Grundriss einer Geschichte der politischen Okonomie [Reprint 2021 ed.] 9783112575048, 9783112575031

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Grundriss einer Geschichte der politischen Okonomie [Reprint 2021 ed.]
 9783112575048, 9783112575031

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FRITZ B E H R E N S GRUNDRISS

EINER

GESCHICHTE

DER P O L I T I S C H E N

ÖKONOMIE

FRITZ B E H R E N S

GRUNDRISS EINER GESCHICHTE DER POLITISCHEN ÖKONOMIE

1956 AKADEMIE-VERLAG • BERLIN

Als Mannskript gedruckt Manuskriptabsdilufi Sommer 1953

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH., Berlin W 8 , Mohrenstraße 39 Lizenz-Nr. 202 • 100/334/56 * 492 G e s a m t h e r s t e l l u n g : Drnckerei des Verlages des Ministeriums f ü r Nationale Verteidigung B e s t e l l - u n d V e r l a g s n u m m e r : 5226 Printed in G e r m a n ?

„Wenn ich das, was ich wollte, nicht ausführen kann, werde ich doch zufrieden sein, wenn es mir gelingt, die Neugier zu wecken, klare, zusammenhängende von ich rhapsodisch

Kenntnisse über das zu bekommen,

und düritig

wo-

erzähle."

Alexander Herzen, B r i e f e über das Studium der Natur, Ausgewählte Schrillen, Moskau 1949, S e i t e 137.

VORBEMERKUNG

Der vorliegende „Grundriß einer Geschichte der politischen Ökonomie" ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die ich seit 1946 an der Karl-MarxUniversität über die Geschichte der politischen Ökonomie gehalten habe. Da ich mir bewußt bin, daß eine Geschichte der politischen Ökonomie f ü r uns von verschiedenen Gesichtspunkten aus erforderlich ist, habe ich mich nach längerem Zögern entschlossen, meine überarbeiteten Vorlesungen als Grundlage einer Diskussion zu veröffentlichen. Bei der notwendigen und hoffentlich umfassenden Diskussion sollte beachtet werden, daß es sich bei meiner Arbeit um einen „Grundriß" handelt, der vor allem als Lehrmittel f ü r den Unterricht dienen soll, und daß hierdurch auch die Auswahl des behandelten Stoffes mit bestimmt wurde. Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es sollte weiter beachtet werden, daß es sich nicht um eine chronologische, sondern um eine systematische Darstellung handelt und daß der Zusammenhang daher wichtiger ist, als es die Einzelheiten sind. Es ist die Arbeit eines politischen Ökonomen f ü r politische Ökonomen, nicht das Buch eines Historikers! Das soll keine Rechtfertigung oder Entschuldigung sein, sondern n u r vor überflüssigen Hinweisen bewahren. In der vorliegenden Arbeit wurden auch bereits vorher in anderer Form veröffentlichte Teile aufgenommen. Darauf wurde zu Beginn des betreffenden Abschnittes in einer Fußnote hingewiesen.

INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG Zur Methode der Geschichte der politischen Ökonomie

1

1. Der Gegenstand der politischen Ökonomie

1

2. Die Methode der Geschichte der politischen Ökonomie

9

3. Warum treiben wir Geschichte der politischen Ökonomie?

23

A. Allgemein

30

B. Bürgerliche Dogmengeschichten

31

C. Bürgerliche Nachschlagewerke und Sammlungen von Quellenwerken

32

1. K A P I T E L Die politische Ökonomie in den vorkapitalistischen Produktionsweisen . . . .

33

A. Die Urgesellschaft

33

B. Die Sklavenhaltergesellschaft

42

1. Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse

42

2. Aristoteles — der Ökonom der Sklavenhaltergesellschaft

49

3. Die Entdeckung des Doppelcharakters der Ware

51

4. Das Geld

54

5. Die Lehre vom Zins

56

C. Die Feudalgesellschaft

58

1. Der Untergang der Sklavenhaltergesellschaft

58

2. Thomas von Aquino — der Ökonom der Naturalwirtschaft in der Feudalgesellschaft

60

3. Martin Luther — der Ökonom der Geldwirtschaft in der Feudalgesellschaft

72

Literatur und Quellen

76 IX

2.

KAPITEL

Die Entstehung der wissenschaftlichen Ökonomie — bürgerlichen Ökonomie bis zur Klassik

die Entwicklung der 77

A. Das System der ursprünglichen Akkumulation — der Merkantilismus

79

1. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen und das allgemeine Wesen des Merkantilismus

81

2. Der französische Merkantilismus — der Colbertismus

88

3. Der englische Merkantilismus — der Kommerzialismus

91

4. Der deutsche Merkantilismus — der Kameralismus

100

5. Kritik des Merkantilismus

110

B. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufes — die Physiokraten . . 113 1. Die gesellschaftlichen Bedingungen und das allgemeine Wesen des Physiokratismus

114

2. Vorläufer

118

3. François Quesnay (1694—1774)

129

4. Weitere Vertreter

135

5. Kritik des Physiokratismus

139

C. Die politische Ökonomie als bürgerliche Wissenschaft — die klassische bürgerliche Ökonomie 1. Die gesellschaftlichen Ökonomie

Bedingungen

der

klassischen

bürgerlichen 147

2. Adam Smith (1723—1790)

149

3. David Ricardo (1772—1823)

164

4. Weitere klassische bürgerliche Ökonomen

175

5. Marx' Kritik des Systems von Smith und Ricardo

176

Literatur und Quellen

185

3.

KAPITEL

Die wissenschaftliche Ökonomie — Die politische Ökonomie des MarxismusLeninismus A. Die Kritik der bürgerlichen Ökonomie durch Marx

X

146

189 189

1. Die kritische Überwindung der klassischen bürgerlichen Ökonomie durch Marx

189

2. Lehren und Werke von Marx und Engels

194

3. Die Methode der politischen Ökonomie

198

4. Die Marxsche Theorie der politischen Ökonomie

206

B. Die politische Ökonomie des Kapitalismus

239

1. Die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung und Marx und Engels — die erste Hauptetappe der Entwicklung des Marxismus . . 239 2. Der Kampf mit dem Revisionismus — die zweite Etappe der Ausbreitung des Marxismus 252 3. Die Weiterentwicklung der politischen Ökonomie des Kapitalismus durch Lenin und Stalin 269 C. Die politische Ökonomie des Sozialismus

286

1. Die Bedeutung der politischen Ökonomie des Sozialismus

286

2. Marx und Engels als politische Ökonomen des Sozialismus

289

3. Lenin als politischer Ökonom des Sozialismus

294

4. Stalin als politischer Ökonom des Sozialismus

298

Literatur

309

4. K A P I T E L Die bürgerliche Ökonomie nach der Klassik — Die Auflösung der klassischen bürgerlichen Ökonomie, Vulgärökonomie und Apologetik

311

A. Die Auflösung der klassischen bürgerlichen Ökonomie zur Vulgärökonomie 312 1. Die bürgerlichen Nachfolger der englischen Klassik

312

2. Thomas Robert Malthus (1766—1834) — der „Klassiker" der bürgerlichen Apologetik 321 3. Die Zersetzung der klassischen bürgerlichen Ökonomie 4. Die klassische Schule in Deutschland

342 ^ . 358

B. Die historische Schule der bürgerlichen Ökonomie — der Empirismus 1. Das Wesen der bürgerlichen Ökonomie in Deutschland

371 371

2. Die „deutsche" Schule der politischen Ökonomie

377

3. Die historische Schule

386

C. Die Grenznutzentheorie

413

1. Das Wesen der Grenznutzentheorie

413

2. Hermann Heinrich Gossen

419

3. Das System der „Grenznutzentheorie"

423

4. Kritik der Grenznutzentheorie

432

Literatur

436 XI

5.

KAPITEL

Die kleinbürgerliche Kritik a m Sozialismus — der kleinbürgerliche Sozialismus

439

A. Der Begründer des kleinbürgerlichen Sozialismus — J. Ch. Sismonde de Sismondi

439

1. Kleinbürgerliche Kritik am Sozialismus

439

2. J e a n Charles Léonard Sismonde de Sismondi (1773—1842) 3. Pierre Joseph Proudhon (1809—1865) B. Der „liberale" Sozialismus

444 454 456

1. Die Bodenreformen

457

2. Der „liberale" Sozialismus Franz Oppenheimers

463

3. Die „Frei-Geld"-Bewegung

465

4. Der „dritte" Weg der „freien" Sozialisten

471

C. Der christliche „Sozialismus"

481

1. Das Wesen des christlichen „Sozialismus"

481

2. Der Solidarismus

485

Literatur

494 6.

KAPITEL

Die bürgerliche Ökonomie in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus 495 1. Der Institutionalismus

500

2. Der Funktionalismus

504

3. Gleichgewicht und wirtschaftliche Entwicklung

514

4. Der Bankrott des Liberalismus

551

5. Was bleibt, ist der Sozialismus

556

B. Der Universalismus — die Faschisierung der bürgerlichen Ökonomie

559

1. Der ideologische Reflex der faschistischen Diktatur

559

2. O t h m a r S p a n n

560

3. Der „deutsche" Sozialist W e r n e r Sombart

563

C. Die „neue" Ökonomie des I. W. Keynes

565

1. Die gesellschaftlichen Bedingungen

565

2. Die Keynessche Theorie der Beschäftigung

570

3. Die sogenannte „Paradoxie des Kapitalprofits"

575

4. Kritik des Keynesianismus

580

SCHLUSSBEMERKUNG Die Aufgaben der politischen Ökonomie in der Deutschen Republik XII

Demokratischen

585

EINLEITUNG

ZUR METHODE DER GESCHICHTE DER POLITISCHEN ÖKONOMIE 1. Der Gegenstand der politischen Ökonomie Unter dem Begriff der „Wirtschaftswissenschaften" werden an den deutschen Hochschulen und Universitäten heute noch sehr verschiedene Disziplinen zusammengefaßt. Die Kerndisziplin ist immer die ganz allgemein als „Volkswirtschaftslehre" bezeichnete Disziplin. Diese Kerndisziplin der Wirtschaftswissenschaften erscheint aber unter verschiedenen Namen, z. B. als allgemeine und besondere oder als theoretische und praktische Volkswirtschaftslehre oder auch Nationalökonomie und Sozialökonomie. Namen sind Programme! Und wenn in einer neuen bürgerlichen „Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorien" ihr Verfasser, Alfred Kruse, feststellt, daß „die Volkswirtschaftslehre . . . ihre Daseinsberechtigung als Wissenschaft darin" finde, „daß sie praktischen Bedürfnissen dient", dann hat er recht, aber in einem ganz anderen Sinne, als er meint.1) Namen sind Programme! Was heißt das? Das heißt, daß die bürgerliche Ökonomie mit ihrem wissenschaftlichen Charakter auch den Namen der wissenschaftlichen Ökonomie, den Namen: „politische Ökonomie" ablegte. Unter den verschiedenen Namen, mit denen an den deutschen Hochschulen und Universitäten, die noch Institutionen der bürgerlichen Klassenherrschaft sind, die Kerndisziplin der Wirtschaftswissenschaften bezeichnet wird, verbergen sich jene „Ideen" und Lehren, die ersonnen werden, um die immer schärfer werdenden Widersprüche des Kapitalismus in seiner allgemeinen Krise zu verhüllen und die Angriffe der Werktätigen auf eine verfaulende Gesellschaftsordnung fehlzulenken. An den Hochschulen und Universitäten des Teiles Deutschlands, der sich aus der ') Alfred Kruse, Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorie, München 1948, S. 7. 1 Behrens

1

tödlichen Gesetzlichkeit des Kapitalismus herauslöste, der Deutschen Demokratischen Republik, hat die Vulgärökonomie und die Apologetik dagegen keinen Platz mehr. Hier erscheint die wissenschaftliche Ökonomie als das, was sie ist: als politische Ökonomie, und zwar als politische Ökonomie der Arbeiterklasse, als politische Ökonomie des Marxismus-Leninismus. Manche werden nicht damit einverstanden sein, daß wir der bürgerlichen Ökonomie insgesamt ihren Charakter als Wissenschaft absprechen, obwohl ihre „Theorien" von der Erkenntnis der objektiven Wahrheit soweit w i e nur möglich entfernt sind. Die bürgerliche Ökonomie der Gegenwart aber als Wissenschaft zu bezeichnen — wir können nur mit Engels sagen — „dazu gehört eine stark entwickelte Gewohnheit, sich selbst etwas aufzubinden . . .'V) nämlich sich aufzubinden, daß das Systematisieren und Klassifizieren von Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Wirtschaft schon Wissenschaft ist, daß wissenschaftliches Denken und Eintreten für den imperialistischen Kapitalismus mit seinen brutalen Angriffen auf den Frieden und die Freiheit der Völker zu vereinbaren sind. Wenn man wissenschaftliche Ökonomie treiben will, dann darf man sich nicht — um einen Satz Stalins anzuwenden — „auf diejenigen Schichten der Gesellschaft orientieren, die sich nicht mehr entwickeln, auch wenn sie im gegenwärtigen Augenblick die vorherrschende K r a f t darstellen, sondern muß sich auf diejenigen Schichten orientieren, die sich entwickeln, die eine Zukunft haben, auch wenn sie im gegenwärtigen Augenblick nicht die vorherrschende K r a f t darstellen". 2 ) Wenn man wissenschaftliche Ökonomie — und das heißt: politische Ökonomie — treiben will, dann muß man sich — mit anderen Worten •—• auf die Arbeiterklasse orientieren. Die politische Ökonomie ist eine wichtige W a f f e der Arbeiterklasse i m Kampf gegen den Imperialismus und um den Sozialismus. Ihre Aufgabenstellung leitet sie von den Kampfaufgaben der Werktätigen ab, und als Voraussetzung für die Lösung dieser Kampfaufgaben analysiert sie die Kampfbedingungen. Diese enge und unmittelbare Verbundenheit mit dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse ist nicht ein besonderes Merkmal der wissenschaftlichen Ökonomie, wenn es auch bei ihr besonders hervorsticht. Da die herrschenden Klassen jede Wissenschaft in den Dienst ihres gesellschaftlichen Überbaus stellen, um sie für die Ausbeutung und Unterdrückung der werktätigen Massen auszunutzen, muß die Erforschung der Wahrheit und die Weiterentwicklung der Wissenschaft mit dem Zeitpunkt in Gegensatz zu dem Interesse der herrschenden Klasse geraten, w o diese aus einer fortschrittlichen zu einer reaktionären gesellschaftlichen K r a f t geworden ist. Von diesem Zeitpunkt an ist die Weiterentwicklung der Wissenschaft nur noch vom Standpunkt der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse aus möglich. Engels, Die Wohnungsfrage, Marx-Engels, Ausgewählte Werke, Bd. 1, Moskau 1950, S. 562. 2) Stalin, Über dialektischen und historischen Materialismus, Geschichte der KPdSU (B), Bücherei des Marxismus-Leninismus, Bd. 12, Berlin, 2. Auflage 1949,. S. 138. 9

Die Bourgeoisie schuf ihre politische Ökonomie im K a m p f gegen den Feudalismus zu einer Zeit, als sie eine fortschrittliche, emporstrebende Klasse war, die für die im Vergleich zum Feudalismus fortschrittlichere kapitalistische Ordnung kämpfte. Sie w a r an einer objektiven Erforschung der ökonomischen Wirklichkeit aus diesem Grunde interessiert, w e i l ihre Interessen in dieser Periode mit dem objektiven Gang der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft zusammenfielen. Ein Ausdruck dessen w a r auch die klassische bürgerliche Ökonomie. Jedoch hinderte die klassenmäßige Borniertheit bereits die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie, das ausbeuterische Wesen und den historisch vergänglichen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise aufzudecken, und entsprechend der Festigung des Kapitalismus und der V e r schärfung des Klassenkampfes zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat ging die bürgerliche Ökonomie immer mehr zur Verteidigung und Rechtfertigung dieser Gesellschaftsordnung über. Die proletarische politische Ökonomie w u r d e von M a r x und Engels geschaffen. Den Hauptzweck seines monumentalen Werkes, des „Kapitals", erblickte M a r x in der Aufdeckung des ökonomischen Bewegungsgesetzes der kapitalistischen Gesellschaft. Die Entdeckung der Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft diente Marx, w i e Lenin sagt, als Grundlage f ü r die furchtlose Voraussicht der Z u k u n f t und der kühnen, auf deren V e r w i r k lichung gerichteten praktischen Tätigkeit. A u f der Grundlage der ökonomischen A n a l y s e der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bestimmte M a r x die historische Mission des Proletariats als des Totengräbers des Kapitalismus und des Schöpfers der neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die ökonomische Lehre von Marx und Engels begründet die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus und der Errichtung der proletarischen Diktatur. Die politische Ökonomie untersucht nicht nur die Gesetze der ökonomischen Entwicklung in jeder einzelnen gesellschaftlichen Formation. Sie untersucht auch die gemeinsamen Gesetze der ökonomischen Entwicklung der verschiedenen gesellschaftlichen Formationen. Die politische Ökonomie deckt sowohl die ökonomischen Gesetze auf, die die verschiedenen gesellschaftlichen Formationen beherrschen, die Gesetze also, die mit einer bestimmten gesellschaftlichen Formation entstehen und wieder vergehen, w i e z. B. das Mehrwertgesetz und das Gesetz von der absoluten und relativen Verelendung der Arbeiterklasse im Kapitalismus, als auch die allen Formationen gemeinsamen ökonomischen Gesetze, wie z. B. das Gesetz von den Beziehungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, das Gesetz v o n der unbedingten Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem C h a r a k t e r der Produktivkräfte. Die politische Ökonomie ist, w i e J. W. Stalin in seiner letzten Arbeit schreibt, eine Wissenschaft, die die Gesetze der gesellschaftlichen Produktion und der Verteilung der materiellen Güter auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaft untersucht. l*

3

„Demnach sind die Gesellschaftsformationen nicht nur durch ihre eigenen spezifischen Gesetze voneinander getrennt, sondern auch miteinander durch allen Formationen gemeinsame ökonomische Gesetze verbunden", schreibt Stalin. 1 ) Die marxistisch-leninistische politische Ökonomie handelt also sowohl von den allgemeinen Gesetzen aller Produktionsformationen als auch von den spezifischen Gesetzen der konkret-historischen Produktionsformationen. „Gegenstand der politischen Ökonomie' sind die Produktionsverhältnisse, die ökonomischen Verhältnisse der Menschen", schreibt Stalin in seiner letzten Arbeit. „Hierzu gehören: a) die Formen des Eigentums an den Produktionsmitteln; b) die sich daraus ergebende Stellung der verschiedenen sozialen Gruppen in der Produktion und ihre wechselseitigen Beziehungen oder, wie Marx sagt: ,Der Austausch ihrer Tätigkeiten gegeneinander'; c) die völlig davon abhängenden Formen der Verteilung der Produkte. All das zusammengenommen bildet den Gegenstand der politischen Ökonomie." 2 ) Friedrich Engels hat bekanntlich in seiner berühmten Schrift „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" 3 ) die politische Ökonomie im weitesten Sinne von der politischen Ökonomie im engeren Sinne unterschieden. „Die politische Ökonomie im weitesten Sinne ist die Wissenschaft von den Gesetzen, welche die Produktion und den Austausch des materiellen Lebensunterhaltes in der menschlichen Gesellschaft beherrschen", heißt es bei Engels. 4 ) Engels schrieb dies im II. Abschnitt seines „Anti-Dühring" über „Politische Ökonomie" unter der Uberschrift „Gegenstand und Methode". 6 ) Er verfaßte den II. Abschnitt seines Werkes zwischen Anfang und Ende Juli 1877,6) also rund 12 Jahre nach dem Erscheinen des 1. Bandes des Marxschen Hauptwerkes „Das Kapital". „Produktion und Austausch sind zwei verschiedene Funktionen", heißt es weiter bei Engels. 7 ) „Produktion kann stattfinden ohne Austausch, Austausch — eben weil von vornherein nur Austausch von Produktion — nicht ohne Produktion. Jede dieser beiden gesellschaftlichen Funktionen steht unter dem Einfluß von großenteils besonderen äußeren Einwirkungen und hat daher auch großenteils ihre eigenen, besonderen Gesetze. Aber andererseits bedingen sie einander in jedem Moment und wirken in solchem Maß aufeinander ein, daß man sie als die Abszisse und die Ordinate der ökonomischen Kurve bezeichnen könnte." 8 ) ') Stalin, ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin 1952, S. 72. ä) Ebd., S. 74. 3 ) Neue Ausgabe: Bücherei des Marxismus-Leninismus, Berlin, Dietz Verlag 1943, künftig zitiert als „Anti-Dühring". *) A. a. O., S. 178. 5) Ebd. «) A. a. O., Vorbemerkung, S. X X I I I . 7) Ebd., S. 178. ») Ebd., S. 178. 4

Die politische Ö k o n o m i e im w e i t e s t e n S i n n e ist also nach Engels, g a n z i m S i n n e S t a l i n s l e t z t e r A r b e i t , die Wissenschaft, die die gemeinsamen Gesetze aller geschichtlichen Epochen z u m G e g e n s t a n d h a t u n d nicht n u r die Gesetze, die P r o d u k t i o n u n d A u s t a u s c h des m a t e r i e l l e n L e b e n s u n t e r h a l t e s in e i n e r spezifischen geschichtlichen Epoche r e g e l n . Ähnlich h a t auch M a r x d e n G e g e n s t a n d e i n e r solchen politischen Ö k o n o m i e definiert. M a r x schrieb in d e r genialen Skizze „ E i n l e i t u n g z u r K r i t i k d e r politischen Ökonomie", 1 ) die im A u g u s t 1857 entstand: 2 ) „ W e n n also v o n P r o d u k t i o n die R e d e ist, ist i m m e r die R e d e v o n P r o d u k t i o n auf e i n e r b e s t i m m t e n gesellschaftlichen E n t w i c k l u n g s s t u f e — v o n d e r P r o d u k t i o n gesellschaftlicher Individuen." 3 ) M a r x f ü g t e h i n z u : „Es k ö n n t e d a h e r scheinen, daß, u m ü b e r h a u p t v o n d e r P r o d u k t i o n zu sprechen, w i r e n t w e d e r d e n geschichtlichen E n t w i c k l u n g s p r o z e ß in seinen v e r s c h i e d e n e n P h a s e n v e r f o l g e n m ü s s e n oder v o n v o r n h e r e i n e r k l ä r e n , d a ß w i r es m i t e i n e r b e s t i m m t e n h i s t o r i s c h e n Epoche zu t u n h a b e n , also z. B. mit d e r m o d e r n e n b ü r g e r l i c h e n P r o d u k t i o n , die in d e r T a t u n s e r eigentliches T h e m a ist. Allein alle E p o c h e n d e r P r o d u k t i o n h a b e n gewisse M e r k m a l e g e m e i n , g e m e i n s a m e B e s t i m m u n g e n . Die P r o d u k t i o n i m a l l g e m e i n e n ist eine A b s t r a k t i o n , a b e r e i n e v e r s t ä n d i g e A b s t r a k t i o n , s o f e r n sie w i r k l i c h das G e m e i n s a m e h e r v o r h e b t , fixiert u n d u n s d a h e r die W i e d e r h o l u n g e r s p a r t . I n d e s dies A l l g e m e i n e , o d e r das d u r c h V e r gleichung h e r a u s g e s o n d e r t e G e m e i n s a m e , ist selbst ein vielfach G e g l i e d e r t e s , in v e r s c h i e d e n e B e s t i m m u n g e n A u s e i n a n d e r f a h r e n d e s . Einiges d a v o n g e h ö r t allen E p o c h e n ; a n d e r e s einigen g e m e i n s a m . (Gewisse) B e s t i m m u n g e n w e r d e n der m o d e r n s t e n Epoche m i t der ä l t e s t e n g e m e i n s a m sein." 4 ) Es sei a b e r verständlich, m e i n t M a r x , d a ß e i n e solche W i s s e n s c h a f t v o n d e n B e s t i m m u n g e n , die d e n v e r s c h i e d e n s t e n E p o c h e n g e m e i n s a m sind, das Spezifische d e r v e r s c h i e d e n e n geschichtlichen Epochen nicht a u s d r ü c k e n k a n n , da sie j a g e r a d e d u r c h die A b s t r a k t i o n v o n diesen V e r s c h i e d e n h e i t e n e n t s t e h t . G e w i ß sei es n o t w e n d i g , die g e m e i n s a m e n B e s t i m m u n g e n d e r geschichtlichen Epochen zu e r f a s s e n . „Es w i r d sich k e i n e P r o d u k t i o n o h n e sie d e n k e n lassen", schreibt M a r x d a h e r , f ä h r t a b e r f o r t : „Allein, w e n n die e n t w i c k e l t s t e n S p r a chen Gesetze u n d B e s t i m m u n g e n m i t d e n u n e n t w i c k e l t s t e n g e m e i n h a b e n , so ist g e r a d e das, w a s i h r e E n t w i c k l u n g a u s m a c h t , der U n t e r s c h i e d v o n d i e s e m A l l g e m e i n e n u n d G e m e i n s a m e n , die B e s t i m m u n g e n , die f ü r die P r o d u k t i o n ü b e r h a u p t gelten, m ü s s e n g e r a d e g e s o n d e r t w e r d e n , d a m i t ü b e r d e r E i n h e i t — die schon d a r a u s h e r v o r g e h t , d a ß das S u b j e k t , die Menschheit, u n d das O b j e k t , die N a t u r , dieselben — die w e s e n t l i c h e V e r s c h i e d e n h e i t n i c h t v e r gessen .wird. I n d i e s e m V e r g e s s e n liegt z. B. die g a n z e W e i s h e i t d e r m o d e r n e n Ö k o n o m e n , die die E w i g k e i t u n d H a r m o n i e d e r b e s t e h e n d e n sozialen V e r 1) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Bücherei Leninismus, Berlin, Dietz Verlag 1950, Anhang, S. 235 ff. 2 ) A. a. O., Vorbemerkung des Herausgebers, S. 6. 3) Ebd., S. 237. ->) Ebd., S. 237/238.

des

Marxismus-

5

hältnisse beweisen. Zum Beispiel ist keine Produktion möglich ohne ein Produktionsinstrument, wäre dieses Instrument auch nur die Hand. Keine Produktion möglich ohne vergangene, aufgehäufte Arbeit, wäre diese Arbeit auch nur die Fertigkeit, die in der Hand des Wilden durch wiederholte Übung angesammelt und konzentriert ist." 1 ) Daher ist für alle bürgerlichen Ökonomen, gleich welcher Entwicklungsstufe der bürgerlichen Ökonomie sie angehören, das Kapital auch kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern ein Ding. Marx schreibt an späterer Stelle: „Es gibt allen Produktionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden; aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sind nichts als diese abstrakten Momente, mit denen keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist." 2 ) Diese „allgemeinen Bedingungen aller Produktion", obwohl sie in den spezifischen Bedingungen jeder konkret-historischen Produktion enthalten sind, können daher nicht am Anfang der ökonomischen Forschung stehen. Sie sind vielmehr das Ergebnis der Erforschung der spezifischen Produktionsweisen und die von Marx, Engels, Lenin und besonders Stalin formulierten „allgemeinen Bedingungen aller Produktion", sind das Ergebnis der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie der Arbeiterklasse, der politischen Ökonomie des Kapitalismus und der politischen Ökonomie des Sozialismus. Die politische Ökonomie im weitesten Sinne entwickelt sich also mit der Entwicklung der politischen Ökonomie des Marxismus-Leninismus vom Kapitalismus und Sozialismus und führt andererseits zu einer Vertiefung der Erkenntnisse von diesen spezifischen Produktions- und Austauschformen. So notwendig daher eine politische Ökonomie im weitesten Sinne ist, sie ist für die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft, ihr Wesen, ihre Entstehung und ihre Entwicklung unzureichend. „Die Bedingungen, unter denen die Menschen produzieren und austauschen, wechseln von Land zu Land, und in jedem Lande wieder von Generation zu Generation", heißt es daher im Anti-Dühring. 3 ) „Die politische Ökonomie kann also nicht dieselbe sein für alle Länder und für alle geschichtlichen Epochen. Vom Bogen und Pfeil, vom Steinmesser und nur ausnahmsweise vorkommenden Tauschverkehr des Wilden bis zur tausendpferdigen Dampfmaschine, zum mechanischen Webstuhl, den Eisenbahnen und der Bank von England ist ein ungeheurer Abstand. Die Feuerländer bringen es nicht zur Massenproduktion und zum Welthandel, ebensowenig wie zur Wechselreiterei oder einem Börsenkrach. Wer die politische Ökonomie Feuerlands unter dieselben Gesetze bringen wollte mit der des heutigen Englands, würde damit augenscheinlich nichts zutage fördern als Ebd., S. 238. Ebd., S. 242. 3) Ebd., S. 178. 2)

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den allerbanalsten Gemeinplatz. Die politische Ökonomie ist somit wesentlich eine historische Wissenschaft. Sie behandelt einen geschichtlichen, d. h. einen stets wechselnden Stoff; sie untersucht zunächst die besonderen Gesetze jeder einzelnen Entwicklungsstufe der Produktion und des Austausches und wird erst am Schluß dieser Untersuchung die wenigen, für Produktion und Austausch überhaupt geltenden, ganz allgemeinen Gesetze aufstellen können. Wobei es sich jedoch von selbst versteht, daß die für bestimmte Produktionsweisen und Austauschformen gültigen Gesetze auch Gültigkeit haben für alle Geschichtsperioden, denen jede Produktionsweisen und Austauschformen gemeinsam sind."1) Die politische Ökonomie als Wissenschaft von den Gesetzen, die Produktion und Austausch des materiellen Lebensunterhaltes in einer spezifischen geschichtlichen Epoche regeln, das ist nach Engels politische Ökonomie im engeren Sinne. So ist die Wissenschaft von den Gesetzen, die Produktion und Austausch des materiellen Lebensunterhaltes im Kapitalismus regeln, politische Ökonomie des Kapitalismus. Die politische Ökonomie des Kapitalismus steht natürlich im Einklang .mit den Erkenntnissen der politischen Ökonomie im weitesten Sinne, so wie die ökonomische Gesetzlichkeit des Kapitalismus im Einklang steht mit der ökonomischen Gesetzlichkeit der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Aber so wie die ökonomische Gesetzlichkeit der menschlichen Gesellschaft überhaupt nicht identisch ist mit der ökonomischen Gesetzlichkeit einer spezifischen geschichtlichen Epoche, sowenig reicht politische Ökonomie im weitesten Sinne für die Erkenntnis der Ökonomie des Kapitalismus aus. „Die politische Ökonomie, als die Wissenschaft von den Bedingungen und Formen, unter denen die verschiedenen menschlichen Gesellschaften produziert und ausgetauscht und unter denen sich demgemäß jedesmal die Produkte verteilt haben — die politische Ökonomie in dieser Ausdehnung soll jedoch erst geschaffen werden", hieß es noch im Anti-Dühring bei Engels. „Was wir von ökonomischer Wissenschaft bis jetzt besitzen, beschränkt sich fast ausschließlich auf die Genesis und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise." 2 ) Engels gibt im Anschluß hieran seine geniale Skizze der Entwicklung der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Sie beginne — so stellte er fest — mit der Kritik der Reste der feudalen Produktions- und Austauschformen, weise die Notwendigkeit ihrer Ersetzung durch kapitalistische Formen nach, entwickele dann die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer entsprechenden Austauschformen nach der positiven Seite hin, d. h. nach der Seite, wonach sie die allgemeinen Gesellschaftszwecke fördere, und schließe ab mit der sozialistischen Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, d. h. mit der Darstellung ihrer Gesetze nach der negativen Seite hin, mit dem 1) Ebd., S. 178/179. (Hervorgehoben von mir, F. B.) Ebd., S. 182.

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Nachweis, daß diese Produktionsweise durch ihre eigene Entwicklung dem Punkt zutreibe, wo sie sich selbst unmöglich macht. „Diese Kritik weist nach, daß die kapitalistischen Produktions- und Austauschformen mehr und mehr eine unerträgliche Fessel werden für die Produktion selbst; daß der durch jene Formen mit Notwendigkeit bedingte Verteilungsmodus eine Klassenlage von täglich sich steigernder Unerträglichkeit erzeugt hat, den sich täglich verschärfenden Gegensatz von immer wenigeren, aber immer reicheren Kapitalisten und von immer zahlreicheren und im ganzen und großen immer schlechter gestellten besitzlosen Lohnarbeitern; und endlich, daß die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise erzeugten, massenhaften Produktivkräfte, die von jener nicht mehr zu bändigen sind, nur der Besitzergreifung harren durch eine zum planmäßigen Zusammenwirken organisierte Gesellschaft, um allen Gesellschaftsmitgliedern die Mittel zur Existenz und zu freier Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu sichern, und zwar in stets wachsendem Maß." 1 ) Diese geniale Skizze von der Entwicklung auszuführen — das ist eine der Aufgaben einer „Geschichte der politischen Ökonomie" von den Merkantilisten bis zur politischen Ökonomie des Marxismus-Leninismus. Marx vor allem gab uns mit seiner Kritik der bürgerlichen Ökonomie nicht nur die Theorie der politischen Ökonomie des Kapitalismus, sondern auch die Geschichte dieser politischen Ökonomie vor Marx als „Theorien über den Mehrwert". Die vollendete Theorie und die Geschichte der politischen Ökonomie war eine Notwendigkeit und kein in der Person von Marx begründeter historischer Zufall. „Um diese Kritik der bürgerlichen Ökonomie vollständig durchzuführen, genügte nicht die Bekanntschaft mit der kapitalistischen Form der Produktion, des Austausches und der Verteilung. Die ihr vorhergegangenen oder die noch neben ihr, in weniger entwickelten Ländern bestehenden Formen mußten ebenfalls, wenigstens in den Hauptzügen, untersucht und zur Vergleichung gezogen werden. Eine solche Untersuchung und Vergleichung ist bis jetzt im großen und ganzen nur von Marx angestellt worden, und seinen Forschungen verdanken wir daher auch fast ausschließlich das, was über die vorbürgerliche theoretische Ökonomie bisher festgestellt ist", sehreibt Engels.2) Engels fügt hinzu: „Obwohl gegen Ende des 17. Jahrhunderts in genialen Köpfen entstanden, ist die politische Ökonomie im engeren Sinn, in ihrer positiven Formulierung durch die Physiokraten und Adam Smith, doch wesentlich ein Kind des 18. Jahrhunderts und reiht sich den Errungenschaften der gleichzeitigen großen französischen Aufklärer an mit allen Vorzügen und Mängeln jener Zeit. Was wir von den Aufklärern gesagt, gilt auch von den damaligen Ökonomen. Die neue Wissenschaft war ihnen nicht der Ausdruck der Verhältnisse und Bedürfnisse ihrer Epoche, sondern der Ausdruck der ewigen Vernunft; die von ihr entdeckten Gesetze einer geschichtlich Ebd., S. 182/183. ä) Ebd., S. 183.

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bestimmten Form jener Tätigkeiten, sondern-ewige Naturgesetze; man leitete sie ab aus der Natur des Menschen. Aber dieser Mensch, bei Lichte besehen, war der damalige, im Übergang zum Bourgeois begriffene Mittelbürger,' und seine Natur bestand darin, unter den damaligen, geschichtlich bestimmten Verhältnissen zu fabrizieren und Handel zu treiben."1) Was bedeutete das weiter, als daß die bürgerlichen Ökonomen von „Natur" aus, d. h. auf Grund ihres Klassenstandpunktes, über der Einheit die wesentliche Verschiedenheit vergessen? Gerade hierin, in der Abstraktion von den wesentlichen Unterschieden und der Verabsolutierung einiger Bestimmungen, liegt das Wesen der bürgerlichen Ökonomie, und zwar — wie unbedingt hinzugefügt werden muß — in der bewußten Abstraktion, so daß die bürgerliche Ökonomie bewußte Apologetik ist. Die politische Ökonomie des Marxismus-Leninismus — so können wir schließen — ist also Einheit der politischen Ökonomie im weitesten Sinne, als der Wissenschaft von den allen gesellschaftlichen Formationen gemeinsamen ökonomischen Gesetzen und der politischen Ökonomie im engeren Sinne, als der Wissenschaft von den spezifischen ökonomischen Gesetzen der historischen gesellschaftlichen Formationen. So wie Karl Marx die Wissenschaft von der Ökonomie weiterentwickelte, indem er in seiner kritischen Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Ökonomen die politische Ökonomie der Arbeiterklasse schuf, so entwickelte sich die politische Ökonomie des MarxismusLeninismus in stetiger kämpferischer Auseinandersetzung mit den Irrlehren und Verfälschungen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ökonomen. Marx, Engels und Lenin führten während ihrer ganzen wissenschaftlichen Arbeit einen unerbittlichen Kampf gegen jede wissenschaftsfeindliche Auffassung, gegen jede Verzerrung und Verfälschung der Wahrheit, und Stalin gab uns in seiner letzten Arbeit über die „ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR" ein hervorragendes Beispiel für einen solchen Kampf.

2. Die Methode der Geschichte der politischen Ökonomie a) Zwei Möglichkeiten der Darstellung Es gibt zwei Möglichkeiten, die Geschichte der politischen Ökonomie darzustellen. Es gibt erstens den herkömmlichen — bürgerlichen — Weg der sogenannten „Dogmengeschichte", d. h. der Darstellung der einzelnen ökonomischen Kategorien, wie Wert, Preis, Zins, Rente usw.; es gibt zweitens den Weg, die Entwicklung der politischen Ökonomie mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise darzustellen. Die sogenannte „Dogmengeschichte" findet ') Ebd., S. 183/184. 9

bestimmten Form jener Tätigkeiten, sondern-ewige Naturgesetze; man leitete sie ab aus der Natur des Menschen. Aber dieser Mensch, bei Lichte besehen, war der damalige, im Übergang zum Bourgeois begriffene Mittelbürger,' und seine Natur bestand darin, unter den damaligen, geschichtlich bestimmten Verhältnissen zu fabrizieren und Handel zu treiben."1) Was bedeutete das weiter, als daß die bürgerlichen Ökonomen von „Natur" aus, d. h. auf Grund ihres Klassenstandpunktes, über der Einheit die wesentliche Verschiedenheit vergessen? Gerade hierin, in der Abstraktion von den wesentlichen Unterschieden und der Verabsolutierung einiger Bestimmungen, liegt das Wesen der bürgerlichen Ökonomie, und zwar — wie unbedingt hinzugefügt werden muß — in der bewußten Abstraktion, so daß die bürgerliche Ökonomie bewußte Apologetik ist. Die politische Ökonomie des Marxismus-Leninismus — so können wir schließen — ist also Einheit der politischen Ökonomie im weitesten Sinne, als der Wissenschaft von den allen gesellschaftlichen Formationen gemeinsamen ökonomischen Gesetzen und der politischen Ökonomie im engeren Sinne, als der Wissenschaft von den spezifischen ökonomischen Gesetzen der historischen gesellschaftlichen Formationen. So wie Karl Marx die Wissenschaft von der Ökonomie weiterentwickelte, indem er in seiner kritischen Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Ökonomen die politische Ökonomie der Arbeiterklasse schuf, so entwickelte sich die politische Ökonomie des MarxismusLeninismus in stetiger kämpferischer Auseinandersetzung mit den Irrlehren und Verfälschungen bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ökonomen. Marx, Engels und Lenin führten während ihrer ganzen wissenschaftlichen Arbeit einen unerbittlichen Kampf gegen jede wissenschaftsfeindliche Auffassung, gegen jede Verzerrung und Verfälschung der Wahrheit, und Stalin gab uns in seiner letzten Arbeit über die „ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR" ein hervorragendes Beispiel für einen solchen Kampf.

2. Die Methode der Geschichte der politischen Ökonomie a) Zwei Möglichkeiten der Darstellung Es gibt zwei Möglichkeiten, die Geschichte der politischen Ökonomie darzustellen. Es gibt erstens den herkömmlichen — bürgerlichen — Weg der sogenannten „Dogmengeschichte", d. h. der Darstellung der einzelnen ökonomischen Kategorien, wie Wert, Preis, Zins, Rente usw.; es gibt zweitens den Weg, die Entwicklung der politischen Ökonomie mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise darzustellen. Die sogenannte „Dogmengeschichte" findet ') Ebd., S. 183/184. 9

sich ausnahmslos in der Literatur der bürgerlichen Ökonomie. Sie entspricht der idealistischen und metaphysischen Grundkonzeption aller bürgerlichen Ökonomen, welches sogenannte „Ordnungsprinzip" sie auch f ü r die Darstellung der ökonomischen Lehrmeinungen wählen. So verschieden jedoch der W e g der Darstellung ist, den bürgerliche Ökonomen im einzelnen einschlagen, um die ökonomischen Lehrmeinungen darzustellen, immer gehen sie von äußeren und oberflächlichen Erscheinungen aus, nicht aber vom Wege, vom Gegenstand der politischen Ökonomie, von den ökonomischen Stadien der Gesellschaft und ihrer Entwicklung. Als Beispiel seien die Ausführungen eines neuen „Dogmenhistorikers", Anton Tautscher, angeführt. „Der Fehler mancher Herausgeber einer Dogmengeschichte, Vertreter der Volkswirtschaftslehre in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge einzufädeln, wurde dadurch zu vermeiden gesucht, daß inhaltlich verwandte Autoren in Gruppen zusammengefaßt wurden. Es galt ferner vorzüglich, den Zusammenhang der Probleme, wie ihn die einzelnen Hauptvertreter geben, zu zeigen." 1 ) Aber auch dieser sogenannte „Zusammenhang der Probleme" ist eine äußerliche, eine Oberflächenerscheinung. Es ist klar, daß nur die zweite Methode die wissenschaftliche Methode ist. Das versteht sich für den materialistischen Dialektiker von selbst, aber bereits der idealistische Dialektiker Hegel hat die sogenannte „Dogmengeschichte" verächtlich abgelehnt. So heißt es in der „Einleitung" zu seinen Vorlesungen über die „Geschichte der Philosophie": „Die Verfasser solcher Geschichten lassen sich mit Tieren vergleichen, welche alle Töne einer Musik mit durchgehört haben, an deren Sinn aber das Eine, die Harmonie dieser Töne, nicht gekommen ist." 2 ) Hegel meint, daß die Geschichte der Philosophie die Wissenschaft der Philosophie selbst wird, wenn der Begriff der Philosophie auf eine nicht willkürliche, sondern wissenschaftliche Weise gestellt wird. Wir werden sehen, daß auch die Geschichte der politischen Ökonomie, wissenschaftlich dargestellt, die Wissenschaft der politischen Ökonomie selbst ist. W i e viele andere Einsichten, so hat Hegel auch hier ein Prinzip gefunden, das erst vom MarxismusLeninismus verwirklicht wird, weil er die materialistische Dialektik bewußt auf alle Wissensgebiete anwendet. Für den idealistischen Dialektiker Hegel mußte dieses Prinzip im ganzen ein frommer Wunsch bleiben, soviel geniale Einsichten er uns auch in die Geschichte der Philosophie im einzelnen bietet. Auch diese Einsichten sind nur „gefunden", nicht bewußt entdeckt. „Denn das Bedeutende in der Geschichte ist seine Beziehung", sagt Hegel, „Zusammenhang mit einem Allgemeinen. Dies Allgemeine vor Augen bekommen, heißt dann seine Bedeutung erfassen." 3 ) ') Anton Tautscher, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Wien 1950, S. VII. 2) Hegel, Werke, Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, Bd. 17, Stuttgart 1940, S. 25. 3) Ebd., S. 33. 10

Die Geschichte der politischen Ökonomie ist nicht eine Sammlung und A u f zählung von Tatsachen und Lehrmeinungen ohne notwendigen Zusammenhang, sondern das Aufzeigen und Darstellen der Notwendigkeit ihrer Entwicklung am Leitfaden der materiellen Produktion der Gesellschaft. Was ist das „Allgemeine" der politischen Ökonomie? Es ist die Arbeit, die menschliche Arbeit, die Arbeit des vergesellschafteten, des in Gesellschaft lebenden, also produzierenden Menschen, mit einem Wort: die gesellschaftliche Arbeit. Das „Allgemeine" der politischen Ökonomie ist die gesellschaftliche Arbeit, ob sie nun unmittelbar als solche auftritt, wie in der Naturalwirtschaft, oder ob sie in versteckter und verhüllter Form als Wert -auftritt, wie in der Warenwirtschaft. Eine Geschichte der politischen Ökonomie muß daher u. a. die Geschichte der Entdeckung des Wertes und der Entwicklung der Wert- und Mehrwerttheorie sein, eine Geschichte der Entwicklung der Arbeitswerttheorie! Daher ist auch die Geschichte der politischen Ökonomie — wie wir noch sehen werden — die Theorie der politischen Ökonomie, aber in ihrer historischen Entwicklung dargestellt. Um Hegel noch einmal zu zitieren: „Nach dieser Idee behaupte ich nun" — sagt er — , „daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee. Ich behaupte" — sagte Hegel — , „daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere, und dergleichen betrifft: so erhält man die verschiedenen Stufen der Bestimmung der Idee selbst in ihrem logischen Begriffe. Umgekehrt, den logischen Fortgang für sich genommen, so hat man darin nach seinen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen; — aber man muß freilich diese reinen Begriffe in dem zu erkennen wissen, was die geschichtliche Gestalt enthält." 1 ) Hegel hat hiermit — wie gesagt — ein richtiges Prinzip ausgesprochen, das er selbst nicht verwirklichen konnte. Das zeigt aber, daß das bürgerliche Denken in Hegel einen nicht mehr überschreitbaren Höhepunkt erreichte. Das von Hegel gefundene Prinzip konnte nur von der „vom Kopf auf die Füße gestellten", von der materialistischen Dialektik verwirklicht werden. Es wurde in der von Marx geschaffenen Theorie der politischen Ökonomie verwirklicht, und wir müssen es auch in der Geschichte der politischen Ökonomie verwirklichen. Die Geschichte der politischen Ökonomie unterscheidet sich von der Theorie der politischen Ökonomie dadurch, daß diese — ausgehend vom Allgemeinsten — zum Konkreten aufsteigend, beides in einem wissenschaftlichen System darstellt, während jene Entdeckung und Erforschung des Allgemeinen und Konkreten sowie seine Darstellung im wissenschaftlichen System selbst untersucht. ') Ebd., S. 59." 11

Die Geschichte der politischen Ökonomie zeigt uns, wie das wissenschaftliche System der politischen Ökonomie entstand, wie das Sinnlich-Konkrete im wissenschaftlichen System verarbeitet wurde und auf welche Ursachen diese Entwicklung zurückzuführen ist. Sie zeigt, w i e das Abstrakt-Allgemeine — die Arbeit als Substanz des Wertes — entdeckt wurde und w i e durch die Erforschung des Sinnlich-Konkreten, der verschiedenen Seiten der Ökonomie, die wesentlichen Zusammenhänge erforscht und dargestellt wurden, um endlich das Konkrete als die Zusammenfassung vieler Bestimmungen, als Einheit des Mannigfaltigen, als wissenschaftliches System darzustellen. Das aber macht uns deutlich, daß neben der Theorie zu ihrem völligen Verständnis auch die Geschichte der politischen Ökonomie notwendig ist! b) Die Anwendung der materialistischen Dialektik Stalin machte in seiner Schrift „Über dialektischen und historischen M a terialismus" darauf aufmerksam, „welche gewaltige Bedeutung die Ausdehnung der Leitsätze des philosophischen Materialismus auf die Erforschung des gesellschaftlichen Lebens, auf die Erforschung der Geschichte der Gesellschaft hat, welche gewaltige Bedeutung der Anwendung dieser Leitsätze auf die Geschichte der Gesellschaft, auf die praktische Tätigkeit der Partei des Proletariats, zukommt." 1 ) Aus der Ausdehnung der Leitsätze des philosophischen Materialismus auf die Erforschung des gesellschaftlichen Lebens ergibt sich erstens, daß auch für die Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung existieren, daß ihr Zusammenhang und ihre wechselseitige Bedingtheit also nichts Zufälliges sind. „Also hört das gesellschaftliche Leben, die Geschichte der Gesellschaft auf, eine Anhäufung von Zufälligkeiten' zu sein, denn die Geschichte der Gesellschaft wird zur gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft, und die Erforschung der Geschichte der Gesellschaft verwandelt sich in eine Wissenschaft." 2 ) Zweitens ergibt sich daraus, daß das gesellschaftliche Leben und die Entwicklung der Gesellschaft nicht nur prinzipiell erkennbar sind, sondern daß die Ergebnisse der Gesellschaftswissenschaft „zuverlässige" Elemente sind, die die Bedeutung objektiver Wahrheiten haben. „Also kann die Wissenschaft von der Geschichte der Gesellschaft trotz aller Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens zu einer genau so exakten Wissenschaft werden wie, sagen wir, die Biologie, zu einer Wissenschaft, die imstande ist, die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft in der Praxis auszunutzen." 3 ) Drittens schließlich ergibt sich daraus, daß das materielle Leben der Gesellschaft nicht nur eine objektive Realität, sondern auch das Ursprüngliche und Bedingende, das geistige Leben aber eine W i d e r ') Geschichte der KPdSU (B), Bücherei des Marxismus-Leninismus, Bd. 12, Berlin, Dietz Verlag, 1950, S. 143. 2) Ebd., S. 143. 3) Ebd., S. 141. 12

Spiegelung dieser — unabhängig vom Willen der Menschen existierenden — objektiven Realität, das Abgeleitete und Bedingte ist. „Also darf man die Quelle der Gestaltung des geistigen Lebens der Gesellschaft, den Ursprung der gesellschaftlichen Ideen, der gesellschaftlichen Theorien, der politischen Anschauungen, der politischen Einrichtungen nicht in den Ideen, Theorien, Anschauungen, politischen Einrichtungen selbst suchen, sondern muß sie in den Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft, in dem gesellschaftlichen Sein suchen, dessen Abbild diese Ideen, Theorien, Anschauungen usw. sind." 1 ) Das sind die drei Schlußfolgerungen, die Stalin aus der Anwendung des philosophischen Materialismus auf die Erforschung des gesellschaftlichen Lebens zieht! Was bedeutet das zunächst ganz allgemein für die Geschichte jeder Wissenschaft? Das bedeutet, daß' auch die Wissenschaft und ihre Entwicklung nichts Z u fälliges sind, sondern einer objektiven und daher erkennbaren Gesetzmäßigkeit unterliegen, und daß wir Ursprung und Entwicklung jeder Wissenschaft nicht im geistigen Leben der Gesellschaft, sondern in ihrem materiellen Leben suchen müssen. „Wenn also in verschiedenen Perioden der Geschichte der Gesellschaft verschiedene gesellschaftliche Ideen, Theorien, Anschauungen, politische Einrichtungen zu beobachten sind, wenn w i r in der auf Sklaverei beruhenden G e sellschaftsordnung die einen gesellschaftlichen Ideen, Theorien, Anschauungen, politischen Einrichtungen antreffen, unter dem Feudalismus andere, unter dem Kapitalismus wieder andere, so erklärt sich das nicht aus der ,Natur', aus der ,Eigenschaft' der Ideen, Theorien, Anschauungen, politischen Einrichtungen selbst, sondern aus den verschiedenen Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft in den verschiedenen Perioden der gesellschaftlichen Entwicklung", schreibt Stalin und fügt hinzu: „Wie das Sein der Gesellschaft, wie die Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft, so sind ihre Ideen, Theorien, politischen Anschauungen, politischen Einrichtungen." 2 ) Stalin umreißt so klar und bestimmt das Verhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Sein und dem gesellschaftlichen Bewußtsein, das Verhältnis also zwischen den „Bedingungen der Entwicklung" des materiellen Lebens der Gesellschaft und der Entwicklung ihres geistigen Lebens. Stalin untersucht aber auch, was vom Standpunkt des historischen Materialismus unter den „Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft" zu verstehen ist, die — wie Stalin schreibt — „in letzter Instanz das Gepräge der Gesellschaft, ihre Ideen, Anschauungen, politischen Einrichtungen usw. bestimmen". 3 ) 1) Ebd., S. 144. 2) Ebd., S. 145. 3) Ebd., S. 148.

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Die objektiven Gesetze, denen die gesellschaftliche Tätigkeit der Menschenuntergeordnet ist, verändern sich mit den Veränderungen in der Produktion des materiellen Lebens, mit den ökonomischen Bedingungen. Neben den allgemeinen ökonomischen Gesetzen, die allen gesellschaftlichen Formationen gemeinsam sind, gibt es solche ökonomischen Gesetze, die an. bestimmte ökonomische Bedingungen geknüpft sind, wie z. B. das Wertgesetz, das an die beiden Bedingungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und des Eigentums an den Produktionsmitteln, und das Mehrwertsgesetz, das an die Bedingungen des Vorhandenseins einer Klasse „freier" Lohnarbeiter — im bekannten „doppelten" Sinn — geknüpft ist. Während die allgemeinen ökonomischen Gesetze, wie z. B. das der Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Produktivkräften und den Produktionsweisen für alle gesellschaftlichen Produktionsweisen gilt, sind die besonderen Gesetze von relativ kurzer Dauer. Sie sind entweder — wie das Mehrwertsgesetz — nur in einer bestimmten gesellschaftlichen Formation wirksam oder sie wirken wie das Wertgesetz nicht in allen gesellschaftlichen Formationen. Solche ökonomischen Gesetze von kurzer Dauer werden aber nicht von den Menschen aufgehoben, sondern sie verlieren ihre Kraft, weil neue ökonomische Bedingungen entstehen, die zu neuen Gesetzmäßigkeiten führen. Infolge der Vergesellschaftung der Produktionsmittel unter der proletarischen Diktatur, die möglich und notwendig wird, weil der Kapitalismus die Produktion vergesellschaftete, verliert z. B. das Gesetz der Konkurrenz seine Kraft. Es tritt ab vom Schauplatz, um einem neuen ökonomischen Gesetz, dem Gesetz der planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft, Platz zu machen, das also keineswegs durch den Willen der Menschen „geschaffen" wurde, sondern auf der Grundlage neuer ökonomischer Bedingungen, der Vergesellschaftung der Produktionsmittel entsteht. Sämtliche ökonomischen Gesetze, die allgemeinen und die besonderen und von den besonderen nicht nur die der Klassengesellschaften, sondern auch die der sozialistischen Gesellschaft, haben objektiven Charakter und existieren unabhängig vom Willen der Menschen. Sie werden nicht nach dem Willen der Menschen geschaffen, sondern entstehen auf der Grundlage neuer ökonomischer Bedingungen. Die allgemeinen Entwicklungsgesetze der gesellschaftlichen Formationen, die Marx entdeckte und in seinem berühmten „Vorwort" zur „Kritik der politischen Ökonomie" formulierte und die von Lenin und insbesondere von Stalin weiterentwickelt wurden, kommen in jeder gesellschaftlichen Formation, also auf eine spezifische Art, je nach dem historischen Charakter der ihr zugrunde liegenden Produktionsmethoden zum Ausdruck. Es ist klar, daß je nach der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, ihrer realen Basis, daher die ökonomische Gesetzlichkeit eine spezifische ist. „In großen Umrissen können asiatische, antike feudale und moderne bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden", heißt es im „Vorwort" der „Kritik der politischen Ökonomie". Stalin, der die Anwendung des dialektischen Materialismus auf die Gesellschaft 14

durch Marx weiterentwickelte und konkretisierte, spricht in seiner Schrift „Über dialektischen und historischen Materialismus" von den fünf „Grundtypen von Produktionsverhältnissen", die die Geschichte kennt: „die Produktionsverhältnisse der Urgemeinschaft, der Sklaverei, des Feudalismus, des Kapitalismus, des Sozialismus".1) In Übereinstimmung und als Folge der Veränderung und Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte veränderten sich die Produktionsverhältnisse der Menschen und entwickelten sich von der Urgemeinschaft über die verschiedenen auf Ausbeutung beruhenden Klassengesellschaften zum Sozialismus und zur klassenlosen Gesellschaft des modernen Kommunismus. „Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinne von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelten Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft."2) Diese prophetischen Worte, die Marx in seinem „Vorwort" der „Kritik der politischen Ökonomie" niederschrieb, sind inzwischen Wirklichkeit geworden. Mit der siegreichen Großen Sozialistischen Oktoberrevolution trat die Menschheit in einen neuen Abschnitt ihrer Entwicklung ein. Ihre Vorgeschichte ist abgeschlossen, und es beginnt ihre durch die Beherrschung und Ausnutzung der Gesetze der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bewußt gemachte Geschichte. Der Sieg der Oktoberrevolution war eine grundlegende Wendung in der Geschichte der Menschheit, es war jener Sprung vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, von dem Engels in einem anderen Zusammenhang sprach. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von einem Grundtypus der Produktionsverhältnisse zu einem höheren Grundtypus der Produktionsverhältnisse ist keine zufällige, sondern eine gesetzmäßige und bedingt durch die Entwicklung der materiellen Produktion. Marx gibt in dem Hauptwerk seines Lebens „Das Kapital" die allseitige wissenschaftliche Analyse der ökonomischen Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Produktions- und Austauschweise, die wissenschaftliche Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, ihres Entstehens, ihrer Entwicklung, ihres Verfalls und der Unvermeidlichkeit der revolutionären Umwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus. „Das Kapital" enthält daher die wissenschaftliche Begründung für die Diktatur des Proletariats, mit deren Hilfe die Arbeiterklasse den Kapitalismus beseitigt und die kommunistische Gesell1) A. a. O., S. 15. 2) A. a. O., S. 14. 15

schaft errichtet. Lenin und Stalin entwickelten die marxistische politische Ökonomie des Kapitalismus schöpferisch weiter für die Periode des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Lenins Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" und Stalins „Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus" sind die direkte Fortsetzung des „Kapitals" von Marx. Was folgt daraus? Daraus folgt, daß es Aufgabe einer wissenschaftlichen Geschichte der Wissenschaft, also auch einer wissenschaftlichen Geschichte der politischen Ökonomie sein muß, von der materiellen Produktion ausgehend, aus ihren Widersprüchen und Problemen auch die Entwicklung der Wissenschaft zu erklären und nicht umgekehrt aus der Entwicklung der Wissenschaft auf die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Widersprüche und Probleme zu schließen. Daraus folgt, daß die Entwicklung der politischen Ökonomie in letzter Instanz durch die materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft bestimmt wird und daß eine ideengeschichtliche Entwicklung nur sehr bedingt existiert. Die Geschichte der politischen Ökonomie steht somit im engen Zusammenhang mit der Geschichte der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, der Wirtschaftsgeschichte, ohne aber selbst Wirtschaftsgeschichte zu sein. Für die Geschichte der politischen Ökonomie ist die Wirtschaftsgeschichte vielmehr nur eine Hilfswissenschaft, die die Kenntnisse von den Widersprüchen und Problemen der jeweiligen ökonomischen Struktur liefert. Selbstverständlich gibt es auch in der politischen Ökonomie ein Problem der ideologischen Tradition, aber — und gerade die Entwicklung der deutschen bürgerlichen Ökonomie beweist uns das — die Auswahl der brauchbaren aus den vorhandenen Ideen ist kein logisches und auch kein psychologisches Problem, sondern ein historisch-gesellschaftliches, ein politisches Problem. Bei der Untersuchung und Darstellung der verschiedenen „Systeme" der Ökonomie müssen wir daher immer von der konkreten historischen Lage und den klassenmäßigen Wurzeln der Ideen ausgehen. Was folgt daraus für die Geschichte der politischen Ökonomie? Für den Marxisten-Leninisten ist die Dialektik — als materialistische Dialektik — nirgends eine Methode, nach der er die Geschichte beurteilt, sondern sie ist für ihn die Bewegung der Geschichte selbst. Daraus folgt ein Doppeltes: erstens folgt daraus, daß zu den wichtigsten Aufgaben der marxistisch-leninistischen Wissenschaftler die Pflege der echten wissenschaftlichen Traditionen gehört. Worin besteht das Wesen der wissenschaftlichen Tradition? Das Wesen der wissenschaftlichen Tradition besteht in der quantitativen Vermehrung und qualitativen Verbesserung der Erkenntnisse der Wissenschaft von Natur und Gesellschaft. Es besteht in der immer tieferen Erfassung und gründlicheren Durchdringung von Natur und Gesellschaft und in der immer klareren Formulierung ihrer Erkenntnisse. Die Tradition der 16

Wissenschaft besteht — mit anderen Worten — in der Erforschung der W a h r heit und ihrer Verteidigung. Sie steht also im Gegensatz zu den Verfälschungen der Wissenschaft und zu ihrer Entstellung im Kapitalismus und f ü h r t einen unversöhnlichen Kampf gegen sie. Mit der Liquidierung des kapitalistischen ideologischen Überbaus durch die sozialistische Revolution wird daher auch die Wissenschaft von ihrem Mißbrauch durch die Bourgeoisie, von ihren Verfälschungen und Entstellungen befreit. Die Überlieferung von reaktionären „Theorien", Lügen und Fälschungen, wie sie seit vielen Jahrzehnten in der bürgerlichen Ökonomie üblich ist, hat daher mit wissenschaftlicher Tradition nichts zu tun. Sie beruht auch etwa nicht auf einer mysteriösen „Eigengesetzlichkeit" der Wissenschaft, sondern hat ihre Ursachen in der Entwicklung des Kapitalismus selbst, in der zunehmenden Schärfe des Klassenkampfes, hervorgerufen durch die immer tiefer werdenden Widersprüche, insbesondere in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Engels weist in seiner Schrift „Feuerbach und der Ausgang der Deutschen Philosophie" darauf hin, daß die Dialektik auch eine konservative Seite habe. „Sie erkennt die Berechtigung bestimmter Erkenntnis- und Gesellschaftsstufen f ü r deren Zeit und Umstände a n . . ,"1) Aber: dieser Konservatismus der Dialektik ist relativ! Ihr revolutionärer Charakter dagegen ist absolut — „das einzig Absolute, das sie gelten läßt". 2 ) Die Hegelsche — idealistische — Dialektik litt an dem unheilbaren — undialektischen Widerspruch, daß Hegel entgegen seinem Prinzip die absolute Wahrheit gefunden zu haben glaubte. Deswegen stellte Engels in seiner Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" fest, daß „das Hegeische System als solches — eine kolossale Fehlgeburt" war — „aber auch die letzte ihrer Art". 3 ) Die vom Kopf auf die Füße gestellte — materialistische Dialektik, die Dialektik von Marx und Engels machte Ernst mit dem Prinzip, „die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als einen Prozeß" a u f zufassen, d. h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen . . .4) Und deswegen, weil f ü r die materialistische Dialektik eben die Dialektik das einzig Absolute ist, kann nur sie auch das Problem der Tradition in der Wissenschaft richtig und endgültig lösen. Während die idealistische Dialektik an dem unlösbaren Widerspruch zwischen Methode und System scheiterte, 5 ) kann dieser Widerspruch f ü r die materialistische Dialektik überhaupt nicht existieren, weil ihr Stoff nicht die Ideologie, sondern die — in stetiger Veränderung sich befindliche — Wirklichkeit von Natur und Gesellschaft ist. Die materialistische Dialektik — das ist der springende Punkt — läßt die „für jeden einzelnen unerreichbare ,absolute Wahrheit' laufen und jagt dafür den erreichbaren relativen Wahrheiten nach auf dem *) ) 3) 4) 5)

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Marx-Engels, Ausgewählte Werke in 2 Bänden, Bd. II, a. a. O., S. 337. Ebd., S. 338. A. a. O., S. 123, Marx-Engels, AW in 2 Bänden, Bd. II. Ebd., S. 124. Engels, a. a. O., S. 338.

2 Behrens

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Wege der positiven Wissenschaften und der Zusammenfassung ihrer Resultate vermittels des dialektischen Denkens". 1 ) Die kämpferische Weiterentwicklung der positiven Wissenschaften, die u n aufhaltsame Vermehrung unseres positiven Wissens von Natur und Gesellschaft, unserer Kenntnisse an Tatsachen und Erkenntnisse ihrer inneren Natur und der ständige Kampf gegen Verfälschungen und Verzerrungen — das ist die Antwort auf die Frage nach der Tradition in der Wissenschaft. F ü r jegliches Sektierertum und f ü r versteckten „Proletkult" in der Wissenschaft ist kein Platz, da hierdurch die Weiterentwicklung der objektiven Erkenntnis von Natur und Gesellschaft gehemmt wird. Zweitens folgt daraus, daß zu den wichtigsten Aufgaben des marxistischleninistischen Wissenschaftlers die bewußte Parteinahme gehört. Das Prinzip der Parteilichkeit gilt f ü r die gesamte Wissenschaft, f ü r die Naturwissenschaft ebenso wie f ü r die Gesellschaftswissenschaft. Der Standpunkt, der die Stellung der Wissenschaft in der Gesellschaft nicht von ihrem allgemeinen Wesen, exakte Erkenntnis der objektiven W i r k lichkeit in Natur und Gesellschaft, sondern von ihrem besonderen Objekt, Natur- und Gesellschaftswissenschaften, abhängig macht, bringt uns, wie ich glaube, in die Nähe eines der Entwicklung der Wissenschaft gefährlichen Relativismus und schränkt das Prinzip der Parteilichkeit, das sich — wie Lenin uns gezeigt hat — mit Notwendigkeit daraus ergibt, daß die objektive Wahrheit n u r vom Standpunkt der aufsteigenden Klasse erkannt werden kann, zu sehr auf die Gesellschaftswissenschaften ein. Die Tatsache, daß die Wissenschaft uns objektive Wahrheit vermittelt,, indem sie die objektive, außerhalb des menschlichen Bewußtseins und unabhängig von ihm bestehende Welt richtig widerspiegelt, ist ja gerade auch der Grund, weswegen die Wissenschaft nicht auf jeder Entwicklungsstufe zerstört und neu geschaffen wird, sondern durch Sammlung von Erkenntnissen, von relativen Wahrheiten., die zu verschiedener Zeit und von verschiedenen Generationen gewonnen worden sind, fortschreitet. 2 ) Parteilichkeit f ü r die aufsteigende Klasse, unversöhnlicher Kampf gegen Idealismus und Metaphysik, ist also f ü r die Erkenntnis der objektiven Wahrheit in Natur und Gesellschaft eine unerläßliche Voraussetzung. Der Standpunkt der herrschenden Klassen in der Ausbeutergesellschaft f ü h r t zu einer Zerstörung der Wissenschaft, sobald eine Ausbeutergesellschaft sich überholt hat und eine neue Klasse zur Herrschaft drängt. Das zeigt sich besonders deutlich in der Entwicklung der politischen Ökonomie. Gerade deswegen, 1) Ebd., S. 340. ) In seinem Werk über „Materialismus und Empiriokritizismus" hat Lenin besonders stark hervorgehoben, daß gerade der objektive Wahrheitsgehalt der wissenschaftlichen Ideologie ihre Unversöhnlichkeit gegenüber religiösen Vorurteilen aller Art bedingt. „Geschichtlich bedingt ist jede Ideologie, aber unbedingt ist, daß jeder wissenschaftlichen Ideologie (im Unterschied z. B. zur religiösen Ideologie) die objektive Wahrheit, die absolute Natur entspricht." A. a. O., S. 135/136. 2

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gerade weil ohne Parteilichkeit für die Arbeiterklasse heute eine Entwicklung für keine Wissenschaft möglich ist, müssen wir auch jede — wenn auch unbewußte — Einschränkung der Parteilichkeit auf die Gesellschaftswissenschaften ablehnen. Im ganzen gesehen, war die Entwicklung der Gesellschaftswissenschaft vor dem Auftreten des Marxismus lediglich die Vorgeschichte der Gesellschaftswissenschaft. Marx und Engels, die großen Lehrer und Führer des Proletariats, die den Materialismus auf die gesellschaftlichen Erscheinungen ausdehnten, die eine wahrhaft wissenschaftliche Theorie von der Entwicklung der Gesellschaft schufen, führten eine echte Revolution in der Lehre von der Gesellschaft herbei. In den Werken von Lenin und Stalin fand die Gesellschaftswissenschaft ihre Weiterentwicklung. Indem wir konsequent und kämpferisch den Klassenstandpunkt vertreten, den Standpunkt der Arbeiterklasse, indem wir parteiisch für das Neue, Werdende, eintreten und das Alte, Sterbende, bekämpfen, dienen wir der wissenschaftlichen Wahrheit. c) Die Parteilichkeit der Wissenschaft Selbstverständlich gibt es überhaupt keine Geschichtsschreibung ohne Parteinahme. Das hat schon der idealistische Dialektiker Hegel ausgesprochen. „Es muß die Forderung als gerecht zugestanden werden", sagte er in seiner „Geschichte der Philosophie",1) „daß eine Geschichte, es sei von welchem Gegenstand es wolle, die Tatsachen, ohne Parteilichkeit, ohne ein besonderes Interesse und Zweck durch sie geltend machen zu wollen, erzähle. Mit dem Gemeinplatz einer solchen Forderung kommt man jedoch nicht weit. Denn notwendig hängt die Geschichte eines Gegenstandes mit der Vorstellung aufs engste zusammen, welche man sich von demselben macht. Danach bestimmt sich schon dasjenige, was für ihn wichtig und zweckmäßig erachtet wird, und die Beziehung des Geschehenen auf denselben bringt eine Auswahl der zu •erzählenden Begebenheiten, eine Art sie zu fassen, Gesichtspunkte, unter welche sie gestellt werden, mit." Aber diese — selbstverständlich, von ernst zu nehmenden Menschen überhaupt nicht zu leugnende — Parteilichkeit ist noch nicht die materialistische Parteilichkeit. Shdanow hat nachgewiesen, daß Alexandrow in seiner „Geschichte der Philosophie", obwohl er sich zu dieser Parteilichkeit ausdrücklich bekannte, „die Darlegung des Prinzips der Parteilichkeit in der Philosophie ganz und gar nicht geglückt" sei, weil er die philosophischen Auffassungen „abstrakt, objektivistisch, neutral" darlegte, die „philosophischen Schulen — nacheinander oder nebeneinander, jedoch nicht im Kampf miteinander", zeigte.2) Hegel, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Bd. 17, 2. Auflage, Stuttgart 1940, S. 23/24. -') Shdanow, a. a. O., S. 16/17.

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Die Parteilichkeit des dialektischen Materialismus besteht nicht in einer irgendwie — mehr oder minder subjektiven und zufällig — bestimmten Auswahl der Tatsachen, sondern darin, die klassenmäßigen Wurzeln der Ideen und Theorien bloßzulegen, die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung aufzuzeigen und auf die Seite der aufsteigenden Klasse die alten und absterbenden Klassen zu bekämpfen. Das ist die materialistische Parteilichkeit und, weil es außerhalb des Materialismus keine Wissenschaft gibt, die Parteilichkeit jedes wahrhaften Wissenschaftlers. Alle bedeutenden bürgerlichen Ökonomen haben auch zu der Zeit, als der Kapitalismus noch eine progressive Kraft war, sehr klar und eindeutig Partei ergriffen. Sie haben Partei ergriffen für die Bourgeoisie gegen die Grundherren, für den Kapitalismus gegen den Feudalismus. Deshalb war ja auch ihre Ökonomie weit entfernt von der modernen bürgerlichen Ökonomie, von der Kruse schreibt: „Sie hat praktische, ja hervorragend wichtige Fragen zu beantworten."1) Wie uns Lenin lehrt, schließt der „Materialismus sozusagen die Parteimäßigkeit in sich ein, da er verpflichtet, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen auf den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe zu treten".2) In seiner Arbeit „Der ökonomische Inhalt des Narodnikitums und seine Kritik im Buche des Herrn Struve"3) kennzeichnet Lenin den Unterschied zwischen Objektivismus und Parteilichkeit in der Wissenschaft. „Der Objektivist spricht von der Notwendigkeit des gegebenen historischen Prozesses", schreibt Lenin,4) „der Materialist stellt die gegebene ökonomische Gesellschaftsformation und die von ihr erzeugten antagonistischen Verhältnisse genau fest. Der Objektivist läuft, wenn er die Notwendigkeit einer gegebenen Reihe von Tatsachen nachweist, stets Gefahr, auf den Standpunkt eines Apologeten dieser Tatsachen zu geraten; der Materialist enthüllt die Klassengegensätze und bestimmt damit seinen Standpunkt. Der Objektivist spricht von .unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen', der Materialist spricht von jener Klasse, die die gegebene Wirtschaftsordnung ,leitet', wobei sie diese und jene Formen des Entgegenwirkens anderer Klassen erzeugt. Auf diese Weise ist der Materialist einerseits folgerichtiger als der Objektivist und führt seinen Objektivismus tiefgehender und vollständiger durch. Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Prozesses, sondern stellt klar, welche ökonomische Gesellschaftsformation namentlich diesem Prozeß seinen Inhalt gibt, welche Klasse namentlich diese Notwendigkeit bestimmt."5) ') A. a. O., S. 7, Kruse. 2) Ausgewählte Werke in 12 Bänden, Bd. 11, Moskau 1938, S. 351. 3 ) Ebd., S. 351. ) A. a. O., S. 156. ) Ebd.

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den Verteidigungsfähigkeit durch die vereinte Kraft, die Zusammenwirkung der Horde." 1 ) Nur allmählich entstand mit der zunehmenden Produktivkraft der menschlichen Arbeit auf der Grundlage der sich entfaltenden Teilung der Arbeit privates Eigentum an den Produktionsmitteln und damit Austausch der Arbeitsprodukte als Waren. Der Wirkungsgrad der menschlichen Arbeit erhöhte sich durch die Verbesserung der ursprünglichen Produktionsinstrumente, vor allem aber durch die Entstehung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit, so daß in steigendem Maße von den Produzenten ein Mehrprodukt produziert wurde, das eine Ausbeutung von Menschen durch Menschen und eine Aufspaltung der Urgemeinschaft in Klassen möglich machte. Immer mehr trat — wie Engels in seiner Schrift „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" hervorhebt — daher das Interesse einer kleinen Minderheit über die Interessen der großen Masse. Damit entstand auch der Staat, dessen Existenz ausgeschlossen war, solange es kein Privateigentum, keine Spaltung der Gesellschaft in Klassen und keine Ausbeutung von Menschen durch Menschen gab. Die Teilung der Arbeit, der ihr entspringende Handel und die Warenproduktion, die Erzeugung von Mehrprodukt und die durch sie ermöglichte Gliederung der Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete, in Reiche und Arme, die Ablösung des Gemeineigentums durch Privateigentum und, daraus entspringend, Zins, Wucher zerstörten die alte Gentilverfassung und schufen sich als einzige den Umständen gemäß gesellschaftliche Verfassung den Staat: den Staat, in dem die Menschen räumlich, nach Berufen und nach dem Reichtum gegliedert sind und in dem Verwandtschaft nur noch insofern eine Rolle spielt, als sie Beziehungen gibt und Vererbung möglich macht. Um das zu verstehen, müssen wir die Entwicklung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit näher betrachten. Sie entsteht ganz allmählich mit der Entwicklung der Produktionsinstrumente und ist zunächst in ihrer einfachsten Form als naturwüchsige Teilung der Arbeit nach Geschlecht und Alter, d. h. zwischen Männern und Frauen und zwischen den verschiedenen Altersgruppen, vorhanden. Die erste große gesellschaftliche Teilung der Arbeit, die in der Urgemeinschaft auf der Grundlage der naturwüchsigen Teilung der Arbeit nach Geschlecht und Alter einsetzte, war die Scheidung von Ackerbau und Viehzucht, die Aussonderung der Hirtenstämme. Bis zu dieser Zeit lebten die Menschen der Urgemeinschaft in ihren kleinen naturwüchsigen Gemeinwesen praktisch in autarker Wirtschaft. Alle Produkte, die sie zur Befriedigung ihrer primitiven Bedürfnisse benötigten, wurden von den einzelnen Gemeinschaften selbst gesammelt oder hergestellt. Mit der Verbreitung fester Siedlungen auf der einen Seite und der Einführung der Viehzucht mit schnellerer Vermehrung der Lebensmittel auf der anderen ') A. a. O., S. 36. 37

Seite begann sich allmählich ein Austausch von Produkten zwischen verschiedenen Gemeinwesen anzubahnen. Erst sehr zufällig, allmählich aber bewußter bildete sich ein wechselseitiger Austausch der Arbeitsprodukte zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern heraus als erste große gesellschaftliche Teilung der Arbeit. Es ist klar, daß dies zusammen mit der Verbesserung der Produktionsinstrumente zu einer wesentlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität führen mußte. Die zweite große gesellschaftliche Teilung der Arbeit, die in der Urgemeinschaft begann, war die Sonderung des Handwerks vom Ackerbau. Neben dem Ackerbau und der Viehzucht entwickelten sich auch andere Arten der Produktionstätigkeit. Die Menschen lernten, Gefäße aus Ton herzustellen. Die Handweberei kam auf. Mit der Entdeckung des Schmelzens des Eisens wurde die Herstellung metallener Werkzeuge und metallener Waffen möglich. Da diese Arbeiten besondere Arbeitserfahrungen voraussetzen, wurde es immer schwieriger, sie mit dem Ackerbau oder mit der Hirtenarbeit zu vereinbaren. Daher sonderten sich in den Gemeinwesen die Menschen allmählich ab, die sich mit Handwerksarbeiten beschäftigten. Die Erzeugnisse der Handwerker — der Schmiede, Waffenschmiede, Töpfer usw. — gelangten immer häufiger in den Austausch. Die Sphäre des Austausches erweiterte sich bedeutend. Mit der Entstehung und Entwicklung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit und des Austausches war untrennbar die Entstehung des Privateigentums verbunden. Früher konnte das Feld nur durch die gemeinsame Arbeit einiger Dutzend Menschen bearbeitet werden. Unter diesen Verhältnissen war die gemeinsame Arbeit eine Notwendigkeit. Mit der weiteren Entwicklung der Produktionsinstrumente und dem Wachstum der Arbeitsproduktivität wurde bereits eine Familie allein in den Stand gesetzt, ein Bodenstück zu bearbeiten und sich die notwendigen Existenzmittel zu verschaffen. Somit ermöglichte die Vervollkommnung der Produktionsinstrumente den Übergang zur individuellen Wirtschaft, die unter den damaligen historischen Bedingungen produktiver war. Die Notwendigkeit der gemeinsamen Arbeit, der Gemeinwirtschaft entfiel immer mehr. Erforderte die gemeinsame Arbeit das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, so machte die individuelle Arbeit jetzt das Privateigentum erforderlich. Die Entstehung des Privateigentums und des Austausches auf der Grundlage der sich — wenn auch nur langsam — entwickelnden Produktivkräfte waren der Beginn einer tiefgreifenden Umwälzung in der gesamten Struktur der Urgesellschaft. Die Entwicklung der ursprünglichen Produktionsinstrumente einerseits, die Entstehung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit andererseits, verbunden mit der zunehmenden Arbeitsfertigung und den Produktionserfahrungen der Menschen, erhöhten den Wirkungsgrad der Arbeit, so daß von den Produzenten in steigendem Maße über das notwendige Produkt hinaus ein Mehr38

produkt produziert wurde, das eine Aufspaltung der Urgesellschaft in Klassen, die Ausbeutung von Menschen durch Menschen möglich machte. „Braucht der Arbeiter alle seine Zeit, um die zur Erhaltung seiner selbst und seiner Rasse nötigen Lebensmittel zu produzieren, so bleibt ihm keine Zeit, um unentgeltlich für dritte Personen zu arbeiten", heißt es bei Marx im „Kapital", Bd. I. „Ohne einen gewissen Produktivitätsgrad der Arbeit keine solche disponible Zeit für den Arbeiter, ohne solche überschüssige Zeit keine Mehrarbeit und daher keine Kapitalisten, aber auch keine Sklavenhalter, keine Feudalherren, in einem Wort, keine Großbesitzerklasse."1) Marx fügt hinzu: „Nur sobald die Menschen sich aus ihren ersten Tierzuständen herausgear-, beitet, ihre Arbeit selbst also schon in gewissem Grad vergesellschaftet ist, treten Verhältnisse ein, worin die Mehrarbeit des einen zur Existenzbedingung des anderen wird. In den Kulturanfängen sind die erworbenen Produktivkräfte der Arbeit gering, aber so sind die Bedürfnisse, die sich mit und an den Mitteln ihrer Befriedigung entwickeln. Ferner ist in jenen Anfängen die Proportion der Gesellschaftsteile, die von fremder Arbeit leben, verschwindend klein gegen die Masse der unmittelbaren Produzenten. Mit dem Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit wächst diese Proportion absolut und relativ." 2 ) Das sind also die Produktionsverhältnisse der Urgesellschaft: gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, das mit steigender Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit durch privates Eigentum an den Produktionsmitteln verdrängt wird. Damit entsteht Sklaverei und Austausch der Arbeitsprodukte als Ware. Das aber ist die Entwicklung innerhalb eines sehr langen Zeitraumes. Obwohl also die Entwicklung der Arbeitsprodukte zur Ware bereits mit der Entstehung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit in der Urgemeinschaft einsetzt, wenn auch von eigentlicher Warenproduktion in dieser ersten ökonomischen Epoche der Geschichte der menschlichen Gesellschaft noch nicht gesprochen werden kann, sind die Produktionsverhältnisse noch klar und durchsichtig, ökonomische Probleme, wie sie sich mit der Entstehung von Ware und Geld ergeben, existieren hier noch nicht. Marx charakterisiert diese „naturwüchsige Form" der menschlichen Wirtschaft am Beispiel der „ländlich-patriarchalischen Industrie" einer Bauernfamilie, die für den eigenen Bedarf Korn, Vieh, Garn, Leinwand, Kleidungsstücke usw. produziert. „Diese verschiednen Dinge treten der Familie als verschiedne Produkte ihrer Familienarbeit gegenüber, aber nicht sich selbst wechselseitig als Waren. Die verschiednen Arbeiten, welche diese Produkte erzeugen, Ackerbau, Viehzucht, Spinnen, Weben, Schneiderei usw., sind in ihrer Naturalform gesellschaftliche Funktionen, weil Funktionen der Familie, die ihre eigne, naturwüchsige Teilung der Arbeit besitzt so gut wie die Warenproduktion. Geschlechts- und

2)

A. a. O., S. 536, Kapital, Bd. I. A. a. O., S. 537. (Hervorgehoben von mir, F. B.)

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Altersunterschiede, wie die mit dem Wechsel der Jahreszeit wechselnden Naturbedingungen der Arbeit, regeln ihre Verteilung unter die Familie und die Arbeitszeit der einzelnen Familienglieder. Die durch die Zeitdauer gemessene Verausgabung der individuellen Arbeitskräfte erscheint hier aber von Haus aus als gesellschaftliche Bestimmung der Arbeiten selbst, weil die individuellen Arbeitskräfte von Haus aus nur als Organe der gemeinsamen Arbeitskraft der Familie wirken."1) Eine politische Ökonomie als Wissenschaft, die die unter dinglicher Hülle versteckten Produktionsverhältnisse, die Versachlichung der Produktionsverhältnisse und ihre Verselbständigung gegenüber den Produzenten analysiert, konnte es in diesem ersten Grundtypus der Produktionsverhältnisse der menschlichen Gesellschaft daher auch noch nicht geben. In den altasiatischen, antiken usw. Produktionsweisen spielt die Verwandlung des Produkts in Ware und daher das Dasein der Menschen als Warenproduzenten eine untergeordnete Rolle, die jedoch um so bedeutender wird, je mehr die Gemeinwesen in das Stadium ihres Untergangs treten. Eigentliche Handelsvölker existieren nur in den Intermundien der alten Welt, wie Epikurs Götter oder wie Juden in den Poren der polnischen Gesellschaft. Jene alten gesellschaftlichen Produktionsorganisationen sind außerordentlich viel einfacher und durchsichtiger als der bürgerliche, aber sie beruhen entweder auf der Unreife des individuellen Menschen, der sich von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs mit andren noch nicht losgerissen hat, oder auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen. Sie sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zur Natur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in den alten Natur- und Volksreligionen.2) Erst mit dem Untergang der Urgesellschaft und der Entstehung der ersten Klassengesellschaft in der menschlichen Geschichte, der Sklaverei, wird dies anders. In der Sklavenhaltergesellschaft treten bereits ökonomische Mystifikationen, Ware, Geld und zinstragendes Kapital auf und nehmen breiten Raum ein. Damit entstehen auch die ersten Elemente einer politischen Ökonomie, die die Kategorien der Warenproduktion zum Gegenstand hat. „Die Irokesen waren noch weit entfernt davon, die Natur zu beherrschen, aber innerhalb der für sie geltenden Naturgrenzen beherrschten sie ihre eigene Produktion", schreibt Engels im „Ursprung der Familie usw." „Abgesehen von schlechten Ernten in ihren Gärtchen, von Erschöpfung des Fischvorrats ihrer Seen und Flüsse, des Wildbestandes ihrer Wälder, wußten sie, was bei ihrer Art, sich ihren Unterhalt zu erarbeiten, herauskam. Was herauskommen mußte, war der Lebensunterhalt, ob er kärglicher oder reichlicher ausfiel, was aber nie ) 2 ) 3 ) 4 )

Vgl. Hilferding, a. a. O., S. 909. Smith, Wohlstand der Nationen, Bd. IV, Kap. 1. Vgl. bei Diehl-Mombert, Ausgewählte Lesestücke, Bd. 9, S. 33. Vgl. a. a. O.,, S. 34. 93

Reichtum durch diese gemeinsame Ausfuhr nur um so mehr vergrößert wird."1) Damit konstatiert Mun, daß die Ausfuhr nicht nur von Waren, sondern ebenfalls von Geld den Reichtum eines Landes vermehren kann. Nicht Verbot von Geldausfuhr, sondern umgekehrt Förderung zur Belebung des Handels und damit zur Vermehrung des Reichtums ist der Inhalt der Munschen Lehre. Hierbei spielt der Zwischenhandel eine bedeutende Rolle. Nicht nur durch die Ausfuhr der Landesprodukte, sondern durch den Handel zwischen ökonomisch unentwickelten Gemeinwesen wird Mehrwert angeeignet. Der Profit entspringt unmittelbar aus Ubervorteilung und Prellerei, weil dieser Zwischenhandel die unterschiedlichen Produktionspreise verschiedener Länder für sich ausbeutet. Zum anderen eignet sich der Handel Teile des Mehrproduktes an, insbesondere von den Gemeinwesen, deren Produktion vorwiegend auf den Gebrauchswert gerichtet ist und daher die über den Bedarf hinaus geschaffenen Gebrauchswerte nicht zu ihrem Wert veräußern. Diesen Handel meint Mun, wenn er sagt: „Wiederum wird der Nutzen ein weit größerer sein, wenn wir auf diese Weise in fernen Ländern Handel treiben, wenn wir zum Beispiel hunderttausend Pfund nach Ostindien verschicken und dort Pfeffer einkaufen, ihn hierherbringen und ihn dann wieder nach Italien oder nach der Türkei versenden; er muß dann an diesen Plätzen wenigstens siebenmal hunderttausend Pfund einbringen in Anbetracht der außerordentlichen Unkosten, die der Kaufmann auf solch langen Fahrten beim Verschiffen der Waren an Löhnen, Nahrungsmitteln, Versicherung, Zinsen, Zöllen, Steuern und dergleichen hat, lauter Ausgaben, die aber nichtsdestoweniger dem Könige und dem Reich zugute kommen."2) Muns theoretische Erkenntnisse standen somit mit seinen praktischen Interessen als Direktor der Ostindischen Handelsgesellschaft durchaus im Einklang. Profit durch Veräußerung über eine aktive Handelsbilanz, damit Vermehrung des Geldes und Reichtums, ist nichts anderes als der Ausdruck für die noch unentwickelte kapitalistische Produktionsweise, der nur teilweisen Beherrschung der Produktion durch das Kapital. Mun war durchaus nicht für das Verbot der Ausfuhr von Geld. Dafür waren die englischen Verhältnisse schon zu weit entwickelt. „Mun sehe noch" — schreibt Hilferding — „in erster Linie die Interessen des Händelskapitals. Doch ergeben sich ihm schon wichtige Konsequenzen für die Produktionspolitik. Bei seinen Nachfolgern tritt das Interesse an der industriellen Produktion immer mehr in den Vordergrund, bis schließlich im System des Colbertismus der Staat ganz und gar in den Dienst der Heranzüchtung und Entwicklung einer eigenen nationalen Industrie gestellt wird."3) !) Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. 3 ) A. a. O., S.

2)

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Die englischen Merkantilisten hatten ganz andere Aufgaben als die französischen, obwohl die Grundaufgabe: die Unterstützung und Förderung der ursprünglichen Akkumulation — die gleiche war. Infolgedessen finden wir im englischen Merkantilismus, dem Kommerzialismus, nicht nur das theoretisch reifste Werk dieser Periode der Entwicklung der politischen Ökonomie, sondern auch viele Gedanken, die unmittelbar in die klassische bürgerliche Ökonomie eingehen, ja geradezu ihre Grundlage bilden. Denn die klassische bürgerliche Ökonomie entwächst einerseits dem Merkantilismus, andererseits dem Physiokratismus. Das umfassendste und klarste System einer Theorie des Merkantilismus schuf ebenfalls ein Engländer: James Steuart. James Steuart (1712—1780) ist nach einem Ausdruck von Marx „der rationelle Ausdruck des Merkantilismus". Sein Hauptwerk, das im Jahre 1767 unter dem Titel: „Untersuchung über die Grundlagen der Volkswirtschaftslehre" erschien, ist die beste und vollständigste Übersicht über die theoretischen Ansichten des Merkantilismus. Da das Werk James Steuarts nur neun Jahre vor Adam Smiths „Wohlstand der Nationen" erschien, wurde es rasch in den Hintergrund gedrängt. Aber die Tatsache des Erscheinens des Hauptwerkes von Adam Smith und die Tatsache, daß zur gleichen Zeit, als James Steuart sein Buch erscheinen ließ, die wichtigsten Werke der Physiokraten in Frankreich bereits erschienen waren, beweist zugleich, daß die Periode zu Ende war, die den Merkantilismus hervorbrachte. Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals war abgeschlossen. Die neue Produktionsweise existierte, und sie reproduzierte sich auf ständig wachsender Stufenleiter. Andere Probleme drängten sich daher in den Vordergrund als die, mit denen die Merkantilisten sich vorwiegend beschäftigten. — Wenn auch die von der politischen Ökonomie zu lösenden Grundprobleme die gleichen blieben! Bei James Steuart finden wir zum erstenmal die beiden Grundproblemeder politischen Ökonomie! 1. Wie ist die gesellschaftliche Produktion privater Produzenten überhaupt möglich und 2. wie ist Profit auf der Grundlage des Austausches von Äquivalenten möglich? Mit beiden Problemen beschäftigt sich James Steuart. Und wenige Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerkes wird Adam Smith auf diese beidenProbleme eine Antwort geben, eine Antwort, die dann schnell zum Höhepunkt der wissenschaftlichen Ökonomie führte, soweit sie bürgerlich ist. Das Werk James Steuarts ist voll von beachtlichen Formulierungen und guten Einsichten in die bürgerliche Ökonomie. Es zeigt eine gute Beobachtungsgabe und einen nüchternen Tatsachensinn, wenn es auch in theoretischer Beziehung 95

noch weit hinter den Werken der Klassiker der politischen Ökonomie zurückbleibt. J a m e s Steuart ist nach Marx der „erste Brite, der das Gesamtsystem der bürgerlichen Ökonomie bearbeitet h a t . . . K1 ) Bei ihm sind die abstrakten Kategorien der politischen Ökonomie „noch im Prozeß der Scheidung von ihrem stofflichen Inhalt und daher verfließend und schwankend . . ," 2 ) Steuart bestimme einmal den wirklichen Wert der Ware durch die Arbeitszeit und lasse dann daneben „konfuserweise Salair (Lohn) und Rohmaterial figurieren".8) Ein anderes Mal nennt Steuart das in einer Ware enthaltene natürliche Material ihren inneren Wert, „während er die in ihr enthaltene Arbeitszeit ihren Gebrauchswert nennt". 4 ) Was aber Steuart vor seinen Vorgängern und vor seinen Nachfolgern auszeichne, das sei die schärfe Unterscheidung „zwischen der spezifisch gesellschaftlichen Arbeit, die sich im Tauschwert darstellt, und der realen Arbeit, die Gebrauchswerte erzielt." 5 ) Steuart unterscheide — schreibt Marx — nicht nur die bürgerliche, d. h. die abstrakte, wertbildende Arbeit von der realen Arbeit, die den Gebrauchswert bildet, sondern auch von anderen Formen der gesellschaftlichen Arbeit, so von der feudalen Form der Arbeit. Steuart wisse sehr genau, daß „die Ware als elementarische Grundform des Reichtums und die Entäußerung als die herrschende Form der Aneignung nur der bürgerlichen Produktionsperiode angehören . . ." 6 ) Vor den Physiokraten wird der Profit — d. h. der Mehrwert, wie er erscheint — aus der Zirkulation erklärt. Sir J a m e s Steuart ist im ganzen über diese Auffassung nicht hinausgekommen. Er ist vielmehr, wie Marx in den „Theorien über den Mehrwert"- schreibt, ihr wissenschaftlicher Reproduzent. 7 ) Marx fügt aber hinzu: „Ich sage wissenschaftlicher' Reproduzent. Steuart teilt nämlich nicht die Illusion, als ob der Mehrwert, der dem einzelnen K a pitalisten daraus entspringt, daß er die Ware über ihren Wert verkauft, eine Schöpfung von neuem Reichtum sei." 8 ) Steuart unterscheidet vielmehr zwischen „relativem" tem" Profit. Was heißt das?

Profit und

„absolu-

Der „relative" Profit ist der „profit upon alienation", der Profit durch V e r äußerung. Er entspringt dadurch, daß die Ware über ihren Wert verkauft wird. ') ) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 2

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Marx, Zur Kritik . . ., a. a. O., S. 55. Ebd., S. 55. Ebd., S. 55/56. Ebd. Ebd. Ebd., S. 56/57. Marx, Theorien über den Mehrwert, S. 29. Ebd., S. 30.

Der „absolute" Profit entspringt dagegen aus der „Vermehrung der Arbeit, Industrie und Geschicklichkeit". Prüfen wir beide Profitarten bei James Steuart näher! Was sagt er zunächst über den „relativen" Profit? „Bei dem Warenpreise betrachte ich zwei Dinge als wirklich bestehend und ganz voneinander verschieden"; schreibt Steuart, „nämlich den wirklichen Wert der Ware und den Profit bei der Veräußerung". 1 ) Steuart unterscheidet also ganz klar zwischen 1. dem Wert der Ware, 2. dem Profit durch ihre Veräußerung. Der Preis der Waren umfaßt also zwei durchaus voneinander verschiedene Elemente. Der Profit durch Veräußerung entspringt dadurch, daß der Preis der Waren höher ist als ihr Wert oder daß die Waren über ihren Wert verkauft werden. Steuart untersucht den Wert der Waren näher und unterscheidet zwei Elemente dieses Warenwertes. Zunächst — schreibt Steuart — „muß man von einem Erzeugnis, das zum Verkauf kommt, wissen, wieviel davon eine Person in einem Tage, in einer Woche, in einem Monat, je nachdem die Natur der Arbeit zu ihrer Vollendung mehr oder weniger Zeit erfordert, fertigstellen kann". Man muß — mit anderen Worten — die durchschnittliche notwendige Arbeitszeit kennen, die erforderlich ist, um eine bestimmte Warenmenge zu erzeugen. Steuart fährt fort: „Das zweite, was man wissen muß, ist der Wert des Unterhaltes des Arbeiters und seiner notwendigen Auslagen, sowohl für seine persönlichen Bedürfnisse wie für die Beschaffung der zu einem Gewerbe notwendigen Werkzeuge, was wie oben im Durchschnitt zu nehmen ist."2) Mit anderen Worten: Wertelemente sind die „Lohnkosten" und die „Kosten" für die in der Produktion verbrauchten Arbeitsinstrumente, also — in der Terminologie der politischen Ökonomie: v + cf. „Drittens und letztens muß man auch den Wert des Materials, d. h. des vom Arbeiter verwendeten Rohmaterials k e n n e n . . ,"3) Mit anderen Worten, die Kosten der verbrauchten Rohstoffe, cz. „Sobald diese drei Punkte bekannt sind", schreibt Steuart weiter, „ist der Preis des Fabrikates bestimmt. Er kann nicht niedriger sein, als die Summe dieser drei Dinge zusammengenommen, d. h. als der wirkliche Wert; was über diesen Preis hinausgeht, macht den Profit des Erzeugers aus. Dieser Profit wird immer im Verhältnis zur Nachfrage stehen und deshalb je nach den Umständen schwanken." 4 ) ') ) 3 ) 4 ) 2

Steuart, a. a. O., Abs. I, S. 252 (Verlag Fischer, 1913). Ebd., S. 253. Ebd., S. 253. Ebd.

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Steuart bestimmt den „wirklichen Wert" der Ware also einmal durch die im Durchschnitt notwendige Arbeitszeit, d a n n durch die drei Kostenelemente: cf + cz + v. Es ist klar, daß zwischen beiden: 1. durchschnittlich notwendige Arbeitszeit — 2. cf + cz + v eine Differenz sich ergibt, die gleich dem Profit, d. h. gleich dem M e h r w e r t ist. Dies ist aber Steuart noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Er spricht den Widerspruch aus, ohne ihn zu begreifen. F ü r Steuart entspringt der Profit durch Veräußerung daraus, daß der P r e i s der Waren größer ist als ihr realer Wert. Das aber bedeutet, daß der Profit auf der einen Seite immer einen Verlust auf der anderen Seite einschließt. Der Profit des einzelnen Kapitalisten ist stets abgeleitet aus dem Uberschuß des Preises der Ware über ihren Wert. Würden also alle Waren zu i h r e n Werten verkauft, so existierte kein Profit! Aber Steuart, der diesen Widerspruch wohl spürt, ihn aber nicht formuliert, u m ihn zu lösen, spricht auch von „positivem" Profit! Was ist der „positive" Profit? „Positiver Profit schließt f ü r niemanden einen Verlust in sich ein; er ergibt sich aus einer V e r m e h r u n g von Arbeit, Industrie oder Erfindungsgabe u n d bewirkt eine Vergrößerung oder eine V e r m e h r u n g des allgemeinen Wohlstandes", schreibt Steuart. 1 ) Wie dieser „positive" Profit entspringt, darüber gibt sich Steuart k e i n e Rechenschaft. Steuart scheint d a r u n t e r — wie Marx b e m e r k t — nichts anderes zu verstehen als die größere Menge an Gebrauchswerten, die infolge der E n t wicklung der P r o d u k t i v k r a f t der gesellschaftlichen Arbeit erzeugt wird. 2 ) Und es ist klar: Da Steuart noch keine Einsicht in das Wesen des W e r t e s erlangte und da er den Wert der Ware zwiespältig bestimmt sein läßt, n ä m lich einmal durch die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit u n d dann durch ihre Produktionskosten, liegt es nahe, anzunehmen, daß Steuart einmal a u s geht vom Tauschwert der Ware: bei der Bestimmung des „relativen" Profits, und dann vom Gebrauchswert der Ware: bei der Bestimmung des „absoluten" Profits. Steuart erkennt d a n n auch an, daß der „relative" Profit, der Profit durch Veräußerung, sich gegenseitig aufheben muß. „Der relative Profit schließt einen Verlust f ü r einige in sich ein", schreibt er; „er bezeichnet eine Schwankung in dem Gleichgewicht des Reichtums zwischen den Parteien, schließt aber keine V e r m e h r u n g des Allgemeinbesitzes in sich e i n . . . Der z u s a m m e n gesetzte Profit" — f ä h r t er fort — „ist leicht zu verstehen; er ist jene A r t von Profit, die zum Teil relativ ist, zum Teil p o s i t i v . . . Beide Arten können u n zertrennlich in demselben Geschäft vorkommen." 3 ) ») A. a. O., S. 281. ) Marx, a. a. O., S. 30. 3 ) Steuart, a. a. O., S. 282. 2

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Der relative Profit als Kategorie bei Steuart hat also im Handel n u r Bedeutung als Kategorie der Verteilung des Reichtums, während der absolute Profit der eigentliche Reichtum ist. Und hier k n ü p f t dann auch die Weiterentwicklung der Theorie an. Warum ist James Steuart nach Marx aber „der rationelle Ausdruck des Monetär- und Merkantilsystems?" 1 ) Steuart verwirft auf der einen Seite die Auffassungen der Merkantilisten, daß der Verkauf der Waren über ihren Wert und der sich hieraus ergebende Profit eine positive Vermehrung des Reichtums sei. Steuart bleibt andererseits aber selbst bei der Ansicht der Merkantilisten stehen, daß der Profit den einzelnen Kapitalisten durch Veräußerung entsteht, also relativ ist, da Gewinne und Verluste sich hieraus notwendig kompensieren müssen. Die Bewegung des „relativen" Profits ist also nichts als „eine Schwankung der Waage des Reichtums zwischen den Beteiligten". Diese seine Theorie von der „Schwankung der Waage des Reichtums zwischen den Beteiligten" bleibe „wichtig bei der Betrachtung der Verteilung des Mehrwerts unter verschiedene Klassen und unter verschiedene Rubriken von Profit, Zins, Rente", schreibt Marx daher auch.2) Uber den Mehrwert selbst sagt aber der relative Profit nichts aus, nichts über die „absolute" Höhe des Reichtums, der unter kapitalistischen Verhältnissen eben „absoluter" Profit, d. h. Mehrwert, ist. Steuart ist also im ganzen zwar nicht über die Vorstellungen des Merkantilsystems hinausgekommen. Aber er kannte die Probleme! Er mußte daher notwendig bei der f ü r alle Merkantilisten geltenden Vorstellung enden, daß „absoluter" Profit überhaupt nicht innerhalb eines Landes, sondern nur im Austausch mit anderen Ländern erzielt werden kann. Da der Wert sich f ü r die Merkantilisten in Geld darstellt, d. h. in Gold und Silber, muß der „absolute" Profit, d. h. der Mehrwert in der Handelsbilanz, die mit Geld saldiert wird, sich ausdrücken. Steuart beschäftigte sich intensiv .mit der Frage, wie der Scheidungsprozeß zwischen den Produktionsmitteln und den unmittelbaren Produzenten vor sich geht, mit dem Prozeß der Entstehung der Klassen! Er betrachtet diesen Prozeß besonders in der Agrikultur, und erst nachdem dieser Scheidungsprozeß in der Agrikultur vor sich gegangen ist, kann die Manufaktur entstehen. Bei Adam Smith, dessen Hauptwerk im J a h r e 1776, also um neun J a h r e später als das Hauptwerk Steuarts, erschien, wird dieser Scheidungsprozeß bereits vorausgesetzt. *) Marx, a . a . O . , S. 33. 2 ) Ebd., S. 31.

