der Gerechtigkeitsproblematik liefert Platon im vierten Jahrhundert vor Christus in seiner Abhandlung über die Politeia, gemeinhin übersetzt mit Staat (vgl. Platon 1991). Was Platon hierbei besonders an der Politik interessiert, ist die Frage nach der richtigen, weil dann dauerhaften Ordnungsstruktur, in der sich der Einzelne angemessen in Bezug auf seinen Leistungen und seinen Erwartungen eingebettet findet. Das Phänomen der Politik erscheint hier deshalb nicht nur als ein Moment der Macht, sondern vor allem auch als eine Form der angemessenen Logik der Ordnung insgesamt. Hierfür ist die Gerechtigkeitsfrage zentral, weil mithilfe von Gerechtigkeitsvorstellungen individuelle wie kollektive Ansprüche sinnvoll miteinander verbunden werden können. Bereits im ersten Buch der Politeia, die fast komplett in Dialogform abgefasst ist, wird die Relation von Macht und Gerechtigkeit systematisch angesprochen, ohne allerdings schon zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen (vgl. Zehnpfennig 2008). Der Ausgangspunkt ist die scheinbar banale Feststellung des Gastgebers in einem Gesprächskreis, dass er ein größeres Vermögen seinem Sohn hinterlassen wird, als er es selbst von seinem Vater geerbt habe – obwohl doch dieser durch den Großvater seinerzeit ein größeres Erbe bekommen hatte (vgl. Platon 1991: 330 b). Diese klassische Konstellation für die Perspektive einer Gerechtigkeit zwischen den Generationen ist der Auftakt zu einer grandiosen Bestandsaufnahme für die Beantwortung der Frage, was eigentlich Gerechtigkeit ist? Platon macht dies in einer Analogie deutlich, die sich mit den Grundlagen der anthropologischen Existenz und deren Übertragung auf die Ebene des

VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?

Staates auseinandersetzt. Der Mensch als Einzelwesen kann für sich allein betrachtet nicht existieren: Wer und was er ist, hängt ganz entscheidend vom Kollektiv ab, in dem er lebt. Die (politische) Ordnung ist somit konstitutiv a) für die Existenz des Einzelnen, b) aber auch für seine moralischen Urteile und Überzeugungen. Diesen existenziellen Sinnzusammenhang muss man sich klar machen, wenn man über Gerechtigkeit redet. Das, was der einzelne Mensch denkt, ist mehr oder weniger deutlich bereits in dem enthalten (und bis zu einem gewissen Grade auch vorgeprägt), was von der gesamten Kultur seiner Polis ausgeht. Ein Einzelner, Platon nennt ihn den Micro Anthropos, kann sich letztlich nur so verhalten, wie er es in dem kulturellen Bestimmungsrahmen seiner Polis gelernt hat. Die Polis (der Staat) als das große Ganze ist dann wie ein Macro Anthropos, ein groß geschriebener Mensch. Mit dieser Analogie vom großen und vom kleinen Menschen will Platon deutlich machen, wie sehr die Suche nach Gerechtigkeit vom Wechselspiel zwischen den beiden Ebenen abhängig ist. Modern würde man dies an der Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit festmachen. In dem platonischen Bild, das im Grunde eine soziologische Modellannahme darstellt, wird die „Gestalt des Kleineren“ erst deutlich, wenn man sie in der „Ähnlichkeit mit dem Größeren“ betrachtet (Platon 1991: 369 a). Das bedeutet aber auch, dass eine rein psychologische Orientierung auf das Individuum hinsichtlich seiner Bedürfnisse nicht weiterhilft, sondern erst dann objektivierbar wird, wenn man diese Bedürfnisse in den Kontext der allgemeinen Bedürfnisse der Polis stellt. Beide Perspektiven, allein für sich genommen, können die Gerechtigkeitsfrage nicht angemessen erklären, erst das Zusammenwirken von Staat und Individuum führt hier zu einer plausiblen Beantwortung. So, wie der Staat funktioniert, so funktioniert auch der Einzelne im Staat. Ist der Staat demokratisch, werden sich, so die platonische These, die Menschen in einem solchen System (weitgehend) auch demokratisch verhalten. Ist der Staat hingegen tyrannisch aufgestellt, sind alle Bewohner einer solchen Polis auch kleine Tyrannen. Orientiert sich der Staat an einer Aristokratie, dann leben die Menschen dieses Staates nach aristokratischen Maßstäben. In Platons Analyse der Herrschaftsformen wird somit die Gerechtigkeitsfrage zum Gradmesser für das Gelingen einer guten Politik. Ein Tyrann mag zwar erfolgreich sein: für sich selbst als Person betrachtet zieht er allen Gewinn aus einer Herrschaftspraxis von Gewalt und Angsterzeugung. Doch am Ende scheitert jede Tyrannis, weil sie eine strukturelle Instabilität erzeugt durch die systematische Außerachtlassung von Gerechtigkeitsstandards. Der Tod einer jeden Politik ist die Missachtung der Gerechtigkeit. Politik kann nur dann und dort gelingen, wo sich die Ordnung an den Fragen der Gerechtigkeit ausrichtet. Erst dann wird ein dauerhafter Friedenszustand innerhalb einer Gesellschaft erreicht. Doch was meint Platon, wenn er von Gerechtigkeit spricht? – Jedem das Seine, ist die berühmt-berüchtigte Antwort auf diese Frage, dass „jeder sich nur auf eines befleißigen müsse von dem was zum Staate gehört, wozu nämlich sich seine Natur am geschicktesten eignet“ (Platon 1991: 433 a). Damit wird augenscheinlich ein funktioneller Wert für das Dasein jedes Einzelnen und seine Arbeitstätigkeit im Hinblick auf die politische Ordnung angesprochen (vgl. auch Weber 2009: 278 ff.). Es ist zugleich aber auch ein Appell an die normative Dimension der

Der Mensch als soziales Mängelwesen

Individuum und Ordnung des Staates

Jedem das Seine

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VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?

Theorie des Aristoteles

Oikos und Polis

Trias der guten und schlechten Herrschaftsformen

menschlichen Existenz in der Politik: gerecht kann ein Zustand (sozial, ökonomisch wie politisch) nur sein, wenn die moralischen Attribute in der wechselseitigen Anerkennung zwischen den Menschen als Bürger ein und dergleichen Polis zuträglich geregelt sind. Platon kannte den Begriff Würde noch nicht, aber im Verständnis von Ehre und Achtung liegt hier ein ähnlicher Vorschlag vor, wie er im Grundgesetz unter Artikel 1 modern formuliert wird. Sein Meisterschüler Aristoteles hat aus diesem (noch) recht idealistischen Konzept eine Lehre entwickelt, in welcher der Politik-Begriff a) systematisiert worden ist und b) empirisch, d.h. praktisch ausgerichtet wird (vgl. Aristoteles 1986). Bei allen Unterschieden in der Methodik bleibt die Grundfragestellung bei Aristoteles die gleiche: wie kann ein gutes Leben gelingen – und was muss Politik tun, um dies gewährleisten zu können? Politik erscheint hier zunächst in der Analogie zur Hausverwaltungslehre: es ist ein „Herrenverhältnis“, bei dem es um Ein- und Unterordnung geht, mit deren Hilfe die Bedürfnisse des Lebens geregelt und organisiert werden können (Aristoteles 1986: 1259 b). So, wie der Familienvater als Hausherr agiert, so ähnlich verhält es sich auch beim Politiker in seinen Aktionen für den Staat. Im Grunde das gleiche Schema wie bei Platon, nur mit dem Unterschied, dass Aristoteles nicht mehr vom Micro- und Macro-Anthropos spricht, sondern soziologisch auf die Organisation und Struktur in der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit abhebt. D. h., die Familie ist das Äquivalent zur Polis. Der Haushalt der Familie, der Oikos, steht der Polis als analoges Modell gegenüber – im eigentlichen Sinne zur Seite, denn ohne eine Anzahl von Haushaltungen könnte der Staat gar nicht existieren. Der Oikos ist der Polis vorgelagert, und doch ist die Polis immer schon existent, weil ohne eine Form der politischen Ordnung keine familiäre Einheit für sich allein bestehen könnte. In der modernen Lesart von Öffentlichkeit und Privatheit findet sich dieses Grundmodell sozialer Existenz auch im Verfassungsstaat wieder. Auch bei Aristoteles wird (wie schon bei Platon) die Bedeutung der politischen Ordnung für die Aushandlung der Interessenlagen der Bürger betont. Gerechtigkeit ist auch in diesem Fall abhängig vom Stand der Herrschaft, also der Art und Weise, wie Macht organisiert und legitimiert wird. Aristoteles hat die platonische Beweisführung zugunsten einer guten Politik systematisiert und aus der dialogischen Gesprächsform befreit. Es erfolgt eine Standardisierung der Herrschaftsformen, die Aristoteles anhand der tatsächlichen Gegebenheiten seiner Epoche in eine konzeptionelle Typologie setzt (vgl. u.a. Knoll 2011, Zehnpfennig 2012). Das traditionelle Zweierschema der drei guten und der drei schlechten Herrschaftsformen bekommt in der aristotelischen Theorie jene klassische Systematik, die dann die Debatte über Staatsformen bis in die Neuzeit hinein bestimmt.

Gute 1. Monarchie 2. Aristokratie 3. Politie

Typologie der Herrschaftsformen (nach Aristoteles) Schlechte Verfassungen 1. Tyrannis 2. Oligarchie 3. Demokratie

VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?

Im Grunde erfolgt die Einteilung zunächst einmal nur nach dem Gesichtspunkt, wie viele Personen jeweils herrschen: Einer, Mehrere oder Alle? Gleichzeitig wird hiermit jedoch auch ein umfangreiches Konzept von Funktionen und Normen angesprochen, die bis hin zur inneren Psychologie der beteiligten Akteure reichen können. Die Monarchie ist demnach klassischerweise die Herrschaft des Einen, weil er der weiseste, der gerechteste und der gütigste unter seinen Mitmenschen ist. An seine Klugheit reicht niemand heran. Natürlich ist dies nur ein Idealtypus, den Aristoteles hier beschreibt, gleichwohl lässt sich daraus ein Leitmotiv für die Monarchien dieser Welt ableiten. Die Aristokratie übernimmt die Attribute der Monarchie, allerdings mit der Einschränkung, dass dann mehrere Personen in der Sache zu entscheiden haben. Auch wenn diese weiterhin die Klügsten aus dem Volk sind, bleibt hier die Möglichkeit, dass sie sich nicht einig werden bei der Ordnung der Gesetze. Ausdrücklich muss hier betont werden, dass Aristoteles keinen Erbadel meint. Diese Herrschaftsform, die Familiendynastien über Jahrhunderte begründet, ist eine Erfindung des Mittelalters. Die Aristokraten in der Lehre des Aristoteles sind die Besten, die für die Politik im Volk zu gewinnen sind. Den beiden positiven Herrschaftsformen steht gegenüber die Tyrannis auf der Seite der Alleinherrschaft und die Oligarchie bei der Herrschaft der Wenigen. Tyrannis ist die klassische Bezeichnung für eine Herrschaft, die sich durch Techniken der gewaltsamen Unterdrückung, der Schaffung von Angstzuständen und der Verfolgung von Minderheiten auszeichnet. Mit der modernen Form der Diktatur hat diese antike Ein-Mann-Herrschaft vieles gemeinsam, auch wenn sich die Legitimation nicht aus der Berufung auf das Volk ergibt. So schlimm ein Tyrann agiert, so darf man doch nicht übersehen, dass auch der Tyrann seine Freunde und Anhänger hat. Erst seine Gefolgschaft macht einen Tyrannen wirklich stark. In der Lesart von Platon und Aristoteles bezieht der Tyrann seine politischen Entscheidungen allesamt nur auf sich selbst. Es ist vor allem dieser Solipsismus, der eine Tyrannis zum Grundübel für eine sachgerechte Politik werden lässt. Psychologisch, moralisch wie auch funktional (in den materiellen Folgen) ist dieser Selbstbezug grotesk, weil damit das Motiv für Politik, nämlich einen Interessenausgleich zwischen verschiedenen Gruppen herzustellen, nicht mehr stattfindet. Ähnlich verhält sich dies bei der Oligarchie. Auch sie ist von dem Grundübel gekennzeichnet, dass hier eine Herrschaft (der Wenigen) stattfindet, die einzig und allein von ihrem selbstbezogenen Interesse her Politik macht. Das Hauptmerkmal dieses Interesses ist der Reichtum. Denn die Oligarchen sind, anders als die Aristokraten, die Wohlhabenden in einer Gesellschaft, die Reichen, die Politik machen, um damit ihren Reichtum a) zu sichern und b) noch zu vermehren. Mit ihrem einseitig materiellen Interesse verschärfen sie damit noch den Gegensatz zu den Armen, die stets die Mehrheit bilden, auf deren Bedürfnisstruktur die Oligarchen aber gar nicht eingehen (können), weil sie nur an sich selbst denken. In der Oligarchie regiert das Geld die Welt. Politik ist damit ein käufliches System. Man könnte nun meinen, dass die Demokratie den großen Gegenentwurf zu den bisher genannten Herrschaftsformen darstellt. Doch das ist in den Theorien von Platon und Aristoteles nicht der Fall. Im Gegenteil: die Demokratie schneidet bei ihren Analysen denkbar schlecht ab. Aristoteles nimmt

Monarchie als Herrschaft des Gerechtesten

Aristokratie als Herrschaft der Besten

Tyrannis als Herrschaft durch die Erzeugung von Angst

Oligarchie als Herrschaft der Reichen

Die Defizite der Demokratie

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VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?

Veränderung der Herrschaftsstrukturen durch ein neues Modell

Die Mischverfassung der Politie

die demokratische Ordnung sogar eindeutig in die Dreierreihe der negativen Herrschaftsformen auf. Bei Platon ist der Demokrat ein Mensch, der vieles und alles haben will, aber eigentlich nichts richtig machen kann, weil er unstet mal hierhin, mal dahin treibt. Beide Denker argumentieren vor dem Hintergrund der realen Erfahrung der Entartung der ersten Demokratie in Athen im fünften Jahrhundert vor Christus, die eine Direktdemokratie war und letztlich in einer Schreckensherrschaft endete (vgl. auch Meier 1993). Demokratie als Herrschaft aller über alle ist nach der Analyse bei Platon wie bei seinem Meisterschüler Aristoteles ein Ordnungskonzept, das mehr Verunsicherung bringt als Stabilität. Es schafft unendlich viele Begehrlichkeiten, weil nun die Mehrheit der Armen permanent die Minderheit der Wohlhabenden vor sich her treibt, um sie in ihrem Reichtum zu mindern, wenn nicht gar auszurauben. Auch unter den jeweiligen Einkommensgruppen der Gesellschaft finden ständig Umverteilungskämpfe am Besitztum statt. Platon wie Aristoteles folgern daraus, dass die Demokratie normativ wie materiell eine sehr instabile Ordnung produziert und damit leicht in das Gegenteil, nämlich die Herrschaft des Einen, umschlagen kann. Am Ende sehen beide Denker hier einen Kreislauf, demzufolge aus den Interessenkämpfen in einer Demokratie entweder ein Bürgerkrieg entsteht oder aber (noch schlimmer) ein Tyrann als Unterdrücker emporsteigt. Die Frage ist: Wie kann man dies vermeiden? Während Platon die Idee der Gerechtigkeit als große Leitlinie der Politik favorisiert, schlägt Aristoteles ein ganz konkretes neues Modell für die Ausrichtung der Herrschaft vor. Seiner Analyse zufolge ist es nicht damit getan, einfach nur auf eine vernünftige Politik zu setzen und zu hoffen, dass eines Tages nur noch Philosophen die Herrscher sein werden, wie dies noch Platon annahm. Wahrscheinlich wird dies nie der Fall sein. Umso wichtiger ist es, die Strukturen der Herrschaft so zu verändern, dass die politischen Institutionen die Gerechtigkeit quasi systemisch produzieren. Hierfür kreiert Aristoteles ein neues System für die positive Seite der Herrschaftsformen, indem er die guten Seiten der Monarchie mit den guten Effekten der Aristokratie und (ein wenig von der) Demokratie mischt. Diese neue Form einer Mischverfassung bekommt auch einen neuen Namen: Politie. Die Politie vereinigt die Klugheit der Entscheidung aus der Monarchie mit der Tapferkeit und der Vernunft der Besten aus der Aristokratie mitsamt der Berücksichtigung der Interessen aller aus der Demokratie. Im aristotelischen Verständnis ist diese Herrschaftsform besser geeignet auf die Anforderungen des Lebens zu reagieren, weil sie nicht einseitig nur einem Maßstab in der Politik folgt, sondern gleich mehreren, die sich noch dazu wechselseitig ergänzen. Das richtige Mischungsverhältnis ist eine Frage nach der Austarierung zwischen den Institutionen, ein Aspekt, der noch bei der modernen politischen Theorie in der Begründung der Gewaltenteilung im Verfassungsstaat eine zentrale Rolle spielt (vgl. auch Riklin 2006). Mit der Politie als der besten der positiven Herrschaftsformen verbindet Aristoteles zugleich auch eine Politik, die sich nachhaltig am öffentlichen Gebrauch von Tugenden ausrichtet. Die zentralen Tugenden sind hierbei jene, die bereits bei Platon als Kardinaltugenden für den Bestand einer jeden Gesellschaft diskutiert worden sind:

VI. Politische Theorie: Was ist Gerechtigkeit?

a) Tapferkeit b) Klugheit c) Mäßigung d) Gerechtigkeit. Der Einsatz dieser Tugenden ist Sache jedes Einzelnen. Die politische Ordnung hat darüber zu wachen, dass der Sinn dieser zentralen Tugenden von den Bürgern eingesehen wird und möglichst dauerhaft erhalten bleibt. Wichtig ist hierfür die Vermeidung exklusiver Interessensansprüche bestimmter Gruppen (oder von Einzelpersonen) auf Kosten der Allgemeinheit. Die Empfehlung, die Aristoteles gibt, ist die Befolgung einer Politik der Mitte, bei der extreme Ansichten nach Möglichkeit vermieden werden sollen (vgl. auch Nitschke 2002: 19 ff.). Um dies nicht nur normativ, sondern auch materiell zufriedenstellend zu erreichen, bedarf es einer distributiven Gerechtigkeit, d.h. einer Form der Umverteilung von Leistungen materieller Art, die zur Bedarfsdeckung der Bürger im Alltag wichtig sind. So jedenfalls wäre der Reflex, der sich heutzutage bei der Vorstellung von distributiver Gerechtigkeit meist einstellt: ein materieller Ausgleich bei sozialer Ungleichheit durch Sozialleistungen, die der Staat vornimmt. Bei Aristoteles ist die Vorstellung von ausgleichender Gerechtigkeit jedoch in erster Linie gar nicht materiell gemeint, sondern entspricht einem ethischen Konzept in Form der Anerkennungsleistungen zwischen den Bürgern einer Polis. Da jeder aufgrund seiner Haushaltsverhältnisse ganz unterschiedliche Interessen verfolgt, also auch differente Vorstellungen vom Glück hat, muss dem von Seiten der Bürger Rechnung getragen werden, wie auch der Staat darauf zu achten hat, dass das jeweils individuelle Streben nach einer Verbesserung der Existenz zu einer der Grundbedingungen von Politik gehört. Eudaimonia, Glückseligkeit, ist damit elementarer Bestandteil in der aristotelischen politischen Theorie: alles und jeder strebt nach seinem Glück. Was immer dies inhaltlich heißen mag, es ist Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, dass sich dieses individuelle Glücksstreben so verwirklichen kann, dass davon a) der Einzelne für sich selbst profitiert und ebenso b) auch die Allgemeinheit.

Kardinaltugenden

Politik der Mitte

Glückseligkeit als Ziel

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VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie?

Politische Bildung als Initial für Politikwissenschaft

Demokratiedefizit

Auch wenn die Politikwissenschaft, gemessen an ihren theoretischen Klassikern, eine der ältesten Wissenschaftsdisziplinen ist, bleibt sie in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor eine recht junge Fachdisziplin. Politische Fragestellungen wurden traditionell in der Rechts- und Staatswissenschaft sowie in der Geschichtswissenschaft erhoben und behandelt. Den Siegeszug als eigenständige Disziplin verdankt die Politikwissenschaft der Politischen Bildung – und zwar aus einer ideologischen Konstellation heraus. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und insbesondere im Hinblick auf den Holocaust musste eine Antwort auf die bohrende Frage gefunden werden, wie es möglich war, dass eine Kulturnation wie Deutschland mit großen Denkern wie Schiller, Goethe, Kant, Herder, Hegel etc. in den Totalitarismus des Dritten Reiches bereitwillig abdriften konnte? Die Suche nach den Gründen führte zu vielen Antworten, die insbesondere auf die ökonomischen wie sozialen Bedingungen in der Weimarer Republik hinwiesen, demzufolge die Ausmaße der Weltwirtschaftskrise und eine falsche (ideologische) Selbstinterpretation zu den Gründen des Ersten Weltkriegs dazu geführt haben, dass die erste Demokratie auf deutschem Boden eigentlich (mit Ausnahme bestimmter Gruppen und Kreise) keine richtige Resonanz in den Jahren zwischen 1919 und 1933 bei der Mehrheit der Deutschen gefunden hat (vgl. u.a. Eschenburg 1985). Besonders hervorgehoben wurde das Demokratiedefizit – ein Mangel an demokratischem Grundverständnis und entsprechender normativer Verhaltensweisen. Die Weltwirtschaftskrise hatte Länder wie Großbritannien und die USA auch hart getroffen – ohne dass sich hier ein Faschismus bemerkbar gemacht hat, geschweige denn überhaupt mehrheitsfähig geworden wäre. Dass dies in Deutschland wie auch in Italien und in Spanien anders war, hat man oft und gerne mit dem Hinweis auf die verspätete Nationalstaatswerdung versucht zu erklären. In der Tat sind alle drei Nationen zum Nationalstaat erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts gekommen. Im Vergleich mit England, Frankreich und selbst den USA also später. Dennoch ist dieser Erklärungsansatz nicht zwingend, denn er würde bedeuten, dass Länder, die noch später zum Nationalstaat avanciert sind, wie z.B. erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, damit ebenso anfällig seien für faschistische bzw. nationalsozialistische Gedanken. Seitdem in der neueren Forschung große Übereinstimmung darin besteht, dass Nationalstaaten im Wesentlichen auch gesellschaftliche Konstruktionen sind, die auf den Überzeugungen ihrer Mitglieder basieren (vgl. auch Kapitel III), lässt sich die Deutung von der verspäteten Nation ohnehin so nicht mehr halten. Was hingegen bleibt, ist die Diagnose der mangelnden demokratischen Einstellung in der deutschen Gesellschaft. Hier haben insbesondere die westlichen Alliierten nach 1945 im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen Wert darauf gelegt, dass ein ziviles Bewusstsein

VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie?

entwickelt und gefördert wird, in dem demokratische Werte als öffentliche Tugenden in der politischen Alltagskultur der Bundesrepublik fest verankert werden (vgl. auch Behrmann 2010: 82 ff.). Politische Bildung ist somit ausgerichtet auf die demokratische Ordnung und die Implementierung entsprechender Verhaltensweisen im sozialen Alltag der Bürger. Die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland sollte so nachhaltig demokratisiert werden, dass Auschwitz als dunkelstes Kapitel in der deutschen Geschichte ein einmaliger Tiefpunkt bleibt. Zentral für diese Vermittlungspraxis, die auf Aufklärung und Ausbildung setzt, ist die Politikwissenschaft an den westdeutschen Universitäten nach 1949 eingerichtet und sukzessive etabliert worden. Die erste und zweite Generation von Politikwissenschaftlern in den 1950er- und 60er-Jahren hat neben den fachlichen Inhalten stets auch die Perspektive der Politischen Bildung zu wahren gewusst (vgl. Rupp/Noetzel 1991, 1994 u. Arendes 2005). Das beinhaltet zum einen ein Ausbildungskonzept für den Schulbedarf in Form eines Unterrichtsfaches, das (je nach Länderdefinition) mal Politik, mal Sozialkunde oder auch Sozialwissenschaften genannt wird. Des Weiteren ist damit aber auch der gesamte Bereich der Erwachsenenbildung gemeint. Nicht zuletzt die immer erfolgreicher werdende Politikberatung entspringt dem Ansatz der Politischen Bildung. Politische Bildung ist im Kern Demokratievermittlung, d.h., es geht um die Normen, die Institutionen und die Handlungslogiken der politischen Akteure. Adressat für diese aufklärungsorientierte Vermittlungsfunktion ist die Gesellschaft im Allgemeinen. Institutionell hierbei vor allem die Schulen sowie die öffentlichen Bildungsträger, die Angebote zu politischen Themen machen. In der Formulierung zweier Gründungsväter der Politischen Bildung, Thomas Ellwein und Walter Dirks, ist das Fach als Teilgebiet der Politikwissenschaft „richtig verstanden das Gegenteil von politischer Propaganda“ (zit. n. Gelberg 2007: 22). Es ist auch „mehr als politische Aufklärung“: dem Ideal nach führt die Politische Bildung „zur freien, verantwortlichen Urteilsbildung des politisch mündigen Menschen“ (ebd.). Dieser fast schon pathetische Anspruch ist jedoch in der Praxis nicht eben leicht zu realisieren. Demokratievermittlung ist ein schwieriges Geschäft, weil es nicht nur um fachliches Wissen geht, sondern genauso stark um die pädagogische Aneignung und Wiedergabe dieses Wissens an das Publikum. Dabei geht es didaktisch um das Erzeugen einer kritischen Loyalität bei den Adressaten (also den Schülern oder den erwachsenen Besuchern einer politischen Bildungsveranstaltung). Es geht darüber hinaus aber auch um die demokratische Handlungskompetenz selbst. Wie also sollen sich Menschen verhalten, um gute Demokraten in jeder Lebenslage, vor allem bei Konflikten im Alltag, sein zu können? Kritische Loyalität meint hier ein Bewusstsein, das die demokratische Ordnung anerkennt, zugleich aber auch mit konstruktiver Kritik begleitet. Das ist nicht einfach vermittelbar. Es ist leichter, Aussagen über Demokratie auswendig zu lernen als selbstreflexiv den Umgang mit Werten wie Toleranz, Offenheit im Disput oder die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen auszuüben. Demokratisches Lernen heißt also nicht nur eine Demokratie-Theorie kognitiv nachvollziehen zu können, sondern auch den sozialen wie politischen Alltag entsprechend zu gestalten.

Die Etablierung der Politikwissenschaft nach 1949

Schulfach „Politik“

Vermittlung demokratischer Werte

Kritische Loyalität

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VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie? Didaktische Ziele

Politik und Wirtschaft

Beutelsbacher Konsens

Pluralismus der Argumentation

Das ist eine Frage der Didaktik – der richtigen Bildungsvermittlung in der Erziehung zum demokratischen Mitbürger. Politische Bildung legt hierbei Wert auf a) die Wissensvermittlung der Inhalte und Themen von Politik, b) der Heranführung an die Interessenlagen, mit denen sich Politik konfrontiert sieht, und die Aufklärung darüber. Schließlich auch c) die Profilierung einer spezifischen Handlungskompetenz, damit aus dem Bürger nicht nur ein demokratisch denkendes, sondern eben auch praktisches Lebewesen wird. Bei der pädagogischen Umsetzung in der Didaktik zeigt die Geschichte der Politischen Bildung in Deutschland ganz unterschiedliche Ansätze (vgl. auch Detjen 2007), die oft allein schon davon inspiriert sind, inwieweit man die Politische Bildung spezifisch als eine Aufgabenstellung der Politikwissenschaft definiert hat (wie etwa in Niedersachsen) oder als eine eher soziologische Disziplin (wie in Bayern) bzw. generell als eine sozialwissenschaftliche Perspektive wie etwa in Nordrhein-Westfalen. Rückt gar (wie in neueren curricularen Richtlinien) das Fach Wirtschaft in die Politische Bildung mit ein, dann verschiebt sich hier die Perspektive auf die Politik zugunsten ökonomischer Fragestellungen (vgl. auch Stellungnahme der DVPW u. DGfP 2007). In einem Schulfach, das (wie in Niedersachsen, Hessen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) neuerdings Politik und Wirtschaft heißt, hat die Demokratievermittlung nur noch halb so viel Präsenz im Stundenanteil der Woche. Die politikwissenschaftlichen Themen reduzieren sich entsprechend (vgl. z.B. Rudyk 2007). Neben den einzelnen Methoden in der Darstellung und Vermittlung der Themen für den Schulunterricht ist die grundsätzliche Frage, was eine spezifische Didaktik der Politischen Bildung für ein demokratisches Bewusstsein bedeutet. Hierzu hat es lange Kontroversen in der Fachdisziplin gegeben, die auch bis heute hin andauern. Seit Mitte der 1970er-Jahre gilt jedoch weitgehend als Konsens, was bei einer Tagung in Beutelsbach vereinbart wurde. Dieser sogenannte Beutelsbacher Konsens von 1976 sieht vor (vgl. auch Schiele/Schneider 1977): 1. Ein Indoktrinationsverbot 2. Die Kontroversität der Fragestellungen 3. Eine Schülerorientierung. Alle drei Punkte sollen in ihrer wechselseitigen Berücksichtigung ein demokratisches Profil ergeben bzw. schärfen. Lehrer sollen mit ihren Inhalten nicht indoktrinieren, weil eine Bevormundung letztlich eher auf ein autoritatives Verhaltensmuster mit Anpassungseffekten hinaus läuft, als dass damit ein selbstkritisch reflektierendes Bewusstsein gefördert würde. Die Entwicklung einer selbständigen Urteilskraft ist hier das Leitziel (vgl. auch Schiele 2004). Die Themen müssen aus diesem Grunde auch kontrovers vermittelt werden. Eine monokausale Interpretation ist in der Welt des Politischen fehl am Platz, auch wenn Politiker oft und gern den Eindruck zu erwecken versuchen, dass es genau gegen ihre politische Entscheidung keine denkbare Alternative gäbe. Umso wichtiger ist es daher, Schülerinnen und Schülern Handlungsalternativen und strategische Optionen aufzuzeigen, die nicht einfach nur den mitunter sehr einseitigen Formulierungen der Parteien folgen. Schon gar nicht darf hier das Plädoyer nur für eine bestimmte Parteirichtung vorgetragen werden! Aus dem Pluralismus der Sachargumente, aus dem Pro und Kon-

VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie?

tra, soll sich eine weitestgehend ideologiekritische Bewusstseinslage herausbilden können. Verbunden ist damit eine Orientierung an dem Schüler, d.h. an dem Kenntnisstand und dem Reflexionsvermögen, welches sich in der Entwicklungsphase seiner Ausprägung zur Persönlichkeit als Heranwachsender in den jeweiligen Jahrgängen zwischen dem 10. und dem 18. Lebensjahr z. T. ganz unterschiedlich akzentuieren lässt. Der Politik-Unterricht muss sich hier auf eine Bedarfshaltung bei Jugendlichen einrichten, die den Sinn von Politik zunächst nur schwer vermittelbar macht. Das hat vor allem etwas mit der Komplexität der Themen zu tun, die in einer mehr und mehr globalisierten Welt für die Politik selbst schon nicht leicht verständlich geworden sind. Die Besucherverwaltung des Deutschen Bundestages z.B. nimmt Kinder unter zehn Jahren nicht in die normalen Besuchervorführungen mit hinein, mit der Begründung, die parlamentarische Arbeit sei zu kompliziert für die Darstellung gegenüber den Kindern, wenn das erwachsene Publikum mit dabei ist. Hierfür gibt es dann spezifische Kindervorführungen. Der lebensweltliche Bezug ist von daher das Grundproblem für die politische Didaktik: Wo holt man Kinder und Jugendliche inhaltlich ab, d.h., bei welchen Themen erreicht man ihr Interesse und kann damit die Bereitschaft erwecken, sich näher mit der Sachfrage zu beschäftigen? Der Beutelsbacher Konsens liefert hierfür keine weiteren Erklärungen. Er ist lediglich ein ganz formaler Konsens, der einige logische Grundbedingungen erklärt, mehr aber auch nicht. Inwieweit z.B. das Indoktrinationsverbot immer berücksichtigt wird oder werden muss, ist durchaus eine Grenzfrage. Wenn es z.B. im Unterricht zu einer Konstellation kommt, in der eine starke Gruppe in der Klasse oder sogar eine Mehrheit Neonazi-Parolen für gut heißt, darf sich der Lehrer hier nicht einfach wegducken und im Sinne einer ergebnisoffenen Diskussion die Dinge laufen lassen. Schließlich hat er einen Amtseid auf die demokratische Verfassung geleistet und ist verpflichtet für diese Werte einzustehen. Das hermeneutische Problem besteht dann darin, dass jede noch so gut gemeinte und pädagogisch feinsinnig vorgetragene Argumentation zugunsten der Verfassungswerte von Gegnern der Demokratie (seien sie links-, rechtsextremistisch oder islamistisch motiviert) als ideologische Bevormundung empfunden wird. Aus diesem hermeneutischen Zirkel führt das Indoktrinationsverbot von Beutelsbach gerade nicht heraus. Die formale Qualität der Konsensformel von Beutelsbach erklärt auch, warum bis heute eine inhaltliche Übereinstimmung unter den bundesdeutschen Didaktikern zu den Kernfragen der Politischen Bildung sowohl methodologisch wie auch inhaltlich umstritten bleibt. Auch wenn sich hier alle an der Demokratievermittlung normativ orientieren, so sind doch die didaktischen Zwecke und Inhalte unterschiedlich akzentuiert. Mal wurde wie bei Kurt Gerhard Fischer eine didaktische Reduktion empfohlen, bei der die Erziehung zur Demokratie jeweils exemplarisch am Fallbeispiel erörtert werden sollte (vgl. Fischer 1972 u. 1993). Das Verständnis von Politik würde sich hierbei jeweils über die Analyse eines konkreten Problems ergeben, wobei die Einsichtsfähigkeit in die Komplexität der politischen Erscheinungsformen dann notwendigerweise zurücktreten müsste. Demgegenüber wurde andererseits das konfligierende Element in der Politik betont, also die Ausrichtung von politischen Themen nach ihrem

Komplexität von Politik

Indoktrinationsverbot

Didaktische Reduktion

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VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie?