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Sir J a m e s S t e u a r t zeichne sich aus, schreibt Marx, „durch offnes Auge f ü r die charakteristisch gesellschaftlichen Unterschiede verschiedener P r o d u k tionsweisen . . ,"1)

4. Der deutsche

Merkantilismus

— der

Kameralismus

Auch in Deutschland gab es einen Merkantilismus. Aber er stützte sich weder im niedergehenden Feudalismus auf eine nationale Volkswirtschaft und einen Nationalstaat, geschweige denn auf eine den Feudalismus ü b e r windende frühkapitalistische Entwicklung. „Kein Land Europas h a t in den r u n d drei J a h r h u n d e r t e n von 1525 bis 1806 eine so unglückliche und vielfach so u n w ü r d i g e Zeit durchlebt wie Deutschland. Die Zeitspanne beginnt mit dem Krieg der B a u e r n gegen die Feudalherren, indem sie von allen denjenigen K r ä f t e n , die mit ihnen k ä m p f e n sollten, verlassen sind: von dem niederen Adel u n d den städtischen Bürgern, von der Intelligenz der u n t e r e n und mittleren Funktionäre der Kirche wie von den Plebejern der Stadt. Sie endet mit einer Reihe von Kriegen des völlig v e r k o m m e n e n feudalen P r e u ßens gegen das revolutionäre Frankreich, in denen jenes schließlich ganz jämmerlich geschlagen wird." 2 ) Deutschland w a r ökonomisch und politisch zurückgeblieben. Auch F r a n k reich w a r bis 1789 ein Land des Feudalismus. Aber im feudalen Frankreich w u r d e die merkantilistische Ökonomie abgelöst durch die Physiokraten! Das ist selbstverständlich nicht ein rein ideologischer Vorgang — das ist eine E n t wicklung, die ihre Ursache im Gesellschaftlichen, in der Entwicklung der Produktionsweise hat. Frankreich w a r eine feudale Monarchie — die Merkantilisten stellten sich in den Dienst dieser feudalen Monarchie, die eine Zentralgewalt darstellte. Sie entwickelten die produktiven K r ä f t e f ü r die G r u n d h e r r e n u n d den König — aber sie entwickelten sie, und damit entwickelten sie den Kapitalismus. Die kapitalistische Produktion w a r in Frankreich schließlich so weit gediehen, daß die Physiokraten als erste — bürgerliche — Ökonomen a u f t r a t e n — Deutschland bestand aus feudalen Monarchien. Es h a t t e seit dem Dreißigjährigen Krieg keine Zentralgewalt mehr. Es w a r als großes Mittelgebiet in Europa ohne zentrale Staatsgewalt von einer Reihe national erstarkender Länder umgeben, die ihre Kriege auf seinem Gebiet ausfochten. Dazu k a m die maßlose Verkommenheit der zahlreichen deutschen Fürsten, die jeweils mit der Partei gingen, die ihnen augenblickliche Vorteile brachte. Was die Merkantilisten in Frankreich, das w a r e n die Kameralisten in Deutschland — n u r mit dem Unterschied, daß ihre Maßnahmen ganz im Dienste des Feudalismus standen. Kameralismus, können wir sagen, ist der MerkantilisMarx, Kapital, Bd. I, S. 348, Fußnote 22. ) Kuczynski, a. a. O., S. 198.

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mus des deutschen Zwergstaates: als „System der landesfürstlichen Wohlstandspolizei" definierte ihn Oncken. 1 ) Die feudalen Landesfürsten des u n glücklichen Deutschen Reiches b e d u r f t e n einer „Zweckmäßigkeitswissenschaft", die Regeln und Maximen bot, u m das Vermögen zum Besten des Staates gerecht, weislich, klug und geschickt einzurichten, zu erhalten u n d zu verwalten", so kennzeichnet ihn ein neuer Historiker des Kameralismus, indem er einen Kameralisten sprechen läßt. 2 ) In der Tat: eine „Zweckmäßigkeitswissenschaft", u m das Vermögen „des Staates" gerecht, weislich, klug und geschickt einzurichten u n d zu erhalten und zu verwalten. Welches Vermögen? Selbstverständlich des Volkes — und das heißt der B a u e r n u n d der Bürger. Welches Staates? Der zahlreichen kleinen und kleinsten sogenannten „Staaten" auf d e u t schem Gebiet! „Wenn die kapitalistische Produktionsweise den nationalen Staat erzeugte, so war der nationale Staat zunächst n u r möglich in der F o r m der absoluten Monarchie", heißt es in der „Lessing-Legende" von Franz Mehring. „Überall, wo ein einheitlicher, nationaler Wirtschaftsbetrieb entstand, w a r e n die Monarchen sich ihres Ursprungs wohl bewußt: sie f ö r d e r t e n die wirtschaftlichen Interessen des Landes, den Acker u n d das Handwerk, den Handel u n d die I n d u s t r i e . . . Aber in Deutschland k a m es eben nicht zu einem einheitlichen Nationalstaat, sondern n u r zu einer großen Zahl von Teilstaaten, und, wie Lassalle seinen Franz von Sickingen sagen läßt: durch solche Landparzellen kann die Zugluft der Geschichte nicht streichen." 8 ) Franz Mehring charakterisiert diese deutschen Teilfürsten, die „mehr große Grundbesitzer der feudalen als absolute Monarchisten der kapitalistischen Zeit" w a r e n : „Es soll schwer sein, in der ganzen Weltgeschichte eine Klasse aufzufinden, die durch so lange Zeit so arm. an Geist und Kraft und so überschwenglich reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die deutschen Fürsten vom 15. bis zum 18. Jahrhundert."*) Und im Dienste solcher F ü r s t e n standen die deutschen Merkantilisten, die Kameralisten! „Da die F ü r s t e n von dem Gewerbe der U n t e r t a n e n nicht leben konnten, lebten sie von ihrem Blute; aus dem Handel mit Menschen gewannen sie, was ihnen der Handel m i t Produkten nicht a b w e r f e n konnte." 5 ) Die ökonomischen u n d politischen Ursachen dieses Niederganges Deutschlands liegen in dem Verfall der deutschen Städte als Handelszentren infolge 2

) ») 4 ) 5 )

Oncken, Geschichte der Nationialökonomie, 3. Aufl., 1922, S. 148. Tautscher, a. a. O., S. 8. Franz Mehring, Die Lessing-Legende, 9., unveränderte Auflage, Berlin 1926, S. 76. Ebd. Ebd., S. 77. 101

der Verlegung der Handelswege im 16. Jahrhundert, in der Unterordnung der Städte unter die Feudalherren sowie im Siege der regionalen Feudalherren über die Zentralgewalt. Hieraus resultiert die Schwäche der Zentralgewalt, die im kapitalistischen England wie im feudalen Frankreich die stärkste Stütze der Handelsinteressen darstellte. Der deutsche Handel wurde durch keine Zentralgewalt gefördert, sondern er wurde statt dessen „durch die Handelseifersüchteleien und die Enge der Interessen der zahlreichen Territorialherren auf das stärkste behindert".1) Es war kein Raum für eine fortschrittliche ökonomische und politische Entwicklung im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation". Nur Niedergang war vorhanden — ökonomisch zum Teil durch die Ungunst der Entwicklung infolge der Verlagerung der Handelswege, politisch durch die Zerschlagung der zentralen Gewalt und die Atomisierung des Deutschen Reiches. Es ist klar, daß das Folgen in der Entwicklung der Ideologie haben mußte: die gesellschaftliche Umwälzung in den fortgeschrittenen Ländern wurde in Deutschland nur im abstrakten Reich der deutschen Philosophie vollzogen. Hier spiegelte sie sich wenigstens wider! In der politischen Ökonomie dagegen nicht einmal dies: hier wurden nur die reaktionären gesellschaftlichen Verhältnisse widergespiegelt. Was bedeutet das für uns? Das bedeutet, daß die beiden gemeinsamen Merkmale für alle Merkantilisten für die Kameralisten zwar auch gelten, daß die Kameralisten aber kaum eine fortschrittliche Rolle gespielt haben in Deutschland. Während sie in Westeuropa die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals unterstützten — direkt wie in England, indirekt wie in Frankreich —, während sie in diesen Ländern nicht die reaktionäre, zersetzende Tendenz der feudalen Entwicklung, sondern die fortschrittliche, auf den Kapitalismus hinweisende Tendenz unterstützten, mußten sie in Deutschland notwendig, auf Grund der geschichtlich-gesellschaftlichen Lage, die reaktionäre Tendenz unterstützen und fördern. In Landwirtschaft und Gewerbe haben wir seit dem 16. Jahrhundert nur Niedergang in Deutschland, und die Kameralisten konnten diesen Niedergang nicht hindern. „Die merkantilistische Theorie war das ideologische Wirtschaftssystem des fürstlichen Absolutismus", schreibt Franz Mehring. „Die ökonomischen Zustände, welche sie widerspiegelte, ergaben ihre einseitige Betonung des Handels und der Verarbeitungsgewerbe, ihre Uberschätzung der Bevölkerungsdichtigkeit und des baren Geldes als der Ware aller Waren, und endlich ihre Forderung, daß die neuentstandene Staatsgewalt alles zu fördern habe, woraus und weswegen sie entstanden sei: als Handel und Gewerbe, die Vermehrung der Volkszahl und der Geldmasse."2)

2)

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Kuczynski, a. a. O., S. 201. A.a.O., S. 127/128.

Zwar sei das Merkantilsystem für den Absolutismus ein Hebel seiner dynastischen Interessen, schreibt Mehring, aber „wo der Warenhandel und die Warenproduktion sich naturwüchsig in bedeutendem Umfange entwickelt hatten, so beispielsweise in Frankreich, konnte das Merkantilsystem nicht so leicht entarten..."') Colbert, „der bedeutendste Staatsmann des Merkantilismus", wußte sehr wohl, meint Mehring, daß es „im Staate nichts Köstlicheres als die Arbeit des Menschen" gebe, und „eine Glanzseite seiner Verwaltung war der Bau der Landstraßen" gewesen, „um den Verkehr zu fördern".2) In Deutschland dagegen wurde „aus der ökonomischen Vernunft der merkantilistischen Theorie . . . eine absolutistische Unvernunft.. ."3) Friedrich II. „ließ die Landstraßen verfallen, damit ausländische Reisende um so länger aufgehalten würden und um soviel mehr Geld im Lande verbrauchten".4) Im brandenburgisch-preußischen Staat, stellt Mehring daher richtig fest, „war der Merkantilismus nicht aus der ökonomischen Entwicklung erwachsen, sondern wurde die ökonomische Entwicklung nach den merkantilistischen Lehren zu leiten gesucht".5) Die ökonomische Zurückgebliebenheit Deutschlands spiegelt sich in «den Lehren dieser ersten „Dolmetscher" des Kapitals — sie spiegelt sich — wie wir sehen werden — auch in der Lehre späterer Ökonomen. Denn aus dem Kameralismus wird in Deutschland nicht die physiokratische Schule wie in Frankreich aus dem Colbertismus oder die klassische Schule wie in England aus dem Kommerzialismus — aus dem Kameralismus entsteht das „deutsche System der politischen Ökonomie" von dem erzreaktionären Romantiker Adam Müller über Thünen und Friedrich List bis zur historischen Schule und Werner Sombart! Es gibt also durchaus eine deutsche „Tradition" in der bürgerlichen Ökonomie! Diese „deutsche" Tradition ist begründet in der ökonomischen Zurückgebliebenheit Deutschlands — denn — wie Friedrich Engels schreibt: „Die deutsche Bourgeoisie hat das Unglück, daß sie nach beliebter deutscher Manier zu spät kommt."6) Und als sie dann — endlich — im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts an der Reihe war — da war es schon wieder zu spät! In der deutschen bürgerlichen Ökonomie aber drückt sich diese doppelte Verspätung aus: einmal indem die reaktionären Verhältnisse, die eine fortschrittliche, das heißt eine wissenschaftliche bürgerliche Ökonomie noch nicht zuließen, und zweitens indem der fortgeschrittene Klassenkampf später keine bürgerliche wissenschaftliche Ökonomie mehr zuließ. Die „deutsche Tradition" in der bürgerlichen Ökonomie ist ihr reaktionärer Inhalt auch dann, wenn in anderen Ländern eine fortschrittliche Theorie ') 2) 3) ") 5) 6)

Ebd., S. 128. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 129 (von mir gesperrt, F. B.). Engels, Deutscher Bauernkrieg, a. a. O., S. 8.

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blüht, ihr besonders reaktionärer Inhält, wenn in anderen Ländern zwar eine fortschrittliche Theorie ebenfalls nicht mehr möglich ist, dies aber doch schamhaft zu verschweigen versucht wird! Erst konnten die deutschen Ökonomen nicht fortschrittlich sein, weil Deutschland ein ökonomisch zurückgebliebenes, ein politisch ohnmächtiges Land war. Dann konnten sie nicht fortschrittlich sein, weil der hochentwickelte Klassenkampf es ihnen unmöglich machte. Marx bezeichnet die „Kameralwissenschaften" daher gelegentlich bissig als „einen Mischmasch von Kenntnissen, deren Fegefeuer der hoffnungsvolle Kandidat deutscher Bürokratie zu bestehn hat".1) Das spürt sogar ein bürgerlicher Ökonom des niedergehenden Kapitalismus, Joseph Schumpeter, der — sehr verklausuliert allerdings — diese reaktionäre deutsche Tradition anerkennt: „Jede Erkenntnis ist das Werk von Jahrhunderten, und fehlende Glieder in der Kette der Entwicklung sind unersetzlich. Von fremder Hand dargebotene Resultate kann man logisch begreifen, aber Resultaten, die nicht vom eigenen Volke früherer Generationen geboren wurden, wird man stets jene gefühlsmäßige Verständnislosigkeit entgegenbringen, die es zu lebendiger Weiterentwicklung des Empfangenen nicht kommen läßt." Hier liege der Grund, stellt Schumpeter ausdrücklich fest, „warum die ökonomische Theorie in Deutschland niemals so festen Fuß fassen konnte wie in England, und warum die Grundauffassungen derselben in der Regel nur kühl aufgenommen wurden und instinktmäßiger Abneigung begegneten, die jeder Anwendung vom spezifisch-ökonomischen Thema von vornherein günstigen Boden sicherte".2) Das ist völlig richtig: erst von fremder Hand dargeboten, weil der Boden zur Entwicklung einer ökonomischen Theorie im eigenen Land fehlte — dann war der Boden zwar da, aber jetzt war es die Arbeiterklasse, die die Theorie vertrat. Salin stellt fest, daß in Deutschland, „wo die Wirtschaft schon seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Niedergang befindlich und wo die Bevölkerung durch dauernde Kriege, . . . bedrohlich verringert war", der „Merkantilismus sehr viel stärker bevölkerungspolitisch" ausgerichtet gewesen sei als in Frankreich oder England.3) „Die deutsche Kameralistik konnte — meint Salin — viele Fragen noch als ,verwaltungswissenschaftlich' ansehen, die im Westen schon ernste Probleme volkswirtschaftlicher Natur darstellten, und es mag wenig übertrieben sein — fügt er hinzu —, wenn noch im Jahre 1727 der Hallesche Universitätskanzler von Ludwig behauptet, daß die ökonomischen Wissenschaften von Professoren vorgetragen würden, *) Marx, Kapital, Bd. 1, Nachwort zur 2. Auflage, a. a. O., S. 11. Schumpeter, a. a. O., S. 33. 3) Salin, a. a. O., S. 68. 2)

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die in Unkenntnis darüber seien, ob K o r n ä h r e n auf B ä u m e n oder im Acker w ü c h s e n . . .' ll ) Ähnliche Urteile sollen allerdings auch heute noch über deutsche P r o fessoren gefällt w e r d e n — u n d wenn sie auch h e u t e wissen, daß K o r n ä h r e n nicht auf den B ä u m e n wachsen, so sind sie doch in Fragen der Wirtschaftsordnung und des Eigentums zum Beispiel — w i e spätere Beispiele zeigen werden — noch genau so hilflos wie ihre Kollegen vor 200 J a h r e n in F r a g e n des Ackerbaues. Wilhelm Roscher leitet das Wort „Kameralwissenschaft" aus „der Geschichte des Kammerwesens" ab. „Seit dem Ende des Mittelalters finden w i r in den meisten deutschen Ländern eine Behörde, K a m m e r genannt, welcher die Verwaltung der Domänen und Regalien oblag." 2 ) Ein großer Teil der „rasch wachsenden Polizeigeschäfte" w u r d e diesen K a m m e r n übertragen. „Ihnen fiel insbesondere zu, w a s wir heute Wirtschaftspolizei nennen", schreibt Roscher. „Die bedeutendsten Männer, welche im 17. J a h r h u n d e r t über Kameralsachen geschrieben haben, dringen lebhaft darauf, d a ß neben der fiskalischen Seite auch die wirtschaftspolizeiliche von den K a m m e r n gepflegt werde. Das I n t e r esse der absoluten Fürstenmacht, welche in den K a m m e r n ihr eigenstes, von ständischer Einwirkung ganz ungehindertes Werkzeug erkannte, m u ß t e dies ungemein begünstigen." 3 ) Das bestätigt unsere Definition des Kameralismus: Merkantilismus deutschen Zwergstaates!

des

Welches w a r e n n u n die deutschen Kameralisten, u n d was lehrten sie? Kaspar Klock (1583—1655) widmete seine Bücher den Herzögen von B r a u n schweig und dem G r a f e n von Oldenburg. Er befaßte sich mit F r a g e n des Ackerbaus, Forstwesens, der Jagd, Fischerei, Seidenzucht, Bienenzucht, des Steuerwesens u n d der Staatsanleihen. Maximilian Faust (1580—1650) wollte in einem Kaiser Friedrich III. gewidmeten Buch die Schatzgeheimnisse aller Zeiten u n d Länder vereinigen. H e r m a n n Conring (1600—1681) w a r Arzt, Staatsrechtler, Historiker u n d Ökonom u n d w u r d e wegen seiner vielseitigen Gelehrsamkeit als „Wunder des J a h r h u n d e r t s " bezeichnet. Er befaßte sich mit dem Finanzwesen, mit Handel und Bevölkerungspolitik. Conring ist der Begründer der sogenannten „Universitätsstatistik", der beschreibenden Staatenkunde, eine der Vorläuferinnen der modernen Statistik. Veit Ludwig von Seckendorf (1626—1692) schrieb die erste größere staatswissenschaftliche Schrift in deutscher Sprache, die 1656 erschien u n t e r dem Titel „Teutscher Fürstenstaat oder gründliche u n d kurze Beschreibung, welcher Gestalt F ü r s t e n t ü m e r u n d G r a f - und Herrschaften im Heiligen Römischen *) Ebd. 2 ) Roscher, Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart 1894, S. 44. 3 ) Ebd., S. 44. 105

Reiche teutscher Nation, welche Landes-, fürstliche und hohe obrigkeitliche Regula haben, von Rechts- und löblichen Gewohnheitswegen beschaffen zu sein, regiert mit Ordnungen und Satzungen, geheimen und Justiz-Canzleien, Consistoris und anderen hohen und niedrigen Gerichts-Justantien, Ämtern und Diensten verfaßt und versehen und wie deroselben Kammern und Hofsachen bestellt zu werden pflegten." Der Titel dieser ersten größeren deutschen merkantilistischen Schrift, die bezeichnenderweise am Hofe des Herzogs Ernst von Gotha entstand, atmet schon den Geist der engen deutschen kleinen „Fürstentümer, Graf- und Herrschaften im Heiligen Römischen Reich teutscher N a t i o n . . . " Seckendorf forderte vor allem Volksvermehrung — es ist unmittelbar nach dem für Deutschland so verhängnisvollen Dreißigjährigen Krieg — und schreibt: „Der Zweck der Gesetze geht dahin, daß der Leute und Untertanen viele und dieselben auch gesund, und also zu ihrer Verrichtung tauglich und geschickt sein mögen." Johann Joachim Becher (1635—1682) war einer der bedeutendsten Kameralisten. Er war zugleich Arzt und Chemiker. Sein Hauptwerk „Politischer Diskurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte, Länder und Republiken; in specie, wie ein Land volkreich und nahrhaft zu m a c h e n . . . " , erschien 1668. Er lebte am Pfälzer Hof und befürwortete große Volkszahl. Bezeichnend für den Kameralisten, den Merkantilisten des deutschen Kleinstaates, ist die Einteilung der Menschen in die zwei Klassen der Beamten als Konsumenten und die produzierenden Schichten. Die Landwirtschaft sei der „nötigste und nützlichste Erzeugungszweig", schrieb Becher. 1 ) „Der Handel gestaltet die Erzeugung erst sinnvoll, indem er den Waren den Absatz sichert und sie ,marktreif macht'." „Die Kaufmannschaft", schreibt Becher, „ist diejenige Säugemutter, welche das noch junge Aufnehmen zur Sprossem und Blüt wirket, und endlich herrliche Früchte bringet." 2 ) Er interessiert sich vor allem für die richtige Proportion der einzelnen Zweige der Wirtschaft. Denn wie wohl die Stände untereinander so nahe verwandt seien, daß einer ohne den ' anderen nicht bestehen kann, müssen sie doch Proportion gegeneinander haben. Es sind technischverwaltungsmäßige Probleme, die ihn interessieren, kaum ökonomische. Die Proportion ist notwendig, „dieweilen ein einziger Kaufmann verhandeln kann, was hundert Handwerksleut verarbeiten, und ein Handwerksmann verarbeiten, was hundert Bauern ihm an rohen Materialien zu verarbeiten geben können". 3 ) Becher fordert die Aufhäufung von Edelmetallen und die Ausbeutung von Gold- und Silberminen. Er forderte die Alchimie-Goldmacherei. !) Zitiert bei Tautscher, a. a. O., S. 15. 2) Ebd., S. 16, Fußnote. 3) Ebd., S. 17. 106

Theodor Ludwig Lau (1670—1740) erweiterte diese Forderungen wesentlich in seiner Schrift „Entwurf? einer wohleingerichteten Polizey" (1719). Er forderte Siedlungs- und Wohnungspolitik und die Errichtung neuer Städte und Kolonien, gerechte Regulierung der Hausmieten, aber auch eine entsprechende Ehegesetzgebung, Regelung der Aus- und Einwanderung! Lau forderte u. a. auch eine „Hagestolzen- und Frauenzimmersteuer", um Eheschließungen zu fördern! Johann W. Gottl. Justi (1705—1771) war der erste deutsche Systematiker der Staatswissenschaften. Sein Hauptwerk „Staatswirtschaft, oder systematische Abhandlung aller ökonomischen Kameralwissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfordert werden" erschien 1758 in Leipzig. In der Kameralistik finde man „zusammenhängende Lehrbegriffe aller ökonomischen Wissenschaften", schrieb Justi.1) Die Grundsätze, auf denen „jede ökonomische Polizei- und Cameralverfassung, wie die Kenntnis hiervon, beruhen, sind nur aus dem Wesen des Staates selbst ableitbar".2) Der Staat habe „das Land in einen blühenden Zustand zu setzen, dergestalt, daß dadurch die Nahrung der Unterthanen befördert und das Vermögen des Landes vermehrt werden kann".3) Gegenstand der „Staatswirtschaftslehre" ist nach Justi „das breiteste Vermögen des Staates, weil alle Maßnahmen und Geschäfte der Staatswirtschaftslehre bloß mit diesem breitesten Vermögen zu thun haben".4) Sie habe zu zeigen, „wie das breiteste Vermögen des Staates zur Beförderung der gemeinschaftlichen Glückseligkeit wohl und wirtschaftlich verwaltet wird". 5 ) Diese „gemeinsame Glückseligkeit" hat allerdings einen Haken! Denn die Staatswirtschaft gibt dem Staate das Recht, „alle Güter im Staat zusammengenommen nur als ein einziges Vermögen des Staates anzusehen, solcher gestalten, daß, obschon diese Güter größtenteils in Eigentum derer Privatpersonen sind, solche doch der obersten Gewalt der öffentlichen und gemeinsamen Staatsinteressen halber zu Gebote stehen müssen".6) Die „gemeinsame Glückseligkeit", die die Staatswirtschaft fördern soll, ist die „Glückseligkeit" des seinen Zwergstaat aussaugenden deutschen Landesfürsten! Die „Säugemutter" des Fürsten — um mit Becher zu sprechen — sind alle Produzenten — Bauern und Bürger! Sie werden ausgesaugt bis aufs Blut. Er kann über die Güter verfügen, „obschon diese Güter größtenteils im Eigentum derer Privatpersonen sind". — Was Wunder, wenn diese Fürsten auch hin und wieder ein Interesse daran finden, solche Güter erst einmal ») Justi, a. a. O., Teil 1, S. 37, zitiert bei Tautscher, S. 9. 2)

Ebd., S. 20, zitiert bei Tautscher, S. 9. Ebd., S. 59 und S. 61, zitiert bei Tautscher, S. 13. 4 ) A . a. O., Teil 2, S. 21, zitiert bei Tautscher, S. 13. 5 ) Ebd., S. 22. 6 ) Zitiert bei Tautscher, a. a. O., S. 20/21, Verfasser: J. F. Döhler. 3)

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zu v e r m e h r e n ! Daher k a n n die „Staatswirtschaft" auch manchmal von sich aus zur „Selbstgründung" von U n t e r n e h m e n schreiten, 1 ) z. B. eine Porzellanm a n u f a k t u r oder dergleichen gründen. „So k a n n es nicht fehlen, daß die Kassen des Staates größeren Zufluß haben müssen, w e n n die Commercien, M a n u f a k t u r e n , Gewerbe und überhaupt der gesamte Nahrungsstand in größeres A u f n e h m e n und in einen blühenden Zustand gesetzt und die Länder immer volksreicher gemacht werden sollen." 2 ) Zweifellos h a t Justi durch seine Systematisierung der Verwaltungslehre große Verdienste, vor allem auf dem Gebiet der Finanzwissenschaft. Der Abstand dieses ersten deutschen „Systematikers", dessen Werk zu einer Zeit erschien, als Frankreichs physiokratische Schule blühte, zu den Ökonomen Frankreichs u n d Englands ist ein gewaltiger! Es ist der Abstand des kleinen deutschen Fürstenstaates zur feudalen Monarchie in Frankreich und zum englischen Kapitalismus! Ein anderer bedeutender Kameralist w a r Joseph von Sonnenfels (1733 bis 1817). Sein H a u p t w e r k ist „Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft" (1763—1767). Der Endzweck des Staates ist nach ihm in vier Hauptgeschäften zu suchen: 1. 2. 3. 4.

äußere Sicherheit, innere Sicherheit, Vervielfältigung der Nahrungswege, Behebung der zum Staatsaufwande nötigen Einkünfte.

Sein Hauptgrundsatz ist die Vermehrung der Bevölkerung! „Eine weise Regierung soll die Bevölkerung auf das höchste zu treiben sich b e m ü h t sein", daher heißt es weiter: „Je höher die Menge des Volkes, auf dessen breiten Bestände m a n bauen darf, u m so größer die äußere und innere Sicherheit." Weiter schrieb er: J e m e h r Menschen, desto m e h r Bedürfnisse, desto m e h r Nahrungswege! „Je m e h r Hände, desto häufiger die Erzeugnisse des Erdbaues und des Fleißes, der Stoff zur äußeren Vertauschung." Sonnenfels' Lehrbuch w a r bis Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s das offizielle Lehrbuch an österreichischen Universitäten! I m J a h r e 1727 w u r d e n u n t e r Friedrich Wilhelm I. Professuren der Ökonomie und Kameralwissenschaft in Halle und F r a n k f u r t a. d. O. begründet. An mehreren anderen Universitäten w u r d e n in den nächsten J a h r z e h n t e n ebenfalls Lehrstühle h i e r f ü r errichtet, u n d in Kaiserslautern w u r d e sogar eine besondere Kameralistische Hochschule errichtet. Das ausführlichste u n t e r den älteren Lehrbüchern w a r e n die „Anfangsgründe der K a m e r a l wissenschaften" von Georg Heinrich Zincke (1692—1769), Leipzig 1755. Zincke definiert die Kameralwissenschaft als die „gelehrte u n d praktische Wissenschaft, u m alle Nahrungsgeschäfte gründlich zu erkennen, k r a f t dieser Staatswirtschaft, ebd., S. 576 f., zitiert bei Tautscher, S. 24. ) Ebd., S. 63.

2

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Erkenntnis gute Polizei einzuführen und die Nahrung des Landes immer florisander zu machen, solchergestalt, das breiteste vom Leben der Regenten und Staaten nicht n u r immer besser zu gründen und zu erhalten und gerecht und weislich zu vermehren, sondern es auch mittels kluger Einnahmen und Ausgaben wohl zu verwalten". Anton Tautscher hat neuerdings in seinem Buche „Staatswirtschaftslehre des Kameralismus", Bern 1947, eine Ehrenrettung des „Kameralismus" versucht, indem er nachweisen will, daß es sich hierbei nicht n u r um „rudimentäre" Theorie mit „Systemcharakter" handelt, sondern um „richtige und echte Theorie von der Volkswirtschaft, die jeder erkenntnistheoretischen P r ü f u n g standhält, sofern man in der Lage ist, volkswirtschaftliche Theorie nicht nur als Tausch- und Preistheorie zu verengen!" 1 ) Tautscher gibt andererseits zu, daß die Kameralistik mit den Grundproblemen der politischen Ökonomie wenig zu tun hatte, weil sie infolge der unglücklichen deutschen Verhältnisse wenig hiermit zu tun haben konnte. Bereits die einleitenden Sätze von Tautscher berichtigen daher auch sein späteres Urteil! „Der Merkantilismus war die Wirtschaftsform einer Ubergangszeit", schreibt er. „Noch herrschte die aus dem Mittelalter überkommene Stadtwirtschaft, aber man drängte allerorts über die Enge der Stadt hinaus zur Weite des Staates — zur Volkswirtschaft. War überall das gleiche Bestreben vorhanden, so war doch die Art des Merkantilismus in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten verschieden. Hatte der westeuropäische Merkantilismus nationale Färbung, so hatte der deutsche noch dazu eine territoriale Schattierung." So weit Tautscher — der Kameralist — in unseren Worten — der Merkantilist des deutschen Zwergstaates! Die Ehrenrettung Tautschers hat natürlich einen tieferen Sinn! Tautscher stellt die moderne Entwicklung zur „Staatswirtschaft" fest. „Die Staatswirtschaft wurde zum ordnenden und dynamischen Faktor der Volkswirtschaft", schreibt Tautscher. 2 ) Mit anderen Worten: Der Monopolkapitalismus wird zum staatsmonopolistischen Kapitalismus, denn das verbirgt sich hinter dem Ausdruck „Staatswirtschaft". Und dieser staatsmonopolistische Kapitalismus braucht eine „Theorie"! Woher die „Theorie" nehmen? Die deutsche Tradition stellt sie zur Verfügung! „Wenn die Entwicklung der Staatswirtschaft dadurch in eine neue Bahn gedrängt wurde und dieser Entwicklung auch die Problementwicklung der Staatswirtschaf tslehre teilweise voranging und teilweise folgte, so fehlte doch die neue Theorie der Staatswirtschaft, die dieser geänderten Aufgabe Rechnung trägt", 3 ) meint Tautscher, Schrittmacher sei Wilhelm Andrae gewesen, ») A. a. O., S. 9. ) Ebd., S. 121. 3 ) Ebd. 2

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ein faschistischer Theoretiker, ein Theoretiker des Ständestaates! Tautscher „fehlt es noch i m m e r an der durchgehend wirtschaftspolitisch ausgerichteten Staatswirtschaftslehre, einer Staatswirtschaftslehre, die alle staatswirtschaftlichen Institutionen auf die wirtschaftspolitische Verwendbarkeit p r ü f t u n d sie nach ihrer Geeignetheit in den Dienst einer wirklich dynamischen Staatswirtschaft stellt". 1 ) Sagen wir statt „wirklich dynamisch" imperialistisch — dann hat Tautscher vollkommen recht mit seinem Schlußsatz: „Je m e h r dies geschieht, desto m e h r w e r d e n die Grundsätze der kameralistischen Staatswirtschaftslehre, w e n n auch in e r n e u t e r Form, zum Vorschein kommen." 2 ) Aus diesem G r u n d e bezeichnet man den Imperialismus, dieses „wirklich dynamische" Wirtschaftssystem, ja auch m i t u n t e r als Neo-Merkantilismus! Tautscher weist d a n n auch weiter darauf hin, daß „Adam Müller u n d vor allem Friedrich List den immer d ü n n e r werdenden Faden volkswirtschaftlichen und staatswirtschaftlichen Denkens des Kameralismus wieder a u f n a h m und weitergab". 3 ) In der Tat: die reaktionäre Tradition w a r in der deutschen bürgerlichen Ökonomie nie wirklich unterbrochen oder gar überwunden! Um so leichter fiel die Schaffung einer neo-kameralistischen, d. h. staatsmonopolistischen — mit Verlaub gesagt — „Theorie" in jüngster Zeit.

5. Kritik

des

Merkantilismus

„Was f ü r England die Ökonomie, das w u r d e f ü r Deutschland in gewissem. Sinne die Verwaltungslehre", schreibt Schumpeter. „Trieb man in Deutschland Ökonomie, so w a r das — es ist höchst bezeichnend, daß das f ü r lange der N a m e unserer Disziplin w u r d e — Staatswirtschaftslehre", f ü g t e r hinzu. 4 ) In Frankreich u n d in England haben w i r den nationalen Einheitsstaat, in Deutschland zersplitterte Territorien. „Die Kameralistik ist eine Verwaltungslehre des m e h r oder weniger absolutistischen Territoriums. Das Interesse der Landesfürsten steht allherrschend im Vordergrund", definiert Schumpeter daher die Kameralistik! Aber die Interessen der F ü r s t e n sind keine nationalen Interessen. Sie sind eng u n d borniert — u n d so eng u n d borniert w a r daher auch diese Wissenschaft, die ihren Interessen dienen sollte. Während in den anderen Ländern K a u f l e u t e f ü r K a u f l e u t e schreiben — sie w a r e n selbst am Welthandel beteiligt, schrieben in Deutschland Beamte f ü r Beamte! 5 ) 2

) 3 ) 4 ) 5 ) 110

Ebd. Ebd., S. 121. Ebd., S. 119/120. Schumpeter, a. a. O., S. 34. Ebd.

Wenn Schumpeter aber schreibt, daß der Merkantilismus „weder eine wissenschaftliche S c h u l e . . . noch eine wissenschaftliche Theorie" war, 1 ) so ist das n u r bedingt richtig. „Seiner großen Bedeutung als Mittel zur Schaffung nationaler Wirtschaftsgebiete entspricht keineswegs eine ähnliche B e d e u t u n g f ü r die sozialwissenschaftliche Analyse." 2 ) Es ist das Verdienst der M e r k a n tilisten, das Grundproblem der politischen Ökonomie des Kapitalismus gestellt — w e n n auch nicht gelöst zu haben. Die A u s r a u b u n g neuer überseeischer Länder durch die europäische B o u r geoisie in der Periode der Vorbereitung der kapitalistischen Produktionsweise, die große Rolle des Handelskapitals bei der Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse, das A u f k o m m e n von M a n u f a k t u r e n , die Entdeckung reicher Erzgruben und der Goldstrom in der Zirkulation w a r e n die historischen Bedingungen, u n t e r denen die Theorie des Merkantilismus entstand. Schmoller trifft in seiner Charakterisierung des Merkantilismus — u n freiwillig — den gemeinsamen Zug aller Merkantilisten: F ö r d e r u n g d e r ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. „Nur w e r so den Merkantilismus begreift", schreibt Schmoller, „wird ihn verstehen; er ist in seinem innersten K e r n nichts anderes als Staatsbildung — aber nicht Staatsbildung schlechtweg, sondern Staats- und Volkswirtschaftsbildung zugleich, Staatsbildung in dem modernen Sinne, die staatliche Gemeinschaft zu einer volkswirtschaftlichen zu machen und so eine erhöhte Bedeutung zu geben." 3 ) Schmoller charakterisiert die „Kameralistik", indem er feststellt, sie h a b e „überwiegend einen politischen und verwaltungsrechtlichen C h a r a k t e r ; die allgemeine psychologische Voraussetzung ist zumal bei den deutschen K a m e ralisten die Dummheit des Pöbels, der Schlendrian selbst der Kaufleute, die m a n mit Gewalt zu ihrem Vorteil hinziehen müsse. Man fürchtet, daß alles schlecht gehe, w e n n m a n der Dummheit u n d Gewinnsucht freie Bahn gebe. Man ist pessimistisch in bezug auf die Individuen, optimistisch in bezug auf die Staatstätigkeit". 4 ) Das heißt, die Kameralistik ist der Ausdruck des Polizeistaates — mundung statt Freiheit — deutsche Tradition!

Bevor-

Daher stellt Marx auch in seiner „Kritik der politischen Ökonomie" fest, „der unauslösliche Kampf der modernen Ökonomen gegen das Monetär- und Merkantilsystem r ü h r e großenteils daher, daß dieses System in b r u t a l naiver F o r m das Geheimnis der bürgerlichen Produktion ausplaudert, i h r Beherrschtsein durch den Tauschwert". 5 ) Die Kritik der klassischen Ökonomie ») ) 3 ) 4 )

Ebd., S. 534. Ebd. Umrisse, S. 37. Grundrisse der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1/89 (Verlag Duncker & Humblot, 1923). 5 ) Marx. a. a. O., S. 171. 2

111

gegen das Merkantilsystem sei also falsch, wenn sie „dieses System als bloße Illusion, als nur falsche Theorie befeindet, nicht als barbarische Form ihrer eigenen Grundvoraussetzung wiedererkennt". 1 ) Das Merkantilsystem behalte nicht n u r „ein historisches Recht", stellt Marx weiter ausdrücklich fest, „sondern innerhalb bestimmter Sphären der modernen Ökonomie volles Bürgerrecht". 2 ) Der Tauschwert nehme auf allen Stufen des bürgerlichen Produktionsprozesses die elementarische Form des Geldes an, wo der Reichtum die elementarische Form des Geldes annehme, und in allen Phasen des Produktionsprozesses falle der Reichtum immer wieder f ü r einen Augenblick in die elementarische Form der Ware zurück. Die spezifischen Funktionen des Goldes und des Silbers als Geld im Unterschied von ihrer Funktion als Zirkulationsmittel und im Gegensatz zu allen übrigen Waren werden auch im entwickelten Kapitalismus nicht aufgehoben, sondern nur beschränkt. „Die katholische Tatsache, daß Gold und Silber als unmittelbare Inkarnation der gesellschaftlichen Arbeit, daher als Dasein des abstrakten Reichtums, den anderen profanen Waren gegenübertreten, verletzt natürlich das protestantische point d'honneur (den Ehrenpunkt) der bürgerlichen Ökonomie, und aus Angst vor den Vorurteilen des Monetarsystems büßte sie f ü r lange Zeit das Urteil über die Phänomene der Geldzirkulation ein . . ,"3) Die beschränkte Auffassung der produktiven Arbeit, die auch von den Physiokraten noch nicht restlos überwunden wird, sondern erst von Adam Smith, hat doppelte Ursache: sie hängt einmal mit dem Stand der Entwicklung der Warenproduktion überhaupt zusammen, und diese beschränkte A u f fassung ist daher direkt vertreten in Ländern wie Frankreich und Deutschland, sie hängt zweitens zusammen mit der noch nicht gewonnenen Einsicht in das Wesen des bürgerlichen Reichtums und seiner Quelle, Wert und Lohnarbeit. Im Maße, wie die Warenproduktion sich entwickelt und die theoretische Einsicht wächst, wird daher die produktive Arbeit in ihrem allgemeinen und in ihrem besonderen gesellschaftlichen Charakter erkannt, im Maße aber, wie die kapitalistische Warenproduktion reift, werden diese Einsichten wieder vertuscht, weil sie unverträglich werden mit den Interessen der Klasse, die die bürgerlichen Ökonomen vertreten. Die Merkantilisten faßten das Geld als Reichtum, daher die das Geld vermehrende Arbeit als die produktive Arbeit, d. h. die f ü r den auswärtigen Handel produzierende Arbeit. „Die erste theoretische Behandlung der modernen Produktionsweise — das Merkantilsystem — ging notwendig aus von dem oberflächlichen Phänomen des Zirkulationsprozesses, wie sie in der Bewegung des Handelskapitals verselbständigt sind, und griff daher nur den Schein auf, teils weil das Handels») Ebd. 2 ) Ebd. 3 ) A. a. O., S. 172. 112

kapital die erste freie Existenzweise des Kapitals überhaupt ist, teils wegen des überwiegenden Einflusses, den es in der ersten Umwälzungsperiode der feudalen Produktion, der Entstehungsperiode der modernen Produktion, ausübt. Die wirkliche Wissenschaft der modernen Ökonomie beginnt erst, wo die theoretische Betrachtung vom Zirkulationsprozeß zum Produktionsprozeß übergeht", schließt Marx das Kapitel über die geschichtliche Entwicklung des Kaufmannskapitals im III. Band seines „Kapitals". 1 ) Das erste System, das vom Produktionsprozeß ausgeht, ist das System der Physiokraten.

B. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufes — die Physiokraten Während die Merkantilisten im wesentlichen noch in der Vorbereitungszeit der kapitalistischen Produktionsweise, im sterbenden Feudalismus also, lebten, lebten die Physiokraten in der Periode unmittelbar vor dem Durchbruch des Gesetzes von der unbedingten Übereinstimmung. Auch die Merkantilisten lehrten oft, daß staatliche Gesetze die Entwicklung der Wirtschaft n u r behinderten. Die Physiokraten aber stellten diese Lehre in den Mittelpunkt ihres Systems. Der Kampf der Bourgeoisie f ü r die „Freiheit" war ausschließlich gegen die feudalistische Unterdrückung gerichtet. Unter der Losung des Kampfes f ü r •die „Freiheit" befreite die Bourgeoisie das kapitalistische Eigentum von den feudalen Fesseln und errichtete die Freiheit der Warenproduktion und der Ausbeutung der Lohnarbeit. Die Bourgeoisie marschierte im Kampf gegen den Feudalismus — auch unter dem Schlagwort der „Gleichheit" —, doch das Prinzip der bürgerlichen „Gleichheit" war nur gegen die feudalistischen, d. h. standesmäßigen Privilegien des Adels und der Geistlichkeit gerichtet, gegen die ausschließlichen Rechte der „höheren" Stände bei der Staatslenkung. Die Bourgeoisie strebt niemals nach ökonomischer Gleichheit, denn auf der ökonomischen Ungleichheit beruht ihre Existenz, wie die Existenz jeder herrschenden ausbeutenden Klasse. Die bürgerliche „Freiheit" und „Gleichheit" sind politische Existenzbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise gewesen. Sie wurden verkündet von den bürgerlichen Ideologen als „ewige" und „natürliche" Rechte der Menschen. Unter dem Banner der „Freiheit" und „Gleichheit" kämpfte die Bourgeoisie f ü r die Durchsetzung des Gesetzes von der unbedingten Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte. !) Kapital, Bd. III, S. 369. 8 Behrens

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kapital die erste freie Existenzweise des Kapitals überhaupt ist, teils wegen des überwiegenden Einflusses, den es in der ersten Umwälzungsperiode der feudalen Produktion, der Entstehungsperiode der modernen Produktion, ausübt. Die wirkliche Wissenschaft der modernen Ökonomie beginnt erst, wo die theoretische Betrachtung vom Zirkulationsprozeß zum Produktionsprozeß übergeht", schließt Marx das Kapitel über die geschichtliche Entwicklung des Kaufmannskapitals im III. Band seines „Kapitals". 1 ) Das erste System, das vom Produktionsprozeß ausgeht, ist das System der Physiokraten.

B. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufes — die Physiokraten Während die Merkantilisten im wesentlichen noch in der Vorbereitungszeit der kapitalistischen Produktionsweise, im sterbenden Feudalismus also, lebten, lebten die Physiokraten in der Periode unmittelbar vor dem Durchbruch des Gesetzes von der unbedingten Übereinstimmung. Auch die Merkantilisten lehrten oft, daß staatliche Gesetze die Entwicklung der Wirtschaft n u r behinderten. Die Physiokraten aber stellten diese Lehre in den Mittelpunkt ihres Systems. Der Kampf der Bourgeoisie f ü r die „Freiheit" war ausschließlich gegen die feudalistische Unterdrückung gerichtet. Unter der Losung des Kampfes f ü r •die „Freiheit" befreite die Bourgeoisie das kapitalistische Eigentum von den feudalen Fesseln und errichtete die Freiheit der Warenproduktion und der Ausbeutung der Lohnarbeit. Die Bourgeoisie marschierte im Kampf gegen den Feudalismus — auch unter dem Schlagwort der „Gleichheit" —, doch das Prinzip der bürgerlichen „Gleichheit" war nur gegen die feudalistischen, d. h. standesmäßigen Privilegien des Adels und der Geistlichkeit gerichtet, gegen die ausschließlichen Rechte der „höheren" Stände bei der Staatslenkung. Die Bourgeoisie strebt niemals nach ökonomischer Gleichheit, denn auf der ökonomischen Ungleichheit beruht ihre Existenz, wie die Existenz jeder herrschenden ausbeutenden Klasse. Die bürgerliche „Freiheit" und „Gleichheit" sind politische Existenzbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise gewesen. Sie wurden verkündet von den bürgerlichen Ideologen als „ewige" und „natürliche" Rechte der Menschen. Unter dem Banner der „Freiheit" und „Gleichheit" kämpfte die Bourgeoisie f ü r die Durchsetzung des Gesetzes von der unbedingten Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte. !) Kapital, Bd. III, S. 369. 8 Behrens

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1. Die gesellschaftlichen des

Bedingungen und das allgemeine Physiokratismus

Wesen

Die Blütezeit der Physiokraten waren die zwanzig Jahre von 1756 bis 1776. Das physiokratische System war eine revolutionäre Lehre, wenn das auch manchem ihrer Anhänger nicht bewußt war. Die feudale Gesellschaftsordnung war hoffnungslos überholt, und sie wurde von den Ideologen des Bürgertums als „unnatürlich" und „unvernünftig" bekämpft und mußte schließlich der bürgerlichen Gesellschaftsordnung weichen. Die Physiokraten lehrten, daß die Wirtschaft kraft ihrer „natürlichen" Gesetze ohne äußeren Eingriff funktionieren könnte. Der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse" war bereits stark genug — dies kommt z. B. in ihrer Lohntheorie sehr klar zum Ausdruck —, um auf die unmittelbare Gewalt verzichten zu können. Sie lehrten die prästabilierte Harmonie, liberale Demokratie und die Wirtschaft des Laissez-faire waren ihre Postulate. Als François Quesnay, Hofarzt Ludwigs XV., einmal gefragt wurde, was er tun würde, wenn er König wäre, soll er geantwortet haben: „Nichts." Auf die weitere Frage, wer denn regieren würde, antwortete er: „Das Gesetz!" Die Welt läuft automatisch, wenn man sie sich nur sich selbst überläßt —• auf Grund der ihr innewohnenden Gesetze. Das kommt auch im Namen zum Ausdruck, den diese „ersten systematischen Dolmetscher" des Kapitals enthüllten! Physiokratie bedeutet „Herrschaft der Natur", und zwar in dreifacher Hinsicht: Physiokratie bedeutet erstens das allgemeine politische Programm, das Naturrecht, es bedeutet zweitens die Kritik des Merkantilismus und der Vorherrschaft des Handels, und es bedeutet drittens, daß die „Natur", die Landwirtschaft, als die Quelle des kapitalistischen Reichtums angesehen wird! In der Tat: Quelle des Reichtums war für die Physiokraten die Landwirtschaft, weil nur diese nach ihrer Auffassung ein Nettoprodukt abwarf. Alle anderen Zweige der Wirtschaft reproduzieren nur ihren eigenen Wert, d. h. den Wert der im Arbeitsprozeß verbrauchten Elemente. Ein wirklicher Überschuß über die in der Produktion verbrauchten Werte findet sich nur in der Landwirtschaft; nur sie allein ist daher „produktiv". Marx schreibt einmal in den „Theorien über den Mehrwert", daß „das Aufkommen der Physiokraten... zu tun" hatte „sowohl mit dem Gegensatz zum Colbertismus als namentlich auch mit dem Kladderadatsch des Systems von John Law"1). Marx zitiert A. Blanqui, der über die „unmittelbaren historischen Umstände, die die Verbreitung der Physiokratie und selbst ihr Aufkommen beförderten", in seiner „Geschichte der politischen Ökonomie" aus dem Jahre 1834 schreibt:2) „Von allen industriellen Werten, die in der hitzigen Atmosphäre des Systems (Laws) aufschössen, blieb nichts übrig als der ») A. a. O., Bd. I, S. 49. 2) Ebd. 114

Ruin, die Verödung und der Bankrott. Das Grundeigentum allein war in diesem Sturm nicht untergegangen. Es hatte sich sogar verbessert, da es in hohem Maße die Hände wechselte und zerstückelt wurde, vielleicht das erste Mal seit der Feudalität." Der Boden war also zum „besten" Wirt gewandert, würde der moderne bürgerliche Ökonom sagen — oder er hatte zumindest die Möglichkeit hierfür bekommen, und die Tendenz hierzu war vorhanden. Das Grundeigentum wurde bürgerlich. „Die unzähligen Besitzveränderungen", heißt es bei Blanqui weiter, „die unter dem Einfluß des Systems vor sich gingen, begannen den Grundbesitz zu zerstückeln... Das Grundeigentum erhob sich zum ersten Male aus jenem Zustande der Erstarrung, in dem es das Feudalsystem so lange erhalten hatte. Das bildete eine wahrhafte Wiederauferstehung für die Agrikultur... Sie (die Erde) gelangte nun aus dem Regime der toten Hand in das der Zirkulation."1) Die Wiederauferstehung der Agrikultur war eben ihre Verwandlung in kapitalistisch betriebene Landwirtschaft. Es wurden nicht nur Waren für den Markt — sie wurden kapitalistisch produziert. Hierzu trug nicht wenig das unerhört drückende Herrensystem vor der französischen Revolution bei, das die Erhöhung des in der Landwirtschaft erzielten Mehrproduktes erzwang. Das physiokratische System erscheint somit — nach einer Formulierung von Marx — „als eine bürgerliche Reproduktion des Feudalsystems, der Herrschaft des Grundeigentums". Es ist aber zugleich „in der Tat das erste System, das die kapitalistische Produktion analysiert und die Bedingungen, innerhalb deren Kapital produziert wird und innerhalb deren Kapital produziert, als ewige Naturgesetze der Produktion darstellt".2) Das physiokratische System verbürgerlicht den Feudalismus, weil die Physiokraten den Grundeigentümer als den eigentlichen Kapitalisten, als den eigentlichen Aneigner von Mehrwert auffassen. Sie faßten die Industrie als „unproduktiven" Arbeitszweig, als „bloßen Anhängsel der Agrikultur" auf.3) „Die erste Bedingung der Kapitalentwicklung ist die Trennung des Grundeigentums von der Arbeit, das Gegenübertreten der Erde, dieser Urbedingung der Arbeit, als selbständige, in der Hand einer besonderen Klasse befindliche Macht gegenüber dem freien Arbeiter."4) Auf Grund dieser ersten Bedingung begann die kapitalistische Agrarproduktion, und die Physiokraten als ökonomische Theoretiker reflektierten sie! Aber die Physiokraten lebten in einer feudalen Monarchie, in der die kapitalistische Entwicklung einsetzt. Sie umgaben diese Entwicklung daher mit einem „feudalen Schein", wie es Marx einmal ausdrückt. 1

) ) 3 ) 4 ) 2

8*

Marx, a. a. O., S. 49. Ebd., S. 40/41. Ebd., S. 41. Ebd., S. 41. 115

Dieser „feudale Schein", mit dem die Physiokraten die bürgerliche Gesellschaft umgeben, verschwindet später, und das physiokratische System stellt sich „als die innerhalb des Rahmens der feudalen Gesellschaft durchdringende neue kapitalistische Gesellschaft dar". 1 ) Das physiokratische System „entspricht also der bürgerlichen Gesellschaft in der Epoche, worin sie aus dem Feudalwesen herausbricht". 2 ) Die Physiokraten wiesen die Entwicklung des Mehrwertes in der P r o d u k tion nach. Sie m u ß t e n daher zunächst zu dem Zweig der Produktion zurückgehen, wo sich der Mehrwert unabhängig von der Zirkulation darstellt, u n d das ist die Agrikultur. Infolgedessen m u ß t e das physiokratische System in einem Lande vorherrschender Agrikultur entstehen, und das w a r Frankreich, das zur Zeit der Entstehung des physiokratischen Systems ein vorherrschend Ackerbau treibendes Land war. Aber — das ist das Positive — sie gingen von der Produktion aus — w e n n auch n u r von der Produktion in der L a n d w i r t schaft. Turgot zählt die verschiedenen Arten auf, „den Boden zu verwerten". „Ich habe fünf verschiedene Arten aufgezählt", schreibt er, „vermittels deren die Grundeigentümer, indem sie sich selber von Landarbeit befreiten, ihren Grundbesitz durch die Hände anderer haben v e r w e r t e n können: 1. durch Arbeiter mit festem Lohn; 2. durch Sklaven; 3. durch A b t r e t u n g des Gutes gegen eine Rente; 4. durch Überlassen eines bestimmten Teiles, gewöhnlich der Hälfte der Früchte, an den Bebauer, wobei der Grundbesitzer alle Vorschüsse auf den A n b a u ü b e r n i m m t ; 5. durch Verpachten des Bodens an Pächter, die alle f ü r die K u l t u r erforderlichen Vorschüsse zu tragen versprechen und sich verpflichten, dem Eigentümer während der vereinbarten Zahl von J a h r e n ein immer gleiches Einkommen zu zahlen." 3 ) Von diesen fünf Arten seien die beiden letzten: Teilpacht u n d Pacht die gewöhnlichsten, schreibt Turgot, weil die erste zu kostspielig sei, die zweite n u r in barbarischen Ländern bestehe und die dritte keine eigentliche Methode sei, sein Eigentum „zu verwerten", vielmehr „ein Aufgeben des Eigentums gegen eine Grundschuld, so daß der alte Eigentümer sozusagen nichts weiter als ein Gläubiger des neuen ist". 4 ) Die Physiokraten „interpretieren" also die feudale Gesellschaft bürgerlich. Daraus ergaben sich die Widersprüche, daß sie zwar einerseits den M e h r w e r t durch Aneignung f r e m d e r Arbeit auf der Grundlage des Warenaustausches erklären, daß sie aber andererseits den Mehrwert nicht als Mehrarbeit und den Wert nicht als eine F o r m der gesellschaftlichen Arbeit erkennen, sondern als bloße Gabe der N a t u r stofflich auffassen, daß sie die G r u n d r e n t e einerseits zwar aus ihrer feudalen Hülle herauslösen und auf Mehrwert reduzieren, andererseits diesen Mehrwert aber wieder aus der Natur und nicht aus der Marx, a. a. O., S. 41. ) Ebd. 3 ) Turgot, a. a. O., S. 56. 4 ) Ebd. 2

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Gesellschaft erklären. Sie lösen zwar den Wert auf in bloßen Gebrauchswert, interessieren sich aber doch gleichzeitig nur für den qualitativen Uberschuß der produzierten über die konsumierten Gebrauchswerte, also doch wieder in letzter Instanz für den bloßen Gebrauchswert. Alle diese Widersprüche des physiokratischen Systems ergaben sich aus dem Stand der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte in Frankreich, aus dem dadurch bedingten noch relativ unentwickelten Stand der bürgerlichen Produktionsverhältnisse. Die Physiokraten waren aber bürgerliche Ökonomen. Sie waren politische Ökonomen des Kapitalismus, und sie vertraten die Interessen der Kapitalisten, wenn auch die Interessen der eben noch bloß Grundeigentümer gewesenen Kapitalisten. Der feudale Schein darf nicht über den bürgerlichen Charakter physiokratischer Ökonomie täuschen! Dieser bürgerliche Charakter des physiokratischen Systems kommt einmal zum Ausdruck in der Forderung nach einer Steuer, nach der alleinigen Besteuerung der Grundrente. Diese physiokratische Forderung der alleinigen Besteuerung der Grundrente bedeutet nichts als die Befreiung des Profits von der Steuer. „Mit dieser ausschließlichen Besteuerung des Grundeigentums wird aber die Steuer und damit alle Staatsintervention von der Industrie selbst entfernt, diese so von aller Staatsintervention befreit." 1 ) Der bürgerliche Charakter des physiokratischen Systems kommt aber auch in ihren politischen Forderungen nach ungehinderter freier Konkurrenz, Beseitigung aller Staatseinmischung usw. zum Ausdruck. Die Industrie produziert nach physiokratischer Auffassung keine Werte, sondern verwandelt nur die von der Agrikultur gelieferten Stoffe in andere. Dieser Stoff umwandlungsprozeß soll also möglichst ohne Störungen und in der wohlfeilsten Weise vor sich gehen.2) Dies kann aber nur geschehen, wenn die kapitalistische Produktion sich selbst überlassen wird, bei freier Konkurrenz also. Die scheinbare Verherrlichung des Grundeigentums durch die Physiokraten schlägt also in dessen Verneinung und in Unterstützung der kapitalistischen Produktion um. „Die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von der auf den Trümmern der Feudalgesellschaft errichteten absoluten Monarchie findet also nur im Interesse des in einen Kapitalisten verwandelten und auf bloße Bereicherung bedachten feudalen Grundeigentümers statt. Die Kapitalisten sind nur Kapitalisten im Interesse des Grundeigentums, ganz wie die weiter entwickelte Ökonomie sie nur Kapitalisten im Interesse der arbeitenden Klasse sein läßt."3) Im ganzen kommt im System der Physiokraten zum Ausdruck, daß die Bourgeoisie in der Epoche der bürgerlichen Revolution das Gesetz der unbedingten Ubereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter ') Marx, a. a. O., S. 44/45, Theorien über den Mehrwert. Ebd., S. 45. 3 ) Ebd. 2)

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der Produktivkräfte ausnutzte, die feudalen Produktionsverhältnisse beseitigte und neue, bürgerliche Produktionsverhältnisse schuf und diese neuen Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte in Übereinstimmung brachte, die im Schöße des Feudalismus herangereift waren. Mit den Physiokraten war die Zeit der Vorläufer in der politischen Ökonomie zu Ende. Mit Quesnay und seinen Schülern beginne das „Zeitalter der Begründer", heißt es bei Gide und Rist.1) „Dieser Ehrenname... wird ihnen ohne Zweifel endgültig bleiben. Kann man doch sagen, daß in der Geschichte der Wissenschaften es wenige gibt, deren Geburtsdatum und Herkunft sicherer bestimmt wäre. Die Physiokraten waren die ersten, die im vollen Sinne des Wortes eine umfassende Anerkennung der sozialen Wissenschaft gehabt haben, mit anderen Worten, die behaupteten, daß zwischen den sozialen Tatsachen notwendige Zusammenhänge beständen, und daß Einzelpersonen, wie die Regierungen nur diese Zusammenhänge kennenzulernen brauchten, um ihr Verhalten danach zu richten."2) „Die Physiokraten haben auch die erste nationalökonomische ,Schule' im engsten Sinne des Wortes gebildet. Aus der vollständigen Übereinstimmung ihrer Lehre ergab sich die fast einzigartige und ergreifende Tatsache, daß diese kleine Gruppe von Männern in der Geschichte unter diesem anonymen Sammelnamen verzeichnet steht, in dem ihre Namen und Persönlichkeiten wie verloren sind."3) Ihre Bücher folgten in kurzen Abständen innerhalb eines Zeitraumes von etwa zwanzig Jahren (1756—1778), d. h. um zwei bis vier Jahrzehnte vor der großen französischen Revolution. Die Zeit nach dem Tode von Quesnay (1794) bezeichnet Marx als „die ökonomische Sturm- und Drangperiode in Frankreich".4)

2. Vorläufer a) Allgemeines Das physiokratische System erscheint seinem Gehalt nach als eine Reaktion gegen den Merkantilismus und als Teil der revolutionären Ideologie des jungen Bürgertums. Die ursprüngliche Akkumulation mit Hilfe des absolutistischen Staates ist abgeschlossen. Die Eigengesetzlichkeit des jungen Kapitalismus funktioniert. Man kann ihn nun sich selbst überlassen. Das Weitere besorgt der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse". ') A. a. O. Ebd. 3) Ebd. 4) Nachwort zur 2. Auflage des 1. Bandes „Kapital", a. a. O., S. 12. 2)

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Marx charakterisiert das physiokratische System im 2. Band seines „Kapital" einmal dahin, daß es „die erste systematische Fassung der kapitalistischen Produktion" sei.1) Die ganze ökonomische Bewegung w e r d e geleitet von der Pächterklasse, dem Repräsentanten des industriellen Kapitals f ü r die Physiokraten. Der Ackerbau wird kapitalistisch betrieben, d. h. als U n t e r n e h m u n g des kapitalistischen Pächters auf großer Stufenleiter; der unmittelbare Bebauer des Bodens ist Lohnarbeiter. Die Produktion erzeugt nicht n u r die Gebrauchsartikel, sondern auch ihren Wert; ihr treibendes Motiv aber ist die Gewinnung von Mehrwert, dessen Geburtsstätte die Produktions-, nicht die Zirkulationssphäre. U n t e r den drei Klassen, die als Träger des durch die Zirkulation vermittelten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses figurieren, unterscheidet sich der unmittelbare Ausbeuter der „produktiven" Arbeit, der Produzent des Mehrwertes, der kapitalistische Pächter, von dessen bloßen Aneignern. 2 ) Eine sehr gute Charakterisierung der G r u n d a u f f a s s u n g der Physiokraten gibt A. Blanqui, aus dessen „Historie de l'économique politique", Brüssel 1839, Marx zitiert: „Die im Bodenanbau aufgewandte Arbeit produzierte nicht bloß so viel, als der Arbeiter brauchte, u m sich w ä h r e n d der ganzen Dauer seiner Arbeit zu erhalten, sondern auch einen Uberschuß an Wert, der zur Masse des schon bestehenden Reichtums hinzugefügt w e r d e n konnte. Sie n a n n t e n diesen U b e r schuß produit net. Das produit net m u ß t e notwendigerweise dem Besitzer des Bodens zufallen und bildete in seinen Händen eine Revenue, ü b e r die er f r e i v e r f ü g e n konnte. Welches w a r n u n das produit net der anderen E r w e r b s zweige? . . . Industrielle, Handeltreibende, Arbeiter, sie alle w a r e n die K o m mis, die Entlohnten der Agrikultur, der souveränen Schöpferin u n d V e r teilerin aller Güter. Die P r o d u k t e der Arbeit dieser Leute repräsentierten im System der Ökonomisten n u r das Äquivalent dessen, was sie w ä h r e n d i h r e r Arbeit konsumierten, so daß nach Vollendung i h r e r Arbeit die Totalsumme des Reichtums genau ebenso groß w a r wie vordem, w e n n nicht die Arbeiter oder die Meister etwas zurückgelegt, das heißt gespart hatten, von dem, w a s sie konsumieren d u r f t e n . Die auf den Boden angewandte Arbeit w a r also die einzige, die Reichtum produzierte, u n d die der anderen w u r d e steril a n gesehen, d a aus ihr keine V e r m e h r u n g des allgemeinen Kapitals hervorging." 3 ) Marx f ü g t noch hinzu, daß die Physiokraten das produit net, das M e h r produkt also, in der Gestalt der Gebrauchswerte auffassen, worin es sich darstellt. 4 ) Der Ausgangspunkt des physiokratischen Systems, seine Grundlage, ist also die A u f f a s s u n g des Grundeigentümers als Kapitalisten. Er zahlt dem Arbeiter ') ) ) 4 )

2 3

Marx, a. a. O., S. 361. Ebd. Zitiert bei Marx, Theorien über den Mehrwert, S. 47/48. Ebd. 119

im Lohn das, was dieser für die Erhaltung seiner Existenz benötigte. „Die Summe an Gebrauchswerten, die der Arbeiter während der Produktion als Lohn verzehrt, ist aber kleiner als die Summe der Gebrauchswerte, die er produziert. Somit bleibt ein Überschuß an Gebrauchswerten. Die Produktivkraft der Natur befähigt den Arbeiter, mehr zu produzieren, als er konsumieren muß, um seine Arbeitskraft zu erhalten. Dieser vom Lohnarbeiter für den Grundeigentümer produzierte Gebrauchswertüberschuß erscheint also „als Gabe der Natur.. .' ll ) Der Kapitalismus war den Physiokraten ein „natürliches" System. Seine Wirtschaft entsprach durchaus den ewigen und natürlichen Gesetzen, und Quesnay veröffentlichte daher auch bezeichnenderweise sieben Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerkes „Tableau économique" (1758) eine Schrift über „Naturrecht" (1765). Damit wollte er seiner ökonomischen Analyse die philosophische Begründung geben. Der bürgerliche Charakter des physiokratischen Systems zeige sich auch darin, daß die Physiokraten „mit all ihrem falschen feudalen Schein", wie Marx schreibt, „Hand in Hand mit den Enzyklopädisten" arbeiten.2) „Aber freilich", schreibt Edgar Salin, der Vertreter reaktionär-romantischer Ideen — der Vertreter nicht mehr der jungen revolutionären, sondern der alten reaktionären Bourgeoisie —, „Quesnay war zuerst als Mitarbeiter an der großen Bibel des philosophischen Materialismus, an der Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert hervorgetreten, und so entspricht es nur seiner tatsächlichen geistigen Stellung, wenn von Anbeginn an das Tableau als Ausfluß des naturrechtlichen Denkens aufgefaßt wird und wenn die beiden Schüler, die am stärksten zur Verbreitung der Lehre des „Meisters" beigetragen haben, Le Mercier (1720—1793) und Dupont de Nemours (1739—1817), noch zu seinen Lebzeiten an die Stelle von Analyse und Induktion die Deduktion setzen, aus den Prämissen von Naturordnung und Naturrecht das Wirtschaftsbild ableiten."3) Quesnay, erzogen als Mediziner im Geiste jener modernen, durch Newton begründeten Auffassung der Naturwissenschaft, die an die Stelle des alten Glaubens die Auflösung der Wirklichkeit in einem kausalen Zusammenhang von Ursachen und Wirkung setzte, wandte die wissenschaftlichen Mittel der exakten Forschung auf die Ökonomie an. Der Name „Physiokratie" ist von Dupont de Nemours (1739—1817), „einem der treuesten Anhänger seines Lehrers Quesnay",4) eingeführt worden, der unter diesem Namen eine Sammlung von Schriften Quesnays veröffentlichte. Die übliche Bezeichnung der Anhänger des physiokratischen Systems in ihrer Blütezeit war „économistes". ') Theorie über den Mehrwert, Bd. I, S. 43. Ebd., S. 46. 3) Salin, a. a. O., S. 75. 4) H. d. Stw., 3. Auflage, Bd. III, S. 573. 2)

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b) Sir William Petty (1623—1687) Petty war auf mehr als einem Gebiet ein Pionier der Wissenschaft. E r war Arzt, wie einige andere der berühmten Physiokraten. Nach einem Ausspruch von Marx ist Petty der „Begründer der modernen politischen Ökonomie, einer der genialsten und originellsten ökonomischen F o r s c h e r . . . " Marx fügt hinzu, Petty sei der „Vater der politischen Ökonomie und gewissermaßen der Erfinder der Statistik". 1 ) Pettys ökonomische Theorie beginnt mit dem Satz, daß Arbeit und Boden die Quellen der Erzeugung sind. Den Arbeitslohn begrenzte er auf die Kosten der für den Unterhalt des Arbeiters notwendigen Lebensmittel. Der übrige Wert der Produkte ist die aus dem Boden erzielte Grundrente. Der durch die notwendigen Lebensmittel bestimmte Lohn ist nach Petty der allgemeine Wertmaßstab. Petty setzt ihn mit der Goldmenge gleich, deren Produktion dieselbe Arbeitszeit erheischt wie diese Lebensmittel. Die zur Produktion verschiedener Waren aufgewandte gleiche Arbeitszeit gibt diesen Waren gleichen Wert, so daß sie gegeneinander ausgetauscht werden können. Die Waren tauschen sich — mit anderen Worten — gemäß der zu ihrer Produktion aufgewandten Arbeitszeit. Als Begründung für seine Theorie führt Petty an, daß der Produzent einer Ware weniger erhalten würde, als er Arbeitszeit zu ihrer Produktion aufgewandt habe, wenn die Waren nicht gemäß der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit ausgetauscht würden. Der Produzent würde daher seine Arbeit unmittelbar für die Produktion der von ihnen einzutauschenden Ware verwenden und dadurch das Angebot der Ware vermindern, deren Produktion er einschränkt, und das Angebot der Ware erhöhen, deren Produktion er sich zuwendet. So müsse der Preis der einen Ware steigen, der Preis der anderen Ware sinken, bis die gleiche Arbeitszeit auch gleich bezahlt wird. Petty hat somit die in der Ware enthaltene Substanz, die Arbeit, tatsächlich entdeckt, und er wird daher mit Recht als der Begründer der Arbeitswerttheorie bezeichnet und ist als solcher ein Vorläufer der ersten „systematischen" Dolmetscher des Kapitals der Physiokraten. Seine Erkenntnisse werden von ihnen erweitert und vertieft und an die Klassiker der politischen Ökonomie, Smith und Ricardo, weitergereicht. Aber wenn auch Petty die Arbeit als Substanz des Wertes tatsächlich entdeckte, so hat er doch das Wesen weder des Gebrauchswertes noch des Tauschwertes richtig erkannt. Petty konnte sie nicht erkennen, weil er — wie alle bürgerlichen Ökonomen — die Form der Arbeit in der bürgerlichen Produktion als Naturform der Arbeit überhaupt ansah. ') Kapital I, S. 284, „Um es ein für allemal zu bemerken", schreibt Marx, „verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht..." (Kapital, Bd. I, S. 87). 121

Bei Petty läuft eine dreifache Bestimmung des Wertes durcheinander: 1. Die Wertgröße ist durch gleiche Arbeitszeit bestimmt, und die Arbeit wird als Quelle des Wertes betrachtet; 2. das Geld erscheint als die wahre Gestalt des Wertes, da dieser richtig als Erscheinungsform der gesellschaftlichen Arbeit- betrachtet wird; 3. die Arbeit wird richtig nicht nur als die Quelle des Tauschwertes, sondern auch als eine der Quellen des Gebrauchswertes betrachtet, ohne daß aber der zwiespältige Charakter der Arbeit begriffen wird. Wie ging Petty bei seiner Analyse des Wertes der Ware vor? Petty unterscheidet zwischen dem natürlichen Preis der Ware und ihrem politischen Preis. „Unter natürlichem Preis versteht er in der Tat den Wert", so schreibt Marx, „und dies ist es allein, was uns hier beschäftigt, da von der Wertbestimmung die Bestimmung des Mehrwerts abhängt."1) Er untersucht zunächst den natürlichen Preis, den Wert der Ware. Er sucht den „realen und nicht eingebildeten Weg, den Preis einer Ware zu bestimmen", und schreibt: „Nehmen wir an, die Produktion eines Busheis Korn erfordere ebensoviel Arbeit wie die einer Unze Silber."2) Petty definiert dann den Tauschwert der Waren und entdeckt dabei die Arbeit als Maß der Werte. „Wenn ein Mensch eine Unze Silber aus dem Innern der Erde in Peru in derselben Zeit nach London bringen kann, die er zur Produktion eines Busheis Korn brauchen würde, dann ist das eine der natürliche Preis des anderen; wenn er nun durch Abbau neuer und ergiebigerer Bergwerke zwei Unzen Silber mit dem gleichen Aufwand wie vorher gewinnen kann, wird das Korn bei einem Preis von 10 Schilling pro Bushel ebenso billig sein wie vorher bei einem Preis von 5 Schilling, unter sonst gleichen Umständen."8) Was heißt das? Das heißt, daß die Waren in ihrem Wert von der zu ihrer Produktion erforderlichen Arbeitsmenge bestimmt werden! Petty untersucht dann den Wert der Arbeit und entdeckt, daß er durch die notwendigen Lebensmittel bestimmt wird.4) Die Wohlfeilheit oder Teuerheit der Arbeit ist durch zwei Umstände bestimmt: „natürliche Fruchtbarkeit und vom Klima bestimmtes Maß der Ausgaben (Bedürfnisse)."5) Der Wert des täglichen Durchschnittslohnes ist nach Petty bestimmt durch das, was der Arbeiter braucht, „um zu leben, zu arbeiten und sich fortzupflanzen".6) ') 2 ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 122

Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 1. Ebd., S. 2. Zitiert bei Marx, Kapital, Bd. I, S. 98, Fußnote 48. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 3. Ebd., S. 3. Zitiert bei Marx, Kapital I, S. 328, Fußnote.

Es ist klar: wenn der Arbeiter einen Wert produziert, der über diesen durchschnittlichen Lohn hinausgeht, muß ein Mehrwert entstehen und auch wenn er — wie bei Petty — noch nicht als solcher erfaßt und erkannt ist. Aber er liegt in der Sache und ist eine notwendige Folge! Der Mehrwert besteht für Petty nur in den beiden Formen: Grundrente und Zins. Den Zins leitet er von der Grundrente ab. Die Grundrente ist für Petty — wie für die Physiokraten — die eigentliche Form des Mehrwertes. Die Grundrente ist der Überschuß, den die angewandte über die notwendige Menge Arbeit ergibt, und zwar stellt Petty sie „als Überschuß der Mehrarbeit des Produzenten selbst über seinen Arbeitslohn und den Ersatz seines Kapitals" dar.1) Nachdem Petty die Rente als Mehrarbeit, also als Mehrwert erklärt hat, erklärt er den Wert des Landes als kapitalisierte Rente, „das heißt als eine bestimmte Summe von Jahresrenten oder die Summe von Renten während einer bestimmten Zahl von Jahren".2) Petty unterscheidet also noch nicht zwischen Profit und Rente. Alles Einkommen aus Besitz bezeichnet er als Rente. Den Zins leitete er — wie später Turgot — von der Grundrente ab. Der Kapitalist wird sein Geld so anlegen, meint Petty, daß er den gleichen Ertrag erzielt — in der Industrie und in der Landwirtschaft. Petty hat, wie Marx erwähnt, auch bereits einen „ersten Begriff" von der Differentialrente gehabt, und zwar erkennt er die beiden Gründe für die Entstehung der Differentialrente: verschiedene Fruchtbarkeit der Böden und ihre verschiedene Lage.3) Das Bedeutende bei Petty ist, schreibt Marx, „daß erstens die Rente, als Ausdruck des gesamten landwirtschaftlichen Mehrwerts, nicht aus dem Boden, sondern aus der Arbeit abgeleitet ist, der Überschuß der Arbeit über das zum Lebensunterhalt des Arbeiters hinaus Nötige. Daß zweitens der Wert des Landes nichts ist als für eine bestimmte Zahl von Jahren vorausgekaufte Rente, eine verwandelte Form der Rente selbst..., kurz, daß der Wert des Landes nichts ist als kapitalisierte Rente".4) Petty erfaßt die Arbeit noch — wie die Physiokraten — als konkrete Arbeit und faßte die wirkliche Arbeit daher sofort „in ihrer gesellschaftlichen Gesamtgestalt, als Teilung der Arbeit".5) Petty löste daher den Gebrauchswert in Arbeit auf, ohne sich allerdings „über die Naturbedingtheit ihrer schöpferischen Kraft zu täuschen".6) Den Tauschwert der Ware, weil er im Austauschprozeß erscheint, nimmt Petty dagegen ebenfalls konkret als Geld und das 2) 3) 4) 5) «)

Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 3. Ebd., S. 6. Ebd., S. 8/9. Ebd., S. 6/7. Marx, Zur Kritik, S. 49. Ebd.

123

Geld selbst in seiner Gestalt als Gold und Silber, als existierende Ware. Die konkrete Arbeit, die Gold und Silber produziert, also einen Gebrauchswert, ist für Petty daher Tauschwert produzierende Arbeit. Die Erkenntnis der Arbeit als Quelle des stofflichen Reichtums schließt also — wie Marx über Petty schreibt — „keineswegs die Verkennung der bestimmten gesellschaftlichen Form aus, worin die Arbeit Quelle des Tauschwertes ist". 1 ) Auch damit war Petty ein Vorläufer der Physiokraten, die ebenfalls nicht die allgemeine menschliche Arbeit, sondern eine bestimmte Art der Arbeit, die Agrikulturarbeit, als wertschaffende Arbeit ansehen. Aber Petty erkannte die Wertsubstanz — das ist sein Verdienst, wenn er auch noch nicht zwischen abstrakter und konkreter Arbeit unterschied. Erst Smith, der nicht nur den Merkantilismus, sondern auch die Physiokraten kritisch überwand, erkannte, daß jede Arbeit, die Gebrauchswerte produziert, unabhängig von ihrer besonderen Form, als menschliche Arbeit wertbildende Arbeit ist. Die Entwicklung unserer Wissenschaft mußte Schritt für Schritt die wichtigsten und grundlegenden Erkenntnisse sich in kritischer Arbeit erkämpfen.

c) Pierre Le Pesant Siemde Boisguillebert (1646—1714) war ebenfalls ein Vorläufer der Physiokraten. Mit ihm begann die eigentliche Ökonomie in Frankreich. Er bekämpfte das Merkantilsystem und die Colbertsche Verwaltung. Der Colbertismus war nach seiner Auffassung für den Niedergang Frankreichs verantwortlich. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen den Parasitismus der feudalen Gesellschaft und prangert die elende Lage des werktätigen Volkes an. Boisguillebert „befehdet die blindzerstörende Goldgier des Hofes eines Ludwigs X I V . , seiner Finanzpächter und seines Adels", sagt Marx. 2 ) Und gleichzeitig „denunziert er so beredt das ungeheure Elend des französischen Landvolkes unter Ludwig XIV.". 3 ) Nach Boisguillebert besteht der Volksreichtum nicht in Gold und Silber, wie es die Merkantilisten lehrten, sondern in nützlichen Dingen, unter denen die landwirtschaftlichen Produkte voranstehen. Er kämpfte gegen das Schutzzollsystem und das Privilegienwesen und trat für eine „gerechte" Besteuerung ein, indem er darauf hinwies, daß der „produktivste" Stand, der Bauernstand, zugleich der gedrückteste Stand sei. 4 ) In seiner Analyse des Wertes ging Boisguillebert einen Schritt weiter als Petty, wenn er auch ebenfalls die bürgerliche Form der Arbeit noch als Naturform der Arbeit faßte. E r löste — wenn auch noch nicht bewußt, so doch tat') ) 3) 4) 2

124

Ebd., S. 51. Marx, Zur Kritik usw., S. 52. Marx, Kapital, Bd. I, S. 146. Vgl. H. d. Stw., 3. Auflage, Bd. III, S. 198.

sächlich — den Tauschwert der Ware in Arbeitszeit auf und bestimmte den „wahren Wert" durch die richtige Proportion, „worin die Arbeitszeit der Individuen auf die besonderen Industriezweige verteilt wird", und stellte „die freie Konkurrenz als den gesellschaftlichen Prozeß „dar", der diese richtige Proportion schaffe. 1 ) Im Gegensatz zu Petty kämpfte er gegen das Geld, weil es durch seine Dazwischenkunft „das natürliche Gleichgewicht oder die Harmonie des Warenaustausches störe". 2 ) Es verlange allen natürlichen Reichtum zum Opfer. Boisguillebert sah nur — wie Marx schreibt — „auf den stofflichen Inhalt des Reichtums, den Gebrauchswert, den Genuß, und betrachtete die bürgerliche Form der Arbeit, die Produktion der Gebrauchswerte als Waren und den Austauschprozeß der Waren, als die naturgemäße gesellschaftliche Form, worin die individuelle Arbeit jenen Zweck erreiche". 3 ) Wo ihr aber die spezifische Form des bürgerlichen Reichtums gegenübertrete, wie im Gelde, ereiferte er sich gegen die bürgerliche Arbeit in der Form, während er sie in der anderen Form verklärte. Boisguillebert lieferte uns den Beweis, daß die Arbeitszeit als Maß der Wertgröße der Waren betrachtet werden könne, „obgleich die im Tauschwert der Waren vergegenständlichte und durch die Zeit gemessene Arbeit mit der unmittelbaren natürlichen Tätigkeit der Individuen verwechselt wird". 4 ) „Das Geld ist der Henker aller Dinge geworden", schreibt Boisguillebert. „Die Finanzkunst ist die Retorte, in der eine schreckenerregende Menge von Gütern und Waren verdampft worden ist, u m diesen unheilvollen Extrakt zu gewinnen." „Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg." 5 )

d) Richard Cantillon (geb. Ende des 17. Jahrhunderts) Ein weiterer bedeutender Vorläufer der Physiokraten ist Richard Cantillon (geb. Ende des 17. Jahrhunderts, wahrscheinlich 1680, gest. 1734). Wie Hayek in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe des 1755 erschienenen Werkes von Cantillon: „Abhandlung über die Natur des Handels im allgemeinen" feststellt, findet sich in der Literatur der Blütezeit der physiokratischen Schule immer wieder der Name Cantillons. „Turgot nennt ihn mit Montesquieu, Hume, Quesnay und Gournay als einen der G r o ß e n . . . Dupont de Nemours, Morellet, Mably, Graslin, Savary kannten den Essay, der Deutsche Johann Philip Graumann gibt in seinen .Gesammelten Briefen vom Gelde' schon 1762 einen großen Teil der Ausführungen des Essays über das Verhältnis von Gold und Silber .... wieder. James Steuart zitiert Cantillon . . . , 2

) 3 ) 4 ) 5 )

Marx, Zur Kritik, a. a. O., S. 51. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Zitiert bei Marx, Kapital I, S. 146, Fußnote 105. 125

und schließlich spendet ihm noch Condillac.. . hohes L o b . . ,"1) Julius Kautz kennzeichnet Cantillon „als ein Übergangsglied zwischen Merkantilismus, Physiokraten und Smithianer" und stellt ihn „in die Reihe der eigentlichen Begründer der Nationalökonomie.. ,"2) Wilhelm Roscher schrieb, daß Cantillon „viele Hauptzüge und Hauptverdienste der Physiokraten schon in großer Vollendung enthält". 3 ) Das bestätigte auch Hayek. „Der Zeitpunkt und das Milieu, in dem Cantillon schrieb, war jedenfalls einer weittragenden W i r k u n g . . . günstig, war es doch in der englisch-französischen Gesellschaft im zweiten Viertel jenes Jahrhunderts, in der die intellektuelle Revolution sowohl die folgende politische Revolution als auch den Aufschwung der politischen Wissenschaften vorbereitete. Außer Montesquieu waren auch Voltaire und Rousseau um jene Zeit in England und standen in enger Verbindung mit jenen Kreisen, in denen sich auch Cantillon bewegte. David Hume und Adam Smith empfingen umgekehrt in Frankreich entscheidende Anregungen." 4 ) Hayek erwähnt, daß A. Smith Cantillon gekannt habe, und nimmt dies auch für David Hume an. Im Gegensatz zu den Merkantilisten lehrte Cantillon, daß der Boden die einzige Quelle des Reichtums sei und die Arbeit den aus dem Boden entstammenden Reichtum nur umformen könne. Cantillon analysierte bereits den Preismechanismus, indem er durch Beispiele zeigte, wie steigende oder sinkende Nachfrage nach einer Ware sich als Steigen oder Fallen des Preises spiegelt. Das Schwanken der Preise reguliert die Produktion, indem es die Produzenten anlockt oder abschreckt. Er sah aber auch schon, daß die Marktpreise sich um ein Zentrum drehen, den „inneren Preis", der durch „Boden und Arbeit" bestimmt ist. Damit zeigt er die Wechselwirkung auf, die zwischen Wert und Preis besteht, ohne allerdings den Wert bereits begriffen zu haben. Cantillon beginnt sein Werk mit den Worten: „Der Boden ist die Quelle oder der Stoff, woraus man den Reichtum gewinnt; die Arbeit des Menschen ist die gestaltende Kraft, die ihn erzeugt.. ."5) Der innere Preis und Wert eines Dinges sei das Maß von Boden und von Arbeit, das in seine Produktion eingehe. 6 ) Er sucht nach dem Vorbild von Petty nun ein Pari zwischen Bodenwert und Arbeitswert und führt den Arbeitswert ebenfalls auf den Bodenwert zurück, wobei er allerdings feststellt, daß die zur Unterhaltung eines Arbeiters nötige Bodenfläche je nach dem Kulturstand eines Landes verschieden ist.7) 4 2 ) ) 4 ) 5 ) 6 ) ') 3

126

Hayek (Vorwort in Cantillons „Abhandlung"), S. 12/13. Marx, a. a. O., S. 320 f. Roscher, a. a. O., S. 481. Ebd., LXI—LXII. Cantillon, a. a. O., S. 1. Ebd., S. 17. Ebd., S. 25.

„Auf welche Weise sich auch eine Gesellschaft von Menschen bildet", schreibt Cantillon, „der Boden, den sie bewohnen, wird notwendigerweise das Eigentum einer kleinen Anzahl von ihnen sein." 1 ) Entweder wird „jeder Eigentümer seinen Boden mit eigenen Händen bebauen oder an einen oder mehrere Pächter vergeben". 2 ) Die Pächter müssen aus dem — nicht ihnen gehörenden — Boden erstens selbst ihren Unterhalt finden und den „Uberschuß des B o d e n e r t r a g e s . . . dem Eigentümer zur Verfügung" stellen. 3 ) „Nur der Fürst und die Grundeigentümer leben unabhängig, alle anderen Stände und alle Einwohner stehen im Lohn oder sind Unternehmer", schreibt Cantillon. Er will darlegen, „daß alle Stände und Einwohner eines Staates auf Kosten der Grundeigentümer leben". 4 ) Wenn man die Mittel untersuche, von denen die Einwohner eines Landes leben, so werde man immer, „wenn man sie bis zu ihrer Quelle v e r f o l g t . . . finden, daß sie vom Grund und B o d e n . . . ihren Ausgang nehmen", entweder von dem Teil des Ertrages, der dem Pächter, oder von dem Teil, der dem Grundeigentümer zufalle. 5 ) Die in großen Städten vom auswärtigen Handel lebenden „Unternehmer und Handwerker" leben, stellt Cantillon fest, „daher auf Kosten der G r u n d eigentümer eines fremden Landes". 6 ) Manche arbeiten „nicht direkt f ü r die G r u n d e i g e n t ü m e r . . w e s h a l b man nicht gewahr wird, daß sie von deren Grund und Boden versorgt werden und daß sie auf deren Kosten leben". 7 ) Es gibt zudem Berufe, „die notwendig sind, wie die Tänzer, Schauspieler^ Maler, Musiker u. a. Sie werden nur des Vergnügens oder der Zierde wegen erhalten, und ihre Zahl ist im Vergleich zu den übrigen Bewohnern immer sehr klein". 8 ) Cantillon untersucht an mehreren Beispielen das Verhältnis des Preises einer Ware zu ihrem Wert. „Ich glaube", schreibt er, „daß man nach diesen. Überlegungen und Beispielen verstehen wird, daß der innere Preis oder W e r t einer Sache das Maß der Menge von Boden und Arbeit ist, die in seine E r zeugung eingeht, wobei auf Güte oder Ertrag des Bodens und die Qualität der Arbeit Rücksicht zu nehmen ist."9) Der Marktpreis kann in der Tat, schreibt Cantillon, vom Wert abweichen. „Es gibt niemals Schwankungen in dem inneren Wert der Güter; aber die Unmöglichkeit, in einem Staat die Erzeugung von Waren und Nahrungsmitteln dem Verbrauch anzupassen, 2

) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) ') 8 ) 9 )

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S. S. S. S.

2. 4. 4. 9. 30. 30/31. 31. 32. 19. 127

erzeugt täglich Änderungen und ein ständiges Auf und Ab der Marktpreise." 1 ) Doch seien in der „gut geordneten Gesellschaft" die Unterschiede zwischen Marktpreisen und innerem Wert der Waren nicht sehr groß. 2 ) „Sicher ist", schreibt Cantillon daher, „daß die zum Verkauf angebotene Menge von Lebensmitteln oder Waren im Verhältnis zur Nachfrage oder zur Zahl der Käufer die Grundlage bildet, auf der man die jeweiligen Marktpreise bestimmt oder immer zu bestimmen glaubt, und daß sich diese Preise im allgemeinen nicht weit vom inneren Wert entfernen." 8 ) In engem innerem Zusammenhang mit der Analyse des Preismechanismus durch Cantillon stehen seine Geldtheorien und seine Theorie des internationalen Handels. Wie Petty sieht auch Cantillon die Kosten der Golderzeugung als bestimmend f ü r den Geldwert an. „Der wahre oder innere Wert der Metalle steht, wie der aller Dinge, im Verhältnis zum Boden und zur Arbeit, die zu ihrer Produktion erforderlich sind." 4 ) Die Kosten der Produktion sind das Zentrum der Schwankungen des Geldwertes, der kurzfristig auch durch die umlaufende Geldmenge bestimmt wird. „Der Marktwert der Metalle, ebenso wie der aller Waren oder Nahrungsmittel, liegt bald über, bald unter dem inneren Wert und wechselt, je nachdem sie im Überfluß vorhanden oder knapp sind, und entsprechend dem Verbrauch an ihnen." 5 ) Wird zuviel Gold produziert in einem Land, so strömt es ab, weil das Preisniveau steigt, und die inländischen Preise werden den Preisen anderer Länder wieder angeglichen. Cantillon hebt richtig die Bedeutung des Automatismus des Goldmechanismus f ü r den auswärtigen Handel im Kapitalismus hervor. „Es ist notwendig", schreibt Cantillon, „daß das Gold oder das allgemeine Wertmaß wirklich und nach seinem inneren Wert, im Preis des Bodens und der Arbeit, den Dingen entspricht, die man d a f ü r in Tausch gibt." 6 ) Marx hebt hervor, daß Cantillon, „aus dem Quesnay, Sir James Steuart und A. Smith reichlich geschöpft haben, . . . schon den Stücklohn als bloß modifizierte Form des Zeitlohnes" darstellte. 7 ) Marx zitiert als Beleg hierfür eine Stelle aus der Amsterdamer Ausgabe der „Essay sur la Nature du Commerce en Général": „Die Arbeit der Handwerksgesellen regelt sich nach dem Tag oder nach dem S t ü c k . . . Die Meister wissen ungefähr, wieviel Werk die Arbeiter täglich in jedem métier (Gewerbe) verrichten können, und zahlen sie daher oft im Verhältnis zum Werk, das sie verrichten; so arbeiten diese Gesellen, so viel sie können, in ihrem eigenen Interesse, ohne weitere Beaufsichtigung." 8 ) ») ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) ') 8 ) 2

128

Ebd., S. 20. Ebd., S. 20. Ebd., S. 76/77. Ebd., S. 62/63. Ebd., S. 63. Ebd., S. 72. Marx, Kapital, Bd. I, S. 582, Fußnote 54. Ebd.

3. François Quesnay

(1694—1774)

François Quesnay wird als „der Urheber des physiokratischen Systems" bezeichnet. Er war der Sohn eines Landarbeiters und betrieb unter schwierigen Verhältnissen das medizinische Studium. Im Jahre 1718 ließ er sich als Arzt nieder. 1732 übersiedelte Quesnay nach Paris und wurde 1749 Leibarzt der Pompadour in Versailles. Er war Mitarbeiter der großen Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert. Sein Hauptwerk, das berühmte „Tableau économique", erschien 1758. In einem wahrscheinlich aus dem Mai 1759 stammenden Brief an Mirabeau schreibt Quesnay über seine Absichten bei der Aufstellung des „Tableaus": „Ich habe mir vorgenommen, ein Grundtableau der ökonomischen Ordnung aufzustellen, um darin Ausgaben und Produktion in einem leicht faßlichen Anblick zu vergegenwärtigen, woraus man mit Klarheit die Ordnungen und Unordnungen, welche die Regierung verursachen kann, zu beurteilen vermag. Sie werden sehen, ob ich mein Ziel erreicht h a b e . . . Da gibt es etwas nachzudenken für die Gegenwart und Zukunft." „Es war dies unstreitig der genialste Einfall, dessen sich die politische Ökonomie bisher schuldig gemacht hat", schreibt Marx über das „Tableau".1) Man begreift daher den hyperbolischen Satz des Marquis de Mirabeau, den Adam Smith mit einiger Ironie zitiert: „Seit der Entstehung der Welt hat es drei große Entdeckungen gegeben. Die erste war die Entstehung der S c h r i f t . . . die zweite die Erfindung (!) des Geldes, die dritte ist das Tableau économique, das Resultat und die Vollendung der beiden anderen." 2 ) Das berühmte „Tableau économique" zeigt, wie Marx schreibt, „in wenigen großen Zügen, wie ein dem Werte nach bestimmtes Jahresergebnis der nationalen Produktion sich so durch die Zirkulation verteilt, daß unter sonst gleichbleibenden Umständen dessen einfache Reproduktion vorgehen kann, d. h. Reproduktion auf derselben Stufenleiter". 3 ) Der Ausgangspunkt des Tableaus bildet die abgeschlossene Ernte eines Jahres. Die zahllosen individuellen Zirkulationsakte werden zusammengefaßt zur Zirkulation „zwischen großen funktionell bestimmten ökonomischen Gesellschaftsklassen" 4 ). Dabei ist ein Teil des gesellschaftlichen Gesamtproduktes, obwohl stofflich gesehen, als Gebrauchswert, Resultat der Arbeit des letzten Jahres, nur Träger von altem Kapitalwert. „Er zirkuliert nicht, sondern verbleibt in den Händen seiner Produzenten, der Pächterklasse, um dort seinen Kapitaldienst wieder zu beginnen." 5 ) Obwohl Quesnay, wie Marx feststellt, „in diesem konstanten Kapitalteil des Jahresprodukts" auch nicht dazugehörige Elemente einschließe, treffe er ') ) s ) 4 ) 5 )

2

Theorien, über den Mehrwert, Bd. I, S. 92. Ebd. Kapital, Bd. II, S. 360. Ebd., S. 3Ö0. Ebd., S. 361.

9 Behrens

129

die Hauptsache, „dank der Schranken seines Horizonts, worin Agrikultur die einzige Mehrwert produzierende Anlagesphäre der menschlichen Arbeit ist, also dem kapitalistischen S t a n d p u n k t gemäß die allein wirklich produktive". 1 ) Quesnay w u r d e also der Entdecker des wirtschaftlichen Kreislaufes. Er entdeckte, daß die kapitalistische Warenproduktion ein durch unabhängig von den Menschen vorhandene objektive Gesetze reguliertes System ist. Quesnay beginnt seine Analyse des Wirtschaftskreislaufes mit dem Satze: „Das Volk verteilt sich auf drei Klassen von Bürgern: die produktive Klasse, die Klasse d e r Grundeigentümer u n d die sterile Klasse." 2 ) Welches ist die produktive Klasse der Gesellschaft? Als produktive Klasse bezeichnet Quesnay diejenige, „welche durch die K u l t u r des Gebietes die Reichtümer der Nation jährlich wiedererstehen läßt, welche die Kosten der landwirtschaftlichen Arbeiten vorschießt und jährlich die E i n k ü n f t e der Grundeigentümer bezahlt. Von dieser Klasse sind abhängig alle Arbeiten und alle Ausgaben, die dort bis zum Verkauf der Erzeugnisse an die erste Hand gemacht werden: aus diesem Verkauf e r f ä h r t m a n den Wert der jährlichen Reproduktion der Reichtümer d e r Nation". 3 ) Die Klasse der Grundeigentümer besteht aus dem Herrscher, den Besitzern der Ländereien und den Zehntherren. „Diese Klasse lebt von dem Einkommen oder Reinertrag der Bodenkultur, der ihr jährlich von der produktiven Klasse gezahlt wird, nachdem diese auf die Reproduktion, die sie jedes J a h r wiedererstehen läßt, die Beträge vorwegerhoben hat, die sie braucht, u m sich f ü r ihre jährlichen Vorschüsse schadlos zu halten u n d ihre Betriebskapitalien zu erhalten." 4 ) Die dritte Klasse schließlich, die sterile Klasse, „wird von allen B ü r g e r n gebildet, die andere Dienste und Arbeiten, als die zur Landwirtschaft gehörenden, leisten und deren Ausgaben von der produktiven Klasse und der Klasse der Grundeigentümer bezahlt werden, die ihre E i n k ü n f t e selbst von der produktiven Klasse beziehen". 5 ) U m die Beziehungen dieser verschiedenen Klassen untereinander klar zu verfolgen und zu berechnen, geht n u n Quesnay von der Voraussetzung eines „großen Reiches" aus, dessen Gebiet, „zum höchsten Grad landwirtschaftlicher Entwicklung gebracht; alle J a h r e eine Reproduktion im Werte von fünf Milliarden hervorbrächte . . ."6) „Die produktive Klasse — die Pächter — m u ß jährlich, u m den B r u t t o w e r t von fünf Milliarden zu produzieren, ein Betriebskapital von zwei Milliarden 2

) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 130

Ebd. Quesnay: Allgemeine Grundsätze, S. 23 (Fischer, Jena 1921). Ebd. Ebd., S. 23/24. Ebd., S. 124. Ebd.

vorschießen. Die Grundeigentümer erhalten aus dem Bruttowert ein jährliches Einkommen — das produit net — von ebenfalls zwei Milliarden, und die sterile Klasse wendet jährlich einen Vorschuß von einer Milliarde auf für Rohmaterial und verzehrt für eine Milliarde Lebensmittel während der Produktion, um ihr industrielles Produkt im Werte von zwei Milliarden zu produzieren."1) Die produktive Klasse besitzt außer dem Bruttoprodukt von fünf Milliarden am Beginn der Zirkulation des Produktes noch einen Geldvorrat von zwei Milliarden, die das Produkt zirkulieren.2) Die Zirkulation zwischen den drei Klassen gestaltet sich nach Quesnay nun wie folgt: 3 ) Gesamtreproduktion: fünf

Jährliche Vorschüsse der produktiven Klasse 2 Milliarden

Milliarden

Einkommen der Grundeigentümer

Vorschüsse der sterilen Klasse 1 Milliarde

2 Milliarden /

/

N

V \

Summen, welche dazu dienen, das Einkommen und die Zinsen der ursprünglichen Vorschüsse zu bezahlen

1 Milliarde'

1 Milliarde

1 Milliarde'

Jährliche Vorschüsse

Summe

1 Milliarde

2 Milliarden

5 Milliarden

^l^Milliarde

2 Milliarden, die Hälfte davon Betriebskapital für das folgende Jahr

') Ebd., S. 25. Ebd. 3 ) Ebd., S. 34. 2)

9*

131

Was bedeutet dieses Tableau, das der bürgerlichen Ökonomie solches Kopfzerbrechen gemacht hat? Worin besteht das umwälzende, das für unsere Wirtschaft so epochemachende Prinzip des Tableaus? Analysieren wir zunächst den Kreislauf des jährlichen Arbeitsproduktes zwischen den Klassen! Die Pächter zahlen zunächst 2 Milliarden in Geld an die Grundbesitzer. Die Grundbesitzer kaufen für eine Milliarde Lebensmittel von den Pächtern und für eine Milliarde Industriewaren von der sterilen Klasse. Damit ist eine Milliarde in Geld zu den Pächtern zurückgeflossen, die zwei Milliarden in Geld Vorschüssen, um die Rente hiermit zu zahlen. Zugleich ist damit aber auch über ein Fünftel des Bruttoproduktes disponiert worden, das aus der Zirkulation in die Konsumtion übergegangen ist. Die zweite Milliarde Geld befindet sich in den Händen der sterilen Klasse, die damit Lebensmittel für sich von den Pächtern kauft. Damit ist auch die zweite Milliarde, die die Pächter an die Grundbesitzer als Rente zahlten, zu den Pächtern zurückgekehrt, und zugleich ist damit das zweite Fünftel des Bruttoproduktes aus der Zirkulation in die Konsumtion gefallen. Das Geld befindet sich jetzt wieder in den Händen der Pächter. Jetzt kaufen die Pächter zum Ersatz der Hälfte ihres jährlichen Kapitalvorschusses für eine Milliarde Waren von der sterilen Klasse. Damit verkauft diese Klasse — die Klasse der Sterilen — die zweite Hälfte ihres Jahresproduktes. Die sterile Klasse kauft darauf für eine Milliarde Rohstoffe usw. von den Pächtern, so daß also das Geld wieder zu den Pächtern zurückströmt. Die Pächter haben damit drei Fünftel ihres Produktes verkauft. Es bleibt somit noch die Zirkulation von zwei Fünfteln des Bruttoproduktes. Diese zwei Milliarden sind Ersatz der jährlichen Vorschüsse der Pächter, so daß sie nicht zirkulieren, sondern in der Landwirtschaft selbst verbraucht werden. Wir finden also am Schluß der Zirkulation bei den Pächtern folgende Werte: 1. das vorgeschossene Geld 2 Milliarden 2. landwirtschaftliche Produkte 2 Milliarden 3. Industriewaren 1 Milliarde Die Industriewaren sind zum Teil auch Ersatz der ursprünglichen Vorschüsse, deren Höhe Quesnay mit 10 Milliarden und deren Verschleiß er mit 10 °/o annimmt, zum Teil dienen die landwirtschaftlichen Produkte auch selbst dem Ersatz dieser Vorschüsse. Bei der Industrie finden wir: 1 Milliarde 1. Rohmaterial 1 Milliarde 2. Lebensmittel bei den Grundeigentümern: 1 Milliarde 1. Lebensmittel 1 Milliarde 2. Industriewaren 132

Die von den Pächtern vorgeschossenen zwei Milliarden Geld verrichten also sechs Zirkulationsakte: Erstens dienen sie als Zahlungsmittel der Pächter an die Grundeigentümer f ü r die Rente. Sie zirkulieren in dieser Form noch nicht einen Teil des Produktes, sondern dienen nur als Anweisung auf ein Fünftel des landwirtschaftlichen Produktes. Zweitens kaufen die Grundeigentümer f ü r eine Milliarde Lebensmittel von den Pächtern. Die erste Hälfte der von den Pächtern vorgeschossenen, an die Grundeigentümer als Rente gezahlten zwei Milliarden zirkuliert das erste Fünftel des landwirtschaftlichen Produktes, das in die Konsumtion der Grundeigentümer eingeht, und kehrt zu den Pächtern zurück. Drittens kaufen die Grundeigentümer f ü r ihre als Rente von den Pächtern erhaltene zweite Milliarde Industriewaren von der sterilen Klasse. Die sterile Klasse hat eine Hälfte ihres Produktes verkauft und besitzt dafür eine Milliarde Geld, die Grundeigentümer haben ihre gesamte Geldrente wieder verausgabt und besitzen dafür eine Milliarde Lebensmittel und f ü r eine Milliarde Industriewaren. Viertens k a u f t die sterile Klasse f ü r eine Milliarde Lebensmittel von den Pächtern. Die zweite Hälfte der zwei Milliarden Geld kehrt damit zu den Pächtern zurück, und das zweite Fünftel des landwirtschaftlichen Produktes ist realisiert. Fünftens kaufen jetzt die Pächter von der sterilen Klasse f ü r eine Milliarde Industriewaren. Damit besitzen die Sterilen eine Milliarde Geld und haben ihr gesamtes Produkt realisiert. Sechstens kaufen die Sterilen f ü r eine Milliarde Rohstoffe usw. von den Pächtern. Die Pächter sind wieder im Besitze ihres Geldvorschusses von zwei Milliarden und haben das dritte Fünftel ihres Produktes realisiert.

Resultate: 1. Das Gesamtarbeitsprodukt bestand: a) landwirtschaftliche Produkte b) Industriewaren 2. Das Bruttoprodukt teilt sich auf in: a) Rente = Nettoprodukt b) Lebensmittel der Sterilen c) Rohstoffe der Sterilen d) Industriewaren der Pächter e) Lebensmittel und Rohstoffe der Pächter

5 Milliarden 2 Milliarden 7 Milliarden 2 1 1 1 2 7

Milliarden Milliarde Milliarde Milliarde Milliarden Milliarden 133

3. Zirkuliert wird vom Bruttoprodukt: a) das landwirtschaftliche Produkt aa) Lebensmittel Grundeigentümer bb) Lebensmittel Sterile cc) Rohstoffe Sterile b) Industriewaren aa) Bedarf der Grundeigentümer bb) Industriewaren der Pächter

3 Milliarden 1 Milliarde 1 Milliarde 1 Milliarde 2 Milliarden 1 Milliarde 1 Milliarde

4. Zur Zirkulation dienen zwei Milliarden in Geld, die von den Pächtern vorgeschossen sind. Das „Tableau" enthält einige Mängel — selbst vom Standpunkt der physiokratischen Theorie. So setzt erstens Quesnay nur f ü r die Pächter ursprüngliche Vorschüsse in Höhe des fünffachen Betrages der jährlichen Vorschüsse voraus, während er bei der sterilen Klasse diese Vorschüsse vergißt. Zweitens ist es falsch, wenn Quesnay behauptet, die Reproduktion betrage fünf Milliarden. Sie beträgt in der Tat sieben Milliarden, und zwar drei Milliarden f ü r die produktive Klasse, zwei Milliarden f ü r die Grundeigentümer und zwei Milliarden f ü r die sterile Klasse. „Trotz alledem war das Tableau ein höchst genialer Einfall", schreibt Marx. Es zeigt erstens, daß die Geldzirkulation durch die Produktion bestimmt ist; es ist zweitens der erste Versuch, den Produktionsprozeß als Reproduktionsprozeß darzustellen und die Zirkulation als Moment dieses Prozesses zu zeigen; es ist drittens der Versuch, den Reproduktionsprozeß als den Ursprung der Einkommen der Klassen aufzuzeigen und den Austausch zwischen den Klassen zu verstehen. In der Unterscheidung von „avances primitives" und „avanoes annuelles" erscheint, wie Marx bemerkt, der Unterschied von „fixem" und „zirkulierendem" Kapital. „Avances primitives" sind ursprüngliche Vorschüsse, also fixes Kapital, „avances annuelles" sind jährliche Vorschüsse, also zirkulierendes Kapital. Dieser Unterschied wird von Quesnay, wie Marx weiter bemerkt, richtig als Unterschied des produktiven Kapitals dargestellt. Quesnay sieht aber nur das in der Agrikultur angewandte Kapital als solches an. Der Unterschied gilt also auch nur f ü r dieses Kapital, und es ergeben sich hieraus die jährliche Umschlagszeit des einen Teiles, die mehr, als jährliche Umschlagszeit des anderen Teiles dieses Kapitals. „Beiläufig übertragen die Physiokraten im Lauf der Entwicklung diese Unterschiede auch auf andere Sorten Kapital, auf das industrielle Kapital überhaupt", schließt Marx. 1 ) ») Kapital, Bd. II, S. 184. 134

Da der Unterschied zwischen den beiden Arten von „Vorschüssen" erst entsteht, nachdem das Geld in die Elemente des produktiven Kapitals verwandelt wurde und dieser Unterschied also nur das produktive Kapital betrifft, rechnet Quesnay das Geld weder zu den „ursprünglichen" noch zu den „jährlichen" Vorschüssen. Das produktive Kapital steht sowohl dem Gelde als auch den auf dem Markt sich befindlichen Waren gegenüber. 1 ) Der in Arbeitslohn vorgeschossene Kapitalteil wird richtig zu den „jährlichen" Vorschüssen gerechnet. Aber als Bestandteil des vom Pächter angewandten produktiven Kapitals erscheint nicht die Arbeitskraft selbst, sondern die der Erhaltung der Arbeiter dienenden Lebensmittel. „Dies hängt genau mit ihrer spezifischen Doktrin zusammen", schreibt Marx. „Der Wertteil, den die Arbeit dem Produkt zusetzt... ist nämlich nur gleich den Arbeitern gezahlten und zur Erhaltung ihrer Funktion als Arbeitskräfte notwendig zu verzehrenden Lebensmittel."2) Durch ihre Doktrin wurde ihnen die Entdeckung des Unterschiedes von fixem und zirkulierendem, nicht aber von konstantem und variablem Kapital möglich gemacht. Sie gingen eben davon aus, daß nicht die Arbeit überhaupt, sondern nur die besondere Arbeit in der Agrikultur Mehrwert produziert. Infolgedessen mußte dieser Mehrwert den besonderen Charakter dieser Arbeit, d. h. der Mithilfe der Natur geschuldet sein, und die Physiokraten bezeichnen daher konsequent nur die Arbeit in der Agrikultur als produktive Arbeit, im Unterschied zu aller anderen Arbeit. Es ist also durchaus zu beachten — Marx hebt diese Tatsache auch ausdrücklich hervor —, daß die Physiokraten ihre Unterscheidung in „ursprüngliche" und „jährliche" Vorschüsse nur auf Grund der verschiedenen Reproduktionsperioden der verschiedenen Bestandteile des Kapitals treffen. Die Bildung des Mehrwertes wird aber bei ihnen überhaupt nicht aus dem Kapital als solchem erklärt. Infolgedessen ist dieser Teil ihrer Theorie nicht mit dem anderen Teil unmittelbar verknüpft.

4. Weitere

Vertreter

Von den Ökonomen, die die physiokratischen Lehren vertreten, ist vor allem noch Anne Robert Jacques Turgot (1727—1781) zu nennen. Von Turgot schreibt Marx einmal, er habe „eine Ahnung, daß der Mehrwert in der Industrie wenigstens . . . etwas zu tun habe mit den Industriearbeitern selbst". Der Bedeutendste war jedoch Turgot, ein französischer Staatsmann und Ökonom. Er war der bedeutendste Schüler Quesnays. „Bei Turgot finden wir die physiokratische Lehre am entwickeltsten", schreibt Marx. „Bei ihm wird erst das Produkt, die ,reine Gabe der Natur', stellenweise dargestellt als Mehrwert, und andererseits die Notwendigkeit des Arbeiters, das über seinen ') Ebd., S. 184. 2 ) Marx, Das Kapital, Bd. II. 135

Arbeitslohn überflüssige Produkt abzugeben, erklärt aus der Loslösung des Arbeiters von den Arbeitsbedingungen u n d dann dem Gegenübertreten derselben als Eigentum einer Klasse, die damit Handel treibt." 1 ) Die Agrikultur ist die Naturbasis und die Voraussetzung f ü r alle anderen Produktionszweige. Die Arbeit des Landarbeiters hat vor allen anderen Arbeitern den Vorrang, wie die Arbeit, „die im Zustand der Vereinzelung" f ü r die Befriedigung der N a h r u n g aufgewendet w e r d e n muß. Das ist kein bloßer Vorrang der E h r e oder Würde, sondern der N a t u r n o t w e n d i g k e i t . . . Das, was seine Arbeit dem Boden über das zur Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse Notwendige hinaus abgewinnt, bildet den einzigen Fonds der Löhne, die alle anderen Mitglieder der Gesellschaft im Austausch f ü r ihre Arbeit erhalten. 2 ) W ä h r e n d diese f ü r den f ü r ihre Arbeit erhaltenen Preis Lebensmittel vom Landwirt kaufen, erhält dieser genau zurück, w a s er ihnen gab. „Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Arbeitsarten." 3 ) Der einfache Arbeiter, d. h. der Proletarier, habe nichts — da er n u r seine A r m e u n d seinen Fleiß besitze —, als seine Arbeitskraft zu verkaufen. Diese v e r k a u f e er so teuer es geht, aber ihr Preis hänge nicht von ihm allein ab. Turgot geht von der Lohntheorie Pettys u n d Cantillons aus, daß der Arbeiter n u r das zum Leben Notwendige f ü r seine Arbeit als Lohn erhalte. Die K o n kurrenz des Arbeiters sorgt d a f ü r , daß es bei „jeder A r t Arbeit — dahin k o m m t . . . , daß der Lohn des Arbeiters sich auf das beschränkt, w a s ihm zu seiner E r h a l t u n g unbedingt notwendig ist". 4 ) Ganz anders ist die Sorge des Landmannes! „Die N a t u r handelt nicht mit ihm, u m ihn zu zwingen, sich mit dem absolut Notwendigen zu begnügen." 5 ) Was die N a t u r dem Landmann gibt, das steht als natürliches Ergebnis der Fruchtbarkeit des Bodens „in keinem Verhältnis zu seinen Bedürfnissen noch zu einer vertragsmäßigen B e w e r t u n g des Preises seiner T a g e w e r k e . . ," 6 ) Der L a n d m a n n e r h ä l t als „reines Geschenk der N a t u r " einen Überschuß, mit dem er „die Arbeit der anderen Glieder der Gesellschaft k a u f e n kann". 7 ) Die anderen Glieder der Gesellschaft gewinnen, w e n n sie ihre Arbeit an den L a n d m a n n verkaufen, „nur ihren Lebensunterhalt; aber der L a n d m a n n erwirbt außer seinem Unterhalt einen unabhängigen u n d v e r f ü g b a r e n Reichtum, den er nicht gekauft h a t u n d d e n er verkauft". 8 ) Der L a n d m a n n ist also die alleinige Quelle der Reichtümer, „die durch i h r e n ') 2 ) s ) 4 ) 5 ) ») ') 8 ) 136

Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 50. Turgot, a. a. O., S. 42. Turgot, S. 42. Ebd., S. 43. Ebd. Ebd., S. 43. Ebd. Ebd.

Kreislauf alle Arbeiten der Gesellschaft beleben, weil er der einzige ist, dessen Arbeit über den Arbeitslohn hinaus einen Ertrag liefert". 1 ) Turgot kommt so zu dem Ergebnis, daß die ganze Gesellschaft „mit einer auf die Natur der Dinge gegründeten Notwendigkeit in zwei Klassen geteilt" ist, die zwar „beide arbeiten", von der aber n u r die eine durch ihre Arbeit immer erneute Reichtümer hervorbringt oder vielmehr der Erde entzieht, die andere aber die gewonnenen Rohstoffe so zurichtet und sie formt, „daß sie f ü r den menschlichen Gebrauch geeignet werden". 2 ) Diese zweite Klasse verkauft ihre Arbeit an die erste Klasse. Sie empfängt im Austausch hierfür die Mittel zu ihrem Lebensunterhalt. „Die erste kann man produktive Klasse, die zweite besoldete Klasse nennen." 3 ) Dadurch, daß die Grundeigentümer aber ihr Land nicht selbst bebauten, teilt sich die erste Klasse in die eigentlich produktive Klasse und die Klasse der Grundeigentümer, „die einzige, die ihres Unterhaltes wegen nicht an eine bestimmte Arbeit gebunden i s t . . ,"4) Landwirt und Gewerbsmann, schreibt Turgot, haben „beide n u r das Entgelt ihrer Arbeit". 5 ) Doch sei ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Klassen, nämlich der Unterschied, daß der Landwirt der „erste Motor der ganzen gesellschaftlichen Maschine" sei „und von seiner Arbeit allein seinen Unterhalt, den Reichtum des Grundeigentümers und den Lohn aller anderen Arbeiten abhängig macht", während der Gewerbsmann n u r ein Äquivalent f ü r seine Arbeit erhielte. 6 ) Dieser Unterschied rechtfertigt die Einteilung in eine produktive u n d eine sterile Klasse, so daß Turgot zu der gleichen Klasseneinteilung wie Quesnay kommt. 7 ) Turgot ist trotzdem ein großes Stück über Quesnay hinausgegangen. Der Mehrwert entspringt nach Turgot nicht aus der Zirkulation, obwohl er hier realisiert wird. Die Produkte werden zu ihren Werten verkauft. Ein Mehrwert kann also n u r realisiert werden, wenn der Produzent etwas verkauft, was er nicht bezahlte. Dies aber konnte n u r sein das „reine Geschenk der Natur", d. h. das, was der Landwirt an Ertrag über das hinaus erhielt, was er selbst zum Leben braucht. Das Nichtgekaufte ist also nach Turgot ein „reines Geschenk der Natur". Wir haben also bei Turgot erstens die Auffassung, daß der Mehrwert Wert ist, der im Verkauf realisiert wird, ohne daß der Verkäufer ein Äquivalent d a f ü r gab, d. h., daß der Mehrwert unbezahlter Wert ist. Wir haben aber bei Turgot zweitens die Auffassung, daß dieser Mehrwert „reines Geschenk der ') ) 3 ) 4 ) 5 ) ») ') 2

Ebd. Ebd., S. 44. Ebd. Ebd., S. 48. Ebd. Ebd. Ebd., S. 50.

137

Natur" ist. Dieses Geschenk der Natur erhält auch der selbständige Landwirt, der selbst arbeitet. Auch er ist fähig, in seinem Arbeitstag mehr als zur Reproduktion seiner Arbeitskraft nötig zu produzieren. Das Gesamtprodukt wird aber hier vom unmittelbaren Produzenten selbst angeeignet, also auch dies Geschenk der Natur. Trennen sich aber die Arbeitsbedingungen von der Arbeit und wird die Erde selbst Privateigentum, so wird der unmittelbare Produzent Lohnarbeiter, und der Eigentümer eignet sich Gesamtprodukt und Mehrprodukt, das Geschenk der Natur, an. Sobald die Lohnarbeit sich herausgebildet hat, teilt sich der Ertrag des Bodens in zwei Teile, in den Teil, der gleich dem Lohn für die Arbeiten usw. ist, und den Teil, den der Grundeigentümer als Rente erhält.1) Die Rente wird von Turgot also ganz klar aufgefaßt als der Teil der Arbeit des Lohnarbeiters, den sich der Grundeigentümer ohne Äquivalente aneignet und deren Produkt er verkauft, ohne es gekauft zu haben. Turgot faßt also die Mehrarbeit als Mehrarbeit der Lohnarbeiter auf, weil er als Physiokrat von der konkreten Arbeit und nicht von der abstrakten Arbeit ausgeht, den Wert als Gebrauchswert auffaßt. Quesnay schrieb in seinen „allgemeinen Grundsätzen der wirtschaftlichen Regierung usw.", daß das Eigentum an Liegenschaften und Mobiliarvermögen denjenigen gesichert werden müsse, „welche ihre rechtmäßigen Besitzer sind; denn die Sicherheit des Eigentums ist die unerläßliche Grundlage der wirtschaftlichen Ordnung der Gesellschaft".2) Woher kommt aber dieses Eigentum? Quesnays Antwort war, daß es göttlichen Ursprungs war. Turgot übernahm die Lehre vom göttlichen Ursprung des Eigentums nicht, sondern führte es ganz nüchtern auf das Recht des ersten Besitzers, also auf die ursprüngliche Akkumulation zurück. Die Ungleichheit des Besitzers ist für Turgot die natürliche Basis der kapitalistischen Produktion, wie für Aristoteles die Ungleichheit der Menschen die natürliche Basis für die Produktion in der Sklavenhaltergesellschaft war. „Wenn der Boden derart unter alle Bewohner eines Landes verteilt wäre", schreibt er, „daß jeder genau soviel bekäme, als nötig ist, um ihn zu ernähren, und nicht mehr, so würde offenbar, da alle gleich wären, keiner für den anderen arbeiten wollen; auch würde niemand etwas haben, womit er die Arbeit eines anderen bezahlen könnte.. ,"3) Quesnay hat den Grundsatz aufgestellt, daß „die sicherste, strengste, die für die Nation und den Staat günstigste Politik des Innen- und Außenhandels . . . in der vollkommenen Freiheit der Konkurrenz" bestehe.4) Er Ebd., S. 47. A. a. O., S. 55/56. 3 ) Turgot, a. a. O., S. 38. 4 ) Quesnay, a. a. O., S. 62. 2)

138

ließ jedoch als Ausnahme die Festsetzung des Zinsfußes durch den Staat zu. Auch in diesem Punkt ging Turgot über Quesnay hinaus. Turgot befürwortete eine freie Bildung des Zinsfußes mit der Begründung, daß dieser nur die Grundrente, die den eigentlichen und einzigen Uberschuß der Produktion darstelle, widerspiegele. Statt sein Geld gegen Zinsen auszuleihen, könne ein Kapitalist es auch im Grundbesitz anlegen und sich so eine Rente sichern. Was er tue, hänge davon ab, was den größten Vorteil biete. Böhm-Bawerk hat seine Zinstheorie — völlig zu Unrecht — als „Funktifikationstheorie" bezeichnet. Die Zinstheorie von Turgot ist historisch genauso berechtigt wie seine Mehrwerttheorie. Der Zins muß durch die Höhe der Rente reguliert sein, weil der Kapitalist Land kaufen wird, wenn die Rente höher ist als der Zins, und umgekehrt. Außer den bereits genannten Physiokraten ist vor allem Mirabeau der Ältere (1715—1789) zu nennen. Mirabeau wird von Lexis „als der zuerst bekehrte und begeisterte Jünger Quesnays" bezeichnet. Er schrieb ursprünglich unter dem Titel „L'Ami des Hommes" einen Kommentar zu dem Werk Cantillons (1755) und wurde im Jahre 1757 Anhänger Quesnays. Ein weiterer Vertreter des Physiokratismus war Mercier de la Rivière (1720—1793), Parlamentsrat und bis 1764 Intendant von Martinique. Er erhoffte vom Physiokratismus Harmonie im Inneren und Äußeren. Das Geld sei n u r vorübergehende Daseinsform der Ware. „Man tauscht nicht Geld gegen Geld aus." Da die Waren sich gemäß ihren Werten austauschen, kann der Profit nicht aus der Zirkulation entspringen. Nur die Natur könne ein Mehrprodukt hervorbringen. Auch Guillaume François Le Trosne (1728—1780), Pierre Samuel Dupont de Nemours (1739—1817), Gabriel Bourot de Markly (1709—1785) und Etienne Bonnot de Condillas (1715—1780) vertraten physiokratische Gedankengänge. In Deutschland ließen die ökonomischen Verhältnisse die Ausbildung physiokratischer Lehren nicht zu. Nur Johann August Schlettwein (1731—1802) und Jakob Marwillon (1743—1794) vertraten physiokratische Ideen, ohne jedoch die ökonomischen Auffassungen ihrer Zeit, die von den Kameralisten formuliert wurden, zum Ausdruck zu bringen.

5. Kritik

des

Physiokratismus

Die bürgerlichen Historiker der Ökonomie sind nicht mehr in der Lage, eine wissenschaftliche Geschichte der Ökonomie zu schreiben, weil die bürgerliche Ökonomie längst ihren wissenschaftlichen Charakter verloren hat. Sie suchen statt dessen psychologische Ursachen dafür, daß eine Theorie vergessen oder nicht vergessen wurde — wie Hayek f ü r Cantillon —, oder sie suchen — wie Lexis f ü r Quesnay — nachzuweisen, daß ein Autor selbständig war oder nicht selbständig war. So schreibt Lexis, im J a h r e 1910 im „Handwörterbuch 139

der Staatswissenschaften" im Artikel über das „Physiokratische System", 1 ) nicht in der Lage, die Bedeutung des Quesnayschen Fortschrittes in der politischen Ökonomie zu erfassen, das System Quesnays mache „auf den u n befangenen Beurteiler den Eindruck subjektiver Einseitigkeit". Lexis h a t keinen Begriff davon, daß hier zum ersten Male — w e n n auch noch in abstrakter F o r m — die objektive Gesetzlichkeit des wirtschaftlichen Kreislaufes erfaßt u n d dargestellt wurde. Es bleibe, schreibt er statt dessen, „gleichwohl — f ü r Quesnay kein geringes Verdienst, daß er von der Betrachtung der einzelnen landwirtschaftlichen U n t e r n e h m u n g ausgehend, sich zu einem Überblick der gesamten Volkswirtschaft gleichsam aus der Vogelschau erhoben". 2 ) Man k a n n n u r hinzufügen: die ersten systematischen Dolmetscher des Kapitals aus d e r F r o s c h p e r s p e k t i v e der modernen bürgerlichen Ökonomie gesehen! In der Tat: der Abstand zwischen den Physiokraten und den Klassikern der bürgerlichen. Ökonomie und der modernen bürgerlichen Ökonomie ist ein gewaltiger. — Wir werden u n s damit noch zu beschäftigen haben! Als „formale Leistung" bezeichnet Lexis das Kreislauf Schema Quesnays. „Der sachliche Inhalt seiner Gedanken u n d Vorschläge ,sei' m e h r oder weniger von den Vorgängern u n d Zeitgenossen beeinflußt." 8 ) Dieselben Sorgen quälen Hayek wegen Cantillon. „Ob m a n . . . Cantillon . . . als den Begründer der wissenschaftlichen Nationalökonomie bezeichnen will oder nicht, ist von geringer Bedeutung", meint er. „Wo m a n den Beginn einer Wissenschaft ansetzt, ist immer im weiten Maß eine Sache d e r Willkür." 4 ) Wir w e r d e n sehen, daß das Ansetzen des Endes einer Wissenschaft jedenfalls auf G r u n d der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit sehr genau u n d ohne jede Willkür angegeben werden k a n n ! Marx hat u n s eine gründliche Einschätzung der Physiokraten hinterlassen. Das Richtige an der Lehre der Physiokraten sei die Feststellung, schreibt Marx, „daß in der T a t alle Produktion von Mehrwert, also auch alle E n t wicklung des Kapitals, der natürlichen Grundlage nach, auf der Produktivität der agrikolen Arbeit beruht. Wenn die Menschen ü b e r h a u p t nicht fähig, in einem Arbeitstag m e h r Lebensmittel, also im engsten Sinn m e h r Ackerbauprodukte, zu erzeugen, als jeder Arbeiter zu seiner eignen Reproduktion b e darf, w e n n die tägliche Verausgabung seiner ganzen A r b e i t s k r a f t n u r dazu hinreicht, die zu seinem individuellen Bedarf unentbehrlichen Lebensmittel herzustellen, so könnte ü b e r h a u p t weder von Mehrprodukt noch von M e h r w e r t die Rede sein. Eine über das individuelle Bedürfnis des Arbeiters h i n a u s gehende Produktivität der agrikolen Arbeit ist die Basis aller Gesellschaft u n d ist vor allem die Basis der kapitalistischen Produktion, die einen i m m e r >) Ebd., 3. Auflage, Bd. VI, S. 1039.

2

)

3

) Ebd., Bd. VI, S. 1039. 4 ) Hayek, a. a. O., S. XXXV.

140

wachsenden Teil der Gesellschaft von der Produktion der unmittelbaren Lebensmittel loslöst und sie — zur Exploitation in andren Sphären disponibel macht."1) Obgleich die Physiokraten das Geheimnis des Mehrwertes nicht durchschauten, war ihnen doch so viel klar, daß er „ein unabhängiger und verfügbarer Reichtum ist, den er (der Besitzer davon) nicht gekauft hat und den er verkauft".2) Quesnay stellte bereits den Widerspruch fest, der sich daraus ergibt, daß der Kapitalist, dem es nur um die Wertproduktion zu tun ist, nicht um die bessere und billigere Versorgung der Bevölkerung mit Waren, den Wert der Waren beständig zu senken strebt. Quesnay, „einer der Gründer der politischen Ökonomie", quälte mit diesem Widerspruch seine Gegner.3) „Ihr gebt zu", schreibt Quesnay, „daß, je mehr man, ohne Nachteil für die Produktion, Kosten oder kostspielige Arbeiten in der Fabrikation industrieller Produkte ersparen kann, desto vorteilhafter diese Ersparung, weil sie den Preis des Machwerks vermindert. Und trotzdem glaubt ihr, daß die Produktion des Reichtums, der aus den Arbeiten der Industriellen herkommt, in der Vermehrung des Tauschwerts ihres Machwerks besteht."4) In der Tat: wie kann sich der Reichtum vermehren, wenn bei Steigen der Produktivkraft der Arbeit der Wert der Ware sinkt? Die Frage war gestellt — auch die Gegner der Physiokraten blieben die Antwort schuldig. Sie wurde erst von Marx gegeben! Die Physiokraten, „als in der Tat die ersten systematischen Dolmetscher des Kapitals", schreibt Marx daher, „suchen... die Natur des Mehrwerts überhaupt zu analysieren".5) Diese Analyse falle für sie mit der Analyse der einzigen Form zusammen, worin der Mehrwert für sie existiere, mit der Analyse der Rente. „Das Rente tragende oder agrikole Kapital ist für sie daher das einzige Mehrwert erzeugende Kapital, und die von ihm in Bewegung gesetzte agrikole Arbeit die allein Mehrwert setzende, also vom kapitalistischen Standpunkt aus ganz richtig die einzige produktive Arbeit." 6 ) Für die Physiokraten gelte die Erzeugung des Mehrwerts ganz richtig als das Bestimmende. Die Physiokraten haben vor allem das große Verdienst, stellt Marx weiter fest, von dem nur in der Zirkulationssphäre fungierenden Handelskapital zum produktiven Kapital übergegangen zu sein. „Im Gegensatz zum Mer1) 2) 3) 4) 5) 6)

Kapital III, S. 835/36. Turgot, zitiert bei Marx, Kapital I, S. 559, Fußnote 20. Marx, Kapital I, S. 335. Quesnay, zitiert bei Marx, a. a. O., S. 335/36. Kapital III, S. 834. Ebd., S. 834.

141

kantilsystem, das in seinem groben Realismus die eigentliche Vulgärökonomie jener Zeit bildet, von deren praktischen Interessen die Anfänge wissenschaftlicher Analyse durch Petty u n d seine Nachfolger ganz in den H i n t e r g r u n d gedrängt waren." 1 ) Ohne sich schon über die N a t u r des Wertes selbst klar zu sein, f a ß t e n d i e Physiokraten den Wert der Arbeitskraft — „soweit es zu ihren U n t e r suchungen nötig war" 2 ) — als eine bestimmte Größe auf, d. h. als eine gegebene Größe, die sich in den Preisen der notwendigen Lebensmittel, „in einer S u m m e bestimmter Gebrauchswerte darstellt". 8 ) Diese Bestimmung des Arbeitslohnes durch die Physiokraten w a r zwar insofern abstrakt, als „sie den Arbeitslohn als eine unveränderliche G r ö ß e auffaßten, die bei ihnen ganz von der N a t u r bestimmt ist, nicht von d e r historischen Entwicklungsstufe, die selbst eine Bewegung u n t e r w o r f e n e Größe i s t . . ."4) Aber die Physiokraten hatten d a m i t den P u n k t erreicht, von dem aus eine — w e n n auch zunächst n u r relative Lösung des Grundproblems der politischen Ökonomie des Kapitalismus möglich war. „Das Minimum des Arbeitslohnes bildet daher richtig die Achse der p h y s i o kratischen Lehre." 5 ) Die Physiokraten stellten daher „ganz richtig . . . den Fundamentalsatz auf, daß n u r jene Arbeit produktiv ist, die einen Mehrwert s c h a f f t . . ,"6) Da sie aber den Wert noch nicht auf seine Substanz reduzierten, das eigentliche Wesen des Wertes noch nicht begriffen, der Wert „bei ihnen nicht eine b e stimmte gesellschaftliche Daseinsweise menschlicher Tätigkeit (Arbeit) ist, sondern aus Stoff besteht, aus Erde, N a t u r und den verschiedenen M o difikationen dieses Stoffes", so m u ß t e den Physiokraten notwendig der M e h r w e r t als stofflicher Überschuß der Arbeit erscheinen. Und ein solcher stofflicher Überschuß erscheint handgreiflich in der A g r a r produktion. Die S u m m e der Lebensmittel, die der Arbeiter hier jahraus, j a h r ein verzehrt, oder die Masse Stoff, die er konsumiert, ist geringer als d i e S u m m e der Lebensmittel, die er produziert. „In der Industrie sieht m a n ü b e r h a u p t den Arbeiter nicht direkt wieder seine Lebensmittel, nicht den Ü b e r schuß über seine Lebensmittel p r o d u z i e r e n . . . In der Agrikultur zeigt er sich unmittelbar im Überschuß der produzierten Gebrauchswerte über die vom Arbeiter konsumierten Gebrauchswerte, k a n n also ohne Analyse des Wertes überhaupt, ohne klares Verständnis des Wertes begriffen werden." 7 ) Da die Physiokraten den Wert auf den Gebrauchswert reduzieren, m u ß t e ihnen der M e h r w e r t als Gebrauchswertüberschuß erscheinen. „Die A g r i k u l t u r ») ) 3 ) 4 ) 6 ) «) 7 ) 2

142

Ebd. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 35. Ebd. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd. Marx, a. a. O., S. 36/37.

arbeit ist den Physiokraten daher die einzige produktive Arbeit, weil die einzige Arbeit, die einen Mehrwert schafft, u n d die G r u n d r e n t e ist die einzige Form des Mehrwerts, die sie kennen." 1 ) Da der Arbeiter in der Industrie den Stoff nicht v e r m e h r t , sondern n u r seine Form verändert, ist er unproduktiv. Er setzt dem von der A g r i k u l t u r gegebenen Stoff zwar Wert zu, aber „nicht durch seine Arbeit, sondern durch die Produktionskosten seiner Arbeit; durch die S u m m e der Lebensmittel, die er w ä h r e n d seiner Arbeit verzehrt gleich dem Arbeitslohn, den er von d e r Agrikultur erhält". 2 ) Die G r u n d r e n t e ist also die eigentliche F o r m des Mehrwerts, u n d der Profit erscheint ihnen daher n u r als eine — wie der Arbeitslohn der Arbeiter als Kosten in die Produktion eingeht — höhere A r t Arbeitslohn, der von d e n Grundeigentümern gezahlt und von den Kapitalisten verzehrt wird. Der Zins f ü r Leihkapital wird entweder ganz abgelehnt oder — wie bei Turgot — als Abteilung des Mehrwerts erklärt. Die Physiokraten vermögen nicht einzusehen — u n d hierin h a b e n sie recht —, wie aus der Addition von Werten neuer Wert, m e h r Wert entstehen kann. „Dies ist der Fundamentalsatz, worauf die Lehre der Physiokraten v o n der Unproduktivität aller nicht agrikolen Arbeit beruht", schreibt Marx. Als Beleg h i e r f ü r zitiert er Mercier de la Rivière: „Diese Art, einer einzigen Sache den Wert mehrerer anderer zuzurechnen, z. B. der Leinwand den Lebensunterhalt des Leinwebers, also sozusagen verschiedene Werte schichtweise auf einen einzigen aufzuhäufen, bewirkt, daß dieser im gleichen U m f a n g a n wächst . . . Der Ausdruck Addition bezeichnet sehr gut die Art, in der der Preis der Arbeitsprodukte gebildet wird; dieser Preis ist n u r die G e s a m t s u m m e m e h r e r e r verbrauchter u n d zusammengezählter Werte; addieren jedoch bedeutet nicht multiplizieren." 3 ) So war also diese erste wissenschaftliche Einsicht in das Wesen des M e h r werts n u r eine relative Wahrheit. Die Physiokraten h a t t e n n u r eine — w e n n auch wesentliche — Seite des Problems gelöst. Ihre abstrakte, weil einseitige Theorie, mit der Unentwickeltheit der damaligen Produktionsverhältnisse zusammen, entspringt „der bürgerlichen Gesellschaft in der Epoche, worin sie aus dem Feudalismus herausbricht". Marx f ü h r t einige weitere Motive d a f ü r an, daß die Physiokraten notwendig die G r u n d r e n t e als die F o r m des M e h r werts ansehen mußten. Als erstes Motiv f ü h r t Marx an, daß die G r u n d r e n t e „der M e h r w e r t e ü b e r den Mehrwert (Profit) hinaus" war, „also die handgreiflichste u n d a u f fallendste Form des Mehrwerts, den Mehrwert in zweiter Potenz". 4 ) 1

) ) 3 ) 4 ) 2

Ebd., S. 37. Ebd. Marx, Kapital I, S. 199, Fußnote 13. Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 38. 143

Das zweite Motiv ist nach Marx die Tatsache, daß — wenn man vom Außenhandel abstrahiert — die Masse der nicht landwirtschaftlich beschäftigten Arbeiter „bestimmt ist durch die Masse der Agrikulturprodukte, die die Ackerbauarbeiter über ihren eigenen Konsum hinaus produzieren". 1 ) Solange die konkrete Arbeit — wie bei den Physiokraten — und nicht die abstrakte Arbeit als Wertsubstanz aufgefaßt wurde, mußte also notwendig die Agrikulturarbeit als „Naturbasis nicht nur f ü r die Mehrarbeit in ihrer eigenen Sphäre, sondern f ü r die Verselbständigung aller anderen Arbeitszweige" gelten. 2 ) Hinzu kommt nach Marx drittens, daß der Mehrwert — der absolute und der relative — auf einer gewissen Mindesthöhe der Arbeitsproduktivität beruht. Die Produktivkraft der Arbeit muß mindestens so hoch entwickelt sein, daß der unmittelbare Produzent mehr produziert, als er konsumieren muß, um sich zu erhalten. „Die Möglichkeit der Mehrarbeit und des Mehrwerts geht daher von einer gegebenen Produktivkraft der Arbeit aus, einer Produktivkraft, die die Arbeitskraft befähigt, mehr als ihren eigenen Wert wiederzuerzeugen, über die durch ihren Lebensprozeß gebotene Bedürftigkeit hinaus zu produzieren." 3 ) Diese Produktivkraft der Arbeit, die überhaupt erst einen Mehrwert ermöglicht, mußte den Physiokraten aber notwendig „als Naturgabe, Produktivkraft der Natur" erscheinen. 4 ) Und schließlich als viertes Motiv vermerkt Marx die Tatsache, daß die Physiokraten, da sie den Mehrwert nicht mehr aus der Zirkulation, wie die Merkantilisten, sondern aus der Produktion ableiten, sie notwendig mit der Analyse des Produktionszweiges beginnen mußten, „der überhaupt abgesondert, unabhängig von der Zirkulation, von dem Austausch gedacht werden kann und nicht den Austausch zwischen Mensch und Mensch, sondern nur zwischen Mensch' und Natur voraussetzt". 5 ) Worin bestehen also zusammenfassend die theoretischen Leistungen der Physiokraten? Inwiefern haben sie die Ökonomie zu einer wissenschaftlichen Ökonomie gemacht? Ihre erste Leistung besteht darin, daß die Physiokraten die „verschiedenen gegenständlichen. Bestandteile, in denen das Kapital während des Arbeitsprozesses existiert und sich auseinanderlegt", analysieren. 6 ) Die gegenständlichsten Bestandteile, das fixe und das zirkulierende Kapital, die Produktionsinstrumente, die Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe und die Lebensmittel f ü r die Erhaltung der Arbeitskräfte, erfaßten sie aber als Element des Arbeits2

) 3 ) 4 ) 5 ) 6 )

144

Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd. Ebd. Ebd., S. 33.

Prozesses überhaupt, d. h. „getrennt von den gesellschaftlichen Bedingungen, worin sie in der kapitalistischen Produktion erscheinen". 1 ) Was heißt das? Das heißt, daß die Physiokraten die Elemente des Arbeitsprozesses, Arbeitsgegenstand, Arbeitsmittel u n d die lebendige Arbeit, selbst unabhängig a u f f a ß t e n von ihrer gesellschaftlichen F o r m als Kapital u n d „damit die k a p i t a listische Form d e r Produktion zu einer ewigen N a t u r f o r m derselben machten." 2 ) „Die Analyse des Kapitals, innerhalb des bürgerlichen Horizonts, gehört wesentlich den Physiokraten", schreibt Marx. Es sei dies Verdienst, f ü g t er hinzu, „das sie zu den eigentlichen Vätern der modernen Ökonomie macht". 8 ) F ü r die Physiokraten erscheinen die bürgerlichen Produktionsverhältnisse als natürliche Verhältnisse. „Es war ihr großes Verdienst", schrieb Marx, „daß sie diese Formen als physiologische F o r m e n der Gesellschaft a u f f a ß t e n : als aus der Naturnotwendigkeit der Produktion selbst hervorgehende Formen, die von Willen, Politik usw. unabhängig sind." Der Fehler der Physiokraten bestand also darin, daß sie „das materielle Gesetz einer bestimmten historischen Gesellschaftsstufe als abstraktes, alle Gesellschaftsformen gleichmäßig beherrschendes Gesetz auffaßten". 4 ) Diesen Fehler haben die Physiokraten aber gemein mit allen bürgerlichen Ökonomen, insbesondere auch mit den Klassikern der bürgerlichen Ökonomie — ganz zu schweigen von der modernen Apologetik, deren einzige Aufgabe ja darin besteht, die kapitalistische als ewige Produktionsweise zu erklären. Die zweite Leistung der Physiokraten bestand darin, daß sie die F o r m e n bestimmten, die das Kapital des Arbeitsprozesses annimmt. Sie unterschieden das fixe und zirkulierende Kapital unter den Bezeichnungen „ursprüngliche" und „jährliche" Vorschüsse u n d analysierten den Z u s a m m e n h a n g zwischen Produktions- und Zirkulationsprozeß des Kapitals. M a r x bemerkt, d a ß A. Smith in diesen „beiden H a u p t p u n k t e n . . . Hinterlassenschaft der Physiokraten a n g e t r e t e n " habe. 5 )

die

Das Hauptverdienst der Physiokraten, ihre größte wissenschaftliche Leistung u n d der Beitrag zur Entwicklung der politischen Ökonomie, der diese erst wirklich zu einer Wissenschaft gemacht hat, ist aber die Tatsache, daß sie die Grundlage zur Analyse der kapitalistischen Produktion legten, indem sie „die Untersuchung ü b e r den U r s p r u n g des M e h r w e r t s aus der S p h ä r e der Zirkulation in die S p h ä r e der unmittelbaren Produktion selbst verlegten . . ,"a) 2

) 3 ) 4 ) 5 ) 6 )

Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,

10 Behrens

S. 34. S. 33. S. 34. S. 35.

145

C. Die politische Ökonomie als bürgerliche Wissenschaft — die klassische bürgerliche Ökonomie „Die klassische politische Ökonomie entstand vor Marx in England, dem entwickeltsten kapitalistischen Land", schreibt Lenin. „Adam Smith und David Ricardo, die die ökonomische Struktur untersuchten, legten den Grundstein der Arbeitswerttheorie. Marx setzte ihr Werk fort. Er begründete diese Theorie exakt und entwickelte sie folgerichtig." 1 ) Die Lehre von Marx, als die „rechtmäßige Erbin des Besten", was die Menschheit im 19. Jahrhundert geschaffen hat, darunter der englischen politischen Ökonomie, ist somit die Vollendung und Weiterentwicklung der bürgerlichen Ökonomie als wissenschaftliche Ökonomie. Das bedeutet für uns, daß wir zwei Fragen behandeln müssen: Erstens: Was erreichte die politische Ökonomie als bürgerliche Wissenschaft? Zweitens: Woran scheiterte die politische Ökonomie als bürgerliche Wissenschaft? Wir müssen aufzeigen, wie die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie die Probleme der kapitalistischen Produktionsweise lösten und worin die Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit infolge ihrer Klassenstandpunkte zum Ausdruck kommen. Die Entwicklung der politischen Ökonomie ist wie die Entwicklung jeder Wissenschaft ein Prozeß der immer besseren Erkenntnis der objektiven Gesetze der Wirklichkeit, in diesem Fall der objektiven ökonomischen Gesetze. Doch ist das gemeinsame Merkmal aller bürgerlichen Ökonomen ihre Verabsolutierung der bürgerlichen Form der Produktion. Ihre Grundkonzeption ist daher immer eine apologetische, weil sie die bürgerliche Produktionsweise als „natürlich" und „ewig" ansehen. Diese — apologetische — Grundkonzeption hinderte auch die besten Vertreter der bürgerlichen Ökonomie noch hinter den wahren Sachverhalt zu kommen, das Wesen hinter der Erscheinung zu erkennen. „Um es ein für allemal zu bemerken", schreibt Marx im „Kapital" Bd. I in einer Fußnote, in der er eine konzentrierte Kritik der bürgerlichen klassischen Ökonomie gibt, „verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhanges herumtreibt, für eine plausible Verständlichmachung der sozusagen gröbsten Phänomene und den bürgerlichen Hausbedarf das von der wissenschaftlichen Ökonomie längst gelieferte Material stets von neuem wiederkaut, im übrigen aber sich darauf beschränkt, die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eignen besten ') Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, in Marx-Engels-Marxismus, S. 50/51 (Dietz Verlag, 1946). 146

Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren." 1 ) Marx setzt also die klassische bürgerliche Ökonomie nicht n u r im Gegensatz zur Vulgärökonomie — die klassische bürgerliche Ökonomie ist wissenschaftliche Ökonomie, trotz ihrer immer vorhapdenen apologetischen Grundkonzeption, die Vulgärökonomie ist unwissenschaftliche, nicht wissenschaftliche Ökonomie —, er betont auch den Prozeß der Annäherung an die objektive Wahrheit. Die klassische bürgerliche Ökonomie wurde erst zur wissenschaftlichen Ökonomie, ihre Vorläufer waren daher vorwissenschaftliche, aber keine vulgären Ökonomen. „Die klassische politische Ökonomie stößt annähernd auf den wahren Sachverhalt, ohne ihn jedoch bewußt zu formulieren", schreibt Marx ein andermal am gleichen Orte. „Sie kann das nicht, solange sie in ihrer bürgerlichen Haut steckt." 2 ) Wir werden sehen, wie bei Smith und Ricardo aus ihrer Klassenlage heraus sich Mängel der wissenschaftlichen Methode ergeben, die ihr System sprengen. Sie suchen nach der Form f ü r den richtigen Inhalt, ohne in der Lage zu sein, Form und Inhalt in Übereinstimmung zu bringen. Sie verfälschen den Inhalt trotz der richtigen Form, weil ihre apologetische Grundkonzeption mit der Methode jeder wissenschaftlichen Arbeit in unversöhnlichen Widerspruch gerät.

1, Die gesellschaftlichen

Bedingungen

der klassischen bürgerlichen

Ökonomie

Die Grundlage der klassischen bürgerlichen Ökonomie war die „industrielle Revolution", die in den meisten europäischen Ländern in dem J a h r h u n d e r t von 1750 bis 1850 als Übergang vom Manufaktur- zum Fabriksystem stattfand. Die „industrielle Revolution" bedeutete den Übergang von der erst n u r formellen Unterordnung der Arbeiter unter die Kapitalisten zu ihrer materiellen Unterordnung, den Beginn der eigentlichen Revolutionierung der Produktionsweise. Sie bedeutete den endgültigen Sieg des industriellen Kapitals über das Handelskapital. Die kapitalistische Produktion begann mit der einfachen Kooperation von Lohnarbeitern unter dem Kommando von Kapitalisten. Die einfache kapitalistische Kooperation leitete durch die Schaffung einer höheren Arbeitsproduktivität die Epoche des industriellen Kapitalismus aber erst ein. Die Kapitalisten stellten auf Grund ihrer Erfahrungen fest, daß sie einen höheren Profit erzielen konnten, wenn zur einfachen Kooperation der Lohnarbeiter die innerbetriebliche Arbeitsteilung hinzutrat. Aus der einfachen Kooperation entwickelte sich daher die auf der Arbeitsteilung beruhende Kooperation, die Manufaktur. Auch in der Manufaktur wurde zwar noch vorwiegend mit der Hand produziert, sie ist aber bereits ein großer, f ü r einen unbekannten Markt produzierender industrieller Betrieb. Sie ist *) A. a. O., S. 87, Fußnote 32. 2 ) Ebd., S. 568. 10*

147

eine Stufe der Industrieproduktion, die der großen maschinellen Industrie bereits unmittelbar vorangeht. Die Entstehung der Manufakturbetriebe war im Vergleich zu der einfachen Kooperation ein gewaltiger Fortschritt. Damit begann die Umwälzung der Produktionsweise durch den Kapitalismus. Diese Umwälzung der Produktionsweise nahm, wie Marx feststellte, in der Manufaktur die Arbeitskraft zum Ausgangspunkt, im Gegensatz zur großen Industrie, wo der Ausgangspunkt der Umwälzung der Produktionsweise das Arbeitsmittel ist.1) Die Manufaktur vertiefte vor allem die Arbeitsteilung und erweiterte sie. Sie f ü h r t e zu der Entstehung der innerbetrieblichen oder manufakturmäßigen Teilung der Arbeit, wie Marx sie nennt. Adam Smith geht besonders von der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit aus, wenn er die Überlegenheit der kapitalistischen Produktion über den Feudalismus hervorhebt. England war das ökonomisch fortgeschrittenste Land. Infolgedessen konnte auch hier die fortgeschrittenste Theorie der bürgerlichen Produktionsweise e n t s t e h e n . . . zugleich aber die Theorie, die als bürgerliche Theorie ihren höchsten Stand erreicht hatte. „Die Klassiker wie Adam Smith und Ricardo", schreibt Marx in seiner Frühschrift „Das Elend der Philosophie", „vertreten eine Bourgeoisie, die, noch im Kampf mit den Resten der feudalen Gesellschaft, nur daran arbeitet, die ökonomischen Verhältnisse von den feudalen Flecken zu reinigen, die Produktivkräfte zu vermehren und der Industrie und dem Handel neue Triebkraft zu geben. Das an diesem Kampf teilnehmende Proletariat kennt, von dieser fieberhaften Arbeit absorbiert, nur vorübergehende, zufällige Leiden, betrachtet sie selbst als solche. Die Ökonomen wie Adam Smith und Ricardo, welche die Historiker dieser Epoche sind, haben lediglich die Mission, nachzuweisen, wie der Reichtum unter den Verhältnissen der bürgerlichen Produktion erworben wird; diese Verhältnisse in Kategorien und Gesetzen zu formulieren und nachzuweisen, um wieviel diese Gesetze, die Kategorien f ü r die Produktion der Reichtümer überlegen sind den Gesetzen und Kategorien der feudalen Gesellschaft. Das Elend ist in ihren Augen n u r der Schmerz, der jede Geburt begleitet, in der Natur wie in der Industrie." 2 ) Die industrielle Revolution bedeutete einen Sprung in der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, und diesem Sprung entsprach die Entwicklung in der politischen Ökonomie vom Merkantilismus und den Physiokraten zu den Klassikern der bürgerlichen Ökonomie, zu Smith und Ricardo. Jetzt regierte der „stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse", die kapitalistische Produktionsweise reproduzierte sich erweitert, und die bürgerliche Ökonomie spiegelte, im ganzen gesehen, durchaus ihre objektiven Gesetze wider. ») Marx, Kapital, Bd. I, S. 388. 2 ) Marx, Das Elend der Philosophie, Berlin 1952, S. 144.

148

Die industrielle Revolution brachte aber auch große V e r ä n d e r u n g e n in den Lebensverhältnissen der englischen Bevölkerung — die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie spiegeln auch diese wider. Sie sprechen aus, daß es die historische Aufgabe des Kapitalismus ist, die gesellschaftlichen P r o d u k t i v k r ä f t e zu entwickeln — sie verschließen aber auch die Augen nicht vor der Kehrseite dieser Entwicklung. Sie konnten trotz ihres bürgerlichen Klassenstandpunktes noch beides tun, weil die Klassenkämpfe zu ihrer Zeit die Existenz der bürgerlichen Produktionsweise noch nicht direkt bedrohten. Der Kapitalismus w a r in dieser Entwicklungsepoche historisch gesehen eine progressive K r a f t in der Geschichte der menschlichen Entwicklung. Die Bourgeoisie k ä m p f t e noch f ü r die Durchsetzung des ökonomischen Gesetzes von der unbedingten Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte. Die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie w a r e n die Ideologen dieses Kapitalismus. Aber mit der gewaltigen Entwicklung der gesellschaftlichen P r o d u k t i v k r ä f t e brachte der Kapitalismus zugleich eine Verschlechterung der Lage der unmittelbaren Produzenten in Stadt u n d Land. Und hieran u n d an den hiermit verbundenen Klassenkämpfen scheiterten die bürgerlichen Nachfolger von Smith und Ricardo.

2. Adam

Smith

(1723—1790)

a) Allgemeines A d a m Smith w u r d e a m 5. J u n i 1723 in Schottland geboren. Er lehrte 1748 bis 1751 in Edinburgh Rhetorik, Ästhetik u n d Literaturgeschichte. I m J a h r e 1751 w u r d e er nach Glasgow an die dortige Universität berufen, w o er Logik u n d Moralphilosophie lehrte. Hier veröffentlichte er 1759 ein W e r k ü b e r die „Theorie der moralischen Gefühle". Im J a h r e 1764 u n t e r n a h m Smith eine Reise nach Frankreich und Italien und t r a t in Paris in enge Beziehungen zu den Physiokraten. Nach seiner Rückkehr zog er sich zurück u n d veröffentlichte 1776 sein H a u p t w e r k : „Untersuchungen über die N a t u r u n d die U r sache des Reichtums der Nationen" (Wealth of nations). Im J a h r e 1778 w u r d e Smith zum Mitglied der aus drei Beamten bestehenden obersten Zollbehörde von Schottland in Edinburgh e r n a n n t u n d s t a r b hier im J a h r e 1790. 1787 w a r er als Rektor der Universität Glasgow gewählt worden. Bei Smith w a r — wie bei allen großen Ökonomen des B ü r g e r t u m s — die Verbindung zwischen Ökonomie u n d Philosophie noch s e h r stark. Georg Lukacz macht in seinem Buch über den „jungen Hegel" 1 ) auf die enge V e r k n ü p f u n g — nicht n u r zwischen Ökonomie und Philosophie, sondern auch Zürich-Wien 1948.

149

zwischen Ökonomie und Geschichte — bei den großen bürgerlichen Ökonomen a u f m e r k s a m und f ü g t richtig hinzu, daß „die Isolierung der Ökonomie von den anderen Gebieten der Gesellschaftswissenschaft... eine Spezialität der E n t wicklung der niedergehenden Periode des Bürgertums" sei.1) „Die bedeutendsten Denker des 17. u n d 18. J a h r h u n d e r t s haben in ihren Werken alle Gebiete der Gesellschaftswissenschaft umfaßt, u n d auch die Werke der bedeutenden Ökonomen, wie Petty, Steuart, Smith usw., gehen immer wieder in den Darstellungen der Zusammenhänge weit über die Grenze des ökonomischen im engeren Sinne hinaus." 2 ) Das ist zweifellos eine wichtige Tatsache, u n d es ist selbstverständlich, daß m a n die Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie nicht von der Entwicklung der anderen Zweige der Wissenschaft t r e n n e n kann. In der T r e n n u n g der Ökonomie von der Philosophie und Geschichte kommt der Verlust der wissenschaftlichen Substanz der bürgerlichen Ökonomie, ihr Erstarren in Individualismus und Formalismus zum Ausdruck! Aber nicht die enge Verbindung zwischen Ökonomie und Philosophie ü b e r h a u p t bei A d a m Smith ist das, was wir beachten müssen, sondern die enge Verbindung von Ökonomie mit einer bestimmten Philosophie, nämlich mit dem subjektiven Idealismus von Hutcheson und Hume. In d e r „Einleitung" habe ich auf die enge Verbindung der Gesellschaftswissenschaften mit dem ideologischen Uberbau hingewiesen. Bei A d a m Smith sehen wir jetzt eine solche enge Verbindung zwischen subjektivem Idealismus und wissenschaftlicher Ökonomie, d. h. eine Verbindung zwischen zwei unversöhnlich sich gegenüberstehenden Elementen: Ideologie und Wissenschaft! Während Ideologie — wie Engels einmal sagte —• die „Beschäftigung mit Gedanken als mit selbständigen, sich unabhängig entwickelnden, n u r ihren eigenen Gesetzen u n t e r w o r f e n e n Wesenheiten" darstellt, 3 ) bedeutet Wissenschaft d a s Ausgehen von den m a teriellen Lebensbedingungen der Menschen. Die enge Verbindung der politischen Ökonomie mit dem subjektiven Idealismus bei Adam Smith ist U r sache und Folge seines bürgerlichen Klassenstandpunktes zugleich. Engels wies ebenfalls darauf hin, daß die „neuerwachte Philosophie" — wie die ganze Renaissancezeit — „seit Mitte des 15. J a h r h u n d e r t s ein wesentliches P r o d u k t der Städte, also des Bürgertums war". 4 ) Ihr Inhalt sei „wesentlich n u r der philosophische Ausdruck der der Entwicklung des Klein- u n d Mittelb ü r g e r t u m s zur großen Bourgeoisie entsprechenden Gedanken. Bei den Engländern u n d Franzosen des vorigen J a h r h u n d e r t s , die vielfach ebensowohl politische Ökonomen wie Philosophen waren, tritt dies klar hervor." 5 ) Die Philosophen glaubten, von der K r a f t des „reinen Gedankens" vorangetrieben zu werden. „Was sie in Wahrheit vorantrieb, das war namentlich der ge-

2

) 3 ) 4 ) 5 ) 150

A. a. O., S. 417. Ebd., S. 408. Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophie, a. a. O., S. 371. Ebd., S. 370. Ebd.

waltige und immer aktuelle vorwärtsstürmende Fortschritt der Naturwissenschaft und der Industrie."1) Ihre Entwicklung wurde von der bürgerlichen Ökonomie verkehrt — idealistisch und metaphysisch widergespiegelt. Die politische Ökonomie dagegen war die richtige Widerspiegelung der objektiven Entwicklung, richtig allerdings nur innerhalb beschränkter Grenzen, d. h. richtig nur insofern, als die idealistische und metaphysische Grundkonzeption der bürgerlichen Ökonomie, die sich aus ihrem bürgerlichen Klassenstandpunkt ergab, diese Widerspiegelung nicht verfälschte und verzerrte. Der enge Zusammenhang zwischen Philosophie und politischer Ökonomie bei Adam Smith ist also nur ein Ausdruck für die apologetische Grundkonzeption, die auch bei ihm vorliegt, aber ihm nicht bewußt ist, sondern philosophisch verbrämt wird. Die Zerstörung bzw. Zerreißung dieser engen Verbindung bedeutet demnach in der Regel den Übergang von der unbewußten, philosophisch verbrämten zur bewußten Apologetik. Smith war Schüler von Hutcheson und Freund von David Hume. Sein Aufenthalt in Paris „brachte ihn in nahe Berührung mit Quesnay und gab ihm zur genauen Kenntnis der heimischen Merkantilisten noch die Vertrautheit mit dem neuen Evangelium der Ökonomisten", schreibt Salin.2) In dogmenhistorischen Untersuchungen liest man oft über den engen Zusammenhang der Lehren von Smith mit dem Physiokratismus und tiefsinnige Erörterungen darüber, was von den Smithschen Dogmen Smith und was Quesnay ist. Solche Erörterungen sind unfruchtbar, da wichtiger als das Problem der ideologischen Tradition die Frage ist, inwieweit eine Theorie der Produktionsweise entspricht, d. h. den erreichten Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte zum Ausdruck bringt, ihre weitere Entwicklung hemmt oder fördert. Und es ist unbestreitbar, daß die Smithschen Theorien fortschrittlich waren und einen mächtigen Faktor für die weitere und schnellere Entwicklung des Kapitalismus darstellten. Mit dem Smithschen Werk hat die Entwicklung der politischen Ökonomie einen Sprung gemacht. Sie war zur Wissenschaft geworden, und sie mußte nun auf ihre bürgerlichen Schranken stoßen. Ein solcher dogmenhistorischer Streit ist aber auch unwissenschaftlich. Denn sowenig es eine rein ideologische Entwicklung gibt, sosehr verarbeitet ja der große Denker die vorgefundenen Ideen und Theorien, und ebenso, wie die ideologische Entwicklung in letzter Instanz von der Produktionsweise bestimmt ist, sowenig fängt jede neue Etappe der Entwicklung wieder von vorn an. Man kann den Satz aufstellen, daß die Dogmengeschichten der bürgerlichen Ökonomen mit ihrem Streit über die „Originalität" eines Denkers nur ein anderer Ausdruck dafür sind, daß ihre „Theorien" immer inhaltsloser werden. Sie haben sich losgelöst vom Mutterboden der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer Entwicklung. Sie sind von der engen Verbindung mit dem ideologischen Überbau selbst zur Ideologie geworden. ') Ebd., S. 340. A. a. O., S.

2)

151

Smiths Werk über den „Reichtum der Nationen" bildet einen Höhepunkt in der Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie. Smith vermittelt in diesem Werk ein abgerundetes Bild der wirtschaftlichen Wirklichkeit des frühen Kapitalismus. Keiner seiner Vorgänger und auch keiner der Nachfolger der Klassik hat dies Niveau wieder erreicht. Es sei „der außerordentliche Reichtum seiner historischen Darstellungen und die sprudelnde Fülle von Beobachtungen der gleichzeitigen Praxis, was seinem Werke einen Nimbus von Wahrheit verliehen hat, der es wie eine Offenbarung erscheinen ließ", schreibt Lujo Brentano in seiner englischen Wirtschaftsgeschichte. „Es ist das Muster einer Vereinigung von Geschichte und Philosophie..."

b) Das wissenschaftliche System von Adam Smith Marx bezeichnet A. Smith gelegentlich „als den zusammenfassenden politischen Ökonomen der Manufakturperiode", wegen des „Akzents", den er auf die Teilung der Arbeit legt. „Der Maschinerie habe er eine untergeordnete Rolle zugewiesen. „A. Smith verwechselt auch die Differenzierung der Instrumente, wobei die Teilarbeiter der Manufaktur selbst sehr tätig waren, mit der Maschinenerfindung. Es sind nicht Manufakturarbeiter, sondern Gelehrte, Handwerker, selbst Bauern usw., die hier eine Rolle spielen."1) So wie die Entwicklung der kapitalistischen Produktion im Manufakturkapitalismus nicht beim Arbeitsmittel, sondern bei der Arbeitskraft anknüpft, und so wie die Arbeitsproduktivität hier gesteigert wird vorwiegend durch die Entwicklung der manufakturmäßigen Teilung der Arbeit, so analysiert Smith diese Teilung der Arbeit als Produktivkraft der Gesellschaft. Nachdem die bürgerlichen Ökonomen vor Smith der Reihe nach die besonderen Formen der gesellschaftlichen Arbeit, Agrikultur, Manufaktur, Schiffahrt, Handel usw., als wahre Quellen des Reichtums angesehen hatten, „proklamierte Adam Smith die Arbeit überhaupt, und zwar in ihrer gesellschaftlichen Gesamtgestalt, als Teilung der Arbeit, als die einzige Quelle des stofflichen Reichtums oder der Gebrauchswerte".2) Mit seiner Theorie der Arbeitsteilung hat Smith eine wichtige Entdeckung verbunden, die Entdeckung von der durch die Teilung der Arbeit hervorgebrachten Veränderung, daß der Reichtum jetzt nicht mehr in Produkt der eigenen Arbeit, sondern in der Menge fremder Arbeit besteht, die gegen dies Produkt eingetauscht werden können. Die im Produkt des Produzenten vergegenständlichte Arbeit wird gleichgesetzt der in allen anderen Produkten vergegenständ») Ebd. 2) Marx, Zur Kritik . . ., S. 57.

152

lichten Arbeit, d. h., die in der Ware enthaltene Arbeit wird als gesellschaftliche Arbeit bestimmt. 1 ) „Der Wert einer Ware i s t . . . f ü r denjenigen", schreibt A. Smith, „der sie besitzt, sie aber nicht selbst zu gebrauchen oder zu verzehren, sondern gegen andere Waren auszutauschen gedenkt, gleich der Quantität Arbeit, welche er dafür kaufen kann oder die ihm d a f ü r zu Gebote steht. Die Arbeit — schließt Smith — ist also der w a h r e Maßstab des Tauschwertes aller Waren." 2 ) Bei seiner kritischen Analyse der Smithschen Theorie macht Marx auf die schwankende und widerspruchsvolle Bestimmung des Warenwertes durch Smith a u f m e r k s a m . Smith verwechselt zweierlei: Die zu ihrer Produktion erforderliche Warenwertes durch das Q u a n t u m lebendiger Arbeit g e k a u f t w e r d e n Q u a n t u m lebendiger Arbeit, womit werden kann". 3 )

Bestimmung des W a r e n w e r t e s durch die Arbeitsmenge u n d die Bestimmung des Ware, das mit einer bestimmten Menge k a n n oder, „was dasselbe ist, durch das ein bestimmtes Q u a n t u m Arbeit g e k a u f t

A d a m Smith verwechselt die Bestimmung des Wertes der W a r e durch die Arbeitsmenge mit der Bestimmung des Wertes durch den Tauschwert der Arbeit, d. h. durch den Arbeitslohn, „denn der Arbeitslohn ist gleich dem Q u a n t u m Ware, das mit einem bestimmten Q u a n t u m lebendiger Arbeit e r k a u f t wird, oder gleich dem Q u a n t u m Arbeit, das mit einem bestimmten Q u a n t u m Ware g e k a u f t werden kann". 4 ) Der Wert der Arbeit — oder richtiger: der Wert der A r b e i t s k r a f t — unterscheidet sich aber in nichts „spezifisch von dem Wert der anderen Waren", so daß Smith also den Wert einer Ware zur Ursache u n d zum Maßstab der anderen Ware macht. Smith macht mit anderen Worten — den Wert aller Waren abhängig v o m Wert einer W a r e : der Arbeitskraft. Er macht sich also, indem er den Wert durch den Wert bestimmt, eines Zirkelschlusses schuldig. 5 ) Diesen Fehler A d a m Smiths h a t David Ricardo e r k a n n t u n d überwunden. Aber Ricardo h a t — wie M a r x zeigt — nicht die eigentliche Ursache dieses offensichtlichen logischen Widerspruches aufgedeckt. Worin liegt die Ursache dieses Zirkelschlusses, dessen sich A d a m Smith schuldig machte u n d den David Ricardo zwar erkannte, aber nicht erklären konnte? Die Ursache dieses Zirkelschlusses liegt in der apologetischen G r u n d k o n zeption A d a m Smiths, in der aus ihrem Klassencharakter sich ergebenden idealistisch-metaphysischen Grundkonzeption seiner Theorie. Werden alle ') A. Smith, Der Reichtum der Nationen, S. 17 (nach der Ubersetzung von M. Stimer, Leipzig 1910). 2 ) Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 128. 3 ) Ebd., S. 128. 4 ) Ebd. 5 ) Ebd. 153

Waren nämlich zu ihren Werten v e r k a u f t , d. h. zu der in ihnen enthaltenen notwendigen Arbeitszeit, „so k a u f t der Arbeiter mit einer Ware, die das P r o d u k t zwölfstündiger Arbeitszeit ist, wieder zwölfstündige Arbeitszeit in der Form einer anderen Ware, das heißt zwölfstündiger Arbeitszeit, die in einem anderen Gebrauchswert verwirklicht ist". 1 ) Der „Wert der Arbeit" des Arbeiters ist also gleich dem „Werte seiner Ware", und durch den Austausch wird n u r die Gestalt des Gebrauchswertes, nicht aber der Wert der Ware verändert. Es w e r d e n also ausgetauscht, erstens gleiche Mengen vergegenständlichter Arbeit, zweitens eine bestimmte Menge lebendiger gegen die gleiche Menge vergegenständlichter Arbeit. A d a m Smith ging bei seiner Analyse, das ist zu beachten — aus von der Annahme, daß alle Arbeiter Warenproduzenten seien, d. h. alle Produzenten sich n u r als Warenbesitzer gegenübertreten. Unter dieser Voraussetzung, meint Marx — unter der Voraussetzung also der einfachen Warenproduktion, denn weiter bedeutet ja offensichtlich die Voraussetzung, daß alle Produzenten sich als W a r e n p r o d u zenten gegenübertreten, nichts — konnte den „Wert der Arbeit", wie Marx meint, „ebensowohl wie die in der Ware enthaltene Quantität Arbeit als Maß ihres Wertes gelten . . ,"2) Smith verlegt also die Wirklichkeit d e r Wertbestimm u n g der Ware in die vorkapitalistische Zeit. Was ihm w a h r erscheint vom S t a n d p u n k t der einfachen Warenproduktion, wird ihm unklar vom Standp u n k t der kapitalistischen Warenproduktion. „In anderen Worten, w a s ihm w a h r erscheint auf dem S t a n d p u n k t der einfachen Ware, w i r d ihm unklar, sobald an ihre Stelle die höheren und komplizierten Formen von Kapital, Lohnarbeit, G r u n d r e n t e usw. treten. Dies drückt er so aus, daß der Wert der Waren durch die in ihnen enthaltene Arbeitszeit gemessen wurde in dem verlorenen Paradies des Bürgertums, wo die Menschen sich noch nicht als Kapitalisten, Lohnarbeiter, Grundeigentümer, Pächter, Wucherer usw., sondern n u r als einfache Warenproduzenten und Warenaustauscher gegenübertraten." 3 ) Smith entdeckte also, daß im Austausch zwischen Kapital und Lohnarbeit „das allgemeine Gesetz sogleich aufgehoben wird u n d die W a r e n . . . nicht im Verhältnis der Arbeitsquanta, die sie darstellen, sich austauschen". 4 ) Jetzt gehören die gegenständlichen Bedingungen der Produktion der einen, die Arbeitskraft der anderen Klasse. „Das Produkt oder der Wert des Produktes der Arbeit gehört nicht dem Arbeiter." 5 ) Smith entdeckte — mit anderen Worten —, daß jetzt — in der kapitalistischen Warenproduktion — eine bestimmte Menge bereits vergegenständlichter Arbeit gegen eine größere Menge lebendiger Arbeit eingetauscht wird, und schließt daher, „daß die Arbeitszeit nicht m e h r das immanente Maß ist, das den Tauschwert der Waren regelt, 2

) 3 ) 4 ) 6 )

154

Ebd., S. 129. Ebd. Zur Kritik, S. 57/58. Theorien über den Mehrwert, a. a. O., S. 130. Theorien über den Mehrwert, a. a. O., S. 130.

sobald die Arbeitsbedingungen in der Form des Grundeigentums und des Kapitals dem Arbeitgeber gegenübertreten". 1 ) Diesen „Widerspruch" im Austausch von Ware gegen Ware in der einfachen Warenproduktion einerseits, in der kapitalistischen Warenproduktion andererseits vermochte Smith nicht zu lösen. Er nahm an, daß das Wertgesetz nur gelte, wenn sich Produzenten gegenüberstehen, die ihre Arbeit im eigenen Produkt vergegenständlichen, so daß sie den Wert der Menge anderer Arbeit austauschen. Die Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren P r o duktionsmitteln führe zu einer Aufhebung dieses Gesetzes. Er konnte den Widerspruch nicht lösen, weil er das wahre Wesen des Wertes als ein historisch entstandenes Produktionsverhältnis nicht begriffen hatte.

c) Der Ursprung des Mehrwertes W i e Marx in den „Theorien über den Mehrwert" bemerkt, hat die Unsicherheit in der Bestimmung des Wertes bei Smith und das Durcheinanderw e r f e n „ganz heterogener Bestimmungen" die Untersuchungen von Smith über „die Natur und den Ursprung des Mehrwertes" nicht gestört. Smith habe in der Tat, „ohne es zu wissen, überall, w o er entwickelt, an den richtigen Bestimmungen des Tauschwertes der Waren — nämlich ihrer Bestimmung durch das in ihnen enthaltene Quantum Arbeit oder die Arbeitszeit" — festgehalten. 2 ) Smith war in der Tat, soweit er ein wissenschaftlicher Ökonom war, Arbeitswerttheoretiker. Er hielt diese richtige Bestimmung des Wertes nicht konsequent durch — er ging, w i e w i r sehen werden, ganz unvermittelt von der theoretischen Bestimmung über zur Oberflächenbestimmung. Aber dies störte nicht den Grundzug seiner Theorie, und hierzu gehört die Theorie vom Mehrwert. Zunächst sei kurz die Smithsche Lohnauffassung, die Grundlage seiner Mehr Werttheorie, behandelt. Bei der Bestimmung des Arbeitslohnes geht Smith, w i e auch die Physiokraten, von dem „Durchschnittslohn", dem „natürlichen Preis der A r b e i t " aus. „Es muß ein Mensch durchaus von seiner Arbeit zu leben haben", schreibt er, „und der Arbeitslohn muß wenigstens hinreichend sein, um ihm den Unterhalt zu verschaffen. Ja, er muß in den meisten Fällen noch mehr als hinreichend sein: sonst wäre der Arbeiter nicht imstande, seine Familie zu gründen, und das Geschlecht solcher Arbeiter würde mit der ersten Generation aussterben." 8 ) Smith war die Tatsache, daß die Arbeitszeit, die die Arbeitskraft zu ihrer Reproduktion kostet, sehr von der Arbeit verschieden ist, die ') Theorien über den Mehrwert, a. a. O., S. 130. Marx, a. a. O., Bd. I, S. 128. 3) Smith, a. a. O., S. 38. 2)

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sie selbst bedeutet, durchaus bekannt. Er zitiert Cantillon und schreibt, dieser Autor füge hinzu, „die Arbeit eines kräftigen Sklaven sei f ü r doppelt soviel wert zu rechnen als sein Unterhalt, und es könne, meint er, die des geringsten Arbeiters nicht weniger wert sein als die eines kräftigen Sklaven". 1 ) Smith stellt daher auch ausdrücklich fest, daß die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeiter nicht den Arbeitern zugute kommen. Das Produkt der Arbeit bilde die natürliche Vergütung derselben oder den Arbeitslohn, beginnt Smith das 8. Kapitel des ersten Buches seines Hauptwerkes. „In jenem u r sprünglichen Zustand, welcher der Bodenaneignung und der Kapitalansammlung vorhergeht, gehört das ganze Arbeitserzeugnis dem Arbeiter", f ä h r t Smith fort. „Er hat weder mit einem Grundbesitzer noch mit einem Meister zu teilen." 2 ) Der Lohn der Arbeit würde mit jener Zunahme ihrer produktiven Kräfte, welche durch die Arbeitsteilung herbeigeführt wird, zugleich gewachsen sein, „wenn", fügt Smith hinzu, dieser „ursprüngliche Zustand" fortgedauert hätte. „Allein dieser ursprüngliche Zustand, in welchem der Arbeiter das ganze Erzeugnis seiner eigenen Arbeit genoß, konnte nicht länger dauern, als bis die Bodenaneignung und Kapitalansammlung eingeführt wurde. Er war daher auch längst zu Ende, ehe die beträchtlichen Vervollkommnungen in den Produktivkräften der Arbeit eingetreten waren, und es wäre nutzlos — meint Smith — weiter nachzuforschen, welchen Einfluß er auf die Vergütung oder den Lohn der Arbeit gehabt haben würde." 3 ) Denn der Grundbesitzer fordere „einen Teil von fast allen Erzeugnissen", welche der Arbeiter auf den Boden hervorbringe, „sobald der Boden Privateigentum w i r d . . ,"4) Die Rente des Grundbesitzers bildet den ersten Abzug von dem Erzeugnis der auf den Boden verwendeten Arbeit. 5 ) Da es vorkommen sollte, daß diejenigen, welche den Boden bestellen, auch die erforderlichen Unterhaltsmittel besitzen, welche diese „gewöhnlich aus dem Kapital eines Herrn, des Pächters, vorgeschossen", der von dem Erzeugnis der Arbeit ebenfalls einen Abzug des Gewinns verlangt. „Dieser Gewinn bildet einen zweiten Abzug von dem E r zeugnis der auf den Boden verwendeten Arbeit." Da in allen Gewerben und Handwerken den Arbeitern Arbeitsmaterial und Unterhalt vorgeschossen werden müssen, ist „das Erzeugnis fast aller anderen A r b e i t e r . . . dem gleichen Gewinnabzug ausgesetzt". 6 ) Adam Smith hat also durchaus gesehen, daß die eigentliche Entwicklung in der Produktivkraft der Arbeit „erst von dem Augenblick beginnt, wo sie in Lohnarbeit verwandelt ist und die Arbeitsbedingungen ihr einerseits als -) 3 ) 4 ) 5 ) ") 156

Ebd. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd.

Grundeigentum, andererseits als Kapital gegenübertreten", bemerkt Marx.1) Damit hatte er aber die Grundlage für die Entdeckung der Quelle des Mehrwertes gelegt.

d) Der Profit Smith geht bei seiner Analyse zunächst also aus von „jenem frühen und rohen Zustande der Gesellschaft, welche der Kapitalansammlung und Landaneignung vorhergeht. „Hier scheint" — schreibt er — „allein das Verhältnis zwischen den Arbeitsmengen, die zur Beschaffung verschiedener Dinge nötig sind, eine Regel für den Tausch derselben zu bilden."2) Es sei natürlich — meint Smith — „daß das Produkt der Arbeit zweier Tage oder zweier Stunden doppelt so hoch bewertet wird als das Produkt einer Arbeit von einem Tag oder von einer Stunde".3) Es ist also die zu ihrer Produktion erforderliche Arbeitszeit, welche das Austauschverhältnis der Waren oder ihren Tauschwert hier bestimmt. „Bei diesem Stand der Dinge", schreibt Smith weiter, „gehört das ganze Arbeitsprodukt dem Arbeiter, und die zur Beschaffung oder Hervorbringung einer Ware aufgewendete Quantität von Arbeitszeit ist das einzige, was die Quantität von Arbeit bestimmen kann, welche man für jene Waren kaufen oder im Tausch erhalten sollte."4) Der Produzent ist unter dieser Voraussetzung also in der Tat nur Warenkäufer und Warenverkäufer, der bestimmte Mengen vergegenständlichter Arbeit gegen gleiche Mengen in anderen Gebrauchswerten vergegenständlichter Arbeit austauscht. „Sobald sich in den Händen einiger Personen Kapital gesammelt hat", fährt Smith fort, „wird natürlich der eine oder der andere unter ihnen sein Kapital dazu verwenden, fleißigen Leuten Arbeit zu geben und sie mit Material und Lebensmitteln zu versorgen, um aus dem Verkauf ihres Arbeitserzeugnisses oder aus dem, was das Material durch ihre Arbeit an Wert gewinnt, Vorteil zu ziehen."5) Smith sagt nicht, wo die „fleißigen Leute" herkommen, denen die Kapitalisten „Arbeit" geben —, er setzt die Scheidung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln voraus! Während dies — die ursprüngliche Akkumulation — noch für Steuart — wie wir gesehen haben — ein Problem war: jetzt ist die kapitalistische Produktion als „natürliche" Voraussetzung gegeben — und sie ist es für alle bürgerlichen Ökonomen geblieben! An die Stelle der wissenschaftlichen Analyse tritt die Kundenfibel. Auch hier zeigt sich die idealistische —• mehr physische Grundkonzeption. 1)

Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 127. Smith, a. a. O., S. 26. 3 ) Ebd., S. 26/27. 4) Ebd., S. 27. 6 ) Ebd., S. 27. 2)

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Smith fährt nun fort: „Bei dem Austausch des fertigen Erzeugnisses gegen Geld, Arbeit oder andere Güter muß über das, was zur Bezahlung des Materials oder Arbeitslohnes erforderlich ist, noch etwas für den Gewinn des Unternehmers herauskommen, der sein Kapital dabei aufs Spiel gesetzt hat."1) Woher rührt dieses „Etwas", der Profit des Kapitalisten? Stammt es aus dem Verkauf der Waren über ihren Wert, wie Steuart lehrte, oder stammt es aus der Agrikulturarbeit, wie die Physiokraten lehrten? Das ist die entscheidende Frage! „Der Wert, welchen die Arbeiter dem Material hinzufügen" — fährt Adam Smith fort —, „löst sich also in diesem Fall in zwei Teile auf, in den Arbeitslohn und in den Gewinn des Arbeitsgebers über das ganze für Material und Arbeitslohn verausgabte Kapital hinaus."2) Hiermit hat Adam Smith die Antwort gegeben! Adam Smith sagt, daß der Profit, der beim Verkauf der von den Lohnarbeitern produzierten Ware realisiert wird, nicht aus dem Verkauf der Ware über ihren Wert stammt, sondern in der Produktion entstanden ist. Die Waren werden zu ihren Werten verkauft, und dabei realisiert der Kapitalist erstens den Teil der Arbeit, den er bezahlt, und zweitens einen Teil, den er nicht bezahlt hat. „Adam Smith hat damit den wahren Ursprung des Mehrwertes erkannt", schreibt Marx.3) Damit hat aber Smith im Grunde seine eigene — oben dargestellte — Auffassung widerlegt: daß beim Austausch vergegenständlichter gegen lebendige Arbeit das Wertgesetz verletzt werde, weil die Kapitalisten mehr Arbeit eintauschen von den Lohnarbeitern, als sie ihnen im Lohn geben! Smith leitet den Profit des Kapitalisten vielmehr ganz richtig daher, daß der Kapitalist den „Wert der Arbeit" gleich ihrem Lohn zahlt, also Äquivalente tauscht, aber der Arbeiter Arbeit verrichtet über die Menge hinaus, die er als Lohn erhält. Tauscht also der Kapitalist seine produzierte Ware gegen Geld oder andere Ware aus, „so entspringt sein Profit daher, daß er mehr Arbeit verkauft, als er gezahlt hat", d. h. aber, daß der Kapitalist vorher eben nicht das. gleiche Quantum vergegenständlichter Arbeit gegen gleiches Quantum lebendiger Arbeit austauschte.4) Obwohl im Austausch zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern also Äquivalente ausgetauscht werden, erhalten die Kapitalisten' mehr lebendige Arbeit in diesem Austausch, als sie in vergegenständlichter Form hingeben. Ebd., S. 27. Ebd., S. 27. 3) Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 141. 4 ) Marx, a. a. O., S. 141. 2)

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Diese Tatsache entdeckte A d a m Smith — er entdeckte damit den wesentlichsten Unterschied zwischen dem Austausch der Produzenten selbst und dem Austausch zwischen Kapital und Arbeit. „Der Profit beim Austausch der vollendeten Ware gegen Geld oder Ware, w e n n sie zu ihrem Wert ausgetauscht werden, entspringt also daher, daß der Austausch zwischen der vollendeten Ware u n d der lebendigen W a r e anderen Gesetzen folgt; daß hier nicht Äquivalente ausgetauscht werden." 1 ) Die Arbeitszeit des Arbeiters löst sich also auf in den Teil, den er vom Kapitalisten vergütet erhalten hat, u n d den Teil, worin e r den Profit des Kapitalisten produziert. Smith p r ü f t dann die Frage, ob der Profit vielleicht „nur ein anderer N a m e f ü r den Lohn einer bestimmten Art von Arbeit sei, der Arbeit nämlich, welche in der Aufsicht und Leitung besteht", und er antwortet, daß er hiervon „durchaus verschieden" sei und „durch ganz andere Prinzipien bestimmt" werde. Er stehe „mit der Größe, der Mühe u n d dem Geist jener vorgeblichen Arbeit, nämlich der Aufsicht und Leitung, in gar keinem Verhältnis", 2 ) f ü g t Smith ausdrücklich hinzu. Der Profit richte sich immer nach dem Werte des aufgewendeten Kapitals, und er sei je nach der Größe dieses Kapitals „größer oder kleiner". 3 ) Es sei der Vorzug Smiths, stellt Marx fest, daß er den Umschwung, der mit der kapitalistischen Produktion eintrete, so stark betone. Er stehe Ricardo dagegen darin nach, „daß ihn stets die, jedoch von ihm selbst durch seine eigene Entwicklung widerlegte Ansicht verfolgt, daß durch dieses v e r ä n d e r t e Verhältnis zwischen vergegenständlichter Arbeit und lebendiger Arbeit auch eine Änderung eintritt in der Bestimmung des relativen Wertes der Waren, die doch nichts gegeneinander repräsentieren als verschiedene, aber feste, gegebene Mengen realisierter vergegenständlichter Arbeit". 4 ) e) Die G r u n d r e n t e Nicht n u r das Kapital ist eine dem Arbeiter e n t f r e m d e t e und ihm als f r e m d e s Eigentum gegenübertretende Arbeitsbedingung, sondern auch die E r d e als Grundeigentum. Smith f ü h r t auch die Rente des Grundbesitzes auf den Mehrwert zurück. „Sobald aller G r u n d und Boden eines Landes Privateigentum geworden ist", schreibt er, begehren die Grundbesitzer, gleich allen anderen Menschen, „zu ernten, wo sie nicht gesät haben", und „verlangen sogar f ü r die natürlichen P r o d u k t e des Bodens eine Rente." 5 ) Der Produzent in der Landwirtschaft m u ß n u n einen Teil seines Produktes dem Grundbesitzer überlassen. „Dieser Teil, 8

) 3 ) 4 ) 5 )

Marx, a. a. O., S. 143. Smith, a. a. O., S. 27. Ebd. Marx, a. a. O., S. 143. Smith, a. a. O., S. 28. 159

oder — was auf dasselbe hinauskommt — der Preis dieses Teils bildet die Grundrente und macht in dem Preis der meisten Waren einen dritten Bestandteil aus." 1 ) Adam Smith faßt also auch die Grundrente richtig als durch Mehrarbeit entstandenen Mehrwert auf, den Mehrwert also als die allgemeine Kategorie, wovon Profit und Rente nur Ableitungen sind. Der Mehrwert zerfällt in den industriellen Profit und in die Grundrente, in die Mehrarbeit, die sich der Kapitalist und in die, die sich der Grundeigentümer aneignet.

f) Der Zins f ü r Leihkapital „Dasjenige Einkommen aber, welches jemand aus dem Kapital zieht, das er nicht selbst verwendet, sondern einem anderen leiht, heißt Geldzins oder Interesse", schreibt Smith weiter. „Es ist die Vergütung, welche der Borgende dem Darleiher f ü r den Gewinn zahlt, den er durch Anwendung des Geldes zu machen Gelegenheit hat." 2 ) Dieser Geldzins — f ä h r t Smith dann fort — sei immer „ein abgeleitetes Einkommen". Es stamme entweder aus dem Profit, der mit Hilfe des geliehenen Geldes gemacht worden sei, oder „aus irgendeiner anderen Einkommensquelle..., wenn anders der Borger nicht etwa ein Verschwender ist, der eine zweite Schuld macht, um die Zinsen der ersten zu bezahlen". 3 ) Der Zins f ü r Leihkapital ist also — soweit er nicht aus dem Lohn gezahlt wird f ü r Konsumtivkredite — immer Mehrwert und in der Regel, wenn er vom industriellen Kapitalisten gezahlt wird, Teil des industriellen Profits, Anteil an diesem.

g) Die Steuer Adam Smith entwickelt dann weiter, daß alle Einkommen von solchen Personen, die von den Steuern leben, entweder aus dem Arbeitslohn stammen, also ein Abzug vom Lohn selbst sind, oder ihre Quelle in Profit und Rente haben, d. h. nur Titel sind, unter denen sie hieran mitzehren, also n u r verschiedene Formen des Mehrwertes. „Alle Steuern und alle Einkünfte", schreibt Smith, „die auf ihnen beruhen, alle Besoldungen, Pensionen und Jahrgelder jeder Art kommen zuletzt aus einer oder der anderen dieser drei ursprünglichen Quellen des Einkommens und werden unmittelbar oder mittelbar vom Arbeitslohn, vom Kapitalprofit oder von der Grundrente gezahlt." 4 ) Ebd. ) Ebd., S. 29. 3 ) Ebd. 4 ) Ebd., S. 30. 2

160

h). Produktive und unproduktive Arbeit Wie in allen Bestimmungen ökonomischer Kategorien, so sei auch Smith „in der Bestimmung dessen, was er produktive Arbeit nennt, zwieschlächtig", stellt Marx fest. Bei ihm fänden sich zwei Bestimmungen von dem, „was er produktive Arbeit nennt". 1 ) Marx behandelt zunächst die richtige Bestimmung der produktiven Arbeit bei Smith. Diese Bestimmung folge „von selbst aus A. Smiths Auffassung vom Ursprung des Mehrwertes, also vom Wesen des Kapitals". 2 ) Im Sinne der kapitalistischen Produktion ist hiernach produktive Arbeit „Lohnarbeit, die im Austausch gegen den variablen Teil des Kapitals nicht n u r diesen Teil des Kapitals reproduziert (oder Wert ihrer eigenen Arbeitskraft), sondern außerdem Mehrwert f ü r den Kapitalisten produziert". 3 ) Soweit Adam Smith diese Auffassung geltend mache, folge er n u r einer bereits bei den Merkantilisten und Physiokraten eingeschlagenen Richtung, die er „von falscher Vorstellungsweise" befreit und „ihren inneren Kern herausgearbeitet". 4 ) Die zweite, aber falsche Bestimmung der produktiven Arbeit von Adam Smith hängt damit zusammen, daß er jede Arbeit als „produktiv" bezeichnet, die überhaupt einen Wert schafft. In dieser Auffassung ist die produktive Arbeit also in einem andern Sinn bestimmt als ursprünglich. Diese Bestimmung bezieht sich nicht mehr auf die Produktion eines Mehrwertes, „sondern die Arbeit eines Arbeiters heißt hiernach produktiv, soweit es an die Stelle des konsumierten Wertes ein Äquivalent setzt, indem er durch seine Arbeit irgendeinem Material ein gleiches Quantum Wert hinzufügt, als in seinem Arbeitslohn enthalten war". 5 ) Diese Formbestimmung der produktiven Arbeit falle aus der kapitalistischen Produktion heraus, stellt Marx fest. 6 ) Diese Auffassung von Smith, die darauf hinausläuft, daß produktiv die Arbeit sei, die Ware produziert, entspricht „einem viel mehr elementarischen Standpunkt als dem, der erklärt, daß produktive Arbeit solche ist, die Kapital produziert". 7 ) Die Gegner A. Smiths hatten die erste und richtige Bestimmung ignoriert und sich an die zweite, falsche gehalten. Diese zweite — falsche, weil einseitige — Bestimmung wurde kritisiert und abgelehnt. Das ist allerdings, vom Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie aus gesehen, durchaus konsequent, denn positive oder negative Anerkennung der ersten Bestimmung, also ihr 2

) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 7 )

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

11 Behrens

S. S. S. S. S. S. S.

253. 254. 253. 254. 265. 265/266. 280.

161

zur Kenntnis nehmen, ist ja gleichbedeutend mit Ablehnung oder mindestens zur Kenntnisnahme der Mehrwerttheorie. Es sei eines der größten wissenschaftlichen Verdienste von Adam Smith, hebt Marx hervor, „daß er die produktive Arbeit als Arbeit bestimmt, die sich unmittelbar mit dem Kapital austauscht, das heißt durch Austausch, womit die Produktionsmittel der Arbeit und Wert überhaupt, Geld oder Ware, sich erst in Kapital verwandeln und die Arbeit in Lohnarbeit im wissenschaftlichen Sinne". 1 ) Malthus — schreibt Marx — habe richtig bemerkt, es bleibe diese kritische Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit die Grundlage der ganzen bürgerlichen Ökonomie. Marx fügt hinzu, Smith habe mit seiner Bestimmung der produktiven Arbeit „auch absolut festgesetzt, was unproduktive Arbeit ist".2) Dies sei Arbeit, „die sich nicht gegen Kapital, sondern unmittelbar gegen Revenue austauscht, also gegen Arbeitslohn oder Profit, natürlich auch gegen die verschiedenen Rubriken, die als Teilnehmer am Profit des Kapitalisten partizipieren, wie Zins und Rente".3) Smith hat, wie es dem Standpunkt der Bourgeoisie in ihrer revolutionären Periode entsprach, alle nicht-ökonomischen Tätigkeiten in der Gesellschaft als faux frais der Produktion betrachtet, die aus Gründen der Entwicklung der produktiven Kräfte auf das unbedingt notwendige Maß reduziert werden müßten. Um den Smithschen Begriff der produktiven Arbeit hat sich eine große Debatte in der ökonomischen Literatur ganz Europas ergeben, in welcher die ökonomischen Ideologen des Direktoriums, des Konsulates (Garnier) und des Kaiserreiches (Terrier und Ganith) eine führende Rolle gespielt haben. 4 ) Smith behandelt die verschiedenen Formen der unproduktiven Arbeit mit einer „zynisch-revolutionären Gleichstellung". 5 ) Marx zitiert Smith: „Die Arbeit einiger der angesehensten Klassen der Gesellschaft produziert ebensowenig wie die ihrer Bedienten einen W e r t . . . Sie sind die Diener des Publikums und werden von einem Teil des jährlichen Produktes des Fleißes anderer Leute e r h a l t e n . . . In dieselbe Klasse gehören Geistliche, Juristen, Ärzte, Gelehrte aller Art, Schauspieler, Possenreißer, Musiker, Opernsänger, Ballettänzerinnen usw." 6 ) Marx kommentiert diese Stelle von Smith mit folgenden Worten: „Dieses ist die Sprache der noch revolutionären Bourgeoisie, die sich die ganze Gesellschaft, Staat usw. noch nicht unterworfen hat. Diese transzendenten Beschäftigungen, altehrwürdig, Souverän, Richter, Offiziere, Pfaffen usw., die Gesamtheit der alten ideologischen Stände, die sie erzeugen, ihre Gelehrten, Magister und Pfaffen *) .2) 3 ) 4 ) 5 ) °) 162

Ebd., S. 259. Ebd. Ebd. Vgl. Georg Lukacz, Der junge Hegel, Zürich - Wien 1948, S. 519 ff. Ebd., S. 520. Marx, a. a. O., S. 405.

werden ökonomisch gleichgestellt dem Schwärm ihrer eigenen Lakaien und Lustigmacher, wie sie und die müßigen R e i c h e n . . . sie unterhalten. Sie sind bloße Diener des Publikums, wie die anderen ihre Diener sind. Sie leben von dem Produkt des Fleißes anderer Leute, müssen also auf das unumgängliche Maß reduziert werden." 1 ) Staat und Kirche seien bloß als „Ausschüsse zur Verwaltung oder Handhabung der gemeinschaftlichen Interessen der produktiven Bourgeoisie" berechtigt, und ihre Kosten müßten daher — als Unkosten — „auf das unentbehrliche Minimum reduziert werden". 2 ) Die meisten Schriftsteller, die gegen die Begriffsbestimmungen von A. Smith polemisierten, „betrachten den Konsum als notwendigen Stachel der Produktion, und daher sind ihnen selbst für den materiellen Reichtum die Lohnarbeiter, die von der Revenue leben, die unproduktiven Arbeiter, ebenso produktiv wie die produktiven Arbeiter, indem sie das Gebiet des materiellen Konsums und damit das der Produktion erweitern". 3 ) Dies sei „großen Teils eine Apologie vom bürgerlich-ökonomischen Standpunkt", und zwar teils für die müßigen Reichen und die „unproduktiven Arbeiter", deren Dienste sie konsumieren, teils für die „starken Regierungen", die große Ausgaben machen. „Denn diese unproduktiven Arbeiter" — deren Dienste unter den Ausgaben der müßigen Reichen figurieren — haben alle das gemein, daß, wenn sie „immaterielle Produkte" produzieren, sie „materielle Produkte" konsumieren, also Produkte der produktiven Arbeiter. 4 ) Der Standpunkt von Smith ist also hinsichtlich der unproduktiven Arbeit kl%r und eindeutig. Er ist der der produktiven Bourgeoisie, der industriellen Kapitalisten, deren Lohnarbeiter den Profit, den Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft produzieren, und die diesen Reichtum aneignen, um ihn auf die anderen Schichten zu verteilen. Die Theorie der produktiven Arbeit A. Smiths und ihre Kehrseite: die unproduktive Arbeit, hat seit je den Zorn der Apologeten erregt. „Pfaff Th. Chalmers hat A. Smith in Verdacht, daß er aus reiner Malice die Kategorie der ,unproduktiven Arbeiter' eigens für die protestantischen Pfaffen erfand, trotz ihrer gesegneten Arbeit im Weinberg des Herrn", schreibt Marx. 5 )

i) Smiths Fortschritt über die Physiokraten Marx bemerkt in den „Theorien über den Mehrwert", daß Smith „sehr l eichlich mit den Vorstellungen der Physiokraten infiziert" sei. Es „zögen sich o f t ganze Schichten durch sein Werk, die den Physiokraten angehören und ') ) 3) 4 ) 5 ) 2

il*

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,

S. 405. S. 327. S. 376. S. 376. 163

den von ihnen selbst eigentümlich aufgestellten Ansichten völlig widersprechen". 1 ) Der große Fortschritt, den Adam Smith über die Physiokraten hinaus gemacht hat, besteht darin, daß er nicht mehr die konkrete Arbeit einer bestimmten Sphäre, sondern die allgemein gesellschaftliche Arbeit als die Quelle des Wertes auffaßt. Obwohl Smith beständig die Bestimmung des Wertes der Ware durch die in ihnen enthaltene Arbeit mit der Bestimmung ihres Wertes durch den „Wert der Arbeit" verwechselt und überall in der Einzelbestimmung schwankt, erkennt er doch Wesen und Quelle des Mehrwertes richtig. Der Mehrwert ist bei Smith nicht mehr ein bloßes „Geschenk der Natur", sondern nichts als ein Teil der allgemein gesellschaftlichen Arbeit, den sich die Eigentümer der gegenständlichen Bedingungen der Arbeit im Austausch mit der lebendigen Arbeit aneignen. Während bei den Physiokraten der Mehrwert nur in der Form der Grundrente erscheint, sind bei Smith Profit und Rente nur Ableitungen des Mehrwertes, an dem auch andere in der Form des Zinses oder der Steuer teilnehmen.

3. David Ricardo

(1772—1823)

a) Allgemeines Ricardo wurde 1772 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns und Mitgliedes der Fondsbörse in London geboren. Ricardo selbst war bereits in seinem 14. Lebensjahr in Börsengeschäften tätig und brachte es in seiner beruflichen Tätigkeit zu großem Ansehen und auch zu Reichtum. Ricardo trat zuerst mit einer Broschüre über die steigenden Preise der Edelmetalle (The high Price of bullion) 1809 an die Öffentlichkeit. 1811 und 1816 veröffentlichte er weitere Schriften über Geld- und Bankfragen. 1815 erschien eine Schrift von ihm über Kornzölle. Im Jahre 1817 erschien sein Hauptwerk „Grundzüge der politischen Ökonomie und die Besteuerung" (Principles of political economy and taxation). Zusammen mit dem Hauptwerk von Adam Smith gehören die „Principles" zu den bedeutendsten Werken der bürgerlichen Ökonomie. Während Adam Smith noch der politische Ökonom der Bourgeoisie des Manufakturkapitalismus war, ist David Ricardo der politische Ökonom der Bourgeoisie des industriellen Kapitalismus. Die industrielle Revolution in England ist beendet, als die „Principles" von Ricardo erscheinen. Der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hat aber andererseits noch nicht solche Wucht erreicht, daß er die Existenz der bürgerlichen Produktionsweise gefährdet. David Ricardo hat vom bürgerlichen Klassenstandpunkt die Ebd., a. a. O., S. 127. 164

wissenschaftliche Analyse der kapitalistischen Produktion am weitesten getrieben. Bei ihm ist die in der idealistisch-metaphysischen Grundkonzeption in der Philosophie zum Ausdruck kommende apologetische Grundkonzeptionskraft seines Klassenstandpunktes am wenigsten spürbar geworden; ob das nun daran liegt, daß Ricardo als praktischer Kaufmann und Bankier selbst f ü r Philosophie wenig Interesse hatte, im Gegensatz zu dem Zollbeamten Smith, der ursprünglich selbst Moralphilosoph gewesen war, oder ob es an der Zeit liegt, in der er lebte und schrieb: er ist der Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit des Kapitalismus so nahe gekommen, wie es ein bürgerlicher Ökonom nur kann. Daß Ricardo die kapitalistische Ökonomik ohne Hüllen und Verschönerungen darstellte, ist ihm von seinem Nachfolger oft vorgeworfen worden. David Ricardo gefährdete das bürgerliche Klasseninteresse: — „Bei Ricardo aber gilt f ü r die Wirtschaftsanalyse", schreibt Edgar Salin, „daß kaum ein Wissenschaftler sich so frei macht von Subjektivismen, Struktur- oder Klassenvorurteilen wie er, dergestalt, daß seine Lehre, gegensätzlich der des Malthus, in ihren Folgen und Folgerungen eher zum Sturz als zur Stützung der bürgerlichen Wirtschaft und Wirtschaftslehre führen konnte." 1 ) Kann man einem Wissenschaftler überhaupt ein größeres Lob aussprechen, als es Salin hier wider Willen tat: das Lob, daß er durch seine rücksichtslose, d. h. kritische Darstellung des Alten das Neue unterstützt und fördert? Wie sieht das wissenschaftliche System von David Ricardo aus?

b) Das wissenschaftliche System von David Ricardo Ricardo hat viele Einseitigkeiten und Mängel der Smithschen Analyse überwunden, ohne allerdings ihre Grundmängel überwinden zu können. Im Gegensatz zu Adam Smith arbeitet David Ricardo „die Bestimmung des Wertes der Ware durch die Arbeitszeit rein heraus" und zeigt, schreibt Marx in seiner „Kritik der politischen Ökonomie", „daß dies Gesetz auch die ihm scheinbar widersprechendsten bürgerlichen Produktionsverhältnisse beherrscht". Ricardos Untersuchungen beschränken sich aber ausschließlich auf die Analyse der Wertgröße, fügt Marx hinzu, „und mit Bezug auf diese ahnt er wenigstens, daß die Verwirklichung des Gesetzes von bestimmten historischen Verhältnissen abhängt". Er sagt nämlich, daß die Bestimmung der Wertgröße durch die Arbeitszeit nur f ü r die Waren gelte, „die durch die Industrie beliebig vermehrt werden können und deren Produktion durch uneingeschränkte Konkurrenz beherrscht wird". Es heißt dies in der Tat n u r — schreibt Marx hierzu —, daß das Gesetz des Wertes zu seiner völligen Entwicklung die Gesellschaft der großen industriellen Produktion und der freien Konkurrenz, d. h. die moderne bürgerliche Gesellschaft voraussetze. Im übrigen betrachtet auch Ricardo die bürgerliche Form der Arbeit als die 1

) A. a. O., S. 101/102.