Politische Urteilskraft

Systemkritik

Streitwert. Das hat den Vorteil, dass hierbei unmittelbar über Sinn und Unsinn für den politischen Nutzen in der Praxis diskutiert werden kann (vgl. auch Giesecke 1993). Fragen nach der Funktion der Macht, dem Sinn von Mitbestimmungsrechten, der Bedeutung ideologischer Aussagen, der Begründung von Interesse im öffentlichen Raum etc., spielen hierbei eine große Rolle. Die politische Urteilskraft, immerhin ein erklärtes Ziel der Politischen Bildung, lässt sich auf diesem Wege herausbilden und schärfen. Analyse, Urteilsfähigkeit und Handlungshorizonte in Bezug auf politische Sachthemen sollen hierdurch gestärkt werden. Problematisch ist jedoch die Perspektive auf die Handlungsfähigkeit der Schüler. Die Institution Schule liefert keinen spezifischen Handlungsraum für politisches Verhalten. Schülermitbestimmungsrechte sind ein sehr reduzierter Maßstab für die Entscheidungsspielräume, die tatsächlich in der Politik stattfinden, von den situativen Begrenzungen in der Handlungs- und Entscheidungskompetenz ganz zu schweigen. Die Wirklichkeit des politischen Alltags in der Situation des Schulunterrichts im pädagogischen Modell darzustellen, ist heuristisch das zentrale Dilemma für die Politische Bildung. Während naturwissenschaftliche Disziplinen im Schulunterricht mittels experimenteller Aufgaben Realitätserfahrungen nachahmen können, sind alle spieltheoretischen Lernmodelle in Bezug auf die Politik eben nicht praxiskonform abbildbar. Schon das Innenleben einer Partei vor Ort ist oft anders als dies die Policy-Modellanalysen der Politikwissenschaft klassifizieren, von deren Umsetzung in einen pädagogischen Impetus für die Vermittlungsperspektive gegenüber Schülern ganz zu schweigen. Man kann sich hierbei auf eine erkenntnistheoretische Position zurückziehen, die letztlich alles kritisch betrachtet: a) die Handlungsweisen in der Politik, b) deren Analyse in der Politikwissenschaft sowie c) die daran anschließende didaktische Umsetzung bzw. Ausdeutung. Politische Bildung wäre (bei aller Sachvermittlung hinsichtlich der Themen) dann „immer zugleich Systemkritik“ (Hilligen 1985: 168). So sympathisch diese Selbstdeutung aus der didaktischen Perspektive auch ist, weil sie die Kontroversität der politischen Themen ergebnisoffen und vor allem pluralistisch behandeln und darstellen kann, so bleibt doch auch hierbei ein gewisses Unbehagen – nämlich das der strukturellen Überforderung der Schüler. Wie sollen junge Menschen z.B. ein positives Lebensgefühlt für die demokratische Ordnung empfinden und entwickeln können, wenn alles nur kritisch gesehen und hinterfragt wird? Ein bejahender Wertebezug zum Grundgesetz lässt sich nicht einfach mit einer Generalkritik an den einzelnen Artikeln herstellen, ist hier sogar kontraproduktiv. Bei aller Pluralität und Ergebnisoffenheit darf in der Politischen Bildung keine Beliebigkeit gefördert werden. Mitunter wirken die einzelnen Beiträge oder programmatisch formulierten Ansätze recht stark auf den jeweiligen Standort im jeweiligen Bundesland (eigentlich: auf den Stelleninhaber der Professur zur Politischen Bildung) fokussiert. Umso wichtiger und generell begrüßenswert ist es, wenn in der neueren Debatte zur Politischen Bildung der Versuch unternommen wird, den Kern der Didaktik in der Vermittlung von Politik sowohl pädagogisch wie auch politikwissenschaftlich systematischer zu bestimmen. Das geschieht vor dem Hintergrund einer Kompetenz-

VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie?

zuordnung, also der Frage, mit welchen Kompetenzen die Politische Bildung aufwarten kann und soll? Hierzu haben sich zwei Arbeitsperspektiven mit durchaus kontroverser Abgrenzung von der jeweils anderen Seite etabliert. Zum einen wird der Versuch unternommen, mit sogenannten Basiskonzepten das Fach als Teildisziplin innerhalb der Politikwissenschaft wieder deutlicher an normative Fragen nach Macht, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat etc. anzubinden (vgl. Weißeno u.a. 2010). Zum anderen wird genau hieran Kritik geübt, indem a) die Leitlinie der politikwissenschaftlichen Relevanz bestritten und b) der Sinn dieser Basiskonzepte problematisiert wird (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2011). Als Basiskonzepte werden vorgeschlagen (vgl. auch Massing 2011): 1. Ordnung 2. Entscheidung 3. Gemeinwohl. Mit der Ordnungsfrage wird selbstverständlich auf die Demokratie rekurriert bzw. von dieser als normativ berechtigter Ordnung ausgegangen. Damit erliegt aber die Politische Bildung einem Zirkelschluss. Politik erschöpft sich nicht in den Verhandlungssystemen der demokratischen Ordnung. Im Gegenteil – viele Phänomene auf der Welt lassen sich durch politische Inhalte kennzeichnen, die weit entfernt von einem demokratischen Ordnungsverständnis liegen. Insofern sind die inhaltlichen Zuschreibungsmuster von Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat, Marktwirtschaft und Grundrechten selbstreferentiell, bezogen auf das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Realistisch für ein Verständnis von Politik sind sie damit aber nur bedingt. Für einen internationalen Maßstab, z.B. für die Deutungsperspektiven in der Globalisierung (vgl. Kapitel XII), wirken diese Fachkonzepte eher gutmeinend idealisiert, eigentlich nur plakativ. Über die Lebensbedingungen von Millionen Menschen sagt das Referenzmodell Ordnung in Bezug auf die Demokratie zunächst wenig aus. Ähnlich verhält es sich auch bei dem Basiskonzept Entscheidung: Wenn hier Interessengruppen, Akteure in der Europäischen Union, Konfliktmechanismen und Legitimationsfragen neben dem Spektrum von Parteien und Regierung erörtert werden (vgl. Weißeno u.a. 2010: 12), dann folgt man damit zwar der klassischen Matrix aus der Policy-Analyse der Politikwissenschaft, doch auch hier stellt sich die Frage, inwieweit das eine tragfähige Grundlage für die Didaktik im Unterricht ist. Das Problem liegt nicht in der Policy-Modellierung, sondern im Verständnis der grundwissenschaftlichen Perspektive für den Unterrichtsbedarf. Wenn man vom lebensweltlichen Ansatz für die Schüler(innen) ausgeht, dann müssen Erfahrungen aus der Sozialisation, aus dem kulturellen Umfeld, sei es die Lokalität, die Region, das Milieu oder gar die Religion, mit einbezogen werden. Gerade an dieser Verwischung von klaren Randabgrenzungen wird deutlich, dass der Politik-Begriff für den Unterricht sozialwissenschaftlicher Komponenten, neuerdings auch unter der Perspektive der Kulturwissenschaften, bedarf (vgl. auch Petrik 2011). Die Gemeinwohlorientierung von Politik ist hingegen unstrittig. Ob die avisierten Fachkonzepte wie Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit von allen in gleicher Weise verstanden werden, ist Gegenstand der kontroversen Betrach-

Vermittlung von Kompetenzen

Basiskonzepte

Ordnung

Entscheidungskompetenz und lebensweltlicher Bezug

Gemeinwohlorientierung

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VII. Politische Bildung: Wie vermittelt man Demokratie?

Die Grenzen einer nationalen Bildungsperspektive

Bundeszentrale für politische Bildung

tung und erfüllt damit die Notwendigkeit einer pluralen Diskussionskultur für den Unterricht. Das vielschichtige und amorphe Phänomen der Machtgestaltung zwingt gerade zu einer ergebnisoffenen Arbeitsperspektive. Blickt man aus einer Perspektive der Internationalen Beziehungen auf die Politische Bildung, dann fällt vor allem auf, dass sich das Fach sehr stark an die inhaltliche Ordnungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland anlehnt. Das impliziert dann auch bestimmte normative Standards in der Selbstinterpretation, bei denen es z.B. interkulturelle Aspekte eher schwerer haben, zur Kenntnis genommen zu werden. Auch wenn den Fachvertretern in der Politischen Bildung bewusst ist, dass der Politik-Begriff, schon gar nicht der demokratische, allein auf den Staat zu beziehen ist, so bleiben doch die meisten didaktischen Positionen einer Erkenntnisebene verhaftet, welche den öffentlichen Raum als Regelungsraum des Staates für die Politik identifiziert. Spätestens im Rahmen der Internationalen Beziehungen ist dies als Erkenntnisstufe zu wenig. Mit dem Umbau der Staatlichkeit im Rahmen der Europäischen Integration, den Wettbewerbsbedingungen in einer globalisierten Ökonomie, verändern sich auch die Bezugspunkte für die Politische Bildung ganz massiv. Institutionell verfügt das Teilfach innerhalb der Politikwissenschaft zwar nur über einige wenige Professuren, da nicht jede Universität in Deutschland für die Lehrerausbildung zuständig ist und die Didaktikprofessuren innerhalb der politikwissenschaftlichen Seminare in den letzten Jahrzehnten eher abgebaut als ausgebaut wurden (vgl. auch Lange 2010: 69 ff.). Dennoch verfügt die Politische Bildung über einen institutionellen Organisationskern, der für die Außen- und Binnenwirkung attraktiv ist – und zwar in Form der publizistischen Medien, die hier zur Verfügung stehen. Mit der Bundeszentrale für politische Bildung, die 1952 als Bundeszentrale für Heimatdienst im Zuge der Maßnahmen zur Reeducation gegründet worden ist, besteht eine mediale Kommunikationsplattform für Politikvermittlung in die breite Öffentlichkeit, die einmalig ist. Die Bundeszentrale für politische Bildung gehört zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern und hat ihren Sitz in Bonn. Die einschlägigen Periodika und Fachbücher können dort direkt oder auch über die diversen Landeszentralen für politische Bildung bezogen werden. Alle ein bis zwei Monate kommt ein Themenheft der Informationen zur politischen Bildung heraus, das von Experten zur jeweiligen Thematik zusammengestellt worden ist. Monatlich erscheint als Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament eine Ausgabe Aus Politik und Zeitgeschichte, in der ebenfalls themenspezifisch aktuelle Probleme der Politik vorgestellt und diskutiert werden. Innenpolitische Themen wechseln hier mit außenpolitischen bzw. Fragestellungen der Internationalen Beziehungen (vgl. unter www.bpb.de/apuz-aktuell). Insofern ist die Politische Bildung in Deutschland medial breit aufgestellt. Der Zugang zu ihren Angeboten ist für Schüler(innen) und Studierende ebenso wie für die Interessenten in der Erwachsenenbildung einfach und preislich attraktiv gestaltet – ob sich jedoch mit der Nutzung auch der gewünschte Erfolg strukturell ergibt, ist eine ganz andere Frage.

VIII. Internationale Beziehungen: Theorien Der Bereich der Internationalen Beziehungen (IB) war ursprünglich nur ein Nebenfeld in der politikwissenschaftlichen Betrachtung, weil hier die Völker- und Staatsrechtslehrer lange Zeit dominierten. Mittlerweile ist der IB-Bereich jedoch eines der Hauptarbeitsgebiete der Politikwissenschaft in Deutschland, ein Forschungs- und Themenfeld, in dem sich ständig neue Fragestellungen ergeben, weil die Dimensionen im internationalen Bereich so vielschichtig und von einer hohen Dynamik geprägt sind. Der ältere Begriff, unter dem sich diese internationale Perspektive für die Politikwissenschaft etablierte, ist zunächst die Bezeichnung Internationale Politik, die auch heute noch, je nach Schwerpunkt in der Theorie, verwendet wird. Internationale Politik bezieht sich überwiegend auf das Handeln des Staates als dem zentralen politischen Akteur in der internationalen Sphäre. Damit verbunden sind auch alle politischen Institutionen, die ihr Tätigkeitfeld direkt oder doch in deutlicher Abhängigkeit der staatlichen Legitimationsebene verdanken (vgl. z.B. Woyke 2006, Masala u.a. 2010). Während also der Begriff der Internationalen Politik auf ein eher klassisches Deutungsfeld um den Staat herum verweist, ist der neuere Begriff der IB dadurch gekennzeichnet, dass hiermit auch nichtstaatliche Akteure wie Non-Governmental Organisations (NGOs), Wirtschaftsverbände, selbst einzelne Personen erfasst werden können. Der IB-Begriff bezieht sich damit prinzipiell auf alle gesellschaftlichen Handlungen, in und mit denen ökonomische, soziale, kulturelle und politische Prozesse erfasst werden können, die grenzüberschreitend wirken. Mit diesem Verständnis zeigt der IB-Begriff eine deutlich ausgeweitete Akteurskonstellation an. Damit wird den gesellschaftlichen Entwicklungen in der Moderne Rechnung getragen, die aufgrund der veränderten ökonomischen und technologischen Bedingungen heutzutage permanent grenzüberschreitende Aktionen beinhalten – ohne dass hierbei gleich von Politik die Rede sein muss, im Endeffekt aber doch gerade politische Prozesse hierdurch ausgelöst bzw. stabilisiert werden können. Jeder einzelne Tourist ist bei seiner Reise und seinem Aufenthalt im Ausland zwar zunächst nur ein Individuum mit bestimmten Konsumabsichten und -gewohnheiten. In der Summe, beim Massentourismus, führt dies jedoch bei dem betreffenden Land zu nachhaltigen, darauf reagierenden Angebotsstrukturen und entsprechenden sozialen (wie kulturellen) Veränderungen. Auch jeder Greenpeace-Sympathisant oder Aktivist von Amnesty International, der an seinem heimischen PC eine Mail zur Rettung bestimmter Fischbestände an die Regierung von Australien schickt oder das Mullah-Regime in Teheran auffordert, keine Steinigung von Frauen und Männern zu erlauben, fällt damit in den Aufmerksamkeitsbereich der IB-Analysen. Die Internationalen Beziehungen sind als allumfassender Begriff zu sehen, während unter der Perspektive der Internationalen Politik weiterhin zentral die Fragen von Macht und Herrschaft behandelt werden. Beide Orientierun-

Internationale Politik

Internationale Beziehungen

Individuelle Akteurspositionen

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VIII. Internationale Beziehungen: Theorien

Ideologie als Referenzrahmen

Ideologien der Moderne

Theorien der IB

gen verweisen in einem beträchtlichen Ausmaß auf ideologische Prämissen, nämlich die Art und Weise, wie Staaten und Gesellschaften zunächst einmal sich selbst verstehen und dann untereinander grenzüberschreitend Politik machen. Eine Ideologie ist eine Form der Weltanschauung, die meist mit einer spezifischen theoretischen Begründung formuliert wird, um damit eine Erhöhung der eigenen Gesellschaft, Kultur, Religion, des Staates und der jeweiligen Nation anzuzeigen (vgl. auch Salamun 1992). Mit einer Ideologie werden normative Denkweisen vermittelt, in und mit denen sich ein Volk, eine Nation als eine Besonderheit gegenüber anderen Völkern und Nationen zu verstehen gibt. Ideologien fixieren sich auf das jeweils Besondere, die Eigenheit einer Gesellschaft oder einer bestimmten sozialen Gruppe wie auch einer Partei. Insofern sind die ideologischen Deutungsmuster stets affirmativ und apologetisch, indem sie eine jeweils andere Sicht der Dinge nicht zulassen wollen (oder können). Die Ideologien sind ein Produkt der Moderne, streng genommen tauchen sie mit der zunehmenden Nationalisierung und Verstaatlichung der Politik auf. Alle großen Deutungskämpfe um Staat und Nation sind seit dem 19. Jahrhundert (und vor allem im Verlauf des 20. Jahrhunderts) ideologisch geprägt gewesen. Klassischerweise kann man die großen Ideologien der Moderne in eine Vierergruppe einteilen, die mittlerweile allerdings um eine fünfte Ideologierichtung als neue Erscheinungsform erweitert werden muss: a) Liberalismus b) Konservativismus c) Marxismus d) Faschismus e) Islamismus. Die auch für die Parteienlandschaft in ihren Frontstellungen untereinander so konstitutive Bedeutung der ideologischen Ausrichtung wiederholt sich auf dem Feld der Internationalen Beziehungen und gewinnt dort erst recht an Schärfe. Das zeigt sich insbesondere an der neuesten Ideologierichtung, dem Islamismus, der in der internationalen Politik radikale Positionen im Umgang mit Staaten, Gesellschaften und Kulturen an den Tag legt (vgl. u.a. Laqueur 2004). Für die Analyse in den IB sind ideologische Selbstdeutungsmuster und Aussagen ein wichtiger Faktor, lässt sich doch von hierher ein Rückschluss auf Handlungsabsichten von Staaten und Gruppen im internationalen Bereich vornehmen. Fakten werden dadurch zuordnungsfähig, d.h., man kann Erscheinungsformen, die oft widersprüchlich sein mögen, hierdurch besser einordnen. Besonders für die Theorien der Internationalen Politik bzw. der IB sind ideologische Positionen normativ wie funktional ein Kriterium, um Aussagen in den Medien oder diplomatisch verklausulierte Botschaften auf ihren Kern, der Glaubhaftigkeit hin zu überprüfen. Anspruch und Wirklichkeit sind auch und erst recht nicht in der internationalen Welt immer identisch. Theorien gibt es im Bereich der IB viele, mitunter hat man schon den Eindruck, dass hier oft nur noch über die Theorien als solche diskutiert wird, als dass die empirischen Gegebenheiten selbst noch strukturell zu Kenntnis genommen werden. Den Theorien der IB ist generell ein Hang zur Modellbetrachtung zu eigen (vgl. u.a. Krell 2009, Hartmann 2009, Daase 2010). Bei

VIII. Internationale Beziehungen: Theorien

aller Verschiedenheit in den Perspektiven kann man das Spektrum der Theorien in den IB grundsätzlich in zwei geradezu klassische Lager einteilen: a) der Bezugnahme auf den Realismus, b) auf den Idealismus (vgl. auch Menzel 2004). Auch wenn beide Schulen mit Stereotypen arbeiten, sind diese doch hilfreich für die jeweilige Abgrenzung von der anderen Grundposition sowie für den Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Fakten. Denn an Daten mangelt es in der Internationalen Politik bzw. den IB wahrlich nicht. Ist schon die Taxierung der Innenpolitik eines Nationalstaats hinsichtlich der Beherrschbarkeit der Fakten ein enormes Problem für eine Policyanalyse, so stellt sich dieses Problem erst recht in der Welt internationaler, globaler Politik ein. Theorien helfen hier die Datenmenge zu filtern und zu ordnen, um überhaupt Zusammenhänge erkennen und erklären zu können. Mehr noch als bei der klassischen Politischen Theorie, die sich mit den Legitimationsfragen der politischen Ordnung, Gerechtigkeitspostulaten etc. beschäftigt (vgl. Kapitel VI), liefern Theorien in den IB die Grundprinzipien zum Verstehen komplexer Vorgänge. Ohne theoretisches Rüstzeug würde man in der globalen Welt der Nachrichten und ihrer Effekte allein schon von der Dynamik überfordert werden und nichts mehr verstehen. Ob die Theorien der IB alles richtig deuten können, sei dahin gestellt. Zumindest glauben ihre Protagonisten dies und tragen mit ihren Diskussionsbeiträgen zu einer permanenten Modifizierung und Veränderung dieser Theorien bei. Der realistische bzw. neorealistische Ansatz liefert ein Theoriegebäude, das gleich von mehreren erkenntnistheoretischen Prämissen ausgeht: 1. Werden die historisch-anthropologischen Grundlagen menschlichen Handelns betont. 2. Wird ein funktionales Politikverständnis angesetzt. 3. Versteht sich dieser Ansatz als eine synoptische Politikwissenschaft. 4. Wird Wert auf eine Typologiebildung gelegt. Wie schon bei den klassischen politischen Theorien, so ist auch für die Theorien in den IB eine anthropologische Begründung die wesentliche Voraussetzung dafür, dass die empirischen Daten bezogen auf das Handeln von Menschen (sowohl in ihrer Individualität wie in ihrer Kollektivität) richtig eingeordnet werden können. Die Theorien der IB neigen hier allerdings zu einem größeren Schematismus, d.h. eine philosophische Feininterpretation bleibt hier meist außen vor. Gemessen an dem Begründungsaufwand der Klassiker der Politischen Theorie (von Platon bis Rawls in der Gegenwart) wirkt vieles, was in den theoretischen Prämissen der IB zur Frage der Anthropologie und vor allem zur Ethik formuliert wird, als ein eher holzschnittartiges Nachzeichnen von Klassikeraussagen (vgl. auch Lepgold 1998). Dabei sind die Klassiker der Politischen Theorie wichtig, weil in der anthropologischen Bestimmung nach wie vor ausschlaggebend (vgl. z.B. Boucher 1998 u. Brown 2002). Mit der Referenz auf Denker wie Niccolò Machiavelli (1469–1527) oder Thomas Hobbes (1588–1679) begründet der klassische Realismus einen Ansatz in der Theorie der Internationalen Politik bzw. in den IB, der von einem skeptischen, im Prinzip recht pessimistischen Menschenbild ausgeht (vgl. Machiavelli 1986 u. Hobbes 1966). Die negative Anthropologie beinhaltet jedoch auch die Perspektive, dass man nicht nur nach den schönen Dingen

Realismus

Referenz auf die Klassiker einer pessimistischen Anthropologie

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VIII. Internationale Beziehungen: Theorien

Funktionales Politikverständnis

Verbindung verschiedener Disziplinen

Prognostik als Ziel

Ausschau hält, sondern vor allem auch die harten Fakten und düsteren Effekte zwischen den Staaten, wie Kriege, Terrorismus, Drogen- und Menschenhandel, zur Kenntnis nimmt und in die Analysen mit einbezieht. In diesem Zusammenhang verstehen sich die Vertreter dieser Theorierichtung als Realisten. Es sind vor allem auch die Defizite menschlicher Politik und WorstCase-Szenarien, die hier geltend gemacht werden. Zum Verständnis einer bestimmten Situation in der internationalen Politik reicht es auch nicht aus, sich nur auf die aktuelle Erscheinungsform zu beziehen. Die Vertreter des Neorealismus betonen hierbei stets die historische Perspektive, also die Frage nach der historischen Linie, die zu einem bestimmten Zeitpunkt (in der Gegenwart) zu entsprechenden logischen Konsequenzen geführt hat. Mit der Aufarbeitung der Historizität der Erscheinungsformen in den Internationalen Beziehungen wird zugleich deutlich, wie sehr Politik Grundmustern folgt, die oft über Jahrzehnte hinweg konstant bleiben können (vgl. auch Kleinschmidt 2000). Der Neorealismus betont hierbei ein funktionales Politikverständnis. Ausgehend von Machiavelli und Hobbes wird Politik als eine Sphäre der Macht und der Entscheidungsfindung beschrieben und verstanden, in der stets Gegensätze und konträre Interessen bekämpft und niedergerungen werden müssen (vgl. auch Nitschke 2010). Fragen nach der richtigen Anwendung der Mittel für ein jeweiliges politisches Ziel sind dann Gegenstand der Betrachtung. Nicht die reinen Werte und Normen haben oberste Priorität, sondern der nüchterne Blick auf die Funktionszusammenhänge, die Handlungsabläufe und die Begründung der Entscheidungen, egal, ob diese schön oder schrecklich sind. Um diese Technizität der Macht des Staates bzw. die von bestimmten Akteuren in der Internationalen Politik deutlich herausarbeiten zu können, bedarf es jedoch einer Vielzahl von Methoden und der Berücksichtigung verschiedenster Disziplinen, die mit ihren Arbeitsergebnissen zur Funktion (z.B. einer Außenpolitik wie die der Bundesrepublik Deutschland) erklärende Interpretamente beitragen können. Neben der Geschichtswissenschaft sind hier von besonderer Relevanz die Wirtschaftswissenschaften, die Staats- und Völkerrechtslehre und die Methoden der empirischen Sozialforschung. In der Verbindung all dieser Disziplinen versteht sich der Neorealismus als synoptische Wissenschaft, d.h. die Aussagen werden durch eine Reihe von Teilergebnissen aus anderen Disziplinen protokolliert und bestätigt. Um die jeweiligen Teilergebnisse aus den benachbarten Wissenschaftsdisziplinen angemessen verwerten zu können, bedarf es einer spezifischen Typologie. Insofern strebt die neorealistische Schule in den Theorien der IB stets Aussagen an, die sich in Form von klaren Definitionen, Hypothesen und Prognosen über das Datenmaterial ausbreiten lassen. Insbesondere die Prognosefähigkeit ist hier das erklärte Ziel des neorealistischen Ansatzes. Hiermit wird auch die Praxisfähigkeit der Analyse intendiert, was dazu führt, dass Neorealisten auch ganz unmittelbar in das Alltagsgeschäft der Internationalen Politik a) als Berater, b) sogar als handelnde Politiker einsteigen. In den USA, wo die Wechselwirkung zwischen Politikwissenschaft und praktischer Politik ohnehin sehr viel stärker ist als in Deutschland, gilt dies ganz besonders für die Internationalen Beziehungen. Professoren, mit dem Spezialgebiet der IB bzw. der Internationalen Politik, haben es bis in den Ministerrang

VIII. Internationale Beziehungen: Theorien

des Foreign Office gebracht. Die berühmtesten Vertreter sind hier Henry A. Kissinger, der als Harvard-Professor das theoretisch empfahl (vgl. Kissinger 1980), was er hinterher als Außenminister der USA konkret praktizierte, und Condolezza Rice, die als Expertin für Fragen des Ost-West-Konflikts in den Beraterstab des Weißen Hauses kam (vgl. Zelikow/Rice 1999), um später dann die Außenpolitik nach 9/11 maßgeblich mit zu gestalten. Die Vertreter der neorealistischen Schule, die in den meisten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die amerikanische Außenpolitik mit ihrer Analyserichtung dominierten, interessieren sich bei ihrer Typologiebildung besonders für die Faktoren Interesse, Macht und Nutzen (vgl. u.a. Morgenthau 1963, Kindermann 1981, Guzzini 1998). Dabei steht der Staat (und mit ihm die Nation) im Zentrum der Betrachtung (vgl. auch Nye 1999). Der Neorealismus ist so gesehen recht staatsorientiert, d.h., dass außenpolitische Wirkungsfragen, institutionenbezogene Aspekte hier im Vordergrund stehen. Was sind die primären Interessen einer Nation, was will ein Volk mit seinen außenpolitischen Handlungen erreichen? Wie verhält sich ein Staat A, wenn er auf einen Staat B im Streit um Ressourcen trifft? Folgt ein Staat seinem ideologischen Grundmuster oder gibt es auch Abweichungen? Sofern dies der Fall ist, lassen sich die Gründe hierfür als eine Regelaussage darstellen oder nicht? Fragen dieser Art dominieren in den Untersuchungen der neorealistischen Schule. Bei all dem wird unterstellt, dass sich die Interessen eines Volkes oder die Herrschaftsansprüche einer bestimmten Gruppe im Staat rational begründen lassen. Deshalb ordnet die neorealistische Analyse die Erscheinungsformen jeweils bestimmten Funktionen zu: Ressourcenmangel, Machtansprüche, hierarchische Probleme innerhalb einer Gesellschaft, die sich nach außen, d.h. auf das Feld der IB hin verlagern. Zwar ist es nur eine Form der Zweckrationalität, die hier zugrunde gelegt wird, doch gelingt es dem Neorealismus immerhin die Sachlogik von Handlungen in der Sphäre der IB in Ursache-Wirkungsketten kausal nachzuweisen. Das ist nicht wenig und erklärt den nachhaltigen Erfolg dieser Theorierichtung, die sich nach eigenem Verständnis stets unmittelbar auf die Praxis bezieht. Um die Praxis typologisch verständlich zu machen, tendiert der Neorealismus zur Modellierung hinsichtlich der Typenbildung, d.h., die Analyse wird mittels der Veranschaulichung in Modellen vorgetragen. Das hat einen durchaus konstruktivistischen Effekt, weil doch ein Modell nie deckungsgleich mit der Realität ist, schon gar nicht dann, wenn die Realität, wie im Fall der IB, aus unendlich vielen Daten besteht, bei denen man als Analytiker nie sicher sein kann, ob man die richtigen für die Erklärung ausgewählt hat. Das bekannteste Modell der neorealistischen Schule ist das sogenannte Nullsummen-Spiel: Es beinhaltet eine Verortung der Fakten im Sinne eines mathematischen Modells. Hierfür werden Bereiche der sozialpolitischen und vor allem der ökonomischen Wirklichkeit in Form einer Faktorenanalyse herausgearbeitet, die sich alsdann in mathematische Zahlen umsetzen lassen. Also z.B. die Population eines Landes, seine Wirtschaftskraft, seine natürlichen Ressourcen, seine Abhängigkeit vom Export bzw. vom Import, seine militärische Infrastruktur etc. Insbesondere in der Militärplanung ist das Nullsummen-Spiel als Strategiespiel seit den 1960er-Jahren oft verwendet worden. Der Ost-West-Konflikt,