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ewige N a t u r f o r m der gesellschaftlichen Arbeit. Den Urfischer und den U r j ä g e r läßt er sofort als Warenbesitzer Fisch u n d Wild austauschen, im Verhältnis der in diesen Tauschwerten vergegenständlichten Arbeitszeit. „Bei dieser Gelegenheit fällt er in den Anachronismus, daß Urfischer und U r j ä g e r z u r Berechnung ihrer Arbeitsinstrumente die 1817 auf der Londoner Börse g a n g baren Annuitätentabellen zu Rate ziehen." 1 )

Werttheorie Ricardo ist Arbeitswerttheoretiker, aber er verabsolutiert die bürgerlichen Produktionsverhältnisse und bleibt in der Analyse der Wertgröße stecken. Hiermit hängt eng zusammen, daß Ricardo nicht scharf den „relativen" Wert einer Ware u n d ihren durch die Arbeitszeit bestimmten Tauschwert, ihren „absoluten" Wert, auseinanderhält. Der Wert einer Ware ist gleich der zu ihrer Produktion erforderlichen Arbeitszeit. Das spricht Ricardo aus, indem er schreibt, daß „es die verhältnismäßige Menge von Waren, die durch die Arbeit erzeugt wird, ist, welche ihren gegenwärtigen oder f r ü h e r e n relativen Wert bestimmt, und nicht die vergleichsweisen Warenmengen, welche dem Arbeiter f ü r seine Arbeit im Austausch gegeben werden". 2 ) „Relativer" Wert heißt hier nichts als der durch die Arbeitszeit bestimmte Tauschwert, der „absolute" Wert, die gesellschaftliche Substanz, die in den Waren enthalten ist. Der „relative" Wert einer Ware im eigentlichen Sinne aber ist ihr absoluter Wert, im Gebrauchswert einer anderen Ware ausgedrückt. Der Wert als die in der Ware vergegenständlichte Arbeitszeit erscheint als Tauschwert, als relativer Wert, ausgedrückt und gemessen an einer anderen Ware. Ricardo spricht also sehr richtig das Prinzip der Wertgröße aus und grenzt sich auch ab gegen die abweichende Bestimmung des Wertes durch Smith, v e r b a u t sich aber die Erkenntnis der Wertsubstanz dadurch, daß er n u r vom „relativen Wert" spricht. Diesen „relativen" Wert einer Ware, ihren Wert in einer anderen Ware ausgedrückt, meint aber Ricardo, w e n n er f o r t f ä h r t : „Gesetzt, wir wollen erfahren, w e n n zwei Waren ihren relativen Wert ändern, bei welchen von beiden die Veränderung tatsächlich eingetreten ist." 3 ) Ricardo geht — wie oben bemerkt — durchaus richtig bei seiner W e r t analyse von der Bestimmung der „relativen Werte" oder der Tauschwerte der Waren durch die zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit aus. „Der Wert eines Gutes oder die Menge irgendeines anderen, f ü r welches es sich austauschen läßt", schreibt Ricardo, „hängt von der verhältnismäßigen Marx, Zur Kritik, S. 58/59. ) Grundsätze, S. 8. 3 ) Ricardo, Grundsätze, S. 16.

2

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Menge der zu seiner Produktion erforderlichen Arbeit ab und nicht von der größeren oder geringeren Vergütung, die für diese Arbeit bezahlt wird." 1 ) Den Charakter dieser den Wert bestimmenden Arbeit untersucht Ricardo nun aber nicht weiter, weil er sich nur für die Wertgröße, nicht aber für die Wertsubstanz der Ware interessiert. Ricardo spricht also zwar aus, daß der „relative Wert" der Waren abhängt von der zu ihrer Produktion erforderlichen Menge Arbeit. Aber die Arbeitsmenge, die den Wert bestimmt, ist mehr oder weniger wovon? Das sagt Ricardo nicht. Die Wertsubstanz — im Unterschied zur Wertgröße — ist die Arbeit. Weil die Waren diese Substanz — Arbeit — enthalten, sind sie Werte. Ihre Wertgröße aber ist verschieden, je nachdem, ob sie von dieser Substanz mehr oder weniger enthalten. Worauf ist diese Unklarheit bei Ricardo, dem scharfsinnigen Theoretiker, zurückzuführen ? Sie hat die gleichen Ursachen wie die Einseitigkeiten und Mängel bei Smith. Auch Ricardo sah die bürgerliche Form der Arbeit als die natürliche Form der Arbeit, ihre Vergegenständlichung als Wert daher nicht als eine historische Erscheinung. Infolgedessen konnte er auch nicht den Unterschied im Charakter der Arbeit sehen, sofern sie Gebrauchswerte produziert und sofern sie den Wert der Ware bildet: konkrete und abstrakte Arbeit. Als konkrete nützliche Arbeit produziert die Arbeit Gebrauchswerte. Sie ist als solche Arbeit die Arbeit im Arbeitsprozeß, die subjektive Produktivkraft, die zusammen mit den Produktionsinstrumenten aus dem Arbeitsgegenstand Gebrauchswerte produziert, Produktionsmittel und Konsumtionsmittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Als abstrakt menschliche Arbeit bildet die Arbeit den Wert der Produkte. Sie ist als solche Arbeit die Arbeit im Wertbildungsprozeß, nur bestimmter Bruchteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, die vor den Warenproduzenten als ihre private Arbeit in ihren Arbeitsprodukten vergegenständlicht wird. So wie die Ware Einheit ist von Gebrauchswert und Wert, so ist die Arbeit Einheit von konkreter und nützlicher Arbeit, d. h. solcher Arbeit, die den Gebrauchswert der Waren produziert, und solcher Arbeit, die den Wert der Waren bildet. Daraus folgt aber, daß auch der Produktionsprozeß der Ware Einheit ist von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeß. Das ist eine für die weitere Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ganz entscheidende Erkenntnis: Die Ware ist Einheit von Gebrauchswert und Wert, ihr Produktionsprozeß Einheit von Arbeits- und Wertbildungsprozeß, weil die Arbeit — wie Marx es ') Ebd., S. 8.

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nennt — zwieschlächtigen Charakter hat: konkrete Arbeit, die den Gebrauchswert produziert, und abstrakte Arbeit, die den Wert bildet. Bereits Smith und Ricardo hatten entdeckt, daß der Wert durch die Arbeit bestimmt wird. Aber obwohl sie tatsächlich zwischen konkreter und abstrakter Arbeit unterschieden, taten sie dies nicht mit Bewußtsein, so daß sie nur die Wert große, nicht aber die Wertsubstanz analysierten. Infolgedessen begriffen sie weder den historischen Charakter des Wertes noch seinen gesellschaftlichen Charakter. Aus dieser Nichtunterscheidung der konkreten von der abstrakten Arbeit entspringt — wie Marx feststellt — einer der Grundmängel der klassischen bürgerlichen Ökonomie, „daß es ihr nie gelang, aus der Analyse der Ware und speziell des Warenwertes die Form des Wertes . . . herauszufinden".1) Es ist auch den bürgerlichen Nachfolgern Ricardos in der politischen Ökonomie nicht gelungen, diesen Mangel seiner Theorie zu überwinden. Auch sie unterschieden nicht die Substanz des Wertes von seiner Größe und vermochten nicht zu erkennen, daß der Wert einer Ware abhängt von dem Mehr oder Weniger der gemeinsamen Substanz, die in allen Waren, gleich welcher Art, vergegenständlicht ist.

Der Mehrwert Auch Ricardo untersucht den Mehrwert noch nicht als solchen, d. h. gesondert und getrennt von seinen besonderen Formen als Profit, Zins und Rente. Er spricht von „Profit" und meint den „Mehrwert", indem er den Profit nur auf den Arbeitslohn, d. h. auf die lebendige Arbeit bezieht und von der toten Arbeit dabei abstrahiert. Daneben untersucht er allerdings auch den Profit als solchen, als Mehrwert, bezogen auf das gesamte Kapital.2) Es liege so sehr... in der Natur der Sache, schreibt Marx, daß der Mehrwert nur mit Bezug auf das variable Kapital, das in Arbeitslohn direkt ausgelegte Kapital, behandelt werden kann..., daß Ricardo das ganze Kapital als variables Kapital behandelt und von dem konstanten Kapital abstrahiert.. .3) Ricardo wendet sich gegen die Smithsche Verwechslung zwischen der Bestimmung des Warenwertes durch die Arbeitsmenge, die zur Produktion der Ware erforderlich ist, und dem Wert der Arbeit bzw. der Entlohnung der Arbeit. Er eröffnet sein Buch daher auch mit der Feststellung, daß die Bestimmung des Warenwertes durch die Arbeitszeit dem Arbeitslohn nicht widerspreche.4) Ricardo wendet richtig gegen Smith ein, daß die relative Menge Arbeit, die in zwei Waren enthalten ist, in keiner Weise davon beKapital, Bd. I, S. 86. Vgl. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. II 1, S. 97 ff. 3) Ebd., S. 98. 4) Vgl. ebd., S. 112. 2)

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einflußt wird, wieviel von dieser Menge vergegenständlichte Arbeit den Arbeitern selbst zukommt, d. h., wie diese Arbeit entlohnt wird. 1 ) Der Wert der Ware, wendet Ricardo also gegen Smith ein, wird nicht durch die Teilung der Arbeit in bezahlte und unbezahlte Arbeit beeinflußt. Ricardo antwortete richtig, stellt Marx fest, daß A. Smith beide Ausdrücke — Menge der Arbeit und Wert der Arbeit — gebrauchen konnte, solange sie Äquivalent gewesen seien, also in der einfachen Warenproduktion. Dies sei aber kein Grund, beide Ausdrücke weiter zu gebrauchen, sobald sie aufgehört hätten, Äquivalent zu sein, also nach der ursprünglichen Akkumulation, in der kapitalistischen Produktionsweise. 2 ) Damit habe Ricardo keineswegs das Problem gelöst, das „der innere Grund von A. Smiths Widerspruch" sei, meint Marx. 3 ) „Werte der Arbeit" und „Menge der Arbeit" bleiben gleichbedeutende „Ausdrücke", soweit „es sich um vergegenständlichte Arbeit handelt. Sie hören auf, es zu sein, sobald vergegenständlichte Arbeit und lebendige Arbeit ausgetauscht werden." 4 ) Ricardo begnügte sich dagegen mit der Feststellung, daß der wechselnde Arbeitslohn die Bestimmung des Warenwertes durch die Arbeitszeit nicht aufhebe. „Mit der Konstatierung dieser Tatsache begnügt er sich. Aber wodurch unterscheidet sich die Ware Arbeit von den anderen Waren? Die eine ist lebendige Arbeit, die andere vergegenständlichte Arbeit. Es sind also n u r zwei verschiedene Formen Arbeit. Warum gilt f ü r die eine ein Gesetz, das nicht f ü r die andere gilt, da der Unterschied nur formell? Ricardo antwortet nicht, wirft nicht einmal die Frage auf", konstatiert Marx. 5 ) Hier ist das erste Problem, das Ricardo nicht zu lösen vermochte. Diese Schwäche seiner Theorie hat zur Auflösung der Ricardoschen Schule beigetragen. 6 ) Es ist das Problem, wie sich lebendige gegen tote Arbeit austauscht und wobei auf der Grundlage des Äquivalentenaustausches der Mehrwert kommt: Es ist das Grundproblem der politischen Ökonomie des Kapitalismus! Ricardo bestimmt den „Wert der Arbeit", d. h. den Arbeitslohn, durch die in einer gegebenen Gesellschaft traditionell notwendigen Lebensmittel f ü r die Erhaltung und Fortpflanzung der Arbeiter. Allerdings läßt er den Lohn durch Angebot und Nachfrage bestimmt sein, u m damit die Grundlage f ü r die sogenannte Lohnfondstheorie zu legen. Ricardo würde sofort das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis aufgefaßt haben — meint Marx —, hätte er statt vom „Wert der Arbeit" vom „Wert der Arbeitskraft" gesprochen. 7 ) Aber 1

) ) 3 ) 4 ) 5 )

Vgl. ebd., S. 114. Ebd., S. 114. Et>d. Ebd. Ebd., S. 115/116. Vgl. a. a. O., S. 119. 7 ) Ebd., S. 123. 2

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von dieser Verwechslung abgesehen, bestimmte er den Durchschnittslohn richtig.1) Ricardo entwickelt aber nur den relativen Mehrwert. Er geht davon aus, daß die Größe des Arbeitstages gegeben ist. „Nehmen wir an", schreibt Ricardo, „daß auf den früheren Stufen der Gesellschaft die Bögen und Pfeile des Jägers von gleichem Werte und gleicher Dauer wie der Kahn und die Geräte des Fischers wären, da sie beide das Produkt derselben Arbeitsmenge wären. Unter solchen Umständen würde der Wert des Hirsches, der Ertrag der Tagesarbeit des Jägers, genau gleich dem Werte des Tisches sein, des Ertrages der Tagesarbeit des Tischlers. Der relative Wert von Tisch und Wild wird ganz durch die in jedem verkörperte Arbeitsmenge bestimmt, welches auch immer das produktive Quantum sei, oder wie hoch oder niedrig im allgemeinen auch Lohn und Profit sein möchten."2) Und weiter schreibt Ricardo: „Der etwa als Lohn bezahlte Anteil ist für die Profitfrage von der allergrößten Bedeutung; denn es muß sofort erkannt werden, daß der Profit hoch oder niedrig sein würde, genau im Verhältnis, wie der Lohn niedrig oder hoch wäre. Aber das könnte den relativen Wert von Fisch und Wild nicht im geringsten beeinflussen, da der Lohn zur selben Zeit in beiden Beschäftigungen gleich hoch oder niedrig wäre."3) Lohn und Profit stehen also — wie Ricardo erkannt hat — im umgekehrten Verhältnis zueinander. Steigt der Lohn, so fällt der Profit, fällt der Lohn, so steigt der Profit. Der Wert des Ganzen wird durch die proportionale Aufteilung in Lohn und Profit nicht berührt. Ricardo stellt auch, wie Marx bemerkt, den richtigen Satz auf, daß alle technischen Fortschritte den Mehrwert erhöhen, weil und insofern diese Fortschritte den „Wert der Arbeit" herabsetzen.4) Marx stellt schließlich in seiner Kritik der Wertlehre Ricardos fest, daß „einige bei Ricardo selbst unterlaufenen Reflexionen" ihn „auf den Unterschied von Mehrwert und Profit" hätten bringen müssen. „Dadurch, daß er ihn nicht machte, scheint e r . . . stellenweise in die Vulgäfansieht zu fallen, daß der Profit ein bloßer Zuschlag über den Wert der Ware hinaus sei, so wenn er von Bestimmung des Profits von Kapital spricht, worin das fixe Kapital vorherrscht usw." Dieses Abgleiten in die Vulgärökonomie gibt den Nachfolgern Ricardos die Ansatzpunkte in die „Produktionskostentheorie". „Die Vulgäransicht muß hereinkommen", schreibt Marx, „wenn der Satz — der praktisch richtig ist —, daß im Durchschnitt Kapitalien von gleicher Größe gleiche Profite liefern, oder daß der Profit von der Größe des angewandten Kapitals abhängt — nicht durch eine Reihe Zwischenglieder vermittelt ist mit den allgemeinen Gesetzen über "den Wert usw., kurz, wenn Ebd. ) Ricardo, a. a. O., S. 25. 3 ) Ebd., S. 26. 4 ) Marx, a. a. O., S. 148. 2

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Profit und Mehrwert identifiziert werden, was n u r richtig ist f ü r das Gesamt kapital." 1 ) Und damit kommen wir zu dem Problem Wert u n d Produktionspreis, das ebenfalls — obwohl Ricardo es aussprach — f ü r ihn unlösbar blieb. Ricardos Betrachtungen über die organische Zusammensetzung des Kapitals gehen über die von A. Smith, ja der Physiokraten nicht hinaus. Er n i m m t die Zusammensetzung des Kapitals so, wie sie aus dem Zirkulationsprozeß entspringt, in fixes und zirkulierendes Kapital, u n d erkennt die dem P r o d u k tionsprozeß entstammende Zusammensetzung in konstantes u n d variables Kapital nicht. Hieraus ergeben sich verschiedene Mängel seiner Theorie, vor allem seine Verwechslung von Wert und Produktionspreis. 2 ) Und damit kommen wir zu dem Problem Wert u n d Produktionspreis, das •ebenfalls — obwohl Ricardo es aussprach — f ü r ihn unlösbar blieb.

Profit u n d Produktionspreis Ricardo stellt im 1. Kapitel seines Buches richtig dar, daß nicht n u r die Arbeitszeit der lebendigen, sondern auch die „Arbeitszeit" der toten Arbeit d e n Wert der W a r e bestimme. „Nicht bloß die unmittelbar auf die W a r e verwendete Arbeit beeinflußt deren Wert, sondern auch die in den Geräten, Werkzeugen u n d Gebäuden, welche dieser Arbeit dienen, enthaltene", heißt es bei Ricardo. 3 ) Kapital sei selbst in jenem f r ü h e r e n Zustande, auf „den sich A d a m Smith bezieht", notwendig, f ü g t e r hinzu. 4 ) In einem späteren Z u sammenhang schreibt Ricardo: „Man w i r d daher auf den f r ü h e r e n S t u f e n der Gesellschaft, ehe viel Maschinen oder d a u e r h a f t e s Kapital benutzt wurde, finden, daß die durch gleiche Kapitalien erzeugten Güter nahezu von gleichem Werte zu sein und im Vergleich miteinander n u r infolge der größeren oder geringeren Arbeitsmenge, die zu ihrer Produktion erforderlich ist, zu steigen oder zu sinken pflegen. Aber nach der E i n f ü h r u n g dieser kostspieligen und d a u e r h a f t e n Werkzeuge w e r d e n die durch V e r w e n d u n g gleicher Kapitalien produzierten Güter sehr ungleich im Wert sein; u n d obwohl sie i m m e r noch im Verhältnis zueinander einem Steigen oder Sinken, je nach d e r f ü r ihre Herstellung notwendig w e r d e n d e n größeren oder geringeren Arbeitsmenge, unterliegen werden, so w e r d e n sie doch noch einer weiteren, w e n n auch unerheblichen Veränderung infolge des Steigens oder Sinkens der Löhne u n d Profite u n t e r w o r f e n sein. Da Waren, welche f ü r 5000 P f u n d v e r k a u f t werden, das P r o d u k t eines Kapitals sein können, das seinem Betrage nach gleich ist dem, von welchem andere Waren produziert werden, die zu ») ) 3 ) 4 ) 2

Marx, a. a. O., S. 152. Marx, a. a. O., S. 152. Marx, a. a. O., S. 152. Ricardo, a. a. O., S. 22. 171

einem Preise von 10 000 Pfund verkauft werden, so werden die bei ihrer Herstellung erzielten Profite dieselben sein. Doch würden jene Profite sich ungleich gestalten, wenn die Preise der Waren sich nicht mit einem Steigen oder Sinken der Profitrate verändern." 1 ) Ricardo konstatiert hier also den Unterschied zwischen Wert der Waren und ihren Preisen, genauer: zwischen Warenwerten und Produktionspreisen. E r untersucht im 1. Kapitel seines Buches die verschiedenen Momente, die die Produktionspreise beeinflussen, wie z. B. die organische Zusammensetzung des Kapitals und seine Umschlagsgeschwindigkeit. Die „Manier" aber, wie Ricardo diese Untersuchung führte, stellt Marx fest, bestehe darin, daß er „eine allgemeine Profitrate oder einen Durchschnittsprofit von gleicher Größe für verschiedene Kapitalanlagen von gleicher Größe oder für verschiedene Produktionssphären, worin Kapitalien von gleicher Größe angewandt werden", unterstelle. 2 ) Ricardo unterstelle „Profit im Verhältnis zur Größe der in den verschiedenen Produktionssphären angewandten Kapitalien". 3 ) Ricardo untersucht aber nicht, inwieweit die E x i stenz einer solchen Durchschnittsprofitrate dem Wertgesetz entspricht, und er untersucht infolgedessen auch nicht, wie die Produktionspreise aus den Warenwerten sich herausbilden. Ricardo untersucht nur, wie — wenn seine an sich richtige Voraussetzung einmal gemacht ist — Steigen und Fallen des Arbeitslohnes auf die Warenwerte wirken, wenn die organische Zusammensetzung der Kapitalien eine verschiedene ist. Es kommt hierin der Mangel der wissenschaftlichen Methode Ricardos, von dem Wesen der Erscheinung unmittelbar — ohne Vermittlung — auf diese zu schließen, zum Ausdruck. „Was Ricardo schließen mußte", sagt Marx, „war das: erstens: Kapitalien von gleicher Größe produzieren Waren von ungleichen Werten und werfen daher ungleiche Mehrwerte oder Profite ab, weil der Wert durch die Arbeitszeit bestimmt ist und die Masse Arbeitszeit, die ein Kapital realisiert, nicht von seiner absoluten Größe abhängt, sondern von der Größe des variablen Kapitals, des in Arbeitslohn angelegten Kapitals; zweitens: Gesetzt selbst, daß gleich große Kapitalien gleiche Werte produzieren, so ist da nach ihrem Zirkulationsprozeß der Zeitraum verschieden, worin sie gleiche Quanten unbezahlte Arbeit aneignen und in Geld verwandeln können. Dieses gibt also eine zweite Differenz in den Werten, Mehrwerten und Profiten, die Kapitalien von gleicher Größe in verschiedenen Produktionszweigen in einem bestimmten Zeitraum abwerfen müssen." 4 ) Wenn also Kapitalien von gleicher Größe in gleichen Zeiträumen gleiche Profite abwerfen sollen, „so" — fügt Marx hinzu — „müssen die Preise der Waren von ihren Werten verschieden sein." 5 ) Die Waren werden nicht zu !) Ebd. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. II, S. 14. 3) Ebd. 4) Theorien über den Mehrwert, II, S. 36. 5) Ebd., S. 36. 2)

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ihren Werten, sondern zu Produktionspreisen verkauft, aber die Summe der Waren muß gleich ihren Werten sein, da der Gesamtprofit gleich dem Gesamtmehrwert ist, „den diese Kapitalien zusammen während eines Jahres zum Beispiel abwerfen". 1 ) Durchschnittsprofit und Produktionspreis wären „imaginär und haltlos", würde nicht die Wertbestimmung als Grundlage genommen. Die Ausgleichung der Mehrwerte zum Durchschnittsprofit ändert nichts an der absoluten Größe dieses Mehrwertes, sondern ändert nur seine Verteilung in den verschiedenen Produktionssphären. Da aber die Bestimmung des Mehrwertes selbst nur aus der Bestimmung des Wertes durch die Arbeitszeit hervorgeht, ist ohne diese Bestimmung der Durchschnittsprofit „Durchschnitt von Nichts, bloßes Hirngespinst. Und er könnte dann ebensowohl 1000 wie 10 Prozent sein". 2 ) Dies ist das zweite Problem, das für Ricardo unlösbar geblieben ist und an dem sein Nachfolger scheiterte! „Wie aus der bloßen Bestimmung des Wertes der Waren ihr Mehrwert, der Profit, und nun gar eine allgemeine Profitrate hervorgehen, bleibt Ricardo in Dunkel gehüllt." 3 ) Ricardo kommt zu dem Ergebnis, daß von der Arbeitszeit unabhängige Einflüsse die Werte selbst bestimmen und das Wertgesetz stellenweise aufheben.*) „Dieser ganze Irrtum Ricardos und die daher folgende falsche Darstellung der Grundrente usw." — schreibt Marx —, „ebenso die falschen Gesetze über die Rate des Profits usw. rühren daher, daß er Mehrwert nicht scheidet vom Profit, wie er überhaupt gleich den übrigen Ökonomen roh und begriffslos mit den Formbestimmungen verfährt." 5 )

Grundrente Auch in der Grundrententheorie hat Ricardo Beachtendes geleistet, obwohl er hier vielleicht am wenigsten „originell ist". „Ricardo" — schreibt Marx — „ist nicht der Erfinder der Rententheorie. West und Malthus hatten ihre Schriften darüber vor ihm drucken lassen. Aber die Quelle ist Anderson. Was Ricardo jedoch auszeichnet (obgleich auch bei West auch nicht ganz ohne richtigen Zusammenhang), ist der Zusammenhang der Grundrente bei ihm mit seiner Werttheorie. Malthus, wie seine spätere Polemik mit Ricardo über die Grundrente zeigt, hatte die von ihm adoptierte Andersonsche Theorie selbst nicht verstanden." 6 ) ') ) 3) 4) 5) *) 2

Ebd. Ebd., S. 36/37. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 71. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 1/1, S. 194. 173

Die historischen Bedingungen der Ricardoschen Rententheorie sind darin zu finden, daß die englischen Verhältnisse die einzigen waren, „worin sich das moderne Grundeigentum, das heißt das durch die kapitalistische Produktion modifizierte Grundeigentum, adäquat entwickelt hat". 1 ) Dazu kommen die aus den Kolonien geschöpften Anschauungen der Engländer und schließlich „die Voraussetzungen des beständigen Flusses des Kapitals aus einem Produktionszweig in den anderen, diese Grundvoraussetzung bei Ricardo", die nichts weiter heißt „als die Voraussetzung der Herrschaft der entwickelten kapitalistischen Produktion". 2 ) Ricardo eröffnet seine Untersuchung über die Grundrente mit der B e m e r kung, es bleibe zu untersuchen, „ob die Aneignung von Grund und Boden sowie die daraus folgende Entstehung der Rente in den relativen Werten der Güter irgendwie Veränderung erzeugen wird, die von der zu ihrer Produktion erforderlichen Arbeitsmenge unabhängig ist". 3 ) Ricardo stellt also die Theorie der Grundrente in unmittelbaren Zusammenhang mit der Werttheorie. Adam Smith könne mit seiner Ansicht „nicht recht haben", meint Ricardo, „daß die ursprüngliche Regel, welche den Tauschwert der Güter bestimmt, nämlich die f ü r ihre Produktion erforderliche, verhältnismäßige Arbeitsmenge, durch Aneignung von Grund und Boden und Bezahlung einer Rente überhaupt verändert werden kann". 4 ) Die Rente ist nach Ricardo „der Teil vom Ertrag der Erde, welcher dem Grundbesitzer f ü r die Benutzung der ursprünglichen und unzerstörbaren Kräfte des Bodens bezahlt wird". 5 ) Nach Ricardo existiert keine absolute, sondern nur eine Differentialrente. Er nimmt an, daß auf dem Boden, der keine Rente trägt, d e r Preis des Produktes gleich seinem Wert ist. Aus diesem Grunde müssen alle anderen — besseren — Böden eine Rente abwerfen. „Der Getreidepreis ist nicht hoch, weil eine Rente entrichtet wird, sondern eine Rente wird bezahlt, weil der Geldpreis hoch steht." 6 ) Die Rente als Differentialrente entsteht also dadurch, daß die Preise über den Wert der Produkte auf den besseren Böden steigen und daß die bestimmt werden durch den Wert des Produktes des schlechtesten Bodens. Das setzt, wie Marx bemerkt, voraus, daß die Nachfrage größer als das Angebot ist.7) Absolute Rente nach Ricardo könnte nur möglich sein, wenn die Nachfrage so hoch über das Angebot steigt, daß auch der schlechteste Boden eine Differenz zwischen Preis und Wert abwirft. Das kann aber nur in Ausnahmefällen vorkommen. In der Regel wirft der schlechteste Boden nach Ricardo — weil er nicht zwischen Wert und Produktionspreis unterscheidet, keine Rente ab.. ') ) 3 ) 4 ) 5 ) «) 7 ) 2

174

Theorien über den Mehrwert, Bd. II, S. 8. Ebd., S. 9. Ricardo, a. a. O., S. 52. Ebd., S. 65. Ebd., S. 52. Ebd., S. 61. Marx, a. a. O., S. 3.

4. Weitere klassische bürgerliche

Ökonomen

a) James Anderson (1739—1808) Anderson war ein schottischer Pächter, der in einer 1777 erschienenen Schrift „beiläufig die Natur der Rente erörterte", wie Marx schreibt. 1 ) In seiner Schrift: „An enquiry into the of the com laws" bekämpfte Anderson die von Smith gemachten Einwendungen gegen Ausfuhrprämien und Einfuhrzölle bei Getreide und wies sowohl die Smithsche Theorie zurück, daß die Rente ein Abzug vom Arbeitslohn sei, als auch die physiokratische Theorie von der Rente als einem naturalen Uberschußprodukt. Sein Buch erschien zu einer Zeit, wo James Steuart f ü r viele noch der herrschende Ökonom war und wo das ein J a h r f r ü h e r erschienene Werk von A. Smith die allgemeine A u f m e r k samkeit auf sich gezogen hatte. Anderson hat auch in seinen späteren Schriften keine „Ahnung von der Wichtigkeit seines Fundes gehabt", meint Marx, und seine Theorie wurde sowohl von 'Malthus als auch von West übernommen. 2 ) Ricardo, der offenbar Anderson nicht kannte, betrachtete, wie er in seiner „Vorrede" zu seinem Buch schrieb, 3 ) Malthus und West als Entdecker der Grundrententheorie, die er zu einem der wichtigsten Glieder im System der politischen Ökonomie machte und auf die Werttheorie begründete. Anderson erklärte die Rente aus der verschiedenen Fruchtbarkeit Böden.

der

Seine erste Schrift war — wie schon gesagt — eine Streitschrift über Zollschutz. Ihm lag — wie Marx bemerkt — „alle Untersuchung über das V e r hältnis seiner Rententheorie zum System der politischen Ökonomie fern". 4 ) Marx f ü h r t das darauf zurück, daß sein erstes Buch ein J a h r nach A. Smiths „Wealth of Nation" erschien, „also in einem Augenblick, wo überhaupt das System der politischen Ökonomie sich erst konsolidierte, denn Steuarts System war auch nur wenige Jahre vorher erschienen". 5 ) Anderson war aber — fügt Marx hinzu —, „was das Material a n b e t r i f f t . . . innerhalb des speziellen Gegenstandes, den er betrachtete . . . , unbedingt weiter als Ricardo". 6 ) Ricardo habe nur in seiner Rententheorie das ökonomische Phänomen der Erhöhung der Kornpreise von 1800 bis 1815 vor Augen. Nicht aus dem Grund und Boden, sondern aus dem Wert des Agrikulturproduktes, der auf dem Grund und Boden aufgewandten Arbeit also, erklärte Anderson die Rente. „Es ist nicht die Rente vom Boden, die den Preis seines Produktes bestimmt, sondern es ist der Preis dieses Produktes, der die Grundrente bestimmt", schreibt er. 7 ) ') 2 ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 7 )

Theorien über den Mehrwert, Bd. II, S. 304. Ebd., S. 305. Ricardo, a. a. O., S. 7. Marx, a. a. O., S. 319. Ebd. Ebd. Zitiert bei Marx, a. a. O., S. 333.

175

Der Preis des Agrikulturproduktes und weder dieses Produkt selbst noch das Land war damit als Quelle der Rente entdeckt. Damit war auch die physiokratische Auffassung der Rente, in die Smith gelegentlich wieder zurückfällt, beseitigt. Anderson erklärte die Rente aber aus der relativen und nicht aus der absoluten Fruchtbarkeit der Unfruchtbarkeit der Böden. „Die Erde kann durch chemische Einflüsse und Bearbeitung immer besser gemacht werden", schreibt er. „Unter einem rationellen Wirtschaftssystem kann die Produktivität des Bodens dahin gebracht werden, daß sie von J a h r zu J a h r steigt während eines Zeitraumes, für den keine Grenzen angegeben werden können, bis sie schließlich eine Höhe erreichen mag, von der wir uns zur Zeit kaum eine Vorstellung machen können." 1 ) Die absolute Produktivität des Bodens hat also nichts mit der Rente zu tun, und es ist eine glatte Fälschung zugunsten von Malthus, wenn z. B. Eduard Heimann behauptet, daß die von Anderson entdeckte Rententheorie auf dem sogenannten „Gesetz" vom abnehmenden Bodenertrag beruht. 2 ) Der letzte bezahlt keine Rente. Das Agrikulturprodukt wird zu einem von diesem letzten Boden bestimmten Marktpreis verkauft, der für das Produkt der besseren Böden einen mehr oder minder großen Überschuß läßt. Die Werttheorie beschäftigt Anderson nicht. Er unterscheidet daher auch nicht zwischen Wert und Produktionspreis. Bei dem Produkt des letzten Bodens fällt Preis und Wert zusammen, so daß er keine Rente zahlt. „Anderson sagt nicht, daß der letztbekannte Boden keine Rente tragen kann. Er sagt nur, daß, wenn es vorkommt, daß die Ausgaben, die Produktionskosten plus dem Durchschnittsprofit, so groß sind, daß die Differenz zwischen dem Marktpreis des Produktes und seinerfi Produktionspreis fortfällt, auch die Rente fortfällt, und daß dieses der Fall sein muß, wenn immer tiefer in die Skala gegangen wird." 3 ) Anderson erwähnt dabei die Notwendigkeit des einheitlichen Marktpreises ausdrücklich. 4 )

5. Marx' Kritik

des Systems

von Smith

und

Ricardo

Es sei „das große Verdienst Adam Smiths", schreibt Marx, „daß er gerade in den Kapiteln des ersten Buches (6., 7. und 8. Kapitel), wo er vom einfachen Warenaustausch und seinem Gesetz des Wertes übergeht zum Austausch zwischen vergegenständlichter und lebendiger Arbeit, zum Austausch zwischen Kapital und Lohnarbeit, zur Betrachtung von Profit und Grundrente im allgemeinen, kurz zum Ursprung des Mehrwertes —, daß er da fühlt, daß hier ein Riß eintritt; daß — wie immer vermittelt, eine Vermittlung, die er nicht ') 2) 3) 4) 176

Zitiert bei Marx, a. a. O., S. 333. Eduard Heimann, a. a. O., S. 114. Marx, a. a. O., S. 334/335. Ebd., S. 335.

begreift — das Gesetz im Resultat faktisch aufgehoben wird, mehr Arbeit gegen weniger Arbeit (vom Standpunkt des Arbeiters), weniger Arbeit gegen mehr Arbeit (vom Standpunkt des Kapitalisten) ausgetauscht wird; daß er hervorhebt..., daß mit der Akkumulation des Kapitals und dem Grundeigentum . . . eine neue Wendung, scheinbar (und faktisch als Resultat) ein Umschlag des Gesetzes des Wertes in sein Gegenteil stattfindet".1) Es sei die theoretische Stärke von Adam Smith, stellt Marx fest, daß er diesen Widerspruch fühle und betone. Es sei die theoretische Schwäche von Adam Smith, stellt Marx weiter fest, daß dieser Widerspruch ihn am Wertgesetz irre mache, d. h., daß Smith nicht einsehe, wie dieser Widerspruch dadurch eintrete, „daß die Arbeitskraft selbst zur Ware wird und daß bei dieser spezifischen Ware ihr Gebrauchswert, der also mit ihrem Tauschwert nichts zu tun hat, eben die den Tauschwert schaffende Energie ist".2) Diese mache Adam Smith schwankend und unsicher und ziehe ihm den festen Boden unter den Füßen weg, so daß er „nicht zur einheitlichen, theoretischen Gesamtanschauung der abstrakten allgemeinen Grundlagen des kapitalistischen Systems" gekommen sei.3) „Weil Adam Smith zwar der Sache nach, aber nicht ausdrücklich in der Form einer bestimmten, von ihren besonderen Formen unterschiedenen Kategorie den Mehrwert entwickelt, wirft er ihn hernach direkt mit den weiterentwickelten Formen des Profits unmittelbar zusammen. Dieser Fehler bleibt bei Ricardo und allen seinen Nachfolgern. Es entstehen daraus . . . eine Reihe Inkonsequenzen, ungelöste Widersprüche und Gedankenlosigkeiten, die die Ricardianer... scholastisch durch Redensarten zu lösen suchen. Der grobe Empirismus schlägt in falsche Metaphysik, Scholastik um, die sich abquält, unwegleugbare empirische Phänomene durch einfache formale Abstraktion aus dem allgemeinen Gesetz herzuleiten oder ihm gemäß zurecht zu raisonnieren."4) So wie bei Smith, so bleibt bei allen späteren bürgerlichen Ökonomen „der Mangel an theoretischem Sinn für Auffassung der Formenunterschiede der ökonomischen Verhältnisse Regel im groben Zugreifen nach und Interesse für den empirisch vorliegenden Stoff. Daher auch ihre Unfähigkeit, das Geld richtig aufzufassen, wo es sich nur um verschiedene Wandlungen in der Form des Tauschwertes handelt, während die Wertgröße unverändert bleibt."5) Smith bewegt sich „mit großer Naivität in einem fortwährenden Widerspruch", schreibt Marx an anderer Stelle.6)

2) 3) 4) 5) 6)

Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 151/152. Ebd., S. 152. Ebd. Marx, a. a. O., S. 153/154. Ebd., S. 158. Theorien über den Mehrwert, Bd. II, S. 2.

12 Behrens

177

Er verfolgte auf der einen Seite „den inneren Zusammenhang der ökonomischen Kategorie — oder den verborgenen Bau des bürgerlichen ökonomischen Systems". Auf der anderen Seite stellte Smith den Zusammenhang daneben, „wie er scheinbar in den Erscheinungen der Konkurrenz gegeben ist und sich also dem Unwissenschaftlichen Beobachter darstellt, ganz ebensogut wie dem in den Prozeß der bürgerlichen Produktion praktisch Befangenen und Interessierten". 1 ) Zwei Auffassungsweisen: eine wissenschaftliche, d. h. die theoretische A u f fassungsweise, die die Ursachen und die inneren Zusammenhänge der Erscheinungen erfaßt, und eine empirische, die sinnliche Gewißheit der unmittelbaren Erscheinung als gegeben hinnehmende Auffassungsweise, „laufen bei Smith nicht nur unbefangen nebeneinander, sondern durcheinander und widersprechen sich fortwährend. 2 ) Während die eine Auffassungsweise — die theoretische — „in den inneren Zusammenhang, sozusagen in die Physiologie des bürgerlichen Systems eindringt", begnügt sich die andere — die empirische — damit, daß sie „nur beschreibt, katalogisiert, erzählt und unter schematisierende Begriffsbestimmungen bringt", was sich in dem Lebensprozeß äußerlich z e i g t . . .2) Bei Smith sei dieser Widerspruch aber gerechtfertigt gewesen, meint Marx, da „sein Geschäft in der Tat ein doppeltes war". 3 ) Smith habe einerseits versucht, „in die innere Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft einzudringen", er habe andererseits aber „zum Teil erst ihre äußerlich erscheinenden Lebensformen zu beschreiben, ihren äußerlich erscheinenden Zusammenhang darzustellen und zum Teil auch für diese Erscheinungen die Nomenklatur zu finden und entsprechende Verstandsbegriffe" zu bilden, „sie also zum Teil erst in der Sprache und im Denkprozeß zu reproduzieren" gehabt.4) Smith habe die eine Arbeit so sehr wie die andere interessiert. Beide aber seien bei Smith unabhängig voneinander vor sich gegangen und daher sei bei ihm eine „ganz widersprechende Vorstellungsweise" herausgekommen, „die eine, die den inneren Zusammenhang mehr oder minder richtig ausspricht, die andere, die mit derselben Berechtigung und ohne irgendein inneres Verhältnis — ohne allen Zusammenhang mit der anderen Auffassungsweise — den erscheinenden Zusammenhang ausspricht".5) Die Smithsche Methode ist also entweder logisch oder historisch. Die für die wissenschaftliche Ökonomie einzige Methode der Einheit von Logik und Historik hat Smith nicht erreicht — und er konnte sie nach der Lage der Dinge bei dem geschichtlichen Stand der Entwicklung und bei dem erreichten Stand der wissenschaftlichen Einsicht — auch nicht erreichen. Auch sein ') ") 3) 4) 5) 178

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,

S. 2. S. 2/3. S. 3. S. 3.

großer Nachfolger und Vollender der wissenschaftlichen Ökonomie als bürgerlicher Ökonom, David Ricardo, erreichte diese Einheit von Logik und Historik in der Methode nicht. Adam Smith, den Marx an anderer Stelle einmal als den „Zusammenfassenden politischen Ökonomen der Manufakturperiode" charakterisiert, 1 ) war an die Grenze des f ü r einen bürgerlichen Ökonomen wissenschaftlich Möglichen gestoßen. Diese Grenze war eine durch seine Klassenlage bedingte Grenze. Daher konnte auch Ricardo sie nicht überschreiten. Sie war die Grenze der bürgerlichen Ökonomie auf ihrem höchsten Stand, in ihrer „Klassizität", um einen Ausdruck von Engels zu gebrauchen. „Um es ein f ü r allemal zu bemerken", schreibt Marx im „Kapital", Band I, in einer Fußnote, in der er eine scharfsinnige Kritik der bürgerlichen klassischen Ökonomie gibt, „verstehe ich unter klassischer politischer Ökonomie alle Ökonomie seit W. Petty, die den inneren Zusammenhang der bürgerlichen Produktionsverhältnisse erforscht im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt, f ü r eine plausible Verständlichmachung der sozusagen gröbsten Phänomene und den bürgerlichen Hausbedarf das von der wissenschaftlichen Ökonomie längst gelieferte Material stets von neuem wiederkaut, im übrigen aber sich darauf beschränkt, die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eigenen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren." 2 ) Die bürgerliche klassische Ökonomie ist noch wissenschaftliche Ökonomie, trotz ihrer als bürgerlicher Wissenschaft apologetischen Grundkonzeption, die Vulgärökonomie ist unwissenschaftliche, nichtwissenschaftliche Ökonomie, weil ihr apologetischer Grundcharakter ihren wissenschaftlichen Charakter völlig verdrängte. Aber die klassische Ökonomie wurde erst zur wissenschaftlichen Ökonomie, ihre Vorläufer waren zwar vorwissenschaftliche, aber keine vulgären Ökonomen. „Die klassische politische Ökonomie stößt annähernd auf den wahren Sachverhalt, ohne ihn jedoch bewußt zu formulieren", schreibt Marx ein andermal am gleichen Orte. „Sie kann das nicht, solange sie in ihrer bürgerlichen Haut steckt." 8 ) Sowohl bei Smith als auch bei Ricardo ergeben sich aus ihrer Klassenlage heraus Mängel ihrer wissenschaftlichen Methode, die ihr System gefährden. Sie suchen nach der richtigen Form f ü r den Inhalt, ohne in der Lage zu sein, Form und Inhalt in Übereinstimmung bringen zu können. Smith kannte die Probleme, er löste sie aber nicht. „Die Widersprüche A. Smiths haben das Bedeutende", schreibt Marx daher, „daß sie Probleme enthalten, die er zwar nicht löst, aber dadurch ausspricht, daß er sich widerspricht. Sein richtiger Instinkt in dieser Beziehung wird J

) Kapital, Bd. I, S. 365 (Fußnote 44). ) A. a. O., S. 87 (Fußnote 32). 3 ) Kapital, Bd. I, S. 568. 2

12*

179

dadurch bewiesen, daß seine Nachfolger gegeneinander bald die eine, bald die andere Seite aufnehmen."1) Wir wenden uns damit der Kritik des Systems von David Ricardo durch Marx zu. Es sei einer der Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie, schreibt Marx, daß es ihr nie gelang, aus der Analyse der Ware und spezieller des Warenwertes die Form des Wertes, die ihn eben zum Tauschwert macht, herauszufinden. Gerade in ihren besten Repräsentanten, wie A. Smith und Ricardo, behandele sie die Wertform als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst Äußerliches. Der Grund sei nicht allein, daß die Analyse der Wertgröße ihre Aufmerksamkeit ganz absorbiert. Er liege tiefer. „Die Wertform des Arbeitsproduktes ist die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht man notwendig auch das Spezifische der Wertform, also der Warenform, weiterentwickelt der Geldform, Kapitalform usw."2) Bei Ricardo hat das Wertgesetz allgemeine Bedeutung! Wo immer Menschen wirtschaften, tauschen sie auch nach dem Arbeitswert. Das Wertgesetz ist bei Ricardo also ein allgemeines, ein ewiges Gesetz, für alle Formen und Epochen des Wirtschaftslebens geltend. „Im übrigen behandelt Ricardo die bürgerliche Form der Arbeit als die ewige Naturform der gesellschaftlichen Arbeit. Den Urfischer und den Urjäger läßt er sofort als Warenbesitzer Fisch und Wild austauschen, im Verhältnis der in diesem Tauschwert vergegenständlichten Arbeit." 3 ) Die Methode Ricardos bestehe darin, schreibt Marx in den „Theorien über den Mehrwert", „von der Bestimmung der Wertgrößen der Waren durch die Arbeitszeit" auszugehen, um dann zu untersuchen, „ob die übrigen ökonomischen Verhältnisse, Kategorien, dieser Bestimmung des Wertes widersprechen oder wie weit sie dieselbe modifizieren".4) Marx deckt hier den Widerspruch zwischen Inhalt und Form bei Ricardo, zwischen System und Methode bei ihm auf, ein Widerspruch, der seiner idealistisch-metaphysischen Grundeinstellung entspricht. Wir werden auf diesen Punkt noch ausführlich eingehen. Es sei aber schon jetzt darauf hin') 2) 3) 4)

180

Theorien über den Mehrwert, Bd. I, a. a. O., S. 171. A. a. O., Bd. II, S. 2; Marx, Kapital, Bd. I, S. 86 (Fußnote 32). Ebd. Theorien über den Mehrwert, Bd. I, S. 171.

gewiesen, daß aus diesem — aus der Klassenlage Ricardos sich notwendig ergebenden — Widerspruch die Tatsache sich erklärt, daß Ricardo an den von ihm aufgeworfenen Problemen, die die — allerdings ins bürgerliche Bewußtsein gehobenen Probleme der kapitalistischen Produktionsweise sind, scheiterte. Ricardo erreichte in der Ökonomie, wie Hegel und Feuerbach in der Philosophie, den f ü r einen bürgerlichen Denker äußersten Punkt: Bewußtsein der Grundprobleme der bürgerlichen Produktionsweise. Um sie zu lösen, bedurfte es der Ersetzung der idealistisch-metaphysischen durch die materialistisch-dialektische Methode, um damit dem Inhalt der ökonomischen Theorie ihre adäquate Form zu geben. Das aber war nicht mehr vom bürgerlichen Standpunkt, sondern nur vom Standpunkt der Klasse aus möglich, die an der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Entwicklung nicht positiv interessiert war: vom Standpunkt der Arbeiterklasse. Man sehe „auf den ersten Blick", schreibt Marx, „sowohl die historische Berechtigung dieser Verfahrensart, ihre wissenschaftliche Notwendigkeit in der Geschichte der Ökonomie", aber — fügt er hinzu: zugleich auch „ihre wissenschaftliche Unzulänglichkeit", die sich nicht nur in der Darstellungsart, d. h. „formell" zeige, sondern auch „zu irrigen Resultaten" führe, „weil sie notwendige Mittelglieder überspringt und in unmittelbarer Weise die Konsequenz der ökonomischen Kategorien untereinander nachzuweisen sucht". 1 ) Die Untersuchungsweise Ricardos sei „historisch berechtigt und notwendig", stellt Marx fest. Mit Adam Smith habe sich die politische Ökonomie „zu einer großen Totalität entwickelt", gewissermaßen das Terrain, das sie umfaßt, abgeschlossen. Zwischen Smith und Ricardo habe es nur Detailuntersuchungen gegeben über produktive und unproduktive Arbeit, Geldwesen, Bevölkerungstheorie, Grundeigentum und Steuer. 2 ) Die Nachfolger von Adam Smith — „soweit sie nicht die Reaktion älterer, überwundener Auffassungsweisen gegen ihn darstellen" — hätten „stets A. Smith als ihre Unterlage" betrachtet. Sie seien in ihren Detailuntersuchungen und Betrachtungen „ungestört" fortgegangen, „sei es nun, daß sie an den esoterischen oder exoterischen Teil seines Werkes anknüpfen oder, was fast immer der Fall, beides durcheinanderwerfen". 3 ) Ricardo habe der Wissenschaft ein Halt zugerufen, schreibt Marx. „Die Grundlage, der Ausgangspunkt der Physiologie des bürgerlichen Systems — des Begreifens seines inneren organischen Zusammenhanges und Lebensprozesses — ist die Bestimmung des Wertes durch die Arbeitszeit." Und hiervon sei Ricardo ausgegangen und habe die Wissenschaft so gezwungen, „ihren bisherigen Schlendrian zu verlassen und sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie weit die übrigen von ihr entwickelten, dargelegten Ebd., S. 2. ) Ebd., S. 2. s ) Ebd., S. 3. 2

181

Kategorien — Produktions- und Verkehrsverhältnisse — dieser Grundlage, dem Ausgangspunkte entsprechen oder widersprechen", Ricardo habe die Wissenschaft gezwungen, sich darüber Rechenschaft abzulegen, „wieweit überhaupt die bloß die Erscheinungsformen des Prozesses wiedergebende, reproduzierende Wissenschaft, also auch diese Erscheinung selbst, der Grundlage entsprechen, auf der der innere Zusammenhang, die wirkliche Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft beruht". 1 ) Damit habe er die Frage aufgeworfen, „wie es sich überhaupt mit diesem Widerspruch zwischen der scheinbaren und der wirklichen Bewegung des Systems verhält". 2 ) Dies — die Bestimmung des Wertes durch die Arbeitszeit also, die Erkenntnis des Wesens der kapitalistischen Produktionsweise — sei die große historische Bedeutung Ricardos für die Wissenschaft, schließt Marx seine Würdigung. 3 ) Und mit diesem wissenschaftlichen Verdienst hänge eng der andere Verdienst Ricardos zusammen, daß er „den ökonomischen Gegensatz der Klassen — wie ihn der innere Zusammenhang zeigt — aufdeckt, ausspricht". 4 ) Damit werde der geschichtliche Kampf in der Ökonomie und der Entwicklungsprozeß entdeckt und „in seiner Wurzel aufgefaßt". 5 ) Und Marx fügt hieran eine nicht uninteressante Bemerkung: Carey habe Ricardo „daher als Vater des Kommunismus" denunziert. Marx zitiert Carey: „Das System des Herrn Ricardo ist eines der Z w i e t r a c h t . . . Es hat die Tendenz zur Erzeugung von Feindschaft zwischen Klassen und N a t i o n e n . . . Sein Buch ist das richtige Handbuch des Demagogen, der nach Macht strebt durch Bodenkonfiskation, Krieg und Plünderung." 6 ) Ergebe sich so der „große geschichtliche Wert der Ricardoschen Untersuchungsweise" und seine wissenschaftliche Bedeutung auf der einen Seite, so liege die „wissenschaftliche Mangelhaftigkeit seines Verfahrens" andererseits auf der Hand. Und hieraus ergebe sich die „außerordentlich sonderbare und notwendig verkehrte Architektonik seines Werkes". 7 ) Die Ricardosche Theorie sei ausschließlich in den ersten sechs Kapiteln seines 32 Kapitel umfassenden Werkes enthalten. Der andere Teil bestehe nur aus „Anwendungen, Erläuterungen und Zusätzen" zu diesen ersten sechs Kapiteln. „Die fehlerhafte Architektonik in dem theoretischen Teil, den ersten sechs Kapiteln, schreibt Marx, ist aber nicht zufällig, sondern gegeben durch die Untersuchungsweise Ricardos selbst und die bestimmte Aufgabe, die er seiner Forschung gestellt hatte. Sie drückt das wissenschaftlich Ungenügende dieser Untersuchungsweise selbst aus."8) ') Ebd., Ebd., 3) Ebd. 4) Ebd. 5) Ebd., Ebd. 7) Ebd., e) Ebd.,

2)

182

S. 3/4. S. 4. S. 4. S. 4/5 (von mir hervorgehoben, F. B.). S. 6 (von mir hervorgehoben, F. B.).

Es ist die metaphysische Behandlung des empirischen ökonomischen Stoffes, das — so können wir folgern — das wissenschaftlich Ungenügende der Ricardoschen Methode ausmacht und sich in der „fehlerhaften Architektonik" seines Werkes ausdrückt. Diese fehlerhafte Architektonik drückt — mit anderen Worten — einen Widerspruch zwischen Inhalt und Form in der klassischen bürgerlichen Ökonomie aus, der seine tiefste Ursache darin hat, daß das bürgerliche Bewußtsein nicht die Grundprobleme seiner Produktionsweise zugleich mit ihrer historischen Vergänglichkeit erfassen kann. Die bürgerliche Produktionsweise schlechthin erfaßt, damit werden ihre Grundprobleme — obwohl ausgesprochen und formuliert — aber unlösbar! Diese — unhistorische — Auffassung der bürgerlichen Produktionsweise, die dem von ihm richtig erfaßten Inhalt aufs tiefste widerspricht, ist also der große Mangel der Theorie Ricardos. Aber Dialektiker können auch die großen Denker des Bürgertums n u r sein, soweit sie Idealisten sind! Die materialistische Dialektik — das ist die wissenschaftliche Methode der Arbeiterklasse. Marx stellt fest, daß „das ganze Ricardosche W e r k . . . in seinen ersten zwei Kapiteln" enthalten sei. In diesen beiden Kapiteln, schreibt Marx, seien die entwickelten Kategorien der politischen Ökonomie, d. h. die „entwickelten bürgerlichen Produktionsprozesse", mit ihrem Prinzip, der Wertbestimmung konfrontiert. Diese beiden ersten Kapitel des Ricardoschen Werkes enthalten die Kritik Ricardos an der bisherigen Ökonomie. Sie „liefern durch diese Kritik einige ganz neue und überraschende Resultate, schreibt Marx. Daher der hohe theoretische Genuß, den diese zwei ersten Kapitel gewähren, da sie in gedrängter Kürze die Kritik des in die Breite ausgelaufenen und verlaufenen Alten geben und das ganze bürgerliche System der Ökonomie als einem Grundgesetz unterworfen darstellen, aus der Zertrennung und Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die Quintessenz herauskonzentrierend." 1 ) Diese theoretische Befriedigung gewähren die weiteren Kapitel nicht mehr, schreibt Marx weiter. „Auch hier werden wir stellenweise durch Originalität einzelner Entwicklungen gefesselt. Aber das Ganze erregt Abspannung und Langeweile. Der Fortgang ist keine Fortentwicklung mehr." 2 ) Auch Ricardo hat, obwohl seine Einsicht in die inneren Zusammenhänge der bürgerlichen Produktionsweise viel tiefer als die von Adam Smith war, die Einheit von Logik und Historik in der Methode, die Einheit von Theorie und Empirie nicht erreicht. Bei ihm ist die historische Forschung hinter Smith bedenklich zurückgeblieben! Marx zieht einen Vergleich der wissenschaftlichen Methode Smiths und Ricardos und kommt dabei zugleich zu einer Kritik der Ricardoschen Methode. Nachdem Smith den inneren Zusammenhang ausgesprochen habe, stellt Marx fest, beherrsche „ihn plötzlich wieder die Anschauung der Erscheinung, Ebd., S. 7/8. ) Ebd., S. 8.

2

183

der Zusammenhang der Sachen, wie er in der Konkurrent erscheint, und in der Konkurrenz erscheint alles immer verkehrt — stets auf den Kopf gestellt". 1 ) Bei Adam Smith kreuzen sich diese Auffassungen naiv, stellt Marx fest, „ohne daß er den Widerspruch gewahr wird". 2 ) Es sind also Theorie und Empirie, die bei Smith naiv nebeneinanderstehen und naiv durcheinandergehen. Bei Ricardo sei demgegenüber ein großer Fortschritt eingetreten. E r abstrahiere „im Bewußtsein von der Form der Konkurrenz, von dem Scheine der Konkurrenz, um die Gesetze als solche aufzufassen". 3 ) Aber auch Ricardo ist die methodologische Verbindung von Theorie und Empirie nicht gelungen. Er hat sich zwar bemüht, aus der Sphäre der sinnlichen Gewißheit zum Begriff, von der empirischen Forschung zum theoretischen System emporzusteigen, aber dies ist ihm nicht gelungen. „Einerseits ist ihm vorzuwerfen", schreibt Marx, „daß er nicht weit genug geht, nicht vollständig genug in der Abstraktion ist, andererseits, daß er die Erscheinungsform nur unmittelbar, direkt, als Gewähr oder Darstellung der allgemeinen Gesetze auffaßt, keineswegs sie entwickelt." 4 ) In bezug auf den ersten Vorwurf, schließt Marx, sei „seine Abstraktion zu unvollständig" und sie sei in bezug auf den zweiten Vorwurf „formale Abstraktion, die an und für sich falsch ist". 5 ) Was heißt das? Das heißt, daß Ricardo zwar versucht hat, die inneren Zusammenhänge, das Wesen der kapitalistischen Produktion zu begreifen, daß er aber zugleich die Oberflächenerscheinungen an Stelle dieser Zusammenhänge gesetzt hat. Und hier — in diesem Mangel — liegen bereits die Ansatzpunkte für die Auflösung der klassischen Schule begründet. Hier liegt ihr Auseinanderfallen in Vulgärökonomie einerseits, Formalismus und Historismus andererseits, durch ihre Entwicklung zur Apologetik des kapitalistischen Systems. Die wissenschaftliche Methode verlangt Abstraktion, d. h. Reduktion der Erscheinung auf den Begriff. Aber die wissenschaftliche Methode setzt zugleich voraus, daß die Begriffe, und zwar auch die einfachsten unji allgemeinsten Begriffe, konkret und nicht abstrakt sind, d. h. Einheit von Gegensätzen sind. Diese beiden Bedingungen der wissenschaftlichen Methode, Abstraktion im doppelten Sinne, erreichte die politische Ökonomie erst als politische Ökonomie der Arbeiterklasse. Damit verlassen wir die klassische bürgerliche Ökonomie und wenden uns der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse zu. Die bürgerliche Ökonomie ist in ihrer klassischen Periode bereits zur Apologetik geworden. Sie umfaßt — wie wir gesehen haben — beide Ele!) ) 3) ') 5) 2

184

Theorien über den Mehrwert, Bd. II/l, S. 72. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

mente der Ideologie in einer Klassengesellschaft: Wissenschaft und Apologetik. In ihrer klassischen Periode lagen diese beiden Elemente noch im K a m p f e miteinander innerhalb der bürgerlichen Ökonomie selbst. J e t z t t r e n n e n sie sich und werden je von einer der beiden Klassen der bürgerlichen Gesellschaft vertreten: die wissenschaftliche Ökonomie von der Arbeiterklasse, die apologetische Ökonomie von der bürgerlichen Klasse. Daher gibt es nach der Klassik nicht m e h r eine, sondern zwei Ökonomien: die politische Ökonomie der Arbeiterklasse und die bürgerliche Ökonomie, die wegen ihres apologetischen Inhalts zuletzt auch in ihrer F o r m zur Vulgärökonomie entartet. Mit der Aufdeckung des Interessengegensatzes von Lohnarbeit u n d Kapital durch David Ricardo w a r auch der n u r vorübergehende, der historische Char a k t e r der bürgerlichen Produktionsweise durch die bürgerliche Ökonomie ausgesprochen worden. „Damit aber w a r auch die bürgerliche Wissenschaft der Ökonomie bei ihrer unüberschreitbaren Schranke angelangt", schreibt Marx. 1 ) Der sich immer m e h r verschärfende Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat und sein immer deutlicher zutage tretender C h a r a k t e r w a r also die Ursache f ü r die Veränderung im C h a r a k t e r der politischen Ökonomie. Die Grenze der wissenschaftlichen Ökonomie als bürgerliche Ökonomie w a r erreicht. Jetzt w a r wissenschaftliche Ökonomie als bürgerliche Ökonomie nicht m e h r möglich, u n d die bürgerliche Ökonomie t r a t in immer schärferen Gegensatz zur wissenschaftlichen Ökonomie, zur politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.

Literatur

und

Quellen

K a r l Marx:

Theorien über den Mehrwert, Bd. I bis Bd. III.

ders.

Kapital, Bd. I bis Bd. III.

ders.

Zur Kritik der politischen Ökonomie.

Friedrich Engels:

Der Deutsche Bauernkrieg, Berlin 1946.

Franz Mehring:

Die Lessing-Legende, Berlin 1926.

Joseph Schumpeter:

Epochen der Dogmen- u n d Methodengeschichten, T ü bingen 1924. Entwicklungsgang der wirtschafts- u n d sozialpolitischen Systeme, Tübingen 1924.

E. v. Philliperich: Adolf Damaschke:

Geschichte der Nationalökonomie, 12. Auflage, J e n a 1920, Bd. I.

Edgar Salin:

Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Berlin 1923.

') Kapital, Bd. I, S. 12. 18o

mente der Ideologie in einer Klassengesellschaft: Wissenschaft und Apologetik. In ihrer klassischen Periode lagen diese beiden Elemente noch im K a m p f e miteinander innerhalb der bürgerlichen Ökonomie selbst. J e t z t t r e n n e n sie sich und werden je von einer der beiden Klassen der bürgerlichen Gesellschaft vertreten: die wissenschaftliche Ökonomie von der Arbeiterklasse, die apologetische Ökonomie von der bürgerlichen Klasse. Daher gibt es nach der Klassik nicht m e h r eine, sondern zwei Ökonomien: die politische Ökonomie der Arbeiterklasse und die bürgerliche Ökonomie, die wegen ihres apologetischen Inhalts zuletzt auch in ihrer F o r m zur Vulgärökonomie entartet. Mit der Aufdeckung des Interessengegensatzes von Lohnarbeit u n d Kapital durch David Ricardo w a r auch der n u r vorübergehende, der historische Char a k t e r der bürgerlichen Produktionsweise durch die bürgerliche Ökonomie ausgesprochen worden. „Damit aber w a r auch die bürgerliche Wissenschaft der Ökonomie bei ihrer unüberschreitbaren Schranke angelangt", schreibt Marx. 1 ) Der sich immer m e h r verschärfende Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat und sein immer deutlicher zutage tretender C h a r a k t e r w a r also die Ursache f ü r die Veränderung im C h a r a k t e r der politischen Ökonomie. Die Grenze der wissenschaftlichen Ökonomie als bürgerliche Ökonomie w a r erreicht. Jetzt w a r wissenschaftliche Ökonomie als bürgerliche Ökonomie nicht m e h r möglich, u n d die bürgerliche Ökonomie t r a t in immer schärferen Gegensatz zur wissenschaftlichen Ökonomie, zur politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.

Literatur

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Die Lessing-Legende, Berlin 1926.

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E. v. Philliperich: Adolf Damaschke:

Geschichte der Nationalökonomie, 12. Auflage, J e n a 1920, Bd. I.

Edgar Salin:

Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Berlin 1923.

') Kapital, Bd. I, S. 12. 18o

Roscher: ders. Schacht: A. Oncken:

ders. Julius Kautz:

Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland, München 1874. Zur Geschichte der englischen Volkswirtschaftslehre. Der theoretische Gehalt des englischen Merkantilismus, Berlin 1900. Entstehung und Werden der physiokratischen Theorie, vierteljährliche Schrift für Staats-und Volkswirtschaft, V. Band, Leipzig 1895 (97). Geschichte der Nationalökonomie, Erster Teil (Zweiter Teil nicht erschienen), Leipzig 1902. Theorie und Geschichte der Nationalökonomie, Zweiter Teil, Literaturgeschichte der Nationalökonomie, Wien 1860.

W. Roscher:

Geschichte der München 1874.

Fr. v. Sivers:

Turgots Stellung in der Geschichte der Nationalökonomie, Jahrhefte für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 23, 1874. Physiokratisches System, Artikel im H. d. st. w., 3. Auflage, Bd. VI, 1913, S. 1039 ff. Zur Geschichte des Physiokratismus, Quesnay-ComnayTurgot, Göttingen 1947. Die Volkswirtschaftslehre des Absolutismus, München 1914. Die alten Kameralisten, Jena 1914. Die ökonomischen Kameralisten, Wien 1920. Staatswirtschaftslehre des Kameralismus, Bern 1947. Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Berlin, 2. Auflage, 1951.

W. Lexis: G. Koller: F. K. Mann: Zielenziger: Sommer: Anton Tautscher: Jürgen Kuczynski: E. F. Heckscher: A. Oncken: Hasbach:

Stephan Bauer: Thomas Mun:

186

Nationalökonomie

in

Deutschland,

Der Merkantilismus, 2 Bände, Jena 1922. Zur Geschichte der Physiokratie, Jahrbuch für Gesetzgebung, 1893. Die allgemeinen Grundlagen der von Quesnay und A. Smith begründeten politischen Ökonomie, Leipzig 1890. Zur Entstehung der Physiokratie, Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, 1890. Englands Schatz durch den Außenhandel. Nach der Originalausgabe ins Deutsche übertragen von Dr. R. Bisch, Wien und Leipzig 1911.

Richard Cantillon:

François Quesnay:

Anne R. J. Turgot:

Adam Smith:

David Ricardo:

Abhandlung über die Natur des Handels im allgemeinen. Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister Bd. 25, Jena 1931. Allgemeine Grundsätze der wirtschaftlichen Regierung eines ackerbautreibenden Reiches. Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Jena 1921. Betrachtungen über die Bildung und die Verteilung des Reichtums. Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Jena 1924. Untersuchung über Natur und Ursachen des Volkswohlstandes. Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 11 und 12, Jena 1923. Grundsätze der Volkswirtschaft und Besteuerung, a. a. O., Jena 1923.

187

3. K A P I T E L

DIE WISSENSCHAFTLICHE Ö K O N O M I E DIE POLITISCHE ÖKONOMIE DES MARXISMUS-LENINISMUS A. Die Kritik der bürgerlichen Ökonomie durch Marx — *) 1. Die kritische Überwindung der klassischen bürgerlichen Ökonomie durch Marx „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist", schrieb Lenin in seiner Arbeit über die „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus" im Jahre 1913. „Sie ist in sich abgeschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt. Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus geschaffen hat."2) Selbst von den Gegnern von Marx werde die bewundernswerte Folgerichtigkeit und Geschlossenheit seiner Anschauungen anerkannt, schreibt Lenin an anderer Stelle in seiner Schrift „Karl Marx, eine Einführung in den Marxismus", eine Folgerichtigkeit, „die in ihrer Gesamtheit den modernen Materialismus und den modernen wissenschaftlichen Sozialismus als Theorie und Programm der Arbeiterbewegung in allen zivilisierten Ländern der Welt ergeben".8) Die Folgerichtigkeit und die Geschlossenheit der marxistischen politischen Ökonomie kommt in ihrer wissenschaftlichen „Vollendung" zum Ausdruck. Diese Vollendung ist nicht eine einfache Weiterführung auf der erreichten Ebene, sondern ein qualitativer Sprung, d. h. „eine echte Entscheidung, eine Revolution" in der Wissenschaft.4) Der Marxismus hat, insbesondere auf dem Gebiet der Philosophie und der politischen Ökonomie, die bürgerlichen Theorien, soweit sie wissenschaftlichen Charakter hatten, „bis zu Ende konsequent und wissenschaftlich" weitergeführt. Aber nicht darin besteht seine entscheidende Leistung und umwälzende Bedeutung. Seine entscheidende Leistung und umwälzende Bedeutung besteht vielmehr gerade darin, daß er etwas qualitativ Neues, eine Revo1)

Die Abschnitte 1, 2 und 4 sind, nur unwesentlich überarbeitet, meiner Schrift „Zur Methode der politischen Ökonomie", Berlin 1952, entnommen. 2 ) Lenin, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, S. 61/62. ;l) Berlin 1945, S. 7. 4 ) A. Shdanow, Kritische Bemerkungen zu dem Buche F. G. Alexandrow, Berlin 1950, S. 6.

189

lution auf dem Gebiet der Wissenschaft darstellt. Diese Revolution besteht darin, daß die Wissenschaft von jeder idealistischen und metaphysischen Grundkonzeption befreit und auf die Grundlage des dialektischen Materialismus gestellt wird. Das gilt natürlich auch von der Wissenschaft, von der Ökonomie, von der politischen Ökonomie. „Soweit sie bürgerlich ist, d. h. die kapitalistische Ordnung statt als geschichtlich vorübergehende Entwicklungsstufe, umgekehrt als absolute und letzte Gestalt der gesellschaftlichen P r o duktion auffaßt, kann die politische Ökonomie nur Wissenschaft bleiben,, solange der Klassenkampf latent bleibt oder sich in nur vereinzelten Erscheinungen offenbart", schrieb Marx im Nachwort zur 2. Auflage des 1. Bandes des „Kapitals". 1 ) Das Jahr 1830 war nach Marx das Jahr der „ein f ü r allemal entscheidenden Krise". 2 ) In Frankreich und in England hatte die Bourgeoisie die politische Macht erobert. „Von da an gewann der Klassenkampf praktisch und theoretisch mehr und mehr ausgesprochene und drohende Formen. E r läutete die Totenglocke der wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie ein." 3 ) Die auch der klassischen bürgerlichen Ökonomie bereits anhaftende apologetische Grundkonzeption trat immer stärker in den Vordergrund. Sie entartet zur reinen Apologetik der kapitalistischen Produktionsweise und der Ausbeutung und Unterdrückung des Volkes durch die Bourgeoisie, und die in ihr schon immer enthaltenen Elemente der „VulgärÖkonomie" verdrängten die wissenschaftlichen Elemente völlig. Der Umschlag in die neue Qualität der marxistischen politischen Ökonomie war also bedingt durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die Zuspitzung des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Friedrich Engels geht in seiner Schrift über „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" auf die historischen Ursachen dieses revolutionären Umschlages in der Gesellschaftswissenschaft ein. Während der Umschlag in der Naturanschauung nur in dem Maße sich vollziehen konnte, schreibt Engels, als die Forschung den entsprechenden Erkenntnisstoff lieferte, hatten sich schon viel f r ü h e r historische Tatsachen geltend gemacht, die f ü r die Geschichtsauffassung eine entscheidende Wendung herbeiführten. „1831 hatte in Lyon der erste Arbeiteraufstand stattgefunden; 1838 bis 1842 erreichte die erste nationale Arbeiterbewegung, die der englischen Chartisten, ihren Höhepunkt. Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie trat in den Vordergrund der Geschichte der fortgeschrittensten Länder Europas in demselben Maße, wie sich dort einerseits die große Industrie, andererseits die neueroberte politische Herrschaft der Bourgeoisie entwickelte. Die Lehren der bürgerlichen Ökonomie von der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit, von der allgemeinen Harmonie und dem allgemeinen A. a. O., S. 11/12. ) Ebd., S. 13. 3 ) Ebd. 2

190

Volkswohlstand als Folge der freien Konkurrenz wurden immer schlagender von den Tatsachen Lügen gestraft." 1 ) Seit 1830 haben sich die Verhältnisse so vereinfacht, daß der Kampf der großen Klasse der Kapitalisten offen zutage liege, schreibt Engels im „Ludwig Feuerbach". 2 ) Man müsse schon die Augen absichtlich verschließen, um in den fortgeschrittensten Ländern den Kampf der Klassen und den Widerstand ihrer Interessen nicht als treibende K r a f t der modernen Geschichte zu sehen.3) Die bürgerlichen Ökonomen aber verschlossen die Augen absichtlich vor diesen offen vor Augen liegenden Tatsachen. Dieser Umschlag in eine neue Qualität bedeutet nicht nur, daß die marxistische Ökonomie die wissenschaftliche Tradition der bürgerlichen Ökonomie weiterführte, nachdem diese die Grenze erreicht hatte, w o sie noch wissenschaftlich sein konnte, -trotz der aus ihrem Klasseninhalt sich ergebenden apologetischen Grundkonzeption, sondern daß die eigentlich wissenschaftliche, auf dem dialektischen Materialismus beruhende politische Ökonomie entstand. Erst der dialektische Materialismus schuf die Grundlagen f ü r eine wirkliche Wissenschaft von der politischen Ökonomie. Die politische Ökonomie entwickelte sich also als bürgerliche Ökonomie bis zu einer bestimmten Stufe als wissenschaftliche Ökonomie, trotz der aus ihrer Klassenbasis sich ergebenden philosophischen, idealistischen und metaphysischen Grundkonzeption. Sie erreichte ihre Grenze als wissenschaftliche bürgerliche Ö k o nomie, als ihre idealistisch-metaphysische Grundkonzeption zu ihrem wissenschaftlichen Gehalt mit der Reife der bürgerlichen Produktionsverhältnisse in Gegensatz geriet. Jetzt konnte es eine wissenschaftliche Weiterentwicklung der bürgerlichen Ökonomie nicht mehr geben. „Schon verschiedene Jahrhunderte lang haben die Kapitalisten schon M e h r wert produziert", seihreibt Engels im V o r w o r t des von ihm herausgegebenen zweiten Bandes des „Kapitals" im Jahre 1885, „und sie seien allmählich auch dahin gekommen, sich über die Entstehung des Mehrwertes Gedanken zu machen. Die erste Ansicht, die hierbei entwickelt wurde", fuhr Engels fort, „sei die merkantilistische gewesen, nämlich, daß der Mehrwert aus einem Aufschlag auf den Wert des Produktes entstehe. Aber schon James Steuart habe eingesehen", schrieb Engels, „daß dabei, was der eine gewinnt, der andere notwendig verlieren muß. Diese Ansicht", meinte Engels, „spuke trotzdem noch lange fort. Sie sei aus der klassischen Wissenschaft aber durch A. Smith verdrängt worden." 4 ) Sowohl Smith als auch Ricardo sind zwar bis an das entscheidende Problem herangekommen, jedoch lösten sie es nicht, und w o sie richtige Gedanken äußerten, taten sie dies unsystematisch und mehr zufällig. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus usw.; Marx-Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. II, S. 124. 2) A.a.O., S. 367. 3) Ebd. 4) Kapital, Bd. II, Berlin 1948, S. 9. 191

„Die Existenz des Mehrwertes sei zwar schon lange vor Marx festgestellt worden", schreibt Engels daher an gleicher Stelle, „und ebenso sei schon vor Marx mit größerer und geringerer Klarheit ausgesprochen worden, woraus er bestehe, nämlich aus dem Produkt der Arbeit, für welche der Aneigner kein Äquivalent gezahlt habe. Weiter aber kam man nicht. Die einen — die klassischen bürgerlichen Ökonomen — untersuchten höchstens die Größenverhältnisse, worin das Arbeitsprodukt verteilt wird zwischen dem Arbeiter und dem Besitzer der Produktionsmittel. Die anderen — die Sozialisten — fanden diese Verteilung ungerecht und suchten nach utopischen Mitteln, die Ungerechtigkeit zu beseitigen. 1 ) Beide blieben noch in den ökonomischen Kategorien, die sie vorgefunden hatten, befangen", schließt Engels. Marx aber habe in direktem Gegensatz zu allen seinen Vorgängern doch nur ein Problem gesehen, wo diese eine Lösung gesehen hatten. Marx sah, daß es sich hier weder um die bloße Konstatierung einer ökonomischen Tatsache, noch um den Konflikt dieser Tatsache mit der ewigen Gerechtigkeit und der wahren Moral handelt, sondern um eine Tatsache, die berufen war, die ganze Ökonomie umzuwälzen, und die für das Verständnis der gesamten kapitalistischen Produktion den Schlüssel bot — für den, der ihn zu gebrauchen wußte. Marx habe daher an der Hand dieser Tatsache die sämtlichen vorgefundenen Kategorien untersucht. Um zu wissen, was der Mehrwert war, mußte er wissen, was der Wert war. Ricardos Werttheorie selbst mußte vor allem der Kritik unterworfen werden. Marx zeigte die wertbildende Qualität der Arbeit auf und stellte zum ersten Male fest, welche Arbeit, und warum, und wie sie Wert bildet, und daß der Wert überhaupt nichts ist als festgeronnene Arbeit dieser Art. Marx untersuchte dann das Verhältnis von Ware und Geld und wies an Hand des immanenten Widerspruches der Ware, des Widerspruches ihrer beiden gegensätzlichen Eigenschaften, Gebrauchswert und Wert, nach, daß der Warenaustausch den Gegensatz von Ware und Geld erzeugen mußte. Hierauf gründet sich die marxistische Geldtheorie. Marx untersuchte ferner die Verwandlung von Geld in Kapital und zeigte, daß sie auf dem Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft beruht. Indem er hier die Arbeitskraft, die wertschaffende Eigenschaft an die Stelle der Arbeit setzte, löste er mit einem Schlage die Schwierigkeiten, an der die Ricardosche Schule zugrunde gegangen war: die Unmöglichkeit, den gegenseitigen Austausch von Kapital und Arbeit in Einklang zu bringen mit dem Ricardoschen Gesetz der Wertbestimmung durch Arbeit. 2 ) Marx' Unterscheidung des Kapitals in konstantes und variables beruht auf dem Prozeß der Mehrwertbildung in seinem wirklichen Hergang und führte ihn zu dem des Mehrwertes in seinen beiden Formen: absoluter und relativer Mehrwert, und wies die verschiedene, aber beidemal entscheidende Rolle nach, die sie in der geschichtlichen Entwicklung der kapitalistischen Produktion gespielt. Auf der J

) Ebd., S. 16. ) Ebd., S. 17.

2

192

Grundlage des Mehrwertes entwickelte er die erste rationelle Theorie des Arbeitslohnes, die wir haben, und gab zum ersten Male die Grundzüge einer Geschichte der kapitalistischen Akkumulation und eine Darstellung ihrer geschichtlichen Tendenz. 1 ) Das sind die wichtigsten Leistungen von Marx auf ökonomischem Gebiet, die Engels in zusammengedrängtester Form aufzeigte. Marx überwand somit kritisch die klassische bürgerliche Ökonomie. Er schuf dadurch ein wissenschaftliches System, dessen „Schlußfolgerungen bis zu Ende konsequent und wissenschaftlich waren". Aber diese kritische Überwindung der klassischen bürgerlichen Ökonomie bedeutet zugleich, daß aus der bürgerlich beschränkten, auf idealistisch-metaphysischer Grundkonzeption beruhenden politischen Ökonomie die auf dem dialektischen Materialismus beruhende proletarische politische Ökonomie wurde. Indem Marx die klassische bürgerliche Ökonomie mit ihrer Einseitigkeit und mit ihren Unzulänglichkeiten kritisch überwand, schuf er ein qualitativ neues System. Dieses neue System der politischen Ökonomie ist die Fortsetzung der klassischen bürgerlichen Ökonomie als der wissenschaftlichen Ökonomie, und zwar die einzige Fortsetzung und daher die einzige wissenschaftliche Ökonomie! Aber das ist nur die eine Seite! Die andere Seite der Kritik der bürgerlichen Ökonomie durch Marx war die Fortsetzung der bürgerlichen Ökonomie und Lösung der offengebliebenen Probleme durch Marx. Die klassische bürgerliche Ökonomie war der höchste Standpunkt, den bürgerliche Ökonomen als wissenschaftliche Ökonomen erreichen konnten. Er war ein notwendiger Standpunkt. Die Irrtümer und Fehler der klassischen Ökonomen waren insofern keine zufälligen, subjektiven Irrtümer und Fehler, sondern entsprangen ihrem klassenmäßigen Standpunkt. Ihre Überwindung und die Erreichung eines höheren Standpunktes war nur auf neuer, klassenmäßiger Grundlage, vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus möglich. Die Widerlegung der klassischen Ökonomie war auch die Überwindung ihrer Fehler und Irrtümer und die Aufbewahrung ihrer Wahrheiten in einem neuen, höheren theoretischen System auf anderer, klassenmäßiger Basis. Wir haben bereits gesehen, daß sowohl Smith als auch Ricardo das Grundproblem der politischen Ökonomie, den Ursprung und die Entstehung des Mehrwertes, nicht lösen konnten, obwohl sie nahe an die Lösung herangekommen waren. „Die Ricardosche Schule scheiterte gegen 1830 am Mehrwert", schreibt Engels. „Was sie nicht lösen konnte, blieb erst recht unlösbar für ihre Nachfolgerin, die Vulgärökonomie." 2 ) Die beiden Punkte, an denen sie zugrunde ging, waren erstens der Austausch toter gegen lebendige Arbeit, die Tatsache, 1) Vorwort zum Kapital, Bd. II, a. a. O., S. 17. Engels, a. a. O., S. 18.

2)

13 Behrens

193

daß der Kapitalist, obwohl er mit den Lohnarbeitern auf der Grundlage des Wertgesetzes austauscht, einen größeren Wert erhält, als er ihnen gibt, und zweitens die Tatsache, daß gleiche Kapitalien gleiche Profite realisieren, obwohl die produzierten Mehrwerte verschieden groß sind. Das sind die beiden Widersprüche, die die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie nicht zu lösen vermochten. An diesen Widersprüchen, die aber nicht im subjektiven U n vermögen der bürgerlichen Ökonomen beruhen, sondern die objektiven gesellschaftlichen Erscheinungen widerspiegeln, zersetzte sich die klassische Schule der bürgerlichen Ökonomie. Diese Widersprüche w a r e n n u r zu lösen vom gesellschaftlichen Standpunkt der Arbeiterklasse. Deswegen k a n n n u r die politische Ökonomie vom Standpunkt der Arbeiterklasse eine wissenschaftliche Ökonomie im eigentlichen Sinne sein, weil n u r sie eine sozialistische Wissenschaft, eine von allen Einseitigkeiten und Mängeln der bürgerlichen Wissenschaft befreite Wissenschaft ist. So, wie Hegel als bürgerlicher Philosoph mit seiner Dialektik als der „Lehre von der Einheit der Gegensätze" 1 ) die höchstmögliche Einsicht in der Philosophie vom Standpunkt der b ü r g e r lichen Klasse erreichte, so erreichten Smith u n d Ricardo mit ihrer Arbeitswerttheorie den f ü r das B ü r g e r t u m höchstmöglichen Stand in der Ökonomie. Aber so, wie Hegel „in einen ausweglosen Widerspruch mit der dialektischen Methode geriet, die er selbst erraten, aber nicht verstanden und deshalb falsch angewandt hatte", 2 ) so gerieten Smith u n d Ricardo in einen ausweglosen Widerspruch mit der Arbeitswerttheorie, die sie ebenfalls n u r erraten, aber nicht verstanden und deshalb falsch angewandt hatten. Was die Dialektik bei Hegel, das ist die Arbeitswerttheorie bei Smith u n d Ricardo. Beide f ü h r e n in der Weiterentwicklung zu revolutionären Konsequenzen. Diese aber konnten n u r vom Standpunkt der Arbeiterklasse gezogen werden. 3 ) Indem Marx diese Konsequenzen zog, schuf er die wissenschaftliche Ökonomie der Arbeiterklasse, die politische Ökonomie auf der Grundlage des dialektischen Materialismus.

2. Lehren und Werke von Marx und

Engels

K a r l Marx w u r d e am 5. Mai 1818 als Sohn eines Rechtsanwalts in Trier geboren. Friedrich Engels w u r d e am 28. November 1820 in Barmen, dem ') Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 145. ) Shdanow, a. a. O., S. 9. 3 ) „Seit der Auflösung der Ricardoschule (Zwanziger Jahre) hat die bürgerliche Ökonomie, seit der Auflösung des Hegelianismus (Dreißiger Jahre, Vierziger Jahre) die bürgerliche Philosophie nichts Originelles und Vorwärtsweisendes mehr herausgebracht. Beide Gebiete werden völlig von dem Apologetischen Kapitalismus beherrscht." Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 244. 2

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Zentrum der rheinischen Textilindustrie, als Sohn eines wohlhabenden Fabrikanten, Inhabers einer Spitzenfabrik, geboren. Obwohl beide — Marx und Engels — nicht selbst der Arbeiterklasse entstammten, stießen sie als konsequente bürgerlich-demokratische Revolutionäre früh zur Arbeiterklasse. Nachdem Marx das Gymnasium in Trier besucht hatte, studierte er erst in Bonn, dann in Berlin Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie und beendete 1841 sein Universitätsstudium mit einer Doktordissertation in Jena über die Philosophie Epikurs. Marx war zu dieser Zeit Anhänger Hegels und gehörte in Berlin zu dem Kreis der „linken Hegelianer", die aus der Hegelschen Philosophie atheistische und revolutionäre Konsequenzen zu ziehen suchten. Nach der Beendigung seines Studiums übersiedelte Marx nach Bonn, um eine Professur zu übernehmen. Die reaktionäre preußische Regierung, die bereits im Jahre 1832 den Philosophen Ludwig Feuerbach des Lehrstuhls beraubte und 1836 seine Zulassung zur Universität erneut verweigerte, entzog im Jahre 1841 dem „Linkshegelianer" Bruno Bauer in Bonn das Vorlesungsrecht. Dies veranlaßte Marx, auf die Universitätstätigkeit zu verzichten. In dieser Zeit machte die Entwicklung der Ansichten der linken Hegelianer in Deutschland sehr rasche Fortschritte. Ludwig Feuerbach wandte sich dem Materialismus zu und kritisierte das Christentum. Unter dem Eindruck der Feuerbachschen Philosophie wurden die linken Hegelianer — darunter auch Marx und Engels — vorübergehend alle „Feuerbachianer". Im Jahre 1841 wurde in Köln von radikalen Bürgern des Rheinlandes, die gewisse Berührungspunkte mit den „Linkshegelianern" hatten, ein oppositionelles Blatt, die „Rheinische Zeitung", gegründet. Sie begann am 1. Januar 1842 zu erscheinen, und Marx, der zunächst mit Bruno Bauer als führender Mitarbeiter herangezogen wurde, übersiedelte im Oktober 1842 von Bonn nach Köln und wurde Chefredakteur. Da unter der Leitung von Marx die revolutionär-demokratische Richtung der „Rheinischen Zeitung" immer eindeutiger wurde, verschärfte die Regierung zunächst die Zensur und unterdrückte schließlich am 1. Januar 1843 die Zeitung. Marx legte seinen Redakteurposten nieder. Die „Rheinische Zeitung" mußte im März 1843 ihr Erscheinen einstellen. Durch seine journalistische Tätigkeit hatte Marx gemerkt, daß er mit der politischen Ökonomie nicht genügend vertraut war. Er begann daher ihr umfangreiches Studium. Im Herbst 1843 ging Marx zum erstenmal ins Ausland, nach Paris, um gemeinsam mit Arnold Rüge eine Zeitschrift, die „Deutsch-Französischen Jahrbücher", herauszugeben, von der jedoch infolge zahlreicher Schwierigkeiten, ihrer geheimen Verbreitung und Meinungsverschiedenheiten mit Rüge nur ein Heft erschien. Bereits in dieser Zeitschrift appellierte Marx an das Proletariat und verhinderte die „schonungslose Kritik alles Bestehenden" und im besonderen die „Kritik der Waffen". Engels, der sehr früh literarisch tätig war, hatte beabsichtigt, sich der literarisch-wissenschaftlichen Tätigkeit zu widmen. Er wurde von seinem 13«

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Vater nach Beendigung des Gymnasiums in Elberfeld in sein Kontor a u f genommen und im J a h r e 1836 zur weiteren Ausbildung in das Exportgeschäft eines seiner Bremer Geschäftsfreunde geschickt. In den Jahren 1838 bis 1839 befreite sich Engels von den religiösen Vorurteilen seiner Familie und nahm an den literarischen und philosophischen Tageskämpfen teil, die die oppositionellen Elemente der aufsteigenden Bourgeoisie damals ausfochten. Bereits 1840 revolutionärer Demokrat — und einer der aktivsten Publizisten im Kampfe gegen die Überreste des Feudalismus, gegen die Monarchie und den Adel und die reaktionär-spezielle Schellingsche Philosophie — ging Engels im Herbst 1841 nach Berlin, um seiner Militärpflicht als Einjährig-Freiwilliger bei der Artillerie zu genügen. In Berlin schloß er sich einem junghegelianischen Kreis, den „Freien" an. Nach der Beendigung seines Militärdienstes ging Engels Ende 1842 nach England, um in Manchester im Kontor eines Webereiunternehmens zu arbeiten, dessen Teilhaber sein Vater war. Engels wurde bekannt mit einigen Führern der chartistischen Bewegung sowie mit den owenistischen Sozialisten und den in London lebenden ersten deutschen proletarischen Revolutionären, den Führern des „Bundes der Gerechten". Er studierte neben den Schriften der utopischen Sozialisten die Literatur der politischen Ökonomie Eriglands. Anfang 1844 schrieb Engels den genialen Aufsatz „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie", in dem er nach Lenin „die Haupterscheinungen der modernen Wirtschaftsordnung vom Standpunkt des Sozialismus betrachtet, als notwendige Folge der Herrschaft des Privateigentums". Im Jahre 1845 erschien in Leipzig sein Buch über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England", nach Lenin „eines der besten Werke der internationalen sozialistischen Literatur". Im September 1844, als Engels auf einige Tage nach Paris kam, traf er zum erstenmal mit Karl Marx zusammen und war seit dieser Zeit der nächste Freund von Marx. Sie nahmen gemeinsam an dem zu dieser Zeit sehr regen Leben der revolutionären Gruppen in Paris teil und arbeiteten in scharfem Kampf gegen die verschiedenen Lehren des kleinbürgerlichen Sozialismus die Theorie und die Taktik des revolutionären proletarischen Sozialismus aus. Auf Betreiben der preußischen Regierung wurde Marx im Jahre 1845 aus Paris ausgewiesen und übersiedelte nach Brüssel. Im F r ü h j a h r 1847 schlössen sich Marx und Engels dem „Bund der Kommunisten" an. Sie nahmen am zweiten Kongreß dieses Bundes im November 1847 in London teil und verfaßten in seinem Auftrag das „Manifest der Kommunistischen Partei". Als die Februarrevolution von 1848 ausbrach, wurde Marx aus Belgien ausgewiesen und ging zum zweitenmal nach Paris. Nach der Märzrevolution ging er nach Deutschland zurück. In Köln erschien unter der Chefredaktion von Marx vom 1. Juni 1848 bis zum 19. Mai 1849 die „Neue Rheinische Zeitung". 196

Nach dem Sieg der Konterrevolution wurde Marx vor Gericht gestellt und aus Deutschland ausgewiesen. Er begab sich wieder nach Paris, wurde jedoch nach der Demonstration vom 13. Juni 1849 auch von hier ausgewiesen und reiste nach London, wo er bis zu seinem Tode lebte. Unter den Bedingungen des Emigrantenlebens lastete die Not erdrückend auf Marx und seiner Familie. Nur durch die ständige, aufopfernde finanzielle Unterstützung durch Engels fand Marx die Möglichkeit, seine Arbeiten fortzuführen. Im Jahre 1859 erschien sein Buch „Zur Kritik der politischen Ökonomie", im Jahre 1867 der erste Band des „Kapitals". 1864 wurde in London die I. Internationale, die „Internationale Arbeiter-Assoziation", gegründet. Marx war Verfasser ihrer ersten „Adresse" und einer langen Reihe von Resolutionen, Erklärungen und Manifesten. Er faßte die Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder zusammen und arbeitete darauf, die verschiedenen Formen des nichtproletarischen, vormarxistischen Sozialismus in die Bahnen gemeinsamen Handelns zu lenken. Die angestrengte Tätigkeit f ü r die Internationale und seine theoretischen Studien untergruben die Gesundheit von Marx. Er konnte infolgedessen sein ökonomisches Hauptwerk nicht selbst beenden. Es wurde von Engels fortgesetzt, nachdem Marx am 14. März 1883 seiner Krankheit erlegen war. Ausgehend von seinen beiden ersten Arbeiten, „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie", 1844, und „Die Lage der arbeitenden Klasse in England", 1845, die noch — wie Engels selbst schreibt — idealistische und utopische Elemente enthielten, aber geniale Beiträge zur Entwicklung der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse waren, hat sich Engels zeit seines Lebens selbständig mit der politischen Ökonomie befaßt. Im J a h r e 1854 schrieb Engels seine Rezension zu Marx' „Kritik der politischen Ökonomie" und 1867 Rezensionen über den 1. Band des „Kapitals". In den Jahren 1872/1873 schrieb Engels eine Artikelserie „Zur Wohnungsfrage", die eine schonungslose Kritik des Proudhonismus und wichtige ökonomische Gedanken enthielt. In seinem 1878 in erster Auflage erschienenen Hauptwerk „Anti-Dühring" findet sich eine Fülle materieller und methodologischer Beiträge zur politischen Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus, ebenso in seinem 1884 erschienenen Werk „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates". Seine Hauptarbeit auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie hat aber Engels mit der Herausgabe des 2. und 3. Bandes des Marxschen Werkes sowie durch die Neuherausgabe des 1. Bandes geleistet. Engels wurde nach dem Tode von Marx sein literarischer Testamentsvollstrecker. Er stellte seine eigenen begonnenen wissenschaftlichen Arbeiten zurück — „Naturdialektik" und „Geschichte Deutschlands" —, um die Heraus197

gäbe des unvollendeten, in ungeordnetem Zustande hinterlassenen gewaltigen Werkes seines Freundes in Angriff zu nehmen. Nachdem im Jahre 1884 sein eigenes Werk „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" erschienen war, gab er im J a h r e 1885 den 2. Band des „Kapitals" und 1895 den 3. Band des „Kapitals" heraus. Sein am 5. August 1895 erfolgter Tod verhinderte ihn daran, den 4. Band des „Kapitals", die „Theorien über den Mehrwert", herauszugeben. Die „Theorien über den Mehrwert" wurden von Karl Kautsky 1907/1910 herausgegeben. Die Kautskysche Ausgabe, auf der alle seitherigen Neuauflagen und Übersetzungen beruhen, erfolgte nicht im Sinne von Marx. Kautsky verletzte die elementarsten Anforderungen, die an die wissenschaftliche Ausgabe eines solchen Werkes gestellt werden müssen. Er änderte willkürlich den von Marx entworfenen Aufbau des Werkes, weil es angeblich ein „planloses Werk" sei. Er nahm selbständige Umstellungen und „Bearbeitungen" vor, die zu einer Fälschung der Marxschen Gedanken führten. In der Sowjetunion wurde eine wissenschaftliche Ausgabe der „Theorien über den Mehrwert" vorbereitet. Mit ihr werden wir das unverfälschte Gesamtwerk des „Kapitals" besitzen. 1 ) revolutionären So entwickelten sich Marx und Engels von konsequenten Demokraten zu den Führern des internationalen Proletariats und schufen auf der Grundlage des dialektischen Materialismus Theorie und Taktik der internationalen Arbeiterbewegung. Sie waren die großen Wissenschaftler, nur weil sie konsequente Revolutionäre, sie waren konsequente Revolutionäre, nur weil sie geniale Theoretiker waren.

3. Die Methode der politischen

Ökonomie

„Man kann das ,Kapital' von Marx und insbesondere das ,erste Kapitel' nicht vollkommen begreifen, wenn man nicht die ganze Logik Hegels durchstudiert und begriffen hat", schreibt Lenin in seinen „Exzerpten und Randglossen zu Hegel". 2 ) „Folglich", fügt er hinzu, „hat nach einem halben Jahrhundert keiner von den Marxisten Marx begriffen." 3 ) Am gleichen Orte schreibt Lenin an anderer Stelle: „Marx hat die Dialektik Hegels in ihrer entwickelten Form auf die politische Ökonomie angewendet." 4 ) Das bedeutet, daß Marx auf die politische Ökonomie die Dialektik a n wandte, die von Stalin in seiner genialen Schrift über „Dialektischen und historischen Materialismus" zu den bekannten vier Grundzügen zusammengefaßt wurde. ') Vgl. hierzu: W. Burschlinski und J. Preiß, Über die Vorbereitung einer wissenschaftlichen Ausgabe der „Theorien über den Mehrwert" von Karl Marx, Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Abteilung, Jahrgang 1950, Heft 3, S. 65 ff. 2 ) Aus dem philosophischen Nachlaß, Berlin 1949, S. 99. 3 ) Ebd. 4 ) Ebd., S. 97. 198

Die Dialektik ist „die Verallgemeinerung der Geschichte des Denkens", stellt Lenin fest. 1 ) Die Erkenntnis enthülle „im Sein — in den unmittelbaren Erscheinungen — das Wesen . . . das Gesetz der Kausalität, die Identität, den Unterschied u s w . . . . " , dies sei wirklich der allgemeine Gang aller menschlichen Erkenntnis — aller Wissenschaft überhaupt. Dies sei „der Gang sowohl der Naturwissenschaften als auch der politischen Ökonomie — und der Geschichte", schreibt Lenin weiter. 2 ) Wenn Marx auch keine „Logik" hinterlassen habe, so habe „er doch die Logik des ,Kapitals' h i n t e r l a s s e n . . . Im ,Kapital' werden auf eine Disziplin Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie des Materialismus — man braucht nicht drei Worte —", schreibt Lenin, „das ist ein und dasselbe — von Karl Marx angewendet, der alles, was bei Hegel wertvoll ist, sich aneignet und dieses Wertvolle weiterentwickelt hat." 3 ) Die Methode der politischen Ökonomie ist daher dialektisch, weil „die Dialektik das Studium des Widerspruches im Wesen der Gegenstände selbst" ist: „nicht n u r die Erscheinungen sind vergehend, fließend, nur durch bestimmte Merksteine abgegrenzt, sondern auch die Wesenheiten der Dinge", 4 ) sie ist materialistisch, weil die Begriffe die entstehende und vergehende, die fließende und in Widersprüchen sich bewegende Wirklichkeit widerspiegeln. Die Methode der politischen Ökonomie vom Standpunkt der Arbeiterklasse ist daher die einzig wissenschaftliche Methode: die materialistische Dialektik! Marx hat bekanntlich im „Nachwort" zur 2. Auflage des ersten Buches des „Kapitals" im J a h r e 1873 das Verhältnis der materialistischen Dialektik zur idealistischen Dialektik in unübertroffener Weise charakterisiert. „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegeischen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil", schrieb Marx. „Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." 5 ) Marx fügt hinzu, daß er die „mystifizierende Seite der Hegeischen Dialektik . . . vor beinahe 20 Jahren zu einer Zeit kritisiert" habe, „wo sie noch Tagesmode" gewesen sei. „Aber gerade als ich den ersten Band des ,Kapitals' ausarbeitete", fügte Marx hinzu, „gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort f ü h r t , darin, Hegel zu behandeln, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich als ,toten Hund'. Ich bekannte -mich *) 2 ) 3 ) 4 ) 5)

Ebd., S. 248. Ebd. Ebd. Ebd. A. a. O., S. 18.

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daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man m u ß sie umstülpen, u m den rationellen K e r n in der mystischen Hülle zu entdecken." 1 ) Und Marx schließt diese Charakterisierung des Verhältnisses der materialistischen und idealistischen Dialektik mit einem ausdrücklichen Hinweis auf den revolutionären Charakter der materialistischen, d. h. der von ihrer idealistischen Hülle befreiten Dialektik. „In ihrer mystifizierten F o r m w a r d die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem B ü r g e r t u m und seinen doktrinären Wortf ü h r e r n ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Unterganges einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist." 2 ) Von besonderer Bedeutung f ü r das Verständnis der Methode der politischen Ökonomie ist das Verständnis der wissenschaftlichen Abstraktion. Die politische Ökonomie verwendet wie jede Wissenschaft die Methode der Abstraktion. Sie besteht darin, daß die Erscheinungen auf ihren Begriff r e d u ziert werden, daß von allem Zufälligen und Unwesentlichen abgesehen und n u r das Wesentliche der Erscheinungen e r f a ß t wird. „Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der p r ä gnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder womöglich macht er Experimente u n t e r Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern." 3 ) Der Ökonom aber findet keine gesellschaftliche Formation, u m welche es sich auch immer handele, rein vor. I m m e r ist jede gesellschaftliche Formation durch zufällige, historische oder natürliche usw. Momente getrübt. Was der Physiker daher durch das Experiment herstellt, das m u ß der Ökonom durch seine Abstraktionskraft: die von ihm untersuchte gesellschaftliche F o r m a tion auf ihren Begriff reduzieren, von den zufälligen und unwesentlichen Momenten abstrahieren. „Was ich in diesem Werk zu erforschen habe", schreibt Marx daher im „Vorwort" zum 1. Band des „Kapitals", „ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktionsund Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies ist der Grund, w e n n es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung ') Ebd. ) Ebd. (von mir hervorgehoben, F. B.). 3 ) Vorwort zum 1. Band des „Kapitals", a. a. O., S. 6.

2

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dient", schreibt Marx weiter. 1 ) Aber das „Kapital" ist keine Wirtschaftsgeschichte Englands. Es ist ein theoretisches Werk. „An und f ü r sich handelt es sich nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen", schreibt Marx. „Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das industriell entwickelte Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft." 2 ) Es sei „der letzte Endzweck" seines Werkes, schreibt Marx, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen". 3 ) Die Methode der politischen Ökonomie ist daher weder nur logisch noch nur historisch, sie ist logisch und historisch zugleich, denn die „logische Behandlung . . . ist in der Tat nichts anderes als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten" 4 ), schreibt Engels im Jahre 1859 in seiner Arbeit „Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie". Womit die Geschichte anfängt, damit muß der Gedankengang ebenfalls anfangen, und sein weiterer Fortgang wird nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs; ein korrigiertes Spiegelbild, aber korrigiert nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt, indem jedes Moment auf dem Entwicklungspunkt seiner vollen Reife, seiner Klassizität betrachtet werden kann. 6 ) Die materialistisch-dialektische Methode der politischen Ökonomie ist damit weder nur induktiv noch nur deduktiv. Die Methode der politischen Ökonomie ist vielmehr induktiv und deduktiv zugleich. 6 ) Die Methode der Abstraktion, der Reduzierung der Erscheinung auf den Begriff, bedeutet daher auch keineswegs eine Entfernung von der Wahrheit. „Dadurch", schreibt Lenin, „daß das Denken vom Konkreten zum Abstrakten aufsteigt, entfernt es sich — wenn es richtig ist — nicht von der Wahrheit, sondern kommt ihr näher. Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes, die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Wort alle wissenschaftlichen — richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen •— Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, getreuer, vollständiger wider. Vom lebendigen Anschauen zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis — das ist der dialektische Weg der Erkenntnis zur Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität." 7 ) Wovon also beim theoretischen Denken in der politischen Ökonomie „abstrahiert" wird, das sind die historischen oder natürlichen Zufälligkeiten der Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1947, S. 218. Ebd. Vgl. Lenin, a. a. O., S. 64. ') Ebd., S. 89.

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) 3 ) 4 ) 5 )

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konkreten Erscheinungen. Die Begriffe der politischen Ökonomie sind aber nicht „abstrakt" im Sinne der gewöhnlichen formalen Logik. Sie sind als Einheit von Gegensätzen vielmehr ebenfalls abstrakt und konkret zugleich. Die politische Ökonomie beginnt mit den elementarsten und einfachsten Begriffen und wendet sich im Verlaufe der Analyse Begriffen zu, die immer reicher, vollständiger bestimmt sind. Die elementarsten und einfachsten Begriffe sind nur insofern abstrakt, als sie allgemein sind. Durch immer neue Bestimmungen werden die in diesem Sinne abstrakten Begriffe immer konkreter, d. h. reichhaltiger, bis schließlich die Analyse die Kategorien der Oberfläche, der der sinnlichen Anschauung unmittelbar entgegentretenden Erscheinung wieder erreicht. Was bedeutet das? Die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, schreibt Marx in seiner „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie", sei „nur die Art des D e n k e n s . . . , sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst." 1 ) Es scheine das Richtige zu sein, „mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung, zu beginnen, also z. B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsaktes ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung als falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z. B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhen, z. B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z. B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Fange ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen, und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakte (Allgemeinheiten), bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen." 2 ) Der erste Weg sei der, den die Ökonomie in ihrer Entstehung geschichtlich genommen hat. „Die Ökonomen des 17. Jahrhunderts z. B. fangen immer mit dem lebendigen Ganzen, der Bevölkerung, der Nation, Staat, mehreren Staaten etc. an; sie enden aber damit, daß sie durch Analyse einige bestimmende, abstrakte, allgemeine Beziehungen, wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc., herausfinden. Sobald diese einzelnen Momente mehr oder weniger fixiert und abstrahiert waren, begannen die ökonomischen Systeme, die von >) Zur Kritik, S. 257. 2 ) Ebd., S. 256. 202

dem einfachen, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert, aufsteigen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt." Das letztere sei offenbar die wissenschaftlich richtige Methode. „Das Konkrete ist konkret, w e i l es die Zusammenfassung vieler Beziehungen ist, also die Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Wege des Denkens." 1 ) Das Ganze, „wie es im Kopfe als Gedankenprozeß" erscheine, schreibt Marx daher also — wie wir hinzufügen müssen: das wissenschaftliche System — , sei „ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, die verschieden ist von der künstlerischen, religiösen, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt". 2 ) Darin besteht also die Methode der Abstraktion der materialistischen Dialektik. Sie ist nur ein Moment dieser Methode — das deduktive Moment der wissenschaftlichen Methode — und ist untrennbar verbunden mit der Methode der Verallgemeinerung — dem induktiven Moment der wissenschaftlichen Methode. Das wissenschaftliche System ist selbst eine Abstraktion, weil es von den natürlichen und historischen Zufälligkeiten unbeeinflußt das Allgemeine der Erscheinungen erforscht und darstellt. Es ist abstrakt, weil es der Gegensatz ist vom Sinnlich-Konkreten, das uns unmittelbar entgegentritt. Aber das Sinnlich-Konkrete ist im wissenschaftlichen System verarbeitet, „aufgehoben", um einen Ausdruck der Dialektik zu gebrauchen, und es kann ohne diese Abstraktion überhaupt nicht begriffen werden. Deswegen untersuchte Marx den „reinen" Kapitalismus, und Lenin folgte ihm darin. Deshalb abstrahierte Marx vom auswärtigen Handel und von den Zufälligkeiten der Konkurrenz, die mit dem Wesen des Kapitalismus nur sehr vermittelt zusammenhängen. Wer diese Methode des dialektischen Materialismus daher nicht verstanden hat, der hat nicht verstanden und muß irren, wie es z. B. die sogenannten mechanistischen Zusammenbruchstheoretiker von Rosa Luxemburg bis Henr y k Grosman taten. Es gibt kein besseres Mittel, die Methode der wissenschaftlichen Abstraktion zu studieren und zu erlernen, als das Studium der Arbeiten unserer Klassiker Marx, Engels, Lenin und Stalin, die nicht nur diese unerläßliche wissenschaftliche Methode meisterhaft anwandten, sondern uns auch lehren, daß sie zu der nichtwissenschaftlichen Methode der Trennung von Theorie und Praxis in unversöhnlichem Gegensatz steht. ') Ebd., S. 256/257. 2 ) Ebd., S. 258. 203

Die Methode der Abstraktion der materialistischen Dialektik unterscheidet sich somit prinzipiell von der formalen Abstraktion der formalen und scholastischen bürgerlichen Logik. Sie ist ein wichtiges Mittel, um die Wirklichkeit zu befreien, und eine der Voraussetzungen für die umwälzende menschliche Praxis. „Marx analysiert im ,Kapital' zunächst das einfachste, gewöhnlichste, massenhafteste, alltäglichste, milliardenfach zu beobachtende Verhältnis der bürgerlichen (Waren-)Gesellschaft: den Warenaustausch", schreibt Lenin. 1 ) „Die Analyse deckt in dieser einfachsten Erscheinung (in dieser ,Zelle' der bürgerlichen Gesellschaft) alle Widersprüche (resp. Keime aller Widersprüche) der modernen Gesellschaft auf. Die weitere Darstellung zeigt uns die Entwicklung (sowohl Wachstum als auch Bewegung) dieser Widersprüche und dieser Gesellschaft in Summe ihrer einzelnen Teile, von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende." 2 ) Die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise beginnt — mit anderen Worten — mit der elementarsten und einfachsten Tatsache dieser Produktionsweise, der Ware und ihren Formen. Die Ware als Erscheinung ist eine grundlegende Tatsache der kapitalistischen Produktion, als Begriff die allgemeinste und daher abstrakteste Kategorie der politischen Ökonomie. „Die Wertform, deren fertige Gestalt die Geldform ist", schreibt Marx im „Vorwort" zur ersten Auflage seines „Kapitals", „ist sehr inhaltlos und einfach. Dennoch hat der Menschengeist sie seit mehr als 2000 Jahren vergeblich zu ergründen gesucht, während andererseits die Analyse viel inhaltsvollerer und komplizierterer Formen wenigstens annähernd gelang. Warum? Weil der ausgebildete Körper leichter zu studieren ist als die Körperzelle. Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann außerdem weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen. Für die bürgerliche Gesellschaft ist aber die Warenform des Arbeitsproduktes oder die Wertform der Ware die ökonomische Zellenform." 3 ) Dem Ungebildeten scheine sich die Analyse der ökonomischen Zellenform der bürgerlichen Gesellschaft „in bloße Spitzfindigkeiten herumzutreiben", fügt Marx hinzu. Es handelte sich dabei in der Tat um Spitzfindigkeiten, „aber nur so, wie es sich in der mikrologischen Anatomie darum handelt". 4 ) Die Darstellungsweise müsse sich allerdings „formell von der Forschungsweise unterscheiden", schreibt Marx im „Nachwort" zur zweiten Auflage des „Kapitals" Band 1. „Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren." „Erst nachdem diese Arbeit vollbracht sei", schreibt Marx weiter, „kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. *) ) 3) 4)

2

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Aus dem philosophischen Nachlaß, a. a. O., S. 286. Ebd. Kapital, Bd. I, S. 5/6. Ebd., S. 6.

Gelingt dies, und spiegelt sich nun das Leben des Stoffes ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun." 1 ) Das vollendete theoretische System der politischen Ökonomie spiegelt die gesellschaftliche Wirklichkeit umfassend und vollständig wider. Der durch die empirische Forschung gewonnene Stoff ist theoretisch verarbeitet. Alle Erscheinungen der Oberfläche werden theoretisch erklärt und ihre Zusammenhänge aufgezeigt. Es heißt aber auf Wissenschaft Verzicht leisten, wenn man bei den Erscheinungen und bei demjenigen stehenbleibt, was sich im alltäglichen Bewußtsein für die bloße Vorstellung ergibt. Die Methode der materialistischen Dialektik mißt dem mit allgemeinen Begriffen operierenden Denken eine gewaltige Bedeutung bei, das in der marxistischen Praxis die Quelle seines Stoffes hat. Die auf dem dialektischen Materialismus beruhende politische Ökonomie unterscheidet sich daher prinzipiell von dem flachen und vulgären Empirismus bürgerlicher Ökonomen der Nachklassik. Empirismus ohne theoretische Verallgemeinerung genügt nicht, um die gesellschaftliche Entwicklung zu erkennen. Empirismus ohne theoretische Verallgemeinerung ist der Historismus in der bürgerlichen Ökonomie, sofern es sich nicht um simple Vulgärökonomie überhaupt handelt. Was aber ohne die Methode der materialistischen Dialektik herauskommt, das ist im günstigsten Fall eine Sammlung von Kenntnissen, die man auch manchmal als Wissenschaft zu bezeichnen beliebt, die aber nur durch die äußere Ordnung, die hineinzubringen versucht wird, eine ferne Ahnung und Anspielung an wirkliche Wissenschaft zeigt. Die Empiristen oder Historiker unter den bürgerlichen Ökonomen sehen nur das, was an der Oberfläche der Erscheinungen liegt, ohne in das Wesen der Dinge einzudringen. Das heißt aber auch, daß theoretische Verallgemeinerungen ohne vorherige empirische Forschung, Theorie ohne Erfahrung nicht möglich sind. Wie Empfindung und Denken zwei untrennbare, obwohl einander entgegengesetzte Momente der menschlichen Erkenntnis sind, so sind Anschauung und B e griff, Erfahrung, durch Praxis gewonnen, und Theorie nicht voneinander zu trennen. 2 ) Losgelöst von der empirischen Forschung, d. h. aber, losgelöst von der gesellschaftlichen Praxis, kommt die Ökonomie zu den,leeren und formalen Konstruktionen der modernen bürgerlichen Ökonomie, die auf alles und nichts anwendbar sind. Sie sind Logik ohne Geschichte, Begriffe ohne Anschauung, Theorie ohne Praxis und daher von wirklicher Wissenschaft genauso weit entfernt wie der Historismus. Es kann nur eine Methode für die Ökonomie geben, sofern sie mehr als Vulgärökonomie, aber auch mehr als Empirismus oder Formalismus sein will, sofern sie Wissenschaft sein will: die Methode der materialistischen Dialektik. ') Ebd., S. 17. 2) Vgl. hierzu F. Chasschatscheck, Uber die Erkennbarkeit der Welt, Berlin 1943, S. 47 ff.

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In der Marxschen politischen Ökonomie befinden sich Inhalt und Form, Stoff und Theorie in Übereinstimmung. Sie ist das, was die Klassiker d e r bürgerlichen Ökonomie unbewußt anstrebten, bewußt: ein wissenschaftliches System, in dem alle Momente ihren entsprechenden Platz haben und das von der Einheit von Geschichte und Logik ausgeht. Sie ist das, was die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie nicht erreichen konnten, weil sie bürgerliche Ökonomen waren und deshalb die bürgerliche Form der P r o duktion „für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktionen" 1 ) hielten. Marx entwickelte das System der politischen Ökonomie, in dem Inhalt und Form, Stoff und Theorie sich in Übereinstimmung befinden, die politische Ökonomie vom Standpunkt der Arbeiterklasse, in Auseinandersetzung m i t Smith und Ricardo.

4. Die Marxsche Theorie der politischen

Ökonomie

a) Der Aufbauplan des „Kapitals" von Marx Das ökonomische Hauptwerk von Karl Marx ist das „Kapital". Es heißt im Untertitel „Zur Kritik der politischen Ökonomie". Sein erstes grundlegendes ökonomisches Werk war die Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie", die im Juni 1859 in Berlin erschien. Diese Schrift war als das erste Heft eines großen Werkes gedacht, das Marx „in zwanglosen Heften" herauszugeben beabsichtigte. In einem Brief an Ferdinand Lassalle vom 22. Februar 1858 heißt es, das. „Ganze" sei „eingeteilt in 6 Bücher", und zwar: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Vom Kapital Vom Grundeigentum Von der Lohnarbeit Vom Staat Internationaler Handel Weltmarkt

„Die Arbeit, u m die es sich zunächst handelt", schreibt Marx, 2 ) „ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder — wenn man will — das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt." 3 ) Es sei „zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben". 4 ) „Die Darstellung" — schrieb Marx an Lassalle •— „sei ganz wissenschaftlich, also nicht polizeiwidrig — im gewöhnlichen Sinne." 5 ) Die „Kritik und Geschichte der poli') ) 3 ) 4 ) «) 2

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Marx, Kapital, Bd. I, S. 86/87. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1947, S. 223. Ebd. Ebd., S. 223/224. Ebd.

tischen Ökonomie und des Sozialismus" sollte „Gegenstand einer anderen Arbeit bilden. Endlich die kurze historische Skizze der Entwicklung der ökonomischen Kategorien und Verhältnisse eine dritte".1) Marx schloß den Brief an Lassalle mit der Bemerkung, er ahne, daß jetzt, wo er „nach 15jährigem Studium soweit" sei, „Hand an die Sache legen zu können, die stürmischen Bewegungen von außen wahrscheinlich dazwischen kommen werden".2) In einem Brief vom 12. November 1858 an Lassalle schrieb Marx, die vorliegende Arbeit sei „das Resultat 15jähriger Forschung, also der besten Zeit meines Lebens".3) Sie vertrete „zum erstenmal eine Ansicht der gesellschaftlichen Verhältnisse wissenschaftlich.4) In einem Brief an Weydemeyer vom 1. Februar 1859, in dem er das Erscheinen seiner „Kritik der politischen Ökonomie" heftweise bei Franz Duncker in Berlin ankündigt, schreibt er, daß das erste Buch seines Werkes in vier Abteilungen zerfallen solle. Die „Abteilung I: Das Kapital im allgemeinen", zerfalle wieder in drei Kapitel, und zwar in Kapitel 1: Die Ware — Kapitel 2: Das Geld oder die einfache Zirkulation — Kapitel 3: Das Kapital.5) Die ersten beiden Kapitel des Gesamtwerkes haben wir in der uns bekannten Form der 1859 erschienenen „Zur Kritik der politischen Ökonomie" vor uns. „Ich hoffe, unserer Partei einen wissenschaftlichen Sieg zu erringen", hatte Marx seinen Brief vom 1. Februar 1859 an Weydemeyer geschlossen. In dem „Vorwort" seiner „Kritik" gibt Marx seine berühmte Ubersicht über den Kern des historischen Materialismus. Das „Gesamtmaterial", von dem Marx damals als ihm vorliegend schrieb, „in Form von Monographien, die in weit auseinanderliegenden Perioden zu eigener Selbstverständigung, nicht für den Druck niedergeschrieben", zusammen mit seinen Auszugsheften — war in der Tat gewaltig: das unvollendete Werk: „Kritik der Nationalökonomie", 1844'1845, die Schrift über den „Arbeitslohn", 1847 — eine der Vorarbeiten für „Lohnarbeit und Kapital", 1847/1849 — aus der Zeit nach der Revolution vom September 1850 an in London entstandenen umfangreichen Auszugshefte, ferner der Rohentwurf der „Kritik" selbst, sieben Hefte, die das Konzept der geplanten Bücher über Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, auswärtigen Handel und Weltmarkt enthalten und in der Zeit von Anfang 1857 bis Mai niedergeschrieben wurden, schließlich die Ausarbeitung des Textes der „Kritik" für den Druck, fünf Hefte entstanden ca. Juni bis November 1858. Zwischendurch, im August 1857, wurde die „Einleitung" geschrieben.6) ') Ebd. "1 Ebd. Ebd., S. 230. ') Ebd. r ) Ebd., S. 233. f ) „Vorbemerkung des Herausgebers", Zur Kritik, a. a. O., S. 5/6. 207

Im Anhang der Ausgabe des Dietz Verlages des Jahres 1947 ist diese wichtige, leider unvollendete „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie" abgedruckt worden, von der Marx im „Vorwort" der „Kritik der politischen Ökonomie" selbst schrieb: „Eine allgemeine Einleitung, die ich hingeworfen hatte, unterdrücke ich, weil mir bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend scheint, und der Leser, der mir überhaupt folgen will, sich entschließen muß, von dem einzelnen zum allgemeinen aufzusteigen." Die „Einleitung" ist in der Tat ein selbständiges Werk, Marx entwickelte hier in einer genialen Skizze die methodischen Ausgangspunkte der Anwendung der materialistischen Dialektik auf die politische Ökonomie und einige Grundgedanken des historischen Materialismus. Marx hat mit seiner Ahnung über die „Abhaltungen" durch die stürmische Entwicklung der Arbeiterbewegung von der theoretischen Arbeit, die er in seinem Brief an Lassalle vom 22. Februar 1858 äußerte, recht behalten. Erst acht Jahre später, im J a h r e 1867, erschien der erste Band seines „Kapitals". Inzwischen aber hatte Marx den Plan des Aufbaus seines ökonomischen Hauptwerkes geändert. Wenn er ursprünglich mit der Einteilung in sechs Bücher mehr von äußeren, nicht innerhalb des Systems liegenden Gesichtspunkten ausging und mehr der traditionellen Einteilung der bisherigen Ökonomie folgte, so baute er sein Werk nun nach streng wissenschaftlichmethodologischen Gesichtspunkten auf. Das erste — im Jahre 1867 erschienene •—• Buch behandelt den „Produktionsprozeß des Kapitals". Das zweite Buch sollte, wie Marx im „Vorwort zur 1. Auflage des 1. Barides" schrieb, den „Zirkulationsprozeß des Kapitals", das dritte Buch den „Gesamtprozeß" und das vierte Buch die „Geschichte der Theorie" behandeln. Es war Marx bekanntlich nicht mehr vergönnt, den 2., 3. und 4. Band seines Werkes selbst herauszugeben. Der 2. Band wurde von Engels im J a h r e 1885, der 3. Band im Jahre 1894 herausgegeben. Die „Geschichte der Theorie" wurde unter dem Titel „Theorien über den Mehrwert" von Karl Kautsky herausgegeben, und zwar in den Jahren von 1904 bis 1910. Im Vorwort zur ersten Auflage des „Kapitals" sagt Marx über das Verhältnis der „Kritik" zum „Kapital": „Das Werk, dessen ersten Band ich dem Publikum übergebe, bildet die Fortsetzung meiner 1859 veröffentlichten Schrift ,Zur Kritik der politischen Ökonomie'. Die lange Pause zwischen Anfang und Fortsetzung ist einer langjährigen Krankheit geschuldet, die meine Arbeit wieder und wieder unterbrach. Der Inhalt jener früheren Schrift ist resümiert im ersten Kapitel dieses Bandes. Es geschah dies nicht nur des Zusammenhangs und der Vollständigkeit wegen. Die Darstellung ist verbessert. Soweit es der Sachverhalt irgendwie erlaubte, sind viele früher nur angedeutete Punkte hier weiter ent208

wickelt, während umgekehrt dort ausführlich Entwickeltes hier n u r a n gedeutet wird. Die Abschnitte über die Geschichte der Wert- und Geldtheorie fallen jetzt natürlich ganz weg. Jedoch findet der Leser der früheren Schrift in den Noten zum ersten Kapitel neue Quellen zur Geschichte jener Theorie eröffnet." 1 ) Der Marxsche Hinweis auf das in der „Kritik" ausführlich Entwickelte, was im „Kapital" nur angedeutet wird, bezieht sich vor allem auf das Kapitel über das Geld. Zusammen mit dem Abschnitt über die Geschichte der Geldtheorien ist dieses Kapitel die ausführlichste Darlegung der Marxschen Geldtheorie. Marx behandelte hier auch Fragen des Geldumlaufs und der Währungstheorie der vollentwickelten kapitalistischen Produktion, die im „Kapital" erst im dritten Buch aufgeworfen werden, nachdem die Analyse des Produktionsprozesses und des Zirkulationsprozesses des Kapitals, die Analyse der Durchschnittsprofitrate und des zinstragenden Kapitals gegeben ist. Ist daher die „Kritik" formell n u r ein Anfang und das „Kapital" ihre Fortsetzung, so u m faßt sie dennoch schon viel mehr als nur die einfache Warenzirkulation. Sie gibt auf dem Gebiet der Geldtheorie schon die Umrisse des Gesamtwerks, an dem Marx arbeitete. Marx hat sein ökonomisches Hauptwerk, „Das Kapital", nicht nach dem von ihm entworfenen Plan aufgebaut. Es waren wissenschaftlich-methodologische Gesichtspunkte, die Marx veranlaßten, den Aufbauplan seines ökonomischen Hauptwerkes abzuändern. Welche Gesichtspunkte waren das? „Es hat mich sehr gefreut, aus Ihrem Briefe zu ersehen, daß Sie und Ihre Freunde ein so warmes Interesse an meiner Kritik der politischen Ökonomie nehmen. Der zweite Teil ist nun endlich fertig, d. h. bis zum Reinschreiben und der letzten Feilung f ü r den Druck. Es werden ungefähr 30 Druckbogen sein. Es ist die Fortsetzung von Heft I, erscheint aber selbständig unter dem Titel: ,Das Kapital', und ,Zur Kritik der politischen Ökonomie' n u r als Untertitel. Es umfaßt in der Tat nur, was das dritte Kapitel der ersten Abteilung bilden sollte, nämlich ,das Kapital' im allgemeinen. Es ist also nicht darin eingeschlossen die Konkurrenz der Kapitalien und das Kreditwesen. Was der Engländer ,the principles of political economy' nennt, ist in diesem Band enthalten. Es ist die Quintessenz (zusammen mit dem ersten Teil), und die Entwicklung des Folgenden (mit Ausnahme etwa des Verhältnisses der verschiedenen Staatsformen zu den verschiedenen ökonomischen Strukturen der Gesellschaft) würde auch von anderen auf Grundlage des Gelieferten leicht auszuführen sein." 2 ) *) Bd. I: Stuttgart 1904; Bd. II: Stuttgart 1905; Bd. III: Stuttgart 1910. 2 ) Karl Marx, Briefe an Kugelmann, Berlin (ohne Jahre), Dietz Verlag, S. 7. 14 Behrens

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Hieraus geht klar hervor, daß Marx im Dezember 1862 noch seinen ursprünglichen Plan auszuführen gedachte. Daß es auch nicht äußere Gründe gewesen sein können, die ihn zur Aufgabe seines ursprünglichen Planes veranlaßten, geht ebenfalls aus diesem Briefe hervor, denn Marx geht bereits auf die Ursachen der Verzögerung seiner Arbeit ein. Er schreibt: „Die lange Verzögerung hat folgende Gründe. Erstens im Jahre 1860 nahm der Vogtskandal mir sehr viel Zeit weg, da ich eine Masse Untersuchungen über an und f ü r sich gleichgültiges Zeug anstellen mußte, Prozesse f ü h r e n usw. Im Jahre 1861 verlor ich durch den amerikanischen Bürgerkrieg meine Haupteinnahmequelle, die ,New York Tribüne'. Meine Mitarbeit an dem Blatt ist bis zu diesem Augenblick suspendiert. Ich war und bin so gezwungen, eine Masse Winkelarbeiten zu übernehmen, um nicht direkt mit meiner Familie auf die Straße zu wandern. Ich hatte mich sogar entschlossen, ,Praktiker' zu werden und sollte anfangs nächsten Jahres in ein Eisenbahnoffice eintreten. Soll ich das Glück oder Unglück nennen? Meine schlechte Handschrift war der Grund, daß ich die Stelle nicht erhielt. So sehen Sie, daß mir wenig Zeit und Ruhe f ü r theoretische Arbeiten blieb. Es ist wahrscheinlich, daß dieselben Ursachen die schließliche Fertigmachung f ü r den Druck länger als mir lieb ist, hinziehen." 1 ) Trotz der widrigen Verhältnisse hatte sich Marx nicht von der Verfolgung seines Planes abhalten lassen, und er hätte sich auch in der Zukunft hiervon durch solche Verhältnisse nicht abhalten lassen. Fast zwei Jahre später, am 29. November 1864, teilt Marx wieder in einem Brief an Kugelmann mit, er hoffe, daß seine Schrift „endlich nächstes J a h r zum Druck reif" sein werde. Marx schreibt: „Ich glaube, daß endlich nächstes J a h r meine Schrift über das Kapital (60 Bogen) zum Druck reif ist." 2 ) In der Zwischenzeit also, in der Zeit vom Dezember 1862 bis November 1864, ist die bereits im Umfange von 30 Druckbogen fertige Arbeit auf 60 Bogen angewachsen. Mit der Reinschrift des ersten Bandes des „Kapitals" begann Marx aber erst Anfang 1866, wie wir aus einem Brief an Engels vom 13. Februar 1866 wissen. 3 ) Auch an Kugelmann schreibt Marx am 15. J a n u a r 1866, daß er „jetzt 12 Stunden pro Tag mit der Reinschrift besichäftigt sei".4) Ab°r bereits am 15. August 1863 hatte Marx an Engels geschrieben, daß er „alles habe u m schmeißen müssen". 5 ) Marx muß also in der ersten Hälfte des Jahres 1863 den Entschluß gefaßt haben, den Aufbauplan seines Werkes abzuändern. Warum änderte also Marx den Aufbauplan seines Werkes? Um darüber Auskunft zu erhalten, ist es notwendig, die Entstehungszeit der einzelnen Manuskripte näher zu untersuchen! ') ) s) 4 ) 5 ) 2

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Ebd., S. 7/8. Ebd., S. 10. Marx-Engels-Briefwechsel, Berlin 1950, Bd. 3, S. 370. A. a. O., S. 14. A. a. O., S. 182.

Engels geht in dem bereits erwähnten „Vorwort" zur 1. Auflage des Band II des „Kapitals" n ä h e r ein auf die Zeit, in der die Manuskripte f ü r die drei Bände entstanden sind. „Zuerst" — schreibt Engels — „ein Manuskript ,Zur Kritik der politischen Ö k o n o m i e ' . . . , geschrieben 1861 bis J u n i 1863. Es ist die Fortsetzung des 1859 in Berlin erschienenen Heftes desselben Titels." 1 ) Was heißt das? Das heißt, daß Marx bis J u n i 1863 noch nach dem alten Plan v e r f a h r e n ist. In diesen 23 Heften mit 1472 Quartseiten umfassendem Manuskript behandelte Marx — wie Engels schreibt — „die in Buch I des .Kapitals' u n t e r suchten Themata, von der Verwandlung von Geld in Kapital bis zum Schluß, und ist die erste vorhandene Redaktion d a f ü r " . In der Mitte des Manuskriptes aber werden Probleme behandelt, „die später im Manuskript zu Buch III entwickelt sind". 2 ) Engels schreibt weiter, daß die „in Buch II sowie sehr viel später in Buch III behandelten T h e m a t a . . . dagegen noch nicht besonders zusammengestellt" seien. „Sie werden" — stellt Engels fest — „nebenbei behandelt, namentlich in dem Abschnitt, der den Hauptkörper des Manuskriptes ausmacht: Seite 220 bis 972 (Heft VI bis XV), Theorien ü b e r den Mehrwert." 3 ) Marx setzte sich in Heft VI bis Heft X V des Manuskriptes, also in zehn von dreiundzwanzig Heften, kritisch mit der klassischen bürgerlich ->.n Ökonomie auseinander. Engels schreibt: „Dieser Abschnitt enthält eine a u s f ü h r liche kritische Geschichte des K e r n p u n k t e s der politischen Ökonomie, der Mehrwerttheorie, und entwickelte daneben, in polemischem Gegensatz zu den Vorgängen, die meisten der später im Manuskript zu Buch II und III besonders und in logischem Zusammenhang untersuchten Punkte."') Hier müssen wir den Anstoß f ü r die Ä n d e r u n g im A u f b a u p l a n d^s M a r x schen „Kapitals" suchen — in der nochmaligen kritischen Auseinandersetzung mit der klassischen bürgerlichen Ökonomie. Denn diese nochmalige •— Auseinandersetzung mit der klassischen bürgerlichen Ökonomie ist eine „Kritik ihres Systems". Es w a r die nochmalige kritische Auseinandersetzung mit Smith und Ricardo, die Marx zu den Einwänden gegen ihr System f ü h r t e , f e g e n den A u f b a u ihres theoretischen Werkes. W ä h r e n d Marx an dem Manuskript arbeitete, das die Fortsetzung seines Werkes vor 1859 sein sollte, setzte er sich mit dem System u n d dem A u f b a u des Werkes von Smith und Ricardo auseinander. Er formulierte sowohl die historische Berechtigung der Methode 3

) ") 3 ) 4 ) 14*

A. a. O., S. 4. Engels, Vorwort zur 1. Auflage des „Kapitals", Bd. II, a. a. O., S. 4 Ebd. Ebd. 211

ihrer Werke und insbesondere die historische Berechtigung der „Architektonik" des Werkes von Ricardo, aber auch ihre Mängel. Er sprach beides aus, und die notwendige Folge mußte sein: der neue Aufbau des eigenen Werkes. Die kritische Auseinandersetzung der „Theorien über den Mehrwert" also müssen die Ursache sein, die methodologische Kritik an Smith und Ricardo, die zum Wechsel im Plan des Aufbaus des „Kapitals" geführt haben. Diese Auseinandersetzung war bis zum Juni 1863 abgeschlossen. Im August 1863 schrieb Marx dann schon, daß er „alles umgeschmissen" habe. Engels schreibt auch a. a. O. weiter, daß Marx erst, nachdem er diese angeführten Arbeiten abgeschlossen hatte, weitere Manuskripte ausarbeitete. „Das dem Datum nach jetzt folgende Manuskript" — schreibt Engels — „ist das von Buch III. Es ist wenigstens größtenteils 1864 und 1865 geschrieben. Erst nachdem dies im wesentlichen fertig, ging Marx an die Ausarbeitung von Buch I des 1867 gedruckten ersten Bandes." 1 ) Nachdem Marx in der erneuten kritischen Auseinandersetzung mit den Methoden der Klassiker der bürgerlichen Ökonomie seinen Plan umgeworfen hatte, ging er daran, das Manuskript von Buch I, wie wir es jetzt kennen, f ü r den Druck fertig auszuarbeiten. Die wesentlichsten Arbeiten f ü r Buch II und Buch III waren abgeschlossen und die Gedanken, die zur Planänderung f ü h r ten, in den Manuskripten niedergelegt, die 1904 bis 1910 von Kautsky, nachdem Engels es selbst nicht mehr geschafft hatte, unter dem Titel „Theorien über den Mehrwert" herausgegeben wurden. Engels geht auch in seinem „Vorwort" zum zweiten Band auf den Umfang der Marxschen Manuskripte ein. Die bloße Aufzählung des von Marx hinterlassenen handschriftlichen Materials zu Buch II beweist, schreibt er, mit welcher Gewissenhaftigkeit ohnegleichen, mit welcher strengen Selbstkritik er seine großen ökonomischen Entdeckungen bis zur äußeren Vollendung auszuarbeiten strebte, ehe er sie veTöffentlichte; eine Selbstkritik, die ihn nur selten dazu kommen ließ, die Darstellung nach Inhalt und Form seinem stets durch neue Studien sich erweiterten Gesichtskreis anzupassen.2) Dieses Material besteht — wie schon gesagt — aus dem Manuskript „Zur Kritik der politischen Ökonomie", 1472 Quartseiten in 23 Heften, geschrieben August 1861 bis Juni 1863, als der „Fortsetzung des 1859 in Berlin erschienenen ersten Hefts desselben Titels". Aus der Beschreibung des Inhalts dieser 23 Hefte durch Engels und aus der Tatsache, daß das jetzt folgende Manuskript, das von Buch III, wenigstens größtenteils 1864 und 1865 geschrieben ist und Marx erst, nachdem dies im wesentlichen fertig war, an die Ausarbeitung von Buch I, des 1867 gedruckten 1. Bandes, ging, geht schon rein philologisch hervor, daß alle Einwände in ') Kapital, Bd. II, S. 4.

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) Ebd., S. 3 (von mir hervorgehoben, F. B.).

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der Art des „berühmten" Widerspruchs zwischen dem 1. und 3. Band des „Kapitals", die daraus entstanden sein sollen, daß Marx bei der Niederschrift des 3, Bandes seine „ I r r t ü m e r " im 1. Band e r k a n n t habe, hinfällig sind. Aber die bürgerlichen Apologeten u n d Vulgärökonomen fälschen die Tatsachen weiter... Der P l a n ä n d e r u n g des Marxschen „Kapitals" lagen also prinzipielle Erwägungen zugrunde, Erwägungen, die aus der von M a r x selbst ausgearbeiteten und an der Methode der Klassiker der bürgerlichen Ökonomie überp r ü f t e n materialistischen Dialektik sich ergaben. Die Erwägungen, die Marx zur Abänderung seines ursprünglichen A u f b a u p l a n e s f ü h r t e n , w a r e n also nicht äußerlicher Natur, sondern ergaben sich aus dem Wesen der materialistischen Dialektik. Es w u r d e bereits die Stelle zitiert, wo Marx im Nachwort zur zweiten Auflage des 1. Bandes des „Kapitals" im J a h r e 1873 das Verhältnis der materialistischen zur idealistischen Dialektik charakterisiert. Er h a t nicht n u r die Hegeische Dialektik vom Kopf auf die F ü ß e gestellt, er h a t f ü r die adäquate Erfassung der realen Dialektik, der Bewegung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die richtige F o r m gefunden, das wissenschaftliche System der politischen Ökonomie. Das h a t Marx in der Tat getan, und daher k a n n m a n das „Kapital" von Marx nicht voll verstehen, ohne die „Logik" von Hegel, d. h. seine „Dialektik" studiert zu haben, wie Lenin schrieb. Weil nach dem ersten Plan sein Werk noch nicht die adäquate F o r m f ü r den Inhalt war, änderte er den Plan, so daß jetzt wirklich die „gewordene Form im Flusse der Bewegung" aufgefaßt wird. M a r x ' Beschäftigung m i t Hegel hat nie abgerissen. Am 14. J a n u a r 1858 schrieb Marx an Engels, daß er „Hegels Logik wieder durchgeblättert" habe. Dies habe ihm „in der Methode des Bearbeitens . . . große Dienste g e l e i s t e t . . ."1) Marx f ü g t hinzu, er habe große Lust, „in zwei oder drei Druckbogen das Rationelle an der Methode, die Hegel entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen". 2 ) M a r x h a t aber in Wirklichkeit viel m e h r als dies geleistet: er hat am Stoffe der politischen Ökonomie des Kapitalismus die dialektische Methode angewandt. Marx hat den Aufbauplan seines Werkes geändert, weil der erste Entwurf der Methode der politischen Ökonomie noch nicht völlig adäquat war. Er fand den richtigen Aufbau im Ringen mit dem Stoff, in der immerwährenden kritischen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Produktionsweise und mit der bürgerlichen Ökonomie. Es ging Marx u m die theoretische Darstellung des erforschten Stoffes in historischer Form, „nur entkleidet der historischen F o r m u n d der störenden *) Marx-Engels-Briefwechsel, Berlin 1950, Bd. II, S. 341. ) Ebd.

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Zufälligkeiten", es ging Marx darum, in der Erscheinung das Wesen der Dinge und die Vermittlungsglieder zwischen Wesen und Erscheinung aufzuzeigen —, es ging Marx darum, „jede gewordene Form im Flusse der B e wegung" aufzufassen und darzustellen! 1 )

b) Die Werttheorie Marx beginnt seine Analyse der kapitalistischen Produktion mit der A n a lyse der Ware. Über die methodologischen Gesichtspunkte ist das Erforderliche bereits gesagt. Es soll daher in Kürze das Wesentlichste der Marxschen Werttheorie hier resümiert werden. Die Ware ist erstens ein Ding, das irgendein menschliches Bedürfnis befriedigt, sie ist zweitens ein Ding, das gegen ein anderes austauschbar ist. Ihre Nützlichkeit macht sie zum Gebrauchswert, ihre Austauschbarkeit zum Tauschwert. Der Tauschwert einer Ware ist das Verhältnis, nach der eine bestimmte Anzahl von Gebrauchswerten einer A r t gegen eine bestimmte Anzahl von Gebrauchswerten anderer A r t ausgetauscht wird. Dabei zeigt die alltägliche Erfahrung, daß in allen Tauschakten die verschiedensten und miteinander nicht vergleichbaren Gebrauchswerte einander gleichgesetzt werden. Das Gemeinsame aller dieser in einem bestimmten System gesellschaftlicher V e r hältnisse einander gleichgesetzter Gebrauchswerte ist, daß sie Arbeitsprodukte sind. Indem die Menschen ihre Produkte miteinander austauschen, setzen sie aber ihre verschiedenen Privatarbeiten einander gleich. Die Warenproduktion ist soweit ein System von gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die privaten Produzenten ohne Plan verschiedenartige Produkte erzeugen und die Produkte wechselseitig austauschen. Sie tauschen also, da in jeder Ware ein Bruchteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit vergegenständlicht ist, bestimmte Mengen gewonnener Arbeit miteinander aus. Das Gemeinsame, das in allen Waren vorhanden ist, ist nicht die konkrete Arbeit eines bestimmten Produktionszweiges, nicht Arbeit einer besonderen Art, sondern abstrakte Arbeit, menschliche Arbeit schlechthin. ') Der von Henry Großmann gemachte Versuch, die Veränderung des Marxschen Aufbauplanes zu erklären (vgl. Henry Großmann, Die Änderung des Aufbauplanes des Marxschen „Kapitals" und ihre Ursachen, Grünbergs Archiv, 14. Jahrgang, 1929, Heft 2, S. 309), wurde von mir eingehend in meiner Schrift: „Zur Methode der politischen Ökonomie", Berlin 1952, widerlegt. Großmann, der die Ursachen für den Planwechsel in der Kritik des Kreislaufschemas von Quesnay durch Marx sucht, hat das Wesen der marxistischen Dialektik nicht verstanden und ersetzte sie durch die formale bürgerliche Methode der stufenweisen Annäherung an die Wirklichkeit. Hieraus ergab sich unter anderem auch eine falsche, mechanistische Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus. Vgl. insbesondere meine angeführte Schrift, S. 45 ff. 214

Uber seine Analyse des „Wertes" schrieb Marx am 2. April 1858 an Engels: „Rein reduziert auf Arbeitsquantum; Zeit als Maß der Arbeit. Der Gebrauchswert — sei es subjektiv als usefulness (Zweckmäßigkeit) der Arbeit, oder objektiv als utility (Nützlichkeit) des Produktes betrachtet — erscheint hier bloß als stoffliche Voraussetzung des Werts, die einstweilen ganz aus der ökonomischen Formbestimmung herausfällt. Der Wert als solcher hat keinen anderen ,Stoff' als die Arbeit selbst. Diese Bestimmung des Werts, zuerst andeutungsweise in Petty, rein herausgearbeitet in Ricardo, ist bloß die abstrakteste Form des bürgerlichen Reichtums. Setzt an sich schon voraus 1. die Aufhebung des naturwüchsigen Kommunismus (Indien etc.), 2. aller unentwickelten, vorbürgerlichen Weisen der Produktion, in denen der Austausch sie nicht in ihrem ganzen Umfang beherrscht. Obgleich Abstraktion historische Abstraktion, die eben nur auf der Grundlage einer bestimmten ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft vorgenommen werden konnte. Alle Einwürfe gegen diese Definition des Wertes sind entweder hergenommen aus unentwickelten Produktionsverhältnissen oder sie beruhen auf der Konfusion, die konkreteren ökonomischen Bestimmungen von denen der Wert abstrahiert ist, und die andererseits daher auch als weitere Entwicklung desselben betrachtet werden können, gegen ihn in dieser seiner abstrakten unentwickelten Form geltend zu machen. Bei der Unklarheit der Herren Ökonomen selbst, wie sich die Abstraktion zu späteren konkreteren Formen des bürgerlichen Reichtums verhält, waren diese Einwürfe plus ou moins (mehr oder weniger) berechtigt."1) So wie die Ware einen Doppelcharakter hat: Gebrauchswert und Tauschwert, so hat ihn auch die Arbeit, die die Ware erzeugt, als konkrete und abstrakte Arbeit. Die konkrete Arbeit führt zum Gebrauchswert, die abstrakte Arbeit bildet ihren Wert. Bereits die klassische bürgerliche Ökonomie hatte erkannt, daß die Arbeit den Wert der Waren bildet. Die klassischen bürgerlichen Ökonomen waren aber der Ansicht, daß jede Arbeit Wert bilde, daß Ware und Wert ewige und natürliche Kategorien seien, daß die Warenproduktion und damit auch der Kapitalismus als die vollentwickelte Warenproduktion eine ewige und naturnotwendige Produktionsweise sei. Als Ideologen der Bourgeoisie betrachteten sie „die bürgerliche Form der Arbeit als die ewige Naturform der gesellschaftlichen Arbeit". 2 ) Diese falsche Auffassung, die typisch ist für die gesamte bürgerliche Ökonomie, zerschlug Marx durch die Entdeckung des Doppelcharakters der warenproduzierenden Arbeit. Marx wies nach, daß die warenproduzierende Arbeit die Einheit ist von konkreter und abstrakter Arbeit und daß nur die abstrakte Arbeit den Wert der Waren bildet. ') Briefwechsel Marx-Engels, Bd. II, S. 383/384. Zur Kritik, S. 59.

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„Ursprünglich erschien uns die Ware als ein zwieschlächtiges, Gebrauchswert und Tauschwert", sagt Marx. „Später zeigte sich, daß auch die Arbeit, soweit sie im Wert ausgedrückt ist, nicht mehr dieselben Merkmale besitzt, die ihr als Erzeugerin von Gebrauchswert zukommt." 1 ) Um den zwieschlächtigen Charakter der Arbeit ganz zu verstehen, muß man also davon ausgehen, daß die Warenproduktion als gesellschaftliche Produktion privater Produzenten historisch entstanden ist. Das Wachstum der Produktivkräfte rief den Verfall des Gemeineigentums und das Auftreten des Privateigentums hervor. Der Warenaustausch begann sich auch innerhalb des Gemeinwesens zu entwickeln und beschleunigte und verstärkte damit den Entwicklungsprozeß des Privateigentums. Die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung unter den Bedingungen des Privateigentums an den Produktionsmitteln verlieh der Produktion den Charakter der Warenproduktion. Aus der unmittelbaren gesellschaftlichen Arbeit der Produzenten wurde mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit und des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln sowie mit dem Auftreten des Warentausches die Privatarbeit der Produzenten. Die Verausgabung der gesellschaftlichen Arbeit ist jetzt die Privatangelegenheit von Einzelpersonen geworden. Hieraus ergibt sich der Grundwiderspruch der Warenproduktion: der Widerspruch zwischen privater und gesellschaftlicher Arbeit. Der Grundwiderspruch der Warenproduktion ist die Wurzel aller weiteren Widersprüche. „Um eine Ware zu produzieren — so heißt es in ,Lohn, Preis, Profit' — , muß der von ihm (vom privaten Produzenten, F. B.) produzierte Artikel nicht nur irgendein gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen, sondern seine Arbeit selbst muß Bestandteil und Bruchteil der von der Gesellschaft verausgabten Gesamtarbeitssumme bilden. Seine Arbeit muß unter die Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft subsumiert sein. Sie ist nichts ohne die anderen Teilarbeiten, und es ist erheischt, daß sie für ihr Teil sie ergänzt." 2 ) Der Widerspruch des Doppelcharakters der Arbeit, der Widerspruch von konkreter und abstrakter Arbeit entwickelt sich historisch als Folge des Widerspruches zwischen privater und gesellschaftlicher Arbeit. Es genügt in der auf dem Privateigentum gegründeten arbeitsteiligen Produktion nicht, irgendeinen Gebrauchswert zu produzieren, d. h. konkrete Arbeit zu verausgaben, sondern es ist erforderlich, daß durch den Markt diese Verausgabung von Arbeit als gesellschaftlich notwendig anerkannt wird, d. h., daß für den produzierten Gebrauchswert Käufer vorhanden sind. Auf dem Markt tritt der Widerspruch der verschiedenen Seiten der Arbeit voll in Erscheinung, hier zeigen sich die Folgen der Tatsache, daß die Arbeit ungeachtet ihres gesell') Kapital, Bd. I, S. 45/46. ) Lohn, Preis, Profit, Ausgewählte Schriften, Bd. I, S. 392.

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schaftlichen Charakters Privatarbeit, Privatangelegenheit der einzelnen Produzenten ist. Die stärkste Entwicklung erreichen diese Widersprüche unter den Bedingungen des Kapitalismus. Nur vermittels des Marktes offenbart sich die gesellschaftliche Verbindung der Warenproduzenten; durch die Gleichsetzung der Arbeitsprodukte stellt sich heraus, daß die Arbeit nicht n u r die nützliche Arbeit des gegebenen Produktes ist, sondern auch gesellschaftliche Arbeit, abstrakte Arbeit. Marx nennt die Erkenntnis der zwieschlächtigen Natur der Arbeit, die Erkenntnis ihres Doppelcharakters, daher auch den Springpunkt der politischen Ökonomie. „Diese zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit ist zuerst von mir kritisch nachgewiesen worden", schreibt er im iersten Band des „Kapitals". 1 ) In einem Brief an Engels im Jahre 1867 schreibt Marx: „Das Beste an meinem Buche ist — darauf beruht alles Verständnis der fact — der gleich im 1. Kapitel hervorgehobene Doppelcharakter der Arbeit, je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt." 2 ) Die gesamte Arbeitskraft einer gegebenen Gesellschaft, dargestellt in der Summe der Werte aller Waren, ist ein und dieselbe menschliche Arbeit, so daß der Wert jeder Ware nur einen bestimmten Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit darstellt. Die Wertgröße einer Ware wird bestimmt durch die Menge der gesellschaftlich notwendigen Arbeit oder durch die zur Herstellung einer Ware gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. „Indem sie •—• die Produzenten — ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich", schreibt Marx. „Sie wissen das nicht, aber sie tun es." 3 ) Der Wert ist ein unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis zwischen Menschen, ein verdinglichtes gesellschaftliches Verhältnis, und keine dingliche Eigenschaft der Ware! Es ist eine der grundlegenden wissenschaftlichen Leistungen von Marx, den gesellschaftlichen Charakter des Wertes entwickelt zu haben! Einen wichtigen Hinweis auf den gesellschaftlichen Charakter des Wertes gibt Marx in einem Brief an Kugelmann vom 11. Juli 1868. Er k n ü p f t dabei an eine Besprechung seines 1. Bandes „Kapital" im „Zentralblatt" an und schreibt, was das „Zentralblatt" angehe, so mache der Mann die größtmögliche Konzession, indem er zugebe, daß, wenn man unter Wert sich überhaupt etwas denkt, man Marx' Schlußfolgerungen zugeben müsse. „Der Unglückliche sieht nicht", schreibt Marx, „daß, wenn in meinem Buche gar kein Kapitel über den ,Wert' stände, die Analyse der realen Verhältnisse, die ich gebe, den Beweis und den ') A. a. O., S. 45/46. 2 ) Marx-Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, S. 224. 3 ) Marx, Kapital, Bd. I, S. 79. 217

Nachweis des wirklichen Wertverhältnisses enthalten würde. Das Geschwätz über die Notwendigkeit, den Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständiger Unwissenheit, sowohl über die Sache, um die es sich handelt, als die Methode der Wissenschaft. Daß jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für einige Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, daß die verschiedenen Bedürfnissen entsprechenden Massen von Produkten verschiedene und quantitative bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen. Daß diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist seif evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiedenen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt, in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte." Die Wissenschaft bestehe eben darin, meint Marx, zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetze. „Wollte man also von vornherein alle dem Gesetz scheinbar widersprechenden Phänomen ,erklären', so müßte man die Wissenschaft vor der Wissenschaft liefern. Es ist gerade der Fehler Ricardos, daß er in seinem ersten Kapitel über den Wert alle möglichen Kategorien, die erst entwickelt werden sollen, als gegeben voraussetzt, um ihr Adäquatsein aus dem Wertgesetz nachzuweisen." 1 ) Andererseits beweise, schreibt Marx weiter, „die Geschichte der Theorie, daß die Auffassung des Wertverhältnisses stets dieselbe war, klarer oder unklarer, mit Illusionen verbrämter oder wissenschaftlich bestimmter. Da der Denkprozeß selbst aus den Verhältnissen herauswächst, selbst ein Naturprozeß ist, so kann das wirklich begreifende Denken immer nur dasselbe sein und nur graduell nach der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird, sich unterscheiden. Alles andere ist Faselei."'2) Das Wertgesetz gilt aber damit nicht nur für die kapitalistische Produktion. Hierüber machte Engels wichtige Ausführungen. „Das Marxsche Wertgesetz gilt allgemein", schrieb Engels im Jahre 1895 im „Nachtrag" zum „Kapital", Band III, „soweit überhaupt ökonomische Gesetze gelten, für die ganze Periode der einfachen Warenproduktion, also bis zur Zeit, wo diese durch den Eintritt der kapitalistischen Produktionsform eine Modifikation erfährt. Bis dahin gravitieren die Preise nach den durch das Marxsche Gesetz bestimmten Werten hin und oszillieren um diese Werte, so daß, je voller die einfache Warenproduktion zur Entfaltung kommt, desto mehr die Durchschnittspreise längerer, nicht durch äußere gewaltsame Störungen unterbrochener Perioden 2)

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Marx-Engels, Ausgewählte Briefe, S. 241/242. Ebd.

innerhalb der Vernachlässigungsgrenzen mit den Werten zusammenfallen. Das Marxsche Wertgesetz hat also ökonomisch-allgemeine Gültigkeit für eine Zeitdauer, die vom Anfang des die Produkte in Waren verwandelnden Austausches bis ins fünfzehnte Jahrhundert unserer Zeitrechnung dauerte. Der Warenaustausch aber datiert von dieser Zeit, die vor aller geschriebenen Geschichte liegt, die in Ägypten auf mindestens drittehalbtausend, vielleicht fünftausend, in Babylonien auf viertausend, vielleicht sechstausend Jahre vor unserer Zeitrechnung zurückführt; das Wertgesetz hat also gewirkt während einer Periode von fünf bis sieben Jahrtausenden."1) Damit hatte Marx das Wertgesetz als Regulator der Warenproduktion entdeckt. „Die Waren sind als Werte nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit."2) Marx entdeckte aber nicht nur den Doppelcharakter der in den Waren verkörperten Arbeit, er analysierte auch die Wertform der Ware. Marx untersucht die Entstehung des Geldes auf der Grundlage des historischen Prozesses der Entwicklung des Austausches, angefangen mit den einzelnen, zufälligen Tauschakten, d. h. der „einfachen, einzelnen oder zufälligen Wertform" über die „totale oder entfaltete Wertform", in der eine Ware gegen eine Reihe verschiedener Waren ausgetauscht wird, bis zur „allgemeinen Wertform", bei der eine Reihe von verschiedenen Waren gegen ein und dieselbe bestimmte Ware ausgetauscht wird, und der „Geldform", bei der als diese bestimmte Ware, als das allgemeine Äquivalent, das Gold auftritt. Das Geld ist somit eine notwendige Erscheinung der Warenproduktion. Es entsteht aus dem Grundwiderspruch der Warenproduktion, daß die gesellschaftliche Arbeit hier privaten Charakter hat. „Die Privatarbeit soll sich also unmittelbar darstellen als ihr Gegenteil", schreibt Marx in den „Mehrwerttheorien", „als gesellschaftliche Arbeit; die so verwandte Arbeit als ihr unmittelbares Gegenteil, abstrakt allgemeine Arbeit, die sich dabei auch in einem allgemeinen Äquivalent darstellt. Nur durch ihre Veräußerung stellt sich die individuelle Arbeit wirklich als ihr Gegenteil dar. Aber die Ware muß diesen allgemeinen Ausdruck besitzen, bevor sie veräußert ist. Die Notwendigkeit der Darstellung der individuellen Arbeit als allgemeiner ist die Notwendigkeit der Darstellung einer Ware als Geld. Soweit dieses Geld als Maß dient und als Ausdruck des Wertes der Ware im Preise, erhält die Ware diese Darstellung. Erst durch ihre wirkliche Verwandlung in Geld, den Verkauf, gewinnt sie diesen ihren adäquaten Ausdruck als Tauschwert. Die erste Verwandlung ist bloß theoretischer, die zweite wirklicher Prozeß."3) Sobald eine Ware verkauft ist, besitzt ihr Tauschwert ein selbständiges, von ihrem Gebrauchswert gesondertes Dasein. Sie existiert jetzt nur noch als ein bestimmtes Quantum gesellschaftlicher J)

A. a. O., S. 34/35 (von mir hervorgehoben, F. B.). Marx, Kapital, Bd. I, S. 44. 3 ) Theorien über den Mehrwert, Bd. II/l. 2)

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Arbeitszeit in einer Form, die gegen jede beliebige Ware austauschbar, in jeden beliebigen Gebrauchswert verwandelbar ist. Es zeigt sich also zweierlei durch das Geld: Der Wert der Ware wird einmal ideell, das andere Mal reell in Preis verwandelt, d. h., durch das Geld wird der Tauschwert der Ware, die gesellschaftliche Arbeit neben ihrem Gebrauchswert verselbständigt, als Preis der Ware vor dem Austausch nach der Produktion und als realisierter Preis nach dem Austausch. Damit war das „Rätsel" des Wertes durch Marx gelöst und die Frage beantwortet, wie gesellschaftliche Produktion privater Produzenten überhaupt möglich ist. Sie ist möglich auf der Grundlage des Austausches von Äquivalenten, und n u r weil die Arbeitsprodukte gemäß der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeitsmenge ausgetauscht werden, ist eine ohne Plan durchgeführte gesellschaftliche Produktion möglich. Regulator einer solchen Produktion ohne Plan ist das spontan sich durchsetzende Wertgesetz. Keine Gesellschaftsform könne verhindern, schreibt Marx im J a h r e 1868 an Engels, „daß one way or another die disponible Arbeitszeit der Gesellschaft die Produktion regelt. Aber solange sich diese Regelung nicht durch direkte bewußte Kontrolle der Gesellschaft über ihre Arbeitszeit — was nur möglich bei Gemeineigentum — vollzieht, sondern durch die Bewegung der Preise der Waren, bleibt es bei dem, was Du bereits in den ,DeutschFranzösischen Jahrbüchern' ganz zutreffend gesagt hast." 1 )

c) Der Mehrwert Aus der Marxschen Werttheorie ergibt sich mit Notwendigkeit die Mehrwerttheorie. Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Warenproduktion und -Zirkulation verwandelt sich Geld in Kapital. Die Formel der Warenzirkulation ist: W (Ware) — G (Geld) — W (Ware), d. h. Verkauf einer Ware, um eine andere zu kaufen. Die allgemeine Formel des Kapitals dagegen ist: G — W — G, d. h. Kauf, um mit Profit zu verkaufen. Marx nennt den Zuwachs zum ursprünglichen Wert des in die Zirkulation geworfenen Geldes „Mehrwert". Die Tatsache dieses „Zuwachses" zu dem in die Zirkulation geworfenen Geld war — wie wir bereits gesehen haben — schon den Ökonomen vor Marx bekannt. Aber die Erklärung dieses „Zuwachses", der Geld in Kapital verwandelt als ein historisch bestimmtes gesellschaftliches Produktionsverhältnis, ist Marx' Leistung. Marx zeigte nicht nur, daß der Mehrwert nicht aus der Zirkulation der Waren entspringen kann, da hier nur Äquivalente ausgetauscht werden, daß er nicht aus einem Preisaufschlag entspringen kann, da die Verluste und Gewinne der K ä u f e r und Verkäufer sich gegenseitig ausgleichen müssen, sondern Marx zeigte, ') Marx-Engels, Ausgewählte Briefe, S. 231. 220

daß der Kapitalist, um Mehrwert zu erhalten, auf dem Markt eine Ware kaufen muß, deren Gebrauchswert die Eigenschaft besitzt, die Quelle des Wertes zu sein, eine solche Ware also, deren Konsumtion gleichzeitig Wertbildung ist. Diese Ware aber ist die Arbeitskraft der ihrer Produktionsmittel beraubten Lohnarbeiter, deren Verbrauch die Arbeit, den Wert, bildet. Der Kapitalist kauft die Arbeitskraft der Lohnarbeiter zu ihrem Wert, der wie der Wert jeder anderen Ware durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt wird, die zu ihrer Herstellung erforderlich ist, und hat das Recht, sie wie jeder andere Käufer einer Ware zu verbrauchen. Er zwingt den Arbeiter, dessen Arbeitskraft er gekauft hat, u m sie zu verbrauchen, einen ganzen Tag, z. B. 8 Stunden, zu arbeiten, während er schon im Laufe von 4 Stunden in der „notwendigen" Arbeitszeit ein Produkt erzeugt, durch das der Wert seiner Arbeitskraft ersetzt wird. Im Laufe der übrigen 4 Stunden — in der „Mehr"-Arbeitszeit — produziert er daher ein vom Kapitalisten nicht bezahltes „Mehr"-Produkt oder den Mehrwert. Marx unterscheidet vom Standpunkt des Produktionsprozesses zwei Teile des Kapitals: das konstante Kapital, das f ü r die Produktionsmittel (Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sowie Arbeitsmittel) verausgabt wird — sein Wert geht unverändert auf das fertige Produkt über —, und das variable Kapital, das f ü r die Arbeitskraft verausgabt wird. Der Wert des variablen Kapitals bleibt nicht unverändert, sondern nimmt im Arbeitsprozeß durch den Mehrwert zu. Der Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft durch das Kapital ergibt sich durch den Vergleich des Mehrwerts nicht mit dem Gesamtkapital, sondern nur mit dem variablen Kapital. Die Rate des Mehrwerts, wie Marx dieses Verhältnis nennt, wird also in unserem Beispiel 4 / 4 , d. h. 100 °/o, betragen. Marx zeigte weiter, daß die historischen Voraussetzungen f ü r die Entstehung des Kapitals erstens die Akkumulation von Geldvermögen in den Händen der Kapitalisten auf der Grundlage eines verhältnismäßig hohen Entwicklungsniveaus der Warenproduktion ist und zweitens das Vorhandensein einer im doppelten Sinne „freien" Arbeiterklasse — frei von allen Beschränkungen beim Verkauf ihrer Arbeitskraft und frei von Produktionsmitteln, eine Arbeiterklasse also, die nicht anders als vom Verkauf ihrer Arbeitskraft existieren kann. Der Mehrwert kann — wie Marx zeigt — durch zwei Methoden vergrößert werden: erstens durch Verlängerung des Arbeitstages und zweitens durch Verkürzung des notwendigen Arbeitstages. Bei der Analyse der ersten Methode — der Produktion des „absoluten Mehrwertes" — zeigt Marx, wie die englische Arbeiterklasse f ü r die Verkürzung des Arbeitstages k ä m p f t e und wie die bürgerliche Staatsgewalt zugunsten der Kapitalisten in diesen Kampf eingriff. Bei der Analyse der Produktion des „relativen Mehrwerts" untersucht Marx die drei Hauptstadien der Erhöhung des Mehrwerts durch Verkürzung des notwendigen Arbeitstages, d. h. der Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch 221

den Kapitalismus: 1. einfache Kooperation, 2. Arbeitsteilung und Manufaktur,. 3. Maschinerie und große Industrie. Damit hatte Marx auch das von der klassischen bürgerlichen Ökonomie offengelassene Problem gelöst, das Problem, wie auf der Grundlage des Austausches von Äquivalenten Profit möglich ist. Mit der Lösung dieses grundlegenden Problems der politischen Ökonomie des Kapitalismus, mit der Entdeckung des Mehrwerts und seiner Quelle und der Formulierung des Mehrwertgesetzes war der wissenschaftliche Charakter der politischen Ökonomie vollendet.

d) Profit, Zins und Rente Marx hat aber nicht nur das Wesen der kapitalistischen Produktionsweiseerklärt, er hat nicht nur die allgemeinen und abstrakten Kategorien von Wert und Mehrwert analysiert, sondern er hat auch gezeigt, wie an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsweise, in den Kategorien, die der sinnlichen Anschauung unmittelbar entgegentreten, wie Profit, Zins, Rente,, Marktpreise usw., die wesentlichen Zusammenhänge wirken. Dies — das Aufzeigen der Vermittlungsglieder zwischen Wesen und Erscheinung — macht die politische Ökonomie ja überhaupt erst zu einem wirklich wissenschaftlichen System. Ohne dies wäre sie entweder abstrakte Theorie ohneErfahrungsgehalt oder empirische Stoffsammlung ohne theoretische Verallgemeinerungen. Aus klassenmäßigen Gründen war die bürgerliche Ökonomie nicht imstande, ein solches wissenschaftliches System zu schaffen. Aus den gleichen Gründen sind aber die bürgerlichen Ökonomen auch nicht in der Lage, ein solches System zu verstehen. Bürgerliche Ökonomen und bürgerliche Ökonomie können weder das Wesen ihrer eigenen Produktionsweise verstehen, noch ihre Erscheinungen, wie sie dem sinnlichen Bewußtsein an. der Oberfläche entgegentreten, begreifen. In dem bereits zitierten Brief von Marx an Engels aus dem Jahre 1867 geht Marx auf die Tatsache ein, die die bürgerlichen Ökonomen nicht begriffen,, daß der Preis der Ware notwendig von ihrem Wert abweichen muß. Der Vulgärökonom habe nicht die geringste Ahnung davon, schreibt Marx,, „daß die wirklichen täglichen Austauschverhältnisse und die Wertgrößen nicht unmittelbar identisch sein können. Der Witz der bürgerlichen Gesellschaft besteht ja eben darin, daß a priori keine bewußte, gesellschaftliche Regelung der Produktion stattfindet. Das Vernünftige und Naturnotwendige setzt sich nur als blind wirkender Durchschnitt durch. Und dann glaubt der Vulgäre eine große Entdeckung zu machen, wenn er der Enthüllung des inneren Zusammenhanges gegenüber darauf pocht, daß die Sachen in der Erscheinung anders aussehen. In der Tat, er pocht darauf, daß er an dem Scheine festhält und ihn als letztes nimmt. Wozu dann überhaupt eineWissenschaft?" fragt Marx. 222

Die allgemein bekannte und unbestreitbare Tatsache des Abweichens der Preise von den Werten und der Gleichheit des Profits für gleich große Kapitale wird von Marx auf Grund des Wertgesetzes vollkommen erklärt. Die Summe der Werte aller Waren fällt mit der Summe der Preise zusammen. Aber die Reduzierung des Wertes auf die Preise ist kein einfacher, unmittelbarer, sondern ein sehr komplizierter Vorgang, den die bürgerlichen Ökonomen vor Marx, erst recht aber die nach Marx nie begriffen haben. Das von Marx entdeckte und formulierte Gesetz der Durchschnittsprofitrate und der Produktionspreise hat die bereits den bürgerlichen Ökonomen vor Marx bekannte Erscheinung zum Gegenstand, daß gleiche Kapitale, gleichgültig, wie ihre organische Zusammensetzung ist, gleiche oder annähernd gleiche Profite erzielen, so daß für den individuellen industriellen Kapitalisten der von ihm aus seinen Arbeitern herausgepreßte nicht mit dem von ihm realisierten Mehrwert zusammenfällt. Dieser Durchschnittsprofit geht in die Vorstellung und in die Berechnung der Kapitalisten selbst als ein regulierendes Element ein. Er bestimmt die Übertragung der Kapitale aus einer Anlagensphäre in die andere und liegt auch allen Verkäufen und Kontrakten zugrunde, die einen auf längere Epochen sich erstreckenden Reproduktionsprozeß umfassen. Er erscheint somit als eine Größe, die unabhängig ist von dem Wert und Mehrwert, der in jeder besonderen Produktionssphäre und mehr noch von jedem einzelnen Kapital erzeugt wird. Aber ebenso wie der Wert und der Mehrwert ist der Durchschnittsprofit eine gesetzmäßig bestimmte Größe. Wie löste Marx das Problem der Bildung der Durchschnittsprofitrate? Die Profitrate als das in Prozenten ausgedrückte Verhältnis des Mehrwerts zum vorgeschossenen Kapital hängt in ihrer Höhe und Entwicklung im wesentlichen von drei Faktoren ab: 1. von der Mehrwertrate, 2. von der organischen Zusammensetzung des Kapitals und 3. von der Umschlagsgeschwindigkeit des Kapitals. Die verschiedenen individuellen Kapitale bringen je nach der konkreten Gestaltung dieser drei Faktoren natürlich sehr verschiedene individuelle Profitraten hervor. Da Motor und Triebkraft der kapitalistischen Produktion das Profitstreben der Kapitalisten ist, legen sie ihr Kapital aber dort an, wo die Profitrate hoch ist, und ziehen es zurück, wo sie niedrig ist. Um die gewinnbringende Anlage des Kapitals spielt sich unter den Kapitalisten ein erbitterter Konkurrenzkampf ab. Die Kapitalisten streben danach, ihre Kapitale in jenen Produktionszweigen und Betrieben anzulegen, die ihnen den höchsten Profit bringen. Auf der Jagd nach dem höchsten Profit wird Kapital aus einem Zweig in den anderen übertragen, und eben dadurch wird aus den individuell-verschiedenen Profitraten die Durchschnittsprofitrate hergestellt. Daraus folgt, daß die Waren nicht zu ihren Werten, Kostpreis plus 223

individuellem Profit, sondern zu von diesen Werten abweichenden Preisen: Kostpreis plus Durchschnittsprofit verkauft werden. Marx bezeichnet den Kostpreis plus dem Durchschnittsprofit als den Produktionspreis. Er ist jene Durchschnittsgröße, um die die Marktpreise der Waren im vormonopolistischen Kapitalismus schwanken. Die Verwandlung der Werte in Produktionspreise hebt also nicht die Grenzen des Profits auf, sondern verändert nur seine Verteilung unter die verschiedenen besonderen Kapitale, aus denen das Gesellschaftskapital besteht, verteilt ihn auf sie gleichmäßig, im Verhältnis, worin sie Wertteile dieses Gesamtkapitals bilden. Die Marktpreise steigen über und fallen unter die regulierenden Produktionspreise, aber diese Schwankungen heben sich wechselseitig auf. „Betrachtet man Preislisten während einer längeren Periode und zieht man die Fälle ab, w o der wirkliche Wert der Waren infolge seines Wechsels in der Produktivkraft der Arbeit verändert", stellt Marx fest, „und ebenso die Fälle, worin durch natürliche oder gesellschaftliche Unfälle der Produktionsprozeß gestört wurde, so wird man sich wundern, erstens über die verhältnismäßig engen Grenzen der Abweichungen und zweitens über die Regelmäßigkeit ihrer Ausgleichung. Man wird hier dieselbe Herrschaft der regulierenden Durchschnitte finden, wie Quetelet sie bei den sozialen Phänomenen nachgewiesen hat." 1 ) Die Bildung der Durchschnittsprofitrate bedeutet die Neuverteilung des Mehrwerts zwischen den Kapitalisten der verschiedenen Produktionszweige. Die Arbeiter werden nicht nur von den Kapitalisten, bei denen sie arbeiten, sondern von der Kapitalistenklasse insgesamt ausgebeutet, so daß auch die ganze Kapitalistenklasse an einer Erhöhung der Ausbeutung interessiert ist. In der kapitalistischen Produktionsweise wirkt also das Gesetz der Durchschnittsprofitrate, das die unterschiedlichen individuellen Profitraten zu einer allgemeinen Profitrate ausgleicht. Es setzt sich, wie alle Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise, elementar, unter zahllosen Abweichungen und Schwankungen ab. Indem die Kapitalisten ihr Kapital dort anlegen, wo es am profitabelsten ist, und indem sie ihre Kostpreise senken, um Extraprofite zu erzielen, entwickeln sie die gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit, „die aber hier nur als beständige Steigerung der Produktivkraft des Kapitals erscheint". 2 ) Der ökonomische Fortschritt, der in der Steigerung der Arbeitsproduktivität zum Ausdruck kommt, wird in der kapitalistischen Produktionsweise nicht durch das organisierte und planmäßige Handeln der Menschen, sondern durch das von ständigen Rückschlägen begleitete und mit großen Verlusten an gesellschaftlicher Arbeit verbundene Wirken des Preis- und Profitmechanismus erzielt, der den Kern dieser Prozesse, die ständig steigende Ausbeutung der Arbeiterklasse, verhüllt. *) Kapital, Bd. III, S. 915. ) Ebd., S. 937.

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Für das Verständnis der Wirksamkeit des Gesetzes der Durchschnittsprofitrate ist die Unterscheidung der von Marx entdeckten Konkurrenz zweierlei Art von großer Bedeutung. Im entwickelten Kapitalismus ist eine doppelte Bewegung der Ausgleichung zu unterscheiden: erstens gleichen sich innerhalb der Produktionszweige die individuellen Warenwerte zu Marktwerten aus, wie sich auch immer der individuelle Wert verhalten mag, weil die Konkurrenz innerhalb der Produktionszweige zu einheitlichen Marktpreisen führt, die bei Gleichheit von Angebot und Nachfrage mit dem gesellschaftlichen Wert der Waren, ihrem Marktwert, zusammenfallen. Damit bildet sich zwar f ü r jeden Produktionszweig eine durchschnittliche Verwertung des hier angelegten Kapitals, eine f ü r diesen Zweig durchschnittliche Profitrate heraus, aber die individuellen Profitraten innerhalb dieses Produktionszweiges sind verschieden, wie die in der unterschiedlichen organischen Zusammensetzung der Kapitale zum Ausdruck kommende Arbeitsproduktivität verschieden hoch ist. Zweitens aber gleichen sich die Werte zu Produktionspreisen aus, indem die Konkurrenz der Kapitale um die Anlagesphäre aus den verschieden hohen Profitraten in den Produktionszweigen eine allgemeine Profitrate macht. Die Konkurrenz zwischen den Produktionszweigen f ü h r t zum Ausgleich der „besonderen" Profitraten der einzelnen Produktionszweige zu einer „allgemeinen" Profitrate f ü r alle Produktionszweige. Die Ausgleichung der verschiedenen Marktwerte so, daß sich die gleiche Profitrate f ü r die verschiedenen Produktionszweige ergibt, d. h. so, daß gleich große Kapitalien gleiche Profite liefern, ist nur möglich durch die Verwandlung der Werte in Produktionspreise, die von den wirklichen Werten verschieden sind. — Was die Konkurrenz in derselben Produktionssphäre bewirke, schreibt Marx, sei Bestimmung des Wertes der Ware in dieser Sphäre durch die durchschnittlich in derselben erheischte Arbeitszeit, d. h. Herstellung des Marktwertes. Was die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Produktionssphären bewirke, sei Herstellung derselben allgemeinen Profitrate in den verschiedenen Sphären durch Ausgleichung der verschiedenen Marktwerte zu Marktpreisen, die die Produktionspreise darstellen, die von den wirklichen Marktwerten verschieden sind. 1 ) So wie der Wert einer Ware gleich dem ihr aufgezehrten Kapital plus dem in ihr steckenden Mehrwert, so ist ihr Produktionspreis gleich dem in ihrer Produktion verbrauchten Kapital plus dem Mehrwert, der auf sie infolge der allgemeinen Profitrate fällt, also z. B. 20 °/o auf das zu ihrer Produktion vorgeschossene und verbrauchte Kapital. Aber diese Profitrate von 20 °/o selbst ist bestimmt durch den vom gesellschaftlichen Gesamtkapital erzeugten Mehrwert und sein Verhältnis zum Wert des Kapitals. Darum ist sie 20 °/o und nicht 10 °/o oder 100 °/o. Die Kompliziertheit der ökonomischen Prozesse, die zum Ausgleich der Profitraten und zur Herausbildung der Produktionspreise als SchwankungsTheorien über den Mehrwert, Bd. II/l, S. 59/60. 15 B e h r e n s

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Zentrum der Marktpreise führen, geht nicht zu Lasten der politischen Ökonomie, die die objektiven Prozesse nur widerspiegelt. Es seien — schreibt Marx in den „Theorien" — zwei Sätze, „die nicht nur dieselbe, sondern die entgegengesetzte Wirkung der Konkurrenz ausdrücken". Der erste sei, daß die Produkte derselben Sphäre sich zu einem und demselben Marktwert verkaufen, daß die Konkurrenz also verschiedene Profitraten, Abweichungen von der allgemeinen Profitrate erzwingt. Der zweite sei, daß die Profitrate für jede Kapitalanlage dieselbe sein muß oder daß die Konkurrenz eine allgemeine Profitrate schafft. Das erste Gesetz gelte, fügt Marx hinzu, „für die verschiedenen selbständigen Kapitalien, die in derselben Produktionssphäre angelegt sind. Das zweite gilt für die Kapitalien, soweit sie in verschiedenen Produktionssphären angelegt sind". Durch die erste Aktion schaffe die Konkurrenz den Marktwert, „das heißt denselben Wert für Waren derselben Produktionssphäre, obgleich dieser identische Wert differente Profite erzeugen muß; also denselben Wert trotz oder vielmehr durch differente Profitraten". Durch die zweite Aktion schaffe die Konkurrenz den Produktionspreis, „das heißt dieselbe Profitrate in den verschiedenen Produktionssphären, obgleich diese identische Profitrate der Ungleichheit der Werte widerspricht, also nur durch von den Werten unterschiedene Preise erzwungen werden kann". 1 ) In der Wirklichkeit verschlingen sich natürlich die beiden Arten der Konkurrenz innerhalb und zwischen den Produktionszweigen und fließen ineinander über. Sie sind Ausdruck des anarchischen Charakters der kapitalistischen Produktionsweise und setzen ihr ökonomisches Grundgesetz im vormonopolistischen Kapitalismus durch. Der Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise — die zugleich wirkende differenzierende und nivellierende Konkurrenz — wie Marx die Konkurrenz innerhalb und zwischen den Produktionszweigen auch nennt — führt mit dem Ausgleich zur allgemeinen Profitrate zwischen den Produktionszweigen zum Ruin der zurückgebliebenen Betriebe, d. h. der einfachen Warenproduzenten und auch der kleinen und mittleren Kapitalisten. Die von der politischen Ökonomie aufgezeigten Gesetze — insbesondere das Gesetz der Durchschnittsprofitrate und des Produktionspreises — entfalten sich voll im Kapitalismus der freien Konkurrenz und wirken auch im Imperialismus. Die volle Entfaltung dieser Gesetze im Kapitalismus der freien Konkurrenz bringt notwendig Elemente hervor, die zur Monopolbildung, zum Imperialismus führen. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität infolge der Jagd nach Profit bedeutet schnelleres Anwachsen des konstanten Kapitals zu dem variablen. Da aber der Mehrwert allein das Ergebnis des variablen Kapitals ist, so muß die Profitrate als das Verhältnis des Mehrwerts zum gesamten Kapital, nicht nur zu seinem variablen Teil allein, eine Tendenz zum Sinken haben. Marx analysiert ausführlich diese sinkende Tendenz der Profitrate und eine Reihe J)

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A. a. O., S. 60.

der sie herbeiführenden bzw. ihr entgegenwirkenden Umstände. Die sinkende Tendenz der Profitrate ist ein unabänderliches Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise, so sehr auch die individuellen Kapitalisten diesem Sinken durch die Jagd nach Extraprofit entgegenzuwirken streben. Alle entgegenwirkenden Faktoren heben den Fall der Profitrate nicht auf, sondern schwächen ihn nur ab und verleihen ihm den Charakter einer Tendenz. Die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals hat den tendenziellen Fall der allgemeinen, d. h. durchschnittlichen Profitrate zur unausbleiblichen Folge. Das ist also der Preis- und Profitmechanismus der kapitalistischen Produktionsweise: die Kapitalisten streben nach höchsten Profiten, insbesondere durch die ständige Erhöhung der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Die Konkurrenz gleicht die unterschiedlichen individuellen Profitraten zu einer durchschnittlichen Profitrate aus. Die Marktpreise schwanken nicht um die Werte, sondern um die Produktionspreise der Waren. Die Durchschnittsprofitrate sinkt, weil die gesellschaftlichen Produktivkräfte sich entwickeln, d. h., weil die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit, also die Arbeitsproduktivität, sich erhöht. Die Arbeitsproduktivität wird im Kapitalismus' nur dann und nur so weit erhöht, wie das für die individuellen Kapitalisten zu Extraprofiten führt. Die Grundlage des kapitalistischen Preis- und Profitmechanismus ist der von den Arbeitern in den kapitalistischen Betrieben erzeugte Wert, der den Mehrwert einschließt. Die Erzielung dieses Mehrwertes ist das treibende Motiv der kapitalistischen Produktion. Die Kapitalisten streben nicht deswegen nach einer Steigerung der Produktion und der Arbeitsproduktivität, weil sie die Versorgung der Gesellschaft mit Gebrauchswerten verbessern wollen, sondern um die Verwertung ihres Kapitals, ihren Profit zu erhöhen. Dies führt infolge der sinkenden Rate des Profites mit steigender organischer Zusammensetzung des Kapitals zu immer schärferer Ausbeutung der Arbeiterklasse, zur Erhöhung der Mehrwertrate und zur Senkung der Löhne unter den Wert der Arbeitskraft. Eine andere Seite des gleichen Prozesses ist die Konzentration und die Zentralisation des Kapitals sowie die Entstehung und ständige Vermehrung der industriellen Reservearmee. Da der Kapitalismus eine seinem Wesen nach anarchische Produktionsweise ist und auf der Ausbeutung der Lohnarbeiter durch die Kapitalisten beruht, so führt der ökonomische Fortschritt, die Entwicklung der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit, dazu, daß die Kapitalisten ständig reicher, die Arbeiter ständig ärmer werden und zugleich der gesellschaftliche Produktionsprozeß immer krisenhafter wird. Die reichere Versorgung der Gesellschaft mit Gebrauchswerten ist für die Kapitalisten nur ein Mittel zur Erhöhung ihrer Profitrate, für die Arbeiter aber die Quelle verschärfter Ausbeutung und steigender Verelendung. Marx analysiert im 3. Band seines „Kapitals" auch die Entfaltung der inneren Widersprüche des Kapitalismus, die sich aus dem Gesetz des 15'

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tendenziellen Falles der Profitrate ergeben. Kein Kapitalist werde natürlich eine neue Produktionsmethode freiwillig anwenden, stellt Marx fest, sie mag noch soviel produktiver sein oder um noch soviel die Rate des. Mehrwerts erhöhen, wenn sie zu einer Verminderung der Profitrate führt. Warum und wann also werden im Kapitalismus neue Produktionsmethoden eingeführt? Weil jede solche neue Produktionsmethode die Produktionskosten der Waren vermindert, sie verwohlfeilert, wie Marx es nennt. Der Kapitalist, der sie als erster einführt, verkauft seine Ware daher ursprünglich über ihren Produktionspreis, ja vielleicht sogar über ihren Wert und macht damit einen Extraprofit. Er streicht die Differenz ein, die zwischen ihren Produktionskosten und dem Marktpreis der übrigen, zu höheren Produktionskosten produzierten Ware besteht. Er kann dies, weil der Durchschnitt der zur Produktion dieser Waren gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit größer ist als die mit der neuen Produktionsweise aufgewandte Arbeitszeit. Die neue Produktionsmethode steht über dem Durchschnitt der gesellschaftlich üblichen Methoden. Aber die Konkurrenz verallgemeinert sie und unterwirft sie dem allgemeinen Gesetz. „Dann tritt das Sinken der Profitrate ein — vielleicht zuerst in dieser Produktionssphäre — und gleicht sich nachher mit den anderen aus, das also ganz und gar unabhängig ist vom Willen der Kapitalisten." 1 ) Die Steigerung der Arbeitsproduktivität führt für die individuellen Kapitalisten also zunächst zu einem Extraprofit. Dieser Extraprofit verschwindet mit der Verallgemeinerung der neuen Produktionsmethoden, und als Folge ergibt sich eine Senkung der durchschnittlichen Profitrate. Diese niedrigere Profitrate als Folge der Verallgemeinerung neuer Produktionsmethoden, die eingeführt werden, um durch Extraprofit die Profitrate zu erhöhen, ist aber zugleich verbunden mit einer Erhöhung der Mehrwertrate, weil durch die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit der Wert aller Waren, also auch der Wert der Ware Arbeitskraft, gesenkt wird. „Es ist daher der immanente Trieb und die beständige Tendenz des Kapitals, die Produktivkraft der Arbeit zu steigern, um die Ware und durch die Wohlfeilerung der Ware den Arbeiter selbst zu wohlfeilem." 2 ) So entfalten sich die im Keime bereits in der Ware enthaltenen Widersprüche kapitalistischer Produktionsweise im vormonopolistischen Kapitalismus. Ihre bewußtseinsmäßigen Reflexe in den Köpfen der Kapitalisten und ihrer Ideologen, der bürgerlichen Ökonomen, führen zu den verschiedenen sogenannten „Schulen" und Arten der bürgerlichen Ökonomie einschließlich der sogenannten Betriebswirtschaftslehre. Gemeinsam ist allen das Ausgehen von den Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise und das Nichtbegreifen und Verfälschen der zugrunde liegenden wesentlichen Prozesse. Bereits in einem Brief an Engels am 27. Juni schrieb Marx, als er ») Kapital, Bd. III, S. 294 Kapital, Bd. I, S. 335.

2)

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die Verwandlung des Wertes der Ware in den Produktionspreis skizzierte, hier werde sich zeigen, „woher die Vorstellungsweise von Spiesser und Vulgärökonom stammt, nämlich daher, daß in ihrem Hirn sich immer nur die unmittelbare Erscheinungsform der Verhältnisse reflektiert, nicht deren innerer Zusammenhang. Wäre letzteres übrigens der Fall, wozu wäre dann überhaupt eine Wissenschaft nötig? Wollte ich nun alle derartigen Bedenken vorweg abschneiden, so würde ich die ganze dialektische Entwicklungsmethode verderben. Umgekehrt. Diese Methode hat das Gute, daß sie den Kerls beständig Fallen stellt, die sie zur unzeitigen Manifestation ihrer Eselei provozieren", 1 ) was ja, wie bekannt, fügen wir hinzu, zur Genüge der Fall war! Ein Musterbeispiel hierfür ist auch die dumme Behauptung Widerspruch zwischen dem 1. und 3. Band des „Kapitals".

von

dem

Im Jahre 1885 stellte Engels im Vorwort zur ersten Auflage des 2. Bandes des „Kapitals", den er nach Marx' Tode zum Druck fertig gemacht hatte, fest, daß die „Ricardosche S c h u l e . . . gegen 1830 am Mehrwert" scheiterte. „Was sie nicht lösen konnte, blieb erst recht unlösbar f ü r ihre Nachfolgerin, die Vulgärökonomie." 2 ) Das eine der beiden Probleme, an denen die Ricardosche Schule scheiterte, war — wie wir wissen — die Erklärung der Tatsache gleicher Profite f ü r gleiche Kapitale. „Tatsächlich produzieren gleiche Kapitale, einerlei, wieviel oder wie wenig lebendige Arbeit sie anwenden, in gleichen Zeiten durchschnittlich gleiche Profite", schreibt Engels. Hier liegt also ein Widerspruch gegen das Wertgesetz vor, den schon Ricardo fand und den seine Schule ebenfalls zu lösen unfähig war. Engels fügt hinzu, daß Marx diesen Widerspruch bereits im Manuskript „Zur Kritik" gelöst habe, „die Lösung erfolgt nach dem Plan des ,Kapitals' in Buch III". 3 ) Da noch Monate bis zu seiner Veröffentlichung verstreichen würden, forderte Engels 1885 die bürgerlichen Ökonomen auf, ihren Scharfsinn an der Lösung dieses Widerspruches zu beweisen. „Wenn sie nachweisen, wie nicht nur ohne Verletzung des Wertgesetzes, sondern vielmehr auf der Grundlage desselben eine gleiche Durchschnittsprofitrate sich bilden kann und muß, dann wollen wir weiter miteinander sprechen. Inzwischen mögen sie sich gefälligst beeilen." 4 ) Das dritte Buch des „Kapitals" erschien sogar erst nach neun Jahren. dem mußte Engels im Jahre 1894 im Vorwort zur ersten Auflage dritten Buches feststellen, daß die Herren, die er aufgefordert hatte, nahmslos die Antwort schuldig geblieben sind". Die „anderen Leute", J

) ) 3 ) 4 )

2

Trotzdieses „ausdie es

A . a . O . , S. 222/223. Kapital, Bd. II, S. 18. Ebd., S. 19. Ebd. 229

nach Engels „der Mühe wert gehalten" hatten, sich mit dem Problem zu beschäftigen, konnten die Lösung ebenfalls nicht finden. Soweit Teilfragen gelöst worden waren, waren es Marxisten, die dies leisteten. „Auch mit Bezug auf die vorliegende Frage", beendete Engels sein Vorwort im Jahre 1894,. „ist es wieder nur die Marxsche Schule, die etwas geleistet hat." 1 ) Da es den bürgerlichen Ökonomen in ihrer Kritik der marxistischen politischen Ökonomie nicht um die Wahrheit geht, war es zu erwarten, daß sie die einfachen Tatsachen, die Engels anführte, verschweigen würden. Dies geschah dann auch. So schreibt Böhm-Bawerk, einer der Koryphäen der sogenannten „Grenznutzenschule" der bürgerlichen Ökonomie, in seiner „Geschichte und Kritik der Kapital-Zins-Theorie" 1884 und wiederholt es 1900 und 1914 trotz „durchgreifender und sorgfältiger Überprüfungen", daß „zwar der zweite, schon nach dem Tode des Verfassers von Engels im J a h r e 1885 herausgegebene Band . . . inhaltlich dem ersten völlig homogen sei".2) Weniger homogen sei aber der dritte, im Jahre 1894 von Engels herausgegebene Band. „Viele, und darunter auch der Verfasser dieser Zeilen", schreibt BöhmBawerk, „sind der Ansicht, daß der Inhalt des dritten Bandes neben dem ersten nicht bestehen kann, und umgekehrt." 3 ) Marx habe allerdings dies Verhältnis nicht zugestanden, „vielmehr auch in seinem dritten Bande die andauernde volle Geltung der im ersten Bande niedergelegten Lehren beansprucht.. ,"4) Wer sich f ü r die philosophische Seite dieser Angelegenheit interessiert, möge die im J a h r e 1904 geschriebene Vorrede von Karl Kautsky zu den „Theorien über den Mehrwert" lesen. Hier findet er den Nachweis — und er kann es in den „Theorien über den Mehrwert" überprüfen —, daß Marx seine Lösung bereits gefunden hatte, bevor er den 1. Band seines „Kapitals" zum Druck fertig machte. Beispiel Band I, Seite 321. Uns interessieren hier die tatsächlichen Argumente, die die bürgerliche Kritik vorgebracht hat. Wir folgen dabei Böhm-Bawerk. Marx habe sich „vielleicht... unfreiwillig widersprochen", schreibt Böhm-Bawerk. „Es ergibt s i c h . . . ein offenbarer Konflikt zwischen dem, was ist, und dem, was nach der Marxschen Lehre sein sollte."5) Nachdem Böhm-Bawerk kurz die Theorie der Produktionspreise darstellt, kommt er zu dem Ergebnis, daß diese Erläuterungen und Feststellungen des dritten Bandes in eklatantem Widerspruch zu den Grundlehren des ersten Bandes stehen, ist unmöglich zu verkennen. Im ersten Band ist den Lesern eine logische, aus dem Wesen des Tausches entwickelte Notwendigkeit vorgestellt worden, daß zwei im Tausch einander ') 2 ) s ) 4 ) 5 ) 230

Kapital, Bd. III, S. 19. Jena 1921, S. 21. Ebd., S. 367. Ebd. Ebd., S. 373.

gleichgesetzte Waren ein Gemeinsames von gleicher Größe enthalten müssen, und daß dieses Gemeinsame von gleicher Größe die Arbeit sei. Im dritten Bande erfahren wir, daß die im Tausch einander gleichgesetzten Waren die tatsächlichen und regelmäßig ungleichen Mengen von Arbeit enthalten und notwendigerweise enthalten müssen. Im ersten Band (Seite 142) war gesagt worden: „Waren können zwar zu Preisen verkauft werden, die von ihren Werten abweichen, aber die A b weichung erscheint als Verletzung des Gesetzes des Warenaustausches." Und jetzt wird als Gesetz des Warenaustausches hingestellt, daß sich die Waren zu ihren Produktionspreisen verkaufen, welche grundsätzlich von ihren Werten abweichen! „Ich glaube" — schließt Böhm-Bawerk —, „bündiger und schärfer ist wohl noch niemals der Anfang eines Systems von seinem Ende Lügen gestraft worden." 1 ) Ich zitiere Böhm-Bawerk so ausführlich, weil hier ein Musterbeispiel für jene Weise vorliegt, die unfähig ist, systematisch zu denken. Das soll keineswegs heißen, daß Böhm-Bawerk nicht fähig ist, einen Stoff zu gliedern! Aber er gliedert nur nach äußeren Gesichtspunkten. Die Einteilung der „Zinstheorien", die er vornahm, bewiesen dies. Er ist nicht imstande, die innere Logik des Gegenstandes zu erfassen. Seine Logik ist subjektive Logik, Schablone, wie die große Grenznutzentheorie. So und ähnlich ist es in fast ausnahmslos allen Büchern' bürgerlicher Ökonomen zu finden, die sich überhaupt mit diesen Dingen befassen, und so wird es auch den Studenten an den bürgerlichen Hochschulen und Universitäten gelehrt. In der 1954 in Köln erschienenen „Geschichte der theoretischen Volkswirtschaftslehre" des niederländischen Ökonomen L. J. Zimmermann z. B. wird von der „Diskrepanz zwischen dem ersten und dritten Band von Karl Marx' ,Kapital'" gesprochen. Während Marx im „ersten Band auf Ricardos Arbeitswerttheorie fußte", ersetze „er sie im dritten Band durch die Produktionstheorie.. ," 2 ) Marx sei, so meint Herr Zimmermann, „im Verlaufe seines Forschens zu der Entdeckung" gekommen, „daß die Arbeitswerttheorie der Klassiker nicht zu halten sei, da die Annahmen, auf denen sie basiert war, nicht der Wirklichkeit entsprachen". Natürlich kommt Herr Zimmermann überhaupt nicht auf den Gedanken, zu prüfen, was Marx und Engels selbst hierzu gesagt haben, da er die politische Ökonomie des Marxismus-Leninismus nicht in ihren Quellen studiert. Statt dessen orakelt er, es sei nicht ganz klar, ob Marx dies „in allen seinen Konsequenzen gesehen" habe.3) Auf jeden Fall ist eines klar: daß Zimmermann und BöhmBawerk und alle anderen, die von einem Widerspruch zwischen der Werttheorie und der Theorie des Produktionspreises sprechen, von den im Kapitalismus wirkenden objektiven ökonomischen Gesetzen ebensowenig Ebd., S. 394. A. a. O., S. 258. «) Ebd.

2)

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verstehen wie von ihrer Erscheinungsweise. Daher sei es mit diesen Beispielen genug. Eine Widerlegung einer solchen „Kritik" erübrigt sich. Die Theorie des Produktionspreises ist die Widerspiegelung objektiver Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise. Das Wertgesetz ist kein Postulat, das man nach Belieben annehmen kann, sondern ein — allerdings zugegebenermaßen nicht ganz leicht zu verstehendes — objektives Gesetz, das die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus reguliert. Marx hat nicht nur das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise erklärt, er hat nicht nur die allgemeinen und abstrakten Kategorien von Wert und Mehrwert analysiert, sondern er hat auch gezeigt, wie an der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsweise, in den Kategorien, die der sinnlichen Anschauung unmittelbar entgegentreten, wie Profit, Zins, Rente, Marktpreis usw., die wesentlichen Zusammenhänge wirken. Dies — das Aufzeigen der Vermittlungsglieder zwischen Wesen und Erscheinung — macht die politische Ökonomie überhaupt erst zu einem wissenschaftlichen System. Ohne dies wäre sie entweder abstrakte Theorie ohne Erfahrungsgehalt oder empirische Stoffsammlung ohne theoretische Verallgemeinerungen. Aus klassenmäßigen Gründen war die bürgerliche Ökonomie nicht imstande, ein solches wissenschaftliches System zu schaffen. Aus den gleichen Gründen sind aber die bürgerlichen Ökonomen auch nicht in der Lage, ein solches System zu begreifen. Auch die Probleme der Grundrente hat Marx erschöpfend gelöst. Der Marktpreis der landwirtschaftlichen Produkte schwankt infolge der Begrenztheit der Bodenfläche, die unter kapitalistischen Verhältnissen Privateigentum ist, nicht wie in der Industrie um den allgemeinen Produktionspreis, den Marktproduktionspreis, sondern wird bestimmt durch den individuellen Wert des Produktes vom schlechtesten Boden. Die Differenz zwischen diesem Preis und dem Produktionspreis auf besserem Boden ergibt die Differentialrente. Marx analysiert die Differentialrente und weist nach, daß sie aus der Verschiedenheit der Fruchtbarkeit der einzelnen Grundstücke (Differentialrente I) und aus der Verschiedenheit der Größe des auf dem Boden angewandten Kapitals (Differentialrente II) entspringt. Marx zeigt, daß auch die Umwandlung einer bestimmten Bodenklasse in eine andere infolge des Fortschritts der Agrotechnik, des Wachstums der Städte usw. stattfindet. Mit seiner Rententheorie, insbesondere durch seine Analyse der Differentialrente II, widerlegte Marx das sogenannte „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages", das nichts ist als eine Fiktion, als der Versuch der Abwälzung der Mängel, der Beschränktheiten und der Widersprüche des Kapitalismus auf die Natur. Marx zeigt aber auch die Entstehung der absoluten Rente. Die Gleichheit des Profits, der Ausgleich zur Durchschnittsprofitrate in allen Zweigen der Industrie und der Volkswirtschaft verlangt die Freiheit der Konkurrenz, die Möglichkeit des Abströmens des Kapitals aus einem Produktionszweig in den 232

anderen. Das Privateigentum an Grund und Boden erzeugt aber ein Hindernis für dieses freie Abströmen des Kapitals, ein Monopol zugunsten der Grundeigentümer. Infolge dieses Monopols geht der in der Landwirtschaft, die durch niedrige organische Zusammensetzung des Kapitals und folglich durch individuell höhere Profitraten gekennzeichnet ist, erzeugte Mehrwert nicht voll in den Prozeß der Ausgleichung der Profitrate ein. Der Preis für die landwirtschaftlichen Produkte steht über dem Produktionspreis, obwohl nicht über dem Wert, und so entsteht die absolute Rente als Differenz zwischen Wert und Produktionspreis. Während die Differentialrente, solange Warenproduktion besteht, nicht abgeschafft werden kann, besteht die Möglichkeit, die absolute Rente durch Nationalisierung des Bodens bereits unter kapitalistischen Verhältnissen abzuschaffen. Obwohl aber radikale Bourgeoisien in der Geschichte zu wiederholten Malen mit dieser progressiven bürgerlichen Forderung nach Nationalisierung des Bodens aufgetreten sind, wurde sie nicht verwirklicht, da sie einem anderen, besonders wichtigen und „empfindlichen" Monopol allzu sehr auf den Leib rückt; dem Monopol an den Produktionsmitteln überhaupt.

e) Akkumulation und Krisen In seiner Analyse der Akkumulation des Kapitals zeigt Marx, wie die Kapitalisten einen Teil des Mehrwerts nicht für ihre persönlichen Bedürfnisse verwenden, sondern für die Erweiterung ihrer Produktion. Der in Kapital verwandelte Mehrwert zerfällt in zwei Teile, wovon der eine in Produktionsmittel, der andere in variables Kapital verwandelt wird. Marx widerlegt dabei die falsche Auffassung der klassischen bürgerlichen Ökonomie, daß der gesamte in Kapital verwandelte Mehrwert zum variablen Kapital geschlagen wird, und untersucht den Unterschied zwischen der extensiven erweiterten Reproduktion — gleichbleibende organische Zusammensetzung des Kapitals, also gleichbleibende Arbeitsproduktivität und intensive erweiterte Reproduktion, also steigende organische Zusammensetzung des Kapitals, also steigende Arbeitsproduktivität. Die intensive erweiterte Reproduktion ist — wie Marx zeigt — zugleich von gewaltiger Bedeutung für die Entwicklung des K a pitalismus und die Schaffung der materiellen Bedingungen für den Sozialismus. Bei der Analyse der kapitalistischen Reproduktion begründete Marx als erster die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Produktion und das Gesamtprodukt in zwei Abteilungen zu unterteilen — in die Produktion von Produktionsmitteln und die Produktion von Konsumtionsmitteln — , und unterschied die beiden Arten der gesellschaftlichen Reproduktion, die einfache und die erweiterte Reproduktion. Damit die Produktion sich ununterbrochen wiederholen kann, ist die Einhaltung bestimmter Größenverhältnisse, Proportionen, zwischen den beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion notwendig. 233

Marx hat im zweiten Band seines „Kapitals" die grundlegenden Proportionen aufgezeigt, ohne deren Einhaltung eine gesellschaftliche Reproduktion auf die Dauer unmöglich ist. Die Kapitalisten werden durch das Zwangsgesetz •der Konkurrenz zur Akkumulation und erweiterten Reproduktion getrieben. Sie akkumulieren, um ihre Produktion zu erweitern, indem sie entweder n u r das Produktionsfeld ausdehnen oder die Produktionsmittel wirksamer gestalten, d. h., indem sie entweder die Methode der extensiven oder der intensiven erweiterten Reproduktion anwenden. Von extensiver erweiterter Reproduktion spricht man, wenn die technischorganisatorischen Bedingungen der Produktion, d. h. die Arbeitsproduktivität, unverändert bleiben, von der intensiven erweiterten Reproduktion hingegen, wenn sich ein Fortschritt in der Technik und Organisation der Produktion, also eine Steigerung der Arbeitsproduktivität ergibt. Marx geht sowohl im ersten als auch im zweiten Band des „Kapitals" auf diese beiden Methoden der erweiterten Reproduktion ein (Bd. I, S. 607/617, Bd. II, S. 166 und S. 320). Dabei beschränkt Marx sich aber nicht auf Begriffsbestimmungen, sondern analysiert die extensive und intensive Methode der Reproduktion, wenn er sich auch im zweiten Band des „Kapitals" bei seiner Analyse der erweiterten Reproduktion auf die Behandlung der extensiven erweiterten Reproduktion beschränkte. Seine Untersuchung über die Produktion des absoluten Mehrwertes im III. Abschnitt des 1. Bandes des „Kapitals" stellt eine Analyse der extensiven Methode der kapitalistischen Reproduktion dar. Die Produktion des relativen Mehrwertes behandelt er im IV. Abschnitt des 1. Bandes, der sich mit der Analyse der intensiven Methode kapitalistischer Reproduktion befaßt. Im 22. und 23. Kapitel betrachtet Marx die extensive und die intensive Methode der Reproduktion im Rahmen der kapitalistischen Produktion und zeigt, wie durch die intensive erweiterte Reproduktion Arbeitskräfte freigesetzt und die relative Übervölkerung geschaffen wird. Im dritten Band des „Kapitals" leitet Marx aus der intensiven erweiterten Reproduktion das ökonomische Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate ab. In seinen Schemata der erweiterten Reproduktion stellte Marx diejenigen Veränderungen dar, die der Prozeß der erweiterten Reproduktion mit sich bringt. Einzige Quelle der erweiterten Reproduktion ist die Akkumulation. Die erweiterte Reproduktion kann nur unter der Bedingung erfolgen, daß ein Teil des Mehrwertes in der Naturalform von zusätzlichen Produktionsmitteln urid zusätzlichen Konsumtionsmitteln erzeugt wird, die f ü r die erweiterte Reproduktion von Produktionsmitteln und Arbeitskraft bestimmt sind. Die von Marx erkannten Gesetzmäßigkeiten der erweiterten kapitalistischen Reproduktion widerspiegeln den objektiven Wachstumsprozeß der gesellschaftlichen Produktion überhaupt. Diese Gesetzmäßigkeiten bestehen vor allem darin, daß der Teil der gesellschaftlichen Arbeit, der f ü r die Produktion von Produktionsmitteln aufgewendet wird, ständig anwächst gegenüber dem Teil, der f ü r die Produktion von Konsumtionsmitteln aufgewendet wird. Im 234

Kapitalismus tritt die Tendenz des schnelleren Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln in der Form des schnelleren Wachstums des konstanten Kapitals im Vergleich zum variablen Kapital, d. h. in der Form der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals auf. Dieser Prozeß, dessen Triebkraft die Produktion des größtmöglichen Mehrwertes ist, f ü h r t zum Ansteigen der Arbeitslosigkeit, zur Senkung dös Lebensstandards der Arbeiterklasse. Die Höhe der Akkumulation wird durch das Verhältnis bestimmt, nach dem der Mehrwert in Kapital und Revenue geteilt wird. Sie hängt außerdem von allen Faktoren ab, die die Größe des Mehrwerts als Quelle der kapitalistischen Akkumulation bestimmen: Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft, die Arbeitsproduktivität, die wachsende Differenz zwischen angewandtem und konsumiertem Kapital und die Größe des vorgeschossenen Kapitals. Mit der kapitalistischen Akkumulation erweitern sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und damit alle kapitalistischen Widersprüche. Die kapitalistische Akkumulation hat verheerende Wirkung auf die Arbeiterklasse, deren Elend mit dem Reichtum der Kapitalistenklasse wächst: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf der Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert." 1 ) Der Charakter der erweiterten Reproduktion wird in jeder Produktionsweise und daher auch im Kapitalismus vom jeweiligen Grundgesetz bestimmt. Mit der Enthüllung der Grundzüge des Reproduktionsprozesses in allen Gesellschaftsordnungen enthüllt die politische Ökonomie auch die tiefen Unterschiede in diesem Prozeß in den einzelnen Formationen. Es ist selbstverständlich, daß die Verschiedenartigkeit der ökonomischen Bedingungen auch Besonderheiten des Reproduktionsprozesses in den verschiedenen Formationen hervorruft. Die erweiterte Reproduktion im Kapitalismus muß sich grundlegend von der sozialistischen erweiterten Reproduktion unterscheiden. Charakteristisch f ü r die kapitalistische erweiterte Reproduktion ist ihre Spontaneität und Diskontinuität, die sich ständig vertiefende Kluft zwischen dem Elend der Mehrheit der Bevölkerung und dem Reichtum eines Häufleins von Ausbeutern. Die kapitalistische erweiterte Reproduktion f ü h r t zu einer Vertiefung des antagonistischen Widerspruchs zwischen Produktion und Verbrauch. Die Produktion verliert periodisch die Verbindung mit dem Verbrauch. Angetrieben durch die Profitgier, erweitern die Kapitalisten die Produktion über die Aufnahmefähigkeit des Marktes hinaus und stürzen die Gesellschaft unvermeidlich in periodische Überproduktionskrisen. Mit jedem neuen Zyklus der kapitalistischen Reproduktion werden die unlöslichen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft auf neuer Grundlage reproduziert; daher beinhaltet die erweiterte Reproduktion im Kapitalismus l

) Kapital, Bd. I, S. 680. 235

selbst die Quellen für die Verschärfung der Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, ihres Verfalls und Untergangs. Die Marxsche Reproduktionstheorie geht in ihrer Bedeutung weit über den Kapitalismus hinaus. Sie spiegelt zwar, w i e Stalin in seiner letzten Arbeit ausführte, das Spezifische der kapitalistischen Produktion wider, aber darin dürfe man nicht ihren -Hauptinhalt sehen. Sie enthalte eine ganze Reihe von Grundthesen, die für alle gesellschaftlichen Formationen, darunter besonders auch für die sozialistische Gesellschaftsformation gelte. Stalin nennt sechs solcher Grundthesen. Als erste These nennt Stalin die Teilung der gesellschaftlichen Produktion in die Produktion von Produktionsmitteln und in die Produktion von K o n sumtionsmitteln. Sie ist die Grundlage der gesamten Reproduktionstheorie. Die zweite These, die von besonderer Bedeutung für den Sozialismus ist, ist die vom vorrangigen Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln bei erweiterter Reproduktion. Durch die staatlichen Volkswirtschaftspläne werden die notwendigen Proportionen auf Grund des Gesetzes der planmäßigen Entwicklung gewährleistet, so daß es zu keinen krisenhaften Disproportionen kommen kann. Eine dritte These ist die von den notwendigen Proportionen zwischen den beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Reproduktion, und eine vierte These ist die vom Mehrprodukt als der einzigen Quelle der Akkumulation. Die fünfte und sechste von Stalin genannte These endlich sind die von der Bildung und Bestimmung der gesellschaftlichen Fonds und von der Akkumulation als der einzigen Quelle der erweiterten Reproduktion. „ A l l e diese Grundthesen der Marxschen Reproduktionstheorie sind eben die Thesen", sagte Stalin, „die nicht nur für die kapitalistische Formation Geltung haben und ohne deren Anwendung keine sozialistische Gesellschaft bei der Planung der Volkswirtschaft auskommen kann." 1 ) Alle Zusammenhänge in der kapitalistischen Reproduktion setzen sich anarchisch, nur unter Absatz- und Einkaufsschwierigkeiten, individuellen Bankrotten und periodisch auftretenden Krisen durch. Daher weist die marxistisch-leninistische Theorie von der Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals unmittelbar auf den Grundwiderspruch des Kapitalismus hin und auf die Notwendigkeit der Liquidierung des Kapitalismus durch den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse. Sie weist nach, daß durch die ständige Erweiterung der Produktion der innere Markt zwar ausgedehnt wird und daß die Produktion der Abteilung I schneller wachsen muß als die der Abteilung II, daß aber auch eine bewußte, planmäßige Herstellung und Entwicklung der Proportionen der beiden Hauptabteilungen im Kapitalismus unmöglich ist. Aus der Analyse des Prozesses der kapitalistischen Reproduktion ergibt sich, daß der Grundwiderspruch des Kapitalismus sich immer mehr v e r *) Stalin, ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, S. 81/82. 236

schärft, daß dieser Widerspruch die Anarchie der kapitalistischen Produktion vergrößert und sich in Überproduktionskrisen von immer verheerenderem Umfang offenbart. Die Möglichkeit der Krisen liegt zwar bereits in der einfachen Warenproduktion, doch werden sie notwendig und unvermeidlich erst mit der kapitalistischen Warenproduktion. Aus dem Grundwiderspruch des Kapitalismus entfaltet sich eine ganze Kette von Widersprüchen, im Widerspruch zwischen der Tendenz zur schrankenlosen Ausdehnung der Produktion und der beschränkten Konsumtionskraft der Massen, im Widerspruch zwischen den Produktionszweigen (die Disproportionalität) und im Widerspruch zwischen dem Streben nach günstigster Kapitalverwertung auf der einen und dem damit verbundenen tendenziellen Fall der Profitrate auf der anderen Seite. Alle diese Widersprüche können nur durch die Beseitigung des Grundwiderspruchs des kapitalistischen Systems selbst beseitigt werden. Die Überproduktionskrisen zeigen schlagend den historischen, nur vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise und die ganze Menschenfeindlichkeit des kapitalistischen Systems. Sie führen daher zu einer Verschärfung der Klassengegensätze zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen den breiten Massen der Bauernschaft und den sie ausbeutenden Grundbesitzern, Wucherern und Großbauern. In der Krise verliert die Arbeiterklasse viele Errungenschaften, die sie in langwierigem und hartem Kampf gegen die Ausbeuter und den bürgerlichen Staat erkämpft hat. Das zeigt den Arbeitern, daß der einzige Weg der Rettung aus Elend und Hunger der Sturz der Macht der Bourgeoisie, die Beseitigung der kapitalistischen Lohnsklaverei ist. Klassenbewußtsein und revolutionäre Entschlossenheit durchdringen breiteste Massen des Proletariats, die von den Krisen zu größten Entbehrungen verdammt werden. Die Unfähigkeit der Bourgeoisie, die Produktivkräfte der Gesellschaft zu lenken, untergräbt den Glauben der kleinbürgerlichen Bevölkerungsschichten an die Unerschütterlichkeit der kapitalistischen Ordnung. Das alles führt zur Verschärfung des Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft. Der Verlauf der Überproduktionskrisen zeigt den Werktätigen, daß die Bourgeoisie immer wieder auf Kosten der Arbeiterklasse und der anderen werktätigen Schichten einen Ausweg auf der Grundlage des Wirkens der inneren ökonomischen Kräfte des Kapitalismus sucht, d. h. auf Kosten der Arbeiter durch verstärkte Ausbeutung, auf Kosten der Bauern durch noch größere Senkung der Preise für die Produkte ihrer Arbeit, hauptsächlich für Rohstoffe. Es gibt also keinen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus. Er bricht nur dann zusammen, wenn ihm die Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei und im Bündnis mit den übrigen Werktätigen den Ausweg versperrt, d. h. ihm den Todesstoß versetzt, indem sie die sozialistische Revolution durchführt. 237

Die „geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation" wird von: Marx in folgenden berühmt gewordenen Worten charakterisiert: „Die Expropriation der unmittelbaren Produzenten wird mit schonungslosestem Vandalismus und unter dem Trieb der infamsten, schmutzigsten, kleinlichst gehässigsten Leidenschaften vollbracht. Das selbst erarbeitete, sozusagen auf Verwachsung des einzelnen, unabhängigen Arbeitsindividuums mit seinen Arbeitsbedingungen beruhende Privateigentum wird verdrängt durch das. kapitalistische Privateigentum, welches auf Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit b e r u h t . . . Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger d e r selbstwirtschaftende Arbeiter, sondern der viele Arbeiter exploitierende Kapitalist. Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. J e ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam, verwendbare Arbeitsmittel, die ökonomisierung aller Produktionsmittel k o m binierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarktes und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten,, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen. Privateigentums schlägt. Die Expropriateure werden expropriiert." 1 )

f) Der Sozialismus Marx leitet die Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus und seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft aus dem ökonomischen Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft ab. Die Vergesellschaftung der Produktion und der Arbeit, die in der Konzentration und Zentralisation des Kapitals zum Ausdruck kommt und die seit dem Tode von Marx besondersstark in Erscheinung trat im Wachstum der industriellen Betriebe, in den: kapitalistischen Kartellen, Syndikaten und Trusts sowie im gigantischen Kapital, Bd. I, S. 802/803. 238

Anwachsen des Umfangs und der Macht des Finanzkapitals — ist die materielle Grundlage f ü r die neue Gesellschaftsordnung des Sozialismus. Der Vollstrecker dieser Umwandlung ist das vom Kapitalismus selbst geschulte Proletariat. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie, der sich in verschiedenen und immer inhaltsreicheren Formen äußert, wird unvermeidlich zum politischen Kampf, der auf die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat abzielt. So schuf Karl Marx, in enger Verbindung und stetem Gedankenaustausch mit Friedrich Engels, die politische Ökonomie der Arbeiterklasse in kritischer Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie der Bourgeoisie. Seit seinem Erscheinen wurde das ökonomische Hauptwerk von Karl Marx „DasKapital" unzählige Male „widerlegt". Aber die Ideen des „Kapitals" leben in den Herzen von Millionen Werktätigen. Lenin und Stalin verteidigten den Marxismus gegen alle Entstellungen und entwickelten ihn entsprechend den neuen historischen Bedingungen weiter. Die Verteidigung des Marxismus, besonders der politischen Ökonomie sowie ihre Weiterentwicklung durch Lenin und Stalin wird uns in den nächsten beiden Abschnitten beschäftigen.