Nationales Interesse als Grundmotiv

Null-Summen-Spiel als Modellanalyse

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VIII. Internationale Beziehungen: Theorien

Billard-BallModell

Idealismus

Transnationale, universale Intention

der Rüstungswettlauf zwischen der Sowjetunion und den USA verdanken ihre wechselseitige Dynamik dieser Anwendungsperspektive: der jeweilige Gegner wäre dann besiegt, wenn man seine Potenziale und Leistungsfähigkeit irgendwann auf Null gebracht hätte. Zwar sieht die Realität oft anders aus als in einer solchen mathematischen Modellierung von Fakten, doch demonstrieren u.a. der Kollaps der Sowjetunion und die Auflösung der DDR, dass Staaten tatsächlich gegen Null tendieren können und dann strukturell implodieren. Eine ebenso klassische Betrachtung der neorealistischen Schule ist das sogenannte Billard-Ball-Modell: Hierbei werden die Nationalstaaten mit Billardkugeln verglichen, die sich auf dem internationalen Feld (dem BillardTisch als politischer Arena) bewegen. Das Ziel jeder Kugel (als Staat und Nation) besteht darin, die eigene Existenz zu erhalten, also im Spiel auf dem Tisch zu bleiben. Die Kugeln befinden sich jedoch untereinander in einer strukturellen Konkurrenzsituation, weil sie im Gefolge ihrer unterschiedlichen Ideologien (= Farben der Kugeln) unterschiedliche Bewegungsmuster haben. Tendenziell versuchen sich die Kugeln aus massivem Eigennutz heraus, um z.B. Raumvorteile auf dem Spielfeld zu bekommen, wechselseitig abzuschießen. Es werden Allianzen und Kooperationen gebildet, die wiederum zu physischen Blockaden auf dem Spielfeld führen. Auch wenn es nur eine Analogie ist, so verdeutlicht das Billard-Ball-Modell doch am besten die geopolitische Dimension der internationalen Beziehungen. Staaten agieren nicht im luftleeren Raum, sondern verfolgen ganz bestimmte strategische Interessen für ihre Selbsterhaltung und konkurrieren dabei um die permanent knappen Güter im Raum (vgl. auch Wolkersdorfer 2011, Münkler 2006, Nitschke 2008). Der idealistische Ansatz in der Theorie der IB argumentiert dagegen ganz anders, indem das Augenmerk auf die Begründung der individuellen Verfügungs- und Gestaltungsrechte der Menschen gesetzt wird. Das Individuum als Akteur der IB ist hier der zentrale Referenzpunkt: institutionelle oder kollektive Erscheinungsformen werden dem zugeordnet. Folgerichtig ist auch der Begründungsansatz für die Theorie der IB an den Menschenrechten orientiert. Wie der Realismus, so verdankt auch der Idealismus seine Entstehung den Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts: von der Virginia Bill of Rights (1776) über die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (1789) führt der Argumentationsweg direkt bis zur International Bill of Rights (1948) der Vereinten Nationen. Indem hierbei Kategorien wie Sprache, Geschlecht, die ethnische Zugehörigkeit oder die religiöse Identität zu allgemeinen Gütern erklärt werden, die für jedes Individuum auf Erden als anerkennens- und schützenswert gelten, deklarieren die Menschenrechte einen universalen Anspruch. Mit diesem kosmopolitischen Appell formuliert die idealistische Schule ein konträres Programm zum Realismus bzw. zum Neorealismus (vgl. auch Brock/Brighouse 2005): der Nationalstaat ist hier als logische Ordnungsgröße überwunden, supranationale Institutionen und NGOs treten an seine Stelle in der Legitimation der internationalen Politik. Der Denker, auf den sich ein Großteil der Argumente der idealistischen Theorie in den IB perspektivisch stützt, ist Immanuel Kant (1724–1804). Seine Schrift Zum ewigen Frieden von 1795/96 gilt als wegweisender Traktat,

VIII. Internationale Beziehungen: Theorien

weil viele grundlegende Probleme und Lösungsmöglichkeiten für die internationale Ebene angesprochen werden, die uns auch heute noch beschäftigen (vgl. Kant 1977: 195 ff.). Kant versucht eine Gleichheit der Staaten im Völkerrecht herzustellen – so, wie bei den Menschen als Individuen eine Gleichheit in ihren Rechten besteht. Das Problem ist jedoch, dass auf der internationalen Ebene zwischen den Staaten massive Ungleichheitsverhältnisse herrschen, die strukturell permanent zu Kriegshandlungen und Unruhen führen. Um hier zu mehr Stabilität, ja Frieden zu gelangen, stellt Kant einen Forderungskatalog auf, der in den zentralen Punkten auf drei Prämissen basiert, mit deren Hilfe man einen (möglichst) dauerhaften Friedenszustand erreichen könnte: 1) Republik-Gebot 2) Plädoyer für einen Völkerbund 3) Idee einer Weltrepublik. Das Republik-Gebot beinhaltet die Forderung, dass alle Staaten dieser Welt Republiken sein müssten bzw. werden sollten. Erst dann könne (so Kants Hoffnung) ein allgemeiner Friedenszustand auf Erden erreicht werden. Grund für diese idealistische Annahme war seine Einschätzung, dass Republiken, weil sie durch die Autorität des Volkes legitimiert seien, wenig Interesse daran haben würden, Kriege zu führen (wie etwa Monarchien), da die Bürger aus Eigennutz kein großes Interesse an militärischen Handlungen haben würden, bei denen sie notwendigerweise ihr Leben aufs Spiel setzen müssten. Kant war der festen Überzeugung, dass insbesondere Republiken untereinander keine Kriege austragen würden. Zwar hat sich diese Annahme historisch nicht bestätigen lassen, doch gilt das Republik-Gebot seitdem als Topos für eine friedfertigere Weltordnung. Um die Weltordnung abzusichern gegenüber eigensüchtigen Interessen einzelner Staaten plädiert Kant für die Schaffung eines Staatenbundes. Diesen Völkerbund hat er sich auf der Grundlage einer Föderation vorgestellt. In der logischen Endkonsequenz resultiert aus diesem Plädoyer eine universale Republik, in der alle Staaten in geregelter Weise miteinander in Verbindung stehen und die Gesamtordnung gemeinsam einhalten. Das bedeutet, gleiche Rechte und Pflichten für alle Staaten auf der Erde. Der idealistische Ansatz betont in der Tradition der Kantianischen Argumentation a) das Naturrecht, b) das Völkerrecht und c) die Bedeutung globaler Institutionen für die IB. Insbesondere die Funktionsweise und die Legitimierung von Institutionen, die international tätig sind (wie etwa die UN) und z.T. sogar supranationale Kompetenzen haben (wie die EU), stehen hier im Zentrum der Überlegungen. Doch auch wenn die UN den Kant’schen Vorstellungen von einem globalen Völkerbund durchaus entsprechen mögen, wozu es immerhin mehr als 150 Jahre und zweier verheerender Weltkriege bedurfte, sind die Probleme auf der internationalen Ebene noch genauso virulent wie zu Kants Zeiten. Eine universale Friedensordnung hat sich bisher nicht eingestellt. Die proklamierte Gleichberechtigung zwischen den Staaten ist völkerrechtlich nur formal gegeben und die friedliche Koexistenz zwischen Menschen und Völkern erscheint in den aktuellen Szenarien des globalen Lebens eher als Zerrspiegel denn als Realität.

Kants Plädoyer vom Ewigen Frieden

Das RepublikGebot

Völkerbund und Weltrepublik

Idee und Wirklichkeit

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VIII. Internationale Beziehungen: Theorien

Die Relevanz der Menschenrechte

Idealisierung der Realität durch Modellbetrachtungen

Die Einseitigkeit westlicher Selbstbetrachtung

Dessen sind sich die Vertreter der idealistischen Schule auch bewusst, und so sucht man permanent nach neuen Lösungsmustern und Antworten, die anders ausfallen sollen als diejenigen, welche aus der reinen Machtanalyse der neorealistischen Theorie heraus propagiert werden. Die Funktionen müssen, so die Argumentation, mit dem zu erwartenden Nutzen übereinstimmen, und beide Faktoren müssen an den Werten orientiert bleiben. Werte sind in dieser Hinsicht besonders die Menschenrechte, Fragen der (internationalen) Gerechtigkeit und der sozialen Teilhabe in Form einer solidarischen Mithilfe. Demgegenüber erscheinen Faktoren wie Macht, ökonomische Interessen oder etwa Desinteresse an sozialer Ungleichheit zwischen den Menschen und Völkern als Probleme, die zu überwinden sind. Als strategische Lösungsansätze werden von der idealistischen Schule immer wieder die Etablierung kooperativer Verhandlungssysteme angeboten sowie die Schaffung und Aufrechterhaltung von Diskursen, die ergebnisoffen, tolerant und konsensfähig sein sollen (vgl. auch Ambrosius 1991). Hierfür werden meist Modelle propagiert, mit deren Hilfe praktischerweise die Politik der Internationalen Beziehungen besser organisiert werden könnte. Besonders in Deutschland hat diese Theorierichtung in der Politikwissenschaft einen hohen Deutungsanteil, was dazu führt, dass z.B. eine Ausrichtung auf Themen der Friedens- und Konfliktforschung populär ist, stets versehen mit einer starken Tendenz zum Pazifismus (vgl. z.B. Senghaas 2000). Hier, wie bei anderen Themen der IB, besteht jedoch auch eine Neigung der idealistischen Schule sich die Welt allzu sehr in Modellen der idealen Art zu erklären. Man tendiert dazu, die Weltgesellschaft und damit auch implizit einen Weltstaat als das vernünftige Endziel der gegenwärtigen Strukturen in den IB anzunehmen und entsprechend programmatische Modellerklärungen abzugeben (vgl. u.a. Brock 2000, Höffe 2008). Die Welt wird zwar nicht unbedingt neu sein, aber in der idealistischen Theorierichtung besteht eine ausgeprägte Neigung, Neues zu konstruieren (vgl. auch Hellmann/Wolf/Zürn 2003). Das hat zur Folge, dass mitunter sehr viel stärker eine innertheoretische Diskussion um der Logik der Theorie willen erfolgt (vgl. z.B. Daase 2010), als dass eine Beschäftigung mit den empirischen Gegebenheiten der Realität stattfindet. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass der realistische Ansatz in den Theorien der IB tatsächlich der realistischere ist. Beide Ausrichtungen neigen zum Schematismus, wenn auch mit unterschiedlichem empirischen Bezug. Beiden Theorierichtungen ist zu eigen, dass sie eine bestimmte Perspektiveinstellung bevorzugen, nämlich die des Westens insgesamt (vgl. auch Hagmann 2011). Ohnehin sind beide Denkschulen sehr stark amerikanisiert und beziehen sich intrinsisch auf die eigenen Wertvorstellungen. Bezogen auf die Globalisierung erscheint dies mehr und mehr inakzeptabel. Eine Fortschreibung von Neorealismus versus Idealismus kann insofern für das 21. Jahrhundert in den Theorien der IB nicht mehr das Maß der Dinge sein zum Verständnis der Internationalen Sphäre.

IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN Die Internationalen Beziehungen werden ganz wesentlich geprägt durch das Verhalten von Institutionen. Hierzu gehören neben dem Staat vor allem auch jene Institutionen, die als internationale oder supranationale Organisationen auftreten. International sind Institutionen dann, wenn ihre Mitglieder ihre Entscheidungsrechte beibehalten und sie nicht (oder nur unter juristischem Vorbehalt) abgeben an eine höhere Entscheidungsebene. Für viele internationale Institutionen trifft dieser Sachverhalt zu: die jeweiligen Staaten, die z.B. bei den Vereinten Nationen Mitglied sind, haben damit ihre Souveränitätsrechte keinesfalls abgetreten, sondern behaupten diese im Gegenteil recht eigensinnig. Dies gilt auch für eine Organisation wie die NATO, dem transatlantischen Verteidigungspakt, in dem die Mitgliedsstaaten selbstständig darüber entscheiden, ob und wie sie ihren Verpflichtungen im Rahmen der gemeinsamen Strategie nachkommen wollen (vgl. Giegerich 2011). Etwas anders verhält es sich mit dem Begriff der Supranationalität: Hier kann man bestimmte Entscheidungsstrukturen antreffen, die über die Souveränitätsrechte der Staaten und Nationen hinausgehen bzw. diese ergänzen – oder aber auch z.T. konträr dazu stehen. Die Europäische Union (EU) ist in dieser Hinsicht mehr als nur eine internationale Organisation, denn sie hat bereits ausgesprochen supranationale Züge in ihrer institutionellen Struktur (vgl. dazu Kapitel X). Gemeinsam ist den Erscheinungsformen auf der institutionellen Ebene der IB, dass sie weitgehend vom Völkerrecht getragen und motiviert werden (vgl. hier auch Kapitel III). Das moderne Völkerrecht als Summe der Normen, in und mit denen das Verhalten von Völkern untereinander festgelegt wird, damit diese sich in einem möglichst dauerhaften Friedenszustand aufhalten können, ist zweifellos eine der wichtigsten Errungenschaften der Neuzeit. Nicht der Machtwille von Staaten soll entscheidend sein für die Regelung von Rechten, sondern die natürlichen Rechte von Völkern insgesamt, was dazu geführt hat, dass die Fragen nach der Volkssouveränität und den Freiheitsrechten konstitutiv geworden sind für den modernen Staat. Die Begründung der Menschenrechte gehört ebenso in diesen Kontext wie die Legitimierung und der Aufbau staatlicher Institutionen zum Schutz ebendieser Rechte. Als Rechtsquellen des modernen Völkerrechts lassen sich unterscheiden: a) Internationale Übereinkünfte (in Form von Verträgen) b) Internationales Gewohnheitsrecht (bestehend aus Konventionen) c) Allgemeine Rechtsgrundsätze der Kulturen, die als Normorientierungen von allen anerkannt werden. Die Begründungsebenen (a) und (b) sind scheinbar festgefügte juristische Systeme, basieren sie doch auf der Schriftlichkeit der Argumente, die vertraglich getroffen worden sind, d.h., dass hierzu Versprechungen erfolgt sind, die

Internationale Institutionen

Supranationale Institutionen

Rechtsquellen des Völkerrechts

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IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

Rechtsnorm und politische Realität

Subjekte des Völkerrechts

Die Bedeutung der NGOs

demnach eine bindende Funktion haben (sollten). Allerdings sieht die Wirklichkeit anders aus: Viele der völkerrechtlichen Vereinbarungen, etwa zum Thema Menschenrechte, sind zwar von allen Staaten der UN unterschrieben worden, doch bedeutet dies noch längst nicht, dass auch alle Staaten dieser Welt sich an diese Vereinbarungen halten. Das Problem besteht schon in der Frage der Auslegung von Verträgen, von der Nichtbefolgung vertraglicher Bestimmungen bis hin zu ihrer Annullierung ganz zu schweigen. Gleiches gilt für die Normorientierungen hinsichtlich der Standards von Rechtsgrundsätzen. Zwar untersagt z.B. eine jede Kultur die mutwillige Tötung von Menschen, doch gibt es stets in jeder Kultur eine ganze Reihe von unterschiedlich interpretierbaren Ausnahmeregelungen. Das Völkerrecht hängt also in seiner allgemeinen Akzeptanz nicht unwesentlich davon ab, wer auf welche Weise die Rechtsgrundsätze interpretiert. In den letzten dreihundert Jahren ist dies überwiegend die europäische Staatenwelt bzw. der transatlantische Westen gewesen, der hier dominierend war und die Akzente gesetzt hat. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es für den Westen keine Monopolstellung mehr und insofern verschieben sich schon seit etwa zwei Jahrzehnten die Interpretationsmuster im Völkerrecht (vgl. auch Kapitel XII). Das gilt besonders für den Status der Subjekte im Völkerrecht, also der Frage nach den maßgeblichen Akteuren, die überhaupt Handlungen im Sinne des Völkerrechts begehen können. Als Subjekte gelten hier: 1) Staaten 2) Verbindungen zwischen Staaten (z.B. ein Bundesstaat oder Staatenbund) 3) Die aus (1) und/oder (2) gebildeten internationalen gouvernementalen Organisationen (IGOs) mit den Varianten 4) als supranationale Organisation 5) als internationale Organisation 6) Organisationen im Bereich der internationalen NGOs. Internationale NGOs sind z.B. Amnesty International oder Greenpeace, aber auch das Internationale Rote Kreuz oder der Malteserorden. Insbesondere in diesem Bereich existiert eine große Dynamik durch ständige Neugründungen: Während die klassische Staatenwelt relativ konstant geblieben ist und seit Mitte des 20. Jahrhunderts nur ein paar Dutzend neue Staatsgründungen unterhalb einer Schwelle von 200 Nationalstaaten vorweisen kann, ist die Zahl der internationalen NGOs im gleichen Zeitraum auf über 10.000 Organisationen explosionsartig angewachsen (vgl. u.a. Beisheim/Nuscheler 2003, Hamm/Roth 2006). Hierdurch verschieben sich die Gewichte in den IB (vgl. auch Schrader 2000): Der Staat allein ist nicht länger der alleinige Garant und Träger von Politik in der internationalen Sphäre. Ohne die Mitwirkung und Hilfe von NGOs geht es heute nicht mehr (vgl. u.a. Brunnengräber 2011). Sei es bei der Bewältigung von Hilfeleistungen für Erdbebenopfer in Ländern der Dritten Welt (wie in Haiti 2010) oder bei den Folgen eines Tsunamis wie 2004 im Indischen Ozean oder 2011 an der japanischen Ostküste, die staatlichen Organe sind auf die Mithilfe von karitativen und technisch versierten NGOs systematisch angewiesen. Allerdings gilt auch der Umkehrschluss: ohne die Funktionen staatlicher Apparate können NGOs kaum erfolgreich tätig sein.

IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

Das Zusammenwirken von NGOs und Staaten in der internationalen Sphäre wird oft als Global Governance beschrieben und als neues Phänomen der IB für die Politik des 21. Jahrhunderts konzeptionell proklamiert (vgl. u.a. Nuscheler 2002, Behrens 2005, Gruber 2008). Mit der Vision einer Weltinnenpolitik, in der alle sozialen und ökonomischen Fragen im Spannungsverhältnis einer potenziell als Weltgesellschaft zu betrachtenden Perspektive gesehen werden, sind die Modellvorschläge, die formuliert werden, überwiegend der idealistischen Theorierichtung der IB verpflichtet. Besonderes Augenmerk liegt auf der Verrechtlichung der Handlungsweisen der internationalen Organisationen bei ihrer immer komplexer werdenden Zusammenarbeit (vgl. auch Kwakwa 2011, Pfeil 2011). Dies gilt ganz besonders für die normative Legitimierung des Weltfriedens in der Vermeidung der strukturellen Rivalitäten zwischen den Nationalstaaten. Nach Kants großem Entwurf ist es vor allem der amerikanische Präsident Woodrow Wilson gewesen, der zum Ende des Ersten Weltkrieges mit seinem 14-Punkte-Programm eine visionäre Formel für die zwischenstaatlichen Beziehungen angemahnt hat (vgl. Knock 1992). Neben der Beachtung der territorialen Integrität und Souveränität der Staaten untereinander sollten sich alle Staaten in einem Bund der Nationen zusammenschließen, um gemeinsam über die Regeln für die Wahrung eines internationalen Friedens zu beraten und zu wachen. Der 1920 gegründete Völkerbund basierte auf diesen Prinzipien, allerdings waren die USA dieser neuen internationalen Organisation nicht beigetreten, was von Anfang an das neue Forum in eine ungleiche Kräftekonstellation zwischen kleineren und großen Mächten hineintrieb – was ganz im Gegensatz zu den Vorstellungen Wilsons stand (vgl. auch Märker/Wagner 2005). Die Gründung der Vereinten Nationen (United Nations) nach dem Zweiten Weltkrieg sollte dann auch der Versuch sein, die internationale Staatenordnung dauerhafter durch gemeinsame, d.h. für alle Mitglieder verbindliche Bestimmungen abzusichern. Zu den Zielen und Grundsätzen der UN heißt es in der am 26. Juni 1945 verabschiedeten Charta in Artikel 1, dass man folgende Prinzipien wahren bzw. herstellen will (vgl. auch Gareis/Varwick 2006): 1. Den Weltfrieden und die internationale Sicherheit 2. Die Gleichberechtigung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker 3. Die internationale Zusammenarbeit fördern 4. Die UN als Mittelpunkt der internationalen Politik gestalten. Im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts der Völker gehen die Unterzeichner der Charta von der Souveränität der Mitgliedsstaaten aus, was zugleich das Prinzip einer Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates bzw. eines Volkes bedingt. Gerade dieses Prinzip der Nichteinmischung ist mittlerweile höchst problematisch geworden. Die Diktatoren dieser Welt verweisen allzu gerne auf den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten ihres Staates. China verbittet sich unter dieser Maxime jede Kritik am Umgang mit der okkupierten Provinz Nepal, Russland an den Menschenrechtsverletzungen im Südkaukasus. Die Reihe der Staaten, die damit ihre jeweilige Willkürherrschaft begründen, ließe sich beinahe endlos fortsetzen. Bei dem Diktator

Global Governance

Wilson’s 14 Punkte zur Sicherung des Weltfriedens

United Nations (UN)

Charta der UN

Die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten

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IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

Völkerrecht und Menschenrechte

Mitgliedschaft in den UN

Der Sicherheitsrat

Milosevic in Serbien hat dieser Grundsatz in den 1990er-Jahren dazu herhalten dürfen, Massaker an der Zivilbevölkerung in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien zu legitimieren. Bei dem bis zu seinem Ende 2011 dienstältesten Diktator der Welt, Muammar al Gaddafi, verhielt es sich nicht anders. Die Problematik der Nichteinmischung resultiert aus dem Souveränitätsprinzip im Völkerrecht (vgl. auch Kapitel III). Kann und darf man einem Machthaber gestatten, einen Teil seines eigenen Volkes zu massakrieren? Eine derartige Logik widerspricht ganz offensichtlich den Menschenrechten. An diesem Punkt ist die Argumentation zwischen Menschenrechten und Völkerrecht nicht kongruent. Das Völkerrecht versucht mittels Souveränitätsprinzip die staatliche Hoheit im Sinne der Einheit von Staat und Volk zu wahren, was bei stark divergenten Ansichten in einer Nation oder bei ethnischen Spannungen zu einem massiven Konflikt führt, weil jede Seite um eine dominante Position im Staat ringt. Bürgerkriege werden paradoxerweise durch das Souveränitätsprinzip eher gefördert als verhindert. Das System der UN gibt auf diesen Grundkonflikt keine zufrieden stellende Antwort, sondern verschärft im Gegenteil eine labile Struktur für die Handlungslogik der Staaten in der Welt, indem das Souveränitätsprinzip zum Maß aller Dinge für die völkerrechtliche Anerkennung gemacht wird. One State, one Vote, one People, so lautet das Kriterium, das für die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen zur Anwendung kommt. Mitglieder können also nur Staaten werden, bei denen ein gewisses Maß an Integrität, d.h. die Legitimation eines Gewaltmonopols und fest umrissene territoriale Grenzen zur Anwendung kommen. Voraussetzung hierfür ist jedoch die Akzeptanz, d.h. die allgemeine Anerkennung durch die Mitgliedsstaaten der UN. Der institutionelle Aufbau der UN entspricht dem Akzeptanzmuster im Völkerrecht (vgl. Abbildung 3). Die einzelnen Mitgliedsstaaten erscheinen als gleichberechtigte Teilnehmer, die in der UN jeweils nur mit einer Stimme agieren können, egal wie groß die Nation ist oder wie stark ihr ökonomisches Potenzial ausfällt. In der Generalversammlung haben alle derzeit 193 Mitgliedsstaaten das gleiche Stimmrecht. Entscheidungen kommen über das Mehrheitsprinzip zustande, was z.B. bedeutet, dass die USA hier in ihren Positionen nicht dominieren kann, wie überhaupt die Erste Welt gegenüber der Stimmenmehrheit der Länder aus der Dritten Welt mehr auf Konsens denn auf Perspektiven in eigener Sache angewiesen ist. Entscheidend für die Politik der UN ist dies jedoch alles nicht, denn die konkrete Sicherheitspolitik zur Wahrung des Weltfriedens wird nicht in der Generalversammlung gemacht, sondern im Sicherheitsrat der UN. Dort ist das eigentliche Kraftzentrum in der Struktur der Vereinten Nationen. Der Sicherheitsrat ist das Entscheidergremium: dort wird über alle sicherheitsrelevanten Probleme auf der Welt entschieden – oder eben nicht. Beschlüsse kommen nur zustande, wenn nicht einfach eine Mehrheit unter den insgesamt 15 Mitgliedern des Sicherheitsrates erzielt wird, sondern wenn die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates einstimmig für den Beschlussantrag votieren. Die ständigen Mitglieder des Rates sind die historischen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges: USA, Frankreich, England, Russland (in der Rechtsnachfolge der Sowjetunion) und China. Es sind zugleich diejenigen Staaten, die als erste über ein atomares Militärpotenzial verfügt haben.

IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

Abbildung 3: Das System der Vereinten Nationen Als Atommächte entscheiden diese fünf Staaten letztlich über Krieg und Frieden auf der Welt. Sofern nur einer dieser großen Fünf im Sicherheitsrat in einer Beschlussfrage nicht zustimmt, kommt der Beschluss dort nicht zustande. Diese dezidierte Vetofunktion führt dazu, dass die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wichtiger sind als die übrigen zehn Staaten, die jeweils nur auf Zeit über ein Stimmrecht verfügen. Die zehn temporären Mitglieder werden nach einem regionalen Proporzsystem auf die jeweiligen Kontinente bezogen von der Generalversammlung der UN nominiert und ausgewechselt. Sie tragen damit zwar zu einer symbolischen Repräsentanz der Staatenwelt im Sicherheitsrat bei, wirklich relevant sind sie jedoch nicht, sofern die ständigen Mitglieder dort keinen Konsens untereinander hergestellt haben. Im Zeitalter des Ost-West-Konflikts war dies systematisch der Fall: Wichtige Beschlüsse kamen im Sicherheitsrat nicht zustande, weil entweder die Sowjetunion oder die USA ein Veto einlegten bzw. sich die ideologischen Blöcke konfrontativ gegenüberstanden. Die UN waren in dieser Ära eine relativ unwichtige Instanz, da der Kalte Krieg mit den Mitteln der StellvertreterKriege von beiden Seiten überwiegend in der Dritten Welt praktiziert wurde. Dies änderte sich erst mit dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus in Ost-Mitteleuropa. Das Ende der DDR 1989 und die Transformation der ehemals kommunistischen Staaten Ost-Mitteleuropas führten auch zur Auflösung der Sowjetunion. Ab Beginn der 1990er-Jahre setzte sich eine neue Kooperationsbereitschaft im Sicherheitsrat durch, was zur Folge hatte, dass nunmehr gemeinsame Beschlüsse zustande kamen, die eine enorme Konsequenz a) für die Handlungslogik der UN hatten und darüber hinaus b) zu gravierenden Veränderungen im Völkerrecht führten.

Vetofunktion im Sicherheitsrat

Der Ost-WestKonflikt und die Blockade des Sicherheitsrats

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IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

Aktuelle Konstellation

Wirtschafts- und Sozialrat

Die Sonderorganisationen

Treuhandrat

Mittlerweile jedoch ist von diesem Elan, der von den Beschlüssen des Sicherheitsrates in den 1990er-Jahren ausging, nicht mehr viel übrig geblieben. Spätestens in der Reaktion auf die amerikanische Außenpolitik nach den Anschlägen vom 11. September hat sich eine erneute Frontstellung zwischen den fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat eingespielt: nunmehr zwischen den drei demokratischen Systemen (Frankreich, England und den USA) und den autoritären Regimen in Russland und in China. Wo immer auf der Welt Diktaturen in Not geraten, wie zuletzt dramatisch im Falle des sogenannten Arabischen Frühlings (2011), stellen sich Russland und China auf die Seite der herrschenden Gewaltregime. Unter der Maßgabe einer Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Volkes blockieren sie mit ihrem Veto im Sicherheitsrat eine allgemeine Verurteilung oder eine militärische Intervention auf der Grundlage der Bestimmungen der UN. Da der Sicherheitsrat das einzige Hauptorgan der UN ist, dessen Entscheidungen für alle Mitgliedsstaaten bindend sind, kommt der Funktionslogik des Sicherheitsrates eine hohe Bedeutung zu. Der derzeitige Mechanismus, der den fünf ständigen Mitgliedern eine Vetoposition einräumt, ist ein historischer Anachronismus, der von der Sache her (Bewahrung des Weltfriedens) in einer zunehmend pluralistischeren globalen Konstellation nicht mehr zu rechtfertigen ist. Mit einer völkerrechtlich angemessenen Repräsentation kann hier ohnehin nicht argumentiert werden. Alle Versuche jedoch, die Vetoposition zugunsten eines Mehrheitsprinzips im Sicherheitsrat aufzugeben, scheiterten bis dato an den fünf Vetomächten selbst. Ebenso alle Überlegungen, die Zahl der stimmberechtigten Mitentscheiderstaaten im Sicherheitsrat aufzustocken oder die Anzahl der ständigen Mitglieder (z.B. auch durch die Bundesrepublik Deutschland) zu erhöhen. Der Wirtschafts- und Sozialrat ist das dritte Hauptorgan der UN und widmet sich den weltweiten Wirtschaftsbeziehungen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Problemen, wie etwa den sozialen Standards in den Mitgliedsstaaten. Dieses Gremium mit 54 Mitgliedern ist vor allem als Bindeglied zu seinen 17 autonomen Sonderorganisationen interessant, von denen die UNESCO (Erziehung, Wissenschaft und Kultur), die FAO (Ernährung und Landwirtschaft) und die ILO (Internationale Arbeiterorganisation) die Bekanntesten sind. Überhaupt sind die zahlreichen Sonderorganisationen die eigentliche operative Plattform für das Wirken der UN: WTO (Welthandelsorganisation), die IAEA (Internationale Atomenergie-Organisation), die UNIDO (Organisation der UN für industrielle Entwicklung) oder die WHO (Weltgesundheitsorganisation) bilden den komplexen Unterbau im Institutionengefüge der UN (vgl. auch Hüfner 2005). Daneben bzw. darüber hinaus existieren zahlreiche Spezialorgane, die für bestimmte Programme geschaffen wurden und sich z.T. sehr nachhaltig in das öffentliche Bewusstsein eingeprägt haben, wie z.B. das Kinderhilfswerk (UNICEF), das Entwicklungsprogramm der UN (UNDP) oder das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars (UNHCR). So gut wie unbedeutend, weil funktionslos, ist hingegen der sogenannte Treuhandrat geworden, der ursprünglich eingerichtet worden war, um jene Gebiete und Völker auf ihrem Weg in die nationalstaatliche Souveränität zu begleiten, die hoheitsrechtlich noch zu anderen Staaten gehörten. Das war der postkolonialen Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg geschuldet,

IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

als es um die völkerrechtliche Behandlung ehemaliger französischer, britischer und portugiesischer Überseegebiete ging. Mittlerweile spielt das keine Rolle mehr. Seit der Unabhängigkeit des letzten Treuhandgebietes, der Insel Palau im Jahre 1994, existiert der Treuhandrand ohne weitere Aufgaben. Immer wichtiger geworden ist hingegen der Wirkungsbereich des Sekretariats der Generalversammlung bzw. seines Vorsitzenden, des Generalsekretärs der UN. Der Generalsekretär ist der Chef der Zentralverwaltung der UN mit Sitz in New York. Der jeweilige Amtsträger nimmt an den Sitzungen des Sicherheitsrates, der Generalversammlung und des Wirtschafts- und Sozialrates teil, besitzt dabei allerdings kein Stimmrecht. Das Amt des UN-Generalsekretärs hat im Laufe der Jahrzehnte enorm an Bedeutung gewonnen, lässt sich doch hierüber eine personale Repräsentationsfunktion für die Weltöffentlichkeit herstellen (vgl. auch Fröhlich 2005). Allerdings darf man Prestige und mediale Aufmerksamkeit nicht gleichsetzen mit der faktischen Entscheidungskompetenz. Der Generalsekretär ist mitnichten ein Staats- und Regierungschef: Er verfügt weder über Truppen noch über Polizei, die er im Auftrag der UN irgendwo hinschicken könnte. Er steht lediglich an der Spitze einer Verwaltungsorganisation, die – gemessen an den Problemen dieser Welt – auch noch relativ klein ist. Im Grunde bleibt jeder Generalsekretär der UN, egal von welchem Kontinent er jeweils kommt, abhängig von den Staaten, die zur Finanzierung der UN das meiste Geld geben. An erster Stelle sind dies die USA, die allein mehr als ein Fünftel zum Haushalt der UN beitragen. An zweiter Stelle Japan und an dritter Stelle Deutschland mit einem Anteil von knapp unter zehn Prozent. Ganz entscheidend ist für den Generalsekretär das möglichst geräuschlose Zusammenspiel mit den fünf Vetomächten des Sicherheitsrates. Eine wirkliche Entscheidungsmacht existiert für dieses Amt nicht. Die UN sind immer angewiesen auf die Mitwirkungsrolle einzelner Nationalstaaten. Selbst völkerrechtlich bindende Erklärungen wie in der Charta der Menschenrechte bedeuten noch lange nicht, dass diese auch in jedem Mitgliedsstaat der UN so eingehalten werden. Vor allem hängen die UN von der Bereitschaft der Mitgliedsstaaten ab, in einem jeweiligen Politikfeld tatsächlich auch tätig zu werden. Da die UN keine wirkliche Exekutive haben, stellen die Nationalstaaten, und zwar nur diejenigen, die sich finanziell dazu in der Lage sehen, die entsprechenden logistischen wie operativen Einheiten zur Verfügung. Das gilt insbesondere für die Durchsetzung der internationalen Rechtsprechung, die konkret stets davon abhängt, ob und auf welche Weise die nationalstaatlichen Rechtssysteme davon Gebrauch machen oder eben nicht. Bezogen auf die fünf bisher dargestellten Institutionen bieten die UN eigentlich nur ein internationales Forum, in dem die Nationalstaaten ihre Handlungslogiken austauschen oder in wechselseitiger Konkurrenz gegeneinander in Stellung bringen. Bei dem sechsten Institut, dem Internationalen Gerichtshof (IGH) mit Sitz in Den Haag, ist dies in gewisser Weise anders gelagert. Hier ist durchaus eine supranationale Qualität gegeben. Der IGH kann jedoch nur dann tätig werden, wenn bei Rechtsstreitigkeiten zwischen den Staaten die beteiligten Akteure seine Funktion als autoritative Gerichtsbarkeit auch wechselseitig anerkannt haben. Die fünfzehn Richter in Den Haag werden von der Generalversammlung und vom Sicherheitsrat gewählt.

Der Generalsekretär als „Gesicht“ der UN

Mitwirkung der Staaten

Der Internationale Gerichtshof als supranationale Institution

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IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

Friedensmissionen der UN

Gewaltanwendung

Die Rechtsgutachten und Rechtssprüche, welche der IGH für den Sicherheitsrat und die übrigen Institutionen der UN erarbeitet, haben weitreichende Bedeutung für die Praxis des Völkerrechts. Der IGH ist allerdings nicht mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu verwechseln, der seinen Sitz ebenfalls in Den Haag hat. Denn dieser für die strafrechtliche Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zuständige Gerichtshof ist keine unmittelbare Institution der UN, obwohl der IStGH mit dem Sicherheitsrat der UN in einem Kooperationsstatus verbunden ist (vgl. auch Pichon 2011). In einer nicht zuletzt durch die Globalisierung immer intensiver vernetzten Welt werden Rechtsfragen zwischen Staaten, multinationalen Konzernen, aber auch zwischen den Individuen als globalen Marktteilnehmern immer wichtiger. Der Bedarf an einer universalen Rechtsprechung wächst, auch und gerade, wenn eine Reihe von Nationalstaaten hierbei strikt dagegenhalten (vgl. auch Pogge 2007). Das hat dann vor allem auch Folgen für das Selbstverständnis der UN. Die Vereinten Nationen sind seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zur ersten Anlaufstelle für die Lösung einer Vielzahl von Konflikten geworden, die regional oder lokal von den beteiligten Interessengruppen oft nicht friedlich beigelegt werden können. Insbesondere unter dem Aspekt der humanitären Hilfe für die Zivilbevölkerung haben die UN (mit Zustimmung durch den Sicherheitsrat) ein neues Muster an intervenierenden Friedensmissionen erarbeitet, welche im modernen Völkerrecht einen paradigmatischen Veränderungsprozess eingeleitet haben, der bis heute hin heftig umstritten ist (vgl. auch Bruha/Tams 2005). Unter dem Primat der Sicherung des Weltfriedens und zum Schutz der Zivilbevölkerung in Ländern, die durch Bürgerkriege und Staatszerfall massiv zerrüttet sind, haben die UN eine Reihe von friedenssichernden Missionen (überwiegend seit Beginn der 1990er-Jahre) gestartet. Diese folgen allerdings nicht immer der gleichen Zielsetzung und sind auch hinsichtlich ihrer Methodik und im Einsatz der Mittel sehr unterschiedlich. Grundsätzlich lassen sich drei Typen von Friedensmissionen klassifizieren (vgl. u.a. Kühne 2005, Wolf 2010): 1. Peace-Keeping zur Stabilisierung der Infrastrukturen, der sozialen Verhältnisse und ökonomischen Grundlagen (z.B. in Angola, Somalia und in Ruanda). 2. Peace-Building für den (Wieder-)Aufbau von Infrastrukturen im Lande, umfassend auf die sozialen wie ökonomischen Belange gerichtet (wie in Kambodscha, El Salvador oder in Mosambik). 3. Peace-Enforcement zur Durchsetzung der Menschenrechte und des Völkerrechts, notfalls auch mit Gewalt (so in Bosnien und im Irak). Besonders der dritte Typus hat für Furore und massive Kontroversen gesorgt: Dürfen die Vereinten Nationen Gewalt anwenden, um Schlimmeres zu verhindern? Wenn man diese Frage bejaht, wofür es seit den 1990er-Jahren eine Reihe von Resolutionen des Sicherheitsrates gegeben hat, insbesondere zum Irak unter Saddam Hussein (vgl. Spieker 2003), dann bleibt immer noch das Problem, wer die Resolution faktisch umsetzt. Die UN verfügen nicht über eigene Truppenkontingente. Wo immer auf der Welt die berühmten Blauhelme im Einsatz sind, geschieht dies durch das finanzielle und militärische

IX. Internationale Beziehungen: Institutionen/UN

Engagement von Mitgliedsstaaten, die hierzu bereit sind. Meist sind es regionale Mächte, d.h. Nachbarstaaten derjenigen Länder, in denen die Friedensmissionen zum Einsatz kommen. Das gilt vor allem für die Missionen in Afrika und in Lateinamerika. Oft jedoch übernehmen auch gerade die europäischen Staaten hier eine große Verantwortung. Die Durchsetzung von Rechtsgrundsätzen mittels militärischer oder polizeilicher Gewalt im Hoheitsraum anderer Staaten bleibt vor allem strittig, weil damit das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates konterkariert wird. Letztlich ist damit das Souveränitätsprinzip als Grundlage des Völkerrechts grundsätzlich zur Disposition gestellt (vgl. auch Tönnies 2005). Konkrete Militäreinsätze im Rahmen von PeaceEnforcement nehmen dann auch nur diejenigen Staaten vor, die wie die USA im Falle des Irak ein strategisch-ideologisches Interesse an der Umsetzung der jeweiligen Resolution haben. Niemand schickt Soldaten in ein anderes Land und riskiert Verluste an Menschen und Material, weil die idealen Rechtsvorstellungen aus der Charta der UN so leitend sind. Insofern bleiben die Vereinten Nationen gerade in ihren exekutiven Programmen ein Spiegelbild der Machtzustände in der Internationalen Politik. Die führenden Mächte versuchen je für sich möglichst viel an Einflussmöglichkeiten auf diese Institution zu gewinnen (vgl. auch Rittberger 1993). Damit stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Effizienz der UN. Für Anhänger einer universalen Weltordnung stehen die UN dafür, dass man auf dem richtigen Weg zum richtigen Ziel sei. Allen Kritikpunkten zum Trotz sieht man im komplexen Institutionengefüge der UN eine Bestätigung für Global Governance. Doch verfügen die UN weder über ein Gewaltmonopol noch über eine wirkliche Souveränität. Alle Legitimationsansprüche seitens der UN sind nur abgeleitet aus der Souveränität der Nationalstaaten. Bis dato kamen Universalisierungsansprüche auch nur in den Politikfeldern erfolgreich zur Geltung, bei denen die Weltmacht Nr. 1, die USA, mitgemacht haben. Spätestens bei der Perspektive auf das Verhalten der USA wird deutlich, warum die UN eben keine supranationale Organisation sind. Die Legitimation für den Weltfrieden bleibt fragil, erst recht, wenn Vetomächte wie China und Russland antidemokratische Interessen vertreten und z.B. schwerste Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch diktatorische Regime in der Dritten Welt decken. Zweifellos sind die UN eine Autorität für die IB. Man kann diese Form der Zuschreibung auch als Souveränität auffassen (vgl. Hurd 2008). Allerdings wäre dies eine andere, eine neue Form des Souveränitätsverständnisses. Mit Macht, gar mit Herrschaft, in der Ausgestaltung von Lebenschancen der Menschen auf dieser Welt hat diese Autorität noch nichts zu tun. Immerhin aber wäre die Welt moralisch und juristisch ärmer, wenn es die UN nicht geben würde. So gesehen bleibt im Sinne Kants noch viel zu tun: die Welt der IB im 21. Jahrhundert ist eindeutig verbesserungsbedürftig (vgl. auch Hasenclever 2007).

Nationales Interesse versus universaler Programmatik

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X. Europawissenschaft Querschnittsthema „Europa“

Überwindung der Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich

Das Thema Europa hat sich mittlerweile nicht nur als ein eigenständiger Bereich innerhalb der IB herauskristallisiert, sondern ist auch derart interdisziplinär in den Forschungsperspektiven, dass die Politikwissenschaft hier nur noch in einer integrativen Linie zusammen mit der Volkswirtschaftslehre, der Staatsrechtslehre, der Zeitgeschichte und den Sozialwissenschaften im Allgemeinen arbeitet. Um die komplexen Vorgänge der Europäischen Integration im Verbund mit den genannten Disziplinen angemessen zu bewältigen, hat sich deshalb sogar eine eigene Fachdisziplin formiert – die Europawissenschaft (vgl. Schuppert 2005, Jurczek/Niedobitik 2008). Systematisch trennen kann man den politikwissenschaftlichen Teil von den übrigen Disziplinen nicht. Mit der Zeitgeschichtsforschung existieren starke Überschneidungen in der Betrachtung der historischen Prozesse, die zur Europäischen Integration beigetragen haben und weiterhin beitragen. Ohne staatsrechtliche Bewertungsmuster kommt man in der Institutionenlehre zur Europäischen Union (EU) nicht aus und die ökonomischen Rahmenbedingungen und Sachfragen sind ohnehin ein zentrales Thema für die Europapolitik selbst. Vieles von dem, was das Thema Europa ausmacht, verweist auf Handlungszusammenhänge, die weit in die europäische Geschichte reichen. Ohne die Einbettung einer historischen Dimension kommt die Analyse nicht weiter. Das zeigt sich ganz signifikant, wenn man auf die Anfänge der Europäischen Integration blickt und nach den Gründen sucht, warum Staaten, die sich noch wenige Jahre zuvor erbittert in zwei Weltkriegen bekämpft haben, nunmehr eine Kooperation angestrebt haben, die aus heutiger Perspektive einmalig und bemerkenswert erfolgreich geworden ist. Vier Faktoren waren ausschlaggebend, warum z.B. die sogenannte Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland (in Form der alten Bundesrepublik) relativ schnell und vor allem mit bemerkenswerter Nachhaltigkeit beendet wurde (vgl. u.a. Loth 1996, Elvert 2006, Brunn 2009): 1) Die Situation auf dem Weltmarkt 2) Der Protektionismus für das eigene Land und dessen Wirtschaft 3) Der Antisozialismus 4) Die deutsche Frage. Alle vier Faktoren gelten besonders für die französische Seite, sie stimmen jedoch grundsätzlich auch mit der außenpolitischen Sicht überein, wie sie in der Bonner Republik insbesondere vom ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer vorgetragen wurde. Für Frankreich war die wirtschaftliche Konstellation nach 1945 alles andere als ermutigend. Auf dem Weltmarkt dominierten die USA mit ihren Produkten. An die relativ starke Position, wie man sie noch vor dem Ersten Weltkrieg als eine der führenden Industrienationen der Welt gehabt hatte, war so nicht mehr zu denken. Die Idee einer Kooperation mit den Nachbarstaaten hatte also vor allem auch damit zu

X. Europawissenschaft

tun, die eigene nationale Wirtschaft auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig halten zu können. Der Antisozialismus der französischen Regierung deckte sich mit dem Antikommunismus der deutschen Bundesregierung. Angesichts der Bedrohungslage durch die Sowjetunion, die militärisch in Ost-Mitteleuropa aufmarschiert war und alle Staaten, in denen sich die Rote Armee aufhielt, in kommunistische Systeme umwandelte, war die Frontstellung für die verbliebenen (wenigen) Demokratien an der westeuropäischen Peripherie eindeutig. Die ideologische Konstellation des Systemkonflikts zwischen demokratischen und kommunistischen Staaten begünstigte die Integration in Westeuropa. Und schließlich die deutsche Frage: Was sollte aus dem Land in Mitteleuropa werden, das bereits zweimal im Verlauf des 20. Jahrhunderts fast die halbe Welt in den Krieg gestürzt hatte? Aus französischer Sicht konnte man es nicht zulassen, dass der westliche Teil des geteilten Deutschlands eventuell auch noch an den Kommunismus verloren gehen würde. Ebenso wenig wollte man erneut eine starke Wirtschaftsmacht jenseits des Rheins haben. Da man das Ruhrgebiet nicht mehr besetzen konnte, wie nach dem Ersten Weltkrieg, war die Integrationsidee der logische Ausweg aus dem französischen Dilemma. Adenauer war zudem ein engagierter Befürworter der Westintegration für die Bundesrepublik. Die deutsche Frage war also nach 1945 von vornherein eine europäische Frage. Die Demokratien an der westeuropäischen Peripherie des Kontinents, Frankreich, Luxemburg, Belgien und die Niederlande, strebten eine Kooperation mit der Bundesrepublik Deutschland an, die aus ihrer Sicht mehr Vorteile für die eigene Position bot. Der Grundsatz der Integrationsidee, einen Gewinn zu erzielen, war schon in der Anfangssituation ausschlaggebend. Hinter den Integrationsfaktoren stehen aber auch Interessengruppen, die ganz zielgerichtet für ein gemeinsames Europa geworben haben, und dies auch nicht erst seit 1945. Die Idee eines geeinten Europas reicht bis in das Mittelalter zurück (vgl. Gehler 2010). Besonders populär wurde (zumindest unter europäischen Intellektuellen) paneuropäisches Gedankengut nach dem Ersten Weltkrieg. Auch wenn die Machtverhältnisse andere waren und dies nicht zuließen, konnte man an den Europagedanken der Zwischenkriegszeit nach 1945 berechtigterweise anschließen. Es gab vor allem drei Lager, die völlig unterschiedliche Konzepte für ein geeintes Europa formulierten. Die Anhänger dieser Konzepte finden sich bis heute im Europäischen Parlament bzw. in der Politik der Nationalstaaten: a) Die Universalisten b) Die Konstitutionalisten c) Die Funktionalisten. Die Universalisten propagieren eine Europa-Idee, die aus einem Vereinigten Europa ein Ordnungskonzept für die ganze Welt macht. Europa wäre demnach ein politisches Gebilde, welches von Paris bis Wladiwostok und von Wladiwostok bis Washington und zurück nach Paris reicht. Eine weltumspannende demokratische Ordnungsmacht (vgl. auch Fischer 2000). Dahinter verbirgt sich unausgesprochen ein Verständnis von Europa als einem universalen Kulturprogramm. Europa ist demnach eine Zivilisation.

Die deutsche Frage

Die Westintegration der Bundesrepublik

Drei Richtungen der Europäischen Integration

Europa als universale Zivilisation

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X. Europawissenschaft Europa als spezifische Identität

Funktionales Europa

Integration durch Formen und Funktionen

Die Konstitutionalisten hingegen sind diejenigen, die für Europa zunächst einmal eine gemeinsame institutionelle Struktur erreichen wollen. Dazu gehört dann auch eine gemeinsame Verfassung für alle europäischen Nationalstaaten. Der europäische Raum wird hier zwar auch als ein spezifischer Kulturraum identifiziert wie bei den Universalisten, in welchem insbesondere das Christentum eine tragende Grundlage für die europäische Identität einnimmt (vgl. auch Nitschke 2006a), jedoch wird damit nicht der Anspruch verbunden, das institutionelle System über den europäischen Kontinent hinaus zu einem Programm für die Welt zu machen. Dies allein schon deshalb auch nicht, weil die Grenzen für diesen gemeinsamen europäischen Kulturraum längst (noch) nicht feststehen (vgl. auch Nitschke 2007a). Die dritte Gruppe richtet sich mit ihrer Agenda mehr oder weniger deutlich gegen die beiden genannten Perspektiven. Die Funktionalisten können mit einer Universalisierung Europas nichts anfangen, sind sogar dezidiert dagegen – und haben auch Probleme mit einer zu starken Institutionalisierung in der europäischen Integration. Funktionalisten beharren auf der Logik des Nationalstaats und setzen sich nur dann und dort für eine weitere integrative Politik zugunsten Europas ein, wenn dabei der (je eigene) Nationalstaat keine Nachteile dadurch bekommt, sondern im Gegenteil einen Mehrwert verzeichnen kann. In dieser Hinsicht lassen sich die Funktionalisten als Realisten bezeichnen: Die Vertreter dieser Richtung verfolgen in der Europapolitik ausgesprochen pragmatische Optionen, orientieren sich vor allem an der Effizienz der Maßnahmen statt an langwierigen und oft nutzlosen Debatten über normative Ideale. Alle drei Strömungen existieren bis heute und verdeutlichen mit ihren unterschiedlichen Positionen die Schwierigkeiten, welche die europäische Integration sowohl für die praktische Politik als auch für die normative Akzeptanz bei den Bürgern Europas aufweist. Zweifellos sind die Funktionalisten bis heute in der Mehrzahl. Der enorme Zuwachs an europäischen Institutionen über die letzten 50 Jahre hinweg verdankt sich eben keinem groß angelegten Masterplan, sondern einem sukzessiven Voranschreiten, je nachdem, wie es die Sachlage und die Zeitumstände als dringlich erscheinen ließen. Insofern ist auch die Relevanz von theoretischen Bezügen zur europäischen Integration nicht so zentral, wie es viele Politikwissenschaftler gern sehen würden. Die politische Praxis in Sachen Europa ist kasuistisch, d.h. fallorientiert und viel pragmatischer, als es die meisten Theorien zur europäischen Integration wahrhaben wollen (vgl. z.B. Holzinger u.a. 2005). Im Grunde haben sich bis heute zwei theoretische Grundmodelle für die Logik des europäischen Integrationsprozesses als ausschlaggebend erwiesen: a) Function follows Form b) Form follows Function. Das englische Sprachspiel mit den Begriffen ist nicht nur interessant formuliert, sondern es ist auch glänzend geeignet, um die jeweils unterschiedliche Logik hinsichtlich der Phänomene im europäischen Integrationsprozess zu verstehen. Während Theorie (A) den idealistischen Ansatz enthält, mit dem Institutionen als Formträger und Garanten des Integrationsprozesses begründet und aufgebaut werden sollen, folgt Theorie (B) genau der entgegengesetzten Richtung: Nicht die Formen (wie etwa völkerrechtliche Verträge und die

X. Europawissenschaft

Schaffung von neuen Institutionen) machen den Erfolg der europäischen Integration aus, sondern die (ganz pragmatische) Verfolgung von nützlichen Funktionen – ohne dafür schon gleich den großen Vertragsentwurf zu haben. Auf Dauer folgen dann die Formen, d.h. die Verträge, der funktionalen Politikgestaltung, begründen damit wieder neue Funktionsnotwendigkeiten, die wiederum neue Formen einer integrativen Europapolitik benötigen usw. Mit beiden Theorien lässt sich die komplexe Realität der europäischen Integration, vor allem auch das oft widersprüchliche Zusammenspiel der EUInstitutionen beschreiben. Während die Politik bei der Gründung der ersten europäischen Institutionen, z.B. bei der Montanunion (1952) oder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit den Römischen Verträgen (1957), eher dem funktionalistischen Ansatz folgte, in dem man schrittweise Politikfelder zusammenführte, um dann anschließend daraus einen umfassenden Vertragsplan zu machen, richtet sich die Arbeitsperspektive ab den 1980er-Jahren stärker am Institutionalismus der idealistischen Theorierichtung (A) aus. Spätestens mit dem Maastrichter Vertrag zur Gründung der EU (1993) als einer dezidiert politischen Union wird zunächst der große Formentwurf formuliert, um dann im weiteren zeitlichen Verlauf die Funktionsbedürfnisse und Logiken der einzelnen Politikfelder darauf hin abzustimmen. Sowohl die sogenannte Osterweiterung der EU im Jahre 2004 als auch die Einführung des Euro als gemeinsame Währung verdanken sich der Beschlusslage im Maastrichter Vertrag (vgl. u.a. Lippert 2004). Ihre Umsetzung hat die Konkretisierungen in den Verträgen von Amsterdam (1999) und von Nizza (2003) notwendig gemacht: die Funktionen in der Praxis richten sich nach den Vorgaben durch die formellen Bestimmungen. Damit folgt die Politik zugunsten Europas einem bemerkenswerten Modelltypus, nämlich dem der Planbarkeit der Zukunft ihrer Gesellschaften und politischen Strukturen. Die Planungseuphorie, die von den administrativen Stäben der EU ausgeht, ist jedoch nicht immer wirklichkeitskonform. Dem entsprechen auch die Rückschläge, die hier zu verzeichnen sind. Insbesondere die Euro-Krise seit 2010 demonstriert in umfassender Dramatik, dass noch so vernünftig gemeinte Planungen an der Realität vorbeigehen können. Der Funktionalismus widersetzt sich diesem Ansatz daher strukturell: pragmatische, d.h. auf Effizienz ausgerichtet Politik findet in allen Phasen der europäischen Integration gleichzeitig statt. So ist auch der Prozess der neueren Integrationsschritte seit dem Maastrichter Vertrag stets von einer Vielzahl rein funktionaler Strategien begleitet worden. Bis zum heutigen Tag kann man daher nicht eindeutig ausmachen, welche der beiden Theorierichtungen im Integrationsprozess überwiegt. Auf ambivalente Weise bleiben beide Strategien ineinander verwoben. Das zeigt sich auch bei der grundsätzlichen Struktur der Institutionen in der EU. Die Politikfelder überlappen sich hier auf höchst komplexe Weise (vgl. u.a. Wessels 2008, Weidenfeld/Wessels 2011). Schematisch lassen sich die einzelnen Inhalte der Europapolitik zwar auf ein Drei-Säulenmodell hin fixieren, in der Praxis sieht die Politik der Vergemeinschaftung dann doch oft ganz anders aus. Das sogenannte Europäische Haus basiert auf den drei Grundpfeilern: 1. Dem Vertrag über die Europäische Gemeinschaften (EG) 2. Der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 3. Der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS).

Die europäischen Vertragswerke

Die drei Pfeiler der EU

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X. Europawissenschaft Der EG-Vertrag

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)

Innere Sicherheit als Politikfeld der Europäischen Integration

Die erste Säule ist hierbei die bei weitem stärkste Säule: Im EG-Vertrag, der eine Fortschreibung der früheren Verträge aus den 1950er-, den 60er- und 70er-Jahren beinhaltet, werden so zentrale Materien wie die Agrarpolitik, der Verbraucherschutz, die Sozialpolitik, vor allem aber das weite Feld des gemeinsamen Binnenmarktes, der Zollunion und der Struktur- und Handelspolitik geregelt. Der Schutz der EU-Außengrenzen gehört hier ebenso hinzu wie die Asylpolitik und die Unionsbürgerschaft, die für alle Bürger der EU gemeinsam gilt. Fragen zum freien Personenverkehr werden hier genauso behandelt wie die Bildungspolitik oder die Gesundheitspolitik. Auch wenn die Materien den Anschein erwecken, dass sich die Bestimmungen des EG-Vertragswerks hauptsächlich auf soziale Fragen (und damit auf gesellschaftliche Prozesse) beziehen, so ist dieser Eindruck doch nicht richtig. Die wichtigsten Materien in der ersten Säule betreffen allesamt ökonomische Fragen, insbesondere auch die Ausgestaltung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Die zweite wie die dritte Säule eröffnen jeweils für sich eine neue Dimension für die politische Union im Integrationsprozess: In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) werden seit Maastricht außenpolitische Koordinierungsmaßnahmen angestrebt, die sich bei der Entwicklungshilfe, z.B. bei der Demokratisierung von Ländern der Dritten Welt und beim Thema Menschenrechte bemerkbar machen sollen. Die Praxis zeigt allerdings, dass die diversen Mitgliedsstaaten der EU nach wie vor eine mitunter recht eigenwillige Außenpolitik betreiben, so dass von einer gut koordinierten gemeinsamen Linie hier erst in Ansätzen die Rede sein kann. Während die erste Säule in manchen Politikfeldern (wie etwa bei der Agrarpolitik) supranational organisiert ist, bleibt die zweite Säule nach wie vor in einem intergouvernementalen Mechanismus befangen. Symbolische Repräsentation ersetzt dann die mangelnde gemeinsame Gestaltungsqualität. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die dritte Säule der EU, die sich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit widmet. Hier dominiert der Intergouvernementalismus, andererseits hat gerade die dritte Säule seit dem Maastrichter Vertrag eine rasante Vernetzung im Bereich der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) erfahren. Insbesondere auf dem Feld der Terrorismusbekämpfung hat sich für die nationalen Sicherheitsbehörden ein gemeinsames Handlungsprofil in der EU ergeben. Das klassische Politikfeld der Inneren Sicherheit bekommt damit eine supranationale Dimension: Innen- und Außenpolitik lassen sich auf dem Feld der polizeilichen Zusammenarbeit nicht mehr trennen, inhaltlich gehen die Materien in ein gemeinsam zu bearbeitendes EU-Politikfeld über (vgl. auch Knelangen 2001, Nitschke 2008). Die Einrichtung von Institutionen wie Europol und Eurojust im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zeigt, dass sich dieser Vernetzungsprozess trotz der klassischen Souveränitätsvorbehalte der Nationalstaaten weiterhin beschleunigt (vgl. u.a. Nitschke 2006b, Demmelbauer 2011). In den Gestaltungskompetenzen sind die drei Säulen der EU je nach Politikfeld unterschiedlich austariert. Während in der ersten Säule viele Materien gemeinschaftlich organisiert werden bzw. einer supranationalen Beobachtung und Kontrolle durch die Kommission in Brüssel unterliegen, sind die zweite und die dritte Säule nach wie vor eher Arbeitsgebiete einer internationalen Politikgestaltung zwischen den beteiligten Regierungen. Das Europä-

X. Europawissenschaft

ische Haus ist also bis dato schief konstruiert. Das zeigt sich auch hinsichtlich der Struktur zwischen den maßgeblichen Institutionen, über welche die EU mittlerweile verfügt. Die wichtigsten sind im Überblick: a) Europäische Kommission b) Europäischer Rat c) Rat der EU d) Europäisches Parlament e) Europäischer Gerichtshof f) Europäische Zentralbank g) Europäischer Rechnungshof h) Wirtschafts- und Sozialausschuss i) Ausschuss der Regionen. Die Kommission gilt als Hüterin der Verträge. Sie hat in dieser Funktion exekutive Kompetenzen, weshalb sie das eigentliche Kraftzentrum der europäischen Integration darstellt. Allerdings ist diese supranationale Behörde nicht mit einer nationalen Regierung zu vergleichen. Dafür fehlen ihr immer noch zu viele Kompetenzen (vgl. auch Wonka 2008). Die ca. 25.000 Beamten, die in den Kommissionsgebäuden in Brüssel ihren Dienst tun, sind für die Verwaltung der Belange von etwa 500 Millionen EU-Bürgern auch noch eine zu kleine Größe, als dass man hier von einer wirklich starken supranationalen Macht sprechen könnte. Dennoch gilt, dass an der Kommission kein Nationalstaat mehr so einfach vorbei kommt. Allerdings kann die Kommission ohne die Mithilfe der Nationalstaaten allein auch nichts bewirken. Insofern bedarf sie der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Rat, in dem die Staatsund Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten der EU regelmäßig zusammenkommen. Der Europäische Rat ist die eigentliche Exekutive der EU, in diesem Fall jedoch nicht supranational, sondern intergouvernemental. In diesem Gremium entscheiden die Staats- und Regierungschefs, wie sie ihre Europapolitik gestalten wollen. Die Umsetzung dieser Beschlüsse obliegt ohnehin den nationalen Verwaltungssystemen, auf die die EU zurückgreifen muss. Ebenso verhält es sich beim Rat der EU, in dem sich die jeweiligen Fachminister der Nationalstaaten zu ihrem Thema treffen, um gemeinsame Optionen zu erarbeiten und zu beschließen. Hier werden vor allem die komplizierten Materien aus den drei Säulen der EU verhandelt und in immer neuen Diskussionsrunden zur Entscheidung gebracht. Folgt man der klassischen Demokratietheorie, dann wäre das Europäische Parlament (EP) eigentlich die legitimatorische Basis für die EU. Doch von einem solchen Status ist das EU-Parlament noch (weit) entfernt. Zwar hat sich das 1952 geschaffene und seit 1979 direkt gewählte supranationale Forum im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Mitspracherechte gegenüber dem Ministerrat und den Staats- und Regierungschefs erkämpft, doch verbleibt das Parlament nach wie vor (verglichen mit den nationalen Parlamenten) in einer Art Ersatzfunktion für die europäische Legislative (vgl. auch Meyer 2012). Der Haushalt der EU wird hier verabschiedet und zu den Vertragsgrundlagen der EU werden Stellungnahmen abgegeben, doch fehlt die Kompetenz und Legitimation zur wirklichen Repräsentanz in Sachen Europa. Ein europäisches Staatsvolk gibt es nicht. Und auch die Verfahrensformen, mit