B. Die politische Ökonomie des Kapitalismus 1. Die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung und Marx und Engels — die erste Hauptetappe der Entwicklung des Marxismus a) Die Entwicklung des deutschen Kapitalismus „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind", heißt es im „Kommunistischen Manifest". „Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung." 1 ) Marx und Engels haben dieser geschichtlichen Bewegung, d e r Arbeiterbewegung, den theoretischen Ausdruck verliehen. Was Instinkt u n d Vorstellung war und noch lange geblieben wäre, das haben Marx und Engels ins Bewußtsein gehoben und begrifflich formuliert. J. W. Stalin hat diese Leistung Marx' und Engels' wie folgt gewürdigt: „Was ist Arbeiterbewegung ohne Sozialismus? Ein Schiff ohne Kompaß, das auch so am anderen Ufer landen wird, das jedoch, wenn es einen Kompaß hat, das Ufer bedeutend schneller erreichen und weniger Gefahren ausgesetzt sein würde." 2 ) Es ') Marx-Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, S. 36. 2 ) Stalin, Werke, Bd. I, Berlin 1950, S. 88. 239

Anwachsen des Umfangs und der Macht des Finanzkapitals — ist die materielle Grundlage f ü r die neue Gesellschaftsordnung des Sozialismus. Der Vollstrecker dieser Umwandlung ist das vom Kapitalismus selbst geschulte Proletariat. Sein Kampf gegen die Bourgeoisie, der sich in verschiedenen und immer inhaltsreicheren Formen äußert, wird unvermeidlich zum politischen Kampf, der auf die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat abzielt. So schuf Karl Marx, in enger Verbindung und stetem Gedankenaustausch mit Friedrich Engels, die politische Ökonomie der Arbeiterklasse in kritischer Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie der Bourgeoisie. Seit seinem Erscheinen wurde das ökonomische Hauptwerk von Karl Marx „DasKapital" unzählige Male „widerlegt". Aber die Ideen des „Kapitals" leben in den Herzen von Millionen Werktätigen. Lenin und Stalin verteidigten den Marxismus gegen alle Entstellungen und entwickelten ihn entsprechend den neuen historischen Bedingungen weiter. Die Verteidigung des Marxismus, besonders der politischen Ökonomie sowie ihre Weiterentwicklung durch Lenin und Stalin wird uns in den nächsten beiden Abschnitten beschäftigen.

B. Die politische Ökonomie des Kapitalismus 1. Die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung und Marx und Engels — die erste Hauptetappe der Entwicklung des Marxismus a) Die Entwicklung des deutschen Kapitalismus „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind", heißt es im „Kommunistischen Manifest". „Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung." 1 ) Marx und Engels haben dieser geschichtlichen Bewegung, d e r Arbeiterbewegung, den theoretischen Ausdruck verliehen. Was Instinkt u n d Vorstellung war und noch lange geblieben wäre, das haben Marx und Engels ins Bewußtsein gehoben und begrifflich formuliert. J. W. Stalin hat diese Leistung Marx' und Engels' wie folgt gewürdigt: „Was ist Arbeiterbewegung ohne Sozialismus? Ein Schiff ohne Kompaß, das auch so am anderen Ufer landen wird, das jedoch, wenn es einen Kompaß hat, das Ufer bedeutend schneller erreichen und weniger Gefahren ausgesetzt sein würde." 2 ) Es ') Marx-Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I, S. 36. 2 ) Stalin, Werke, Bd. I, Berlin 1950, S. 88. 239

versteht sich, meint Stalin, daß es keinen wissenschaftlichen Sozialismus gäbe, wenn es keinen Kapitalismus und keinen Klassenkampf gäbe. 1 ) Es ist klar, daß die Ausbreitung des Marxismus nicht losgelöst von der Entwicklung des Kapitalismus vor sich gehen konnte, daß aber die Entwicklung des Kapitalismus auch nicht von selbst zu einer Ausbreitung des Marxismus, zu einer Verbindung von Arbeiterbewegung und wissenschaftlichem Sozialismus, Marxismus, führen konnte. Beides — Arbeiterbewegung und wissenschaftlicher Sozialismus — mußte durch den aktiven Kampf von Marx und Engels und ihren Anhängern und Schülern verbunden werden. Ohne diese Verbindung wäre der wissenschaftliche Sozialismus — nach J. W. Stalin — „ein Kompaß, der, macht man von ihm keinen Gebrauch, n u r verrosten kann, und dann müßte er über Bord geworfen werden". 2 ) Beides aber vereinigt ergibt ein „prächtiges Schiff, das direkt nach dem anderen Ufer steuert und den Hafen unbeschädigt erreicht". 3 ) Die Kommunisten als die Anhänger und Schüler von Marx und Engels mußten also „praktisch der entschiedendste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder" sein, wie es im „Kommunistischen Manifest" heißt. „Sie haben theoretisch von der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus." 4 ) Der Marxismus als die Lehre von den Bedingungen des Befreiungskampfes des Proletariats entstand und entwickelte sich in schärfstem Kampf gegen alle feindlichen Auffassungen. Das galt auch f ü r die politische Ökonomie, die durch Marx in kritischen Auseinandersetzungen mit der bürgerlichen Ökonomie geschaffen, in besonderem Maße Angriffspunkt bürgerlicher und kleinbürgerlicher Kritiker wurde und Ansatzpunkt f ü r Verfälschungen und Entstellungen. Lenin unterscheidet zwei Hauptetappen des Kampfes des Marxismus mit seinen Gegnern, die also auch Etappen der Entwicklung der marxistischen politischen Ökonomie sind.5) Die erste Etappe umfaßt ungefähr fünfzig Jahre, und zwar die Zeit von 1840 bis 1890. In dieser Zeit kämpften Marx und Engels gegen die verschiedensten, dem Marxismus feindlichen Theorien. Zu Beginn der vierziger Jahre waren die Auffassungen der radikalen Junghegelianer zu überwinden (Marx und Engels, „Die deutsche Ideologie" und „Die heilige Familie"). Ende der vierziger J a h r e mußte besonders auf dem Gebiete der Ökonomie der Proudhonismus bekämpft werden (Marx, „Das Elend der Philosophie"). In den fünfziger Jahren fand die kritische Aus') Ebd. ) Ebd., S. 88. 3 ) Ebd., S. 89. 4 ) A. a. O., S. 35. 5 ) Marxismus und Revisionismus, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, S. 71 ff. 2

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einandersetzung mit den Parteien und Lehren statt, die 1848 in Erscheinung getreten waren (Marx, „Klassenkämpfe in Frankreich" usw.). In den sechziger Jahren mußte mit Bakunin abgerechnet werden, und anfangs der siebziger J a h r e traten mit Mülberger wieder proudhonistische Strömungen auf, die bekämpft werden mußten (Fr. Engels, „Die Wohnungsfrage"). Ende der sechziger -Jahre wurde schließlich Eugen Dühring so gründlich abgefertigt, daß sein Name längst vergessen worden wäre, würde er nicht durch Engels' berühmtes Werk „Herrn Eugen Dührings Umwälzungen der Wissenschaften" in die Geschichte eingegangen sein. Alle diese antimarxistischen Strömungen wurden vollständig geschlagen, und der Marxismus siegte über alle anderen Ideologien in der Arbeiterbewegung. Der Marxismus entstand und entwickelte sich als eine kämpferische Wissenschaft, und gerade in diesem Kampfe zeigte sich die große schöpferische K r a f t der Marxschen Kritik. In diesem Kampfe schuf Karl Marx auch sein ökonomisches Hauptwerk „Das Kapital". Die zweite Hauptetappe der Entwicklung des Marxismus war in der Hauptsache ein Kampf gegen die feindlichen Strömungen innerhalb des Marxismus. Sie umfaßte die Zeit seit 1890.') „Der vormarxistische Sozialismus ist geschlagen. Er kämpft weiter, doch nicht mehr auf seinem eigenen selbständigen Boden, sondern auf dem allgemeinen Boden des Marxismus, des Revisionismus" 2 ), schreibt Lenin. „Der ehemalige orthodoxe Marxist Bernstein, der am lautesten hervortrat und den Korrekturen an Marx, der Überprüfung Marx', dem Revisionismus, den geschlossensten Ausdruck verlieh, gab dieser Richtung den Namen." 3 ) Der Revisionismus ist von der Entwicklung des Kapitalismus vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum monopolistischen Kapitalismus nicht zu trennen. Er war nicht nur eine deutsche Angelegenheit, sondern eine internationale Erscheinung. Seine Unvermeidlichkeit ergab sich daraus, daß das Proletariat immer von einer breiten Schicht des Kleinbürgertums u m geben ist, das in die Arbeiterbewegung eindringt. 4 ) Die Einwände der Revisionisten gegen den Marxismus liefen letzten Endes auf liberal-bürgerliche Anschauungen hinaus, und es war darum auch nicht zufällig, daß Eduard Bernstein die Forderung aufstellte, die Sozialdemokratische Partei solle sich in eine „demokratisch-sozialistische Reformpartei" verwandeln. Lenin charakterisierte die Politik des Revisionismus folgendermaßen: „Festlegung der Haltung von Fall zu Fall, Anpassung an Tagesereignisse, an das Auf und Ab im politischen Kleinkram, Hinwegsehen über die Grund') ) 3 ) 4 )

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Ebd., S. 73. Ebd. Ebd., S. 72. Ebd., S. 77.

16 B e h r e n s

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interessen des Proletariats, über die Grundzüge der ganzen kapitalistischen Ordnung und über die gesamte kapitalistische Entwicklung, Opferung dieser Grundinteressen um wirklicher oder vermeintlicher Augenblicksvorteile willen — das ist die revisionistische Politik." 1 ) Die Grundlage dieser Entwicklung war die Entwicklung des deutschen Kapitalismus seit 1848. Friedrich Engels schrieb 1895 in seiner Einleitung zu den „Klassenkämpfen in Frankreich" von einer „ökonomischen Revolution, die seit 1848 den ganzen Kontinent ergriffen und die große Industrie in Frankreich, Österreich, Ungarn, Polen und neuerdings Rußland erst wirklich eingebürgert, aus Deutschland aber geradezu ein Industrieland ersten Ranges gemacht hat — alles auf kapitalistischer, im J a h r e 1848 also noch sehr ausdehnungsfähiger Grundlage" 2 ). In einem Brief an Kautsky vom 8. November 1884 schrieb Engels: „In Deutschland datiert die große Industrie erst von 1848 und ist das größte Vermächtnis dieses Jahres."3) Diese Einschätzung der Entwicklung des deutschen Kapitalismus seit 1848 durch Engels wird verständlich, wenn man die Fortschritte betrachtet, die in Deutschland auf den wichtigsten Gebieten in der Periode von 1848 bis 1871 erzielt wurden. Die deutsche Schwerindustrie erstarkte sehr schnell und überflügelte die Schwerindustrie Frankreichs. Auch die deutsche Textilindustrie erreichte fast den Stand der hochentwickelten französischen Industrie. E n g lands Vorsprung in der Industrialisierung blieb in dieser Periode zwar noch bedeutend, verringerte sich aber in zunehmendem Tempo. Die Zentralisation des Kapitals in den Händen einzelner Kapitalisten hielt nicht Schritt mit der wachsenden Konzentration der Produktion, die einen zunehmenden Kapitalbedarf für die immer umfangreicher werdenden Unternehmungen erforderte. Aüs diesem Grunde setzte sich überall die Form der Aktiengesellschaft in der Industrie, im Verkehrswesen und besonders im Bankwesen durch. Durch die zunehmende Konzentration der Produktion wurden die Kleinund Mittelbetriebe durch Großbetriebe erdrückt, und das Handwerk ging zurück. Viele seiner Zweige gingen in dieser Zeit ganz ein. Die Versuche, dies durch Genossenschaften zu verhindern, die der Liberale Schulze-Delitzsch ab 1850 propagierte und gründete, blieben im ganzen ergebnislos. Dazu kamen grundlegende Veränderungen in der deutschen Landwirtschaft. Die steigende Industrialisierung der deutschen Volkswirtschaft schuf den preußischen Junkern infolge des Wachstums der Einwohnerzahl der Städte vorteilhafte Absatzgebiete für ihre Produkte. Die Nachfrage nach *) Ebd., S. 77. ) Marx-Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. I, S. 110. 3) Marx-Engels, Briefe an Bebel, Liebknecht, Kau'tsky und andere, MoskauLeningrad, 1933, S. 372. 2

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Agrarprodukten stieg derart an, daß die heimische Landwirtschaft sie nicht mehr zu decken vermochte, so daß sie eingeführt werden mußten. Die Anwendung von Maschinen ermöglichte es, menschliche Arbeitskräfte einzusparen, den Boden intensiver zu bearbeiten und die Erträge zu steigern. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung und der sich eröffnenden günstigen Aussichten ersetzten die Junker die feudale Wirtschaftsweise durch eine kapitalistische. Sie schritten zur Einführung von Lohnarbeit, zur vermehrten Anwendung von Maschinen, zur Errichtung von landwirtschaftlichen Nebenbetrieben, vorwiegend Zuckerfabriken und Schnapsbrennereien. Die Junker, deren ökonomische Grundlage die Revolution von 1848 unangetastet gelassen hatte und deren Machtstellung unter der reaktionären Regierung noch gestärkt worden war, konnten ungehemmt alle durch den Aufschwung der Industrie, der Technik und der Wissenschaft erzielten Errungenschaften für die kapitalistische Umwandlung ihrer Gutsbetriebe verwerten. So wuchs, wie Lenin es ausdrückte, „ . . . die fronherrliche Gutsbesitzerwirtschaft langsam in eine bürgerliche, in eine Junkerwirtschaft hinüber, wobei die Bauern unter Herausbildung einer kleinen Minderheit von Großbauern zu Jahrzehnten qualvollster Expropriation und Knechtung verurteilt w e r d e n . . . Hauptinhalt der Entwicklung... ist das Hinüberwachsen der Fronherrschaft in Knechtschaft und kapitalistische Ausbeutung auf dem Boden der Feudalherren, der Junker, der Gutsherren" 1 ). Lenin bezeichnete diese Entwicklung als den preußischen Weg in der Landwirtschaft und stellte ihm den amerikanischen Weg gegenüber. „Dieser kennt keine Gutsherrenwirtschaft, oder sie wird von der Revolution zerschlagen, die die fronherrlichen Güter konfisziert und aufteilt. In diesem Fall herrscht der Bauer vor, er wird zur treibenden Kraft der Landwirtschaft und entwickelt sich zum kapitalistischen Farmer." 2 ) Der preußische Weg in der Entwicklung der Landwirtschaft bedeutet, daß die Verschmelzung zwischen Junkertum und Bourgeoisie durchgeführt und daß die feudale Ordnung auf dem Lande als Haupthindernis für die Entfaltung und schnelle Entwicklung des Kapitalismus beseitigt wurde. Die aufstrebende Bourgeoisie war damit um so stärker an der Uberwindung der nationalen Zerrissenheit interessiert. Die aus den feudalen Produktionsverhältnissen in die Industrie eintretenden Arbeiter waren ebenso bequeme Ausbeutungsobjekte wie die zahlreichen Kleinbauern, die sich bei unerträglichem Lohndruck durch ihren Kartoffelacker arbeitsfähig erhalten. „Der ländliche Nebenverdienst, die selbstgebaute Kartoffel, wird das kräftige Mittel zum Herabdrücken des Lohnes für den Kapitalisten, der den ganzen normalen Mehrwert jetzt dem auswärtigen Kunden schenken kann als einziges Mittel, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben, und der ') Lenin, Ausgewählte Werke in zwölf Bänden, Bd. III, S. 170. 2) Ebd. 16»

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seinen ganzen Profit macht durch Abzug am normalen Arbeitslohn", schreibt Engels im Jahre 1884 an Kautsky. 1 ) Die Intensivierung der Landwirtschaft wurde jedoch nur sehr unzulänglich durchgeführt. Die Junker stellten, statt sich der Bewirtschaftung ihrer Güter zu widmen, in erster Linie dem Staat Offiziere, Landräte usw. Ihre historisch längst überholten Vorrechte hemmten die ökonomische Entwicklung, so daß es trotz Ansteigens von Grundrente und Agrarpreisen zu einer zunehmenden Verschuldung des Großgrundbesitzes kam. Die ökonomische Revolution, die in Deutschland in den Jahren nach 1848 stattfand, blieb natürlich nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis der Klassen zueinander. Die Entwicklung des industriellen Kapitalismus bewirkte eine durchgreifende Veränderung der Klassenstruktur des deutschen Volkes. Das Zahlenverhältnis von Land- und Stadtbevölkerung, von in der Landwirtschaft und Industrie Beschäftigten verschob sich zugunsten der Städte und der Industrie. In den Städten und Industriezentren erfolgte eine immer stärkere Vermehrung und Zusammenballung von Arbeitermassen, vermehrt durch den ständigen Zustrom von vernichteten mittelständischen Existenzen. Der Siegeszug der Maschinen zusammen mit der Konzentration der Produktion und der Zentralisation des Kapitals und der reaktionären, arbeiterfeindlichen Gesetzgebung führten zur gesteigerten Ausbeutung und Verelendung des Proletariats. Von großer Bedeutung für die Erstarkung des Proletariats wurde der Übergang von der extensiven zur intensiven Ausbeutung der Arbeiter. Diese Wandlung vollzog sich, wie Jürgen Kuczynski in seiner „Bewegung der deutschen Wirtschaft" nachweist, im zweiten Jahrzehnt nach der Revolution von 1848 und führte zur Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger stärkerer Beanspruchung der Arbeitskraft in der Zeiteinheit, zu steigenden Reallöhnen, zu vermehrten Bemühungen um die Hebung des Bildungsniveaus der arbeitenden Massen. 2 ) Damit gewann das Proletariat die wichtigsten Voraussetzungen 1. für die Schaffung und Unterhaltung eigener Organisationen, 2. für die ideologische Schulung und die Vertiefung seines Klassenbewußtseins, 3. für die Führung des Klassenkampfes. Ein Wiedererwachen der Arbeiterbewegung war die unausbleibliche Folge. Dazu kam, daß der deutschen Arbeiterbewegung in Lassalle, Bebel und Liebknecht hervorragende Organisatoren und Agitatoren zur Verfügung standen. In seinem Brief an Kautsky vom 8. November 1884 erklärte Engels aus diesem Zusammentreffen der „direkten Umwälzung aller Lebensverhältnisse ') A. a. O., S. 372.

) Jürgen Kuczynski, Die Bewegung der deutschen Wirtschaft von 1800 bis 1946, Berlin 1947, S. 72 ff. 2

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in den industriellen Zentren durch die mächtig fortschreitende Großindustrie" mit der theoretischen Beeinflussung die besonderen Erfolge der deutschen Arbeiterbewegung. Er schreibt: „So wird ganz Deutschland — mit Ausnahme des verj unker ten Nordostens etwa — in die gesellschaftliche Revolution gerissen, der Kleinbauer in die Industrie gezogen, die patriarchalischen Bezirke in die Bewegung geschleudert und damit viel gründlicher revolutioniert als England oder Frankreich. Diese gesellschaftliche Revolution, die schließlich auf Enteignung des kleinen Bauern und Handwerkers hinausläuft, vollzieht sich aber zu einer Zeit, wo es gerade einem Deutschen, Marx, vergönnt war, die Resultate der englischen und französischen praktischen und theoretischen Entwicklungsgeschichte theoretisch zu verarbeiten, die ganze Natur und damit das geschichtliche Endschicksal der kapitalistischen Produktion klarzulegen; und damit dem deutschen Proletariat ein Programm zu geben, wie es die Engländer und Franzosen, seine Vorgänger, nie besessen. Gründlichere Umwälzung der Gesellschaft einerseits, größere Klarheit in den Köpfen andererseits — das ist das Geheimnis des unaufhaltsamen Fortschritts der deutschen Arbeiterbewegung." 1 ) Marx und Engels hatten an der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung selbst einen gewaltigen Anteil. Marx hatte schon 1844/45 als einen der Grundmängel des alten Materialismus aufgedeckt, daß er die Bedingungen der revolutionären praktischen Tätigkeit nicht begreife. Er widmete sein ganzes Leben hindurch den Fragen der Taktik des proletarischen Klassenkampfes neben seinen theoretischen Arbeiten große Aufmerksamkeit.

b) Die Ausbreitung des Marxismus und der Kampf mit dem Lassalleanismus Der Ausbreitung des Marxismus waren die Umstände bis zum Ausgang der siebziger J a h r e wenig günstig gewesen. Schon rein äußerlich mußte sich auswirken, daß das ökonomische Hauptwerk von Marx „Das Kapital" zunächst nur in seinem ersten Band vorlag. Fast drei Jahrzehnte vergingen noch, bevor, von Engels herausgegeben, der zweite Band im Jahre 1885 und der dritte Band im Jahre 1895 erschien. Bis zum Erscheinen des vierten Bandes, den „Theorien über den Mehrwert", die von Karl Kautsky herausgegeben wurden, vergingen weitere fünfzehn Jahre. Die deutsche Arbeiterbewegung stand noch lange J a h r e nach seinem Tode unter dem Einfluß der Lehre und des Wirkens von Ferdinand Lassalle. (1825 bis 1864). Ferdinand Lassalle entstammte einer reichen Kaufmannsfamilie und arbeitete während der Revolution von 1848 an der „Neuen Rheinischen Zeitung" von Marx mit. Anfang der sechziger J a h r e wandte er sich der deutschen ') A. a. O., S. 373. 245

Arbeiterbewegung zu. Da Lassalle ein glänzender Redner und Agitator war, entfaltete er eine breite öffentliche Tätigkeit, die 1863 in Leipzig zur Gründung des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" führte, als dessen Präsident Lassalle auf fünf J a h r e gewählt wurde. In einem „Offenen Antwortschreiben an da^ Central-Komite zur Bildung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Kongresses zu Leipzig" entwickelte Lassalle sein Programm, das zum ersten Programm des Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung wurde. Bereits vor dieser Tätigkeit führte Lassalle acht J a h r e lang den Ehescheidungsprozeß der Gräfin von Hatzfeldt durch, der ihm eine Anklage wegen Kassettendiebstahls einbrachte, von der er allerdings freigesprochen werden mußte. Die Gräfin von Hatzfeldt hat nicht wenig zur Förderung des Lassallekults in der deutschen Arbeiterbewegung beigetragen. Bei einem Erholungsaufenthalt in Genf wurde er 1864 in Liebeshändel verwickelt, die zu einem Duell führten, bei dem Lassalle am 31. August 1864 tödlich verwundet wurde. Engels schrieb am 4. September 1864 an Marx über den Tod von Ferdinand Lassalle: „Lassalle mag sonst gewesen sein, persönlich, literarisch, wissenschaftlich, wer er war, aber politisch war er sicher einer der bedeutendsten Kerle in Deutschland. Er war für uns gegenwärtig ein sehr unsicherer Freund, zukünftig ein ziemlich sicherer Feind."1) Ohne Zweifel hat Lassalle große Verdienste um die deutsche Arbeiterbewegung. Als die Arbeiterbewegung in Deutschland noch ein Anhängsel der liberalen Bourgeoisie (der Fortschrittspartei) war, hat Lassalle die Arbeiter zum Klassenbewußtsein geweckt, hat sie selbständig gehen gelehrt und mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein die erste selbständige Arbeiterorganisation in Deutschland geschaffen. Lenin schrieb: „Worin bestand das historische Verdienst Lassalles um die deutsche Arbeiterbewegung? Darin, daß er diese Bewegung vom Weg des progressistischen Trade-Unionismus und der Kooperation ablenkte, den sie spontan- (unter gütiger Mitwirkung der Schulze-Delitzsch und ihresgleichen) eingeschlagen hatte. Um diese Aufgabe zu erfüllen, war etwas ganz anderes notwendig als das Gerede von der Herabsetzung des spontanen Elementes, von der Taktik als Prozeß, von der Wechselwirkung der Elemente und des Milieus u. dgl. Dazu war ein verzweifelter Kampf gegen die Spontaneität notwendig, und- erst im Ergebnis dieses lange, lange J a h r e hindurch geführten Kampfes ist z. B . erreicht worden, daß die Arbeiterbevölkerung Berlins aus einer Stütze der Fortschrittspartei zu einer der stärksten Hochburgen der Sozialdemokratie geworden ist." Aber diesem Verdienst gegenüber steht die schwerwiegende Tatsache, daß Lassalle die deutsche Arbeiterbewegung am Geburtstage ihrer selbständigen Existenz mit dem Gifte des Opportunismus infiziert hat. Die theoretischen und politischen Ansichten Lassalles waren nach dem Erscheinen ') Marx-Engels, Briefwechsel, Bd. III, S. 226 (von mir hervorgehoben, F. B.). 246

des Kommunistischen Manifestes und zahlreicher anderer Schriften von Marx und Engels ein bedeutender Schritt zurück. Worin bestand die ökonomische Theorie von Ferdinand Lassalle? Obwohl Marx auf Grund seiner Werttheorie bereits die Lohntheorie entwickelt hatte, die den Gewerkschaften und dem wirtschaftlichen Kampf der Arbeiterklasse breite Entwicklungsmöglichkeiten bot, propagierte Lassalle die reaktionäre Bevölkerungstheorie von Malthus, nach der der Lohn infolge des „ehernen" Gesetzes von Angebot und Nachfrage stets um das Existenzminimum schwankt. Der gewerkschaftliche Kampf hat nach dieser „Theorie" keinerlei Einfluß auf die Lohngestaltung. „Das eherne ökonomische Gesetz, welches unter den heutigen Verhältnissen, unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage nach Arbeit, den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses", schrieb Lassalle, „daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Dies ist der Punkt, um welchen der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen jederzeit herum gravitiert, ohne sich jemals lange weder über denselben erheben noch unter denselben hinunterfallen zu können. Er kann sich nicht dauernd über diesen Durchschnitt erheben — denn sonst entstände durch die leichtere, bessere Lage der Arbeiter eine Vermehrung der Arbeitnehmer und der Arbeiterfortpflanzung, eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung und somit des Angebots von Händen, welche den Arbeitslohn wieder auf und unter seinen früheren Stand herabdrücken würde. Der Arbeitslohn kann auch nicht dauernd tief unter diesen notwendigen Lebensunterhalt fallen, denn dann entstehen — Auswanderungen, Ehelosigkeit, Enthaltung von der Kindererzeugung und endlich eine durch Elend erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl, welche somit das Angebot von Arbeiterhänden noch verringert und den Arbeitslohn daher wieder auf den früheren Stand zurückbringt."1) Mit diesen Worten drückt Lassalle sein „ehernes Lohngesetz", den Kernpunkt seiner ökonomischen „Theorie" aus! „Der wirkliche durchschnittliche Arbeitslohn besteht somit in der Bewegung, beständig um jenen seinen Schwerpunkt, in den er fortdauernd zurücksinken muß, herumzukreisen, bald etwas über demselben (Periode der Prosperität in allen oder einzelnen Arbeitszweigen), bald etwas unter ihm zu stehen (Periode des mehr oder weniger allgemeinen Notstandes der Krisen)."2) Diese Auffassung, die Lassalle zum Kern seiner Theorie machte, war ein Rückfall in die durch Marx überwundenen Auffassungen der bürgerlichen Ökonomie, war ein Rückfall in die lebensfeindlichen und reaktionären Theo-

2)

Ferdinand Lassalle, Reden und Schriften, Berlin 1893, Bd. 2, S. 421. Ebd., S. 421/422. 247

rien von Malthus. „Die Beschränkung des durchschnittlichen Arbeitslohnes auf die in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderliche Lebensnotdurft — das ist also, ich wiederhole es Ihnen", schrieb Lassalle, „das eherne und grausame Gesetz, welches der Arbeitslohn unter den heutigen Verhältnissen beherrscht." 1 ) Lassalle fügt noch hinzu: „Dieses Gesetz kann von niemand bestritten werden. Ich könnte Ihnen für dasselbe ebenso viele Gewährsmänner anführen, als es große und berühmte Namen in der nationalökonomischen Wissenschaft gibt, und zwar aus der liberalen Schule selbst, denn gerade die liberale ökonomische Schule ist es, welche selbst dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen hat", und schloß: „Dieses eherne und grausame Gesetz, meine Herren, müssen Sie sich vor allem tief, tief in die Seele prägen und bei allem Ihrem Denken von ihm ausgehen." 2 ) Die „Lösung der Arbeiterfrage", d. h. die Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung, sollte nach Ferdinand Lassalle durch die Bildung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe geschehen. Diese Theorie von Ferdinand Lassalle war die erste Theorie des friedlichen Hineinwanderns in den Sozialismus innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Er stellte die Forderung nach Staatshilfe an den Bismarckschen Staat! Das Allheilmittel, um den Staat zu dieser Hilfe für die Verwirklichung des Sozialismus zu bringen, sah Lassalle in der Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts. In der maßlosen Überschätzung des Wahlrechts hatte der parlamentarische Kretinismus seine Wurzel, der später in der deutschen Sozialdemokratie so verheerende Wirkungen hatte. In seiner praktischen Politik unternahm Lassalle den verderblichen Versuch, im Kampfe gegen die Bourgeoisie ein Bündnis mit den Junkern abzuschließen. Diese Politik bestimmte auch seine Stellung in der Frage der Einheit Deutschlands, in der er auf die Seite Bismarcks trat und die Einigung unter der Herrschaft des preußischen Militarismus anstrebte. Lenin schrieb darüber: „Lassalle paßte seine Haltung dem Siege Preußens und Bismarcks, dem Fehlen ausreichender Stoßkraft bei den demokratischen Nationalbewegungen in Italien und Deutschland an. Eben damit schwankte er nach der Seite einer national-liberalen Arbeiterpolitik." Lassalle paktierte mit Bismarck, von dem er hoffte, daß er das allgemeine Wahlrecht oktroyieren werde. Da Marx und Engels dieses Paktieren scharf verurteilten, wurde es von den Anhängern Lassalles jahrelang abgestritten. Als jedoch im Jahre 1928 im preußischen Staatsministerium ein alter Schrank zusammenbrach, kam der Briefwechsel zwischen Lassalle und Bismarck ans Tageslicht, der eindeutig nachwies, daß Marx und Engels gegenüber Lassalle im Recht gewesen waren. 2

Ebd., S. 422. ) Ebd.

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Auf dem Kongreß zu Gotha im J a h r e 1875, wo die beiden Richtungen der damaligen deutschen Arbeiterbewegung, die „Lassalleaner" und die „Eisenacher", sich vereinigten, wurden in das beschlossene „Gothaer Programm" die Ideen und Forderungen Lassalles zum großen Teil aufgenommen. In beiden Parteien hatten sich zuerst nicht die Arbeiter der großen Industrien, sondern Schuhmacher, Schneider, Buchdrucker, Tabakarbeiter usw. organisiert, die noch im Kleinbürgertum wurzelten. Die Broschüren und Losungen mit ihren verschwommenen Auffassungen über Ökonomie und Staat und ihre Unklarheit über das Ziel der Partei entsprachen daher der Reife der damaligen Arbeiterbewegung. Der Briefwechsel von Marx und Engels mit den führenden Männern der deutschen Arbeiterbewegung zeigt uns, daß selbst Bebel und Liebknecht sich erst allmählich von dem Einfluß Lassallesr frei machten. Hierbei hat in hervorragender Weise die Kritik des Gothaer Programms durch Marx beigetragen. In seinen „Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei" schreibt Marx über das Lohngesetz von Lassalle: „Von dem ,ehernen Lohngesetz' gehört Lassalle bekanntlich nichts als das den Goetheschen .ewigen, ehernen großen Gesetzen' entlehnte Wort ,ehern'. Das Wort ehern ist eine Signatur, woran sich die Rechtgläubigen erkennen. Nehme ich aber das Gesetz mit Lassalles Stempel und daher in seinem Sinn, so muß ich es auch mit seiner Begründung nehmen. Und was ist sie: — die Malthussche Bevölkerungstheorie. Ist diese aber richtig, so kann ich wieder das Gesetz nicht aufheben, und wenn ich hundertmal die Lohnarbeit aufhebe, weil das Gesetz dann nicht nur das System der Lohnarbeit, sondern jedes gesellschaftliche System beherrscht. Gerade hierauf fußend, haben seit fünfzig J a h r e n und länger die Ökonomisten bewiesen, daß der Sozialismus das naturbegründete Elend nicht aufheben, sondern nur verallgemeinern, gleichzeitig über die ganze Oberfläche der Gesellschaft verteilen könne!" 1 ) Aber all dies sei nicht die Hauptsache, schreibt Marx weiter: „Ganz abgesehen von der falschen Lassalleschen Fassung des Gesetzes besteht der wahrhaft empörende Rückschritt darin: seit Lassalles Tod hat sich die wissenschaftliche Einsicht in unserer Partei Bahn gebrochen, daß der Arbeitslohn nicht das ist, was er zu sein scheint, nämlich der Wert, respektive Preis der Arbeit, sondern nur eine maskierte Form für den Wert bzw. Preis der Arbeitskraft. Damit war die ganze bisherige bürgerliche Auffassung des Arbeitslohnes sowie die ganze bisher gegen selbe gerichtete Kritik ein für allemal über den Haufen geworfen und klargestellt, daß der Lohnarbeiter nur die Erlaubnis hat, für sein eigenes Leben zu arbeiten, d. h. zu leben, soweit er gewisse Zeit umsonst für den Kapitalisten (daher auch für dessen Mitzehrer am Mehrwert) arbeitet; daß das ganze kapitalistische Produktionssystem sich darum dreht, diese Gratisarbeit zu verlängern durch Ausdehnung des Arbeitstages oder durch Entwicklung der Produktivität, respektive ') Marx-Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. II, S. 21. 249

größere Spannung der Arbeitskraft etc.; daß also das System der Lohnarbeit ein System der Sklaverei, und zwar einer Sklaverei ist, die im selben Maße härter wird, weil sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange. Und nachdem diese Einsicht unter unserer Partei sich mehr und mehr Bahn gebrochen, kehrt man zu Lassalles Dogma zurück, obgleich man nun wissen mußte, daß Lassalle nicht wußte, was der Arbeitslohn war, sondern, im Gefolg der bürgerlichen Ökonomen, den Schein für das Wesen der Sache nahm." 1 ) Darin, in diesem „zurück hinter Marx", das Lassalle und seine Anhänger in den Anfängen der deutschen Arbeiterbewegung schon auszeichnete, besteht das Wesen jedes Revisionismus. Er besteht darin, daß vom proletarischen Klassenbewußtsein zum kleinbürgerlichen Bewußtsein, von der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse zur bürgerlichen Ökonomie zurückgekehrt wird. In einem Brief an Kautsky vom 23. Februar 1891 geht Engels noch einmal abschließend auf die Rolle Ferdinand Lassalles in der deutschen Arbeiterbewegung ein, er schreibt: „Du sagst, Bebel schreibe Dir, die Behandlung Lassalles durch Marx habe bei den alten Lassalleanern böses Blut gesetzt. Das mag sein, die Leute kennen ja die wirkliche Geschichte nicht, und es scheint auch nichts geschehen zu sein, sie darüber aufzuklären. Wenn jene Leute nicht wissen, daß die ganze Größe Lassalles darauf beruhte, daß Marx ihm erlaubte, jahrelang sich mit Marx' Forschungsresultaten als mit seinen eigenen zu schmücken und sie obendrein aus mangelhafter ökonomischer Vorbildung zu verdrehen, so ist das nicht meine Schuld. Aber ich bin literarischer Testamentsvollstrecker von Marx und habe als solcher auch meine Pflichten." 2 ) Engels fährt dann fort: „Lassalle gehört seit 26 Jahren der Geschichte an. Wenn man unter dem Ausnahmegesetz die historische Kritik über ihn hat ruhen lassen, so wird es endlich Zeit, daß sie zu ihrem Rechte kommt und über die Stellung Lassalles zu Marx Klarheit geschaffen wird. Die Legende, die die wahre Gestalt Lassalles verhüllt und verhimmelt, kann doch kein Glaubensartikel der Partei werden. Mag man die Verdienste Lassalles um die Bewegung noch so hoch anschlagen, seine historische Rolle darin bleibt eine zwieschlächtige. Den sozialistischen Lassalle begleitet der Demagog Lassalle auf Schritt und Tritt. Durch den Agitator und Organisator Lassalle scheint der Leiter des Hatzfeldtschen Prozesses überall durch: derselbe Zynismus in der Wahl der Mittel, dieselbe Vorliebe, sich mit anrüchigen und korrumpierten Leuten zu umgeben, die man als bloße Werkzeuge gebrauchen respektiv w e g w e r f e n kann. Bis 1862 in der Praxis spezifisch preußischer Vulgärdemokrat, mit stark bonapartistischen Neigungen (ich habe eben seine Briefe an Marx durchgesehen), schlug er plötzlich um aus rein persönlichen

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A. a. O., S. 21/22. Marx-Engels, Ausgewählte Briefe; a.a.O., S. 513.

Ursachen und begann seine Agitation; und ehe zwei J a h r e vorbei, verlangte er, die Arbeiter sollten die Partei des Königstums gegen die Bourgeoisie ergreifen, und mogelte mit seinem Charakterverwandten Bismarck in einer Weise, die zum tatsächlichen Verrat an der Bewegung führen mußte, wäre er nicht zu seinem eigenen Glück rechtzeitig erschossen worden. In seinen Agitationsschriften ist das Richtige, das er von Marx entlehnt, so sehr mit Lassalleschen eigenen und regelmäßig falschen Ausführungen verwebt, daß beides fast nicht zu trennen ist. Der Teil der Arbeiter, der sich durch Marx' Urteil verletzt fühlt, kennt von Lassalle eben nur die zwei J a h r e Agitation, und auch diese nur durch eine gefärbte Brille." 1 ) Erst unter den Schlägen des Bismarckschen Sozialistengesetzes wurde die lassalleanische Ideologie wenigstens zum Teil überwunden, und M a r x und Engels wurden die anerkannten Theoretiker, Bebel und Liebknecht die anerkannten Führer der deutschen Sozialdemokratie. Ganz hat freilich die deutsche Sozialdemokratische Partei das opportunistische Gift des Lassalleanismus nie überwunden. Eduard Bernstein berief sich in seiner Revision des Marxismus auf Lassalle, und als die sozialdemokratischen Führer 1914 ins Lager der imperialistischen Bourgeoisie überliefen, mußte ebenfalls Lassalle herhalten, um ihren Verrat zu bemänteln. In einer Schrift von Bernhard Harms: Ferdinand Lassalle und seine B e deutung für die deutsche Sozialdemokratie, J e n a 1909, will Harms gegenüber der „Sozialdemokratischen Geschichtsschreibung" zeigen, daß Lassalle gerade das Gegenteil gewollt habe von dem, was die „marxistische" Sozialdemokratie vertrat. Er spricht die Hoffnung aus, „daß die politische Weiterentwicklung der deutschen Sozialdemokratie nicht an Karl Marx, sondern an F e r dinand Lassalle anknüpfen wird" — was in der Tat j a weitgehend der Fall gewesen ist: Zum Schaden der deutschen Arbeiterbewegung und des deutschen Volkes. Daß Engels jedenfalls sehr entschieden auch für eine organisatorische Trennung von den Opportunisten eintrat, zeigen seine Briefe an Karl Kautsky. Am 6. J u n i 1884 schrieb er an Kautsky, daß er „auch noch eine Spaltung, wenn es geht, vermieden sehen" möchte, „solange wir kein freies Feld haben. Wenn es aber sein muß — und darüber müßt ihr entscheiden —, dann auch so". 2 ) Am 11. Oktober 1884 schreibt er: „Die Teilung ins proletarische und bürgerliche Lager wird immer ausgesprochener, und wenn die Bürgerlichen sich einmal dazu ermannt haben, die Proletarischen zu überstimmen, kann der Bruch provoziert werden. Diese Möglichkeit muß — glaube ich — im Auge gehalten werden. Provozieren sie den Bruch — wozu sie sich aber noch etwas Courage antrinken müssen —, so ist's nicht schlimm. Ich bin stets der Ansicht, daß — solange das Sozialistengesetz besteht — wir nicht

2

Ebd., S. 513/514 (von mir hervorgehoben, F. B.). ) Marx-Engels, Briefe an Bebel, Liebknecht, Kautsky und andere; a. a. O., S. 340. 251

provozieren dürfen, kommt es aber, nun dann darauf los und dann gehe ich mit Dir ins Geschirr."1) Nur mit Rücksicht auf das Sozialistengesetz mahnte also Engels zur Vorsicht. Aber die Reinigung der Partei von den Opportunisten hielt er nicht n u r f ü r unvermeidlich, sondern auch f ü r notwendig! So schrieb Engels noch einmal am 2. Juni 1885 an August Bebel: „Die Spaltung kommt so sicher wie etwas. Nur bleibe ich dabei, daß wir sie unter dem Sozialisten-Gesetz nicht provozieren dürfen. Kommt sie uns auf den Pelz, nun dann geht es eben nicht anders, präparieren muß man sich d a r a u f . . . " - ) Die deutschen Marxisten präparierten sich nicht nur nicht darauf, sondern vergaßen diese Ratschläge Engels — wie die Auseinandersetzung mit dem Revisionismus zeigt. Nur Lenin präparierte sich darauf und f ü h r t e die Reinigung der revolutionären Partei und ihrer Theorie vom Gift des Opportunismus durch.

2. Der Kampf mit dem Revisionismus — die zweite Etappe der des Marxismus

Ausbreitung

a) Der Revisionismus Eduard Bernsteins Der Sieg des Opportunismus in der Arbeiterbewegung zunächst Englands, später in Frankreich und Deutschland sowie einer Reihe kleinerer europäischer Länder war verknüpft mit der Strukturwandlung des Weltkapitalismus im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts. Der Grundzug dieser Strukturwandlung war die Monopolisierung im Innern der großen kapitalistischen Länder sowie die Monopolisierung der nichtkapitalistischen Welt durch die kapitalistischen Hauptmächte. Die Bourgeoisie der kapitalistischen Hauptmächte bezog durch Kapitalexport sowie durch die monopolistische Beherrschung und Ausbeutung der kolonialen und halbkolonialen Länder Surplusprofite, die ihr die Möglichkeit boten, eine Oberschicht der Arbeiterklasse mit höheren Löhnen und anderen Vorteilen zu korrumpieren, sie in der kolonialen Ausbeutung zu interessieren, um eine Agentur der Bourgeoisie im Proletariat zu bilden. Die Entstehung einer Arbeiteraristokratie und die Bildung „bürgerlicher Arbeiterparteien" nach dem Muster der Labour-Party in England war f ü r alle imperialistischen Länder typisch. Sie entwickelten eigene „Theorien" und behaupteten, der Marxismus befände sich im Widerspruch zu den wirklichen Tendenzen des Kapitalismus. Dieser „Revisionismus" ist unzertrennlich mit dem Namen Eduard Bernstein (1850—1932) verbunden. Bernstein f ü h r t e diese „Revision" der Marxsehen Theorie zuerst in systematischer Weise durch, trat bezeichnenderweise aber erst nach dem Tode Engels' mit seiner . ') Ebd., S. 360 (von mir hervorgehoben, F. B.). 2 ) Ebd., S. 397 (von mir hervorgehoben, F. B.). 252

„Revision" auf. Bernstein hat auch die Marxsche Theorie nie offen als Ganzes als falsch bezeichnet, da das dem Wesen des „Revisionismus" als einer Verfälschung des Marxismus widersprechen würde. Er sollte nur die Hindernisse hinwegräumen, die sich der Politik des Opportunismus, dem Reformismus, in den Weg stellten! Der Angriff Bernsteins richtete sich bezeichnenderweise in erster Linie gegen die Marxsche Lehre von der Konzentration der Produktion und der Zentralisation des Kapitals und der daraus sich ergebenden Verelendungstheorie. Damit richtete Bernstein seine Kritik vorwiegend gegen die Grundlage der politischen Ökonomie, gegen die Marxsche Mehrwerttheorie, dagegen, daß die Arbeitskraft eine Ware ist und daß die gesellschaftliche Stellung des Arbeiters von dem Wert- und Mehrwertgesetz und dem hierauf beruhenden Lohngesetz bestimmt wird. Bernstein bestritt den objektiven Charakter der ökonomischen Gesetze und behauptete, der Wert sei nur eine gedankliche Abstraktion und f ü r die Mehrwerttheorie nicht wesentlich. „Von diesem Gesichtspunkt, d. h. die Produktion als Ganzes genommen", schreibt Bernstein, „ist der Wert jeder einzelnen Warengattung bestimmt durch die Arbeitszeit, die notwendig war, sie unter normalen Produktionsbedingungen in derjenigen Menge herzustellen, die der Markt, das heißt die Gesamtheit der Käufer betrachtet, jeweils aufnehmen kann. Nun gibt es doch gerade f ü r die hier in Betracht kommenden Waren in Wirklichkeit keine Maße des jeweiligen Gesamtbedarfs, und so ist auch der wie vorstehend begriffene Wert eine reine gedankliche Tatsache, nichts anderes als der Grenznutzenwert der GossenJevon-Böhmschen Schule. Beiden liegen wirkliche Beziehungen zu Grunde, aber beide sind aufgebaut auf Abstraktion." 1 ) Bernstein fügte hinzu, daß die Mehrarbeit des Lohnarbeiters „eine empirische, aus der Erfahrung nachweisbare Tatsache" sei, „die keines deduktiven Beweises bedarf". Ob die Marxsche Werttheorie richtig sei oder nicht, das sei f ü r den Nachweis der Mehrarbeit ganz gleichgültig. „Sie ist in dieser Hinsicht keine Beweisthese, sondern nur Mittel der Analyse und Veranschaulichung." 2 ) Damit fiel Bernstein weit hinter Ricardo zurück, denn diesem war — wie wir wissen — bereits der Widerspruch zwischen der Funktion des Wertgesetzes beim Austausch gewöhnlicher Waren und beim Austausch mit der Ware „Arbeit" bewußt gewesen. Bernstein ignorierte diesen Widerspruch und seine Auflösung durch Marx. Er leugnete, daß der Wert eine objektive Kategorie und ein in einem Ding verkörpertes gesellschaftliches Verhältnis ist und daß das Wertgesetz ein vom wissenschaftlichen Bewußtsein widergespiegeltes, sich unabhängig vom Willen der Menschen durchsetzendes Gesetz ist, das erst die Grundlage f ü r die Erklärung der Mehrarbeit im Kapitalismus, d. h. also f ü r den Mehrwert gibt. Indem Bernstein von der Mehrarbeit schlechthin und nicht von ihrer spezifisch kapitalistischen Form sprach, *) E. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, Berlin 1923, S. 77. ) Ebd., S. 78.

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die auf dem Wertgesetz beruht, leugnete er die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen überhaupt. Damit fiel er aber nicht nur hinter Marx auf Ricardo und weiter zurück, sondern verließ die Bahn der Wissenschaft überhaupt. Nachdem Bernstein die Marxsche Wert- und Mehrwertlehre auf solche Weise „widerlegt" hatte, kam er zum Kern seiner Auffassung, der „Widerlegung" der Marxschen Lehre von der Konzentration und Zentralisation des Kapitals. Er wollte den Nachweis dafür liefern, daß die Zahl der Kapitalisten nicht geringer, sondern größer geworden ist, und daß die Konzentration der Produktion und die Zentralisation des Kapitals nicht in dem Maße erfolgt sei, wie Marx gesagt hatte, vor allem nicht in der Landwirtschaft. Doch konnte Eduard Bernstein die klar zutage tretenden Tendenzen der von Marx aufgedeckten kapitalistischen Gesetzlichkeit nicht bestreiten: die zunehmende Konzentration und Zentralisation des Kapitals sowie das Steigen der Profite und das Fallen der Profitrate. Er behauptete daher, daß das von Marx gezeichnete Gesamtbild falsch sei, weil er die Gegentendenzen vernachlässigt habe: die Zahl der mittleren gewerblichen Betriebe, die nicht kleiner, sondern sogar größer geworden sei, und der gesellschaftliche Reichtum, der angewachsen, und die Lage der Arbeiterklasse, die sich verbessert habe! Aus dieser „Widerlegung" des von Marx aufgedeckten Gesetzes der Konzentration der Produktion und der Zentralisation des Kapitals, das auf dem Gesetz der Akkumulation des Kapitals beruht, zog Bernstein eine Reihe von Schlußfolgerungen, die von der bürgerlichen Ökonomie mit heller Begeisterung begrüßt wurden. Er stellte erstens fest, daß der Kapitalismus noch weit entfernt von dem Stadium sei, in welchem der revolutionäre Eingriff des zur herrschenden Klasse gewordenen Proletariats genüge, den Kapitalismus in den Sozialismus überzuführen. 1 ) Bernstein stellt zweitens fest, daß die Marxsche Konzentrations- und Zentralisationstheorie durch die Praxis nicht bestätigt werde und damit auch nicht die sogenannte „Zusammenbruchstheorie". Die kapitalistischen Krisen werden nach Bernstein nicht stärker, sondern schwächer, und soweit sich der Konzentrations- und Zentralisationsprozeß durchsetzt, wirkt er der von Marx festgestellten Tendenz gerade entgegengesetzt.2) Bernstein meinte drittens, daraus ergebe sich, daß auch die politischen Gegensätze sich nicht verschärfen. Die Arbeiterklasse werde demzufolge nicht in einem revolutionären Akt die politische Macht übernehmen, sondern „das Wahlrecht der Demokratie macht seinen Inhaber virtuell zu einem Teilhaber am Gemeinwesen, und diese virtuelle Teilhaberschaft muß auf die Dauer zur tatsächlichen Teilhaberschaft führen". 3 ) ») Ebd., S. 121. 2) Ebd., S. 121. 3) Ebd., S. 180. 254

Die Demokratie sei „prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen". 1 ) Die Sozialdemokratie habe sich praktisch auf den Boden der parlamentarischen Arbeit der zahlreichen Volksvertretungen und der Volksgesetzgebung gestellt, die alle der Diktatur widersprächen. „Die Klassendiktatur aber gehört einer tieferen Kultur an und, abgesehen von der Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit der Sache, ist sie n u r als ein Rückfall, als politischer Atavismus zu betrachten.. ,"2) Aus alledem ergibt sich nach Bernstein als Krönung des Ganzen, daß die Sozialdemokratie in ihrer praktischen Politik sich nicht mehr auf die negative Stellung zum bürgerlichen Staat beschränken könne, indem sie auf den „Zusammenbruch" des Kapitalismus warte. Sie könne sich z. B. in der Heeresfrage nicht einfach gegen den Militarismus stellen, sondern müsse f ü r eine Reformierung des Heereswesens eintreten. Die Arbeiterklasse habe nicht n u r ein Interesse an der Wehrhaftigkeit des kapitalistischen Staates, sondern auch an dessen imperialistischer Aggressionspolitik. Der alte Satz des „Kommunistischen Manifestes": „Die Proletarier haben kein Vaterland" gelte nicht mehr, da „durch den Einfluß der Sozialdemokratie der Arbeiter aus einem Proletarier — ein Bürger wird". 3 ) Auch in der Kolonialfrage müsse die Sozialdemokratie ihre Politik ändern. Die Vorstellung, daß die Ausbreitung der Kolonien die Verwirklichung' des Sozialismus aufhalte, beruht nach Bernstein auf der „veralteten" Idee, daß die Verwirklichung des Sozialismus von der zunehmenden Verengung des Kreises der Wohlhabenden und der steigenden Verelendung der Massen abhänge. „Daß die erstere ein Märchen ist, ward in den früheren Abschnitten nachgewiesen, und die Elendstheorie ist nun so ziemlich allgemein aufgegeben w o r d e n . . ,"4) Bernstein verteidigt aber sogar aktiv die Kolonialpolitik des Imperialismus: „Es ist nicht nötig, daß Besetzung tropischer Länder durch Europäer den Eingeborenen Schaden an ihrem Lebensgenuß bringt, noch ist das bisher durchgängig der Fall gewesen. Zudem kann n u r ein bedingtes Recht der Wilden auf den von ihnen besetzten Boden anerkannt werden. Die höhere Kultur hat hier im äußersten Falle das höhere Recht. Nicht die Eroberung, sondern die Bewirtschaftung des Bodens gibt den geschichtlichen Rechtstitel auf seine Benutzung." 5 ) Bei dieser völlig eindeutigen Haltung Bernsteins war es nur konsequent, wenn er den Trennungsschnitt zum revolutionären Marxismus machte. Eine revolutionäre Entwicklung liege „weder im Interesse der Arbeiterklasse", noch könne sie „jenen Gegnern der Sozialdemokratie wünschenswert er2

) 3 ) 4 ) 5 )

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

180. 182. 204. 210. 211.

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scheinen, die zu der Erkenntnis gelangt sind, daß die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht für alle Ewigkeit geschaffen ist, sondern dem Gesetz der Veränderung unterliegt, und daß eine katastrophenmäßige Entwicklung mit all ihren Schrecken und Verheerungen nur dadurch vermieden werden kann, daß den Veränderungen in den Produktions- und Verkehrsverhältnissen und der Klassenentwicklung auch im politischen Recht Rechnung getragen wird. Und die Zahl derer, die das einsehen, ist im steten Wachsen. Ihr Einfluß würde ein viel größerer sein, als er heute ist, wenn die Sozialdemokratie den Mut fände, sich von einer Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei."1) Die Konsequenz des Revisionismus war so die völlige Preisgabe jeder selbständigen Politik der Arbeiterklasse und ihre Unterordnung unter die Politik der imperialistischen Bourgeoisie. Die Verwandlung des Opportunismus zum Sozialchauvinismus im ersten Weltkrieg erfolgte nicht zufällig, sondern ergab sich folgerichtig aus der „Theorie" und der Praxis des Revisionismus. Mit dem Auftreten des Revisionismus wurden aber auch die Marxisten in der Sozialdemokratie darauf hingewiesen, daß es notwendig war, die Marxschen Erkenntnisse entsprechend den neuen Erscheinungen des Kapitalismus auf dem Boden der politischen Ökonomie weiter zu entwickeln. Ein solcher Versuch wurde in Deutschland zwar von Rosa Luxemburg und Rudolf Hilferding unternommen. Er wurde aber nur von W. I. Lenin wirklich erfolgreich durchgeführt. Der Angriff auf die zentralen Positionen der politischen Ökonomie durch Eduard Bernstein war weit mehr als ein Problem des Rückfalls in die überholte und von Marx widerlegte bürgerliche Ökonomie. Wäre er nur dies, so gehörte er in das Kapitel über den „kleinbürgerlichen Sozialismus". Es handelt sich aber um mehr beim Revisionismus: es handelt sich um einen Einbruch der imperialistischen Ideologie in das Bewußtsein der Arbeiterklasse, in ihr Klassenbewußtsein, als eine Bedingung ihres Sieges. Was taten die Marxisten, um dieses Eindringen der imperialistischen Ideologie, des „Revisionismus", in das Bewußtsein der Arbeiterklasse zu verhindern? Den Bestrebungen des „Revisionismus" traten die sogenannten „radikalen" oder „orthodoxen Marxisten" entgegen: Karl Kautsky, Franz Mehring und vor allem Rosa Luxemburg, die in der „Neuen Zeit" schrieben, während die Revisionisten ein eigenes Organ, die „Sozialistischen Monatshefte", hatten. Kautsky richtete gegen die Bernsteinsche Kritik der von Marx dargelegten Entwicklungstendenzen des Kapitalismus sein Buch „Agrarfrage", 1889. In dieser Schrift überwog — wie überhaupt bei Kautsky — zwar das Historische über das Theoretische, doch arbeitete Kautsky hierin die wesentlichen Fragen Ebd., S. 211.

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der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft heraus. In seiner gegen Bernstein gerichteten Schrift „Bernstein und das Sozialdemokratische Programm", 1899, behandelte Kautsky besonders die Fragen der Methode, des Programms und der Taktik, aber auch die von Bernstein bestrittene sogenannte „Zusammenbruchstheorie", die Fragen des Groß- und Kleinbetriebes in der Landwirtschaft, die Zunahme der Zahl der Besitzenden und des Mittelstandes sowie die Verelendungstheorie und die Krisentheorie. Es ist jedoch bezeichnend, daß Kautsky bei Widerlegung der von Bernstein behaupteten Milderung der kapitalistischen Gegensätze selbst wichtige Grundlagen der Marxschen Theorie lockerte oder sogar völlig preisgab. In dem von Kautsky verfaßten „Erfurter Programm" ist die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse sehr dunkel dargestellt und die Diktatur des Proletariats nicht einmal erwähnt. Karl Kautsky faßte die Marxsche Verelendungstheorie, die ein durch die tatsächliche Entwicklung des Kapitalismus bewiesener wesentlicher Bestandteil der politischen Ökonomie ist, als „eine psychologische Feststellung" auf. Den Revisionismus, den er angeblich bekämpfte, erklärte Kautsky nicht aus dem Hinüberwachsen des Kapitalismus in den Imperialismus, sondern aus der „anderthalb J a h r z e h n t e . . . dauernden Ära steter Prosperität" Ende des vorigen Jahrhunderts, „deren günstige Wirkungen noch verstärkt wurden dadurch, daß sie eine Zeit sinkender Lebensmittelpreise war". Im J a h r e 1922 schrieb Karl Kautsky: „Seitdem ist der furchtbarste aller Kriege gekommen und hat alle ökonomischen Verhältnisse und Gesetze auf den Kopf gestellt. Es wird noch einige Zeit dauern, bis sie wieder zu völlig normalem Funktionieren gelangen. Es ist unmöglich, heute schon zu erkennen, welche Formen künftighin der Wechsel zwischen Prosperität und Krise annehmen und in welchen Zeiträumen er sich vollziehen wird." 1914 und 1915 verließ Kautsky offen den Marxismus und ging mit seiner Theorie des „Ultraimperialismus" in das Lager der Sozialpatrioten über. Nach 1917 begründete Kautsky durch seinen fanatischen Kampf gegen die Oktoberrevolution und die Sowjetunion die f ü r das deutsche Volk eben so schmachvolle wie verhängnisvolle Tradition des Antibolschewismus der heutigen Sozialdemokratie. Heute sind die Sozialdemokraten, die das Erbe dieser Politik angetreten haben und es fortsetzen, nicht nur zu bewußten Antimarxisten, sondern auch zu bewußten Agenten des Imperialismus geworden. So f ü h r t die innere Logik eines Abweichens von den Prinzipien des Marxismus nicht nur in das Lager der Feinde der Arbeiterklasse selbst, sondern an die Spitze des Kampfes gegen die Arbeiterklasse! Lenin schrieb in seinem „Staat und Revolution" über die schmachvolle Rolle von Kautsky: „In der Person Kautskys erklärte die deutsche Sozialdemokratie gleichsam: Ich bleibe bei den revolutionären Anschauungen (1899). Ich erkenne insbesondere die Unausbleiblichkeit der sozialen Revolution des Proletariats an (1902). Ich erkenne den Anbruch einer neuen Ära der Revolution an (1909). Aber dennoch 17 B e h r e n s

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gehe ich h i n t e r das zurück, was M a r x bereits 1852 gesagt hat, w e n n es sich u m die Frage nach den A u f g a b e n der proletarischen Revolution in bezug auf den Staat handelt (1912)."1) Das K a u t s k y a n e r t u m sei „nicht Zufälligkeit", schreibt Lenin in seiner Schrift „Die proletarische Revolution u n d der Renegat K a r l K a u t s k y " , sondern ein soziales P r o d u k t der Widersprüche in der II. Internationale, der Vereinigung von T r e u e zum M a r x i s m u s in Worten, m i t U n t e r w e r f u n g u n t e r den Opport u n i s m u s in der Tat. 2 ) Man d ü r f e nicht vergessen, f ü g t e r hinzu, „daß K a u t s k y M a r x n a h e z u auswendig kennt, d a ß er, nach allen seinen Schriften zu urteilen, im Schreibtisch oder im Kopf eine Reihe hölzerner Kästchen besitzt, in denen alles, w a s M a r x geschrieben hat, aufs genaueste u n d b e q u e m s t e z u m Zitieren geordnet ist". 3 ) „Aus den A r b e i t e n K a u t s k y s w ü ß t e man", heißt es weiter bei Lenin, „daß er imstande war, ein marxistischer Historiker zu sein, daß diese seine Arbeiten, trotz seines späteren Renegatentums, d a u e r n d e s Besitztum des Proletariats bleiben werden." 4 ) Aber das deutsche Proletariat, K a u t s k y s Neig u n g Rechnung tragend, sich vom 20. J a h r h u n d e r t d e m 18. u n d v o m 18. J a h r h u n d e r t der A n t i k e zuzuwenden, k ö n n e nach der Errichtung der D i k t a t u r des Proletariats ihn n u r „als Gymnasialprofessor f ü r Geschichte des A l t e r t u m s " anstellen. 5 ) Das „Sitzen zwischen zwei Stühlen" sei das „ewige Schicksal Kautskys". 6 ) Der Revisionismus w u r d e nach d e m ersten Weltkrieg durch K a r l Renner, den damaligen österreichischen Ministerpräsidenten, n e u zu „ b e g r ü n d e n " v e r sucht. In seinem Buch „Marxismus, Krieg u n d Internationale", 1917, zog R e n n e r u n v e r h ü l l t die sozialpatriotischen Konsequenzen. Sein Buch „Die Wirtschaft als Gesamtprozeß u n d die Sozialisierung", 1924, w a r mit seiner „Theorie" der „Durchstaatlichung" der f r ü h e r „staatslosen" Ökonomie die Grundlage f ü r den R e f o r m i s m u s der W e i m a r e r Republik, der den Boden der Kritik a m Kapitalismus völlig verlassen h a t t e u n d zur Apologetik der bürgerlichen Gesellschaft h e r a b g e s u n k e n war. Zu diesen Apologeten gehören auch Emil Lederer m i t seinem „ A u f r i ß der ökonomischen Theorie", 1931, A l f r e d Brauthal, „Die Wirtschaft der G e g e n w a r t u n d ihre Gesetze", 1930, u n d Fritz Naphtali, „Wirtschaftsdemokratie, ihr Wesen u n d Ziel", 1929. Den T i e f p u n k t solcher revisionistischer „Theorien", w e n n m a n ü b e r h a u p t in dieser von jeder Perspektive u n d von Prinzipien freien L i t e r a t u r differenzieren will, bildete aber zweifellos die Schrift von Fritz T a r n o w „ W a r u m a r m sein?", 1928. T a r n o w — ein f ü h r e n d e r Gewerkschaftspolitiker der W e i m a r e r ') ) 3 ) ") 5 ) 6 ) 2

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A u s g e w ä h l t e Werke in zwei Bänden, Bd. II, S. 245. Ebd., S. 412. Ebd., S. 415. Ebd., S. 447. Ebd., S. 417. Ebd., S. 443.

Republik — war durch eine Amerikareise tief von der monopolkapitalistischen USA-Wirtschaft beeindruckt. Er kam zu der ergreifenden Erkenntnis, daß das Buch des Monopolkapitalisten Henry Ford „Mein Leben und Werk" sicher die revolutionärste Schrift der ganzen bisherigen Wirtschaftsliteratur sei! Wenn die Marxsche These, daß die umwälzende gesellschaftliche Praxis das Kriterium für die Wahrheit einer Theorie ist, sich überhaupt bewährt hat, so in der Entwicklung des Revisionismus. Nicht nur, daß These für These der revisionistischen „Kritik" am Marxismus durch die geschichtliche Entwicklung widerlegt wurde, nicht nur, daß durch die Oktoberrevolution und den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion der vom Revisionismus „widerlegte" Marxismus glänzend bestätigt wurde; die geschichtliche Entwicklung bewies, daß der Revisionismus tatsächlich nicht nur ein Rückfall in vormarxsche Auffassungen war, sondern daß er von der Begründung einer Agentur der Bourgeoisie in den Reihen der Arbeiterklasse sich zum ärgsten Feind der Arbeiterklasse selbst weiterentwickelte. Wenn die Apologetik des Kapitalismus durch bürgerliche Ökonomen eine immerhin noch relativ leicht zu durchschauende Erscheinung ist, so war der Revisionismus ein geschickt eingeleitetes Manöver des Klassenfeindes, um die Kraft der Arbeiterklasse, die in ihrer organisatorischen Einheit und ihrer ideologischen Klarheit liegt, zu schwächen und ihren Sieg — wenn auch nicht zu verhindern, so doch — hinauszuschieben. Dem Kampf gegen diesen Revisionismus mußte daher entscheidende B e deutung beigemessen werden. Er wurde von den deutschen Marxisten nur theoretisch geführt und auch auf theoretischem Gebiet mit unzureichenden Mitteln.

b) Die mechanistischen Zusammenbruchstheoretiker Bernstein betrachtete die Marxsche Theorie des Kapitalismus als eine apriorische Konstruktion nach dem Hegeischen Entwicklungsschema. Wenn der Kapitalismus zusammenbrechen sollte, so hätte die tatsächliche Entwicklung in wesentlichen Punkten einen anderen Weg nehmen müssen, meinte er. Zwar gab Bernstein die Möglichkeit von lokalen oder partikulären Krisen zu, aber die gewaltige räumliche Ausdehnung des Weltmarktes, die Verkürzung der für Nachrichten und Warentransport erforderlichen Zeit im Verein mit der Elastizität des modernen Kreditwesens und dem Aufkommen der Kartelle hätten die Möglichkeit des Ausgleiches solcher Störungen geschaffen. Deshalb — so schloß Bernstein — sei das Auftreten von allgemeinen Krisen als unwahrscheinlich zu betrachten. Hieraus — aus der veränderten Situation des Weltkapitalismus — entstand die Diskussion um die sogenannte „Zusammenbruchstheorie". Marx hatte Ende der vierziger Jahre des vorigen 17*

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Jahrhunderts in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten" die bekannte These von der „permanenten Revolution" ausgesprochen. In einem Brief an Engels im Jahre 1856 betonte Marx die Notwendigkeit der Verknüpfung der revolutionären Bauernbewegung mit der proletarischen Revolution durch eine zweite Auflage des Bauernkrieges zu unterstützen. Weder Marx noch Engels haben diese Gedanken später weiter entwickelt, „und die Theoretiker der II. Internationale taten ihrerseits alles, um sie zu begraben und der Vergessenheit zu überliefern". 1 ) Die taktische Einstellung der westeuropäischen Sozialdemokratie ging davon aus — heißt es in der Geschichte der KPdSU (B) —, „daß die Bauernmassen, darunter auch die Massen der armen Bauern, nach der bürgerlichen Revolution unweigerlich von der Revolution abschwenken müssen, und daß infolgedessen nach der bürgerlichen Revolution eine lang andauernde Periode der Pause, eine lange Periode der „Befriedigung von 50 bis 100 Jahren, wenn nicht noch länger, eintreten müsse, in deren Verlauf das Proletariat ,friedlich' bereichert, bis die Zeit f ü r eine neue, die sozialistische Revolution anbricht". 2 ) Die „landläufige Theorie" der westeuropäischen Sozialdemokraten leugnete die revolutionären Möglichkeiten der halbproletarischen Massen in Stadt und Land. Sie leugnete damit aber die Möglichkeit einer Revolution, also des revolutionären Zusammenbruchs des Kapitalismus überhaupt. „Die westeuropäischen Sozialdemokraten waren der Auffassung, daß in der sozialistischen Revolution das Proletariat allein gegen die gesamte Bourgeoisie, ohne Verbündete, gegen alle nichtproletarischen Klassen und Schichten stehen würde. Sie wollten nicht mit der Tatsache rechnen, daß das Kapital nicht n u r die Proletarier ausbeutet, sondern auch die Millionen der halbproletarischen Schichten in Stadt und Land, die der Kapitalismus zu Boden drückt und die im Kampfe f ü r die Befreiung der Gesellschaft vom kapitalistischen Joch Verbündete des Proletariats sein können. Deshalb waren die westeuropäischen Sozialdemokraten der Meinung, daß die Bedingungen f ü r die sozialistische Revolution in Europa noch nicht herangereift seien, daß man diese Bedingungen erst dann als herangereift betrachten könne, wenn das Proletariat infolge der weiteren ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft zur Mehrheit der Nation, zur Mehrheit der Gesellschaft geworden sei."3) Mit der Strukturwandlung Ende des vorigen Jahrhunderts war der Kapitalismus in sein imperialistisches und damit in sein zugleich höchstes und letztes Stadium eingetreten. Damit stand die Frage seines „Zusammenbruchs", d. h. aber die Frage seiner revolutionären Umwandlung in den Sozialismus, unmittelbar auf der Tagesordnung. Bernstein verneinte die Notwendigkeit, ja Möglichkeit der revolutionären Umwandlung überhaupt, weil — wie er ») Geschichte der K P d S U (B), Berlin 1947, S. 101. 2 ) Ebd., S. 102. 3 ) Ebd., S. 103. 260

behauptete — im stetigen Vormarsch eine größere Gewähr f ü r dauernde Erfolge liege als in den Möglichkeiten, die eine Katastrophe biete. Er sah daher in der sogenannten „Zusammenbruchstheorie" den Kernpunkt des „Utopismus" im Marxismus, weil der Sieg hierdurch von einer „immanenten ökonomischen Notwendigkeit abhängig gemacht werde. Bernstein bekämpfte daher auch die materialistische Geschichtsauffassung und betonte die steigende Wirksamkeit ideologischer und ethischer Faktoren. Gegen Marx berief er sich auf Kant und behauptete, der Sieg des Sozialismus hänge von der moralischen Reife der Arbeiterklasse ab, also zuletzt von ihrer Einsicht, daß der Sozialismus wünschenswert sei. Aber auch die Gegner des „Revisionismus" in Westeuropa sprachen von der „Zusammenbruchstheorie" und hatten nicht begriffen, daß es — wenn überhaupt, dann — n u r einen revolutionären, d. h. von der Partei der Arbeiterklasse organisierten und von der Arbeiterklasse erkämpften Zusammenbruch des Kapitalismus geben kann. Die Revisionisten und die westeuropäischen Marxisten hatten die Dialektik vergessen. Sie hatten einen der wichtigsten Punkte der materialistischen Dialektik außer acht gelassen, daß die menschliche Gesellschaft und wie jede so auch die kapitalistische Produktionsweise die Einheit ist von objektiven und subjektiven Faktoren. Sie hatten nicht begriffen, daß die revolutionäre, die umwälzende Tätigkeit des Proletariats nur eine andere Seite der objektiven Entwicklung des Kapitalismus ist, daß aber diese revolutionäre Tätigkeit des Proletariats bewußte Tätigkeit, ins Bewußtsein gehobene und bewußt gemachte geschichtliche Entwicklung ist. Den Kritikern der sogenannten „Zusammenbruchstheorie" bei Marx traten Verteidiger dieser Theorie entgegen, die ebensosehr einseitig ökonomisch wie die „Revisionisten" selbst dachten. Zwei Werke waren es, die der Verteidigung des Marxismus dienen und zugleich die neue Entwicklung des Kapitalismus untersuchen sollten: Rosa Luxemburgs „Die Akkumulation des Kapitals, ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus", 1912, d. h. erschienen im J a h r e des Baseler Kongresses der II. Internationale, und Rudolf Hilferdings „Finanzkapital, eine Studie der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus", 1909. In Hilferdings „Finanzkapital" muß man zwei Bestandteile unterscheiden; auf der einen Seite •— und das ist das Positive an dem Werk — bemühte Hilferding sich, die neuen Erscheinungen des Kapitalismus, Trusts, Kartelle, Kapitalexport, imperialistische Expansionsbestrebungen usw., kurz den Monopolkapitalismus, zu analysieren; andererseits aber — und das ist das Negative an dem Werk — interpretierte Hilferding im Anschluß an den russischen bürgerlichen Ökonomen Tugan-Baranowsky die Marxsche Krisentheorie im Sinne einer schrankenlosen Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Hilferding gelangte — wie Bernstein — zu dem Schluß, daß Krisen nicht notwendig mit dem Wesen des Kapitalismus verknüpft seien. Sie entspringen — meinte Hilferding — lediglich aus der Disproportionalität 261

einzelner Produktionszweige, also „nur aus einer ungeregelten Produktion". Durch eine proportionale Kapitalverteilung „könne die Produktion ins Unendliche ausgedehnt werden, ohne zur Überproduktion von Waren zu führen". Das Charakteristische der neuen Entwicklung ist nach Hilferding richtig die herrschende Rolle des Bankkapitals gegenüber der Industrie. Mit der kapitalistischen Entwicklung wächst die Summe des Geldes, die den Banken und durch diese den Industriellen zur V e r f ü g u n g steht, also die Rolle des Bankkapitals. Eine besondere Rolle spielt hierbei das Aktienwesen. Mit der A k t i e entsteht das sogenannte „fiktive Kapital", das, losgelöst von dem in den Betrieben fungierenden produktiven Kapital, den B a n k e n eine schnelle Konzentration des Eigentums ermöglicht. Durch die Mobilisierung des K a p i tals in der Form des „fiktiven Kapitals" gehört ein immer wachsender Teil des Kapitals in der Industrie nicht mehr den damit arbeitenden industriellen Kapitalisten. Die V e r f ü g u n g über das in der Industrie angelegte Kapital fällt immer mehr den B a n k e n zu, die die Gründer und schließlich die Beherrscher der Industrie werden. Die Tendenz zur Konzentration des Bankwesens, zur fortschreitenden Ausschaltung der Konkurrenz unter den Banken, „würde in letzter Instanz dazu führen, daß eine B a n k oder eine Bankengruppe die V e r f ü g u n g über das gesamte Geldkapital erhielte. Eine solche Z e n t r a l b a n k ' w ü r d e damit die Kontrolle über die ganze gesellschaftliche Produktion ausüben." Eine parallele Zusammenschlußtendenz w i r k t aber auch in der Produktion. Die zwecks Erhöhung der Preise und Profite durchgeführte Kartellierung in der Industrie senke die Profitrate in der nichtkartellierten Industrie, v e r schärft damit die Konkurrenz, also die Konzentrationstendenz, w a s zur K a r tellierung auch dieser Industrien führt. Es entsteht eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung und als Resultat dieser Bewegung, als ihr ideeller, theoretischer Endpunkt ergibt sich die lückenlose Kartellierung aller Industriezweige in ein Universal- oder „Generalkartell", das die kapitalistische Produktion in allen ihren Sphären schließlich bewußt regelt, die Preise festsetzt und ebenso die Verteilung der Produkte vornimmt; die Anarchie der Produktion verschwindet, die Krisen werden ausgeschaltet und durch die v o m Generalkartell „geregelte Produktion" — w e n n auch noch auf der Basis der Lohnarbeit — ersetzt. „Die Tendenz zur Herstellung eines Generalkartells und die Tendenz zur Bildung einer Zentralbank treffen zusammen", wodurch ein friedlicher, schmerzloser Übergang v o m Kapitalismus zum Sozialismus möglich wird. „Diese vergesellschaftende Funktion des Finanzkapitals erleichtert die Überwindung des Kapitalismus außerordentlich. Sobald das Finanzkapital die wichtigsten Produktionszweige unter seine Kontrolle gebracht hat, genügt es, w e n n die Gesellschaft durch ihr bewußtes Vollzugsorgan, den v o m Proletariat eroberten Staat, sich des Finanzkapitals bemächtigt, u m sofort die V e r f ü g u n g über die wichtigsten Produktionszweige zu erhalten", schlußfolgert Hilferding und stellt fest: „Die Besitz262

ergreifung von sechs Berliner Großbanken würde ja heute schon die Besitzergreifung der wichtigsten Sphären der Großindustrien bedeuten." Nach' dem ersten Weltkriege (1927) erklärte Hilferding, indem er seine Konzeption zu Ende f ü h r t und in der Praxis den Opportunismus der deutschen Sozialdemokratie anwendet, er habe immer „jede ökonomische Zusammenbruchstheorie abgelehnt". Er entwickelte seine „Theorie" des „organisierten Kapitalismus", als eine Theorie des friedlichen und kampflosen Hineinwachsens in den Sozialismus. Diese „Theorie" erfüllte die A u f gabe, die ihr von der imperialistischen Bourgeoisie gestellt war: die deutsche Arbeiterklasse wehrlos zu machen. Sie lehrte den krisenlosen Kapitalismus, und in der großen Weltwirtschaftskrise tolerierten die deutsche Sozialdemokratie und die von ihr geführten Gewerkschaften die bürgerliche Krisenpolitik, die die Massen noch' mehr als notwendig verelendete. Statt in den Sozialismus „wuchs" die deutsche Arbeiterbewegung in den Faschismus hinein. Das Hilferdiingsche „Finanzkapital" — obwohl in einigen Punkten eine wichtige Weiterentwicklung der politischen Ökonomie des Kapitalismus — war somit nicht eine theoretische Widerlegung des Revisionismus, die es sein wollte, sondern seine Fortsetzung in anderen Formen. Während Hilferding von den neuen Erscheinungen in der Zirkulationssphäre ausging und dabei den im Bankwesen vor sich gegangenen Funktionswechsel entdeckte, der zur Herausbildung des Finanzkapitals führte, ging Rosa Luxemburg von der Marxschen Akkumulationstheorie aus, um, wie sie meinte, auf diesem Gebiete eine Erklärung f ü r die neuesten Erscheinungen in der Politik des Kapitalismus zu finden. Sie versuchte, von der Erkenntnis ausgehend, daß sich in der Politik die Gesetze der Produktion durchsetzen, dem Gesetz der imperialistischen Politik auf die Spur zu kommen. Den Ansatzpunkt dazu glaubte sie in der Marxschen Theorie von der Akkumulation des Kapitals zu finden. Als Ergebnis ihrer Untersuchungen stellte sie fest, daß „die imperialistische Phase der Kapitalakkumulation oder die Phase der Weltkonkurrenz des K a p i t a l s . . . die Industrialisierung und kapitalistische Emanzipation der früheren Hinterländer des Kapitals" umfasse, „in denen es die Realisierung seines Mehrwerts vollzog". Der Imperialismus sei „der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf u m die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus". Dieser nichtkapitalistische Raum habe zwar noch einen beträchtlichen Umfang, aber die Expansionskraft des Kapitals sei so stark, daß sich der Konkurrenzkampf in schärfster Weise äußern und schließlich die Basis des Kapitalismus selbst aufheben müsse. „Der Imperialismus ist ebensosehr eine Methode der Existenzverlängerung des Kapitals, wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ende zu setzen." Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon 263

die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode von Katastrophen gestaltet. Rosa Luxemburg war der Meinung, daß die Anerkennung der von Marx bewiesenen Möglichkeit der Akkumulation des Kapitals im „reinen" Kapitalismus gleichbedeutend sei mit der Unmöglichkeit der Überwindung des Kapitalismus auf dem Wege der ihm innewohnenden Gesetzmäßigkeit, die seinen Untergang bewirkt. In der Tat haben „legale" Marxisten, wie Tugan-Baranowsky, und Revisionisten, wie Hilferding, aus den Schemata, die Marx f ü r die Reproduktion aufstellte, die reibungslose Höherentwicklung des Kapitalismus zu beweisen versucht und ebenso Otto Bauer, der die Konflikte aus dem Gegensatz zwischen Akkumulation und Bevölkerungszuwachs zu erklären versuchte. „Die Akkumulation ist in einem ausschließlich kapitalistischen Milieu unmöglich. Daher vom ersten Moment der Kapitalentwicklung der Drang zur Expansion in nichtkapitalistische Länder und Schichten, der Ruin des Handwerks und des Bauerntums, die Proletarisierung der Mittelschichten, die Kolonialpolitik, ,Erschließungspolitik', Kapitalausfuhr. Nur durch ständige Expansion auf neue Produktionsdomänen und neue Länder ist die Existenz und Entwicklung des Kapitalismus seit jeher möglich gewesen. Aber die Expansion f ü h r t in ihrem Weltdrarig zum Zusammenstoß zwischen dem Kapital und den vorkapitalistischen Gesellschaftsformen. Daher Gewalt, Krieg, Revolution, kurz: Katastrophe, das Lebenselement des Kapitalismus von Anfang bis Ende." Nach ihrer Theorie erfolgt der Zusammenbruch des Kapitalismus daher aus Mangel an nichtkapitalistischem Raum. Der Kapitalismus gerät schließlich in eine Situation, in welcher er automatisch zusammenbricht und als reife Frucht in den Schoß der Arbeiterklasse fällt. So f ü h r t Rosa Luxemburgs richtige Problemstellung, nämlich den Imperialismus aus der inneren Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus zu erklären, zu einer falschen Theorie des Imperialismus, indem sie die Marxsche Akkumulationstheorie falsch interpretiert und falsche Schlußfolgerungen zog. Der bei ihr wie auch bei Rudolf Hilferding vorhandene Ansatz zur Weiterentwicklung der politischen Ökonomie des Kapitalismus mißlang und f ü h r t e zu folgenschweren Konsequenzen in der praktischen Politik. Lenin hat auch hier die Gesetzmäßigkeit richtig aufgedeckt. Sie besteht in dem Hinüberwachsen der freien Konkurrenz in das Monopol und der daraus resultierenden Jagd nach Surplusprofit. Rosa Luxemburg versuchte zwar, gegen den Revisionismus zu der neuen Wirklichkeit des Imperialismus durchzustoßen, um die Einheit zwischen Praxis und Theorie wiederherzustellen. Sie hielt im bewußten Gegensatz gegen die Verfälschungen und Entstellungsversuche der „Revisionisten" an den Marxschen Grundgedanken fest. Aber indem sie versuchte, eine absolute ökonomische Grenze f ü r die Fortentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise aufzuzeigen, mißglückte ihr Versuch, den Imperialismus zu ana264

lysieren. Ihrer Auffassung liegt die Annahme eines mechanischen Endes des kapitalistischen Systems zugrunde. Denkt man sich die gesamte Produktion auf der ganzen Erde als nur kapitalistisch betrieben, so „tritt die Unmöglichkeit des Kapitalismus zutage". Mit dieser rein ökonomischen Zusammenbruchstheorie war die verhängnisvolle Spontaneitätstheorie Rosa Luxemburgs eng verbunden. Ihre Theorie des „rein ökonomischen" Zusammenbruchs des Kapitalismus, ihr Versuch, eine absolute ökonomische Schranke f ü r den Kapitalismus aufzuzeigen, f ü h r t e zur Unter Schätzung des „subjektiven" Faktors der Entwicklung. Während der nicht auf den „rein ökonomischen" Zusammenbruch des Kapitals bauende revolutionäre „Zusammenbruchs-Theoretiker" Lenin in der marxistischen Partei ein bewußtes Kampfinstrument schuf, verließ sich die durch eine einseitige und daher falsche Theorie geleitete deutsche Linke auf die durch den ökonomischen Zusammenbruch ausgelöste Spontaneität der Massen. So bekämpfte zwar Rosa Luxemburg die „Harmoniker" des kapitalistischen Systems, die eine schrankenlose Entfaltung der Produktivkräfte im Kapitalismus f ü r möglich hielten, indem sie den Zusammenbruch dieses Systems zu beweisen versuchte. Ihre Theorie f ü h r t e aber nicht zu der Erkenntnis, daß die Sprengung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch die Produktivkräfte ein nicht mit ihrem Anwachsen automatisch verbundener Prozeß ist, sondern die politische Tat der Arbeiterklasse sein muß. Auch Henryk Großmann versuchte in seinem Buch „Das Akkumulationsund Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems", Leipzig 1929, eine rein ökonomische Theorie des Zusammenbruchs des Kapitalismus aufzustellen. Doch hat sein Versuch, das Zusammenbruchsgesetz der Marxschen Theorie zu „rekonstruieren", mit dem Marxismus-Leninismus nichts gemeinsam. Die Großmannsche Theorie ist wie die Luxemburgsche eine mechanistische Zusammenbruchstheorie. Es ist bezeichnend, daß Großmann schon in der „Einleitung" zu seiner Untersuchung sich gegen den Verdacht des „reinen Ökonomismus" zu schützen f ü r notwendig erachtet. „Es ist überflüssig, über den Zusammenhang zwischen Ökonomie und Politik auch n u r ein Wort zu verlieren." 1 ) Und doch: Großmanns Theorie ist zuletzt n u r zu stützen, indem er sie auf einem „Irrtum" Engels' beim Abschreiben der Marxschen Manuskripte aufbaut. 2 ) Großmann schreibt, daß zwar die Marxsche Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus „seit Jahrzehnten den Mittelpunkt heftiger theoretischer ') Großmann, a. a. O., S. X. ) „Die Wahrscheinlichkeit des Irrtums erhebt sich fast zur Gewißheit, wenn wir erwägen, daß es sich dabei um ein Wort handelt, das aber unglücklicherweise den Sinn der ganzen Darstellung völlig entstellt: das unvermeidliche Ende des Kapitalismus wird dem realen Fall der Profitrate, statt -masse, zugeschrieben. Hier hat sich Engels oder Moore sicher verschrieben!" Ebd., S. 196. 2

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Auseinandersetzungen" bilde, daß aber nie versucht wurde, „sie zu rekonstruieren und in das Ganze der Marxschen Theorie einzubauen". 1 ) Den unbefriedigenden Zustand der „bisherigen Marxforschung" führt Großmann darauf zurück, „daß man sich bisher über die Marxsche Forschungsmethode nicht nur keine klaren, sondern, so merkwürdig das erscheinen mag, überhaupt keine Gedanken machte". 2 ) Da man sich nur „an die Ergebnisse der Lehre" klammerte und sie in den Mittelpunkt des Interesses, der Kritik und der Verteidigung stellte, ging die Methode dabei verloren. „Man vergaß die Grundregel aller wissenschaftlichen Forschung, daß jedes noch so interessant erscheinende Ergebnis wertlos ist, wenn man nicht den Weg kennt, auf dem es gewonnen wurde." 3 ) Großmann untersucht dann die Behandlung des Problems des Zusammenbruchs des Kapitalismus in der Literatur nach Marx und will nachweisen, daß der ökonomische Zusammenbruch nicht aus der Profitrate, sondern aus der 'sich hinter ihr verbergenden realen Profitmasse in ihrem Verhältnis zur gesellschaftlichen Kapitalmasse abzuleiten und zu erklären sei. Denn nach Marx hänge die Akkumulation „nicht allein von der Höhe der Profitrate, sondern auch von der Masse des Profits ab". 4 ) Von dem von den Arbeitern produzierten und von den Kapitalisten angeeigneten Mehrwert müssen nicht nur die Summen für die Akkumulation des konstanten und variablen Kapitals abgezweigt werden, er muß außerdem für die Konsumtion der Kapitalisten ausreichen. Durch das relative Wachsen des konstanten im Verhältnis zum variablen Kapital „muß aus dem Mehrwert ein relativ immer größerer Teil desselben für die Zwecke der zusätzlichen Akkumulation... entnommen werden". 6 ) Der für die Akkumulation erforderliche Mehrwertteil wird so groß, „daß er schließlich den Mehrwert fast ganz absorbieren würde". 6 ) „Überakkumulation", die schließlich die Profitmasse so stark absorbiert, daß für den Verbrauch der Kapitalisten nichts mehr übrigbleibt, also im Grunde eine „Unterkonsumtionstheorie" der Kapitalisten, erklärt Großmann die Erscheinungen der Krise, des Imperialismus usw. So wie der kapitalistische Produktionsprozeß die Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozeß ist, so wie die Ware die Einheit von Gebrauchswert und Wert, die Produktionsweise die Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist, so ist Wirtschaft und Gesellschaft, Unterbau und Überbau, objektiver und subjektiver Faktor in der Entwicklung des Kapitalismus eine untrennbare Einheit. Die Umwandlung des Kapitalismus vom vor!) Ebd., S. III. 2 ) Ebd., S. III. 3 ) Ebd., S. III. 4 ) Henryk Großmann, „Sozialistische Ideen und Lehren", in: „Wörterbuch der Volkswirtschaft", 2. Aufl. 1933, Bd. III, S. 338. 5 ) Ebd., S. 338. Ebd., S. 339.

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monopolistischen zum monopolistischen Kapitalismus ist ein immanenter Entwicklungsprozeß. „Die Vergesellschaftung der Arbeit, die in tausendfältiger Form mit ständig zunehmender Geschwindigkeit vorwärtsschreitend und in dem halben Jahrhundert seit dem Tode von Marx besonders sinnfällig in Erscheinung tritt im Wachstum der großen Industrie, der kapitalistischen Kartelle, Syndikate und Trusts, ebenso im gigantischen Anwachsen des Umfangs und der Macht des Finanzkapitals — ist die entscheidende materielle Grundlage für das unvermeidliche Kommen des Sozialismus. Die intellektuelle und moralische Triebkraft, der physische Vollstrecker dieser Umwandlung, ist das v o m Kapitalismus selbst geschulte Proletariat. Sein Kampf mit der Bourgeoisie, der sich in verschiedenen und immer inhaltsreicheren Formen äußert, wird unvermeidlich zum politischen Kampf, der auf die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat (,Diktatur des Proletariats') abzielt." 1 ) Der rein ökonomische Zusammenbruch ist ein „Unbegriff". Er ist rationell überhaupt nicht zu fassen. Der Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der zum schließlichen Untergang des Kapitalismus führen muß, ist der Konflikt zwischen Arbeiterklasse und Kapitalisten. „Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft, nennt, und zwar eine Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe, eine Gesellschaft mit eigentümlichem, unterscheidendem Charakter." 2 ) Mit dieser „Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe" kommen die Produktivkräfte in Konflikt. Die Gesellschaft als Ganzes hemmt also die produktiven Kräfte, und der Konflikt muß daher auch ein totaler sein, d. h. kein „rein" ökonomischer, sondern ein sozialer und politischer, denn alles dies gehört zu dem, „was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft, nennt". Der Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen kommt in den periodisch wiederkehrenden Krisen des kapitalistischen Systems zum Ausdruck. Der Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise ist der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der kapitalistischen Aneignung. In diesem Grundwiderspruch sind der Möglichkeit nach die Krisen bereits enthalten. Damit aber diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wird, müssen eine Reihe Vorbedingungen hinzukommen. Diese Bedingungen, die aus der möglichen eine wirkliche Krise machen, sind zugleich auch die Bedingungen, die die Fesseln der Produktivkräfte ausmachen. Zunächst wächst mit der technischen Entwicklung die organische Zusammensetzung des Kapitals, d. h., der Anteil der lebenden Arbeit, die das Kapital verwerten soll, am Gesamtkapital wird mit der Mechanisierung und Techni-

2)

Lenin, „Karl Marx", a. a. O., S. 28 f. Marx, „Lohnarbeit und Kapital", Ausgewählte Schriften, Bd. I, S. 77. 267

sierung immer geringer. Damit fällt aber auch, bei gleichbleibender Ausbeutung der angewendeten Arbeitskraft, der produzierte und angeeignete Profit im Verhältnis zum Gesamtkapital. Die mit der technischen Entwicklung fallende Profitrate löst eine Reihe Gegentendenzen aus, die vor allem zusammen mit dem im Gefolge der höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals ebenfalls wachsenden fixen Kapital die Konzentration und Zentralisation des Kapitals beschleunigen. Die fallende Profitrate ist eine der Ursachen zur Monopolisierung des Kapitals, da sie die Tendenzen nach dem Ausgleich verschieden hoher Profitraten in verschiedenen Produktionsstufen und nach Erhöhung der Durchschnittsprofitrate auf Kosten vor- und nachgeordneter Produktionsstufen auslöst. Außerdem löst aber die fallende Profitrate Gegentendenzen aus, die zusammen mit bereits wirkenden Tendenzen die Massenkaufkraft im Vergleich zur vorhandenen Produktionsfähigkeit schwächen. Der Kapitalismus strebt so nach absoluter Erhöhung der Produktion und beschränkt gleichzeitig die Basis seiner Konsumtion. Und schließlich bilden sich im Verlaufe eines A u f schwungs Disproportionalitäten der verschiedensten A r t zwischen den beiden Abteilungen der Produktion von Produktionsmitteln und der Produktion von Konsumtionsmitteln sowie zwischen den verschiedenen Produktionsstufen heraus. Alles das sind gesellschaftliche Vorgänge mit sozialen und politischen Folgen. Je tiefer die Krisen, desto größer die sozialen und politischen Folgen. Daß also die Krise zu einem sozialen und politischen Konflikt führt, daß der Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen kein rein ökonomischer, sondern immer, und mit der Entwicklung des Monopolkapitals immer tiefer und breiter, auch ein sozialer und politischer Konflikt zwischen Arbeit und Kapital wird, das ist die Widerlegung des „rein" ökonomischen Zusammenbruchs. Der Zusammenbruch des Kapitalismus ist also kein mechanischer. „Manchmal sind die Revolutionäre bestrebt, zu beweisen, daß die Krise absolut ausweglos sei", sagt Lenin einmal. „Es gibt keine absolut ausweglosen Lagen." Die falsche Auffassung der deutschen Marxisten, die Spaltung von Theorie und Praxis, führte zu dem verhängnisvollen Zurückbleiben des subjektiven Faktors in Deutschland. Die deutsche Linke, geleitet von einer mechanistischen Zusammenbruchstheorie, organisierte nicht die „Rebellion der Produktivkräfte", indem sie eine revolutionäre Partei schuf wie Lenin in Rußland. Sie verließ sich statt dessen auf die Spontaneität der Massen. So kam es, daß in Deutschland nur der Kapitalismus sich auf den Kampf vorbereitete, nicht aber die Arbeiterklasse. Die ökonomische Notwendigkeit des Sozialismus ist keine Lehre des Fatalismus — sowenig w i e sie eine voluntaristische Lehre ist. Der Sozialismus kommt nicht von selbst. „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst." 1 ) >) Lenin, „Karl Marx", a. a. O., S. 14. 268

Geschichtliche Gelegenheiten können verpaßt werden, und Katastrophen sind das Resultat. Der Ausweg des deutschen Kapitalismus aus seiner größten Krise war die faschistische Diktatur. Wenn „die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse" wächst, muß auch das Bewußtsein und die Aktivität der revolutionären Partei wachsen, um den Massen den Weg zu zeigen. „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist." Aber diese Fessel zu sprengen ist ein revolutionärer Akt, der politisches Bewußtsein voraussetzt. Dieses Bewußtsein zu schaffen, das ist die Aufgabe der revolutionären Partei. Daß der Sozialismus notwendig kommt, das ist gewiß. Die Marxschen Voraussagen haben sich in grandioser Weise erfüllt: nicht nur erfüllt in dem Sinne, daß die kapitalistische Welt in ihren letzten Zügen liegt, sondern auch in dem Sinne, daß die Menschheit seit dem J a h r e 1917 Zeuge des Aufbaus einer neuen Gesellschaftsordnung als einer höheren Stufe der menschlichen Entwicklung ist. Die Geburt dieser neuen Gesellschaftsordnung aber war n u r möglich gewesen durch die Weiterentwicklung des Marxismus durch Lenin.