Die Institutionen der EU

Die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge

Europäischer Rat als Entscheidungszentrum

Das Europäische Parlament

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Der Europäische Gerichtshof als supranationale Instanz

Europäische Zentralbank und die Geldwertstabilität des Euro

Die Ausschüsse der EU

denen die Wahlen zum EP organisiert werden, folgen zwar den nationalen Bestimmungen der jeweiligen Mitgliedsstaaten, doch sie entsprechen nicht dem Gleichheitsprinzip demokratischer Wahlen. Für eines der 99 Mandate, die Deutschland im EP (bis 2014) zur Verfügung stehen, müssen mehr als 200.000 Menschen zur Wahl gehen, während in Malta und in Luxemburg gerade einmal knapp über 10.000 Wähler ihren Abgeordneten ins EP entsenden können. Gewählt wird auch nicht aus einem europäischen Angebot der Parteien, sondern nur aus dem, welches die nationalen Parteien in den nationalen Wahlbezirken zur Verfügung stellen. Der Europagedanke ist daher oft nur eine nachgeordnete Größe in den taktischen Überlegungen der Parteien. Karriere macht man zunächst einmal im eigenen politischen System und nicht im EP. Wenn es um die rechtlichen Gestaltungsfragen der EU geht, dann ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg diejenige Instanz, die mittlerweile kein Akteur in der Europapolitik mehr ignorieren kann. Die Entscheidungen des EuGH haben rechtsverbindliche Wirkung für alle Mitgliedsstaaten der EU (vgl. auch Pechstein 2011). Der EuGH steht mit seiner Rechtsprechung über dem nationalen Rechtssystem. Ein Bürger, der mit seiner Klage in der Bundesrepublik Deutschland alle Instanzen durchlaufen hat, kann sich an den EuGH wenden. Gleiches gilt für Institutionen und Firmen. Auch die Nationalstaaten können sich untereinander vor dem EuGH wegen Vertragsverletzungen anzeigen. Dieses Recht hat neuerdings auch die Kommission, was die Tendenz zu mehr Supranationalität strukturell verstärkt. In ähnlicher Weise wirkt die Europäische Zentralbank (EZB) mit Sitz in Frankfurt, die im Zuge der Einführung der gemeinsamen Währung gegründet worden ist. Oberstes Ziel der EZB ist die Stabilität des Euro. Insbesondere die deutsche Seite hat bei der Aufgabe der D-Mark darauf Wert gelegt, dass die neue Währungseinheit eine harte Währung sein soll, was bedeutet, dass eine Inflation unbedingt zu vermeiden ist. Doch hierzu gibt es unterschiedliche Vorstellungen: Da die obersten Währungshüter des Euro von den nationalen Regierungen ernannt werden, agieren diese stets auch vor dem Hintergrund der nationalen Schulauffassungen zur Geldwertstabilität (vgl. auch Heine/ Herr 2008). Und diese sehen in Italien und Frankreich z.B. anders aus als in Deutschland oder in Finnland. Der Europäische Rechnungshof (EuRH) mit Sitz in Luxemburg existiert seit 1977. Er ist zuständig für die Haushaltskontrolle, d.h., er überwacht die Verwendung der finanziellen Mittel durch eine anschließende Kontrolle und Berichterstattung gegenüber dem EP. Während die bisher genannten Institutionen eine Art von supranationaler Staatlichkeit repräsentieren, sind die beiden Ausschüsse, der Wirtschaftsund Sozialausschuss (WSA) sowie der Ausschuss der Regionen (AdR) ergänzende Institute für die Tätigkeitsfelder der Kommission wie auch für das EP. Während der WSA als Repräsentationsforum für die Interessen der Bürgergesellschaft in der EU – und zwar in der organisierten Form von Verbänden – fungieren soll, ist der AdR Repräsentationsorgan der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften in der EU. Vor allem mit dem AdR verbinden sich von deutscher Seite her unter dem Topos vom Europa der Regionen Vorstellungen von einer zukünftigen Struktur der EU, die mehr in Form eines supranationalen Bundesstaates organisiert werden könnte als in der bisherigen Fassung in-

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tergouvernementaler Arrangements (vgl. u.a. Hesse 1995/96, Bitsch 2003, Schmitt-Egner 2005). Grundsätzlich besteht eine gewisse Unübersichtlichkeit hinsichtlich der Strukturen, die durch den europäischen Integrationsprozess ins Leben gerufen wurden. Das Brüsseler System ist derart komplex geworden, dass selbst viele der Fachbeamten, die dort seit Jahren arbeiten, die Übersicht verloren haben. Erst recht gilt dies für die Mechanismen und Auswirkungen in Bezug auf die Nationalstaaten. Europa verstehen bedeutet also, dass man sich ein Bild von Europa und der europäischen Politik machen kann. Dafür existieren zahlreiche Modelle, die allesamt durch Vereinfachungen in den Beschreibungsmustern gekennzeichnet sind. Das bis dato gängigste politikwissenschaftliche Modell ist das Paradigma vom Mehrebenensystem (vgl. u.a. Heinelt/Knodt 2008). Die EU wird hierbei hinsichtlich ihrer sektoralen Politikfelder auf die verschiedenen Gestaltungsebenen und Akteursrollen sowohl horizontal als auch vertikal perspektiviert (vgl. Abbildung 4). Die Betrachtung eines Politikfeldes (wie z.B. Umweltpolitik oder Verkehrspolitik) im Rahmen des Mehrebenensystems erlaubt eine möglichst exakte empirische Ausrichtung auf die Hierarchien, Akteure und Arenen, in denen sich Europapolitik bewegt bzw. Erwartungen zu formulieren und durchzusetzen hat. Jenseits der globalen Sphäre kann man hierbei zwischen vier Ebenen unterscheiden: Globale Arena (Weltpolitik/IB) Supranationale EU-Arena Nationalstaatliche Arena (Bundesrepublik Deutschland) Regionale Arena (Subnationale Gebietskörperschaften) Lokale Arena (Kommunen) Abbildung 4: Mehrebenensystem der EU Der Nationalstaat ist zweifellos der nach wie vor wichtigste Akteur innerhalb der Strukturen des Mehrebenensystems. Hier werden die meisten Gesetze erlassen und EU-Beschlüsse umgesetzt. Allerdings ist es eine Frage der Ausdifferenzierung in der Hierarchie nach unten hin, ob der Staat über einen subnationalen Unterbau verfügt oder nicht. In föderalstaatlichen Systemen wie der Bundesrepublik oder in Belgien und in Österreich existiert auf der Länderebene gleichfalls eine beträchtliche Mitentscheidungskompetenz. In eher unitarischen Systemen wie in Großbritannien oder etwa in Dänemark entscheidet die nationale Verwaltung zentral (vgl. auch Ismayr 2008). Allerdings ist in unitarischen Staaten auch oft der Gestaltungsspielraum für die Kommunen größer. Insofern ist die unterste Ebene in der Mehrebenensystematik selbst für die EU-Politik von zentralem Interesse. Kein Straßenneubau, keine

Mehrebenensystem

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Heterogenität trotz aller Vereinheitlichung

Nationale versus supranationale Interessen

Finalität der Integration?

Gewässerregulierung, die nicht nach den Richtlinien und Verordnungen der EU stattfindet. Allenthalben erfolgt eine Zertifizierung nach den Normierungsstandards der EU-Behörden. Insofern ist das EU-System in seiner Regulierungsdichte und -weite sehr viel umfassender als dies die meisten Bürger in den Mitgliedsstaaten tatsächlich wahrnehmen. De facto wirkt die EU in der Gegenwart wie ein sehr schwerfälliger Koloss, der auf die großen Herausforderungen und Probleme im Zeitalter der Globalisierung nur langsam und in mühevoller, kleinschrittiger Arbeit Antworten findet. Nach wie vor gibt es, aller finanzstarken Strukturpolitik zum Trotz (vgl. Axt 2000), große Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen in der EU. Auch der Anspruch, ein bildungsstarker und sozial gerechter Lebensraum für die 500 Millionen EU-Bürger zu werden, hat sich bisher nicht erfüllt. Sozialpolitik ist im Gegensatz zur wohltuenden Rhetorik seit den Römischen Verträgen von 1957 mitnichten ein gemeinschaftliches Politikfeld. Nach wie vor handeln hier die Nationalstaaten in eigener Sache (vgl. auch Mau 2004). Den wohlmeinenden Visionen folgt zugleich stets der düstere Abgesang bzw. die Fundamentalkritik an der europäischen Integration. Das hat zweifellos sehr viel mit den strukturellen Differenzen zu tun, die das Lagebild der EU so uneinheitlich erscheinen lassen (vgl. auch Landfried 2002). Letztlich resultiert dies aus einem Strukturgegensatz, der in seiner unterschiedlichen Logik bis zum heutigen Tage nicht behoben bzw. austariert werden konnte. Auf der einen Seite verweist der Integrationsprozess auf die Flexibilität der Märkte, die sowohl national wie international von der EU geschützt werden müssen. Das bedeutet im Kern eine neoliberale Politik, welche von der Rationalität der Märkte ausgeht. Demgegenüber steht jedoch die Erwartungshaltung, dass die nationalen Gesellschaften der EU einander angeglichen werden sollten, um eine größere politische Stabilität zu erreichen. Das Homogenitätsprinzip beinhaltet eine Symmetrie der Gesellschaften. Aufgrund der Gleichzeitigkeit der beiden Strukturmuster bleibt die Integration in einem Schwebezustand, bei dem mal das eine, mal das andere Prinzip stärker auftritt. In der Summe, bezogen auf den bisherigen Verlauf der europäischen Integration, führt dies zu einer relativ hohen Dynamik. Das bedeutet allerdings auch, dass die europäischen Institutionen nicht stabil bleiben, sondern permanent einem uneinheitlichen Anpassungsdruck unterliegen. Da die Funktionslogik widersprüchlich bleibt, verstärken sich daher auch die entsprechenden Effekte zwischen der nationalen und der supranationalen Politik. Das Brüsseler System wird nicht beliebter, die nationalen Regierungen steuern systemisch auf immer mehr Eigenvorbehalte zurück. Was im Grunde fehlt, ist eine klare Botschaft an die europäischen Wähler (vgl. auch Nitschke 2007b): Zu welchem Zweck soll man den bisherigen Integrationsprozess fortsetzen? Was ist das Endziel der EU? Wo sollen die Außengrenzen enden? Welche Struktur soll Europa in Zukunft haben? Wozu überhaupt die EU? Die Beantwortung von Finalitätsfragen dieser Art wird bewusst vermieden, weil man ansonsten zu den gegenwärtigen Problemen bestimmte Standpunkte einnehmen müsste, die andere Optionen deutlich ausschließen. Das bewusste Offenlassen hinsichtlich der Finalität des europäischen Integrationsprozesses ist jedoch eine Strategie, die Europa zunehmend mehr Probleme als Vorteile einbringt.

XI. Vergleichende Staatslehre Die Vergleichende Staats- und Regierungslehre ist eine klassische Ausrichtung in der Politikwissenschaft. Schon Aristoteles hat sich damit beschäftigt, indem er die verschiedenen Herrschaftsformen seiner Zeit typologisierte (vgl. Kapitel VI). Hierzu bedarf es nicht nur einer analytischen Formbestimmung im Sinne der Polity, sondern ebenso auch eine empirische Ausrichtung in Bezug auf die Politikfelder und die Institutionen, die ein jeweiliges politisches System beinhaltet. Das macht die Analyse nicht eben einfach, denn ein Vergleich von Staats- und Regierungsformen kann nur dann gelingen bzw. macht nur dann Sinn, wenn die Vergleichsparameter angemessen sind. Folgerichtig beschäftigt sich die Vergleichende Staatslehre zunächst einmal mit der Typenbestimmung hinsichtlich der zu klassifizierenden Daten. Welche Regierungsformen kann man miteinander vergleichen und welche nicht? Was sind die maßgeblichen Faktoren für den Vergleich und wie sehen die Kriterien hierfür aus? Formal betrachtet kann man natürlich Staaten in ihrer rechtlichen Bestimmung als Staaten jederzeit untereinander vergleichen, doch die politikwissenschaftliche Analyse hält sich nicht einfach mit der formalen Verfassungsbestimmung auf, sondern versucht die empirischen Erscheinungsformen, die jede Verfassung im Alltag zeitigt, systematisch zu berücksichtigen. Lange Zeit war ein solcher Ansatz in der Ära des Ost-WestKonflikts im Wesentlichen motiviert und bestimmt durch die Perspektive auf den Vergleich der beiden deutschen Systeme (Deutsche Demokratische Republik versus Bundesrepublik Deutschland). Das hatte jedoch nur eine stark innerdeutsche Ausrichtung und hat auch keineswegs dazu beigetragen, dass ein realistisches Verständnis für die Brüchigkeit des DDR-Regimes in der westdeutschen Politikwissenschaft zustande kam (vgl. z.B. Hacker 1983). Im Gegenteil: von der Auflösung der DDR ist man analytisch in der Vergleichenden Regierungslehre geradezu überrascht worden. Die Expertisen hierzu sahen anders aus. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich das Interesse an den Fragestellungen der Vergleichenden Staatslehre deutlich erweitert. Dies betrifft a) die Ausrichtung auf die Bedingungen, unter denen bisher autoritäre Staaten wie etwa die des Ostblocks sich demokratisieren und b) die Frage, welche Entwicklungslinien insgesamt in der Welt zu beobachten sind. Die bisherige Analyseperspektive, bei der die Vergleichende Staatslehre eher nur ein Unterpunkt der IB im Rahmen der Entspannungspolitik war (vgl. u.a. Bredow 1992)), ist damit deutlich aufgewertet worden. Die eher schematischen Gegenüberstellungen von liberalen, freiheitlichen Gesellschaften demokratischer Ordnung und diktatorischen und kommunistischen Regimen im Kontext der Totalitarismustheorie ist sukzessive relativiert und aufgelöst worden zugunsten pluralistischer und sektoral immer weiter ausdifferenzierter Staatsvergleiche (vgl. u.a. Funke 1978, Jesse 1991). Vor allem die Entwicklung der ehemals kommunistischen Systeme in Mittel-Osteuropa (MOE) hat zu einer reichhaltigen, empirisch wie theoretisch

Der Vergleich von Staaten

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XI. Vergleichende Staatslehre Die Transformation von Staat und Gesellschaft

Die drei Wellen der Demokratisierung

Vierte Welle der Demokratisierung?

vorgehenden Transformationsforschung geführt, bei der Ländervergleiche mit großem methodischen Aufwand systematisiert worden sind (vgl. z.B. Dawisha/Parrott 1997). Generell ist hierbei von Interesse, wie Staaten, die bis dato autoritäre oder diktatorische Erscheinungsformen aufwiesen, innerhalb von wenigen Jahren hin zu einer Demokratie transformiert werden können. Die demokratische Ordnung ist die Vorbedingung bzw. der Grundbaustein für die Vergleichsparameter. So legen auch die Kopenhagener Kriterien der EU von 1993 für den Beitritt neuer EU-Kandidaten fest, dass diese Länder 1. Demokratisch, 2. Rechtsstaatlich strukturiert (und) 3. Marktwirtschaftlich organisiert sein müssen. Die Transformation der ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts ist in dieser Hinsicht ein Lehrstück sowohl für die faktische Politikgestaltung als auch für die vergleichende Staats- und Regierungslehre in der Wahrnehmung und Neuausrichtung der Analysemöglichkeiten (vgl. u.a. Brock/ Hauchler 1993, Kneuer 2010). Allerdings ist die Fokussierung auf ein demokratisches Profil als Ausgangspunkt sämtlicher Betrachtungen ein Paradigma, das nicht unproblematisch ist für die Analyse. Das zeigt sich z.B. bei dem Modellverlauf, den der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington mit seiner programmatischen Wellenformation der Demokratisierung vorträgt. Demnach existieren Drei Wellen der Demokratisierung in der historischen Betrachtung der Staats- und Regierungsformen der letzten zwei Jahrhunderte. Nachdem die Demokratie sich als erfolgreiche Ordnungskonzeption im parlamentarischen System selbst bei der englischen Monarchie im Verlauf des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hat und vor allem durch die Amerikanische und die Französische Revolution von 1776 und 1789 bestätigt wurde, sei die Folgeentwicklung von einer schrittweisen Demokratisierung der Welt gekennzeichnet (vgl. Huntington 1991): 1. Welle/1828–1929 2. Welle/1943–1962 3. Welle/ab 1974. Die erste Welle betraf die demokratischen Revolutionen in Südamerika und auch die Staatswerdungsprozesse nach dem Ersten Weltkrieg. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise verzeichnet Huntington dann jedoch einen Bruch für diese Entwicklung. Allerdings sei es bereits während des Zweiten Weltkriegs durch die Entkolonialisierung in den Ländern der Dritten Welt dann wieder zu einer weiteren Demokratisierung, der zweiten Welle, gekommen. Mit der Entspannungspolitik zwischen Ost und West sei dann die dritte Welle weltweit, besonders aber für die sozialistischen Systeme MOEs zu beobachten. Diese nicht unumstrittene Modellierung von weltweiten Demokratisierungsprozessen wird von manchen Analysten für die Gegenwart weiterhin verwendet, indem z.B. die Revolutionen im sogenannten Arabischen Frühling des Jahres 2011 als vierte Welle der Demokratisierung aufgefasst werden (vgl. Fukuyama 2011). Die Frage ist natürlich, ob hierbei die richtigen Dinge miteinander verglichen werden. Man kann auch über eine reverse wave, eine zurückrollende

XI. Vergleichende Staatslehre

Welle in Sachen Demokratisierung reden, denn immerhin ist die Zahl der Demokratien in der Welt nicht linear gewachsen, sondern hat in den letzten Jahren auch Rückschläge hinnehmen müssen. Weder Russland noch China haben sich demokratisiert. Im Gegenteil: die Vorstellungen etwa des Putinismus, der ganz offen von einer gelenkten Demokratie spricht, gehen in eine ganz andere, nämlich sehr autoritäre Richtung (vgl. auch Mommsen/Nußberger 2009). Die formale Typologie in der Vergleichenden Staatslehre geht zunächst auch nur von der Klassifizierung aus, die erfasst, ob ein politisches System von einer Partei beherrscht wird oder ob es ein Mehrparteiensystem ist, das Pluralismus und Differenz in der Ausgestaltung von Politik ermöglicht. Mehrparteiensysteme können liberal strukturiert sein, sozialistisch oder auch konservativ bzw. alle Richtungen miteinander zugleich. Einparteiensysteme hingegen sind autoritär bis diktatorisch strukturiert wie im Kommunismus, im Faschismus oder – wie in der Gegenwart – im Islamismus. Identifiziert man Mehrparteiensysteme mit der Demokratie, so besagt dies jedoch noch nicht viel über die Qualität der jeweiligen demokratischen Ordnung in einem Land. Demokratie ist schließlich nicht gleich Demokratie. Schon der Blick auf die Nachbarstaaten um Deutschland herum demonstriert, dass allein im Rahmen der EU ganz unterschiedliche Konzepte von demokratischer Ordnung existieren (vgl. auch Ismayr 2009). Dänemark ist anders strukturiert als die Bundesrepublik und Italien ist in dieser Relation wiederum eine Art Gegenentwurf. Eine ganze Reihe von EU-Mitgliedsstaaten (Großbritannien, Niederlande, Schweden, Luxemburg, Belgien, Spanien, Dänemark) verfügen nach wie vor über eine Monarchie, obwohl sie parlamentarische Institutionen haben wie klassische Republiken. Manche Staaten in der EU betonen mehr den republikanischen Gehalt (Frankreich, Österreich), andere die demokratische Position (Deutschland, Schweden, Griechenland). Was also kann und sollte verglichen werden? Es hat sich als tragfähige Grundlage für den Vergleich zwischen Demokratien herausgestellt, dass es sinnvoll ist, die Struktur und die Entscheidungskompetenzen der nationalen Parlamente in der Legitimierung des Regierungssystems miteinander zu vergleichen (vgl. Abromeit/Stoiber 2006, Hartmann 2011). Auf der einen Seite stehen hierbei ausgesprochen parlamentarisch organisierte Systeme (wie etwa Deutschland, die Niederlande und Großbritannien), auf der anderen Seite präsidentielle Systeme, in denen das nationale Parlament in einer eher untergeordneten Stellung gegenüber dem Staatsoberhaupt steht. Parlamentarische Systeme verfügen meist über ein Zwei-Kammer-Parlament (wie Deutschland in Form von Bundestag und Bundesrat) mit einer systematischen Verbindung von Regierung und Parlament. Demgegenüber sind bei präsidentiellen Systemen Parlament und Regierung (strikt) getrennt. Oft findet sich in solchen Systemen eine starke Bündelung von Kompetenzen bei der Exekutive. Beide Systeme existieren jedoch nicht immer in Reinform. Viele Staaten auf der Welt weisen Mischformen zwischen präsidentieller und parlamentarischer Demokratie auf. Mischsysteme wie Finnland, Portugal oder die Schweiz basieren auf einer je nach nationaler Tradition ganz unterschiedlichen Synthese. Oft wird auch die Marktwirtschaft als ökonomisches Modell mit der Demokratie gleichgesetzt. Doch gilt die Gleichung Marktwirtschaft =

Gelenkte Demokratie in Russland als Gegenmodell

Die Uneinheitlichkeit der demokratischen Ordnung

Parlamentarische und präsidentielle Systeme

Marktwirtschaft und Demokratie

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XI. Vergleichende Staatslehre

Die institutionelle Struktur demokratischer Systeme

Unitarische Staaten

Regionalisierte Staaten

Föderalstaaten

Demokratie nur bedingt: China und Singapur arbeiten auch sehr erfolgreich mit marktwirtschaftlichen Strukturen, sind jedoch alles andere als Demokratien. Insofern ist die Klassifizierung der demokratischen Ordnung über das ökonomische Modell einer Gesellschaft nur teilweise zutreffend: Zwar sind Individualismus und Kapitalismus zweifellos wichtige Faktoren für die Existenz einer pluralistischen Gesellschaft, doch ist damit noch nichts gesagt über das Ausmaß an Freiheitsrechten oder die Begrenzung derselben. Für die Vergleichbarkeit der bürgerlichen Freiheiten bzw. der Unterdrückungspotenziale ist daher der Blick auf die staatlichen Strukturen und ihre institutionellen Einordnungsmuster mit entscheidend. Hier kann man für den Vergleich grob klassifiziert folgende vier Strukturmuster ansetzen: 1. Unitarische Systeme 2. Regionalisierte Systeme 3. Föderale Systeme 4. Fragile Systeme. Zu ersten Gruppe gehören Staaten wie Frankreich, Dänemark oder Nordkorea. Unitarische Staaten sind in ihrer politischen Struktur dadurch gekennzeichnet, dass alle politische Macht auf ein nationales Zentrum hin ausgerichtet ist. Ohne dieses Herrschaftszentrum geht in diesen Staaten fast gar nichts. Nicht immer muss ein Präsident an der Spitze stehen wie in Frankreich, jedoch sind alle Infrastrukturen des Staates so angelegt, dass sie zum Zentrum hin orientiert sind. Alle wichtigen Entscheidungen werden im Zentrum getroffen. Regionalisierte Staaten sind demgegenüber durch eine Struktur gekennzeichnet, bei der die Kompetenzen aufgeteilt sind in der räumlichen Fläche des Landes. Italien, Spanien und neuerdings auch Großbritannien sind Staaten, die zu dieser Gruppe gehören. Im Rahmen einer Regionalisierung der politischen Kompetenzen können manche Gebietskörperschaften hierbei sogar enorme Gestaltungsspielräume bekommen wie bei der spanischen Regionalaufteilung der communidades autónomas oder etwa im Falle Schottlands bei der sogenannten Devolution (vgl. u.a. Nohlen/González Encinar 1992, Nitschke 1999). Die Regionalisierung in der internen Staatsstruktur ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem Föderalismus als Staatsprinzip. Föderale Staaten wie die Bundesrepublik, die USA, Österreich oder Belgien, organisieren ihre Entscheidungen über ein austariertes System wechselseitiger Gewaltenkontrolle. Meist sind hierfür zwei Kammern für die Repräsentation der Interessen zuständig, a) auf nationaler Ebene (wie beim Deutschen Bundestag), b) auf subnationaler Ebene (wie beim Bundesrat). Die amerikanische Aufteilung des Kongresses in Senat und Repräsentantenhaus ist komplexer, folgt nicht einfach nur einer territorialen Logik, sondern auch einer demografischen, bezogen auf die jeweilige Bevölkerungszahl pro Bundesstaat (vgl. Sautter 2000). Der Vergleich macht also nur Sinn, wenn man Staaten betrachtet, die in ihrer jeweiligen Struktur tatsächlich vergleichbare Institutionen und politische Mechanismen haben. Föderale Staaten wie die USA und Deutschland sind immer noch recht verschieden, hier hat der strukturelle Vergleich jedoch Aussagekraft. Selbst im Falle eines extrem föderativen Gebildes wie dem von Belgien, das fast schon eher als konföderatives Staatsmodell bezeichnet wer-

XI. Vergleichende Staatslehre

den kann, bestehen Interpretamente für eine vergleichende Analyse. Hingegen differieren ein unitarischer Staatsaufbau (wie der von Frankreich) und die föderale Struktur Österreichs recht deutlich. Nimmt man dann noch die Dimension der Politischen Kultur mit hinzu, also der Art und Weise, wie die Bürger eines Systems ihre Ansichten über Politik artikulieren und in welchen Einschätzungshorizonten sie sich im praktischen Alltag habituell bewegen, dann werden Unterschiede und Übereinstimmungen im Vergleich noch signifikanter (vgl. Inglehart 2002, Salzborn 2009). Die vierte Gruppe fällt fast ganz aus dem Rahmen: Fragile Staaten sind diejenigen, in denen die politischen Strukturen und die Institutionen des Staates nicht mehr in geordneter Weise funktionsfähig sind. Diese sogenannten Failed States sind ein Kennzeichen der Gegenwart – ihre Zahl ist nicht im Schwinden, sondern im Zuwachs begriffen. Die Gründe dafür sind vielschichtig und jeweils sektoral und regional in unterschiedlicher Erscheinungsform (vgl. auch Merkel u.a. 2006). Generell lässt sich jedoch klassifizieren, dass in Staaten wie Somalia, dem Irak oder im Libanon das staatliche Gewaltmonopol nur mangelhaft (oder gar nicht) durchgesetzt ist. Pro Forma existieren zwar der Verfassung nach staatliche Institutionen (und es gibt auch Polizei und Militär), diese sind jedoch nicht in der Lage, eine nachhaltige Ordnung im Lande zu organisieren. Meist sind Staaten instabil geworden, weil sie einen lang anhaltenden Bürgerkrieg zu verzeichnen hatten. Selbst eine offizielle Befriedung hat (wie im Fall der Demokratischen Republik Kongo oder dem Libanon) nicht dazu beitragen können, dass alternative Herrschaftsformen von Warlords mit ihren Banden, Organisierter Kriminalität, Clanstrukturen und Milizen sich aufgelöst hätten. Im Gegenteil: eine weltweit agierende Schattenwirtschaft trägt mit ihren illegalen Profiten dazu bei, dass sich vornehmlich in der Dritten Welt solche Strukturen verfestigen (vgl. z.B. Ruf 2003, Nordstrom 2005). Dies gilt ganz besonders für Afrika südlich der Sahara (vgl. auch Ferdowsi 2004). Die Mangelerscheinungen von Staatlichkeit sind hier signifikant, treten allerdings auch in anderen Regionen der Welt auf. Klassifikatorisch lassen sich hierbei folgende Faktoren bilanzieren: a) Korrupte Regierungen b) (Ethnische) Separatismen c) Archaische Kulturen d) Mangelndes Gewaltmonopol. Korruption ist immer dann vorhanden, wenn eine Begünstigung erfolgt, die nicht den geregelten Abläufen von Arbeitsleistungen und deren gesetzlicher Bestimmung entspricht. In der Wirtschaft sind Korruptionsmerkmale dadurch gekennzeichnet, dass aufgrund von geheimen Absprachen und wechselseitiger Begünstigung wettbewerbsverzerrende Effekte auf dem Markt auftreten (vgl. u.a. Fisman/Miguel, Priddat/Schmid 2011). Korruption führt immer zu Schädigungen, im Zweifelsfall der Allgemeinheit. Bezogen auf den Staat beinhaltet dies eine Struktur, bei der die Beamten Vorteile aus ihrer jeweiligen Entscheidersituation dadurch ziehen, dass sie sich persönlich für ihre amtliche Funktion vom Bürger bezahlen lassen. In vielen Ländern der Dritten Welt gehört aufgrund der florierenden Schattenwirtschaft die Korruption zum normalen Standard der Alltagswelt. Das be-

Failed States

Gründe für das Scheitern eines Staates

Korruption

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XI. Vergleichende Staatslehre

Separatismus

Region und Nation in Konkurrenz

deutet, Klientelverhältnisse und Patronage ersetzen die Regelhaftigkeit der gesetzlichen Bestimmungen bzw. stellen eine Parallelorganisation für die Abläufe des Alltags zur Verfügung. Effekte dieser Art existieren jedoch ebenso in den Staaten der EU – und dies nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland. Wenn Korruption ein normales Phänomen wirtschaftlicher und politischer Institutionen ist, dann ist zwangsläufig auch die Regierung davon geprägt. In Ländern der Dritten Welt, in denen vielfach eine Gewaltenkontrolle der politischen Institutionen untereinander versagt, ist die Selbstbegünstigung der politischen Klasse der Regelfall. Besonders Diktatoren zeichnen sich durch hemmungslose Bereicherung am nationalen Vermögen aus. Insofern trifft jede Revolution vor allem auch die korruptiven Standards des bisherigen Regimes. In Failed States ist es jedoch schwierig, fast unmöglich, ein korruptes Regime von innen heraus aufzubrechen. Meist funktioniert dies nur über militärische Interventionen, wenn es zum kompletten Zusammenbruch eines Regimes kommt. Separatismus bedeutet die Abspaltung eines Gebietes vom Rest des Landes. Meist handelt es sich hierbei um Identitätssetzungen mit territorialem Bezug, die sich gegen eine nationale Vereinnahmung verwahren. Die Gründe für Separatismus sind vielfältig. Eine ökonomische Benachteiligung kann hier eine Rolle spielen, regionaler Selbstbehauptungswille in Form eines ethnischen Nationalismus (wie im Falle der Basken oder der Schotten), oft verbunden mit einer spezifischen Ideologie, die das nationale Zentrum als Legitimation der politischen Herrschaft ablehnt und stattdessen auf Eigenständigkeit dringt. Das muss nicht immer gewaltsam sein, sondern kann sich auch im Rahmen rechtsstaatlicher Prozesse und parteipolitischer Diskurse bewegen. Vom Status kultureller Autonomie (wie etwa Südtirol in Italien oder den Aland-Inseln in Finnland) über die Zuschreibung einer spezifischen Nationalität im Rahmen der gesamten Nation (wie dies Galizien, das Baskenland und Katalonien in der spanischen Verfassung haben) bis hin zur Dekonstruktion der nationalen Kompetenz zu Gunsten der regionalen Gebietskörperschaften als Staat im Staate (wie etwa Flandern in Belgien) vollziehen sich separatistische Prozesse auch in Westeuropa (vgl. u.a. Alen 1995, Wendland 1998). Der strukturelle Konflikt Nationalstaat versus Regionalstaat manifestiert sich vor dem Hintergrund, dass eine Nation auch in regionaler Größe existieren kann. Russlands Probleme in den Gebieten des nördlichen Kaukasus sind hiervon massiv geprägt. In globaler Perspektive ist dies ein strukturelles Dilemma der völkerrechtlichen Zuschreibung von Staat und Nation. Wenn jeder Staat auf der Identitätsgrundlage einer Nation beruhen soll, und für die Nation als Kriterien a) eine gemeinsame Sprache, b) Religion, c) Ethnizität und d) kulturelle Traditionen gelten, dann sind die zahlreichen Separatismen der Gegenwart eine logische Folge dieser Identitätszuschreibung (vgl. auch Kapitel III). Die Gleichsetzung von Staat und Nation, verbunden mit demselben Raum als spezifisches Territorium einer Nation, ist ein Problem. Letztlich basiert diese Gleichsetzung auf Machtansprüchen und verdankt sich einer gewaltsamen Durchsetzung dieser Ansprüche. Im Falle des Iraks ist der Anspruch, einen Nationalstaat ausfüllen zu wollen, mehr als brüchig. Drei kulturell divergente Volksgruppen (Kurden, Sunniten und Schiiten), die sich z. T. ethnisch, vor allem aber konfessionell unter-

XI. Vergleichende Staatslehre

scheiden, prägen das Land und stellen damit die Einheit von Staat und Nation in Frage. Im Grunde ist es ein latenter Bürgerkrieg, der aus dem Irak bis dato ein gescheitertes Staatssystem hat werden lassen. Am Ende könnten zwei oder drei Staaten entstehen, wenn nicht der Kampf um die Ölförderplätze für alle Gruppen ein strategisches Wirtschaftsziel darstellen würde. Failed States sind oft auch gekennzeichnet durch archaische Kulturvorstellungen, die eine Ausrichtung an westlichen Zivilisationsstandards unterlaufen. Rituelle Praktiken, Clansysteme und mystische Deutungen von Schamanen erzeugen ein Realitätsbild von menschlicher Existenz, in dem die europäisch-westliche Vorstellung vom Staate viel zu abstrakt wirkt, als dass sie lebensbezogen praktiziert werden könnte. Wenn in bestimmten Staaten über Jahrzehnte hinweg (wie in Haiti) immer wieder Diktaturen zustande kommen, dann weist dies auf eine recht unterentwickelte Form von Gesellschaft hin. Das Paradigma hierfür ist Somalia, ein Land, in dem gleich alle drei genannten Faktoren eine Synthese darstellen (vgl. auch Harper 2012). Entscheidend ist hier darüber hinaus, wie bei so vielen Failed States, dass ein staatliches Gewaltmonopol nachhaltig zum Erliegen gekommen ist. Ohne eine starke Zentralmacht, ohne eine Regierung, die ihre Anordnungen auch physisch durchsetzen kann, lässt sich Staatlichkeit nicht herstellen. Wenn Polizei und Militär nicht vorhanden oder zu schwach strukturiert sind, um sich gegen konkurrierende Milizen, Mafiabanden, Terrorgruppen etc. durchsetzen zu können, dann kommt eine geregelte Ordnung des Staates nicht zustande (vgl. auch Trotha 1995, Nitschke 2004). Der Staat wird dann sukzessive fragil – am Ende droht das Scheitern als Ganzes. Im dynamischen Prozess, in dem sich die Staatenwelt im Rahmen der Globalisierung wandelt (vgl. Kapitel XII), wird die Bestimmung der Kriterien für eine Vergleichende Staatslehre immer schwieriger, zugleich aber auch immer wichtiger. Die schematischen Zuordnungen aus der Ära des Ost-WestKonflikts sind längst vorbei. Was jetzt zählt, sind plurale Interpretationsweisen für die Staatenwelt der Gegenwart (vgl. auch Riemer/Simon/Romance 2011). Was die Demokratie betrifft, so wird diese Verfassungsform zukünftig nicht einfach uneingeschränkt als Referenzpunkt für die Entwicklung von Staaten in der Welt herangezogen werden können.

Die Archaik kultureller Systeme

Erosion des staatlichen Gewaltmonopols

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XII. Globalisierung

Globalisierung als neue Thematik

Relation zu anderen Disziplinen

Phänomene der Globalisierung

Noch bis in die 1990er-Jahre hinein war die Globalisierung kein spezifisches Thema in der Politikwissenschaft. Allenfalls im Rahmen von IB-Analysen hat man sich mit Effekten beschäftigt, die unter Wirtschaftsgesichtspunkten eine Rolle spielen. Der Vorgang selbst, das Phänomen der Globalisierung, ist jedoch recht spät erst in das Bewusstsein politikwissenschaftlicher Analysen gerückt. Als eigenständige Untersuchungssphäre dominiert die Globalisierung mittlerweile in der amerikanischen Politikwissenschaft, während in Deutschland Studien dazu nach wie vor eher spärlich vertreten sind (vgl. Zolo 2007, Scherrer/Kunze 2011). Das liegt vor allem darin begründet, dass die Phänomene, die man der Globalisierung zuschreibt, recht widersprüchlich sind und je nach Politikfeld bzw. nach Theorie und Untersuchungsmethode in ganz verschiedene Richtungen zu weisen scheinen. Allerdings ist auch dies eine Frage der Definition – oder mehr noch: der theoretischen Perspektive, mit der man sich den diversen Phänomenen nähert (vgl. auch Teusch 2004). Eine rein politikwissenschaftliche Theoriebildung reicht hierfür nicht aus, schon gar nicht nur eine aus dem Schulgebäude der IB. Wichtiger sind für das Verstehen der Globalisierung spezifische Bereichstheorien aus den Disziplinen der Ökonomie, der philosophischen Anthropologie, der Geschichtsphilosophie, der Religionssoziologie und der Ethnologie. Globalisierung lässt sich nur angemessen verstehen, wenn man die weltumspannenden Datenketten als sozial- wie kulturwissenschaftliche Fragestellung gleichermaßen behandelt. Die politikwissenschaftliche Perspektive ist hier also nur eine unter mehreren anderen. An Thesen und Theorien zur Globalisierung mangelt es nicht, jedoch sind viele Darstellungen zum Thema letztlich nur auf bestimmte Politikfelder hin ausgerichtet, die dann mitunter recht einseitig untersucht und bilanziert werden, ohne ihre Vernetzung zu den anderen Themenfeldern zu berücksichtigen. Jenseits der reinen Datenreihen, die hier zur Bewertung anstehen (vgl. Le Monde diplomatique 2009, Stiftung Entwicklung und Frieden 2009), ist es somit eine Frage der Einordnung zu den jeweiligen Thesen, die darüber entscheidet, was von der Globalisierung überhaupt wahrgenommen wird – und vor allem wie. Seitdem die Debatte über globale Aspekte in der Zusammensetzung von Politikfeldern, Wirtschaftsabläufen, staatlichem Handeln, den kulturellen Kodierungen von Gesellschaften und nicht zuletzt den allgemeinen Bedrohungslagen, denen sich die Menschheit als Ganzes ausgesetzt sieht, in den letzten 20 Jahren international zugenommen hat, haben sich einige Thesen als grundlegend für die Bewertung der Globalisierung erwiesen (vgl. auch Nitschke 2012). Globalisierung ist demnach gekennzeichnet durch: a) Verflechtung der nationalen Ökonomien b) Neue Kommunikationstechnologien c) Vermassung des Bildungswesens d) Wachstum in den Schwellenländern.

XII. Globalisierung

Klassischerweise ist die Nationalökonomie sowohl von der Theorie als auch von der Orientierung auf die Praxis des wirtschaftlichen Verhaltens der Nation ausgerichtet gewesen. Ab den 1970er-Jahren begann sich dies zu verändern, als man merkte, dass wesentliche Gewinneffekte nicht einfach mehr unter der Rubrik Außenhandelsbeziehungen eines Staates zu verorten waren, sondern durch komplexere Strukturen zustande kamen. Nicht zuletzt die Europäische Integration verdankt sich dieser Logik und ist insofern Teil eines weltumspannenden Prozesses in der Verdichtung und Zusammenführung von Produktionsprozessen und deren vernetzter Anbieterstruktur auf dem Markt (vgl. auch Kapitel X). Gewinne werden erzielt, indem Staaten und ihre Wirtschaftssysteme zusammenrücken, gemeinsame Absatzmärkte definieren und zollpolitisch einhegen. Es wird weltweit exportiert, was wiederum dazu führt, dass globale Handelsstrukturen und Transportwege geschaffen werden. Einher geht dieser Prozess der Verflechtung mit dem Aufbau neuer Kommunikationstechnologien. Hierbei ist das Internet nur die neueste technische Variante in einem Datentransferprozess, der die Produktion und die Warenströme zwischen den Kontinenten seit mehr als 100 Jahren mit immer neuen technischen Errungenschaften begleitet. Bereits die Verlegung von Kabeln für die Telegrafenübertragung in den Tiefen des Atlantiks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die Revolution in der weltumspannenden Kommunikation eingeleitet. Wo in früheren Jahrhunderten Schiffe oft Wochen und Monate benötigten, um Informationen von einem Kontinent zum anderen zu übermitteln, ist der Datenaustausch mit der Erfindung von Telefon, Sattelitenübertragung und Internet nunmehr nur noch eine Frage von Sekunden. Erstmalig in der Geschichte der Menschheit kann zwischen ganz verschiedenen Raum- und Zeitzonen in Echtzeit kommuniziert werden – und zwar weltweit (vgl. auch Kiepas/Zydek-Bednarczuk 2006). Allerdings ist diese weltweite Kommunikation nicht für jedermann möglich. Die Nutzung des World-Wide-Web ist nach wie vor eine Frage des Geldes, nicht nur der ökonomischen Organisation der Netzanschlüsse nach, sondern vor allem auch hinsichtlich der technischen Ressourcen bis hin zur scheinbar banalen Frage, wer auf welche Weise überhaupt Strom bekommt. Nach wie vor (und auf absehbare Zeit) haben Milliarden von Menschen keine Nutzungsmöglichkeiten, weil ihnen schlicht und einfach die Infrastrukturen und die Ressourcen dazu fehlen. Die digitale Kluft (digital divide) trennt die Menschen zwischen den Kontinenten ebenso, wie sie mit dem Internet zusammengeführt werden (vgl. auch Wittmann 2006). Bis dato ist die weltweite Netzkommunikation vorrangig eine amerikanisch-europäische Veranstaltung. Die Masse der Menschheit, also Menschen, die von nur zwei Dollar am Tag leben müssen, wird damit nicht erreicht. Dennoch wächst die Zahl derjenigen, die sich die neuen Kommunikationsmöglichkeiten leisten können, jährlich in rasanter Weise. Hier entsteht vor allem unter jungen Menschen eine Art neue globale Daseins-Perspektive, was auch zu Entfremdungen führen kann: Es zählt nicht mehr die Politik vor Ort, etwa in der eigenen Kommune oder im Staat, sondern die politische Konstellation im fernen Afrika oder in Lateinamerika. Eine Perspektivunterscheidung zwischen fern und nah existiert nicht mehr. Das hängt auch zusammen mit der Vermassung des Bildungswesens im Zeitalter der Globalisierung. Alle Nationalstaaten haben in der Aufwertung ihrer jeweils nationalen

Die internationale Verflechtung nationaler Ökonomien

Innovationen in der Kommunikationstechnologie

Digital divide

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XII. Globalisierung

Weltweiter Bildungswettbewerb

Schwellenländer als Gewinner der Globalisierung

Ökonomische Faktoren

Gesteigerte Effizienz

Bildungsstandards im Verlauf des 20. Jahrhunderts eindeutige Erfolge erzielt, in der Summe macht sich dies auch für die globale Konstellation bemerkbar. Studieren lässt sich auch an anderen Orten auf der Welt, nicht nur im eigenen nationalen System. China schickt seine Studenten in alle Länder dieser Welt, Know-how und innovative Leistungen werden transnational austauschbar. In den technischen Wissenschaften spielt es immer weniger eine Rolle, wo die Ausbildung erfolgt ist, entscheidender ist, wo die Expertise, das Fachwissen gebraucht wird. Insofern ist der Austausch des brain drain, der leistungsorientierten Kopfarbeiter, ein typischer Effekt der Globalisierung. Die Staaten befinden sich hier in einem Konkurrenzwettbewerb um die weltweit besten Köpfe. Kein Staat, der es sich leisten könnte, hier nicht mit zu bieten und die entsprechenden attraktiven Bildungsstrukturen bereit zu stellen. Es sind vor allem die Schwellenländer, die hiervon profitieren. Sie sind die Gewinner der Globalisierung, denn in Ländern wie China, Indien, Brasilien oder Südkorea wird jährlich ein Wachstum in zweistelliger Höhe erzielt (vgl. auch Steingart 2006). Die Schwellenländer profitieren von der globalen Vernetzung der Handels- und Produktionswege, weil sie nach wie vor mit relativ niedrigen Arbeitskosten die Konsumgüter für die westliche Welt in großen Stückzahlen produzieren und exportieren können, zugleich damit aber auch die Nachfrage im eigenen Land ankurbeln und stärken. Selbst Entwicklungsländer verzeichnen einen signifikanten Anstieg von Wohlstand für ihre Gesellschaften, wenn sie bestimmte Ressourcen haben, die auf dem Weltmarkt begehrt sind oder aber, wie im Falle Panamas, einen Knotenverkehrspunkt für die Weltschifffahrt darstellen. Von den sieben Staaten Mittelamerikas ist Panama mit Abstand das reichste Land in der Region (vgl. auch Müller 2012). Die Globalisierung ist also insgesamt ein Vorgang, der gar nicht so negativ wirkt, wie dies mitunter in den Medien der Ersten Welt dargestellt wird. Die Globalisierungsgewinner sitzen nicht nur in den vernetzten Zentren multinationaler Konzerne, sondern es sind dies eben auch einfach Menschen in Ländern, die bis dato nicht zur Avantgarde der Weltentwicklung gehörten (vgl. auch Friedman 1999, Straubhaar 2009). Weltweit ist der Lebensstandard durch Globalisierung gestiegen, hat sich das Leben selbst der Ärmsten, deren Zahl in die Milliarden geht, nicht verschlechtert, sondern ist über die letzten 20–30 Jahre hinweg in einen Prozess der verbesserten Lebenschancen eingetreten. Allerdings sind die Unterschiede zwischen Reich und Arm immer noch gewaltig und haben sich z. T. (je nach Region) sogar verstärkt. Die Globalisierung ist insofern ein vielschichtiger und ambivalenter Prozess. Rein ökonomisch betrachtet lassen sich hierzu bestimmte Thesen ebenfalls zuspitzen. Demzufolge basiert die Globalisierung auf: a) Effizienz b) Geldgewinn c) Berechenbarkeit der Produkte d) Freisetzung von Arbeitskräften. Effizient ist der Handel im Rahmen der Globalisierung, weil eine weltweite Konkurrenzsituation in den Produktionsprozessen erzeugt wird, die tendenziell dazu führt, dass nur jeweils die besten oder besseren Produkte am Markt überleben. Das gilt natürlich nicht für alle Güter, aber für zentrale Konsum-

XII. Globalisierung

güter (wie etwa Autos oder Computertechnologie) ist dies mittlerweile eine ganz normale Angebots- und Nachfragesituation. Das führt tendenziell zu preiswerteren Produkten und einer Vermassung in der Nachfrage, weil diese nunmehr in einem weltweiten Format jenseits eines einzelnen Nationalstaats auftritt. Sofern allerdings Güter aufgrund der weltweit angestiegenen Nachfrage knapp werden, wie z.B. mehrfach bei Nahrungsmitteln zu beobachten, verschärft sich dadurch die Situation. Verteuerungen am Weltmarkt führen zu Hungerkrisen in manchen Ländern, mitunter auch zu revolutionären Stimmungslagen (vgl. Dierig 2011). Die Gewinne sind in jedem Fall exorbitant. Und sie sind nicht wie in vorindustriellen Zeiten zu verbuchen in Ländereien und Immobilien, sondern in Geldwert. Die Globalisierung hat ein System weltweiter Finanztransaktionen geschaffen, bei denen täglich Summen, die in ein Volumen von Billionen Dollar gehen, zwischen Banken, Versicherungen rund um den Globus zirkulieren. Das hat dazu geführt, dass die reale, d.h. physische Arbeitskraft weniger wertvoll geworden ist als die Anlage und Organisation von Kapitaleinlagen. Das internationale Aktien- und Kreditgeschäft ist der Motor der Globalisierung, allerdings damit auch die Achillesferse, wie die weltweite Finanzkrise 2007/08 dokumentiert hat. Da finanztechnisch in einem globalen Kapitalmarkt alles mit allem zusammenhängt, sind auch alle Banken in allen Ländern von einer nationalen Kapitalflucht, der Pleite einer wichtigen Bank, den Liquiditätsproblemen eines Staates, der keine Kredite mehr zu günstigen Konditionen bekommt, betroffen – je nachdem, wie stark man in dem konkreten Fall mit Bürgschaften und Krediten involviert war. Die Globalisierung bedingt somit eine systemische Abhängigkeit von Strukturen zwischen den einzelnen Nationalstaaten und ihren Gesellschaften, wie es sie zuvor noch nicht gegeben hat. Zwar ist der Vorgang der Globalisierung an sich nicht so neu, wie viele Zeitgenossen meinen, denn schließlich gab es Effekte dieser Art bereits seit den kolonialen Eroberungen der europäischen Mächte in Übersee (vgl. auch Osterhammel/Petersson 2003). Neu ist jedoch die Dynamik, mit der dieser Prozess geschieht und die immer mehr Beschleunigungseffekte beinhaltet. Das schafft enormen Druck, vor allem auf die bis dato nationalen Märkte. Für die Verbraucher ist dies meist ein Vorteil, werden hierdurch doch die Produkte insgesamt berechenbarer im Sinne einer Rationalität des Preisvergleichs und der Qualitätsstandards. Wer in eine McDonalds-Filiale geht, egal ob in Los Angeles, Hamburg oder in Tokio, bekommt in etwa das gleiche Angebot, auch wenn regionale, kulturell vorgegebene Varianten vorkommen können. Diese McDonaldisierung führt zu einem weltumspannenden System. Produkte werden international vergleichbar. Damit wird auch die Kontrolle über die Produkte gesteigert. Nicht mehr der Konsument vor Ort, in einer Region oder in einer Stadt (wie beim Einkauf in der Bäckerei) entscheidet über das Produkt, sondern der weltweite Absatz und die daraus resultierende Akzeptanz und Attraktivität. Das beinhaltet eine Standardisierung jenseits nationaler Normen und Verhaltensweisen. Einher mit dieser Entwicklung geht jedoch auch eine massive Freisetzung von Arbeitskräften. Nicht mehr die Nachfrage auf dem nationalen Arbeitsmarkt entscheidet allein darüber, wie begehrt Arbeitskräfte sind (oder wie unwichtig), sondern die zeitgleiche Konkurrenz aller Arbeitskräfte in dem jeweiligen Marktsegment.

Das WeltFinanzsystem

Die Vereinheitlichung von Gütern und Arbeitskräften

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XII. Globalisierung Globale Konkurrenz auf bestimmten Arbeitsmärkten

Politische Indikatoren der Globalisierung

Global Player USA

Die Demokratisierung der Welt

Hierbei befinden sich besonders die Arbeitsmärkte in den hoch-industrialisierten Ländern der Ersten Welt unter massivem Anpassungsdruck durch die globale Konkurrenz. Simple Arbeitstätigkeiten, die am Fließband getätigt werden, bei denen man keine große Ausbildung voraussetzen muss, werden entweder wegrationalisiert durch technische Innovationen oder ausgelagert in Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen der Arbeitslohn deutlich niedriger ausfällt (vgl. u.a. Berger 2000). Das gilt z.T. selbst für gut qualifizierte technische Berufe: Informatiker können dank Internet long distance services rund um die Welt leisten, unabhängig davon, wo physisch ihr Standort ist (vgl. auch Stegbauer 2008). Jenseits dieser rein ökonomischen Interpretationen zur Globalisierung gibt es natürlich auch spezifisch politische Deutungen. Sie überlagern bzw. ergänzen die ökonomischen Thesen. Demzufolge beinhaltet die Globalisierung auch eine: 1. Amerikanisierung 2. Demokratisierung 3. Umverteilung 4. Asiatisierung 5. Entgrenzung. Der Vorsprung der USA gegenüber den übrigen Staaten war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs enorm. Um 1950 herum hatten die USA eine dominierende Rolle in der Weltwirtschaft. Ihr Marktanteil lag bei etwa 50 Prozent. Diese ökonomische Dominanz ging einher mit einer militärischen als Weltmacht Nr. 1, die trotz aller Abschwächungen bis heute anhält. Auch wenn die USA nicht mehr in der Lage sind, mehr als zwei Kriege gleichzeitig an verschiedenen Fronten dieser Welt zu führen, sind sie doch nach wie vor der einzige global player auf dem militärischen Sektor. Keine andere Macht dieser Welt ist in der Lage, technologisch, logistisch und ökonomisch die militärischen Infrastrukturen in einem weltumspannenden System bereit zu stellen und auch innovativ zu modifizieren, wie dies die USA praktizieren. Allerdings hat dies auch seinen Preis: Die enormen Kosten, die allein die Kriegsführung im Irak und in Afghanistan im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verursacht haben, tragen u.a. zu einer massiven Verschuldung der USA bei, die nur deshalb bis dato keine Systemkrise für das Land hervorgerufen hat, weil der Rest der Welt den USA bereitwillig Kredite gibt. Dennoch ist unverkennbar, dass die Rolle als erste Weltmacht und Weltpolizist im 21. Jahrhundert in dieser Weise von den USA nicht weiter übernommen werden kann (vgl. auch Falke 2011). Doch die Einflüsse bleiben und sie bleiben vor allem in den Bereichen von soft politics, den weicheren Formen der politischen Kultur. Noch immer wird das internationale Musikgeschäft aus den USA dominiert. Ebenso bestimmt die Filmindustrie von Hollywood die Trends und dank des Vorsprungs in der Internetnutzung ist der Einfluss auf die weltweiten Kommunikationsstrukturen in den Medien und ihrer Resonanz enorm. Ein anderer politischer Deutungsfaktor für den Prozess der Globalisierung ist hingegen umstritten, weil auch dieser Indikator lange Zeit recht einseitig von der Außenpolitik der USA abhängig gemacht worden ist. Die Interpretation der Globalisierung als einen Prozess permanenter Demokratisierung

XII. Globalisierung

mag eine recht idealistische Beschreibung sein, die bis zu den Ereignissen des Arabischen Frühlings 2011 reicht und sicherlich keineswegs als abgeschlossen bezeichnet werden kann. Die Vorstellung, dass mit dem Ende des Ost-West-Konflikts auch ein Ende der Geschichte der Gegensätze erreicht worden sei, war zeitweilig sehr populär (vgl. Fukuyama 1992), ist aber spätestens nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Erkenntnis gewichen, dass Demokratie nicht einfach so voranschreitet, sondern im Konfliktfall sogar mit den äußersten Mitteln, nämlich Militäreinsatz, behauptet werden muss. Besonders die Bush-Administration hat sich mit dieser Interpretation in den Irak- und in den Afghanistan-Krieg hineinbegeben. Demzufolge muss die Demokratisierung von demokratiefeindlichen Regimen auch mit militärischen Mitteln erzwungen werden (vgl. auch Keller 2008). Eine solche Einschätzung überzeugt nicht jeden, obwohl unbestritten ist, dass Staaten wie Deutschland und Japan im Kontext des Zweiten Weltkriegs eben nicht freiwillig zu mittlerweile gut funktionierenden Demokratien wurden. Ob also die Globalisierung mit mehr Demokratisierung der Welt gleichzusetzen ist, bleibt für den weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts abzuwarten. Was auf jeden Fall bereits feststeht, ist der Befund, dass die Angleichungsprozesse, die global stattfinden, zu einer massiven Umverteilung von Gütern und Wohlstand in den Gesellschaften führen. Während breite Gesellschaftsschichten in den Schwellenländern von der Globalisierung profitieren und zu mehr Wohlstand gelangen, werden die Länder der Ersten Welt in ihren sozialen Standards signifikant herausgefordert. Die hohen sozialstaatlichen Leistungen lassen sich hier immer weniger aufrechterhalten, die Einkommensstandards sinken, das Wohlstandsgefälle in den Ländern des Westens wird größer und das Wachstum immer geringer (vgl. auch Frymer 2010). Aufstrebende Wirtschaftsnationen wie die Gruppe der sogenannten BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) weisen hingegen eine hohe Dynamik nicht nur beim Wirtschaftswachstum, sondern auch in der Verbesserung der Lebenschancen ihrer Bürger auf – auch wenn sich, wie im Falle von Indien oder China, vieles noch im Dritte-Welt-Standard bewegt (vgl. auch Sharma 2009). Die Globalisierung zeigt die Veränderung der Welt an (vgl. auch Shefner/ Fernandez-Kelly 2011): Was Mitte des 20. Jahrhunderts als Amerikanisierung begonnen hatte, ist spätestens im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einer Asiatisierung gewichen. China ist der neue Exportweltmeister. Zusammen mit Indien verfügt das Riesenland nicht nur über die größte Population der Welt, sondern ist ebenso durch große Veränderungsprozesse in der Sozialstruktur seiner Gesellschaft gekennzeichnet. Was in China oder in Indien die neue Mittelschicht von mehreren hundert Millionen Menschen konsumiert, das bestimmt die Nachfrage am Weltmarkt. Zusammen mit dem gemeinsamen Binnenmarkt der EU avanciert der chinesische Markt zum entscheidenden Barometer für den globalen Handel (vgl. auch Gehler/Gu/Schimmelpfennig 2012). USA, EU, China, Indien, das sind die Zentren für das international fließende Kapital. Mit der globalen Vernetzung der Finanzströme und Kommunikationsforen geht eine schleichende Entgrenzung der staatlichen Einflusssphäre einher. Die Entgrenzung ist sowohl räumlich, d.h. physisch zu sehen wie besonders auch inhaltlich in Bezug auf die Entscheidungsfähigkeit in den einzelnen Po-

Umverteilung des Wohlstands

Asiatisierung

Die Entgrenzung nationaler Entscheidung

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XII. Globalisierung

Das Ende nationaler Souveränität

Aufhebung der Differenz von Innenund Außenpolitik

litikfeldern. Der Nationalstaat kann nicht mehr allein entscheiden: Im Rahmen der globalen Vernetzung der Staatenwelt mit ihren supra- und internationalen Regimen wird die Dezision den nationalen Regierungen sukzessive aus der Hand genommen. Entscheidungen sind oft keine wirklichen Entscheidungen mehr, sondern nur noch symbolische Bekenntnisse, die man öffentlich für das eigene nationale Publikum macht, während bereits an anderer Stelle (ohne die Souveränität des Volkes in Anspruch zu nehmen) entschieden worden ist. Entgrenzt wird mit der Entscheidung aber oft auch die Reichweite der Entscheidung: Was für eine Agenda eine Regierung in Athen in ihrer nationalen Sozialpolitik betreibt, das interessiert die übrigen Regierungen in der EU mittlerweile unmittelbar. Aufgrund der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion gibt es Einmischungen allenthalben. Wirklich souverän ist hier kein nationalstaatlicher Akteur mehr. Selbst die USA müssen auf die Regierung in Peking Rücksicht nehmen, verfügt doch die chinesische Nationalbank über die größten Depotbestände an der Dollarwährung. Umgekehrt kann auch China als größter Gläubiger des Dollars nicht einfach die Finanzpolitik der USA ignorieren. Die Entgrenzung der nationalen Entscheidungskompetenz führt demnach zu wechselseitiger Abhängigkeit, bilateral oder multilateral, je nach Politikfeld und institutionellem Organisationshintergrund. Die Entgrenzung resultiert vor allem auch durch das neue, ganz individuelle Nutzungsverhalten in Bezug auf Politik, welches die modernen Kommunikationsmedien ermöglichen. Nicht mehr der raumbezogene Massenprotest bei einer Demonstration auf der Straße ist allein entscheidend, sondern ebenso die globale (veröffentlichte) Aufmerksamkeit und Resonanz, die hierbei erzielt wird. Jede Kampagne von Amnesty International oder Greenpeace lebt von der weltweit erzeugten medialen Aufmerksamkeit. Mittlerweile kann aber auch ein einzelner Blogger mit einer originellen Nachricht ein großes Echo in der Welt erzeugen, was wiederum faktisch politische Handlungen nach sich zieht. Die Entgrenzung findet ebenso bei der Delegitimierung der staatlichen Autorität statt, womit dem klassischen Völkerrecht der Boden unter den Füssen weg gezogen wird. Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates lässt sich in der Globalisierung nicht mehr aufrechterhalten (vgl. auch Kapitel IX). Warum sollte dieses Prinzip auch weiterhin gültig sein? In der Vergangenheit diente es ohnehin nur Diktatoren als Vorwand für eine Lizenz zum Töten und Massakrieren nicht genehmer Minderheiten im eigenen Land. Die neuen Erscheinungs- und Handlungsformen der global vernetzten Politik führen hingegen zu einer wechselseitigen Durchdringung der Staaten selbst bei ihren innersten Angelegenheiten. Eine Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik lässt sich immer weniger definitorisch exakt behaupten. Wenn der internationale Terrorismus überall auftreten kann (vgl. auch Nitschke 2008), kein Land auf der Welt sicher ist vor terroristischen Attentaten, dann greift die Sicherheitslogik des Nationalstaats präventiv erst bei einer globalen Einsatz-Perspektive. Der erfolgreiche Zugriff einer amerikanischen Spezialeinheit in einer pakistanischen Stadt auf Osama bin Laden und dessen Liquidierung (2011) folgten ebenso dem Konzept der Entgrenzung.

XII. Globalisierung

Entscheidungen über Leben und Tod werden dann selbst auf dem Territorium anderer Staaten (und ohne deren Autorisierung) getroffen und ausgeführt. Die Globalisierung verändert also die Welt dramatisch: Dynamik und Differenzen in diesem komplexen Prozess betreffen jeden Menschen auf der Welt, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise (vgl. auch Giddens 2001). Man kann diesen heterogenen Prozess als einen Vorgang der kreativen Zerstörung verstehen, wie Friedman (1999) dies vorgeschlagen hat. Hierbei werden die Traditionen in den nationalen Gesellschaften von den Innovationen überspielt. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieses ambivalenten Vorgangs werden je nach Nationalstaat und dessen Standort in der Weltwirtschaft unterschiedlich ausfallen, betroffen davon sind letztlich jedoch alle Systeme. Irritierend ist sicherlich für viele Zeitgenossen die Heterogenität, mit der dieser Prozess abläuft. Die Vielzahl gegensätzlicher Effekte schafft Verwirrung und Unsicherheit, vor allem, wenn es den Sozialstaat in seinem Leistungsversprechen gegenüber den Bürgern betrifft. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichen führt im Verhalten der Gesellschaften zu ambivalenten Reaktionen auf die Globalisierung (vgl. Nitschke 2012: 23 ff.). Diese reichen von a) emphatischer Befürwortung des Wechsels im Sinne einer Progression über b) die Versicherung der Konstanz des je eigenen Staates im Sinne der Nachhaltigkeit seiner Leistungen bis hin zu c) strikter Verweigerung (Blockade) gegenüber den Veränderungen und Innovationen, die mit der Globalisierung einergehen.