3. Die Weiterentwicklung

der politischen durch Lenin und

Ökonomie Stalin

des

Kapitalismus

a) Lenin als politischer Ökonom des Kapitalismus Wladimir Iljitsch Uljanow-Lenin wurde am 10. April 1870 geboren und starb am 21. J a n u a r 1924 in Moskau. Er wurde 54 J a h r e alt. In diesen Jahren hat Lenin ein Werk geschaffen, das seinesgleichen in der Geschichte nicht hat. Und wenn Marx einmal gesagt hat, daß mit dem Kapitalismus die Vorgeschichte der Menschheit abschließt und mit dem Sozialismus ihre Geschichte beginnt, dann müssen wir heute hinzufügen, daß Lenin die Menschheit über die Schwelle von ihrer Vorgeschichte zur Geschichte hinübergeführt hat. Lenin hat nicht nur das Erbe von Marx und Engels übernommen, er hat es fortgeführt und bereichert. Karl Kautsky hatte in einer Reihe seiner Schriften, z. B. „Die soziale Revolution", 1902, „Der Weg zur Macht", 1909, sich mit dem Herannahen eines neuen „Zeitalters der Revolution" als Ergebnis der Kolonialpolitik und des Imperialismus beschäftigt. Er stellte die Prognose, daß besonders f ü r den Osten ein Zeitalter der Umwälzungen beginne, in die schließlich auch der Westen hineingezogen werde. „Der Weltkrieg wird nun in bedrohliche Nähe 269

gerückt", stellte Karl Kautsky fest. Aber f ü r Kautsky hatte diese Feststellung keine praktischen Konsequenzen. Die Gründe hierfür sind uns bekannt! So wie die Marxsche politische Ökonomie als theoretischer Ausdruck der kapitalistischen Produktionsweise in der kritischen und kämpferischen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ökonomie entstand, so konnte sie mit der weiteren Entwicklung des Kapitalismus nur weiterentwickelt werden in der kritischen und kämpferischen Auseinandersetzung mit der Apologetik der kapitalistischen Produktionsweise, vor allem in ihrer gefährlichsten Form, mit dem Revisionismus. Denn nur dadurch konnten die neue Entwicklung des Kapitalismus analysiert und zugleich die Erfahrungen der Arbeiterklasse in ihrem Kampf verallgemeinert werden. Lenin hat vom Beginn seines Wirkens bis zu seinem Tode die neueste Entwicklung des Kapitalismus analysiert und die Erfahrungen der Arbeiterklasse in ihrem Kampf verallgemeinert. Lenin hat ganz anders als die deutsche Linke — von Kautsky ganz zu schweigen — den Revisionismus erkannt und bekämpft. Als wirklicher materialistischer Dialektiker war f ü r Lenin die Auseinandersetzung mit dem Opportunismus in der Arbeiterbewegung und mit ihrem „theoretischen" Ausdruck, dem Revisionismus, sowie mit ihrer praktischen Konsequenz, dem Reformismus, keine nur theoretische, sondern eine theoretische und praktisch-politische Angelegenheit zugleich. Sie war f ü r ihn die Angelegenheit der Vorbereitung der Revolution, des „Zusammenbruchs" des Kapitalismus selbst. Wie man sich heute den Marxismus-Leninismus nicht aneignen kann, ohne sich mit der Geschichte des Bolschewismus vertraut zu machen, so war es um die Jahrhundertwende unmöglich, den Marxismus voll zu erfassen, ohne die Hauptetappen der deutschen Geschichte und die Hauptprobleme der deutschen Arbeiterbewegung zu kennen. Lenin war von Beginn seines revolutionären Wirkens an ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Arbeiterbewegung. Er kannte ihre Probleme, ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen. Lenin warnte vor den Gefahren, die aus ihrer opportunistischen Versumpf u n g notwendig erwachsen mußten. Lenins Kampf gegen die sogenannten „Ökonomisten" in Rußland war auch ein Kampf gegen die Bernsteinianer in Deutschland. In der sibirischen Verbannung wartete er mit Ungeduld auf Bernsteins „Voraussetzungen des Sozialismus". Als er das Buch endlich erhalten und zur Hälfte gelesen hatte, schrieb er voller Empörung: „Sein Inhalt setzt uns immer mehr in Erstaunen. Theoretisch ist es unglaublich schwach; eine Wiederholung fremder Gedanken, Phrasen über Kritik und nicht einmal der Versuch einer ernsthaften und selbständigen Kritik. Praktisch ist es Opportunismus (richtiger Fabianismus: Das Original sehr vieler Behauptungen und Ideen Bernsteins findet sich bei den Webbs in ihren letzten Büchern), grenzenloser Opportunismus und 270

Possibilismus, und dabei ein feiger Opportunismus, denn das Programm direkt antasten will Bernstein nicht." 1 ) Lenin sah also sehr früh, daß es sich bei dem Bernsteinschen Revisionismus nicht einfach um Opportunismus, sondern um einen „feigen Opportunismus" handelte, der alle Grundsätze des revolutionären Marxismus preisgab, dies aber mit einem scheinbar „wissenschaftlichen Sozialismus" verhüllte. Lenin hat nicht nur den Revisionismus bekämpft, er hat auch die deutsche Linke wegen ihres halben Kampfes gegen den Opportunismus kritisiert, so zum Beispiel auf dem Stuttgarter Kongreß 1907, dessen Präsidium Lenin als Vertreter der russischen Sozialdemokraten angehörte. Diese Kritik wurde von den deutschen Marxisten aber nicht verstanden, j a sogar zurückgewiesen. Der Kampf Lenins um die führende Rolle der Partei wurde von den Linken in Deutschland nicht verstanden. Rosa Luxemburg veröffentlichte in der „Neuen Zeit" einen Artikel über die Organisationsfragen in der russischen Sozialdemokratie, der eine Auseinandersetzung mit Lenins Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" enthielt und wo sie Lenin blanquistischer und verschwörerischer Auffassungen von Führung und Masse beschuldigte. Rosa Luxemburg ging dabei so weit, den demokratischen Zentralismus in der Arbeiterbewegung als Schurigelung der Massen, Leithammelei und Drill zu bezeichnen. Sie schrieb: „Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten Zentralkomitees." Das entsprach der Spontaneitätstheorie von Rosa Luxemburg und war eine Verneinung der Führerrolle der Partei. Hieraus erklärt sich auch der Verzicht auf die organisierte Zusammenfassung der deutschen Linken. Die Folgen dieser verhängnisvollen Auffassungen und der daraus sich ergebenden Unterlassung sind bei Kriegsausbruch und in der Revolution von 1918 zutage getreten. Lenin hat sowohl auf dem Stuttgarter wie auch auf dem Kopenhagener Kongreß besondere Zusammenkünfte der Linken veranlaßt, um den Kampf gegen den Opportunismus organisiert zu betreiben. Seine Bemühungen scheiterten an der Einstellung der deutschen Linken zu den Organisationsfragen, die zur faktischen Unterordnung unter die Opportunisten führte. So zeigt sich die Größe Lenins als Theoretiker und Praktiker der Arbeiterbewegung in der Epoche des Imperialismus und in der Vorbereitung der proletarischen Revolution. Lenin hat den Kampf gegen Revisionismus und Reformismus nicht nur proklamiert, sondern auch bis zur letzten Konsequenz tatsächlich geführt. E r war in allen Beziehungen der geniale Nachfolger der Theoretiker und P r a k tiker der Arbeiterbewegung, Marx' und Engels', und er beherrschte die von ihnen ausgearbeitete Methode der materialistischen Dialektik ebenso meister1) Lenin, Briefe an Angehörige, S. 230, russ., zitiert in: Lenin, Ein kurzer Abriß seines Lebens und Wirkens, Moskau 1947, S. 58.

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haft wie sie. Das kommt vor allem auch in den ökonomischen Arbeiten Lenins zum Ausdruck, in denen er die politische Ökonomie des Kapitalismus weiterentwickelte. Schon in seinem ersten großen ökonomischen Werk über „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland",' das Lenin in den Jahren 1896 bis 1898 geschrieben hat, zeigte Lenin, daß er — ebenfalls als einziger von den Nachfolgern Marx' und Engels' — ihre Methode verstanden hatte. Dieses Buch ist eine direkte Fortsetzung und Weiterentwicklung der Arbeiten Marx' über die Entwicklung des Kapitalismus und die konsequente Anwendung der Methode der materialistischen Dialektik. Bis zum Erscheinen seines Buches war das „Narodnikitum" in Rußland noch nicht entscheidend kritisiert worden. Die Kritik des „Narodnikitums" durch den sogenannten „legalen Marxismus" war in ihrem Wesen bürgerlich. Das hatte Lenin bereits 1894 in seiner Schrift „Der ökonomische Inhalt des Narodnikitums und seiner Kritik im Buche des Herrn Struve" ausgesprochen. Dabei ging es bei der Auseinandersetzung zwischen Marxisten und „Narodniki" um die prinzipielle Frage, welchen Weg die Entwicklung Rußlands einschlagen werde: ob es sich von der Fronherrschaft zum Kapitalismus entwickelt, ob der Kapitalismus in der russischen Wirtschaft die beherrschende Stellung erringen werde, so daß Rußland ein im wesentlichen kapitalistisches Land sein werde, oder ob der Kapitalismus in Rußland nur künstlich durch die zaristische Regierung ins Leben gerufen und infolgedessen nicht lebensfähig sei, so daß das Land den kapitalistischen Weg verlassen und sich auf die „Volksproduktion", d. h. auf die bäuerliche Dorfgemeinschaft und auf die landwirtschaftlichen und gewerblichen Genossenschaften stützen müsse. In der „Entwicklung des Kapitalismus in Rußland" hat Lenin auf Grund seiner eingehenden Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung die Polemik zwischen Marxisten und „Narodniki" über das Schicksal des Kapitalismus in Rußland beendet und den Theorien der „Narodniki" einen vernichtenden Schlag versetzt. Lenin hatte sein Buch im J a h r e 1896 im Gefängnis in Petersburg begonnen und 1898 in der Verbannung in Westsibirien beendet. Dies Buch spielte bei der Verbreitung des Marxismus in Rußland eine gewaltige Rolle und diente in den revolutionären Kämpfen als theoretische Begründung der führenden Rolle des Proletariats in der Revolution. Das Buch Lenins hatte auch große Bedeutung f ü r die Diskussion über die grundlegenden Fragen der Agrartheorie. Die „Revisionisten" behaupteten, daß sich der Kapitalismus in der Landwirtschaft auf eine besondere, von der industriellen Entwicklung verschiedene Art entwickle, wobei sie die Lebensfähigkeit der kleinbäuerlichen Wirtschaft unter den kapitalistischen Verhältnissen hervorhoben. Kautsky, der damals noch Marxist war, trat diesen unrichtigen revisionistischen Theorien zwar ebenfalls entgegen. Lenin widerlegte allein die Argumente dieser revisionistischen Theorie im ganzen und einzelnen. Noch eingehender beschäftigte sich Lenin mit diesen Theorien, die in Rußland damals von Bulgakow vertreten wurden, in seinen Schriften 272

„Der Kapitalismus in der Landwirtschaft", „Die Herren Marx-Kritiker in der Agrarfrage", „Neue Daten über die Gesetze der Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft". Lenin hat auf dem Gebiete der Agrartheorie nicht Marx einfach reproduziert. Er hat die Theorie der Rente, insbesondere die Theorie der absoluten Rente, weiterentwickelt, und zwar besonders in seiner 1901 geschriebenen und erschienenen Schrift „Die Agrarfrage und die ,Marx-Kritiker'". Er entwickelte das bereits von Marx erkannte doppelte Monopol in der Landwirtschaft konkret: das Monopol aus der Beschränktheit der Bodenfläche und das Monopol aus dem kapitalistischen Eigentum an dieser Bodenfläche. Wir haben es in der Landwirtschaft des Kapitalismus mit einem zwiefachen Monopol zu tun. „Erstens haben wir ein Monopol der (kapitalistischen) Bewirtschaftung des Bodens." Dieses Monopol entspringe der Beschränktheit des Bodens und ist daher in jeder kapitalistischen Gesellschaft unausbleiblich. Es hat zur Folge, daß der Getreidepreis durch die Produktionsbedingungen auf dem schlechtesten Boden bestimmt wird, während der überschüssige Profit, der Surplusprofit, der durch Kapitalanlage auf dem besten Boden oder durch produktivere Kapitalanlage entsteht, die Differentialrente bildet. Diese Rente entsteht sonach völlig unabhängig vom Privateigentum am Boden, das den Grundherrn bloß in den Stand setzt, sie dem Farmer abzunehmen. „Zweitens haben wir ein Monopol des privaten Grundeigentums. Dieses Monopol ist mit dem vorgenannten nicht untrennbar verbunden, weder logisch noch historisch." Dieses Monopol ist im Gegensatz zum ersten für die kapitalistische Gesellschaft und die kapitalistische Organisation der Landwirtschaft nicht notwendig. „Einerseits können wir uns sehr wohl eine kapitalistische Landwirtschaft ohne Privateigentum an Grund und Boden denken, forderten doch viele konsequente bürgerliche Ökonomen die Nationalisierung des Bodens. Andererseits zeigt uns die Wirklichkeit das Bestehen kapitalistischer Organisation der Landwirtschaft bei gleichzeitigem Fehlen privaten Grundeigentums, z. B. auf Staats- und Gemeindeländereien." Diese beiden Arten von Monopol müssen mithin — das lehrt Lenin in seiner Rententheorie — unbedingt auseinandergehalten werden, und folglich muß neben der Differentialrente auch das Bestehen einer absoluten Rente anerkannt werden, die dem Privateigentum am Boden entspringt. Auch das Werk Lenins „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" war eine direkte Fortsetzung und Weiterentwicklung des „Kapitals" von Marx. Marx zeigte den historisch vorübergehenden Charakter des Kapitalismus überhaupt auf und zeigte die Unvermeidlichkeit seines Untergangs. Gestützt auf die Grundlagen der marxistischen Theorie, entwickelte Lenin die politische Ökonomie des Kapitalismus weiter, indem er die Bedingungen untersuchte, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatten. Im Jahre 1917 schrieb Lenin über den Imperialismus als „Vorabend der Sozialistischen Revolution", daß der Weltkapitalismus ungefähr seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Stufe des 18 Behrens

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Imperialismus erreicht habe. Der Imperialismus oder die Epoche des Finanzkapitals sei die so hochentwickelte Wirtschaft, daß die monopolistischen Kapitalistenverbände — Syndikate, Kartelle, Trusts — entscheidende Bedeutung erlangt haben, daß das ungeheuer konzentrierte Bankkapital sich mit dem Industriekapital verschmolzen, der Kapitalexport in fremde Länder sehr große Dimensionen angenommen habe, die ganze Welt territorial bereits unter die reichsten Länder verteilt sei sowie die ökonomische Aufteilung der Welt unter die internationalen Trusts begonnen habe. Damit seien imperialistische Kriege, d. h. Kriege u m die Weltherrschaft, um die Erdrosselung der kleinen und schwachen Völkerschaften, unvermeidlich. Ein solcher Krieg sei der erste große imperialistische Krieg von 1914 bis 1917. Die außerordentlich hohe Entwicklungsstufe des Weltkapitalismus überhaupt, die Ablösung der freien Konkurrenz durch den monopolistischen Kapitalismus, die Herausbildung eines Apparates f ü r die gesellschaftliche Regelung des Produktionsprozesses und der Verteilung der Produkte durch die Banken sowie durch die Kapitalistenverbände, die mit dem Wachstum der kapitalistischen Monopole zusammenhängende Zunahme der Teuerung und das Erstarken des Druckes der Syndikate auf die Arbeiterklasse, "die gigantische Erschwerung ihres wirtschaftlichen und politischen Kampfes, die Schrecken, das Elend, der Ruin, die Verwilderung, die der imperialistische Krieg erzeugt — alles das macht die jetzt erreichte Entwicklungsstufe des Kapitalismus zur Ära der proletarischen, sozialistischen Revolution. In seinem Werk über den „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", das im F r ü h j a h r 1916 in Zürich geschrieben wurde und im April 1917 erschien, analysierte Lenin erstmalig und eingehend das gesamte Material, das den Imperialismus als höchstes und letztes Stadium des Kapitalismus charakterisiert, als einen verfaulenden und sterbenden Kapitalismus und damit als Vorabend der sozialistischen Revolution. Lenin k n ü p f t nicht an dieses oder jenes Merkmal des Kapitalismus, sondern an seine grundlegende Entwicklungstendenz an: an die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation. Sie f ü h r t zur Konzentration der Produktion und Zentralisation des Kapitals und zur immer gewaltigeren Anhäufung des Reichtums auf der einen Seite, zur absoluten und relativen Verelendung auf der anderen Seite. Sie bereitet somit sowohl die objektiven als auch die subjektiven Bedingungen des Untergangs der kapitalistischen Produktionsweise, die proletarische Revolution und den Aufbau des Sozialismus vor. Der Imperialismus steigert bis zur äußersten Grenze alle Widersprüche, die dem Kapitalismus eigen sind. Von diesen Widersprüchen sind die wichtigsten: 1. Der Widerspruch zwischen der Arbeit und dem Kapital, zwischen den Werktätigen und den Kapitalisten. 2. Der Widerspruch zwischen den verschiedenen Finanzgruppen und imperialistischen Mächten in ihrem Kampf um Rohstoffquellen und fremde Territorien. 274

3. Der Widerspruch zwischen dem Häuflein herrschender „zivilisierter" Nationen und den Hunderten von Millionen, der kolonialen und abhängigen Völker der Welt, die durch den Imperialismus auf das brutalste ausgebeutet werden. Die Konzentration der Produktion führt — wie Lenin an Hand umfangreichen Materials belegt — „auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung sozusagen von selbst dicht ans Monopol heran", und „diese Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol ist eine der wichtigsten Erscheinungen — wenn nicht die wichtigste — in der Ökonomie des neuesten Kapitalismus". Wir haben somit mit Beginn des 20. Jahrhunderts von einem neuen und besonderen Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus, vom Imperialismus oder vom monopolistischen Kapitalismus zu sprechen. Als solcher ist der Imperialismus, nach Lenin, historisch betrachtet, durch drei Merkmale gekennzeichnet. Er ist nach Lenin 1. monopolistischer Kapitalismus, 2. parasitärer Kapitalismus und 3. sterbender Kapitalismus. Der monopolistische Charakter des imperialistischen Kapitalismus ist sein grundlegender Zug. Lenin hat auch bereits die Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus aufgezeigt. Diese Verwandlung bedeutet nicht etwa — wie fälschlich angenommen wurde und wie es die Verteidiger und Klopffechter des' Monopolkapitalismus immer wieder behaupten —, daß der Staat die Wirtschaft in seine Hand nimmt, sondern staatsmonopolistischer Kapitalismus bedeutet, daß die Finanzoligarchie eine so gewaltige ökonomische und politische Macht errang, daß sie sich die Staatsgewalt unmittelbar dienstbar machen kann und auch tatsächlich macht. Das zweite historische Merkmal des Imperialismus ist seine Kennzeichnung als parasitärer Kapitalismus, als Kapitalismus, der in Fäulnis übergegangen ist. Dieser parasitäre oder Fäulnischarakter des Kapitalismus kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß das Monopol die Tendenz hat, den technischen Fortschritt, d. h. die Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, zu hemmen und aufzuhalten. Das tun die modernen kapitalistischen Monopole in ganz bedeutendem Umfang. Wenn die Monopole nicht bestünden, würden sich die Produktivkräfte der Gesellschaft noch viel gewaltiger entfalten als im monopolistischen Kapitalismus. Von der Fäulnis, die den Kapitalismus in seiner imperialistischen Epoche kennzeichnet, wird schließlich auch ein Teil der Arbeiterklasse erfaßt. Auf Grund ihrer hohen Monopolprofite, auf Grund der hohen Tribute, die sie aus der Ausbeutung der kolonialen Völker beziehen, sind die Monopolkapitalisten in der Lage, eine gewisse Oberschicht der Arbeiterklasse zu bestechen. Dies geschieht in Form von höheren Löhnen, von Häuschen, einer gehobenen Lebenslage u. ä. Diese Schicht unterscheidet sich sehr bald nicht nur ihrer materiellen Lebenslage 18»

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nach von den übrigen Massen der Ausgebeuteten, sie stellt auch ihren Ideologien nach eine Schicht dar, die nichts von dem revolutionären Sturm des Proletariats gegen den Kapitalismus wissen will. Diese Schicht wurde zu Vertretern des Reformismus in den Reihen der Arbeiterklasse, zur politischen und ideologischen Agentur der Bourgeoisie in den Reihen des Proletariats. Diese Oberschicht bezeichnet Lenin als die „Arbeiteraristokratie", die die Basis des Opportunismus und die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie wird, und die allerdings, je mehr sich die allgemeine Krise des Kapitalismus verschärft — immer mehr von dem allgemeinen Elend erfaßt wird und ihrer aristokratischen Privilegien verlustig geht. Das dritte historische Merkmal des Imperialismus ist sein Charakter als sterbender Kapitalismus. Das heißt natürlich nicht, daß er von allein abstirbt, sondern das heißt, daß der Imperialismus die Epoche der proletarischen Revolution, die Epoche des unmittelbaren Übergangs zum Sozialismus ist. Bereits im J a h r e 1915, also noch vor der Veröffentlichung seiner Analyse des Imperialismus, schrieb Lenin folgenden bezeichnenden Satz: „Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, daß der Sieg des Sozialismus u r sprünglich in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzel genommenen Lande möglich ist." 1 ) Dieses Gesetz der Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist das Entwicklungsgesetz des Imperialismus. Der Durchbruch der Front des Imperialismus in einzelnen Ländern bedeutet natürlich die Errichtung der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse, die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Hier geht die ökonomische und historische Analyse des Imperialismus unmittelbar in die Leninsche Theorie der sozialistischen Revolution über, die die wissenschaftliche Grundlage f ü r den welthistorischen Sieg im Oktober 1917 war. Eine andere Seite, die u n mittelbar mit der Verwirklichung dieser Theorie der sozialistischen Revolution im Oktober 1917 im Zusammenhang steht, gehört unbedingt zur Darstellung der historischen Stellung des Imperialismus: Das ist die Theorie von der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems. Das sind einige der wichtigsten und grundlegenden Leistungen Lenins f ü r die Weiterentwicklung der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Seit Ende des vorigen Jahrhunderts hatten sich die historischen Bedingungen des Kampfes des Proletariats gegenüber der Epoche von Marx und Engels grundlegend geändert. Der Kapitalismus war in das letzte Stadium seiner Entwicklung, das Stadium des Imperialismus, eingetreten. Die Ära der proletarischen Revolution hatte begonnen. Nun war es notwendig, die Besonderheiten dieses Stadiums zu analysieren, alle sich aus dieser neuen Situation f ü r den Kampf des Proletariats ergebenden Schlüsse zu ziehen, die 1

) Lenin, Uber die Losung der Vereinigten Staaten in Europa, Werke in zwei Bänden, Moskau 1946, S. 731. 276

Ausgewählte

Grundsätze der Organisation der Partei von wirklich marxistischem Typus festzulegen und das Proletariat zum entscheidenden Sturm auf den Kapitalismus vorzubereiten. Das aber konnte nur im Kampf gegen die Verräter des Proletariats aus der II. Internationale getan werden, die nur dem Buchstaben nach den Marxismus anerkannten, ihn in der Tat aber umwandelten, diese revolutionäre Kampflehre des Proletariats ihrer Politik der Versöhnung mit der Bourgeoisie anpaßten und sich nicht auf die Erfahrung stützten, sondern auf Zitate, die sie ohne Berücksichtigung von Zeit und Raum auswählten. Das konnte nur unter d i r Bedingung einer schöpferischen Weiterentwicklung des Marxismus getan werden. Und das hat Wladimir Iljitsch Lenin getan. Wäre der Marxismus auch ohne Lenin weiterentwickelt worden? Hätte es auch ohne Lenin einen Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution gegeben? Diese Frage ist viel ünakademischer, als es auf den ersten Blick scheint! Sie ist im Grunde die Frage, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn Marx und Engels in Westeuropa adäquate Nachfolger gefunden hätten, z. B. in den deutschen Linken! Und auf diese Frage antwortet uns Stalin, und zwar antwortet uns Stalin auf diese Frage in seinem im Jahre 1905 erschienenen Artikel „Kurze Darlegung der Meinungsverschiedenheiten in der Partei". 1 ) Stalin behandelt hier die Leninsche These des „Hineintragens" des wissenschaftlichen Sozialismus in die Arbeiterbewegung und schreibt: „Manche behaupten, nach Meinung Lenins und der ,Mehrheit' treibt die Arbeiterbewegung, wenn sie nicht mit der sozialistischen Ideologie verbunden ist', dem Untergang entgegen und werde die sozialistische Revolution nie erreichen. Dies ist jedoch eine Erfindung, eine Erfindung müßiger Menschen. Lenin behauptet mit Bestimmtheit, daß die ,Arbeiterklasse sich spontan zum Sozialismus hingezogen fühlt', und wenn er nicht lange hierbei verweilt, so nur deshalb, weil er es f ü r überflüssig hält, das zu beweisen, was ohnehin schon bewiesen ist. Außerdem hat Lenin es sich durchaus nicht zum Ziel gesetzt, die spontane Bewegung zu erforschen, er wollte nur den Praktikern zeigen, was sie bewußt zu tun haben." 2 ) Was heißt das? Das heißt, daß die Kommunisten das, was in der Arbeiterbewegung spontan entsteht, im Bewußtsein haben müssen. Deshalb, weil sie das tun, sind die Kommunisten eben die Theoretiker dieser Bewegung, w i e es im „ K o m munistischen Manifest" heißt. Die spontane Bewegung und das Bewußtsein — das sind zwei Momente eines Prozesses, und Bewußtsein, Theorie und Partei, das sind nur verschiedene Erscheinungsformen des einen Moments, dem Lenin ') Stalin, Werke, Bd. I, S. 77 ff. Ebd., S. 90/91.

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so große Bedeutung beigemessen, zum Unterschied von der deutschen Linken, die deshalb im K a m p f e gegen den Revisionismus versagte. „Also" — sagt Stalin deshalb —: „die spontane Arbeiterbewegung, die Arbeiterbewegung ohne den Sozialismus, verflacht unvermeidlich und n i m m t tradeunionistischen Charakter an, sie u n t e r w i r f t sich der bürgerlichen Ideologie. Darf m a n hieraus den Schluß ziehen, der Sozialismus sei alles und die Arbeiterbewegung sei nichts?" f r a g t Stalin und er antwortet: „Natürlich nicht! So sprechen n u r Idealisten. Irgendeinmal, nach sehr langer Zeit, wird die ökonomische Entwicklung die Arbeiterklasse unvermeidlich zur sozialen Revolution f ü h r e n und sie folglich veranlassen, ganz -und gar mit der b ü r g e r lichen Ideologie zu brechen. Es handelt sich n u r darum, daß dieser Weg sehr langwierig u n d schmerzhaft sein wird." 1 ) Und dies ist die andere Seite der Entstehung des Leninismus als des Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution, daß Lenin durch seine geniale Einsicht in die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft der Arbeiterklasse mit seiner Theorie den geraden und direkten Weg zum Sozialismus gezeigt hat, daß er ihr ungeheure Opfer ersparte!

b) Stalin als politischer Ökonom des Kapitalismus Eine der größten wissenschaftlichen Leistungen Stalins f ü r die Weiterentwicklung der politischen Ökonomie des Kapitalismus besteht darin, daß er eine Analyse des Imperialismus in der Zeit seit dem ersten Weltkrieg gab, die besonderen Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten des niedergehenden Kapitalismus in dieser Periode aufdeckte u n d so die Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus schuf. Indem Stalin aufzeigte, daß der Kapitalismus in die allgemeine Krise eingetreten ist, zeigte Stalin, unter welchen konkreten Bedingungen der Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung g e f ü h r t w e r d e n muß. Mit dem Abschluß der revolutionären Nachkriegsperiode im J a h r e 1923 durch die Niederschlagung des bulgarischen September- u n d des deutschen Oktoberaufstandes w a r zwar eine Wiederherstellung der kapitalistischen Herrschaft und eine gewisse ökonomische Erholung verbunden. Es begann eine Epoche der relativen Stabilisierung des Kapitalismus. Der Sieg der Oktoberrevolution bedeutete aber, wie Stalin am 10. Jahrestag der Oktoberrevolution ausführte, „eine grundlegende Wendung in der Geschichte der Menschheit, eine grundlegende Wendüng im historischen Schicksalsablauf des Weltkapitalismus . . ,"2) Da die „spontane Entwicklung des Kapitalismus unter den Verhältnissen des I m p e r i a l i s m u s . . . in den Prozeß der Fäulnis u n d des Sterbens des Kapitalismus umgeschlagen" sei, f ü h r t e Stalin weiter aus, „so ') A. a. O., S. 89. ) J. Stalin, Fragen des Leninismus, 11. Aufl., Moskau 1946, S. 215.

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mußte die Oktoberrevolution und der mit ihr verbundene Abfall eines riesigen Landes vom Weltsystem des Kapitalismus diesen Prozeß beschleunigen, Schritt für Schritt die Grundpfeiler des Weltimperialismus untergraben".1) Die Oktoberrevolution habe dem • Weltkapitalismus „eine tödliche Wunde geschlagen . . . , von der er sich nie mehr erholen wird".2) Aus diesem Grunde, führte Stalin im Jahre 1927 weiter aus, werde der Kapitalismus auch „nie mehr das .Gleichgewicht' und die ,Stabilität' wiedererlangen, die er vor dem Oktober besaß".3) Der Kapitalismus könne sich zwar teilweise stabilisieren, er könne seine Produktion rationalisieren und die Verwaltung seiner Länder in die Hände der Faschisten legen, um die Arbeiterklasse eine Zeitlang niederzuhalten, er werde aber „nie mehr jene ,Ruhe' und jene ,Sicherheit', jenes .Gleichgewicht' und jene .Stabilität' wiedererlangen, deren er sich früher rühmte, denn die Krise des Weltkapitalismus hat eine Entwicklungsstufe erreicht, wo bald in den Zentren des Imperialismus, bald an seiner Peripherie die Flammen der Revolution durchbrechen müssen.. ,"4) Die Große Sozialistische Oktoberrevolution hat den Imperialismus nicht allein in den Zentren seiner Herrschaft und in den kolonialen und abhängigen Ländern erschüttert. Sie hat die Existenz des Weltkapitalismus in Frage gestellt. Unter den Bedingungen des Imperialismus ist der Kapitalismus ein faulender, absterbender Kapitalismus. Die Oktoberrevolution und das mit ihr im Zusammenhang stehende Ausscheiden immer neuer Länder aus dem Weltsystem des Kapitalismus beschleunigt in hohem Maße den Prozeß der Fäulnis und des Zusammenbruchs des Kapitalismus. Stalin sagte voraus, daß neben den Zentren des Imperialismus in den einzelnen kapitalistischen Ländern und dem System dieser Länder in der ganzen Welt Zentren des Sozialismus in einzelnen Ländern und ein System dieser Zentren in der ganzen Welt entstehen werden. Jetzt, wo sich in der ganzen Welt zwei scharf abgegrenzte gegensätzliche Lager gebildet haben, das imperialistische Lager unter Führung der USA und das antiimperialistische Lager unter Führung der großen Sowjetunion, ist klar zu erkennen, mit welcher Genauigkeit Stalins Voraussage eingetroffen ist. In der großen Sowjetunion entstand eine mächtige Basis der internationalen revolutionären Bewegung, wie diese sie vorher nie besessen hatte. Es ist nicht zu leugnen, daß schon allein die Tatsache der Existenz der Sowjetunion „den finsteren Kräften der Reaktion Zügel anlegt und den unterdrückten Klassen den Kampf für ihre Befreiung erleichtert".5) 2

) 3 ) 4 ) 5 )

Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. A. a. O.,

219/220. 220. 220. 220. S. 221.

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Die Ära des Zusammenbruchs des Kapitalismus bringt unvermeidlich Krisen und Kriege mit sich, die ihrerseits den Untergang des Kapitalismus beschleunigen. In seinem politischen Bericht auf dem XVI.'Parteitag der KPdSU (B) trug Stalin die Hauptgedanken der allgemeinen Krise des Kapitalismus vor. Ihr Wesen besteht darin, daß der Kapitalismus nun aufgehört hat, das einzige sozialökonomische System in der Weltwirtschaft zu sein, daß neben ihm das sozialistische Wirtschaftssystem nicht nur besteht, sondern wächst, und zwar schneller wächst als der Kapitalismus. Damit aber verschärfen sich die inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalismus aufs äußerste. In der allgemeinen Krise des Kapitalismus stehen daher der imperialistische Krieg und die proletarische Revolution dauernd auf der Tagesordnung. Das Studium der Entwicklungsform der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist daher von grundlegender Bedeutung f ü r die Politik der proletarischen Partei, weil aus ihr sowohl der imperialistische Krieg als auch die proletarische Revolution hervorgehen können. Die Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist also die unmittelbare Weiterentwicklung der Leninschen Theorie des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Sie lehrt, daß der Kapitalismus nicht von selbst, automatisch, aus rein ökonomischen Gründen zusammenbricht, sondern unter Ausnutzung der objektiven Verhältnisse von der Arbeiterklasse im Bunde mit den werktätigen Bauern und unter Führung der proletarischen Partei auf revolutionärem Wege überwunden werden muß. 1 ) Stalin untersuchte auch die Bedeutung der allgemeinen Krise des Kapitalismus f ü r die zyklische Bewegung der kapitalistischen Produktion, f ü r das Auf und Ab ihrer Bewegung von Krise zu Krise. Stalin zeigte in seinen Rechenschaftsberichten auf den Parteitagen der KPdSU (B) in den Jahren 1934 und 1939, daß es ein besonderes Merkmal der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist, daß sie zwar den Zyklus der periodischen Krisen nicht aufhebt, aber ihn bedeutend deformiert. Er untersuchte den Ablauf der periodischen Krisen nach dem ersten Weltkrieg und wies besonders bei der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 auf den Umstand hin, daß sie nicht mehr zu einem allgemeinen Aufschwung der Produktion führte, sondern in eine „Depression" besonderer Art einmündete. 2 ) Bereits auf dem XV. Parteitag der KPdSU (B) am 3. Dezember 1927, also im gleichen Jahr, als der rechte Sozialdemokrat Hilferding auf dem Parteitag der SPD in Kiel davon sprach, daß nunmehr der Zeitpunkt gekommen sei, wo die kapitalistische Anarchie durch die gesellschaftliche Organisation der Wirtschaft ersetzt werde, erklärte Stalin: „ . . . aus der Stabilisierung selbst, aus der Tatsache, daß die Produktion wächst, daß der Handel wächst, daß der technische Fortschritt und die Produktionsmöglichkeiten wachsen, während ») Ebd., S. 25/26. ) A. a. O., S. 520.

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der Weltmarkt, die Grenzen dieses Marktes und die Einflußsphären der einzelnen imperialistischen Gruppen mehr oder weniger stabil bleiben — gerade daraus erwächst die tiefste und schärfste Krise des Weltkapitalismus, die mit neuen Kriegen schwanger geht und das Bestehen jeder wie immer gearteten Stabilisierung bedroht. Aus der teilweisen Stabilisierung erwächst eine Verschärfung der Krise des Kapitalismus, die wachsende Krise legt die Stabilisierung in Trümmer — das ist die Dialektik der Entwicklung des Kapitalismus im gegebenen historischen Moment." 1 ) Die wirkliche Entwicklung des Kapitalismus hat die Stalinsche These glänzend bestätigt. Kaum zwei Jahre später, im Jahre 1929, brach die von J . W. Stalin vorausgesagte tiefste und schärfste Krise des Weltkapitalismus herein, die gleichzeitig den Bankrott der „Theorien" der Bourgeoisie, der Trotzkisten und der rechten Sozialdemokraten offenbarte. Die Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist also eine bedeutsame, eine notwendige und — wie die Entwicklung uns gezeigt hat — eine richtige Weiterentwicklung der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Das zeigt sich in der letzten genialen Arbeit Stalins über „ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR", in der er u. a. das ökonomische Grundgesetz des modernen Kapitalismus formulierte und die Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus fortführte. Die ökonomischen Grundgesetze gehören zu jener Kategorie ökonomischer Gesetze, so zeigt Stalin, die von kurzer Dauer sind. Sowenig es ein ökonomisches Grundgesetz geben kann, das alle gesellschaftlichen Formationen beherrscht, sowenig kann es für eine bestimmte gesellschaftliche Formation mehrere ökonomische Grundgesetze geben. Jede gesellschaftliche Formation hat vielmehr ihr eigenes ökonomisches Grundgesetz, das sowohl das Wesen der jeweiligen Produktionsweise und die wesentlichen Prozesse ihrer Entwicklung bestimmt, dabei der Schlüssel zum Verständnis und zur Erklärung aller Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen ökonomischen Ordnung ist. Dabei ist es, wie Stalin zeigt, unter Umständen notwendig, das allgemeine ökonomische Grundgesetz einer bestimmten gesellschaftlichen Formation, wie der des Kapitalismus, für eine bestimmte Entwicklungsperiode dieser Formation zu konkretisieren. Bei der Bestimmung des ökonomischen Grundgesetzes des gegenwärtigen Kapitalismus, d. h. also des Monopolkapitalismus, geht Stalin zunächst von der Frage aus, ob es überhaupt ein ökonomisches Grundgesetz des Kapitalismus gäbe. Stalin antwortet: „Ja, es besteht." 2 ) Das ökonomische Grundgesetz des Kapitalismus sei ein solches Gesetz, sagt er, das nicht irgendeine einzelne Seite oder irgendwelche einzelnen Prozesse der Entwicklung der kapitalistischen Produktion bestimme, sondern das alle Hauptseiten und alle ') Ebd. ) A. a. O., S. 38.

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Hauptprozesse dieser Entwicklung, das Wesentliche der kapitalistischen Produktion, ihr Wesen, bestimme. Das ökonomische Grundgesetz des modernen Kapitalismus muß sowohl das Ziel der Produktion als auch die Mittel zur Erreichung dieses Zieles zum Ausdruck bringen. „Der moderne Kapitalismus, der monopolistische Kapitalismus kann sich mit dem Durchschnittsprofit nicht begnügen, der angesichts der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals noch dazu die Tendenz hat, zu fallen. Der moderne monopolistische Kapitalismus fordert nicht den Durchschnittsprofit, sondern ein Maximum an Profit, das nötig ist, um die erweiterte Reproduktion mehr oder weniger regulär zu verwirklichen." 1 ) Aus diesem Grunde, so folgert Stalin, sei das Gesetz des Mehrwertes ein zu allgemeines Gesetz, um Gültigkeit f ü r den gegenwärtigen Kapitalismus zu haben. Es berührt nicht „das Problem der höchsten Profitrate, deren Sicherung die Entwicklungsbedingung des monopolistischen Kapitalismus ist". Um diese Lücke zu füllen, müsse das Gesetz des Mehrwertes daher konkretisiert und weiterentwickelt werden in Anwendung auf die Bedingungen des monopolistischen Kapitalismus, wobei zu berücksichtigen sei, „daß der monopolistische Kapitalismus nicht beliebigen Profit, sondern gerade den Maximalprofit fordert. Und dies ist das ökonomische Grundgesetz des modernen Kapitalismus". Die Hauptzüge und Erfordernisse des ökonomischen Grundgesetzes im gegenwärtigen Kapitalismus sind: „Sicherung des kapitalistischen Maximalprofites durch die Ausbeutung, den Ruin und die Verelendung der Mehrheit der Bevölkerung des gegebenen Landes, durch die Versklavung und systematische Ausraubung der Völker anderer Länder, besonders der zurückgebliebenen Länder, und schließlich durch Kriege und Militarisierung der Volkswirtschaft, die zur Sicherung der höchsten Profite ausgenutzt werden." 2 ) Dieses Gesetz enthüllt und erklärt die schreienden Widersprüche des Kapitalismus, enthüllt die Ursachen und Wurzeln der aggressiven Raubpolitik der kapitalistischen Staaten. Die Auswirkung dieses Gesetzes f ü h r t zur Vertiefung der allgemeinen Krise des Kapitalismus, zum unvermeidlichen Anwachsen und zur Explosion aller Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft. In der Formulierung Stalins kommt auch die „erstaunliche" Tatsache zum Ausdruck, daß der Kapitalismus nicht etwa nur aus der stürmischen Entwicklung der Technik, sondern auch aus dem Aufhalten der Entwicklung der Technik Profit zu erzielen versucht. Dieser Widerspruch sei nur durch das ökonomische Grundgesetz des modernen Kapitalismus zu erklären, das heißt durch die Notwendigkeit der Erlangung des Maximalprofites, sagt Stalin. „Der Kapitalismus tritt f ü r neue Technik ein, wenn sie ihm den höchsten Profit in Aussicht stellt. Der Kapitalismus tritt gegen die neue Technik und 2

Ebd., S. 39. ) Ebd., S. 39/40.

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f ü r den Übergang zur Handarbeit auf, wenn ihm die neue Technik nicht mehr den höchsten Profit in Aussicht stellt." 1 ) Die Formulierung des ökonomischen Grundgesetzes des modernen Kapitalismus ist ein weiteres Beispiel f ü r die schöpferische Weiterentwicklung alter Erkenntnisse des Marxismus. Bei Aufrechterhaltung des Prinzipiellen werden die Formulierungen den neuen Tatsachen und Erscheinungen angepaßt. Auf der Grundlage des ökonomischen Grundgesetzes des modernen Kapitalismus f ü h r t e Stalin auch die Theorie der allgemeinen Krise des Kapitalismus fort. In seiner letzten Arbeit bezeichnet Stalin den Zerfall des einheitlichen, allumfassenden Weltmarktes als' „wirtschaftliche Folgen". Hierdurch werde die weitere Vertiefung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems bestimmt. In immer tiefere Widersprüche verstrickt sich der Kapitalismus in der Periode seiner allgemeinen Krise, Widersprüche, die nur durch seine endgültige Beseitigung und Ersetzung durch den Sozialismus gelöst werden können. Entstanden in der Periode des ersten Weltkrieges, f ü h r t e der zweite Weltkrieg zu einer Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Die kapitalistischen Großmächte hatten im Krieg den Ausweg aus der Krise gesucht. Deutschland und Japan wurden im Ergebnis zwar als Konkurrenz der USA, Englands und Frankreichs ausgeschaltet, aber zugleich fielen auch China und die Länder der Volksdemokratie in Europa vom kapitalistischen System ab. Das Lager des Imperialismus ist aus dem zweiten Weltkrieg also geschwächt hervorgegangen. Zudem wird es von unversöhnlichen inneren Widersprüchen zerrissen und ist in zwei Teile gespalten: in die Gruppe der besiegten imperialistischen Länder (Westdeutschland, Japan, Italien) und in die Gruppe der imperialistischen Siegerländer (USA, England und Frankreich). Die Siegerländer — und vor allem die USA — wollen durch Okkupation die besiegten kapitalistischen Länder, insbesondere Westdeutschland und Japan, abwürgen, f ü r immer die Selbständigkeit und Unabhängigkeit dieser Länder liquidieren und sie in einen neuen Krieg im Interesse der amerikanischen Millionäre und Milliardäre hineinzerren. Das Kraftfeld, mit dem die kapitalistischen Hauptländer (USA, England, Frankreich) auf die Weltressourcen einwirken, werde sich nicht erweitern — schreibt Stalin —, sondern schrumpfen. Für diese Länder werden sich die Absatzbedingungen auf dem Weltmarkt weiter verschlechtern und wird die Nichtauslastung der Betriebe zunehmen. Darin besteht die Vertiefung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Weltsystems in Verbindung mit dem Zerfall des einheitlichen kapitalistischen Weltmarktes. ») A. a. O., S. 41. 283

Als Ergebnis des zweiten Weltkrieges hat sich das Gesicht der kapitalistischen Länder somit bedeutend verändert. „Das empfinden die Kapitalisten selbst", stellt Stalin fest, „denn es ist schwer, den Verlust solcher Märkte wie der UdSSR und Chinas nicht zu fühlen. Sie bemühen sich, diese Schwierigkeiten durch den Marshallplan, den Krieg in Korea, das Rüstungsfieber und die Militarisierung der Industrie zu überdecken. Das ähnelt aber sehr dem Ertrinkenden, der nach dem Strohhalm greift." 1 ) Die USA sind zu dem größten finanziellen Ausbeuter der kapitalistischen Welt, zu ihrem Hauptgläubiger geworden. Die westeuropäischen Länder, die ihre Kolonien weiter ausbeuten, sind selbst in finanzielle Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten geraten und werden deshalb ihrerseits von den USA ausgebeutet. In diesem Sinne hat sich der Kreis der Hauptstaaten, die die Welt in finanzieller Beziehung ausbeuten, auf ein Minimum reduziert. Es ist vor allem die von engen imperialistischen Motiven bestimmte amerikanische Handelspolitik, die den Markt für die kapitalistischen Länder verhängnisvoll eingeengt hat. „Es müsse bemerkt werden", sagt Stalin, „daß die USA, England, Frankreich selbst, natürlich ohne ihren Willen, die Bildung und Festigung des neuen, parallelen Weltmarktes gefördert haben. Sie haben die UdSSR, China und die europäischen volksdemokratischen Länder, die sich nicht dem ,Marshallplan'-System angeschlossen haben, der ökonomischen Blockade ausgesetzt in der Hoffnung, sie damit abzuwürgen. In der Tat aber ergab sich kein Abwürgen, sondern eine Festigung des neuen Weltmarktes." 2 ) Da die Entwicklung der Wirtschaft der Länder des neuen Weltmarktes in mehrjährigen Volkswirtschaftsplänen festgelegt ist, sind sie in der Lage, feste Außenhandelsverträge für die Dauer mehrerer Jahre abzuschließen, wodurch ihr Außenhandel Stabilität und eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung erhält. Das ist also die Situation des Lagers des Imperialismus. Die Ausweglosigkeit der Krise des kapitalistischen Systems ist heute offenkundig. Das Tempo des Verfalls der kapitalistischen Welt ist dabei ein ungemein rasches. Während das kapitalistische System Jahrhunderte brauchte, um den sterbenden Feudalismus in einer Kette von revolutionären Umwälzungen abzulösen, hat der Kapitalismus in der knappen Frist von nicht einmal vier Jahrzehnten bereits elf Länder mit einer Gesamtbevölkerung von rund 800 Millionen Menschen verloren, darunter so große Gebiete wie Rußland und China. Der sozialistische oder auf dem Wege zum Sozialismus vorwärtsschreitende Teil der Welt umfaßt bereits mehr als ein Drittel der Menschheit und ein Viertel der Erdoberfläche. Bezeichnend für das sich beschleunigende Tempo dieses Prozesses ist folgender Vergleich: In der ersten Etappe seiner allgemeinen Krise — die den Zeitraum vom ersten Weltkrieg und von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution bis zum zweiten Weltkrieg, also !) A. a. O., S. 32. Ebd., S. 31/32.

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drei Jahrzehnte, umfaßt — verlor der Kapitalismus ein einziges Land, Rußland, mit damals rund 160 Millionen Einwohnern. In der zweiten Etappe seiner allgemeinen Krise und ihrer Verschärfung — die seit dem zweiten Weltkrieg erst wenige Jahre umfaßt — verlor der Kapitalismus schon weitere zehn Länder mit einer Gesamtbevölkerung von rund 600 Millionen, darunter das mächtige China mit fast 500 Millionen Menschen. Es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß der Kapitalismus — noch bevor die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts beendet sein wird — nur noch von Historikern studiert werden wird. Die Völker selbst werden ihn vergessen haben! Was folgt aus alledem? Daraus folgt erstens, daß die kapitalistischen Märkte in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus ihre relative Stabilität verloren haben, und daß zweitens infolge seiner Fäulnis der Kapitalismus langsamer wächst als in seinem vormonopolistischen Stadium. Durch die Schwächung des Kapitalismus werden seine inneren Gegensätze mehr vertieft, wird der Kampf innerhalb des imperialistischen Lagers noch verschärft. Die von den USA-Monopolisten gegenüber ihren „Juniorpartnern" aus dem amerikanisch-englischen Block betriebene Politik der ökonomischen Expansion, die Unterordnung der Wirtschaft dieser Länder unter die Interessen der amerikanischen Milliardäre, der Einbruch des amerikanischen Kapitals in die Einflußsphären Englands und Frankreichs und deren Verdrängung aus ihren „eigenen Kolonien", die eine Katastrophe f ü r die hohen Profite der englisch-französischen Kapitalisten heraufbeschwört, all das muß die Gegensätze zwischen den USA und England, zwischen den USA und Frankreich verschärfen und verschärft sie auch tatsächlich. Zugleich spitzen sich die Gegensätze zwischen den USA und den besiegten Ländern — Japan, Italien und Westdeutschland —, die unter dem Okkupationsjoch der amerikanischen Diktatoren leben, immer mehr zu. Die allgemeine Krise des imperialistischen Systems begann in der ersten Zeit des ersten Weltkrieges, besonders infolge des Ausscheidens der Sowjetunion aus dem kapitalistischen System. Das war die erste Etappe der allgemeinen Krise. Während des zweiten Weltkrieges entfaltete sich die zweite Etappe der allgemeinen Kri'se, besonders nach' dem Ausscheiden der volksdemokratischen Länder in Europa und Asien aus dem kapitalistischen System. In der zweiten Entwicklungsetappe der allgemeinen Krise sind nun die Gegensätze innerhalb des imperialistischen Lagers weder abgeschwächt, noch werden sie durch den Hauptgegensatz Kapitalismus—Sozialismus überdeckt, obwohl manche, wie Stalin bemerkt, behaupten, die Widersprüche zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus seien stärker als die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Ländern. Theoretisch sei das natürlich richtig, meint Stalin, aber nicht n u r jetzt, in der gegenwärtigen Etappe! Das sei auch vor dem zweiten Weltkrieg schon richtig gewesen. Die Machthaber der kapitalistischen Länder hätten das mehr oder weniger sogar begriffen. Der zweite 285

Weltkrieg habe aber dennoch nicht mit dem Krieg gegen die UdSSR, sondern mit dem Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern begonnen, weil der Krieg gegen die UdSSR als das Land des Sozialismus für den Kapitalismus erstens gefährlicher ist als der Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern, weil er unbedingt die Frage der Existenz des Kapitalismus selbst stellt, und weil die Kapitalisten zweitens, obwohl sie zum Zwecke der „Propaganda" über die Aggressivität der Sowjetunion lärmen, selbst nicht an die Aggressivität glauben. Im Jahre 1939, als der neue Krieg bereits ausgebrochen war, unterstrich Stalin auf dem XVIII. Parteitag die Grundprinzipien der sowjetischen Außenpolitik, wobei er darauf hinwies: „Wir sind für den Frieden und für die Festigung sachlicher Beziehungen mit allen Ländern; auf diesem Standpunkt stehen wir und werden wir stehen, soweit diese Länder ebensolche Beziehungen zur Sowjetunion unterhalten werden, soweit sie nicht versuchen, die Interessen unseres Landes zu verletzen." Gleichzeitig warnte Stalin die Aggressoren aber und erklärte: „Wir fürchten keine Drohungen der Aggressoren und sind bereit, auf einen Schlag der Kriegsbrandstifter, die versuchen sollten, die Unantastbarkeit der Sowjetgrenzen zu verletzen, mit einem doppelten Schlag zu antworten." Was folgt daraus? Daraus folgt, daß es falsch wäre, anzunehmen, daß ein neuer Krieg sich nur gegen den Sowjetstaat richten kann. Der zweite Weltkrieg begann als ein Krieg ¿wischen kapitalistischen Staaten, und die kapitalistischen Länder haben selbst durch diesen Krieg stark gelitten. Die Widersprüche, die jetzt das imperialistische Lager zerreißen, können ebenfalls durchaus zum Krieg eines kapitalistischen Staates gegen einen anderen führen. Die Sowjetunion, die alle diese Umstände berücksichtigt, setzt sich für die Verhütung eines jeden Krieges zwischen den Staaten und für eine friedliche Regelung der internationalen Konflikte und Meinungsverschiedenheiten ein.

C. Die politische Ökonomie des Sozialismus 1. Die Bedeutung

der politischen Ökonomie

des

Sozialismus

Der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die Errichtung der proletarischen Diktatur und die Errichtung des Sozialismus in der UdSSR ist zugleich auch ein großer Sieg der marxistischen politischen Ökonomie, eine Bestätigung ihrer Wahrheit. Die mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution beginnende sozialistische Entwicklung hat aber auch die Rolle und Bedeutung der politischen Ökonomie im gesellschaftlichen Leben von Grund aus gewandelt. 286

Weltkrieg habe aber dennoch nicht mit dem Krieg gegen die UdSSR, sondern mit dem Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern begonnen, weil der Krieg gegen die UdSSR als das Land des Sozialismus für den Kapitalismus erstens gefährlicher ist als der Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern, weil er unbedingt die Frage der Existenz des Kapitalismus selbst stellt, und weil die Kapitalisten zweitens, obwohl sie zum Zwecke der „Propaganda" über die Aggressivität der Sowjetunion lärmen, selbst nicht an die Aggressivität glauben. Im Jahre 1939, als der neue Krieg bereits ausgebrochen war, unterstrich Stalin auf dem XVIII. Parteitag die Grundprinzipien der sowjetischen Außenpolitik, wobei er darauf hinwies: „Wir sind für den Frieden und für die Festigung sachlicher Beziehungen mit allen Ländern; auf diesem Standpunkt stehen wir und werden wir stehen, soweit diese Länder ebensolche Beziehungen zur Sowjetunion unterhalten werden, soweit sie nicht versuchen, die Interessen unseres Landes zu verletzen." Gleichzeitig warnte Stalin die Aggressoren aber und erklärte: „Wir fürchten keine Drohungen der Aggressoren und sind bereit, auf einen Schlag der Kriegsbrandstifter, die versuchen sollten, die Unantastbarkeit der Sowjetgrenzen zu verletzen, mit einem doppelten Schlag zu antworten." Was folgt daraus? Daraus folgt, daß es falsch wäre, anzunehmen, daß ein neuer Krieg sich nur gegen den Sowjetstaat richten kann. Der zweite Weltkrieg begann als ein Krieg ¿wischen kapitalistischen Staaten, und die kapitalistischen Länder haben selbst durch diesen Krieg stark gelitten. Die Widersprüche, die jetzt das imperialistische Lager zerreißen, können ebenfalls durchaus zum Krieg eines kapitalistischen Staates gegen einen anderen führen. Die Sowjetunion, die alle diese Umstände berücksichtigt, setzt sich für die Verhütung eines jeden Krieges zwischen den Staaten und für eine friedliche Regelung der internationalen Konflikte und Meinungsverschiedenheiten ein.

C. Die politische Ökonomie des Sozialismus 1. Die Bedeutung

der politischen Ökonomie

des

Sozialismus

Der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die Errichtung der proletarischen Diktatur und die Errichtung des Sozialismus in der UdSSR ist zugleich auch ein großer Sieg der marxistischen politischen Ökonomie, eine Bestätigung ihrer Wahrheit. Die mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution beginnende sozialistische Entwicklung hat aber auch die Rolle und Bedeutung der politischen Ökonomie im gesellschaftlichen Leben von Grund aus gewandelt. 286

Die politische Ökonomie als die Wissenschaft von den objektiven Gesetzen der ökonomischen Gesellschaft entsteht als bürgerliche Wissenschaft. Sie dient zunächst den Interessen der Bourgeoisie, der Festigung der Basis der bürgerlichen Gesellschaft im Kampf gegen die feudalen Uberreste in der Basis und später der ideologischen Verteidigung dieser Basis gegen das Proletariat. Als bürgerliche Wissenschaft spiegelt die politische Ökonomie auf Grund ihrer idealistisch-metaphysischen Grundkonzeption die objektiven Gesetze der Ökonomie nur verzerrt und verfälscht wider. Im Kampf gegen die bürgerliche Ideologie entsteht der dialektische Materialismus, und im Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft entstehen die Organisationen des Proletariats, der Partei, Gewerkschaften, Genossenschaften als Keimformen der Institutionen des sozialistischen Uberbaus. Durch die Anwendung des dialektischen Materialismus, der Philosophie des Proletariats, auf die Gesellschaftswissenschaften wurden diese und damit auch die politische Ökonomie erst wahrhafte Wissenschaft. Die Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften vor dem Auftreten des Marxismus war lediglich ihre Vorgeschichte. Die Revolution in den Gesellschaftswissenschaften durch den Marxismus besteht gerade darin, daß sie von Idealismus und Metaphysik befreit und zu wirklichen Wissenschaften wurden. Die politische Ökonomie auf der Grundlage des dialektischen Materialismus, die marxistisch-leninistische politische Ökonomie wurde zu einer Wissenschaft des Proletariats, weil sie eine Waffe im Kampf der die neue Gesellschaftsordnung vertretenden Klasse gegen die die alte Ordnung vertretenden Klassen darstellt. Die marxistisch-leninistische politische Ökonomie hat in der gegenwärtigen Situation der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zwei verschiedene Aufgaben: als politische Ökonomie des Kapitalismus ist sie eine wichtige ideologische Waffe des Proletariats. Das Proletariat bedient sich ihrer Erkenntnisse im Kampf gegen den räuberischen und kriegslüsternen Imperialismus. Als politische Ökonomie des Sozialismus ist sie erstens ein wichtiges Werkzeug in den Händen der Arbeiterklasse, ihrer Partei und ihres Staates zur Festigurig und Entwicklung der Basis der sozialistischen Gesellschaft, sie ist zweitens eine wichtige Waffe im Kampf gegen Uberreste der bürgerlichen Ideologie. Dazu kommt aber eine dritte, neue und wichtige Aufgabe der politischen Ökonomie des Sozialismus: sie ist in der sozialistischen Planwirtschaft unmittelbar mit der Produktion selbst verbunden. Das kommt zum Ausdruck in der Differenzierung der politischen Ökonomie, im Entstehen neuer Disziplinen, die nicht nur mit der Basis selbst, sondern auch mit Produktion und Überbau der sozialistischen Gesellschaft unmittelbar verknüpft sind. Die politische Ökonomie des Kapitalismus ist eine Waffe im Kampf der Werktätigen der imperialistischen Länder. Sie lehrt sie die Bedingungen und Formen ihres Kampfes gegen den Imperialismus verstehen. Sie ist aber auch eine Waffe im Kampf der Werktätigen der Länder des Sozialismus und der Demokratie, weil sie ihnen hilft, den Kampf um den Frieden gegen die 287

Kriegshetzer zu führen. Die politische Ökonomie des Sozialismus ist eine Waffe f ü r die Werktätigen der Länder des Sozialismus und der Demokratie in ihrem Kampf um den Aufbau der neuen, von Ausbeutung und Unterdrückung freien Gesellschaftsordnung. Sie ist aber auch eine Waffe f ü r die Werktätigen der kapitalistischen Länder, weil sie diese die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus und die historische Notwendigkeit des Sieges des Sozialismus über den Kapitalismus lehrt. Die gesamte Geschichte der Menschheit wurde bis in unsere Zeit, bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, von elementaren, spontan wirkenden Gesetzen beherrscht. Obwohl die Menschen schon seit langem die elementaren Kräfte der Natur ihrer Macht und ihrem Willen unterzuordnen gelernt haben, blieben sie der Spontaneität des gesellschaftlichen Lebens, der elementaren Wirkung der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft gegenüber ohnmächtig. Noch heute erscheinen einem bürgerlichen Ökonomen diese Gesetze geheimnisvoller und mystischer, als die Kräfte der Natur einem Wilden je vorgekommen sind. Erst die politische Ökonomie der Arbeiterklasse, die politische Ökonomie des Marxismus-Leninismus hat von den bürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnissen den Schleier des Geheimnisses gelüftet. Marx zeigte die wahre Natur des Kapitalismus, seine Widersprüche und die Gesetze seiner Entwicklung auf und zeigte damit der Menschheit Wege und Mittel zur Vernichtung des Kapitalismus und zur Erkenntnis der Gesetze der menschlichen Gesellschaft. Die sozialistische Gesellschaft bedeutet den Anbruch einer neuen Ära der Weltgeschichte, da die Menschen nun auch die Gesetze der Gesellschaft bewußt beherrschen. Bislang wurde die elementare Entwicklung der Gesellschaft nur f ü r kurze Zeitspannen, und zwar in der Epoche der Revolutionen, durch eine bewußte Tätigkeit der Massen abgelöst, die Geschichte machten. Aber erst mit dem Siege der sozialistischen Revolution gewann die bewußte Tätigkeit der Millionen der Werktätigen die entscheidende Bedeutung f ü r das gesellschaftliche Leben und f ü r die gesellschaftliche Entwicklung. So wie die gesellschaftliche Entwicklung also vom Kapitalismus zum Sozialismus führt, so f ü h r t die Entwicklung der Wissenschaft von der politischen Ökonomie des Kapitalismus zur politischen Ökonomie des Sozialismus. Damit aber werden zugleich auch zahlreiche schwierige Probleme der politischen Ökonomie des Kapitalismus zu einfachen Fragen, da sie durch die gesellschaftliche Praxis real und nicht n u r theoretisch gelöst wurden. Marx vermerkte in der „Einleitung" zu seiner „Kritik der politischen Ökonomie", daß die „bürgerliche Gesellschaft... die entwickeltste und mannigfaltigste historische Organisation der Produktion" sei. „Die Kategorien, die ihre Verhältnisse ausdrücken, das Verständnis ihrer Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen, mit deren Trümmern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch unüberwundene Reste sich in ihr fortschleppen, bloße Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben etc.: Anatomie des Menschen 288

ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen n u r verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc."1) Marx fügt noch hinzu: „Keineswegs aber in der Art der Ökonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen." 2 ) Das heißt, daß das Verständnis der Gliederung und Funktion der sozialistischen Wirtschaft das Verständnis f ü r Gliederung und Funktion der kapitalistischen Wirtschaft fördert. Das ist an sich schon deshalb sehr einleuchtend, als ja sozialistische Wirtschaft bedeutet, daß das, was im Kapitalismus spontan geschieht, jetzt bewußt getan werden muß. Das macht uns die Notwendigkeit des Studiums der Geschichte der politischen Ökonomie ganz klar. Denn das Studium der Geschichte der politischen Ökonomie bedeutet das Studium der Entstehung der politischen Ökonomie des Sozialismus durch die Entstehung des Sozialismus selbst. Der Sozialismus entwickelt sich auf Grund von Gesetzmäßigkeiten, die von den Entwicklungsgesetzen der vorsozialistischen Produktionsweise völlig verschieden sind. Damit ist die politische Ökonomie ebenfalls vor völlig neue Aufgaben gestellt worden. Sie ist selbst ein aktiver Faktor der Entwicklung geworden. Ohne die exakte Erkenntnis und Kenntnis der sozialistischen Entwicklungsgesetze wäre weder der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion möglich gewesen, noch wäre der allmähliche Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus durchführbar. Die politische Ökonomie analysiert nicht mehr post festum die spontan ablaufende objektive ökonomische Gesetzmäßigkeit, sondern erlaubt durch ihre Erkenntnis der objektiven ökonomischen Gesetze ihre bewußte Ausnutzung f ü r die planmäßige Entwicklung der Gesellschaft. Diese Entwicklung der politischen Ökonomie und ihre neuen Aufgaben kommen besonders in den Volkswirtschaftsplänen der sozialistischen Länder zum Ausdruck, die wissenschaftliche Werke sind. Die politische Ökonomie des Sozialismus wurde von Lenin und Stalin ausgearbeitet und begründet. Sie gingen dabei aus von der ökonomischen Theorie von Marx und entwickelten sie zur politischen Ökonomie des Sozialismus.

2. Marx und Engels als politische Ökonomen

des

Sozialismus

Die Grundlagen f ü r die Entwicklung der politischen Ökonomie des Sozialismus wurden bereits von Marx und Engels gelegt. Marx zeigte im „Kapital" die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Entwicklung auf. Er gab ') Marx, a. a. O., S. 262. -) Ebd., S. 262/263. 19 Behrens

289

außerdem eine Reihe wertvoller Hinweise zur Lösung der Probleme der politischen Ökonomie des Sozialismus. Außerdem verwendet die sozialistische Wirtschaftspolitik einzelne von der kapitalistischen Produktionsweise entwickelte Instrumente zur sozialistischen Umgestaltung der Wirtschaft. Diese Instrumente wurden in ihrer kapitalistischen Anwendung von Karl Marx wissenschaftlich erklärt. Daher bildet das gründliche Studium der ökonomischen Lehren von Marx und Engels eine Voraussetzung für das Verständnis der politischen Ökonomie des Sozialismus. Am ausführlichsten hat Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms zu den Fragen der politischen Ökonomie des Sozialismus Stellung genommen. Von besonderer Bedeutung sind die grundsätzlichen Bemerkungen und Ausführungen von Marx und Engels zum Gothaer Programm, ihre schonungslose Kritik an der Lassalleschen Theorie vom „unverkürzten Arbeitstag" und ihre Kritik am sogenannten „ehernen Lohngesetz". Die Tatsache, daß Lassalle sich an den reaktionären preußischen J u n k e r staat anzubiedern versuchte und ihn gegen die liberale Bourgeoisie ausspielen wollte, offenbart, daß es sich beim Lassalleschen Opportunismus um eine besonders reaktionäre, nationalistische Spielart handelte. Ausgerechnet Bismarck und der preußische Junkerstaat sollten die Lassalleschen „Produktivgenossenschaften" finanzieren und helfen, den Sozialismus herbeizuführen! Dem hält Marx die Forderung entgegen, die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848 zu Ende zu führen und die reaktionäre Junkerklasse mitsamt ihrem Staate zu zerschlagen. Marx enthüllt darüber hinaus grundsätzlich die Rolle und Bedeutung des Staates als eines Mittels der Klassenherrschaft der jeweils herrschenden Klasse und charakterisiert seine Funktionen in diesem Sinne. Im Zusammenhang damit fallen auch jene Worte, die das Kernstück des revolutionären Marxismus bilden und jedwedem Opportunismus den Todesstoß versetzen: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats."1) Damit hat Marx die eindeutige und durch die geschichtliche Entwicklung bestätigte These aufgestellt, daß die Errichtung der proletarischen Diktatur unerläßliche Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus ist. Welches ist der Inhalt der sonstigen These für die politische Ökonomie des Sozialismus, die in der Gothaer Programm-Kritik enthalten ist? Die sozialistische Produktionsweise knüpft an die vom Kapitalismus hervorgebrachten Produktivkräfte an und entwickelt sie weiter. Obwohl die gesellschaftlichen Produktivkräfte, nachdem sie von der Fessel des kapita') Ausgewählte Schriften, S. 25.

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listischen Eigentums durch die proletarische Revolution befreit worden sind, wie das Beispiel der Sowjetunion uns beweist, im Sozialismus sich sehr viel schneller als in der kapitalistischen Produktionsweise entwickeln, reichen sie zunächst noch nicht aus, um so viel Gebrauchswerte zu produzieren, daß das Prinzip der kommunistischen Gesellschaft: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen — verwirklicht werden kann. Der Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte ist im Stadium des Sozialismus, das auf die proletarische Revolution folgt und dem Kommunismus vorhergeht, noch nicht ausreichend, um alle gesellschaftlichen Bedürfnisse ausreichend zu befriedigen. Aus diesem Grunde, wegen des noch nicht hinreichenden Standes der gesellschaftlichen Produktivkräfte, kann also noch nicht das Prinzip des Kommunismus verwirklicht werden, sondern nur erst das Prinzip: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Leistungen! Marx spricht in seiner „Kritik des Gothaer Programms" daher davon, daß im Sozialismus „das Recht der P r o d u z e n t e n . . . ihren Arbeitslieferungen proportional" sei; „die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird". 1 ) „Die Gesellschaft ist in diesem Stadium noch", schreibt Marx, „in jeder Beziehung ökonomisch, sittlich, geistig, b e h a f t e t . . . mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt." „Demgemäß", fügt Marx hinzu, „erhält der einzelne Produzent — nach den Abzügen — exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum." 2 ) Die Abzüge, die „vom Arbeitsertrag", und zwar vom einzelnen und vom gesellschaftlichen „Arbeitsertrag", zu machen sind, bestehen erstens aus dem Teil, der erforderlich ist f ü r den Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel, zweitens aus einem zusätzlichen Teil f ü r die Ausdehnung der Produktion und drittens aus einem Teil, der notwendig ist zur Bildung von „Reserve- oder Assekuranzfonds gegen Mißfälle, Störungen durch Naturereignisse etc.". 3 ) „Diese Abzüge vom ,unverkürzten Arbeitsertrag' sind eine ökonomische Notwendigkeit, und ihre Größe ist zu bestimmen nach vorhandenen Mitteln und Kräften, zum Teil durch Wahrscheinlichkeitsrechnung.. ,"4) Aber auch nach dem Abzug dieser Teile vom Arbeitsertrag kann er noch nicht zur Konsumtion verteilt werden. „Bevor es zur individuellen Teilung kommt", f ü h r t Marx weiter aus, „geht hiervon wieder ab: Erstens: Die allgemeinen, nicht zur Produktion gehörigen Verwaltungskosten. ») ) 3 ) 4 ) 2

19*

Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15.

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Dieser Teil wird von vornherein aufs Bedeutendste beschränkt im V e r gleich zur jetzigen Gesellschaft und vermindert sich im selben Maße, als die neue Gesellschaft sich entwickelt. Zweitens: Was zur gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen bestimmt ist, w i e Schulen, Gesundheitsvorrichtungen usw. Dieser Teil wächst von vornherein bedeutend im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft und nimmt im selben Maße zu, wie die neue Gesellschaft sich entwickelt. Drittens: Fonds f ü r Arbeitsunfähige etc., kurz, f ü r was heute zur sogen, offiziellen Armenpflege gehört." 1 ) Erst nach diesen A b z ü g e n f ü r die Zwecke der Gesellschaft kann der „Arbeitsertrag" zu Konsumtionszwecken verteilt werden. Solange also der Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte hierzu nicht ausreicht, m u ß die Verteilung zwangsläufig so sein, daß nicht alle vorhandenen Bedürfnisse befriedigt werden können. Erst w e n n das „Knappheitsprinzip", dieses angeblich „ewige" Gesetz jeder Wirtschaft, keine Rolle mehr spielt, kann die Verteilung des gesellschaftlichen Arbeitsertrages sich daher auch restlos von allen alten Formen loslösen. „Bis dahin h e r r s c h t . . . offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist", schreibt Marx daher. „Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann, außer seiner Arbeit, und weil andererseits nichts in das Eigentum einzelner übergehen kann, außer individueller Konsumtionsmittel. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim A u s tausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer anderen umgetauscht." 2 ) Die Produktionsverhältnisse im Sozialismus, die Beziehungen der Menschen zueinander und zur Natur in der materiellen Produktion ihres Lebens, sind durch den Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte bedingt. „Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft", schreibt Marx an der gleichen Stelle. 3 ) Daraus folgt, daß die Verteilung im Sozialismus noch in den gleichen oder ähnlichen Formen vor sich gehen m u ß wie im Kapitalismus, obwohl der Inhalt ein völlig anderer geworden ist. Die ökonomischen Kategorien der Ware, des Wertes, des Preises, des Lohnes und einige andere sind noch vorhanden, obwohl sie einen Funktionswandel durchgemacht haben. Weil das kommunistische Prinzip noch nicht verwirklicht werden kann, ist in diesem Stadium der Entwicklung die materielle Interessiertheit der Werktätigen an ihrer Produktion ein wichtiger Faktor der weiteren Entwicklung. ») Ebd. ) Ebd., S. 16. 3 ) Ebd. 2

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„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft", schreibt Marx daher, „nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist, nachdem die Arbeit nicht n u r Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden, nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen — erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen." 1 ) Aber im Sozialismus, im ersten Stadium des Kommunismus, ist das kommunistische Verteilungsprinzip wegen des noch nicht ausreichenden Entwicklungsstandes der gesellschaftlichen Produktivkräfte nicht durchführbar. Die Bemerkungen von Marx und Engels über die ökonomischen Gesetze des Kommunismus sind nur Nebenbemerkungen im Zusammenhang mit anderen Themen: Analyse des Kapitalismus und Kritik Lassalles, Dührings usw. Es war Stalin, ausgehend von den Thesen Lenins über die planmäßige Rechnungsführung und Kontrolle, über die Notwendigkeit der Beibehaltung des Geldes und des Handels f ü r die Periode des Ubergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, der die Frage des Wertgesetzes, die Frage der Waren-GeldBeziehungen im Sozialismus ausarbeitete. Er f ü h r t e den Nachweis, daß in der sozialistischen Ökonomie das Wertgesetz fortbesteht, daß es jetzt aber nicht mehr spontan abläuft, sondern daß es als Instrument der sozialistischen Planung vom sozialistischen Staat bewußt ausgenutzt wird. Lenin weist in seinem „Staat und Revolution" darauf hin, daß man bei Marx auch nicht „die Spur von Utopismus in dem Sinne" finde, „daß er die ,neue' Gesellschaft erdichtete, zusammenphantasierte. Nein, er studiert — wie einen naturgeschichtlichen Prozeß — die Geburt der neuen Gesellschaft aus der alten, studiert die Übergangsformen von der letzteren zur ersten. Er hält sich an die tatsächliche Erfahrung der proletarischen Massenbewegung, ist bemüht, aus ihr praktische Lehren zu ziehen. Er ,lernt' von der Kommune, wie alle großen revolutionären Denker sich nicht gescheut haben, aus den Erfahrungen der großen Bewegung der unterdrückten Klasse zu lernen, ohne jemals pedantische ,Moralpredigten' an sie zu richten (in der Art des Plechanowschen ,Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen' oder des Zeretelischen ,Eine Klasse muß sich Selbstbeschränkung auferlegen')". 2 ) Marx und Engels als die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und Meister in der Handhabung der materialistischen Dialektik haben auch f ü r die politische Ökonomie des Sozialismus Bedeutendes geleistet, trotz I r r t ü m e r n in Einzelheiten, die aus ihrer geschichtlichen Situation sich erklären. 2

Ebd., S. 17. ) A. a. O., S. 194.

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3. Lenin als politischer Ökonom des

Sozialismus

Der Einfluß Lenins auf die Geschichte der Menschheit und die Entwicklung der Wissenschaft ist gewaltig! Er beruht vor allem auf der engen Verbindung jedes praktischen Schrittes mit der theoretischen Verallgemeinerung und der theoretischen Verallgemeinerung mit dem revolutionären Kampf. Daher konnte Lenin nicht nur die politische Ökonomie weiterentwickeln f ü r die Periode des Imperialismus und der proletarischen Revolution, sondern auch die politische Ökonomie des Sozialismus begründen. Lenin analysierte das imperialistische Stadium des Kapitalismus und deckte seine Gesetze auf. Das von Lenin entwickelte Gesetz von der ungleichmäßigen Entwicklung des Imperialismus f ü h r t e zu einer Revision der Auffassungen über die Möglichkeiten des Sieges des Sozialismus. Lenin wies nach, daß ein gleichzeitiger Sieg des Sozialismus in allen kapitalistischen Ländern unmöglich ist und daß sowohl f ü r den Sieg der sozialistischen Revolution als auch f ü r den Aufbau des Sozialismus in einem Lande reale Möglichkeiten bestehen. Die von Lenin aufgestellte Theorie der sozialistischen Revolution ist eines der markantesten Beispiele f ü r die undogmatische Anwendung der materialistischen Dialektik auf verschiedene Verhältnisse. Marx und Engels kamen bei der Verallgemeinerung der Bedingungen des vormonopolistischen Kapitalismus zu dem Schluß, daß der Sozialismus nicht in einem einzelnen Lande siegen kann, daß er sich nur durch den gleichzeitigen Sieg in allen oder in den meisten Ländern halten kann. Diese Schlußfolgerung war f ü r eine bestimmte Zeit richtig, aber sie entsprach nicht mehr der neuen Zeit, wo in der Periode des Imperialismus, des Vorabends der sozialistischen Revolution, die alten Widersprüche des Kapitalismus ihren Höhepunkt erreichten und eine neue Situation f ü r den revolutionären Kampf des Proletariats erzeugten. Aus dem Gesetz von der Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung in der Periode des imperialistischen Kapitalismus zog Lenin den Schluß, daß unter den neuen Bedingungen auch die sozialistische Revolution ungleichmäßig heranreift und daß sie deshalb nicht gleichzeitig in allen Ländern siegen kann, sondern anfangs in einem einzelnen Lande oder in einigen Ländern. Lenin ersetzte die veraltete Formel von Marx und Engels durch eine neue Formel, die die unvermeidliche Schlußfolgerung aus der Anwendung des Marxismus auf die neue geschichtliche Situation darstellte. Diese Feststellung Lenins war der theoretische Ausgangspunkt des größten Ereignisses in der ganzen Geschichte der menschlichen Gesellschaft: der Beseitigung des Systems der kapitalistischen Sklaverei und Unterdrückung und der Errichtung des Sozialismus auf einem Sechstel des Erdballs. Lenins Theorie wappnete die Arbeiterklasse und die Bolschewistische Partei mit der Gewißheit, daß der Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Lande möglich ist. 294

Jetzt erkennen alle, daß der Sieg der sozialistischen Revolution in der UdSSR den Grundstock schuf f ü r die Ära des Zusammenbruchs des Weltkapitalismus, die Ära der Befreiung der Menschheit aus den Ketten des Kapitalismus. „Was wäre aus der Partei, aus unserer Revolution, aus dem Marxismus geworden", heißt es in der „Geschichte der KPdSU (B)", „wenn Lenin sich gescheut hätte, den Buchstaben des Marxismus anzutasten, wenn es ihm an dem theoretischen Mut gefehlt hätte, eine der alten Schlußfolgerungen des Marxismus fallen zu lassen und sie zu ersetzen durch die neue, der neuen historischen Situation entsprechende Schlußfolgerung von der Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem einzeln genommenen Lande? Die Partei hätte im Dunkeln getappt, die proletarische Revolution wäre der Führung beraubt worden, die marxistische Theorie hätte dahinzusiechen begonnen. Das Proletariat hätte verloren, die Feinde des Proletariats hätten gewonnen." 1 ) In einer Reihe Arbeiten, besonders aber in der im April 1918 erschienenen Arbeit: „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht", begründete Lenin die Theorie des Aufbaus des Sozialismus. Die gerade erst geborene Sowjetmacht mußte sich neue, durch die Geschichte noch nicht erforschte Wege bahnen, einen vollkommen neuen Staatstypus und ein neues gesellschaftsökonomisches und politisches System schaffen. Es gab im Lande keine fertigen Keime der sozialistischen Wirtschaft, die neuen, die sozialistischen Wirtschaftsformen mußten sozusagen „aus dem Nichts heraus" geschaffen werden. Das war eine schwierige und komplizierte Aufgabe, f ü r die es keine Beispiele gab und die die Sowjetmacht fast ganz allein auf sich gestellt zu erfüllen hatte. Lenin löste in seiner Arbeit „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" die entscheidenden Probleme des Aufbaus des Sozialismus wie: Rechnungsf ü h r u n g und Kontrolle, Erhöhung der Arbeitsproduktivität, Erziehung zur neuen sozialistischen Disziplin, Organisierung des sozialistischen Wettbewerbs. „Zum erstenmal in der Weltgeschichte hat eine sozialistische Partei es fertiggebracht, die Eroberung der Macht und die Niederwerfung" der Ausbeuter in den Hauptzügen zu beenden und bis dicht an die Aufgabe des Verwaltens heranzugehen. Wir müssen uns als würdige Vollbringer dieser schwierigsten (und dankbarsten) Aufgabe der sozialistischen Umwälzung erweisen. Man muß begreifen, daß zum erfolgreichen Verwalten außer der Fähigkeit zu überzeugen, außer der Fähigkeit, im Bürgerkrieg zu siegen, noch die Fähigkeit des praktischen Organisierens notwendig ist. Das ist die schwerste Aufgabe, denn es handelt sich um die Organisierung der tiefsten, der ökonomischen Grundlagen des Lebens von Millionen und aber Millionen Menschen auf neue Art." 2 ) ') Geschichte der KPdSU (B), Ausg. 1948, S. 432. 2 ) Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. II, S. 361. 295

Als Hauptaufgabe in dieser Etappe betrachtete Lenin die Registrierung der Produkte der Volkswirtschaft sowie die Kontrolle über den Verbrauch des erzeugten gesamten Produkts. Sozialismus ist unmöglich ohne Rechnungsführung und Kontrolle, „Sozialismus", schrieb Lenin, „ist vor allen Dingen Rechnungsführung". In der Frage der vom ganzen Volk durchgeführten allumfassenden Rechnungsführung und Kontrolle sah Lenin die Grundfrage f ü r die sozialistische Revolution am Tage nach dem Sturz der Bourgeoisie. „Der Kampf f ü r die Verwurzelung der Idee der sowjetischen staatlichen Kontrolle und Rechnungsführung in den Massen, f ü r die Verwirklichung dieser Idee, f ü r den Bruch mit der verfluchten Vergangenheit, die den Erwerb von Brot und Kleidung als eine Privatsache', als Kauf und Verkauf, als ein Geschäft, das ,nur mich angeht', zu betrachten gelehrt hat — dieser Kampf ist eben der gewaltigste Kampf des sozialistischen Bewußtseins gegen die bürgerlich-anarchistische Spontaneität, ein Kampf von weltgeschichtlicher Bedeutung." 1 ) Lenin wies darauf hin, daß der Kapitalismus dem Sowjetstaat als Erbe Massenorganisationen hinterlassen hatte, die imstande waren, den Übergang zur Rechnungsführung und Kontrolle zu erleichtern, die Konsumgenossenschaften. In der kapitalistischen Gesellschaft dienen die Genossenschaften den Interessen der Bourgeoisie, ihre Rolle und Bedeutung geht nicht über den Rahmen bürgerlicher Reformen hinaus. Die Genossenschaft unter den Bedingungen, wo der Boden vergesellschaftet, die Fabriken nationalisiert sind, bedeutet Sozialismus. In dem Leninschen Plan des sozialistischen Aufbaus sind die wichtigsten Prinzipien der sozialistischen Arbeitsorganisation festgehalten: die allgemeine Arbeitspflicht, der Kampf um eine hohe Arbeitsdisziplin, die entschlossene Durchführung des Prinzips der individuellen Leitung in den Betrieben, Beseitigung der Gleichmacherei und die Einführung des Leistungslohnes, die wissenschaftliche Organisation der Arbeit, die umfassende Entwicklung des sozialistischen Wettbewerbs und die systematische Steigerung der Arbeitsproduktivität. „In jeder sozialistischen Revolution tritt, nachdem- die Aufgabe der Eroberung der Macht durch das Proletariat entschieden ist, und in dem Maße, wie die Aufgabe der Expropriation der Expropriateure in der Hauptsache und im wesentlichen gelöst wird, notwendigerweise die Grundaufgabe der Schaffung einer Gesellschaftsformation in den Vordergrund, die höher ist als der Kapitalismus, nämlich: Die Aufgabe der Hebung der Produktivität der Arbeit und im Zusammenhang damit (und zu diesem Zwecke) ihrer höheren Organisation." 2 ) Die Steigerung der Arbeitsproduktivität, betonte Lenin, erfordert vor allem die Sicherung der materiellen Grundlagen der Schwerindustrie, die Entwick2

Ebd., S. 371. ) Ebd., S. 373/374.

296

lung der Produktion von Brennstoff und Eisen, des Maschinenbaus, der chemischen Industrie. Als entscheidendes Kettenglied im Kampf um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität sah Lenin die Erziehung zu einer neuen, sozialistischen Arbeitsdisiziplin. Ein mächtiger Hebel zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität war die Entfaltung des sozialistischen Wettbewerbs. Lenin wies darauf hin, daß der sozialistische Wettbewerb die Arbeitsdisziplin festigt. Mit den Fragen des Kampfes um die Erhöhung der Arbeitsdisziplin, der Organisierung des Wettbewerbs, behandelte Lenin die Frage der Heranziehung bürgerlicher Spezialisten für den sozialistischen Aufbau. „Ohne Leitung durch Spezialisten der verschiedenen Zweige der Wissenschaft, der Technik, ohne Erfahrung ist der Übergang zum Sozialismus unmöglich, denn der Sozialismus erfordert eine bewußte Vorwärtsbewegung der Massen zu einer höheren Arbeitsproduktivität als unter dem Kapitalismus, und zwar auf der Basis des durch den Kapitalismus erreichten." 1 ) Zusammen mit der Ausarbeitung der ökonomischen Aufgaben, der Inangriffnahme des sozialistischen Aufbaus entwickelte Lenin in seiner Arbeit „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" Fragen der Diktatur des Proletariats und ihrer Rolle in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Die Diktatur des Proletariats ist bei jedem Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus notwendig. Lenin weist nach, daß „der Unterschied zwischen der proletarischen Diktatur und der bürgerlichen darin besteht, daß die erste ihre Schläge gegen die Minderheit der Ausbeuter im Interesse der ausgebeuteten Mehrheit richtet, dann darin, daß die erste — auch durch einzelne Personen — nicht bloß von den Massen der Werktätigen und Ausgebeuteten, sondern auch von Organisationen verwirklicht wird, die so aufgebaut sind, daß sie gerade diese Massen zu geschichtlichem Schöpfertum wecken und emporheben (und die Sowjetorganisationen gehören zu dieser Art Organisationen)". 2 ) Auf Grund des Studiums der Erfahrungen der ersten russischen Revolution von 1905 und besonders der Februarrevolution von 1917 gelangte Lenin zu der Schlußfolgerung, daß die beste politische Form der Diktatur des Proletariats nicht die parlamentarische demokratische Republik, sondern die Sowjetrepublik ist. Im Geiste des revolutionären Marxismus ersetzte Lenin den alten Leitsatz der marxistischen Theorie, der in der Engelsschen Formulierung lautete: „Die demokratische Republik i s t . . . die spezifische Form der Diktatur des Proletariats", in Ubereinstimmung mit den neuen historischen Bedingungen durch den neuen Leitsatz von der Sowjetrepublik. Diese theoretische Entdeckung Lenins rüstete die Partei und die Arbeiterklasse mit der ') Ebd., S. 365. 2 ) Ebd., S. 384. 297

großen Losung des Kampfes u m die Sowjetmacht aus, sie half, die Feinde des Proletariats zu zerschlagen. Lenin behandelte auch die Frage über die Formen und Methoden des A u f baus des Sozialismus in einem Lande, das von kapitalistischen Ländern u m geben ist, definierte die konkreten Formen der Wirtschaftspolitik des Sowjetstaates, zeichnete die Wege f ü r die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft vor usw. Die Probleme, die Lenin in seiner Arbeit „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" löste, die Rechnungsführung und Kontrolle, Erhöhung - der Arbeitsproduktivität, Erziehung zu einer neuen, sozialistischen Disziplin, Einf ü h r u n g der Einzelleitung der Betriebe auf dem Prinzip der persönlichen Verantwortung, E n t f a l t u n g des sozialistischen Wettbewerbs, das sind auch Fragen, die unmittelbar auf der Tagesordnung bei der Lösung der Aufgabe der Schaffung der ökonomischen Grundlagen des Sozialismus in den Ländern der Volksdemokratie und der Deutschen Demokratischen Republik stehen. In diesen und in zahlreichen anderen Arbeiten Lenins aus der Zeit der ersten J a h r e des Bestehens der Sowjetmacht w u r d e n die wichtigsten P r o bleme des sozialistischen A u f b a u s in der ersten Etappe der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus analysiert, w u r d e somit die G r u n d lage f ü r die politische Ökonomie des Sozialismus gelegt. Das Leninsche P r o g r a m m zur Organisierung des sozialistischen A u f b a u s im Sowjetlande, das die wichtigsten Methoden des K a m p f e s f ü r den Sozialismus in den ersten J a h r e n des Bestehens des Sowjetstaates aufzeigte, w u r d e in den folgenden J a h r e n von Stalin allseitig weiterentwickelt und bereichert. Im erbitterten Kampf gegen die Feinde der Bolschewistischen Partei und des Volkes verteidigte Stalin die Leninsche Lehre von der Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Lande und arbeitete die konkrete Methode des K a m p f e s f ü r den Sozialismus auf der Grundlage der sozialistischen Industrialisierung des Landes und der Kollektivierung der Landwirtschaft aus, deren D u r c h f ü h r u n g durch den Sieg des Sozialismus in der UdSSR gewährleistet wurde.

4. Stalin als politischer

Ökonom des

Sozialismus

Lenin konnte selbst n u r die Grundlagen der politischen Ökonomie des Sozialismus schaffen. Ihr eigentlicher Schöpfer w u r d e Stalin, der Lenins Werk fortsetzte und an der Spitze des Sowjetstaates die theoretische u n d praktische Ausarbeitung der Probleme der sozialistischen politischen Ökonomie leitet. Diese gewaltige wissenschaftliche u n d praktisch-organisatorische Arbeit u m f a ß t alle Gebiete der politischen Ökonomie. Stalin hat die großen historischen E r f a h r u n g e n des sozialistischen A u f b a u s bei imperialistischer Einkreisung der Sowjetunion verallgemeinert u n d nicht 298

nur die theoretische Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande begründet und verteidigt. Er hat auch die Lehre von der Verwirklichung dieser Möglichkeit bei kapitalistischer Einkreisung, die Theorie von der sozialistischen Industrialisierung und von der Kollektivierung der Landwirtschaft ausgearbeitet. Als die Sowjetunion den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR in Angriff nahm, wollten erklärte Feinde des Sozialismus einen Keil zwischen die Partei und Lenins Schüler treiben, das Bewußtsein der Arbeiter zersetzen. Hierbei nahmen die Feinde heuchlerisch Bezug auf Marx und Engels und auf ihre Formel von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Lande. In diesen Jahren war die von Stalin ausgearbeitete und weiterentwickelte Theorie Lenins f ü r das Sowjetvolk der sichere Leitstern, der den Weg zum Sieg wies. Unter der Führung Stalins verteidigte die Kommunistische Partei Lenins Theorie und bewies in der Praxis ihre Richtigkeit und Lebensfähigkeit. Die Wahrheit der Lenin-Stalinschen Theorie vom Aufbau des Sozialismus wurde durch das einzige Wahrheitskriterium, durch die geschichtliche Praxis bestätigt. Stalin hat nach dem Aufbau des Sozialismus die Theorie vom Aufbau des Sozialismus weiterentwickelt und damit die Prinzipien und Methoden des allmählichen Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus, zur höchsten Phase der kommunistischen Gesellschaftsform entwickelt. Stalin sagte im Jahre 1927, indem er eine Charakteristik der kommunistischen Gesellschaft gab: „Wenn man in kurzen Worten die Anatomie der kommunistischen Gesellschaft geben wollte, so wird das eine Gesellschaft sein: a) in der es kein Privateigentum an Produktionswerkzeugen und -mittein, sondern ein gesellschaftliches, kollektives Eigentum geben wird; b) in der es keine Klassen und keine Staatsgewalt, sondern nur Werktätige der Industrie und der Landwirtschaft geben wird, die sich wirtschaftlich als eine freie Vereinigung der Werktätigen verwalten; c) in der die nach einem Plan organisierte Volkswirtschaft auf der höchsten Technik, sowohl auf dem Gebiete der Industrie als auch auf dem Gebiete der Landwirtschaft, beruhen wird; d) in der es keinen Gegensatz zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft geben wird; e) in der die Produkte nach dem Grundsatz der alten französischen Kommunisten: ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen' verteilt werden; f) in der f ü r die Wissenschaft und Kunst Voraussetzungen geschaffen w e r den, die günstig genug sind, um eine volle Blüte zu erreichen; g) in der die von der Sorge u n d von der Notwendigkeit, den ,Starken dieser Erde' recht zu tun, befreite Persönlichkeit tatsächlich frei wird." 1 ) >) Stalin, Werke, Berlin 1953, Bd. 10, S. 116/117. 299

Mit dem Sieg der sozialistischen Gesellschaftsordnung wurde in der Sowjetunion die Voraussetzung f ü r den allmählichen Ubergang zum Kommunismus geschaffen. Ebenso wie früher beim Aufbau des Sozialismus, traten hier Fragen allgemeiner theoretischer Natur auf, die von Stalin in genialer Weise gelöst wurden. Die erste Frage betrifft die Möglichkeit des Aufbaus des Kommunismus in einem Lande. Stalin wies nach, daß die Sowjetunion, nachdem der Sozialismus errichtet ist, natürlich nicht auf der Stelle treten kann, solange die kapitalistische Umkreisung noch besteht. Die innere Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, der eine ungeheure Dynamik innewohnt, drängt vorwärts zum Kommunismus. Nach dem Siege des Sozialismus sind in der Sowjetunion alle Voraussetzungen f ü r den Übergang zum Kommunismus vorhanden. Der Aufbau des Kommunismus in einem Lande, besonders in einem Lande wie der Sowjetunion, ist also durchaus möglich. Bereits in seiner berühmten Rede vor den Wählern am 9. Februar 1946 entwickelte Stalin das grandiose Programm des kommunistischen Aufbaus. Er stellte den Sowjetmenschen das Ziel, die Grundstofferzeugung so zu steigern, daß die Sowjetunion jährlich 50 Millionen Tonnen Gußeisen, 60 Millionen Tonnen Stahl, 500 Millionen Tonnen Kohle und 60 Millionen Tonnen Erdöl erzeugt. Damit wies Stalin darauf hin, daß der Kommunismus n u r auf der Grundlage einer mächtigen industriellen Basis errichtet werden kann. Die Errichtung der materiell-technischen Basis des Kommunismus ist daher in der Gegenwart das Hauptkettenglied. Der Aufbau dieser Basis ist jetzt in der Sowjetunion in vollem Gange. Die Sowjetmenschen sind dabei, durch den Bau mächtiger Kraftwerke die energetische Grundlage f ü r den Kommunismus zu schaffen. Lenin prägte bekanntlich das Wort: Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Dieser Weisung entsprechend, nehmen die großen Wasserkraftwerke, die jetzt an der Wolga, am Dnepr, am Don und am Amu-Darja erbaut werden, einen großen Platz in der Errichtung der technischen Basis des Kommunismus ein. Um eine Vorstellung von dem gewaltigen Ausmaß dieses Elektrifizierungsprogramms zu geben, will ich einige Vergleiche anführen. Im J a h r e 1944 betrug die Stromerzeugung der von den Amerikanern so laut gepriesenen Tennessee-Kraftwerke 12 Milliarden Kilowatt, allein die beiden Kraftwerke an der Wolga, bei Kuibyschew und Stalingrad, werden jährlich 20 Milliarden Kilowatt Strom erzeugen. Demgegenüber betrug die Stromerzeugung in ganz Deutschland vor der großen Krise — im J a h r e 1927 — 25,1 Milliarden Kilowatt. Zu den bereits genannten großen Bauten kommt aber noch das gewaltige Ob-Irtysch-Jenissei-Projekt hinzu, das durch die Umleitung des Laufes dieser Flüsse nicht n u r riesige Wüsten in fruchtbares Land verwandelt, sondern zugleich zahlreiche neue Kraftwerke vorsieht, die rund 82 Milliarden Kilowatt Kraftstrom erzeugen werden! Die Schaffung der energetischen Basis ist jedoch nur eine Seite der Errichtung der materiell-technischen Basis des Kommunismus. Zu ihr kommen die großen Stalinschen Pläne zur Umgestaltung der Natur. 300

Die in unmittelbarer Nähe der wichtigsten landwirtschaftlichen und Industriebezirke der Sowjetunion liegenden Wüsten und Trockensteppen Mittelasiens, des Wolgagebietes und des Kaukasus haben in der Vergangenheit Rußlands wiederholt zu furchtbaren Dürrejahren geführt. So gab es im 18. Jahrhundert 34, im 19. Jahrhundert 40 und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 14 Dürrejahre. Mit dieser Vergangenheit wird jetzt durch die Verwirklichung eines gewaltigen Planes zur Umgestaltung der Natur Schluß gemacht. In den Steppen des Wolgagebietes, der Ukraine und des Nordkaukasus werden Schutzwaldstreifen in einer Länge von 5300 Kilometern angelegt, die eine Fläche von 118 000 Hektar bedecken. Gleichzeitig wird durch den Bau großer Kanäle, wie des Turkmenischen Hauptkanals, des Wolga-DonKanals, des Südukrainischen Kanals und des Nord-Krim-Kanals, ein gewaltiges Bewässerungssystem erbaut, durch das viele Millionen Hektar Boden f ü r die menschliche Nutzung gewonnen werden. Hinzu kommt das schon erwähnte Ob-Irtysch-Jenissei-Projekt, durch das allein annähernd 100 Millionen Hektar Boden bewässert werden. Mit seiner letzten Arbeit über „ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR" gab Stalin eine Antwort auf eine Reihe prinzipieller Fragen der politischen Ökonomie des Sozialismus und hinterließ ein Programm f ü r den allmählichen Ubergang vom Sozialismus zum Kommunismus. Von besonderer Bedeutung war die Behandlung der Warenproduktion und des Wertgesetzes im Sozialismus. 1 ) Ausgehend von einer Formulierung Engels' im „Anti-Dühring", der einige Genossen entnehmen wollen, die Partei habe unrichtig gehandelt, als sie nach der Machtübernahme und der Nationalisierung der Produktionsmittel die Warenproduktion im Lande beibehalten habe, zeigt Stalin. Engels habe von „sämtlichen" Produktionsmitteln gesprochen, von der „Gesamtheit" der Produktionsmittel, von der das Proletariat Besitz ergreifen müsse. Engels habe dabei Länder im Auge gehabt, in denen nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft der Kapitalismus genügend entwickelt und die Konzentration der Produktion so weit fortgeschritten ist, daß alle, d. h. sämtliche Produktionsmittel des Landes in Industrie und Landwirtschaft sogleich enteignet und in den Gemeinbesitz des ganzen Volkes übergeführt werden können. Engels sei folglich der Ansicht, daß in solchen Ländern mit der Vergesellschaftung aller Produktionsmittel die Warenproduktion aufzuheben sei. „Und das ist selbstverständlich richtig", stellt Stalin fest. 2 ) Ein solches Land sei Ende vorigen Jahrhunderts, bei Erscheinen des „AntiDühring", aber nur ein einziges Land — England — gewesen. In England war in Industrie und Landwirtschaft die Entwicklung des Kapitalismus und die Konzentration der Produktion so weit fortgeschritten, daß im Falle der Machtübernahme durch das Proletariat die Möglichkeit bestand, sämtliche Produk') A. a. O., S. 11 ff. ) Ebd., S. 12.