Globalisierung als kreativer Zerstörungsprozess

Wandel und StatusQuo-Ansprüche gleichzeitig

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XIII. Klimapolitik

Klimawandel als globale Herausforderung für die Menschheit

Ökosystem Erde in der Verantwortung des Menschen

Das Klima ist ein Faktor, dem sich kein Mensch auf der Welt entziehen kann. Naturkatastrophen wie Erbeben, Überschwemmungen, Tsunamis oder Hurrikans führen zu Verwüstungen, die neben den Schäden in Milliardenhöhe oft Tausenden von Menschen das Leben kosten. Weitaus gefährlicher aber noch als diese dramatischen Ereignisse ist die strukturelle Dimension des Klimas, das in der neueren Debatte unter dem Begriff Klimawandel zu einem wichtigen Thema der internationalen Politik geworden ist. Klimapolitik ist insofern mehr als nur Umweltpolitik. Während sich der Begriff Umweltpolitik auf die Handlungsweisen in einem regionalen bis nationalen Politikfeld bezieht, geht das Verständnis für Klimapolitik weit darüber hinaus. Selbstverständlich ist auch Umweltpolitik auf internationale Dimensionen bezogen (vgl. auch Aden 2011), doch eine erdumspannende, globale Perspektive wird erst unter dem Ansatz von Klimapolitik ermöglicht, was jedoch nicht ausschließt, dass es sich hierbei sektoral auch um regionale bzw. kontinentale Effekte handeln kann, die mit klimapolitischen Zielen angesprochen werden. Umwelt- und Klimapolitik gehen also ineinander über, ergänzen sich sektoral, wobei die diagnostische Funktion bei der Klimapolitik in der Endkonsequenz immer eine globale Perspektive einnimmt. Das macht Klimapolitik zu einer Angelegenheit für die gesamte Menschheit. Der Mensch steht hierbei nicht mehr (einfach) als Individuum, als Bürger eines Nationalstaats im Fokus, sondern als Gattungswesen, als Gattung selbst. Insofern sind auch die Handlungsweisen, die der Mensch als Gattungswesen auf der Erde ausführt, für die Klimafrage nicht beliebig. Zwar ist der Einzelne unerheblich, aber in der Summe der menschlichen Handlungen auf dieser Welt wird daraus nicht nur für die Statistik, sondern auch für die Umwelt ein Phänomen, das in seinen Auswirkungen, was a) den Verbrauch natürlicher Ressourcen dieser Welt angeht, b) die Qualität und Dimensionen der Emissionen, die der Mensch aufgrund seiner ökonomischen Prozesse produziert, enorme Folgeprobleme mit sich bringt. Das Bewusstsein darüber, was die menschliche Existenz als Gattung auf der Erde produziert, konkret also, welche Spuren die Menschheit durch ihr Handeln in der Natur hinterlässt und was dies wiederum für das ökologische System der Erde in der Summe bedeutet, ist erst relativ spät kritisch aufgenommen und mit Aufmerksamkeit verfolgt worden. Erst in den 1950er-Jahren fangen manche Naturwissenschaftler, wie Ozeanographen und Geophysiker, an, die Bedingungen der menschlichen Existenz selbst als das Grundproblem für die weitere Existenz auf dieser Erde zu thematisieren. Die umweltpolitischen Debatten, die sich vor allem ab den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts forciert ergeben, rücken auch die Gesamtverantwortung für das Ökosystem Erde in den Mittelpunkt des Interesses. Allerdings ist dies zunächst eine Frage, die eher nur Wissenschaftler und einige engagierte umweltpolitische Gruppen bewegt. Zu einer systematischen Frage für die staatliche Politik –

XIII. Klimapolitik

und gar für die internationale Ebene – wird Umwelt bzw. das Klima erst, als man feststellt, dass bestimmte klimatische Veränderungen mit großer Wahrscheinlichkeit menschengemacht sind. Die Geburtsstunde der Klimapolitik ist die Aussage, dass die Temperaturerwärmung der Erde nicht einfach zufällig sei oder einer zyklischen Verlaufsform von Schwankungen in der Geschichte der Erde entspricht, sondern sich vielmehr durch das konkrete Handeln des Menschen in seiner industriellen Produktion und den damit verbundenen massiven Konsummöglichkeiten ergibt. Der Mensch, nunmehr nicht einfach nur als ökonomisches Lebewesen, sondern als ökologisches Handlungssystem verstanden, produziert mit seiner Bedarfsstruktur bzw. Nachfrage Effekte, die sich in der Menge, zugleich auch bei rasanter Steigerung in der weltweiten Population (vgl. auch Kapitel XIV), verheerend auswirken für das Klima der Erde. Die Belastungen für das Ökosystem nehmen signifikant zu und haben je nach Region oder Kontinent z. T. dramatische Auswirkungen: a) bei den Kohlendioxidemissionen b) bei den Siedlungsabfällen c) beim Einsatz von Primärenergie. Kohlendioxid (CO2) ist unter den Gasen, die in die Umwelt emittiert werden, die gefährlichste Substanz. Neben Methan wird vor allem das CO2 für die Erwärmung der Erde verantwortlich gemacht. Natürlicherweise kommt CO2 in der Schutzhülle der Erde, der Stratosphäre, in Verbindung mit Wasserdampf (H2O) und Ozon vor. Um in der Atmosphäre stabil zu bleiben, bedarf es einer bestimmten Konzentration an CO2. Bei steigenden Emissionen wird genau hieraus das Problem: Je höher die Konzentration an CO2 in der Stratosphäre ausfällt, desto mehr erhöht sich die Wärme auf der Erde. In Verbindung mit weiteren Treibhausgasen wie den Emissionen von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) wird die Ozonschicht, die um die Erde herum besteht, massiv angegriffen. Indem die Treibhausgase die Ozonschicht sukzessive ersetzen, blockieren sie mehr Wärme bei der möglichen Remission ins All. Das führt zum sogenannten Treibhauseffekt, der Rückkoppelung von Wärme auf die Erde (vgl. Altmann 1997: 13 ff.). Beim Treibhauseffekt und dem erstmals 1985 diagnostizierten Ozonloch über dem Südpol wurde die Frage der Klimapolitik zu einem öffentlichen Thema – und zwar weltweit. Da die Ozonschicht das natürliche Leben auf der Erde vor allzu starker Sonneneinstrahlung schützt, hielt man seinerzeit das Auftreten des Ozonlochs für ein dramatisches Anzeichen der Krise des Erdklimas. Tatsächlich aber sind nicht nur die FCKW-Stoffe das Problem, sondern mehr noch die weitaus größeren Emissionsmengen an CO2 und Methan. In der Natur existieren zwar auch ohne Zutun des Menschen CO2-Senken in den Ozeanen und in den Wäldern, jedoch bleiben diese seit der Industrialisierung durch das massive Abholzen der Regenwälder nicht mehr konstant. Durch die verstärkte Emission von CO2 in die Stratosphäre ist der Treibhauseffekt sogar in doppelter Hinsicht feststellbar: 1. durch die höhere Rückkoppelung von Wärme zurück auf die Erde 2. verdunstet aufgrund der damit erhöhten wärmeren Temperatur zugleich mehr Wasser in den Ozeanen, was wiederum zu mehr CO2-Emissionen in die Stratosphäre führt.

Die ökologischen Auswirkungen der menschlichen Ökonomie

Der Treibhauseffekt

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XIII. Klimapolitik Siedlungsabfälle verschmutzen das Ökosystem

Primärenergie

Die Folgen der Erderwärmung

Neben der Emissionsproblematik sind es vor allem die Siedlungsabfälle, die das Leben der Menschen auf dem Blauen Planeten in steigendem Maße belasten. Im Grunde kannte jede Epoche in der Geschichte der Menschheit diese Problematik: Mittelalterliche Städte versanken z. T. in dem Kot, der einfach auf die Straßen gekippt wurde. Seuchengefahren (wie etwa die Pest) waren vor allem auch auf die mangelnde Hygiene im Umgang mit den menschlichen und tierischen Exkrementen zurückzuführen. Mit der Industrialisierung hat sich diese sorglose Einstellung im Hinblick auf die Umwelt noch verstärkt. Abfallprodukte wegzukippen, in den Weiten der Natur den Müll einfach liegen zu lassen, ist bis heute eine alltägliche Praxis, besonders in Ländern der Dritten Welt. Je mehr Menschen auf der Erde leben, desto größer sind die Belastungen, die aus dem sorglosen Umgang mit den Abfällen resultieren. Ökologie stellt eigentlich keinen Gegensatz zur Ökonomie dar. Jahrtausende lang konnte sich der Mensch in seinen jeweiligen Zivilisationen nur halten und entwickeln, wenn ein Gleichklang zwischen Natur und menschlicher Ökonomie gewahrt blieb. Wann und wo immer massiv die natürlichen Ressourcen konsumiert, d.h. vernichtet wurden, waren die ökologischen Effekte, die hieraus resultierten, für den Menschen dramatisch. Das Abholzen der Baumbestände auf den Inseln der Mittelmeerwelt für die antike Schifffahrt hat verödete und verkarstete Böden hinterlassen, welche diese Inseln bis heute kennzeichnen. Sie sind in dem uns bekannten Zustand, den die Touristen als so natürlich empfinden, jedoch kein natürliches Produkt, sondern Ergebnis eines schonungslosen Raubbaus. Holz als primäre Energie kann jedoch nachwachsen, bei entsprechender Kultivierung (durch den Menschen) sogar konstant bleiben. Das gilt für viele Primärenergiegüter nicht. Kohle und Öl, die Millionen von Jahre benötigten, um zu ihrer heutigen Substanzform zu gelangen, werden bei Verbrennung einmalig als Energieträger eingesetzt – und vernichtet. Die Zerstörung der Primärenergie setzt in großem Ausmaß mit der Industrialisierung ein und hält seitdem mit immer neuen Ausweitungen an. Der Fortschritt der Menschheit ist ökonomisch an die Verbrennung von Erdöl gebunden. Das Zeitalter der Moderne ist energetisch betrachtet ein Zeitalter der Erdölgewinnung und ihrer einmaligen Vernichtung. Darauf gründet das Wachstum der Industriegesellschaft: vom Erdöl hängt bis dato (fast) alles ab. Die Schädigungen, welche die Menschheit am Ökosystem der Erde hinterlässt, sind mittlerweile eine globale statistische Größe. An erster Stelle steht hier in der Debatte die Erderwärmung. Nach der Prognose des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) wird mit einer Temperaturerwärmung von 2,5 Grad für die nächsten Jahrzehnte zu rechnen sein, wenn nicht entschiedene Maßnahmen gegen diese Erwärmung eingeleitet werden. Die Dynamik, mit der dieser Prozess vonstattengeht, führt zu einer Stressbelastung im Klima, was insbesondere für die menschliche Zivilisation gravierende Folgen hat: a) eine Vielzahl neuer Krankheiten, b) ein weltweiter Anstieg von Hautkrebserkrankungen, c) ein signifikanter Anstieg von Naturkatastrophen (vgl. auch Sauerborn 2006). Misst man den Ressourcenverbrauch der Menschheit im Sinne eines ökologischen Fußabdrucks und vergleicht dies mit der Biokapazität der Erde insgesamt, dann ist der Befund ernüchternd: seit Ende der 1980er-Jahre über-

XIII. Klimapolitik

wiegt der Ressourcenverbrauch der Menschheit gegenüber der Biokapazität, welche die Natur überhaupt bereitstellt (vgl. Scholz 2006: 333)! Die Grenzen des Wachstums sind also ökologisch nicht nur erreicht, sondern bereits überschritten. Degradierte Ökosysteme breiten sich nicht nur in der Sahelzone, sondern auch auf anderen Kontinenten (z.B. in China) aus. Die entscheidende Frage ist, wie die Politik hierauf reagiert? Zweifellos ist der Nationalstaat zu klein, um hierzu eine richtige Agenda betreiben zu können. Es geht also nur im Verbund der Nationalstaaten untereinander – und zwar aller Nationalstaaten dieser Welt. Doch was sich theoretisch leicht formulieren und fordern lässt, ist hinsichtlich der praktischen Umsetzung alles andere als einfach. Bei der Diskussion um die Kompensationsmaßnahmen für die Eindämmung des Ozonlochs waren die Staaten noch schnell bei einer gemeinsamen Entscheidung. Mit dem Beschluss von Montreal (1987) einigte man sich auf einen verbindlichen Ausstieg aus der Produktion und Verwendung der FCKW-Stoffe. Bis zum Jahr 2010 sollte die Verwendung dieser Substanzen, die besonders in Kühlanlagesystemen von Kühlschränken, den Klimaanlagen von Autos und in sämtlichen Spraydosen vorkamen, eingestellt werden. Die europäischen Staaten und die USA haben sich hieran gehalten, allerdings wird nach wie vor auf dem Schwarzmarkt, vor allem in asiatischen Ländern, damit gehandelt (vgl. Kroker 2005: 31). Bei der Gegenstrategie zur Eindämmung der CO2-Emissionen ist man bisher weniger erfolgreich gewesen. Nach neueren Berechnungen ist der CO2Ausstoß im Jahre 2010 der höchste gewesen, der weltweit je gemessen worden ist. Das Jahr 2010 markiert auch den bisher höchsten Wärmegrad, was die Durchschnittstemperaturen auf der Erde betrifft, seitdem es konstante Messungen hierzu (ab 1880) gibt (vgl. Pressemitteilung 2012: 24). Allein in den letzten 15 Jahren wurden 13 der wärmsten Jahre für die Durchschnittstemperatur der Erde registriert! Das Problem der Erderwärmung ist damit a) nicht von der Hand zu weisen und b) sind die Gegenmaßnahmen jetzt (und nicht in ferner Zukunft) einzuleiten. Denn die Temperaturwerte, die derzeit erzielt werden, resultieren aus Emissionen, die bereits vor Jahrzehnten in die Stratosphäre geschickt wurden. So unstrittig dieser Befund ist, so sehr wird über die Bedeutung des menschlichen Handelns hierzu gestritten. Auch wenn der CO2-Anteil in der Atmosphäre gegenüber dem Anteil vor Beginn der Industrialisierung signifikant angestiegen ist, so wird von Kritikern darauf verwiesen, dass die CO2Emissionen nicht allein der ausschlaggebende Faktor sein können für die Klimaerwärmung. Hier wird dann auf die Einflüsse der Sonne in ihren Sonnenwindzyklen, den periodischen Erwärmungen in der Erdgeschichte und auf die Bedeutung von Methan-Emissionen verwiesen (vgl. z.B. Vahrenholt/Lüning 2012). Wie immer man dies naturwissenschaftlich bewerten mag, bleibt es dennoch bei dem Faktor Mensch als Mitverursacher des Klimawandels. Denn auch die verstärkten Emissionen von Methan resultieren schließlich aus der immer intensiveren Bewirtschaftung zugunsten der wachsenden Weltbevölkerung. Jede Reispflanze sondert dieses Gas ab und jede Kuh und jedes Rind produziert in seinem Verdauungstrakt Methan. Je größer die Rinderherden in Lateinamerika für den Fleischhunger der McDonalds-Konsumenten weltweit

Die Grenzen des Wachstums

Das Ozon-Abkommen von Montreal

Der Anteil menschlichen Handelns an der Erderwärmung

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XIII. Klimapolitik

USA und China lehnen eine Reduzierung ihrer Emissionen ab

Agenda 21

Kyoto-Protokoll

werden, je mehr Reis in Asien angebaut wird, desto höher fällt der MethanAnteil bei den Emissionen aus. Das grundsätzliche Problem für eine richtige Strategie im Kampf gegen die Erderwärmung liegt damit in den allgemeinen Konsum- und Produktionsverhältnissen, die sich in der globalisierten Marktwirtschaft eingespielt haben. Das ist zunächst einmal vor allem eine Frage, die an die Volkswirtschaften der einzelnen Nationalstaaten zu richten ist. Und hier sehen die Antworten ganz unterschiedlich aus. Während die Mitgliedsstaaten der EU, Deutschland in der Vorreiterrolle, die Reduzierung der CO2-Emissionen zu einer verbindlichen Programmmaßnahme insbesondere für die nationalen Automobilindustrien gemacht haben (vgl. u.a. Geden/Fischer 2008), lehnen die größten CO2-Verschmutzer, die USA und China, eine entsprechende Reduktion ihrer Emissionen ab. Schlimmer noch: die Industrien beider Staaten weiten ihre CO2-Emissionen immer noch aus und stellen damit bereits für die Gegenwart zusammen fast schon die Hälfte der weltweiten Emissionen (vgl. auch Ehrenstein 2011: 14). Als Begründung wird hierfür genannt: a) die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Wirtschaft im Zeitalter der globalen Konkurrenz (so die USA) und b) der Nachholbedarf der eigenen Wirtschaft bei der Industrialisierung und dem Umbau der Gesellschaft, um gleichziehen zu können mit den Industriestaaten der Ersten Welt (so die Argumentation von China und Indien). Insgesamt führt dies zu einer paradoxen Blockadepolitik in der Klimafrage: jedes Land sucht sich die nützlichen Argumente heraus, um damit auf dem mittlerweile alljährlich stattfindenden Welt-Klima-Gipfel eine strategische Position zum eigenen (ökonomischen) Vorteil zu erreichen. Zugeständnisse zum Klimaschutz gelten vielerorts als wettbewerbsverzerrende Nachteile für die eigene nationale Wirtschaft. Mit der eigentlichen Klimaproblematik hat dies dann oft nicht mehr viel zu tun. Dabei hatte es mit dem sogenannten Ozonregime von Montreal eigentlich recht gut begonnen: man einigte sich auf einen weltweiten Ausstieg aus der Produktion von FCKW-Stoffen und demonstrierte Gemeinsamkeiten in der Klimafrage. Jedoch sind die Nachfolgekonferenzen in der Folgezeit nicht immer (und immer öfter immer weniger) erfolgreich gewesen. Mit der Agenda 21 auf dem Klima-Gipfel von Rio de Janeiro (1991) kam zunächst ein Prinzip zur Geltung, das allgemein als wichtige Voraussetzung für alle klimapolitischen Fragen gilt – nämlich die Anerkennung der weltweiten Verantwortung vor dem Hintergrund der jeweils vor Ort stattfindenden Politiken. Think global – Act local ist daher das wegweisende Modell für zehntausende von kommunalen und regionalen Umweltgruppen und -verbänden geworden, die jeweils konkret vor Ort tätig wurden. Die Perspektive auf Maßnahmen, die bis weit in das 21. Jahrhundert reichen sollten, gab der Agenda von Rio ihren Namen. Sowohl unter umwelt- wie auch unter klimapolitischen Aspekten ist dieser Ansatz sehr populär und weitreichend gewesen. Das sogenannte Kyoto-Protokoll, das auf dem Gipfel von 1997 ausgehandelt worden ist, stellte in dieser Hinsicht eine wichtige Weiterung für die Klimapolitik dar. Mit dem Prinzip einer Joint-Implementation sollten Unternehmen umweltrelevante Zertifikate erwerben, sofern sie in ihrer jeweiligen Pro-

XIII. Klimapolitik

duktion bestimmte Emissionsmengen überschreiten. Dies konnte auch in wechselseitiger Anrechnung bzw. Abschreibung zwischen Firmen und Staaten geschehen, so dass sich damit langfristig ein Kapitalmarkt für eine klimafreundliche Investitions- und Strukturpolitik ergeben würde. So war zumindest die Hoffnung bei der Abfassung des Kyoto-Protokolls. Man ging optimistisch davon aus, dass alle führenden Industriestaaten bei diesem Konzept mitmachen würden, d.h. konkret, ihre nationalen Industriezweige auf den internationalen Handel mit umweltfreundlichen Zertifikaten verpflichten würden. Wie sich schnell herausstellte, war dies zu optimistisch gedacht. Die USA als einer der wichtigsten Akteure in der Klimapolitik, die große Schadstoffemissionen verursachen, haben das Kyoto-Protokoll nicht anerkannt. China und Indien verweigern ebenso die Zustimmung, selbst Kanada ist mittlerweile aus den Bestimmungen des Kyoto-Protokolls wieder ausgetreten. So sind es nur die Mitgliedsstaaten der EU, die hier an einer Einhaltung und Fortsetzung des Kyoto-Protokolls interessiert sind. Doch selbst Deutschland hat die Verpflichtungen, die man im Protokoll bei der Reduzierung der Emissionswerte versprochen hatte, bis heute so nicht einhalten können. Die Fortschreibung des Kyoto-Protokolls stößt allenthalben an seine logischen Grenzen, die von den strukturellen Gegensätzen der Volkswirtschaften untereinander geprägt sind (vgl. auch Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2009). Die Klimakonferenzen der letzten Jahre haben daher auch eher nur marginale Ergebnisse für die Koordinierung in der internationalen Politik erbracht: In Kobe (2005) wurde die Katastrophenforschung als gemeinsames Ziel definiert, in Kopenhagen (2009) gab es gar keine Einigung, in Cancun (2010) nur eine formale Erklärung, dass man eine Erwärmung um zwei Grad nicht überschreiten wolle. Wie die Mittel aussehen sollen, um einen höheren Temperaturanstieg zu verhindern, war genau der Streitpunkt, weshalb hier nur eine Absichtserklärung zustande kam. In Durban (2011) dann erneut keine Einigung, obwohl doch ca. 20.000 Teilnehmer aus insgesamt 194 Staaten zugegen waren. Neben den großen Industrienationen tun sich auch die aufsteigenden Schwellenländer schwer, die CO2-Emissionen überhaupt zu reduzieren. So baut selbst Südafrika als Gastgeber des 17. Klima-Gipfels an einem Kraftwerk, das nach seiner Fertigstellung das viertgrößte Kohlekraftwerk auf der Welt sein wird (vgl. Ehrenstein 2011: 14). Kohle ist eben für die Wirtschaft in Südafrika preiswerter zu beziehen als andere Rohstoffe für die Energiegewinnung. Dabei ist die Grundidee ökologischen Haushaltens seit der Agenda 21 eigentlich ganz einfach: Unter dem Motto vom Sustainable Development sollen ökonomische und soziale Strukturen mit ökologischen kompatibel gemacht werden (vgl. auch Nitschke 1997). Das Kriterium der Nachhaltigkeit (sustainability) entstammt einem Konzept, das in der deutschen Forstwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert erfolgreich angewandt wird: Für jeden abgeholzten Baum wird ein neuer nachgepflanzt. Doch offensichtlich ist das, was in der Agrar- und Forstwirtschaft zum System erhoben worden ist, in der industriellen Wirtschaft gerade nicht in gleicher Weise umsetzbar. Im Gegenteil: die Primärenergiegüter werden hierbei massiv vernichtet – und dies unumkehrbar.

Verweigerung vor den Kyoto-ProtokollBestimmungen

Die Klimakonferenzen führen nur zu formalen Erklärungen

Nachhaltigkeit in der Wirtschaft

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XIII. Klimapolitik Erneuerbare Energie

Atomenergie in der Kritik

Das Plädoyer für einen Ausweg aus diesem bisherigen Dilemma gilt dem verstärkten Einsatz erneuerbarer Energiegen. Bioprodukte wie Mais, natürliche Energieträger wie Wind, Wasser und das Licht der Sonne sollen die bisherige Praxis massiver Kohle-, Gas- und Ölverbrennung ersetzen. Doch was logisch richtig ist, führt in der praktischen Umsetzung zu signifikanten Schwierigkeiten und auch Konflikten in der umweltpolitischen Zielsetzung. Je intensiver ein auf die Gewinnung von Biosprit zielender Maisanbau betrieben wird, desto negativer sind die Auswirkungen für den Ernährungssektor: Nicht in der Ersten, wohl aber in der Dritten Welt. Energiegewinnung durch Wasserkraftwerke lässt sich nur in den Regionen bewerkstelligen, die über die topografischen Voraussetzungen hierfür verfügen. Österreich ist mit seinen Gebirgsstauseen dazu prädestiniert, aber Länder mit Tiefebenen müssen sich anderweitig orientieren. Der Einsatz von Fotovoltaikanlagen zur Gewinnung von Sonnenenergie ist geeignet, wenn (und so lange) die Sonne scheint. Der hierdurch produzierte Strom muss allerdings auch sofort eingesetzt werden. Zur Abend- und Nachtzeit müssen andere Energieträger zur Kompensation herangezogen werden. Windenergie verspricht hier bei den erneuerbaren Energieträgern das Modell für die Zukunft zu werden. Insbesondere in Deutschland, wo die Bedingungen an der Nordund Ostseeküste günstig sind, müssen jedoch mehr als 3.600 Kilometer neue Stromleitungen für ein solches Überlandnetz gelegt werden (vgl. Flauger u.a. 2012). Ganz abgesehen von den enormen Kosten, verändern sich damit auch die Bedingungen für den naturlandschaftlichen Raum. Wenn Solar- und Windenergie so schnell für eine stabile marktwirtschaftliche Konstellation nicht aufzubauen sind, bleibt neben dem traditionellen Einsatz von Kohlekraftwerken (noch) die Verwendung von Atomenergie. Ab den 1960er-Jahren hat man in Atomkraftwerken (zunächst) die Zukunftstechnologie für den wachsenden Energiebedarf gesehen. Aufgrund der Ökologiebewegung ist seit den 1970er-Jahren jedoch ein kritisches Bewusstsein im Umgang mit dieser Technologie entstanden, das sich im Laufe der Jahrzehnte vor allem in Deutschland verstärkt hat (vgl. auch Radkau 2011). Eine Ablehnung der Energiegewinnung durch Atomkraftwerke gilt mittlerweile in der deutschen Gesellschaft als Konsens. Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl (1986), der bisher der gravierendste in der Geschichte der Atomindustrie war, ist es vor allem die Reaktorkatastrophe von Fukushima (2011) gewesen, die ein Umdenken zugunsten erneuerbarer Energiegewinnung massiv beschleunigt hat. Allerdings nur in Deutschland. Die paradigmatische Trendwende in der Energiepolitik durch das sofortige Abschalten von mehreren älteren Atomkraftwerken in Deutschland ist vor dem Hintergrund des deutschen Parteiensystems und der Bedeutung der Grünen erklärbar, wird jedoch von den meisten Regierungen dieser Welt nicht nachvollzogen. Während China und Russland weiterhin auf den Ausbau ihrer nuklearen Technologie setzen, die schon durch den Zusammenhang mit der militärischen Struktur als Atommächte zentral für das Staatsverständnis dieser Systeme bleibt, ist auch in Europa die Grundeinschätzung eher zugunsten der atomaren Energiegewinnung. Ein Land wie Frankreich, das seinen Strom zu über 60 Prozent aus Atomkraftwerken bezieht, kann es sich gar nicht erlauben, in absehbarer Zeit vollständig darauf zu verzichten. Paradoxerweise hat selbst Deutschland seit der Stillle-

XIII. Klimapolitik

gung der acht veralteten Reaktoranlagen teilweise Atomstrom aus Frankreich und aus Tschechien zur Kompensation beziehen müssen (vgl. u.a. Wetzel 2011). Der Vorteil der Atomkraftwerke ist sogar ein ökologischer Aspekt: Im Gegensatz zu den weit verbreiteten Kohlekraftwerken sind Atomanlagen schadstofffrei. Atomkraftwerke sind in der Bilanz der Klimapolitik zur Frage der Erderwärmung eine saubere Technologie – solange kein Reaktorunfall passiert. Dann allerdings sind die Folgekosten enorm, ganz zu schweigen von der Sicherheit für die Menschen und den Lebensbedingungen in den verstrahlten Zonen über Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte hinweg. Die meisten Reaktoren stehen derzeit in den USA. Seit dem Reaktorunfall von Three Mile Island in Pennsylvania (1978) hat es dort keinen neuen Bau von Atomkraftwerken gegeben. Doch bis 2017 werden zwei Reaktoren neuen Typs ans Netz gehen, da die gegenwärtige US-Regierung die Atomtechnologie a) von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, b) von ihrer ökologischen Verträglichkeit als unverzichtbare Technologie für die Sicherstellung des amerikanischen Energiebedarfs ansieht (vgl. Ridderbusch 2012). In der Klimapolitik stehen die Chancen auf eine Einigung zugunsten einer gemeinsamen Agenda, die weltweit von allen Staaten betrieben würde, eher schlecht. Nicht nur in der Atompolitik, sondern auch in Fragen des wirtschaftlichen Wachstums verhalten sich die Staaten untereinander konträr, jeweils auf die eigenen (für sie vorteilhaften) Positionen fixiert. Letztlich ist es auch eine nach wie vor mangelnde Akzeptanz in der Frage, was ein Klimawandel wie die Erderwärmung de facto für die einzelnen Gesellschaften bedeuten würde. In den gerade in Deutschland sehr verbreiteten alarmistischen Reflexen und drohenden Weltuntergangsszenarien mischen sich immer mehr kritische Gegenfragen, so dass es fast schon einem ideologischen Bekenntnis gleichkommt, wie man sich zum Klimawandel positioniert (vgl. u.a. Hänggi 2008, Sinn 2012).

Ideologische Positionen in der Klimapolitik

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XIV. Demografie Der demografische Wandel in globaler Perspektive

7 Mrd. Menschen auf der Welt

Modellberechnung

Mit dem Klimawandel geht der demografische Wandel einher. Gemessen an den langen Zeiträumen, die für Effekte im Klima zu veranschlagen sind, ist der demografische Wandel jedoch als explosionsartig zu beschreiben. Schwankungen sind hierbei auch nicht gegeben, denn was die Wachstumsfrage angeht, so ist der Befund für die Weltgesellschaft eindeutig: Die Menschheit wächst – und zwar mit einer Schnelligkeit, die dramatisch ist. Umso fataler und merkwürdiger ist, dass dies von den nationalen Regierungen kaum gesehen bzw. systematisch behandelt wird. Zwar wird auch in Deutschland der demografische Wandel allenthalben mittlerweile diskutiert, jedoch selten mit Bezug zur globalen Dimension. Dabei ist der statistische Befund atemberaubend (vgl. DSW): Während um 1804 herum gerade einmal eine Milliarde Menschen auf dem Globus lebten, sind es im Jahr 2011 sieben Milliarden! Signifikant sind hierbei die rasanten Wachstumssprünge in der Populationsentwicklung: 1804 = 1 Mrd. 1927 = 2 Mrd. 1960 = 3 Mrd. 1974 = 4 Mrd. 1987 = 5 Mrd. 1999 = 6 Mrd. 2011 = 7 Mrd. Menschen. Auch wenn die Zahlen lediglich als statistische Berechnungszahlen gelten können, die aufgrund der offiziellen Meldungen der Nationalstaaten nach Geburten- und Sterberaten sowie weiterer Berechnungen zustande kommen, so geben sie doch die Tendenz wieder, mit der sich die Weltbevölkerung entwickelt hat. Nach der zugrunde liegenden Modellberechnung ist damit am 31. Oktober 2011 die Grenze von sieben Milliarden Menschen (= 7.000.000.000) überschritten worden (vgl. auch DSW 2010, Ehrenstein 2011). Folgt man der sogenannten Weltbevölkerungsuhr, einer Hochrechnung des amerikanischen Population Reference Bureau auf der Basis einer statistischen Modellierung sämtlicher verfügbarer Daten, dann kommen pro Sekunde 2,6 neue Erdenbürger auf die Welt. Das bedeutet eine Vermehrung der Population in nur einer Minute um 158 Menschen und pro Tag von über 228.000, was der Größe einer Stadt wie Magdeburg entspricht! Sofern Kriege und Naturkatastrophen keine Opferzahlen in Millionenhöhe verursachen, beinhaltet die statistische Modellrechnung, dass die Menschheit jedes Jahr um über 83 Millionen Einwohner wächst. Auch wenn manche Staaten (wie etwa Deutschland) in ihrer Population schrumpfen, wird dies mehr als genug kompensiert durch das rasante Wachstum der Bevölkerung in anderen Ländern – überwiegend denen in der Dritten Welt. Die Zukunftsperspektive sieht

XIV. Demografie

dementsprechend aus: wenn es beim gegenwärtigen Wachstumstrend bleibt, dann wird im Jahr 2024 bereits die Acht-Milliardengrenze für die Weltbevölkerung überschritten sein (vgl. DSW 2010: 3). Dazu muss es aber nicht notwendigerweise kommen. Alle Berechnungen hängen bei der Bewertung der Daten davon ab, nach welcher Modellgrundlage sie eingeordnet werden. Veranschlagt man z.B. eine Obergrenze im Bevölkerungswachstum von vier Prozent pro Jahr, dann wäre das Wachstum gewaltig. Für viele Regionen in der Welt sieht es danach aus, dass eine solche Obergrenze erreicht wird. Jedoch existieren gleichzeitig auch Regionen, in denen ein Nullwachstum (bei etwa 0,2 Prozent) stattfindet (wie in Europa) oder sogar ein Minuswachstum (wie in Deutschland, Russland und in Japan) zu verzeichnen ist. Nach den Berechnungen der UN ist für die weitere Entwicklung der Weltbevölkerung mit drei Szenarien zu rechnen (vgl. auch Pantförder 2006): 1. Das Best-Case-Szenario geht davon aus, dass aufgrund erfolgreicher Aufklärungskampagnen zur Empfängnisverhütung und einer veränderten Positionierung in der kulturellen Rolle der Frau bis zum Stichjahr 2050 nur 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde sein werden. Auch durch die Einwirkung von Kriegen und Epidemien erwartet man bei dieser Modellannahme eine Geburtenrate von 1,56 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter. 2. Das Mittlere Szenario veranschlagt bei einer Geburtenquote von 2,05 pro Frau eine Gesamtpopulation von ca. 9,1 Milliarden Menschen für das Jahr 2050. 3. Das Worst-Case-Szenario bilanziert hingegen für 2050 eine Zahl von 10,6 Milliarden Menschen, ausgehend von einer nach wie vor hohen Geburtenrate von 2,53. Wie immer man die drei Szenarien im Einzelnen bewertet, sie zeigen in der Summe den Wachstumstrend signifikant an. Das Worst-Case-Szenario wäre zweifellos eine Katastrophe für die Menschheit, denn schon nach dem heutigen Stand ist die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln für viele Regionen der Welt äußerst problematisch. In Afrika südlich der Sahara hat die Zahl der Hungernden zwischen 1990 und 2007 um etwa 46 Millionen Menschen zugenommen (vgl. DSW 2010: 4). Jährlich sterben 35 Millionen Menschen aufgrund von Unterversorgung, ca. 850 Millionen hungern permanent (vgl. Kulke 2008). Das Wachstum der Weltbevölkerung verweist insofern neben der Klimafrage auf das Strukturproblem der Gattung Mensch insgesamt (vgl. auch Birg 2004). Je mehr Menschen auf der Welt sind, desto mehr muss produziert werden, desto mehr Ressourcen werden verbraucht, desto mehr Energie wird benötigt, desto mehr Lebensmittel müssen bereit gestellt werden. Besonders Wasser wird durch den weltweiten Nachfragebedarf zu einem immer knapperen Gut. Es ist vor allem die Landwirtschaft, die das meiste Wasser verbraucht: Mehr als 90 Prozent des weltweiten Wasserverbrauchs entfällt auf den Agrarsektor. Die Wassermengen, die hierbei benötigt werden, sind gewaltig. Um z.B. ein Kilo Hühnerfleisch zu produzieren, benötigt man 3.900 Liter Wasser. Bei einem Kilo Rindfleisch sind es schon 15.500 Liter! Statistisch betrachtet nutzt derzeit jeder Mensch auf der Welt durchschnittlich

Drei Szenarien für die Zukunft

Negative Entwicklung in Afrika südlich der Sahara

Steigender Ressourcenbedarf

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XIV. Demografie

Regionale Unterschiede im demografischen Wachstum

Rasantes Wachstum in Indien

1.385 Kubikmeter Wasser, das entspricht einer Tagesmenge von 4.000 Liter pro Kopf (vgl. Knauer 2012: 22)! Der Wasserverbrauch ist allerdings regional sehr unterschiedlich: In den Ländern des Nordens besteht (wie in Deutschland) kein Mangel an Trinkwasser, in Afrika und Asien hingegen ist der Zugang zu sauberem Wasser ein existenzielles Problem. Für das Jahr 2050 wird eine allgemeine Wasserknappheit prognostiziert, die zwischen zwei bis sieben Milliarden Menschen akut betreffen kann (vgl. Houdret/Tänzler 2006: 367). Wie beim Wasser, so verhält es sich auch bei allen anderen Ressourcen. Sektoral (d.h. innerhalb einer Gesellschaft) wie regional (zwischen den Kontinenten) sind die Effekte ganz unterschiedlich, weil das demografische Wachstum unterschiedlich ausfällt. Während in Europa der Anteil an der Weltbevölkerung drastisch sinkt (von 27,2 Prozent im Jahr 1950 auf 9,1 Prozent im Jahr 2025), erhöht sich dieser in Afrika deutlich (von 8,7 auf 16,3 Prozent) im gleichen Zeitraum. Nordamerika bleibt durch die Einwanderungspolitik der USA und Kanadas einigermaßen konstant (6,5 zu 4,8 Prozent) und Lateinamerika wächst geringfügig (von 6,5 auf 8,9 Prozent). Entscheidend ist aber für die demografische Entwicklung global die hohe Nachhaltigkeit der gesellschaftlichen Populationen im asiatischen Raum (vgl. Schmid 2006: 49): von 56,1 Prozent (1950) wachsen sie auf 60,3 Prozent (2025) an – und das trotz massiver EinKind-Politik, wie sie in China seit 1979 familienpolitisch vorgegeben wird (vgl. auch Scharping 2007: 55 ff.). Vor allem in Indien ist das demografische Wachstum enorm: Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1947 existierten auf dem Subkontinent lediglich 345 Millionen Menschen, im Jahr 2010 ist hingegen eine Population von 1.188 Milliarden Menschen zu verzeichnen gewesen (vgl. DSW 2010: 10). Ein derart schnelles Bevölkerungswachstum ist historisch ohne Beispiel. In nur zwei Generationen hat sich die Bevölkerung Indiens mehr als verdreifacht! Die Gründe dafür sind in einer besseren medizinischen Versorgung der Bevölkerung, damit verbunden einem Rückgang der traditionell hohen Kindersterblichkeit und Sterberate bei Seuchen sowie einer solideren Grundversorgung mit Nahrungsmitteln zu verorten. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg in Indien von 26,8 Jahren (1920) auf 64 Jahre (2001) an (vgl. Rothermund 2008: 20 f.). Auch die Relation zwischen Geburten- und Sterberate zeigt einen hohen Überschuss, der das enorme Wachstum der Gesellschaft erklärt: Während z.B. in Deutschland die Relation zwischen Geburtenzahlen und Todesfällen bei 8:10 je 1.000 Einwohnern liegt, sieht das Verhältnis für die indische Gesellschaft mit 27:7 proportional gänzlich anders aus (vgl. DSW 2010: 10 u. 12). Indien wird derzeit mit diesen extremen Wachstumswerten sogar noch überboten: Das Land mit dem weltweit größten demografischen Wachstum ist der Niger, da hier die Bevölkerung um das Vierfache bis zum Jahr 2050 wachsen wird. Jede Frau im gebärfähigen Alter bringt in dem Land durchschnittlich 7,4 Kinder zur Welt (vgl. DSW 2010: 6)! Unterschiedlicher könnte die Konstellation im demografischen Wachstum gar nicht sein: Während sich die Gesellschaften in den Schwellen- und Entwicklungsländern massiv vergrößern, schrumpfen sie in den Industrieländern des Westens (mit Ausnahme der USA) z.T. dramatisch. Würde etwa in Deutschland der Anteil von statistisch 1,3 (derzeit 1,4) Geburten pro Frau

XIV. Demografie

konstant bleiben, dann gäbe es nach 300 Jahren in dem Gebiet der Bundesrepublik nur noch drei Millionen Einwohner! Selbst im Falle einer kontinuierlichen Einwanderung mit ca. 100.000 Menschen pro Jahr würde Deutschland 2050 auf nur noch 71 Millionen Einwohner kommen (vgl. Kuhn 2009: 28). Bevölkerungspolitik ist damit ein Gebot der Stunde – für demografisch schrumpfende Gesellschaften ebenso wie für Gesellschaften mit enormen Wachstumszahlen. Im Grunde läuft die demografische Frage global betrachtet auf die Gerechtigkeitsproblematik hinaus (vgl. auch Hahn 2009): Was ist ein gelingendes Leben in einer globalen Konstellation, wenn immer mehr Menschen um immer weniger Ressourcen konkurrieren? Vor dem Hintergrund einer solchen Perspektive kann Bevölkerungspolitik nicht einfach dem einzelnen Nationalstaat überlassen bleiben. Der demografische Wandel ist zentral eine Angelegenheit für die Menschheit als WeltGesellschaft. Dem tragen auch die UN mit ihren sogenannten Millenniumszielen Rechnung, die im Jahr 2000 proklamiert wurden. Die acht zentralen Millenniumsziele lauten (vgl. u.a. Kuhn/Rieckmann 2006, Mundzeck 2011): 1. Die Anzahl der Armen soll weltweit (bezogen auf das Stichjahr 1990) bis zum Jahr 2015 halbiert werden. 2. Alle Kinder sollen eine Grundbildung erhalten. 3. Gleichberechtigung der Frauen. 4. Eine Reduzierung der Kindersterblichkeit (unter fünf Jahren) um zwei Drittel. 5. Eine Minimierung der Müttersterblichkeit um drei Viertel. 6. Die Ausbreitung von Krankheiten wie Aids, Malaria etc. soll zum Stillstand gebracht werden. 7. Sustainable Development soll u.a. zu einer Halbierung der Zahl derjenigen führen, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. 8. Im Rahmen einer globalen Entwicklungspartnerschaft soll die Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen Kräften (NGOs), der Privatwirtschaft und dem Staat verstärkt werden. Die Millenniumsziele sind ambitioniert und gehen das Problem, das aus dem Wachstum der Weltbevölkerung resultiert, nämlich die massive soziale Ungleichheit innerhalb und zwischen den Staaten, als sozialpolitische Aufgabenstellung mit ihrer Agenda strategisch an. Wenn es gelingen würde, a) die soziale Frage global gerechter zu gestalten und b) hierbei die Rolle der Frau aufzuwerten, dann ließe sich wirtschaftliches Wachstum mit der demografischen Entwicklung besser synchronisieren. Bereits jetzt ist jedoch schon klar, dass die strategischen Ziele der UN bis 2015 nicht erreicht werden. Viele Staaten dieser Welt waren und sind organisatorisch (und auch finanziell) nicht in der Lage, die gewünschten Maßnahmen operativ umzusetzen. Mitunter, etwa beim dritten Ziel (Frauenrechte und Chancengleichheit), sind es auch massive ideologische, d.h. kulturelle Vorbehalte in den traditionellen Wertvorstellungen von Gesellschaften (etwa im Islam), die hier retardierend wirken. Doch gibt es unverkennbar auch Fortschritte. Zwar konnten im Jahr 2007 weltweit nach wie vor 93 Millionen Kinder keine Schule besuchen (Ziel 2), doch waren dies schon 20 Prozent weniger als noch im Jahr 2002. Bei der Gesundheitsfürsorge (Ziel 3) ist die Zahl der Neuinfektionen z.B. bei Aids

Die Notwendigkeit einer vorausschauenden Bevölkerungspolitik

Millenniumsziele der UN

Schwierigkeiten in der Umsetzung

Fortschritte

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XIV. Demografie

Finanzprobleme

Die Rolle der Frau

zwischen 2001 und 2009 um 25 Prozent zurückgegangen (vgl. Mundzeck 2011: 22). Auch bei der Kindersterblichkeit (Ziel 4) und der Müttersterblichkeit (Ziel 5) lassen sich Fortschritte verzeichnen. Zwar erlebten auch im Jahre 2010 immerhin 7,2 Millionen Kinder auf der Welt ihren fünften Geburtstag nicht mehr, doch war die Zahl um 2000 herum, als die Millenniumsziele proklamiert wurden, noch deutlich höher. Nach wie vor stirbt aber alle vier Sekunden irgendwo auf der Welt ein Kind und alle zwei Minuten eine Frau aufgrund der Komplikationen bei der Schwangerschaft oder bei der Geburt des Kindes (vgl. ebd.). Manche Länder haben enorme Fortschritte bei den Millenniumszielen 4 und 5 erreicht: Indien z.B. hat durch den systematischen Aufbau von Kliniken auf dem Lande die Müttersterblichkeit in nur fünf Jahren um 21.000 Fälle reduzieren können. Das entspricht einer globalen Reduzierung von 28,6 Prozent (vgl. ebd.)! Doch krasse Unterschiede bleiben, vor allem hinsichtlich der hygienischen Standards oder Nichtstandards bei der Geburtshilfe. Nicht einmal jede zweite Geburt in den Gebieten Afrikas südlich der Sahara wird von einem fachkundigen Arzt oder einer Hebamme begleitet (vgl. DSW 2010: 5). Es fehlt meist vor Ort an den finanziellen Mitteln: Alle 30 Sekunden stirbt auf der Welt ein Kind an Malaria (vgl. Mundzeck 2011: 22). Dagegen wäre ein flächendeckender Einsatz von Moskitonetzen schon enorm hilfreich. Nur – eine solche Ausstattung für jedes Dorf in jedem Malariagebiet müsste auch bezahlt werden. Denkt man an die enormen Summen, die in der EU zur Rettung Griechenlands und anderer Staaten für die Beibehaltung in der Eurozone gezahlt werden, dann wären die Finanzmittel für eine weltweite Kampagne zur Bekämpfung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit noch wichtiger und besser investiert. Bei einer Verdoppelung der derzeitigen finanziellen Mittel auf eine Summe von 24,6 Milliarden Dollar pro Jahr für eine rationale Familienplanung mit entsprechender Beratung und Betreuung der Schwangeren in den Ländern der Dritten Welt ließe sich nach UN-Berechnungen die Müttersterblichkeit um 70 Prozent reduzieren – und bei den Säuglingen um 50 Prozent (vgl. DSW 2010: 5). Ohne eine weltweite Veränderung in der kulturellen Positionierung der Frau funktionieren all diese Maßnahmen jedoch nur bedingt. Insofern ist das Millenniumsziel 3 (Gleichberechtigung der Frauen) für die demografische Frage das entscheidende Kriterium. Solange in traditionalen Gesellschaften die Rolle der Frau nur in der Gebärfunktion für die Nachkommen gesehen wird, wird es in solchen Gesellschaften ein hohes demografisches Wachstum geben. Viele Kinder verheißen sozialen und wirtschaftlichen Wohlstand. Dass oft das Gegenteil der Fall ist, wird in traditionalen Kulturen tabuisiert. Selbst Seuchen, Kriege und hohe Sterblichkeitsquoten bei Kindern führen dann (nur) dazu, dass immer noch mehr Kinder gezeugt werden, um Verluste in der Nachkommenschaft auszugleichen bzw. diese stabil zu halten. Diesen Kreislauf kann man nur durchbrechen, indem man strukturell zu einer besseren Schulbildung von Mädchen gelangt. In vielen Entwicklungsländern bedeutet dies zunächst einmal nur die Herstellung einer Grundversorgung im Primarschulbereich. Solange in Ländern wie Indien Frauen und Mädchen eine deutlich höhere Quote bei den Analphabeten haben als Män-

XIV. Demografie

ner und Jungen (vgl. Rothermund 2008: 222), solange gibt es hier keine strukturelle Chancengleichheit. Auch wenn die gegenwärtige Konstellation global große Unterschiede aufweist, so ist doch in der Langzeitperspektive beim Vergleich der Faktoren und Indikatoren schon einiges erreicht bzw. deutlich besser geworden. Im Vergleich zu 1950, als jede Frau auf der Welt durchschnittlich sechs Kinder geboren hat, sind es in der Gegenwart nur noch 2,5 (vgl. Ehrenstein 2011: 8). Das ändert zwar an den aktuellen Problemen nichts, zeigt aber die Richtung auf, in die eine verantwortungsvolle Politik in globaler Perspektive zu gehen hat. Der Diskurs darüber kann jedoch nicht nur innerhalb einer nationalen Gesellschaft stattfinden, sondern er sollte dann auch international mit einer globalen Agenda geführt werden. Vor allem sollten die Staaten, die einen demografischen Rückgang zu verzeichnen haben, hingegen ökonomisch nach wie vor gut aufgestellt sind, sich ihrer Verantwortung bewusst sein. Je unterschiedlicher die demografischen Effekte regional nach Kontinenten und zwischen den Staaten ausfallen, desto stärker sind auch die ökologischen und ökonomischen Konsequenzen für alle Gesellschaften. Denn in der Globalisierung lässt sich kein Staat mehr vom Rest der Welt isolieren. Die Politikfelder des 21. Jahrhunderts sind allesamt miteinander verbunden. Die Frage ist nur, ob auch alle Beteiligten dies erkannt haben?

Nationale politische Verantwortung im globalen Zusammenhang

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Register Abgeordnete 31ff., 35, 44, 94 Adenauer, Konrad 18–21, 25, 35, 49, 51, 88f. Afrika 87, 101, 105, 121f., 124 Agenda 21 116f. Aland-Inseln 102 Amerikanisierung 108f. Amsterdam 91 Angola 86 Anthropologie 73, 104 Antike 9, 14, 17, 56 Arabischer Frühling 84, 98, 108 Aristokratie 10, 59–62 Aristoteles 9, 13f., 17, 43, 56f., 60–63, 97 Asiatisierung 108f. Asien 116, 122 Athen 17, 25, 62, 110 Atomkraftwerke 118f. Aufklärung 12, 40, 65f. Auschwitz 20, 65 Außenpolitik 74f., 84, 92, 108, 110 Australien 30, 52, 71 Baden-Württemberg 36, 66 Basiskonzepte 69 Baskenland 102 Bayern 36f., 42, 66 Belgien 89f., 99f., 102 Benedikt XVI. 21 Berlin 36 Beutelsbacher Konsens 66f. Bin Laden, Osama 110 Bosnien 82, 86 Brain drain 30, 106 Brandenburg 36 Brandt, Willy 33 Brasilien 106, 109 Bremen 36f. Brüssel 33, 92f., 95f. Bund 19, 26, 36, 45 Bundeskanzler 12, 21, 29, 32, 34ff., 88 Bundesländer 26, 36ff., 44, 49, 68 Bundespräsident 19 Bundesrat 19, 34–37, 99f. Bundesregierung 19, 21, 24, 30, 34–37, 44, 47, 52, 89, 94 Bundesrepublik 15, 17f., 23–28, 30, 32, 34–41, 43, 49–52, 64f., 69f., 74, 84, 88, 95, 97, 99f., 123 Bundesstaat 26, 80, 94, 100 Bundestag 19, 21, 26, 30ff., 34–37, 41, 43f., 67, 99f. Bundesverfassungsgericht 23, 44, 49, 54

Bundeszentrale für politische Bildung 70 Bürger 9f., 12f., 15, 17, 19, 21f., 24f., 29, 35, 38ff., 42, 60, 63, 65f., 77, 90, 92ff., 96, 101, 109, 111f. Cancun 117 CDU 40–44 Checks and Balances 31, 34 China 25, 29, 81f., 84, 87, 99f., 106, 109f., 115–118, 122 Christentum 90 CSU 36f., 40, 42, 44 Dänemark 95, 99f. DDR 11, 76, 83, 97 Demografischer Wandel 54, 120 Demokratie 10, 12, 17, 24ff., 30ff., 35, 43, 55, 58, 60ff., 64–67, 69, 89, 98ff., 103, 109 Den Haag 85f. Deutschland 6f., 9–12, 15, 17f., 20, 23f., 26–30, 33–40, 42f., 44ff., 48, 50–54, 64ff., 69, 71, 74, 78, 84f., 88f., 94f., 97, 99f., 102, 104, 109, 116–123 Didaktik 66–70 Die Grünen 24, 40ff., 44, 118 Die Linke 39, 41, 44 Digital divide 105 Diktatur 10, 17, 26, 61, 84, 103 Direktmandate 44 Dirks, Walther 65 Dritte Welt 49, 80, 82, 98, 101, 109, 114 Durban 117 EG-Vertrag 92 Ehe 48, 50 Ehrenamt 45 Einwanderung 51f., 123 El Salvador 86 Ellwein, Thomas 31, 65 Elterngeld 53f. Entwicklungsländer 106, 108, 122, 124 Erderwärmung 114ff., 119 Erneuerbare Energie 118 EU (Europäische Union) 19, 52, 77, 79, 88, 91–96, 98f., 102, 109f., 116f., 124 Eudaimonia 63 Euro 53, 91, 94, 124 Europäische Integration 18f., 27, 33, 70, 88, 90f., 93, 95f., 105 Europäische Zentralbank 93, 95 Europäischer Gerichtshof 23, 93 Ewigkeitsklausel 26f.

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Register Exekutive 32, 34, 36, 85, 93, 99 Failed States 101ff. Familie 48–51, 53f., 60 Faschismus 64, 72, 99 FDP 39–42, 44 Finnland 94, 99, 102 Fischer, Joschka 21 Fischer, Kurt Gerhard 67 Flandern 102 Föderalismus 26, 37, 100 Folter 22f., 87 Frankreich 25, 34, 50ff., 64, 82, 84, 88f., 99ff., 118f. Freiheit 11, 13, 21f., 39, 41, 55, 69, 105 Frieden 13, 20, 40, 69, 76ff., 81, 83, 86f. Friedman, Thomas 106, 111 Fukushima 118 Fünf-Prozent-Hürde 41, 44 Gaddafi, Muammar al 82 Galizien 102 Geburtenrate 50f., 53, 121 Gemeinwohl 9f., 40, 69 Generalsekretär 85 Generationenvertrag 48, 51 Gerechtigkeit 13, 26, 39, 55–60, 62f., 69, 78 Gesellschaft 6, 11, 14, 17, 24, 26, 29f., 33, 38ff., 42f., 45, 48f., 51–54, 58f., 61–65, 72, 75, 91,94, 96f., 100, 103f., 106f., 109, 116, 118f., 122–125 Gesundheitspolitik 15, 46f., 49, 92 Gewalt 11, 20f., 23, 25f., 28f., 31f., 34, 37, 59, 62, 82, 84, 86f., 100–103 Gewerkschaften 32, 41, 49 GG (Grundgesetz) 14f., 17–21, 23–26, 28, 30, 32, 38, 43, 48, 65, 68 Gleichberechtigung 24, 77, 81, 123f. Gleichheit 11, 24, 39, 77 Global Governance 81, 87 Globalisierung 7, 27, 30, 69, 78, 80, 86, 96, 103f., 106–111, 125 Griechenland 99, 124 Großbritannien 17, 64, 95, 99f. Grundrechte 19, 21, 69 Haiti 80, 103 Hamburg 36f., 107 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 64 Herrschaft 10f., 16f., 25, 41, 56–62, 71, 92, 102 Hessen 23, 36, 66 Hobbes, Thomas 57, 73, 79 Hollywood 108 Huntington, Samuel P. 98 Hussein, Saddam 86 Idealismus 73, 76, 78 Ideengeschichte 9, 56f. Ideologie 10, 72, 76, 102 Industrieländer 122

Internet 30, 41, 105, 108 Irak 86f., 101ff., 108f. Islamismus 72, 99 Israel 41 Italien 41, 64, 94, 99f., 102 Japan 85, 109, 121 Jellinek, Georg 28ff. Kambodscha 86 Kanada 30, 117, 122 Kant, Immanuel 64, 76f., 81, 87 Katalonien 102 Kissinger, Henry A. 75 Klima 112–117, 119ff. Koalitionen 35, 37, 41, 44 Kobe 117 Kohl, Helmut 33 Kommission 92ff. Kommunismus 89, 99 Kongo 101 Konservativismus 39ff., 72 Kopenhagen 98, 117 Korruption 101f. Krieg 20, 40, 62, 64, 74, 77, 81–84, 86, 88f., 98, 101, 103, 108f., 120f., 124 Kultur 10f., 13f., 17, 21, 30, 37, 42, 48, 52, 54, 59, 64f., 70, 72f., 79f., 84, 89f., 101, 103, 108, 124 Kyoto-Protokoll 116f. Lafontaine, Oskar 33 Landwirtschaft 84, 121 Lateinamerika 87, 105, 115, 122 Libanon 101 Liberalismus 39f., 72 Lobbyismus 32 Los Angeles 107 Luxemburg 89, 94, 99 Maastricht 19, 91f. Machiavelli, Niccolò 73f. Macht 10, 15f., 20, 28, 35–38, 42, 49, 56ff., 60, 68–71, 74f., 78f., 82, 85, 87, 89, 100, 102 Magdeburg 120 Marxismus 72 Mecklenburg-Vorpommern 37 Medien 12, 34f., 43, 70, 72, 106, 108, 110 Mehrebenensystem 95 Menschenrechte 13f., 21–24, 55, 57, 76, 78–82, 85f., 92 Merkel, Angela 29, 32 Militär 75, 82, 86, 101, 103, 109 Millenniumsziele 123f. Milosevic, Zlobodan 82 Mittelalter 10, 14, 26, 28, 61, 89, 114 Mittelamerika 106 Mittelmeer 114 Moderne 10, 14, 71f., 114

Register Monarchie 10, 60ff., 77, 98f. Montreal 115f. Mosambik 86 Nation 14, 17, 28f., 64, 72, 75f., 79, 82, 102, 105 NATO 18, 79 Naturrecht 21, 77 Nepal 81 Neue Soziale Bewegungen 39ff. New York 85 NGOs 45, 71, 76, 80f., 123 Niederlande 89, 99 Niedersachsen 36, 66 Niger 122 Nizza 91 Nordkorea 100 NRW 36f., 66 NS-System 27 Nullsummen-Spiel 75 Öffentlichkeit 11f., 23, 31, 34, 38, 43f., 59f., 70, 85 Oikos 60 Ökologie 114, 118 Oligarchie 60f. Ordnung 9ff., 13f., 17, 19, 26ff., 38, 50, 56, 58–63, 65, 68ff., 73, 76f., 81, 87, 89, 97–101, 103 Organisierte Kriminalität 30, 92 Österreich 95, 99ff., 118 Ost-Mitteleuropa 83, 89 Ost-West-Konflikt 75, 83, 86, 97, 103, 109 Pakistan 110 Panama 106 Paris 89 Parlament 18, 30–34, 41, 43f., 89, 93, 99 Parlamentarischer Rat 18, 20f., 26 Parteien 10ff., 18, 20, 31f., 35–45, 49f., 66, 68f., 72, 94, 99, 118 Partizipation 13 Pazifismus 78 Pennsylvania 119 Piraten (Partei) 41 Platon 56–62, 73 Policy 7, 14f., 46f., 50, 52, 68f., 73 Polis 9f., 13f., 58ff., 63 Politeia 9f., 14, 58 Politics 9, 14f., 108 Politie 60, 62 Polity 14f., 17f., 28, 46, 97 Polizei 14, 23, 37, 85, 91, 101, 103 Popper, Karl R. 57 Präambel 19ff. Präsident 100 Primärenergie 113f., 117 Privatheit 12, 59f. Putinismus 99 Rawls, John 58, 73

Realismus 73–76, 78 Recht 9, 13, 22ff., 29, 55, 77, 79, 94 Rechtsstaat 13, 20, 25f., 98 Reformen 40 Regierung 6, 10f., 15, 29f., 32, 34ff., 41, 56, 69, 71, 89, 92ff., 96–99, 101ff., 110, 118ff. Regionen 37, 41f., 52, 69, 83, 86f., 93–96, 100ff., 106f., 112f., 116, 118, 121f., 125 Religion 14, 28, 69, 72, 102 Repräsentation 10, 25, 30f., 36, 43, 84f., 92, 94, 100 Republik 24–27, 38, 77, 99 Revolution 30, 40, 98, 102, 105 Rheinland-Pfalz 36 Rice, Condolezza 75 Richtlinienkompetenz 35 Rio de Janeiro 116 Rom 47, 91, 96 Rousseau, Jean-Jacques 57 Ruanda 86 Russland 81f., 84, 87, 99, 102, 109, 118, 121 Saarland 37 Sachsen 36 Sachsen-Anhalt 36 Schäuble, Wolfgang 33 Schleswig-Holstein 36, 66 Schottland 100 Schröder, Gerhard 12, 16, 30 Schweden 99 Schwellenländer 104, 106, 109, 117 Sicherheit 6, 13, 15, 40, 46, 81, 92, 119 Sicherheitsrat 82–86 Singapur 100 Somalia 86, 101, 103 Souveränität 29f., 33, 79, 81f., 84, 87, 110 Sowjetunion 76ff., 89 Soziale Marktwirtschaft 25 Sozialismus 11, 39, 41, 83 Sozialpolitik 15, 22, 36, 47, 49, 92, 96, 110 Sozialstaat 24f., 48, 69, 111 Spanien 64, 99f. SPD 39–44 Staat 6, 9–14, 17–31, 34, 36, 39ff., 43, 45, 48f., 50, 58–60, 63, 70ff., 74–77, 79–89, 95, 97–103, 105–111, 115–120, 123ff. Staatenbund 77, 80 Staatsziele 24 Südafrika 109, 117 Südkorea 106 Sustainability 117 Teheran 71 Terrorismus 74, 92, 110 Thüringen 36 Tokio 107 Treibhauseffekt 113 Tschechien 119 Tschernobyl 118

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Register Tugend 56, 62f., 65 Tyrannis 10, 59ff. Überhangmandate 44 Umwelt 6, 36, 39f., 42, 95, 112ff., 116ff. USA 26, 29f., 33f., 38, 45f., 51, 64, 74ff., 81–85, 87f., 100, 108ff., 116f., 119, 122f. Verbände 12, 15, 28, 31f., 42, 47, 49, 71, 94, 116 Vereinte Nationen 76, 79, 81ff., 86f. Verfassung 9, 14f., 17–28, 35, 37f., 41, 60, 62, 67, 90, 97, 101ff. Vernunft 11, 13, 15, 19, 21, 62 Verwaltung 14, 16, 19, 33, 36f., 49, 85, 93, 95 Volk 10f., 17f., 20, 24f., 29ff., 36, 38, 42f., 61, 72, 75, 77f., 79, 81f., 84, 93, 110 Völkerbund 77, 81 Völkerrecht 28ff., 74, 77, 79–87, 90, 102, 110

Wahlsystem 44f. Warschauer Pakt 98 Washington 89 Weber, Max 32 Weimarer Republik 26, 32, 41, 64 Weltbevölkerung 115, 120–123 Weltstaat 78 Westeuropa 89, 102 Wiedervereinigung 18f. Wilson, Woodrow 81 Wirtschaft 6, 24f., 29f., 33, 49, 53f., 66, 69, 75, 84, 88f., 98–105, 108f., 111, 116f., 123 Wissenschaftstheorie 56f. Wladiwostok 89 Würde 21f., 27, 60, 64 Zivilgesellschaft 45, 123