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tionsmittel im Lande sofort in allgemeines Volkseigentum zu überführen und die Warenproduktion damit aufzuheben. Auch in der Gegenwart habe kein anderes Land eine solche Entwicklungsstufe des Kapitalismus und der Konzentration der Produktion erreicht. In allen anderen Ländern gebe es trotz der Entwicklung des Kapitalismus im Dorfe eine zahlenmäßig noch recht starke Klasse kleiner und mittlerer Eigentümer-Produzenten, über deren Schicksal entschieden werden müßte. Aus dieser Tatsache, so folgert Stalin, daß Engels erstens von „sämtlichen" Produktionsmitteln gesprochen habe und daß zweitens kein Land außer England eine solche Stufe erreicht habe, ergebe sich nun eine wichtige Frage, die Frage nämlich, wie sich das Proletariat und seine Partei verhalten solle, wenn in einem Lande zwar günstige Bedingungen für die Machtübernahme durch das Proletariat und den Sturz des Kapitalismus vorhanden sind, wenn aber infolge der Zersplitterung der Landwirtschaft in zahlreiche kleine und mittlere Produzenten es nicht möglich ist, die Frage der Expropriation dieser Produzenten zu stellen? „Auf diese Frage", sagt Stalin, „gebe uns die Engelssche Formel keine Antwort!" „Zwei Antworten seien für Marxisten nicht möglich", stellt Stalin fest, „nämlich 1. daß man unter solchen Umständen auf die Machtübernahme verzichten müsse, um abzuwarten, bis der Kapitalismus es fertiggebracht habe, die Millionen kleiner und auch mittlerer Produzenten zu ruinieren, sie in Landarbeiter zu verwandeln und die Produktionsmittel in der Landwirtschaft zu konzentrieren. Es ist klar, daß Marxisten sich nicht auf einen solchen ¡Ausweg' einlassen können, wenn sie sich nicht völlig mit Schande bedecken wollen. 2. daß man getrost die Macht übernehmen und zur Expropriation der kleinen und mittleren Produzenten im Dorf schreiten und ihre Produktionsmittel vergesellschaften müsse. Diesen unsinnigen und verbrecherischen Weg können Marxisten ebenfalls nicht gehen, denn ein solcher Weg würde jede Möglichkeit des Sieges der proletarischen Revolution untergraben, würde die Bauernschaft auf lange Zeit ins Lager der Feinde des Proletariats treiben." Beide Antworten seien eines Marxisten gleich unwürdig! Lenin hat aber bereits die Antwort auf die Fragen gegeben, was in solchen Ländern zu tun sei, wo der Kapitalismus noch nicht eine solche Stufe der Konzentration erreicht habe, um sämtliche Produktionsmittel des Landes auf einen Schlag zu vergesellschaften! Die Antwort auf diese Frage gab Lenin in seinen Arbeiten „Über die Naturalsteuer" und in seinem berühmten „Genossenschaftsplan". Gegenwärtig existieren in der Sowjetunion zwei grundlegende Formen der sozialistischen Produktion: die staatliche, in der sowohl die Produktionsmittel als auch die Erzeugnisse der Produktion allgemeines Volkseigentum sind, und die kollektivwirtschaftliche, in der zwar auch die Produktionsmittel (Boden, Maschinen) dem Staat gehören, die Erzeugnisse der Produktion aber 302

Eigentum der einzelnen Kollektivwirtschaften sind, da es sich in den Kollektivwirtschaften sowohl um eigene Arbeit als auch um eigenes Saatgut handelt. Dies hat zur Folge, daß der Staat nur über die Erzeugnisse der staatlichen Betriebe verfügen könne, während über die kollektivwirtschaftlichen Produkte die Kollektivwirtschaften als ihr Eigentum verfügen. Aber die Kollektivwirtschaften wollen ihre Produkte nicht anders als in Form von Waren veräußern, für die sie im Austausch die von ihnen benötigten Waren erhalten wollen, sagt Genosse Stalin. Andere ökonomische Verbindungen mit der Stadt als Warenbeziehungen, als Austausch durch Kauf und Verkauf erkennen die Kollektivwirtschaften gegenwärtig nicht an. Darum sind Warenproduktion und Warenumlauf in der UdSSR gegenwärtig noch eine ebensolche Notwendigkeit, wie sie es beispielsweise vor 30 Jahren waren, als Lenin die Notwendigkeit der allseitigen Entfaltung der Warenzirkulation verkündete. Die Warenproduktion in der Sowjetunion ist aber keine gewöhnliche Warenproduktion, sondern eine Warenproduktion besonderer Art, eine Warenproduktion ohne Kapitalisten, die es hauptsächlich mit den Waren der vereinigten sozialistischen Produzenten (des Staates, der Kolchose, der Genossenschaften) zu tun hat. Die Wirkungssphäre dieser Warenproduktion ist in der UdSSR auf die Gegenstände des persönlichen Konsums beschränkt. Die Produktionsmittel haben auf dem Gebiet des ökonomischen Inlandumsatzes unter den Verhältnissen des Sozialismus schon aufgehört, Waren zu sein. Unter den Verhältnissen des Sozialismus führt die erhalten gebliebene Warenproduktion nicht zum Entstehen kapitalistischer Beziehungen zwischen den Menschen und kann auch gar nicht dazu führen. Der Warenproduktion sind im Sozialismus strenge Schranken gesetzt durch so entscheidende Umstände wie das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln. „Wenn natürlich an Stelle der zwei grundlegenden Produktionssektoren, dem staatlichen und dem kollektivwirtschaftlichen, ein allumfassender Produktionssektor mit dem Verfügungsrecht über alle Konsumgüter des Landes entstanden sein wird, dann wird natürlich die Warenzirkulation mit ihrer ,Geldwirtschaft' als unnötiges Element der Volkswirtschaft verschwinden", stellt Genosse Stalin fest. 1 ) Aber solange dies nicht der Fall sei, „solange die zwei grundlegenden Produktionssektoren bestehenbleiben, müssen Warenproduktion und Warenzirkulation als notwendiges und sehr nützliches Element im System unserer Volkswirtschaft in Kraft bleiben". 2 ) Unter den Verhältnissen des Sozialismus erstreckt sich die Wirkungssphäre des Wertgesetzes vor allem auf die Warenzirkulation, auf den Warenaustausch durch den Kauf und Verkauf, auf den Austausch vor allem von Waren ') Ebd., S. 17. ) Ebd.

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des persönlichen Konsums, wobei das Wertgesetz in einem gewissen Rahmen sogar noch die Rolle eines Regulators bewahrt. Zwar erstreckt sich die Wirkung des Wertgesetzes auch auf die Produktion, aber in ihr hat das Wertgesetz keine regulierende Bedeutung mehr. Die Wirkungssphäre des Wertgesetzes im Sozialismus ist genauso wie die Wirkungssphäre der Warenproduktion streng beschränkt, und es sind ihr Grenzen gezogen. Sie ist beschränkt durch das Nichtvorhandensein des Privateigentums an den Produktionsmitteln und durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in Stadt und Land. Sie ist beschränkt durch das Wirken des Gesetzes der planmäßigen, proportioneilen Entwicklung der Volkswirtschaft. Sie ist beschränkt durch die Jahres- und Fünfjahrespläne, wie auch überhaupt durch die gesamte Wirtschaftspolitik des sozialistischen Staates, die von den Forderungen des Gesetzes der planmäßigen Entwicklung der Volkswirtschaft ausgehen. All das führt dazu, daß das Wertgesetz im Sozialismus nicht die Rolle eines Regulators der Produktion spielen kann.1) „Damit ist eigentlich", stellt Stalin fest, „auch die ,frappante' Tatsache zu erklären, daß das Wertgesetz bei uns, trotz des steten und stürmischen Wachstums .unserer sozialistischen Produktion, nicht zu Überproduktionskrisen führt, während das gleiche Wertgesetz, das im Kapitalismus eine weite Wirkungssphäre hat, trotz des niedrigen Tempos des Wachstums der Produktion in den kapitalistischen Ländern zu periodischen Überproduktionskrisen führt." 2 ) „Die Geschichte unseres sozialistischen Aufbaus zeigt, daß dieser von Lenin aufgezeigte Weg der Entwicklung sich völlig bewährt hat", folgert Stalin aus der Entwicklung der Sowjetunion. „Es kann kein Zweifel bestehen, daß dieser Entwicklungsweg für alle kapitalistischen Länder, in denen es eine mehr oder weniger zahlreiche Klasse kleiner und mittlerer Produzenten gibt, der einzig mögliche und zweckmäßige Weg für den Sieg des Sozialismus ist." Stalin hat in seinem Werk mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Klarheit die Frage der Warenproduktion und des Wertgesetzes im Sozialismus wissenschaftlich untersucht, die Wirkung und Rolle des Gesetzes der planmäßigen, proportionellen Entwicklung der Volkswirtschaft auseinandergesetzt und gezeigt, wie durch die bewußte Ausnutzung der Warenproduktion und des Wertgesetzes der Kommunismus erreicht werden wird. Solange in der sozialistischen Ökonomik zwei grundlegende Produktionssektoren — der staatliche und der kollektivwirtschaftliche —bestehen, muß die Warenzirkulation mit ihrer „Geldwirtschaft" als notwendiges und nützliches Element im System der sozialistischen Volkswirtschaft in Kraft bleiben. Sobald statt der beiden Hauptformen der sozialistischen Produktion ein einziger, allumfassender Produktionssektor entsteht, wird die Warenzirkulation mit ihrer „Geldwirtschaft" genau wie das Wertgesetz verschwinden. Nichts !) Ebd., S. 22/23. Ebd., S. 22/23.

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gemein mit Marxismus haben die Ansichten jener Leute, sagt Stalin, die der Meinung sind, daß die Warenzirkulation im Kommunismus erhalten bleibt. Die Warenzirkulation sei unvereinbar mit der Perspektive des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus. 1 ) Stalin wendet sich daher auch entschieden gegen solche Auffassungen wie die, das Wertgesetz sei ein f ü r alle gesellschaftlichen Formationen gültiges Gesetz. Man sage, stellt Stalin hierzu fest, das Wertgesetz sei ein ständiges Gesetz, das f ü r alle Perioden der gesellschaftlichen Entwicklung unbedingt gültig sei, daß, wenn das Wertgesetz in der Periode der zweiten Phase der kommunistischen Gesellschaft zwar seine K r a f t als Regulator der Tauschbeziehungen verliere, es in dieser Entwicklungsphase doch seine K r a f t behalte als Regulator des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Produktionszweigen, als Regulator der Verteilung der Arbeit zwischen den Produktionszweigen. Das sei völlig unrichtig, betont Stalin. „Der Wert, wie auch das Wertgesetz, ist eine historische Kategorie, die mit der Existenz der Warenproduktion verbunden ist. Mit dem Verschwinden der Warenproduktion verschwindet auch der Wert mit seinen Formen und das Wertgesetz." 2 ) Stalin zeigt weiter, daß es notwendig ist, den Wirkungsbereich der Warenzirkulation und des Wertgesetzes planmäßig durch Übergang zum direkten Produktenaustausch einzuengen. Ein solches System, das den Wirkungsbereich der Warenzirkulation einengt, wird den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus erleichtern. Darüber hinaus werde es die Möglichkeit bieten, das grundlegende kollektivwirtschaftliche Eigentum und die Erzeugnisse der Kolchos-Produktion in das allgemeine System der das ganze Volk umfassenden Planung einzubeziehen. „Das wird dann auch ein reales und entscheidendes Mittel sein, um das kollektivwirtschaftliche Eigentum auf das Niveau des allgemeinen Volkseigentums unter unseren gegenwärtigen Verhältnissen zu heben." 3 ) Entsprechend dem ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus, wird die Entwicklung des kollektivwirtschaftlichen Eigentums zum staatlichen sozialistischen Eigentum nicht durch Zwangsmittel des Staates, sondern auf der Grundlage der maximalen Befriedigung der wachsenden Bedürfnisse der werktätigen Bauern, durch die Steigerung der Produktion, durch die ständige Einführung einer fortschrittlichen Technik erreicht. Das System des Produktenaustausches ist f ü r die Kollektivbauern unbedingt ein Vorteil, da sie vom Staate f ü r ihre Produkte bei weitem mehr und zu niedrigeren Preisen erhalten werden als bei der Warenzirkulation. Die Kollektivwirtschaften, die schon jetzt von der „Warenumwandlung" Gebrauch machen, was den Ansatz ') Ebd., S. 17. -) Ebd., S. 23. 3 ) Ebd., S. 95. 20 Behrens

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zum System des Produktenaustausches darstellt, überzeugen sich bereits durch eigene Erfahrungen von den gewaltigen Vorteilen und Vorzügen dieses Systems. Unter diesen Kolchosen befinden sich besonders viele reiche Kolchosen. Die Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft ist das Ziel der sozialistischen Produktion; das ununterbrochene Wachstum und die Vervollkommnung der sozialistischen Produktion auf der Basis der höchsten Technik — das ist das Mittel, um das Ziel zu erreichen. Genosse Stalin hat in seiner letzten Arbeit nicht nur die Frage des Ubergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus behandelt, sondern er hat auch programmatische Leitsätze über die wesentlichen Vorbedingungen der Vorbereitung des Übergangs zum Kommunismus festgelegt.1) Stalins neues Werk ist geradezu ein Aktionsprogramm für den allmählichen Ubergang vom Sozialismus zum Kommunismus. Die Bedeutung dieses Aktionsprogramms muß unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden: 1. unter dem Gesichtspunkt der Lehre Stalins von den drei Bedingungen des allmählichen Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus; 2. unter dem Gesichtspunkt der Lehre Stalins von den Gegensätzen, den wesentlichen und unwesentlichen Unterschieden. Um den tatsächlichen Übergang zum Kommunismus vorzubereiten, müssen mindestens drei grundlegende Vorbedingungen verwirklicht werden. Erstens ist es notwendig, das ununterbrochene Wachstum der gesellschaftlichen Produktion bei vorwiegender Steigerung der Produktion von Produktionsmitteln zu gewährleisten. „Die vorwiegende Steigerung der Produktion von Produktionsmitteln ist nicht nur deshalb notwendig, weil diese sowohl die eigenen Betriebe wie auch die Betriebe aller anderen Zweige der Volkswirtschaft mit Ausrüstungen versorgen muß, sondern auch deshalb, weil es ohne sie überhaupt unmöglich ist, die erweiterte Reproduktion zu verwirklichen."2) Zugleich aber schafft diese erste Vorbedingung auch die Voraussetzungen für die zweite Vorbedingung des allmählichen Ubergangs vom Sozialismus zum Kommunismus, nämlich, „das Kolchoseigentum durch allmähliche, zum Vorteil der Kolchosen und folglich der gesamten Gesellschaft durchgeführte Übergänge auf das Niveau des allgemeinen Volkseigentums zu heben und die Warenzirkulation ebenfalls auf dem Wege allmählicher Übergänge durch ein System des Produktenaustausches zu ersetzen, damit die Zentralgewalt oder irgendein anderes gesellschaftlich-ökonomisches Zentrum die Gesamterzeugung der gesellschaftlichen Produktion im Interesse der Gesellschaft zu erfassen vermag". ) A. a. O., S. 67 ff. ) Ebd., S. 68.

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Gegenwärtig werden in der UdSSR Warenzirkulation und Kolchoseigentum noch mit Erfolg zur Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft benutzt. Sie bringen der Gesellschaft gegenwärtig und werden ihr auch in nächster Zuk u n f t noch Nutzen bringen. Man müsse jedoch die Perspektiven der weiteren Entwicklung im Auge haben, sagt Stalin. Warenzirkulation und Kolchoseigentum beginnen bereits die gewaltige Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte in der Sowjetunion zu hemmen, „da sie Hindernisse f ü r die vollständige Erfassung der gesamten Volkswirtschaft, besonders der Landwirtschaft, durch die staatliche Planung schaffen". Es könne kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Erscheinungen je länger, je mehr das weitere Wachstum der Produktivkräfte unseres Landes hemmen werden. „Also besteht die Aufgabe darin, diese Widersprüche zu liquidieren durch allmähliche Umwandlung des Kolchoseigentums in allgemeines Volkseigentum und durch — gleichfalls allmähliche — Einführung des Produktenaustausches an Stelle der Warenzirkulation." 1 ) Drittens ist es notwendig, ein solches kulturelles Wachstum der Gesellschaft zu erreichen, „das allen Mitgliedern der Gesellschaft die allseitige Entwicklung ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten gewährleistet, damit die Mitglieder der Gesellschaft die Möglichkeit haben, ausreichende Bildimg zu erhalten, um aktiv an der gesellschaftlichen Entwicklung mitzuwirken, damit sie die Möglichkeit haben, ihren Beruf frei zu wählen und nicht wegen der bestehenden Arbeitsteilung ihr ganzes Leben lang an irgendeinen Beruf gefesselt sind". 2 ) Dazu ist es vor allem nötig, den Arbeitstag mindestens bis auf sechs und später auf fünf Stunden zu verkürzen. Das ist notwendig, damit die Mitglieder der Gesellschaft genügend freie Zeit erhalten, die f ü r die Erlangung einer umfassenden Bildung erforderlich ist. Dazu ist es weiter notwendig, den allgemeinen obligatorischen polytechnischen Unterricht einzuführen, damit die Mitglieder der Gesellschaft die Möglichkeit erhalten, sich frei einen Beruf auszuwählen und nicht ihr ganzes Leben hindurch an irgendeinen Beruf gefesselt sind. Dazu sei es ferner nötig, die Wohnungsbedingungen gründlich zu verbessern und den Reallohn der Arbeiter und Angestellten mindestens auf das Doppelte, wenn nicht mehr, zu erhöhen, sowohl durch direkte Erhöhung des Geldlohnes als auch besonders durch weitere systematische Senkung der Preise f ü r Massenbedarfsgüter. Erst wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, lehrt Stalin, könne m a n hoffen, daß die Arbeit aus einer schweren Bürde, die sie im Kapitalismus war, f ü r die Mitglieder der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis werde und daß das gesellschaftliche Eigentum von allen Mitgliedern der Gesellschaft als unerschütterliche und unantastbare Grundlage der Existenz der Gesellschaft bewertet werden wird. Erst wenn alle diese Voraussetzungen als Ebd., S. 69. ) Ebd., S. 69/70.

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Ganzes erfüllt sind, könne man zu der sozialistischen Formel „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" übergehen. 1 ) In seiner Lehre von den Gegensätzen, wesentlichen und unwesentlichen Unterschieden behandelt Stalin noch solche wichtigen Fragen wie die Frage der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit sowie die Frage der Liquidierung des Unterschiedes zwischen ihnen. So zeigt sich in allen Maßnahmen, daß in der Sowjetunion im Mittelpunkt des ganzen Geschehens, wie Stalin in seiner neuen Arbeit schreibt, der Mensch steht. Ihm gilt die ganze Sorge, die Verwirklichung des Grundgesetzes des Sozialismus, wonach die Sicherung der maximalen Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft durch das ununterbrochene Wachstum und die Vervollkommnung der sozialistischen Produktion auf der Basis der höchsten Technik erfolgt. Stalin warnt nachdrücklich vor leichtsinniger Voreiligkeit und davor, zu höheren ökonomischen Formen überzugehen, bevor die notwendigen Voraussetzungen f ü r einen solchen Übergang geschaffen sind: die neuen gesellschaftlichen Produktivkräfte, eine immer höhere und ständig schnell weitersteigende Arbeitsproduktivität, solche ökonomischen Bedingungen also, die zu anderen objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten führen, zu den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kommunismus. Das alles ist nur eine Skizzierung des reichen Inhalts der durch Lenin und Stalin geschaffenen politischen Ökonomie des Sozialismus. Welches ist der Inhalt der politischen Ökonomie des Sozialismus? „Ihr Inhalt sind die Entwicklungsgesetze der sozialistischen, auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Planwirtschaft, der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die aus. der privatkapitalistischen Wirtschaftsrechnung entspringende Industriekrise fremd ist. Die Schaffung der politischen Ökonomie des Sozialismus erforderte eine Revision aller ökonomischen Kategorien und die Darlegung eines im sozialistischen Staat qualitativ neuen Inhalts und neuer Funktionen des Wertes, der Ware, des Geldes, des Lohnes, des Preises, der Rente usw. Die wissenschaftliche Forschung steht auf diesem Gebiet vor gewaltigen Aufgaben von welthistorischer, theoretischer und praktischer Bedeutung." 2 ) Lenin und Stalin haben die politische Ökonomie auf ein neues, höheres Niveau gehoben, das den neuen, historischen Verhältnissen der Epoche des Imperialismus, der proletarischen Revolution und des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR entspricht. Die von Lenin und Stalin ausgearbeitete Theorie vom Aufbau des Sozialismus und die von Stalin ausgearbeitete Theorie vom allmählichen Übergang zum Kommunismus sind das bedeutendste Ergebnis der modernen Gesellschaftswissenschaften. Ebd., S. 71. ) Enzyklopädie der UdSSR, Bd. II, S. 1340.

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Literatur: Karl Marx: ders. : ders. : Marx/Engels: Marx/Engels: Marx/Engels: Marx/Engels: W. I. Lenin: J. W. Stalin: Ferdinand Lassalle: Jürgen Kuczynski: Eduard Bernstein: Karl Kautsky: ders. :

Rosa Luxemburg: Rudolf Hilferding: Henryk Großmann:

Das Kapital, Bd. I, II u. III, Berlin 1947, 1948 u. 1949. Theorien über den Mehrwert, Bd. I, II u. III, Stuttgart 1904, 1905, 1910. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1947. Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Moskau 1950. Briefwechsel, Bd. I, II, III u. IV, Berlin 1949. Briefe an A. Bebel, W. Liebknecht, K. Kautsky und andere, Moskau / Leningrad 1933. Ausgewählte Briefe, Berlin 1953. Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Moskau 1946. Fragen des Leninismus, 11. Aufl., Moskau 1946. Reden und Schriften, Berlin 1893. Die Bewegung der deutschen Wirtschaft von 1800 bis 1946, Berlin 1947. Die Voraussetzungen des Sozialismus, Berlin 1921. Die Agrarfrage, Berlin 1899. Bernstein und das Sozialdemokratische Programm, Berlin 1899. Geschichte der KPdSU (B)-, Kurzer Lehrgang, Berlin 1947. Die Akkumulation des Kapitals, ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, Berlin 1912. Das Finanzkapital, eine Studie der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus, Berlin 1909. Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Leipzig 1929.

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der proletarischen Parteien in den kapitalistischen Ländern zu schaffen; sie kritisiert zweitens die diese Agonie mit ihrer „Theorie" verhüllende bürgerliche Ökonomie. Mit der ersten Aufgabe hat es die Theorie der politischen Ökonomie zu tun, mit der zweiten die Geschichte der politischen Ökonomie. Der Kritik der bürgerlichen Ökonomie der nachklassischen Periode wenden wir uns zu. Diese Kritik der nachklassischen bürgerlichen Ökonomie unterscheidet sich natürlich in wesentlichen Punkten von der Kritik der klassischen bürgerlichen Ökonomie durch Marx. Die Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie durch Marx führte zur politischen Ökonomie der Arbeiterklasse hin, die klassische bürgerliche Ökonomie wurde durch die politische Ökonomie der Arbeiterklasse in jenem bekannten dreifachen Sinne aufgehoben. Da die entscheidenden wissenschaftlichen Probleme der kapitalistischen Produktionsweise gelöst sind, kann die Kritik der nachklassischen Ökonomie des Bürgertums die Wissenschaft prinzipiell nicht mehr bereichern. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß die nachklassische bürgerliche Ökonomie in ihrer Gesamtheit eine andere Qualität als die klassische bürgerliche Ökonomie hat. Die nachklassische bürgerliche Ökonomie in ihrer Gesamtheit ist keine wissenschaftliche Ökonomie mehr und kann auch keine wissenschaftliche Ökonomie mehr sein. Ihre Kritik enthüllt die politische Rolle der modernen bürgerlichen Ökonomie als Instrument der Verneblung vor und der Störung nach der Oktoberrevolution. Daraus aber ergibt sich, daß auch die Darstellung der nachklassischen bürgerlichen Ökonomie in einer Geschichte der politischen Ökonomie eine andere sein muß als die Darstellung der klassischen und der vorklassischen bürgerlichen Ökonomie. Da es nicht mehr um eine Kritik ihres Inhalts geht — die Kritik des Inhalts der bürgerlichen Ökonomie ist abgeschlossen —, ist die Darstellung einzelner Lehren nur noch insoweit erforderlich, wie ihre Kenntnis für das Verständnis der Entwicklung notwendig ist. Es ist jetzt Aufgabe der Kritik, die gesellschaftliche Funktion und die politische Bedeutung der modernen bürgerlichen Ökonomie aufzuzeigen. Hieraus ergibt sich notwendig die Gliederung des Stoffes.

A. Die Auflösung der klassischen bürgerlichen Ökonomie zur Vulgärökonomie 1. Die bürgerlichen Nachfolger der englischen Klassik*) Es sei das große Verdienst der klassischen Ökonomie, schreibt Marx im dritten Band seines „Kapitals", den „falschen Schein und Trug, diese Ver*) Der Abschnitt ist im wesentlichen unverändert aus meiner Arbeit „Zur Methode der politischen Ökonomie" übernommen.

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selbständigung und Verknöcherung der verschiedenen gesellschaftlichen Elemente des Reichtums gegeneinander, diese Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Produktionsverhältnisse, diese Religion des Alltagslebens aufgelöst zu haben, indem sie den Zins auf einen Teil des Profits und die Rente auf den Überschuß über den Durchschnittsprofit reduziert, so daß beide im Mehrwert zusammenfallen; indem sie den Zirkulationsprozeß als bloße Metamorphose der Formen darstellt, und endlich im unmittelbaren Produktionsprozeß Wert und Mehrwert der Waren auf die Arbeit reduziert. Dennoch blieben selbst die besten ihrer Wortführer, weil es vom bürgerlichen Standpunkt nicht anders möglich ist, mehr oder weniger in der von ihnen kritisch aufgelösten Welt des Scheins befangen und fallen daher alle mehr oder weniger in Inkonsequenzen, Halbheiten und ungelöste Widersprüche." 1 ) Diese Inkonsequenzen, Halbheiten und ungelösten Widersprüche waren notwendige Mängel der klassischen Ökonomie als bürgerliche Ökonomie. Sie waren daher auch nicht durch bürgerliche Ökonomen zu überwinden. Ihre Überwindung war nur durch die politische Ökonomie vom Standpunkt der Arbeiterklasse möglich. In der bürgerlichen Ökonomie führten gerade diese Mängel zu ihrer Auflösung als Wissenschaft. Wie ging diese Auflösung vor sich, und wohin führte sie in allgemeinen Zügen? Die klassische politische Ökonomie in England falle in die Periode des unentwickelten Klassenkampfes, schreibt Marx im Jahre 1873 im Nachwort zur 2. Auflage des „Kapitals". 2 ) Ihr letzter großer Repräsentant sei Ricardo gewesen. Er habe endlich „bewußt den Gegensatz der Klasseninteressen, des Arbeitslohnes und des Profits, des Profits und der Grundrente, zum Springpunkt seiner Forschungen gemacht, indem er diesen Gegensatz naiv als gesellschaftliches Naturgesetz auffaßt". 3 ) Das ist überhaupt das grundlegende Merkmal der bürgerlichen Ökonomie, und zwar gemeinsames Merkmal der noch wissenschaftlichen und der nur apologetischen bürgerlichen Ökonomie, daß sie „die kapitalistische Ordnung statt als geschichtlich vorübergehende Entwicklungsstufe, umgekehrt als absolute und letzte Gestalt der gesellschaftlichen Produktion auffaßt". 4 ) Diese unhistorische Auffassung und die Verabsolutierung der bürgerlichen Gesellschaft schloß den wissenschaftlichen Charakter der bürgerlichen Ökonomie so lange noch nicht völlig aus, wie der Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie noch latent war oder auch nur in vereinzelten und noch nicht zusammenhängenden Aktionen sich Luft machte. Solange der Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie im gemeinsamen Kampf gegen den Feudalismus noch versteckt war, solange war auch die apologe') Kapital, Bd. III, S. 884/885. A. a. O., S. 12. 3) Ebd., S. 11. 4) Ebd. 2)

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tische Grundkonzeption der bürgerlichen Ökonomie im ganzen noch latent und schloß ihren wissenschaftlichen Charakter nicht aus. Obwohl die Bourgeoisie als Ausbeuterklasse eine richtige Vorstellung des historischen Prozesses im ganzen nicht haben kann, ist sie doch in einer bestimmten Etappe ihrer Entwicklung, solange sie noch eine fortschrittliche Rolle spielt, in gewissen Grenzen Träger des Fortschritts auch auf dem Gebiet der Wissenschaft. Die bürgerliche Ideologie war niemals konsequent wissenschaftlich, doch machten bürgerliche Gelehrte, die in der Zeit lebten, als die Bourgeoisie eine fortschrittliche Rolle spielte, auch auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften eine Reihe wichtiger Entdeckungen, wie z. B. die Entdeckung des Klassenkampfes in der Geschichte und die Entdeckung des Wertgesetzes in der politischen Ökonomie. Anders steht es mit der modernen bürgerlichen Ökonomie, die den Zerfall und die Fäulnis des kapitalistischen Systems widerspiegelt und nichts anderes enthält als die Verzerrung und bewußte Fälschung aller gesellschaftlichen Beziehungen. Mit der Aufdeckung des Interessengegensatzes von Lohnarbeit und Kapital durch David Ricardo war auch der nur vorübergehende, der historische Charakter der bürgerlichen Produktionsweise durch die bürgerliche Ökonomie ausgesprochen worden. „Damit aber war auch die bürgerliche Wissenschaft der Ökonomie bei ihrer unüberschreitbaren Schranke angelangt", schreibt Marx. „Noch bei Lebzeiten Ricardos und im Gegensatz zu ihm trat ihr in der Person Sismondis die Kritik gegenüber." 1 ) Marx schreibt weiter, daß die nachfolgende Zeit von 1820 bis 1830 sich in England durch „wissenschaftliche Lebendigkeit auf dem Gebiet der politischen Ökonomie" auszeichnet. Diese Periode — schreibt Marx — sei die Periode der „Vulgarisierung und Ausbreitung der Ricardoschen Schule" gewesen. 2 ) „Es wurden glänzende Turniere gefeiert." 3 ) Obwohl in dieser Periode „die Ricardosche Theorie ausnahmsweise auch schon als Angriffswaffe wider die bürgerliche Wirtschaft diente", habe die Polemik noch einen sehr unbefangenen Charakter gehabt. „Der unbefangene Charakter dieser P o l e m i k . . . erklärt sich aus den Zeitumständen. Einerseits trat die große Industrie selbst nun aus ihrem Kindheitsalter heraus, wie schon dadurch bewiesen ist, daß sie erst mit der Krise von 1825 den periodischen Kreislauf ihres modernen Lebens eröffnet. Andererseits blieb der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit in den Hintergrund gedrängt, politisch durch den Zwist zwischen den um die Heilige Allianz gescharten Regierungen und Feudalen und der von der Bourgeoisie geführten Volksmasse, ökonomisch durch den Hader des industriellen Kapitals mit dem aristokratischen Grundeigentum, der sich in Frankreich hinter dem Gegensatz von Parzelleneigentum und großem Grundbesitz verbarg, in England Ebd., S. 11/12. ) Ebd. 3 ) Ebd.

2

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seit den Korngesetzen offen ausbrach. Die Literatur der politischen Ökonomie in England erinnert während dieser Periode an die ökonomische Sturm-und-Drang-Periode in Frankreich nach Dr. Quesnays Tod, aber n u r wie ein Altweibersommer an den Frühling erinnert. Mit dem Jahr 1830 trat die ein für allemal entscheidende Krise ein."1) Worin bestand diese entscheidende Krise, die den Charakter der politischen Ökonomie veränderte? Es ist klar, daß die Ursachen dieser Krise in den Produktionsverhältnissen, in den Beziehungen der Klassen zueinander zu suchen sein müssen. „Die Bourgeoisie hatte in Frankreich und England die politische Macht erobert. Von da an gewann der Klassenkampf, praktisch und theoretisch, mehr und mehr ausgesprochene und drohende Formen. Er läutet die Totenglocke der wissenschaftlichen' bürgerlichen Ökonomie." 2 ) Der sich immer mehr verschärfende Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat und sein immer deutlicher zutage tretender Charakter war also die Ursache für die Veränderung im Charakter der politischen Ökonomie. Die Grenze der wissenschaftlichen Ökonomie als bürgerliche Ökonomie w a r erreicht. Jetzt war bürgerliche Ökonomie als wissenschaftliche Ökonomie nicht mehr möglich, und die bürgerliche Ökonomie trat in immer schärferen Gegensatz zur wissenschaftlichen Ökonomie. „Es handelte sich jetzt nicht mehr darum, ob dieses oder jenes Theorem wahr sei, sondern ob es dem Kapital nützlich oder schädlich, bequem oder unbequem, ob polizeiwidrig oder nicht. An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei, an die Stelle unbefangener wissenschaftlicher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht der Apologetik." 3 ) Die klassische Ökonomie suchte, wie Marx in den „Theorien über den Mehrwert" schreibt, „die verschiedenen einander fremden Formen des Reichtums durch Analyse auf ihre innere Einheit zurückzuführen und ihnen die Gestalt, worin sie gleichgültig nebeneinanderstehen, abzuschälen". 4 ) Sie — die klassische Ökonomie — „will den inneren Zusammenhang im Unterschied von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen begreifen". 5 ) Zu diesem Zweck reduziert sie die Rente daher auf Überprofit, „womit sie als besondere, selbständige Form aufhört und von ihrer scheinbaren Quelle, dem Boden, getrennt wird". 6 ) Sie streift auch dem Zins „seine selbständige Form ab und weist ihn als Teil des Profits nach". 7 ) Die klassische Ökonomie hat so „alle Formen der Revenue und alle selbständige Gestalt, Titel, unter denen die Nichtarbeiter am Werte der Waren ') 2 ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) ')

Ebd. (von mir gesperrt, F. B.) Ebd., S. 13. Ebd., S. 13 (von mir gesperrt, F. B.). Bd. III, S. 571. Bd. III, S. 571. Ebd. Ebd., S. 571/572.

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Anteil haben, auf die eine Form des Profits reduziert. Dieser aber löst sich in Mehrwert auf, da sich der Wert der ganzen Ware in Arbeit auflöst; das bezahlte Quantum der in ihr enthaltenen Arbeit in Arbeitslohn, also der Überschuß darüber in unbezahlte Arbeit, gratis unter verschiedenen Titeln angeeignete, aber vom Kapital hervorgerufene Mehrarbeit". 1 ) Die klassische Ökonomie widerspreche sich zwar gelegentlich bei dieser Analyse, und Marx resümiert die Ursachen dieser aus dem bürgerlichen Charakter der klassischen Ökonomie sich ergebenden Widersprüche, indem er erstens feststellte, daß die klassische Ökonomie versucht, „oft unmittelbar, ohne die Mittelglieder, die Reduktion zu unternehmen und die Identität der Quellen der verschiedenen Formen nachzuweisen". 2 ) Dies — das Uberschlagen der Mittelglieder — meint Marx, gehe aber „aus ihrer analytischen Methode, womit die Kritik und das Begreifen anfangen muß, notwendig hervor". 3 ) Die klassische Ökonomie habe noch nicht das Interesse, „die verschiedenen Formen genetisch zu entwickeln, sondern sie durch Analyse auf ihre Einheit zurückzuführen, weil sie von ihnen als gegebenen Voraussetzungen ausgeht". 4 ) Diese Analyse sei aber notwendige Voraussetzung der genetischen Darstellung, d. h. „des Begreifens des wirklichen Gestaltungsprozesses in seinen verschiedenen Phasen". 5 ) Zu diesem aus dem Charakter der Jugendlichkeit der wissenschaftlichen — bürgerlichen — Ökonomie sich ergebenden Widerspruch komme zweitens der von mir schon erwähnte, aus ihrem bürgerlichen Charakter sich ergebende Widerspruch, der darin besteht, daß die klassische Ökonomie „die Grundform des Kapitals, die auf Aneignung fremder Arbeit gerichtete Produktion nicht als geschichtliche Form, sondern als Naturform der gesellschaftlichen Produktion auflöst, eine Auffassung, zu deren Beseitigung sie jedoch durch ihre Analyse selbst den Weg bahnt". 6 ) Während also der erste Widerspruch ein solcher war, der prinzipiell mit der Entwicklung der politischen Ökonomie selbst überwunden werden konnte, da er aus dem noch unentwickelten Zustand dieser Wissenschaft sich ergab, so kann der zweite nur durch die Uberwindung des bürgerlichen Charakters der wissenschaftlichen Ökonomie, d. h. durch eine Revolution auf dem Gebiet der Wissenschaft überwunden werden. Es war Marx, der die Widersprüche der klassischen Ökonomie überwand, indem er erstens die klassische Ökonomie als Wissenschaft vollendete, indem er die offengebliebenen Probleme löste, indem er zweitens aus der bürgerlichen die proletarische und damit eine wirtschaftswissenschaftliche Ökonomie machte. Erst als die politische Ökonomie der Arbeiterklasse ') Ebd. Ebd. ») Ebd. 4) Ebd. 5) Ebd. 6) Ebd.

2)

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konnte sich die politische Ökonomie als Wissenschaft vollenden, d. h. wahrhafte Wissenschaft werden. Hiermit setzte aber auch ebenso notwendig die Spaltung der politischen Ökonomie in die wissenschaftliche Ökonomie einerseits und in die apologetische Ökonomie andererseits ein. Während die Arbeiterklasse das wissenschaftliche Erbe der klassischen Ökonomie antrat, traten auch die bürgerlichen Ökonomen der Nachklassik ein „Erbe" an. Sie „erbten" die apologetische Grundkonzeption von Smith und Ricardo, die unwissenschaftlichen Elemente ihres Systems, und damit wurde die Ökonomie des Bürgertums zur Apologetik und entartete zur Vulgärökonomie. Die Vulgärökonomie mache sich zugleich breit, schreibt Marx, „sobald die Ökonomie selbst durch ihre Analyse ihre eigenen Voraussetzungen auflöst, wankend gemacht hat, also auch schon der Gegensatz gegen die Ökonomie in mehr oder minder ökonomischer, utopischer, kritischer und revolutionärer Form existiert".1) Die bürgerliche Ökonomie bringt — mit anderen Worten — als Wissenschaft notwendig auch ihre Kritiker, damit aber auch ihre Apologeten hervor. Sie löst durch ihre Analyse ihre eigenen Voraussetzungen auf, d. h., sie löst ihren bürgerlichen Charakter, die Annahme auf, daß der Kapitalismus eine Naturform der gesellschaftlichen Produktion überhaupt sei. Damit aber bringt sie hervor erstens ihre Kritik, zweitens die Apologetik und ihre Vulgarisierung; denn — schreibt Marx — „die Entwicklung der politischen Ökonomie und des aus ihr selbst erzeugten Gegensatzes" halte ja „Schritt... mit der realen Entwicklung der in der kapitalistischen Produktion enthaltenen gesellschaftlichen Gegensätze und Klassenkämpfe".2) So wie also die kapitalistische Produktion den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital enthält, der, erst latent vorhanden, sich immer mehr durchdrückt und erweitert, so enthält die klassische Ökonomie den Gegensatz von Kritik und Apologetik oder — was dasselbe ist — von wissenschaftlicher Ökonomie und Vulgärökonomie, ein Gegensatz, der identisch wird mit dem Gegensatz von proletarischer und bürgerlicher Ökonomie und der sich notwendig mit der bürgerlichen Produktionsweise selbst entwickelt. Daher schreibt Marx auch, daß „erst, sobald die politische Ökonomie eine gewisse Breite der Entwicklung erlangt" habe, „also nach A. Smith.... und sich feste Formen gegeben habe" — sich das Element in ihr scheide, das „bloße Reproduktion der Erscheinung als Vorstellung von derselben ist.. ,".3) Ihr Vulgärelement „scheidet sich von ihr ab" als „besondere Darstellung der Ökonomie",4) sobald die Entwicklung der wissenschaftlichen Ökonomie als Reflex der kapiJ)

Ebd., S. 572. Ebd., S. 572. 3 ) Ebd., S. 575. 4) Ebd. 2)

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talistischen Produktion eine gewisse Reife hat. „So ist bei Say — schreibt Marx — die Abscheidung der Vulgärvorstellungen, die in A. Smith durchlaufen, als eigene Kristallisation daneben fortgesetzt."1) Marx versteht bekanntlich unter „Vulgärökonomie" diejenige bürgerliche Ökonomie, „die sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt, für eine plausible Verständlichmachung der sozusagen größten Phänomene und den bürgerlichen Hausbedarf das von der wissenschaftlichen Ökonomie längst gelieferte Material stets von neuem wiederkaut, im übrigen aber sich darauf beschränkt, die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eigenen Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren".2) Welches sind also die Merkmale der Vulgärökonomie? Sie geht erstens aus von der Oberflächenerscheinung der bürgerlichen Produktionsweise, ist also flacher Empirismus und keine Theorie. Sie ist als Empirismus, überhaupt als Erforschung des ökonomischen Stoffes, der ökonomischen Tatsachen, in der klassischen Ökonomie zwar enthalten, aber in der wissenschaftlichen Ökonomie sind Empirismus und Theorie Momente einer — wenn auch in der Klassik unbewußten und sehr unvollkommenen — Einheit. Nach der Klassik scheiden sich diese beiden Elemente, und das empirische Element kristallisiert sich zur Vulgärökonomie. Das zweite Merkmal der Vulgärökonomie ist, daß sie die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Ökonomie nur reproduziert, und zwar reproduziert in solcher Weise, wie es dem kapitalistischen Klasseninteresse angemessen ist. Ihr Ergebnis sind die zahlreichen Kompendien und Lehrbücher der bürgerlichen Ökonomie, die die Köpfe der Jugend „reif" machen sollen für die kapitalistische Praxis. Die Vulgärökonomie ist somit ein — obwohl verkehrter, so doch notwendiger — Ausdruck der reifen kapitalistischen Produktionsverhältnisse. „Mit Ricardo und der durch ihn weiter begründeten Ausbildung der Ökonomie erhält auch der Vulgärökonom neue Nahrung (da er nichts selbst produziert) — schreibt Marx —, und je mehr die Ökonomie ihren Abschluß erreicht, also in die Tiefe geht und sich als ein System des Gegensatzes entwickelt, um so selbständiger tritt ihr eigenes Vulgärelement, bereichert mit Stoff, den er in seiner Weise zurechtmacht, gegenüber, bis es endlich als gelehrt — synkretistische und charakterlose — klassische Kombination seinen besten Ausdruck findet."3) Das empirische Element in der wissenschaftlichen Ökonomie wird reicher im selben Maße, wie das theoretische Element sich entwickelt, den Gegenstand durchdringt, ihn analysiert. Aber damit entwickelt sich dann auch die vulgäre Ökonomie als unkritische, unwissenschaftEbd. Kapital, I, S. 87, Fußnote. 3) Ebd., S. 573. 2)

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liehe Ökonomie, die den Schein f ü r das Wesen nimmt, sich mit der Darstellung der Entwicklung statt ihrer Analyse begnügt. Die Vulgärökonomie — sagt Marx an einer anderen Stelle des ersten Bandes des „Kapitals" — poche überall auf den Schein gegen das Gesetz der Erscheinung. Sie glaubt im Gegensatz zu Spinoza, daß „die Unwissenheit ein hinreichender Grund ist". 1 ) Es ist klar: „In demselben Maße, wie die Ökonomie in die Tiefe geht, stellt sie nicht nur selbst Gegensätze dar, sondern tritt ihr ihr Gegensatz als solcher gegenüber, gleichzeitig mit der Entwicklung der realen Gegensätze im ökonomischen Leben der Gesellschaft." 2 ) Mit der Entwicklung der Ökonomie scheiden sich — mit anderen Worten'— nicht n u r innerhalb der bürgerlichen Ökonomie wissenschaftliche Ökonomie und Vulgärökonomie, sondern der bürgerlichen Ökonomie tritt entgegen die proletarische Ökonomie, und zwar in dem Maße, wie die realen Gegensätze innerhalb der bürgerlichen Produktionsweise sich entfalten. „In demselben Maße wird die Vulgärökonomie mit Bewußtsein apologetischer und sucht sie die Gedanken, in denen die Gegensätze enthalten sind, in forcierter Weise wegzuschwatzen." 3 ) Say — meint Marx — erscheint daher noch „als ein Kritiker und parteilos — weil er in Smith die Gegensätze noch relativ unentwickelt findet — gegenüber z. B. Bastiat, dem Harmoniker und Apologeten von Profession, der allerdings sowohl in der Ricardoschen Ökonomie den Gegensatz innerhalb der Ökonomie selbst ausgearbeitet, wie im Sozialismus und den Zeitkämpfen sich ausarbeitend vorfand". 4 ) Es komme hinzu, meint Marx, „daß die Vulgärökonomie auf ihren früheren Stufen den Stoff noch nicht ganz bearbeitet findet, also noch selbst mehr oder minder an der Lösung der ökonomischen Probleme vom Standpunkt der Ökonomie mitarbeitet, wie Say z. B., während ein Bastiat nur zu plagiieren und die unangenehme Seite der klassischen Ökonomie wegzuräsonieren hat". 5 ) Aber — fügt Marx sogleich hinzu — „Bastiat stellt noch nicht die letzte Stufe dar". 6 ) Bastiat zeichne sich noch aus „durch Mangel an Gelehrsamkeit und eine ganz oberflächliche Bekanntschaft mit der Wissenschaft, die er im Interesse der bewußten Klasse schönfärbt". Bei Bastiat sei die Apologetik „noch leidenschaftlich und seine eigentliche Arbeit, da er den Inhalt der Ökonomie bei anderen nimmt, wie er ihm gerade in den K r a m paßt". „Die letzte Form", schreibt Marx, „ist die Professoralform, die .historisch' zu Werke geht und ') ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 2

A. a. O., S. 321. Theorien, a. a. O., S. 573. Ebd. Ebd. Ebd., S. 574. Ebd., S. 574. 319

mit weiser Mäßigkeit überall das ¡Beste' zusammensucht, wobei es auf Widersprüche nicht ankommt, sondern auf Vollständigkeit." 1 ) Zweifellos hat daher auch Georg Lukas recht, wenn er in seiner „Zerstörung der Vernunft" bemerkt, daß im Vergleich zu den heutigen bürgerlichen Ökonomen selbst ein so flacher Apologet und Vulgarisator wie Say als ein tiefer Denker und ein unbefangener Wirklichkeitsforscher erscheine.2) So haben wir also verschiedene Stufen der Entwicklung zur Vulgärökonomie, ausgehend von der klassischen bürgerlichen Ökonomie, w o das empirische und das rationelle Moment nach ungetrennt nebeneinanderher gehen. Diese Stufen fallen zusammen mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise selbst und des in ihr enthaltenen Klassengegensatzes Ökonomie der Arbeiterklasse. und der Entwicklung der wissenschaftlichen Die politische Ökonomie der Arbeiterklasse entwickelt sich — w i e w i r gesehen haben — im Einklang mit der Arbeiterklasse selbst, da sie Bestandteil ihres theoretischen Klassenbewußtseins ist. Die Entwicklung des Bewußtseins der Arbeiterklasse wirkt aber wieder auf die Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie zurück. Je entwickelter das Bewußtsein der Arbeiterklasse und je stärker ihre Kampfkraft, desto apologetischer, desto unwissenschaftlicher der Charakter der bürgerlichen Ökonomie — das ist ein Gesetz der bürgerlichen Ökonomie! So mannigfaltig die „Systeme" der bürgerlichen Ökonomie sind: Das Ende ist immer die „Datensammlung", die historische Schule! „Es ist die Entgeistung aller Systeme, denen überall die Spitze abbrechen wird und die sich friedlich im Kollektiv zusammenfinden. Die Hitze der Apologetik w i r d hier gemäßigt durch die Gelehrsamkeit, die wohlwollend auf die Übertreibungen der ökonomischen Denker herabsieht und sie nur als Kuriosa in ihrem mittelmäßigen Brei herumschwimmen läßt. Da derartige Arbeiten zugleich erst auftreten, sobald der Kreis der politischen Ökonomie als Wissenschaft sein Ende erreicht hat, sind sie zugleich die Grabstätte dieser Wissenschaft." 8 ) Marx fügt noch hinzu, daß diese „Historiker" der politischen Ökonomie „ebenso erhaben über den Phantasien der Sozialisten stehen", brauchte „nicht bemerkt zu werden". 4 ) Sie sind zuletzt „erhaben" über jede Kritik am Kapitalismus, weil sie vor lauter empirischer Forschung den Kapitalismus nicht mehr kennen! „Die Vulgärökonomie tut in der Tat nichts, als die Vorstellungen der in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen befangenen Agenten dieser Produktion doktrinär zu verdolmetschen, zu systematisieren und apologetisieren", 5 ) ') 2) 3) 4) 5) 320

Ebd. A. a. O., S. 612. Ebd., S. 574. Ebd. Kapital, III, S. 870.

heißt es bei Marx im „Kapital". Aber die Art dieser Verdolmetschung, Systematisierung und Apologetisierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist um so mannigfaltiger, je entwickelter diese Produktionsverhältnisse selbst werden. So primitiv — naiv — die ersten Apologeten sind, so raffiniert sind die späteren Apologeten, die sich des großen Apparates der entwickelten formalen Methoden der bürgerlichen Wissenschaft f ü r ihre Zwecke bedienen. Ihr unveränderlicher Klassencharakter und ihre bleibende gesellschaftliche Funktion werden zwar schamhaft verhüllt, durch diese Verhüllung wird die Erkenntnis ihres Klassencharakters und ihrer gesellschaftlichen Funktion aber um so leichter gemacht. „Die Vulgärökonomie kommt sich um so einfacher, naturgemäßer und gemeinnützlicher, um so entfernter von allen theoretischen Spitzfindigkeiten vor — je mehr sie in der Tat nichts tut, als die ordinären Vorstellungen in eine doktrine Sprache zu übersetzen. In je piehr entfremdeter Form sie daher die Formationen der kapitalistischen Produktion auffaßt, um so näher ist sie dem Element der gewöhnlichen Vorstellung, also um so mehr schwimmt sie in ihrem Naturelement. Außerdem tut das sehr gute Dienste f ü r die Apologetik." 1 ) Man braucht nur in das volle „Leben" der modernen bürgerlichen Ökonomie hineinzugreifen, um zahllose Beweise f ü r die Stichhaltigkeit dieser Marxschen Thesen zu finden. J e mehr der Kapitalismus seinem Ende entgegengeht, um so flacher wird die bürgerliche Ökonomie, aber auch um so aggressiver!

2. Thomas Robert Malthus (1766—1834) — der der bürgerlichen Apologetik*)

„Klassiker"

a) Der „Klassiker" der bürgerlichen Apologetik Die bürgerlichen Ökonomen rechnen Malthus, der von 1766 bis 1834 lebte, zu den Klassikern der bürgerlichen Ökonomie! Malthus hat in der Tat zur Zeit der klassischen bürgerlichen Ökonomie gelebt, und Edgar Salin schreibt, daß er seine „Grundsätze der politischen Ökonomie" nach zehnjähriger ungetrübter Freundschaft mit Ricardo und drei Jahre nach Erscheinen von dessen „Principles" veröffentlichte. 2 ) Malthus ist auch in der Tat ein „Klassiker", aber der Klassiker der bürgerlichen Apologetik, der Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiterklasse! Diesen „Ruhm" wird ihm niemand streitig machen! Er ist der Ahnherr all derMarx, Theorien III, S, 575. *) Der Abschnitt 2 ist im wesentlichen unverändert aus der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Jahrgang 1952/53, Heft 6, übernommen. 2 ) Salin, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 3. Aufl., Bern 1944, S. 97. 21 Behrens

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jenigen, die bewußt die menschenfeindliche Praxis der Kapitalisten nicht nur verteidigen, sondern verewigen wollen. Auf die Malthussche „Theorie" treffen alle Merkmale zu, die wir für die Apologetik und die Vulgärökonomie anführten. Sie ist flachster Empirismus, reproduziert wissenschaftliche Erkenntnisse nur soweit, wie sie im Interesse der herrschenden Ausbeuterklasse liegen, sie ist unhistorisch und hat nur ein Ziel: zu beweisen, daß die herrschende Ausbeuterordnung die einzig mögliche, natürliche und ewige Gesellschaftsordnung ist. Deswegen ist auch das „Werk" von Malthus eine wahre „Fundgrube" für alle späteren Apologeten und Vulgärökonomen! Die Malthussche Theorie erblickte das Licht der Welt zu einer Zeit, als sich die Klassengegensätze in England verschärften und seine kolonisatorischen Bestrebungen zunahmen. Sie entsprach völlig den Interessen der herrschenden Klassen der kapitalistischen Länder, da sie die Schuld an der Not und am Elend der Massen auf die Werktätigen selbst abwälzte und den Kapitalismus sowie den Raub und die Ausplünderung der Kolonien rechtfertigte. Bei der Arbeiterklasse und allen fortschrittlichen Menschen aber rief diese „Theorie" Empörung hervor. Wie Marx schrieb, war der Haß der englischen Arbeiterklasse gegen Malthus vollständig berechtigt, denn das Volk spürte hier mit richtigem Instinkt, daß vor ihm kein Mann der Wissenschaft stand, sondern ein gekaufter Advokat, der Verteidiger der Interessen seiner Feinde, ein schamloser Sykophant im Dienste der herrschenden Klassen. Marx deckte den Klassencharakter des Malthusianismus auf und wies darauf hin, daß Malthus im Interesse der herrschenden Klassen wissenschaftliche Schlußfolgerungen vorsätzlich verfälscht habe. Im Jahre 1798 erschien — anonym — die erste Schrift von Malthus. Die Schrift erschien zu Lebzeiten von Malthus in sechs Auflagen, die sechste Auflage 1826, die er jede mit neuem Material „bereicherte". Der große Erfolg dieser Schrift ist darauf zurückzuführen, daß sie sich gegen die Lehren der Französischen Revolution wandte und die Schuld am Elend des Volkes den Verelendeten selbst zuschob, die sich nach seiner Behauptung durch ihre übermäßige Vermehrung selbst proletarisierten. Wovon ging Malthus aus? — Ewige und unabänderliche Gesetze sind es, die nach Malthus das Elend verursachen! Welches war die Grundthese von Malthus? — Malthus' Grundthese war, daß zu allen Zeiten ein Mißverhältnis zwischen der Bevölkerungsvermehrung und dem Nahrungsspielraum besteht. Die Bevölkerung habe die Tendenz, ständig gegen den Nahrungsspielraum zu pressen. Während sich die Bevölkerung in geometrischer Progression vermehrte, erweiterte sich der Nahrungsspielraum nur in arithmetischer Progression. Weitere Thesen Malthus' waren: Die Bevölkerungszahl ist durch die Unterhaltsmittel beschränkt, die Bevölkerung wächst, wenn die Unterhaltsmittel wachsen, es sei denn, es treten Hemmnisse auf; diese Hemmnisse, welche die Bevölkerung ihrem Nahrungsspielraum anpassen, sind erstens vorbeugende, zweitens positive Hemmnisse. 322

b) Die Malthussche „Theorie" Malthus geht bei seinen Untersuchungen über das „Bevölkerungsgesetz" von der Feststellung aus, daß alle Lebewesen die dauernde Neigung haben, „sich weit über das Maß der f ü r sie bereitgestellten Nahrungsmittel zu vermehren". 1 ) Es könne angenommen werden, meint er, „daß sich die Bevölkerung, wenn sie nicht gehemmt wird, alle 25 J a h r e verdoppelt oder in geometrischer Progression zunimmt". 2 ) Die Vermehrung des Menschengeschlechts werde „in folgender Weise vor sich gehen: 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256 und die der Lebensmittel wie 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. In zwei J a h r hunderten würde die Bevölkerung zu den Lebensmitteln im Verhältnis von 256 zu 9 stehen, in drei Jahrhunderten von 4096 zu 13, und in 2000 Jahren würde es beinahe unmöglich sein, den Unterschied zu berechnen", meint Malthus. 3 ) Die Produktivkraft der Erde möge „unaufhörlich zunehmen und größer sein als jedes bestimmte Maß. Dennoch wird, da die Bevölkerungskraft jederzeit soviel stärker ist, die Vermehrung des Menschengeschlechts nur durch das fortwährende Wirken des mächtigen Gesetzes der Notwendigkeit, das sich der größeren K r a f t als Hemmnis entgegenstellt, auf dem Niveau der Nahrungsmittel festgehalten werden". 4 ) Welches sind die Hemmnisse? — „Diese Hemmnisse der Bevölkerung, die unaufhörlich mit mehr oder weniger K r a f t in jeder Gesellschaft wirken und die Zahl auf dem Niveau der Lebensmittel festhalten, können in zwei Hauptgruppen eingeteilt werden: die vorbeugenden und die positiven Hemmnisse." 5 ) Die vorbeugenden Hemmnisse entspringen nach Malthus den Verstandeskräften der Menschen, „die ihn befähigen, fernliegende Folgen zu beachten". 6 ) Malthus meint, daß „die Hemmnisse der unbeschränkten Vermehrung der Pflanzen und vernunftlosen T i e r e . . . alle entweder positiv" sind „oder, wenn vorbeugend, doch unfreiwillig". Der Mensch aber — meint dieser edle „Menschenfreund", der stets das „Vorbild aller Reaktionäre und Apologeten der Unterdrückung und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gewesen ist und bleiben wird —, der Mensch aber könne umherblicken „und das Elend wahrnehmen, das häufig auf jenen lastet, die große Familien haben; er kann seinen gegenwärtigen Besitz oder die Einnahmen, die er jetzt beinahe f ü r sich allein verbraucht, nicht betrachten, berechnend, wieviel auf jeden käme, wenn sie mit einem sehr kleinen Zuschuß in sieben oder acht Teile geteilt werden müßten, ohne einen Zweifel zu fühlen, ob er, wenn er J ) Malthus, Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Jena 1924, S. 14. 2 ) Ebd., S. 18. 3 ) Ebd., S. 22. 4 ) Ebd. 5 ) Ebd. 6 ) Ebd. 21*

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seiner Neigung folgen sollte, imstande sein werde, die Nachkommen, die er wahrscheinlich in die Welt setzen wird, zu erhalten".1) Was folgt daraus für Malthus? Enthaltsamkeit für die Proletarier, die trotz ihrer lebenslangen Fron für die Kapitalisten ihre Einnahmen nicht vermehren können! Also — übe der Mensch Enthaltsamkeit, wenn er von der Natur dazu bestimmt ist, Proletarier zu sein! Zusammenfassend meint Malthus, vorbeugende Hemmnisse seien Erwägungen, „bei allen zivilisierten Nationen zahlreiche Personen davon abzuhalten — dem Naturgebot einer frühen Verbindung mit einem Weibe nachzugeben".2) Zweifellos habe Enthaltsamkeit Nachteile, meint Malthus, aber diese seien gering im Vergleich „mit den Übeln, die von anderen Hemmnissen der Bevölkerung herrühren".3) Außerordentlich mannigfaltig seien die positiven Hemmnisse der Bevölkerungsvermehrung. „Es gehören dazu alle Ursachen, mögen sie dem Laster oder der Not entspringen, die in irgendeiner Weise zur Verkürzung der natürlichen Dauer des Menschenlebens beitragen."4) Hierzu gehören nach Malthus ,,alle ungesunden Beschäftigungen, harte Arbeit und die Unbilden von Wind und Wetter, äußerste Armut, schlechte Kinderpflege, große Städte, Ausschreitungen aller Art, die ganze Schar gewöhnlicher Krankheiten und Epidemien, Krieg, Pest und Hungersnot".5) Wenn man alle diese Hindernisse des Wachstums der Bevölkerung untersuche, so zeige sich, daß „sie alle in sittlicher Beschränkung, Laster und Not aufzulösen sind".6) Aber Malthus verfügt über hohe „Verstandeskräfte", und er ist „vernünftig und gerecht", genauso „vernünftig und gerecht", wie alle diejenigen sind, die die Klassenherrschaft und die Ausbeutung als ewig und natürlich, der menschlichen Natur entsprechend und dem göttlichen Gebot entspringend, verteidigen. Daher schreibt er sehr „objektiv": „Von den vorbeugenden Hemmnissen kann die Enthaltsamkeit vor der Ehe, sofern ihr nicht ungeregelte Befriedigung folgt, füglich sittliche Beschränkung genannt werden. Ungeregelter Geschlechtsverkehr, unnatürliche Leidenschaft, Ehebruch, unsaubere Praktiken zur Verheimlichung der Folgen unregelmäßiger geschlechtlicher Beziehungen sind vorbeugende Hemmnisse, die klar und deutlich unter den Begriff des Lasters fallen."7) Was könnte wohl für Malthus und für seine Anhänger bis auf den heutigen Tag klarer und deutlicher sein, als daß die Folgen, die die lasterhaften Proletarier — denn wer anders kann gemeint sein, da die Besitzenden ja ') Ebd., Ebd., 3 ) Ebd. 4) Ebd., 5) Ebd. 6) Ebd. ') Ebd., 2)

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S. 24. S. 24. S. 25. S. 25/26.

nicht „enthaltsam" zu sein brauchen — auf sich herabziehen, ihre eigene Schuld sind? „Von allen positiven Hemmnissen können jene, die sich offenbar unvermeidlich aus den Naturgesetzen ergeben, ausschließlich Elend genannt werden", meint daher der „Menschenfreund" Malthus, „und jene, die wir augenscheinlich selbst auf uns herabziehen, wie Kriege, Ausschweifungen und viele andere, die zu vermeiden in unserer Macht läge", seien gemischter Natur. „Wir ziehen sie uns durch Laster zu, und ihre Folgen sind Not und Elend."') Somit ist im Grunde selbstverständlich alles sehr weise und gerecht im Kapitalismus eingerichtet! Proletarier, lebt tugendhaft, betet und arbeitet und seid enthaltsam — denn eure Laster werden bestraft werden, oder noch besser: Daß ihr in Not und Elend lebt, daß Kriege und Hungersnöte euch heimsuchen, das sind die Folgen eures lasterhaften Lebens! Das sind im Kern die Lehren des von den bürgerlichen Ökonomen so sehr bewunderten Malthus! So ergebe sich das Resultat, stellt er fest: „1. Die Bevölkerung ist notwendig durch die Subsistenzmittel begrenzt. 2. Die Bevölkerung wächst unwandelbar da, wo die Subsistenzmittel sich vermehren, es sei denn, sie werde durch einige sehr mächtige und offenkundige Hemmnisse daran verhindert. 3. Diese Hemmnisse und jene, welche die übermächtige Bevölkerungskraft zurückdrängen und ihre Wirkungen auf dem Niveau des Nahrungsmittelspielraumes festhalten, lassen sich alle in sittliche Enthaltsamkeit, Laster und Elend auflösen."2)

c) „Beweise" und Folgerungen Malthus suchte seine für die Klassenherrschaft der kapitalistischen Ausbeuter so überaus wichtigen Sätze selbstverständlich „empirisch" zu belegen. Er untersuchte die Hemmnisse der Bevölkerungsvermehrung auf „der niedrigsten Stufe der menschlichen Gesellschaft", er untersuchte sie bei den „amerikanischen Indianern", bei den Bewohnern der „Südseeinseln", in Nord- und Südsibirien, in Hindostan und Tibet, in China und Japan, bei den Griechen und Römern, in der Schweiz, in England, Frankreich, Rußland usw. usw. Und man denke: immer dasselbe Resultat! Die Armen sind selbst schuld! Das muß doch überzeugen! Und aus dieser wahrhaft „wissenschaftlichen" Untersuchung dieses „vorbildlichen" Apologeten ergab sich dann mit zwingender Notwendigkeit der Schluß: „Armengesetze", d. h. Unterstützung der in Not und Armut ») Ebd., S. 26. ) Ebd., S. 33/34.

2

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Geratenen, seien schädlich, da sie das sogenannte „Bevölkerungsgesetz" verletzen! Fürwahr — ein wichtiges Ergebnis für die herrschende Klasse: Unterstützt ihr die Armen, so unterstützt ihr ihre Laster! Ihr macht euch mitschuldig! Der Staat dürfe einer Vermehrung der Bevölkerung durch Armengesetze daher auch nicht Vorschub leisten. Durch Armengesetze würden Menschen erhalten, für die auf dem Tische der Natur kein Gedeck gelegt sei. Durch Armengesetzgebung werde auf die BeVölkerungsVermehrung noch eine Prämie gesetzt. Die Armen aber sind selbst Ursache ihres Elends. „Um dem häufig wiederkehrenden Bedrängnis der Armen abzuhelfen, sind Gesetze erlassen worden, um ihre Unterstützung zu erzwingen, und in der Einführung eines allgemeinen Systems dieser Art habe sich England besonders ausgezeichnet", schreibt Malthus. „Es ist aber zu befürchten, daß es, obgleich es die Größe des Mißgeschickes der einzelnen etwas gemildert haben mag, das Übel viel weiter verbreitet haben mag." 1 ) Man beachte den wohlwollenden und so sehr „objektiven" Ton: „Es ist aber zu b e f ü r c h t e n . . . " Malthus ist dann auch nicht allzusehr überrascht, daß eintrat, was er „befürchtete" — es kann j a bei der Verderbtheit der Proletarier gar nicht anders sein! „Die armen Arbeiter scheinen, um einen landläufigen Ausdruck zu gebrauchen, immer von der Hand in den Mund zu leben", schreibt er mißbilligend. „Ihre momentanen Bedürfnisse nehmen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, und sie denken selten an die Zukunft. Selbst wenn sie Gelegenheit zum Sparen haben, benutzen sie sie selten, sondern aller Verdienst, der über ihren augenblicklichen Bedarf hinausgeht, wandert im Grunde genommen in die Bierschenke." 2 ) Man denke nur! „Selbst wenn sie Gelegenheit zum Sparen h a b e n . . . " Solche Verwerflichkeit darf aber selbstverständlich nicht mehr unterstützt werden! Daher schließt Malthus mit messerscharfer — allerdings gutbürgerlicher — Logik: „Man kann also sagen, die Armengesetze vermindern bei dem gewöhnlichen Volke sowohl das Vermögen wie den Willen zu sparen und schwächen solcherweise einen stärksten Antrieb zur Nüchternheit und zum Fleiße und mithin zur Wohlfahrt." 3 ) So „objektiv" ist also der „große" Malthus, daß er trotz seines „Wohlwollens" für die „Armen" den Reichen rät, sie nicht zu unterstützen, da ihnen eine solche Unterstützung schaden würde! Ist es da ein Wunder, daß seine begeisterten modernen Anhänger so „objektiv" sind, den Werktätigen der kapitalistischen Länder zu raten, die Kriegspolitik der Imperialisten zu unterstützen, da durch die Vernichtung einiger Dutzend Millionen Menschen durch Gas, Bakterien und Atombomben die Zahl derjenigen geringer wird, die infolge der monopolistischen Maximalprofite keine Arbeit haben? ') Malthus, a. a. O., Bd. II, S. 56. ) Ebd., S. 73. 3 ) Ebd. 2

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Nachdem Malthus dann noch feststellt, daß „diese den Armengesetzen anhaftenden Ü b e l . . . unheilbar" scheinen1), schlägt er für England die „allmähliche . . . Abschaffung der Armengesetze" vor. 2 ) In Wirklichkeit war der „Pfaffe" Malthus natürlich alles andere als „arbeiterfreundlich"! Er war sogar ein ausgesprochener Feind des Volkes! Er war ein Apologet der herrschenden Klasse, und er ist stets das verehrte „Vorbild" solcher Apologeten gewesen. Und wie jede Apologie der Klassengesellschaft ihrem Wesen nach menschenfeindlich ist, so war auch Malthus trotz seiner salbungsvollen Schreibweise ein Menschenfeind, ein Feind jedes Fortschritts der menschlichen Gesellschaft. Malthus' Buch über das „BevölkeRevolution rungsgesetz" war nichts als ein Pamphlet gegen die Französische und die gleichzeitigen Reformideen in England. Marx stellt im „Kapital", Band I, fest, daß Malthus' 1798 erschienener „Essay en Population" in seiner ersten Form „nichts als ein schülerhaft oberflächliches und pfäffisch verdeklamiertes Plagiat aus Defoe, Sir James Steuart, Townsend, Wallace usw." 3 ) gewesen sei und „nicht einen einzigen selbstgedachten Satz" enthalten habe. Das große Aufsehen, das dieses Pamphlet erregte, sei lediglich Parteiinteressen entsprungen. „Die Französische Revolution hatte im britischen Königreich leidenschaftliche Verteidiger gefunden, das .Populationsprinzip', langsam im 18. Jahrhundert herausgearbeitet, dann mitten in einer großen sozialen Krisis mit Pauken und Trompeten verkündet als das unfehlbare Gegengift gegen die Lehren von Condorcet u. a., wurde jubelnd begrüßt von der englischen Oligarchie als der große Austilger aller Gelüste nach menschlicher Fortentwicklung." 4 ) Malthus, der über seinen Erfolg selbst erstaunt gewesen sei, habe nur „oberflächlich kombiniertes Material in das alte Schema" gestopft.

d) Die Neo-Malthusianer — Malthus und die Gegenwart Es ist verständlich, daß solche „Lehren" bis in die neueste Zeit hinein immer wieder eine geradezu stürmische Begeisterung bei bürgerlichen Ökonomen ausgelöst haben. So schreibt z. B. Heinrich Waentig in seiner Übersicht über Leben und Lehren Malthus' bei der Herausgabe des „Bevölkerungsgesetzes": „In der Tat, von den grundlegenden Werken aus jener ergebnisreichen Frühperiode der national-ökonomischen Wissenschaft... hat vielleicht keines die nagende Kritik eines ganzen Jahrhunderts im wesentlichen besser überdauert als das des Malthus. Denn trotz aller Bedenken gegen die Ungenauigkeit seiner Methode, die übrigens züm Teil wohl durch die große *) Ebd., S. 75. Ebd., S. 95. 3) Marx, Kapital, Bd. I, S. 648. 4 ) Ebd. 2)

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Mangelhaftigkeit des ihm zur Verfügung stehenden Materials verschuldet wurde, sowie gegen die Formulierung seines B e v ö l k e r u n g s g e s e t z e s ' , bleibt seine Lehre in ihrem K e r n . . . bestehen." Waentig zitiert Malthus' Satz über Bevölkerungsvermehrung und Nahrungsspielraum und fügt hinzu: „Ja, es ist dieser Satz wohl als ,das unerschütterlichste und wichtigste Naturgesetz der ganzen bisherigen Nationalökonomie' zu betrachten."1) Spricht aus diesen Worten nicht in überzeugender Deutlichkeit die ganze Beschränktheit der bürgerlichen Ökonomie, ihr böser Wille und ihre schamlose Absicht, die kapitalistische Ordnung zu verteidigen und zu verewigen? Zeigen sie nicht, wie wenig es einer solchen „Wissenschaft" um die Wahrheit zu tun ist, wie sehr es nur um die Aufrechterhaltung der „ganzen bisherigen Nationalökonomie", d. h. um das kapitalistische Privateigentum und die kapitalistische Ausbeutung geht? Das ist aber nur ein Urteil! — In der Tat, wie sollten die bürgerlichen Ökonomen nicht begeistert sein über eine solche Lehre! Heißt es doch im Schlußkapitel des Malthusschen Buches: „Wir haben allen Grund zu glauben", daß das „in seinen Grundzügen vermutlich stets unverändert" bleibende „Gebäude der menschlichen Gesellschaft... stets aus einer besitzenden Klasse und einer Arbeiterklasse bestehen wird."2) Das ist in der Tat der springende Punkt: das ist der Kern aller apologetischen Theorien, seien sie so unsagbar primitiv wie die Malthusschen oder so raffiniert wie die modernen bürgerlicher Ökonomen. Es kann uns also nicht überraschen, daß auch bei bürgerlichen Ökonomen der neuesten Zeit Malthus Begeisterung erweckt. So meint Kruse in seiner im Jahre 1948 erschienenen „Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorien", daß der Schluß, den Malthus aus seiner Lehre zog, zweifellos „folgerichtig" sei.3) Leider findet Kruse jedoch ein Haar in der Suppe! Malthus habe durch seine Schlüsse nicht wenig dazu beigetragen, daß „die ganze klassische Schule in den Geruch der Arbeiterfeindlichkeit geriet". So ungerecht — oder sogar aufrichtig „lasterhaft" — sind eben die Arbeiter, daß sie diesen großen „Menschenfreund" Malthus nicht auch als ihren Freund anerkennen wollen! Den ganzen Schwachsinn der bürgerlichen Ökonomie offenbart dann allerdings Kruse unfreiwillig, wenn er meint, daß es „überraschen" müsse, daß Malthus „für gewisse Schutzzölle" eintrat.4) Denn — meint naiv der „Dogmenhistoriker" Kruse — die „freie Getreideeinfuhr" wäre doch gerade „das rechte Mittel gewesen", den „Nahrungsspielraum zu vergrößern".6) Ja — sie wäre es gewesen. 2

) s ) 4 ) 5 ) 328

Malthus, a. a. O., S. X. Ebd., Bd. II, S. 386. Kruse, Geschichte der volkswirtschaftlichen Theorien, 1948, S. 60. Ebd. Ebd.

Warum war sie es für Malthus eigentlich nicht? Sollte Malthus gar „bourgeoisiefeindlich" oder gar „grundbesitzerfreundlich" gewesen sein? Herr Kruse wird auf keinen Fall in den „Geruch" kommen, eine Theorie und ihre gesellschaftliche Bedeutung zu verstehen — es sei denn, er versteht die Bedeutung einer „Theorie" zu gut! Und das gleiche gilt auch für Eduard Heimann, der in seiner „Geschichte der volkswirtschaflichen Lehrmeinungen" — 1948 — zwar anerkennt, „daß Malthus den Kapitalismus zu entschuldigen wünschte, wenn er das bestehende Elend auf die unvernünftigen Gewohnheiten der Armen zurückführte". 1 ) Es sei aber nicht weniger richtig, meint Heimann — der religiöse „Sozialist" — „daß er den Armen den einzigen, sofort gangbaren Weg zeigen wollte, um ihre Lage zu verbessern". 2 ) Der so wohlwollende Malthus war nach Heimann davon „überzeugt", daß die bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen das Übel nur verschlimmern konnten, weil sie die Armen der Verantwortung für ihre Nachkommenschaft enthoben und dadurch den Anreiz zu einer noch schnelleren Bevölkerungvermehrung gaben. 3 ) Es sei bezeichnend, meint Heimann, „daß die Arbeiterbewegung aller Länder die Geburtenkontrolle zu einem feststehenden Dogma ihres Programms gemacht haben. Es ist ihnen in der Tat so gut gelungen, die Bevölkerungszahl niedrig zu halten, daß sie das Gespenst des nationalen Selbstmordes heraufbeschworen haben, wovor Malthus ausdrücklich gewarnt hatte." 4 ) Wir wollen nicht mit Heimann über seine Kenntnisse der „Arbeiterbewegung aller Länder" und ihrer „Programme" rechten, sondern nur die Frage stellen: Woher kommen dann eigentlich die vielen Arbeitslosen in den kapitalistischen Ländern — obwohl die Arbeiterklasse doch nach Heimann die Ratschläge des „Pfaffen" Malthus so gut befolgte? Sollten nicht doch die Ursachen woanders liegen als dort, wo Malthus sie suchte? Soviel Worte, soviel Gemeinplätze und Verdrehungen, soviel Gemeinheiten und Schamlosigkeiten. Aber die Begeisterung der bürgerlichen Ökonomie für Malthus dürfte hiernach verständlich geworden sein! Wer sich zur Aufgabe gemacht hat, Verbrechen zu verteidigen, muß sich einer entprechenden Ideologie bedienen. Das ist ebenso gesetzmäßig wie die Entartung der bürgerlichen Ökonomie zur Apologetik. Den Gipfel bürgerlicher Begeisterung für den „Klassiker" der kapitalistischen Apologetik, für das Werk, das für ewige Zeiten der Inbegriff sowohl der Dummheit als auch der Brutalität geworden ist, erklimmt aber zweifellos Edgar Salin. Salin bezeichnet die erste Auflage des Malthusschen Buches als „das einzige frische, ge'istsprühende Werk des ganzen ,klassischen' Schrift*) ) 3) 4) 2

Heimann, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, 1948, S. 109. Ebd. Ebd. Ebd.

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tums". 1 ) Das Kapitel über die „Richtung unserer Mildtätigkeiten", meint Salin, „ist bei aller puritanischen Selbstgefälligkeit doch ein erschütternder Beleg, welche religiösen und menschlichen Seelenwerte zu Beginn des Jahrhunderts noch lebendig und tätig waren, bis dann die Verstaatlichung der Sozialpolitik ihre letzten Reste versteinert und veramtet hat". 2 ) Schamloser kann man in der Tat die verbrecherische Theorie des Malthus nicht loben. Einen „erschütternden Beleg" für die Entartung der bürgerlichen Ökonomie kann man kaum noch beibringen. Denn dieselben „religiösen und menschlichen Seelenwerte", die Salin bei Malthus findet, sind heute noch „lebendig und tätig" bei jenen, die mit Gas, Bakterien und Atombomben Menschen morden um ihrer Maximalprofite willen, oder solche Morde vorbereiten und verherrlichen, um der Maximalprofite willen. Dann muß allerdings selbst Salin zugeben, daß mindestens die Grundlagen des Malthusschen Werkes nicht stimmen. Das „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag", auf das Malthus sich stützte, sei jedenfalls „kein Naturgesetz". 3 ) Dazu erübrigt sich jeder Kommentar!

e) Die Neo-Malthusianer im Dienste des Imperialismus Die barbarischen und unwissenschaftlichen Theorien von Malthus sind also nicht, wie man eigentlich annehmen sollte, nachdem sie durch Marx vernichtend kritisiert wurden, in die Archive über Merkwürdigkeiten des menschlichen Geistes verschwunden. Dazu entsprechen sie zu sehr den Klasseninteressen der imperialistischen Bourgeoisie. Kein Mittel ist für sie zu dumm oder zu gemein, um die Verantwortung für die Not und das Elend, das der faulende Kapitalismus über die werktätigen Klassen bringt, von sich abzuwälzen. Das zeigt uns die „blühende" Literatur in den kapitalistischen Ländern über die sogenannte „Bevölkerungsfrage". Die fortschreitende Fäulnis des Kapitalismus in der Periode seiner allgemeinen Krise führte zu einer unerhörten Verschlechterung der Lage der Massen. Um die verstärkte Ausbeutung der Werktätigen, die verstärkte Reaktion und die blutigen Abenteuer zu rechtfertigen, um die Menschen irrezuführen und sie in einen neuen Weltkrieg hineinzutreiben, erweckten die Schildknappen des Imperialismus die abgedroschensten reaktionären Theorien, darunter auch den Malthusianismus und die Rassentheorie, zu neuem Leben. Der amerikanische Büchermarkt ist von Erzeugnissen der modernen Malthus-Nachfolger überschwemmt. Eines davon ist das Buch des amerikanischen Faschisten und Neo-Malthusianers Vogt, der ein Kapitel seines verSalin, a. a. O., S. 97. ) Ebd., S. 98. 3 ) Ebd., S. 99. 2

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brecherischen Buches „Der Weg zur Rettung" beispielsweise betitelt: „Zuviel Amerikaner." 1 ) Nach den „Berechnungen" Vogts und anderer amerikanischer Neo-Malthusianer ist die Welt bereits völlig übervölkert. Nach Berechnungen dieses ebenso dummen wie brutalen Menschen ist auf der Erde nur für 900 oder gar nur für 500 Millionen Menschen Platz, während zur Zeit auf der Erde rund 2XU Milliarden Menschen leben, sofern man die menschenwürdige Existenz vieler Hunderte von Millionen Menschen in den imperialistischen Ländern selbst und in den von den Imperialisten ausgebeuteten und unterdrückten Ländern als „Leben" bezeichnen will. Immerhin sind nach den B e rechnungen dieser, ihres Vorbildes Malthus durchaus würdigen Apologeten die größte Hälfte der Erdbewohner „überflüssige" Menschen. Für diese „Überzähligen" gibt es für diese modernen Nachfolger Malthus' an der Tafelrunde der Erde keinen Platz. Was soll mit ihnen geschehen? — Die Praxis der Imperialisten zeigt es uns: Sie sollen zugleich Subjekte und Objekte der imperialistischen Kriegsmaschinerie werden, die den Imperialisten, j e mehr Menschen sie vernichtet, um so mehr Profite einbringt. Vogt stellt fest, daß die „optimale Bevölkerungszahl der USA 100 Millionen Menschen betragen müßte". 2 ) 45 Millionen Amerikaner sind also in ihrem Lande „überflüssig", Menschen, die zu Arbeitslosigkeit und Armut verurteilt sind, gut genug allein dazu, für die Imperialisten in Korea oder auf einem anderen Kriegsschauplatz zu verbluten. Was bedeutet diese „Theorie" Vogts für die U S A ? — Sie bedeutet eine amerikanische Neuauflage der Hitlerschen Theorie vom „Lebensraum", um den verbrecherischen Angriffskrieg zur Eroberung fremden Territoriums zu begründen. Sie soll von den Widersprüchen des sterbenden Kapitalismus ablenken und den Zorn der Werktätigen über die Not und das Elend in für die Imperialisten nützliche Bahnen leiten. Vogt ist aber auch die Bevölkerungszahl des heutigen Europas zu hoch. Er spricht von einem Europa „mit einer Bevölkerungszahl, die nur noch die Hälfte oder ein Drittel des heutigen betragen müßte". 3 ) Wie das aber erreichen? — Vor allem muß nach Vogt alles beseitigt werden, was das Leben der Menschen verlängert. „Die Ärzte", so schreibt er, „konzentrieren ihre gesamten Anstrengungen auf eine Aufgabe, nämlich die Menschen vom Tode zu erretten. Indem sie den Zustand der medizinischen Hilfe und die hygienischen Verhältnisse verbessern, tragen sie die Verantwortung für die Verlängerung des Lebens von Millionen verarmter Menschen." 4 ) Vogt, 1949 und 2) Ebd., 3) Ebd., 4) Ebd.,

W., Road to Survival, New York 1948, zitiert nach „Bolschewik" Nr. 6, „Prawda" vom 24. April 1949, S. 146 (russ.). S. 36. S. 211. S. 48. 331

Was folgt daraus? — Indem Vogt die Armut, den Hunger, die Arbeitslosigkeit und andere Folgen des Kapitalismus als Folge der Übervölkerung der Erde erklärt, sieht er „den Weg der Rettung" in der Verringerung der Bevölkerung. Er bekennt sich in seinem verbrecherischen Buch zur Massenvernichtung von Menschen, schreibt über den Segen der Sterblichkeit und lobpreist Kriege und Epidemien. Als größte Sünde der Medizin sieht Vogt die Verbreitung so einfacher Maßnahmen wie z. B. das Abkochen verunreinigten Wassers zur Erhaltung der Gesundheit an, welches zu einem derartigen Wachstum der Bevölkerungsanzahl führt. Vogt lobt die Klugheit der Griechen, die „Verständnis f ü r die dauernde Gefahr der Übervölkerung hatten und zielbestrebt gegen sie kämpften, indem sie die Prostitution, den Kindermord, die Emigration und Kolonisation förderten". 1 ) Dieser amerikanische Faschist schreibt in seinem Buch, das mit einem beifälligen Vorwort Bernhard Baruchs, des durch seine aggressiven Anschauungen bekannten Atompolitikers, versehen ist, daß „einer der größten Vorteile, und vielleicht sogar der allergrößte Vorteil Chiles die hohe Sterblichkeit seiner Bevölkerung ist", daß „die größte Tragödie f ü r China zur Zeit die Verringerung der Sterblichkeit seiner Bevölkerung wäre . . . " , daß „ . . . vom Standpunkt der gesamten Menschheit die Hungersnot in China wahrscheinlich nicht n u r wünschenswert, sondern sogar notwendig ist". 2 ) Indem er die Leiden der Menschen zynisch verhöhnt, bedauert Vogt, daß der Krieg und die Hitlerschen Todeslager nicht zur Verringerung der Bevölkerung geführt haben. „Zum Unglück", so schreibt er, „hat trotz des Krieges und der Grausamkeiten der Deutschen die Bevölkerung Europas ohne Rußland in der Zeit von 1936 bis 1946 um 11 Millionen Menschen zugenommen." 3 ) Die niederträchtige Theorie des Malthus hat in ihrer neuen amerikanischen Fassung, die den Interessen des gegenwärtigen Imperialismus entspricht, einen noch abscheulicheren und ungeheuerlicheren Charakter angenommen. Wenn Malthus die Enthaltsamkeit als Allheilmittel gegen alle Nöte vorschlägt, so entlehnt der moderne Malthusianer und faschistische Rassentheoretiker Vogt aus dem Arsenal Hitlers das barbarische Mittel der Sterilisation. Nur die äußerste Fäulnis und Zersetzung der bürgerlichen Kultur und Wissenschaft konnte ein derartiges „Werk", wie das Buch von Vogt, hervorbringen. Die reaktionäre Malthussche Theorie wird so heute ans Licht gezerrt und erfreut sich der besonderen Aufmerksamkeit der imperialistischen BourEbd., S. 58. ) Ebd., S. 224/225. 3 ) Ebd., S. 199. 2

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geoisie. Das zeigt auch das Buch von Robert Cook „Die Fruchtbarkeit der Menschen — das Dilemma von heute", das 1951 in New York erschien. Gleich zu Anfang seines Buches erklärt der Verfasser, daß die Welt eine Krise durchmache und in einer schrecklichen Gefahr schwebe. Was ist das f ü r eine Gefahr? Diese Gefahr sei die unbegrenzte Fruchtbarkeit der Menschen bei gleichzeitiger Begrenztheit des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens und der Existenzmittel. „Die unbegrenzte Fruchtbarkeit verwüstet viele Länder wie ein Wirbelsturm oder eine Springflut. In Portoriko, Ägypten, Indien, Italien und Japan bringt die hemmungslose Fruchtbarkeit mehr hungrige Mäuler hervor, als diese Länder ernähren können." Das ist seiner Behauptung nach die eigentliche Ursache des Elends, der Entbehrungen und des Hungertodes von Millionen Menschen. Cook muß bezeichnenderweise also selbst eingestehen, daß heute die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der kapitalistischen Länder hungert. Aber diese Verelendung der Werktätigen, die als ein Gesetz des Kapitalismus sich nicht mehr verbergen läßt, wird von Cook nach dem Vorbild seines „Lehrers" Malthus in ein Gesetz der menschlichen Natur u m gelogen, und den Werktätigen selbst wird die Schuld an ihrer Verelendung zugeschoben. Die Erfindungen der modernen Malthusianisten stehen dabei in schreiendem Widerspruch zur Wirklichkeit. Das Elend und die hohe Sterblichkeit der Massen im Kapitalismus werden nicht durch die „Begrenztheit des Ackerlandes" und durch die „abnehmende Fruchtbarkeit des Bodens" bestimmt, sondern durch die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft. Nicht die Produktion von Nahrung wurde schwieriger mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus, sondern die Beschaffung von Nahrung f ü r die arbeitenden Menschen. Als Apologet des Bürgertums verherrlicht Cook die Imperialisten und Kolonialherren Englands und der USA, die aus den Kolonien ihre Lebenssäfte heraussaugen, als menschenfreundliche Kulturträger, die der Bevölkerung der Kolonien den „Segen der Zivilisation" brachten. Die von Cook angepriesene barbarische „natürliche" Kontrolle der Bevölkerungsvermehrung, oder genauer ausgedrückt der Bevölkerungsvernichtung, ist bereits aus dem Stadium der „Theorie" in das der Praxis übergegangen. Während des zweiten Weltkrieges f ü h r t e die Hitlerokkupation in den besetzten Gebieten die massenweise Vernichtung der „minderwertigen" Völker durch, um der „höheren Rasse" den „Lebensraum" zu sichern. Heute, nach dem zweiten Weltkrieg, folgen die amerikanischen Imperialisten p r a k tisch den „Richtlinien" der Hitlerhenker, indem sie die friedliche Bevölkerung Koreas durch Bakterienbomben auszurotten versuchen. Die „natürliche" Kontrolle will auch Cook durch die „positive" Kontrolle vervollständigen, und zwar durch massenweise zwangsmäßige Sterilisierung 333

( der Bevölkerung. Cook schlägt die A n w e n d u n g dieses Mittels auch zur „ V e r besserung der Rasse" vor. Mit anderen Worten, das Los der „minderwertigen" und „unruhigen" V ö l k e r und Bevölkerungsschichten ist die Sterilisierung. Diese beiden Beispiele mögen genügen. Sie stehen f ü r viele andere. Es ist kein Wunder, daß die Agenten des USA-Imperialismus in Deutschland, die Adenauer und ihre Klopffechter, derartige Produkte begeistert verbreiten. So w u r d e das Buch von V o g t noch in seinem Erscheinungsjahr ins Deutsche übersetzt und erschien in einem Hamburger Verlag unter dem Titel, der alles enthüllen sollte: „Wer wird morgen leben?" Was folgt aus alledem? — Daraus folgt, daß der sterbende Kapitalismus nicht einmal mehr in der Lage ist, originelle Ideen zu produzieren! Je v e r zweifelter und hoffnungsloser seine Situation, u m so skrupelloser werden seine Apologeten in der A n w e n d u n g ihrer Mittel der Verfälschung der W a h r heit und Verzerrung der Wirklichkeit. Doch lassen sich die Tatsachen immer weniger verschweigen, und immer schwieriger wird ihre Verfälschung. Die bürgerlichen Ökonomen setzen daher auch immer stärker ihre Hilfstruppen in Gestalt der rechten Sozialdemokraten ein, die in Deutschland in Ferdinand Lassalle mit seiner Malthusschen „Theorie" v o m ehernen Lohngesetz eine besondere Tradition besitzen.

f) Die Kritik Malthus' durch M a r x Wenden w i r uns der Marxschen K r i t i k Malthus' zu! Sie ist in zweierlei Hinsicht f ü r uns von Bedeutung: einmal wegen ihres prinzipiellen C h a r a k ters und als Beispiel dafür, w i e eine streng wissenschaftliche K r i t i k notwendigerweise zugleich auch eine parteiliche Kritik sein muß, zweitens als Beweis f ü r die Unerbittlichkeit, mit der der Wissenschaftler Marx die A u f gabe des w a h r h a f t e n Wissenschaftlers ausspricht: die Wahrheit zu erkennen und sie auszusprechen, ohne Rücksicht auf ihre Konsequenzen! M a r x hat ebenso w i e sein Freund und Mitkämpfer Engels und w i e seine großen Nachfolger Lenin und Stalin zeit seines Lebens jedes Verfälschen der wissenschaftlichen Wahrheit erbittert bekämpft. Da die Wahrheit immer dem Fortschritt der Menschheit dient, muß jede Verfälschung und Verzerrung der Wissenschaft fortschrittsfeindlich sein. Die Erforschung der Wahrheit liegt im Interesse der Arbeiterklasse, deren Klasseninteressen identisch sind mit den Interessen aller fortschrittlichen Menschen. Malthus w a r f ü r Marx daher stets der Inbegriff der Unwahrheit, der Verfälschung und Verzerrung der Wissenschaft. „Grundgemeinheit der Gesinnung charakterisiert den Malthus", schreibt Marx in den „Theorien über den Mehrwert", „eine Gemeinheit, die nur ein P f a f f e sich erlauben" könne, „der in dem menschlichen Elend die Strafe f ü r den Sündenfall erkennt" und überhaupt „ein irdisches Jammertal" brauche, 334

zugleich aber, mit Rücksicht auf die von ihm bezogenen Pfründen und mit Hilfe des Dogmas von der Gnadenwahl, es durchaus vorteilhaft findet, den herrschenden Klassen den Aufenthalt im „Jammertal" zu versüßen. 1 ) In zweierlei zeige sich diese „Gemeinheit der Gesinnung: erstens in einem schamlosen und handwerksmäßig betriebenen Plagiarismus. Zweitens in der rücksichtsvollen, nicht rücksichtslosen Konsequenz, die er aus wissenschaftlichen Vordersätzen zieht". 2 ) Marx geht in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Malthus in den „Theorien über den Mehrwert" eingehend auf diese beiden Vorwürfe gegen Malthus ein. Er zeigt einmal, daß Malthus alles andere als ein selbständiger und selbstdenkender Theoretiker gewesen ist. Er zeigt zweitens, daß Malthus stets auf der Seite der reaktionärsten Schichten der herrschenden Klasse gestanden habe. Malthus habe die Andersonsche Rententheorie benutzt, stellt M a r x nüchtern fest, „um seinem Bevölkerungsgesetz zum erstenmal eine zugleich nationalökonomische und reale, naturhistorische Grundlage zu geben, während sein von früheren Schriftstellern abgeborgter Blödsinn der geometrischen und arithmetischen Progression eine rein imaginäre Hypothese war". 8 ) Malthus sei überhaupt ein „Plagiarius" von Profession gewesen, schreibt Marx. Man brauche nur die erste Ausgabe seiner Schrift über „Bevölkerung" zu vergleichen mit der Schrift des Rev. Townsend, „um sich zu überzeugen, daß er ihn nicht als freier Produzent verarbeitet, sondern als sklavischer Plagiarius abschreibt und paraphrasiert, obgleich er ihn nirgendwo nennt, seine Existenz verheimlicht". 4 ) Das gelte auch für die Art der Behandlung von Anderson 5 ) und von James Steuart, den er „oft Seiten lang abschreibt" und „den größten Teil seiner Doktrin" entlehnte, aber auch zugleich v e r drehte! 6 ) Das Interesse der industriellen Bourgeoisie vertrete Malthus nur, so führt Marx weiter aus, soweit es mit dem Interesse des Grundeigentums identisch sei; wo aber die beiden Interssen sich spalten, sich feindlich gegenübertreten, stellte er sich auf die Seite der Aristokratie gegen die Bourgeoisie. „Daher seine Verteidigung der unproduktiven Arbeiter', der Überkonsumtion usw." 7 ) Malthus habe die Rententheorie von Anderson beibehalten, soweit sie „im Interesse der Landlords war", sonst aber, „ohne auf die Gegenbeweise des Entstehens der Theorie einzugehen, gegen das Proletariat" gedreht. 8 ) Den ') ) 3) 4) 5) e) 7) 8) 2

Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. II/2, S. 308/309. Ebd., S. 309. Ebd., S. 305. Ebd., S. 306. Ebd. Marx, Kapital, Bd. I, S. 682, Note 90. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. II/l, S. 306/307. Ebd., S. 308. 335

theoretischen und praktischen Fortschritt, der aus dieser Theorie zu ziehen war, habe er Ricardo überlassen „theoretisch f ü r die Bestimmung des Wertes der Ware usw. und die Einsicht in die Natur des Grundeigentums; praktisch gegen die Notwendigkeit von Privateigentum auf Grundlage der bürgerlichen Produktion und f e r n e r gegen alle Staatsregeln wie Kornzölle, die dieses Grundeigentum vergrößerten". 1 ) Die einzige Nutzanwendung, die Malthus gezogen habe, sei „seine Verteidigung des Absatzzolls gewesen, den die Landlords 1815 beanspruchten, ein sykophantischer Dienst f ü r die Aristokratie, und eine neue Rechtfertigung des Elends der Produzenten des Reichtums, eine neue Apologie f ü r die Ausbeuter der Arbeit". 2 ) Malthus h a t t e vor dem Erscheinen Ricardos Schrift an der Spitze der ökonomischen Schriftsteller gestanden, „wozu Malthus als geschickter Plagiarius sich heraufgeschwindelt hatte", wie Marx feststellt. 8 ) In seinen Schriften nach Ricardos Werk versuchte er sich wieder an die Spitze zu drängen. Hinzu kommt, daß — wie Marx ebenfalls feststellt — „in Ricardos Schrift, die — wenn auch noch abstrakte D u r c h f ü h r u n g der Wertbestimmung — sich gegen die Interessen der Grundbesitzer und ihres Anhangs richtete, die Malthus noch unmittelbarer vertrat als die Interessen der industriellen Bourgeoisie". 4 ) In seiner Polemik gegen Ricardo k n ü p f t Malthus an die Widersprüche Ricardos bei seiner Erklärung der Entstehung des Mehrwertes an. Er k n ü p f t bei der durchgängigen Verwechslung Ricardos von Mehrwert und Profit an. „Malthus entwirrt nicht diese Widersprüche und Quidproquos, sondern akzeptiert sie von Ricardo, um, auf diese Konfusion gestützt, das Ricardosche Grundgesetz von Wert usw. umzustoßen und seinen Protektoren angenehme Konsequenzen zu ziehen." 5 ) Malthus' eigentliches Verdienst bestehe darin, daß er den Hauptton auf den ungleichen Austausch zwischen Kapital und Lohnarbeit legte, w ä h r e n d Ricardo in der Tat nicht entwickele, wie auf der Grundlage des Wertgesetzes der Mehrwert entspringt. Statt aber hierbei über Ricardo hinauszugehen, und dieses Hinausgehen über Ricardo konnte eben n u r die Entdeckung des Mehrwertgesetzes sein, der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Kapitalisten, sucht Malthus die Ökonomie wieder hinter Ricardo, ja selbst hinter Smith und die Physiokraten zurückzudrängen, indem er den „Profit" gleich in die Definition des Wertes mit a u f n i m m t , damit er dann unmittelbar aus dieser Definition folge. 6 ) Dieser Versuch l ä u f t schließlich darauf hinaus, den Profit daraus abzuleiten, daß der V e r k ä u f e r die Ware nicht n u r über dem Preis, den sie ihn kostet, v e r k a u f t , sondern über dem, den sie ü b e r h a u p t kostet, d. h. dieser Versuch l ä u f t auf die Vulgäransicht des aus der V e r ä u ß e r u n g J

) ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 2

336

Ebd. Ebd. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 2. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4/5.

stammenden Profits hinaus. Der Mehrwert wird daraus abgeleitet, daß der Verkäufer die Ware über ihren Wert verkauft. 1 ) Der Profit besteht nach Malthus darin, daß eine Ware teurer verkauft wird, als sie gekauft ist. Der Käufer kauft sie mit mehr Arbeit ein, als sie dem Verkäufer kostet. Diese Auffassung läuft letzten Endes auf die bekannte wechselseitige Prellerei hinaus. „Die einzige Ausnahme bildet die Arbeiterklasse. Denn da der Preis des Produkts über seinen Kostenpreis erhöht wird, können sie nur einen Teil des Produkts zurückkaufen, und so bildet ein anderer Teil des Produkts den Profit f ü r den Kapitalisten. Aber da der Profit eben daher kommt, daß die Arbeiter nur einen Teil des Produkts zurückkaufen können, so kann die Kapitalistenklasse ihren Profit nie durch die Nachfrage der Arbeiter realisieren, nie dadurch realisieren, daß sie das ganze Produkt gegen den Arbeitslohn umtauscht, sondern vielmehr nur dadurch, daß sie den ganzen Arbeitslohn gegen nur einen Teil des Produkts eintauscht. Also ist andere Nachfrage oder sind andere Käufer außer den Arbeitern selbst nötig oder es gäbe keinen Profit. Wo kommen diese her?" 2 ) Nach Malthus sind, damit Profit möglich ist, Käufer nötig, die nicht Verkäufer sind. Daher die Notwendigkeit der Grundbesitzer, Pfaffen usw. Woher diese Käufer die Mittel zum Kaufen erhalten, das entwickelt Malthus nicht. „Jedenfalls folgt daraus sein Plädoyer f ü r möglichste Vermehrung der u n produktiven Klassen, damit die Verkäufer einen Markt — finden." 3 ) Aus Malthus' Werttheorie gehe die „große Lehre" von der Notwendigkeit stets wachsender unproduktiver Konsumtion hervor, „die dieser Lehrer der Uberbevölkerung — so eindringlich gepredigt hat". 4 ) Die Klasse der unproduktiven Konsumenten ist es, die bei Malthus den Widerspruch löst, wo der Profit herkommt, wenn die Waren über ihren Wert verkauft werden. Es sind die Grundeigentümer, ihre Bedienten und die durch den Staat auf Grund der Steuern Besoldeten. „Die dritte von Malthus als ,Heilmittel' herangezogene Klasse, die kauft, ohne zu verkaufen, und konsumiert, ohne zu produzieren, erhält also erst einen bedeutenden Teil des Wertes des jährlichen Produkts, ohne ihn zu zahlen, und bereichert die Produzenten dadurch, daß diese ihnen erst das Geld zum Kaufen ihrer Waren gratis ablassen müssen, dann dieses Geld wieder an sich ziehen, indem sie ihnen ihre Ware über deren Wert verkaufen, oder von ihnen mehr Wert in Geld zurückerhalten, als sie ihnen in Ware liefern. Und dieser Handel wiederholt sich jährlich." 5 ) Die Konsequenzen, die Malthus zieht, seien ganz richtig aus seiner „Grundtheorie der Werte" abgeleitet, schreibt Marx. „Aber diese Theorie ihrerseits ') ) 3 ) 4 ) 5 )

ä

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,

22 Behrens

S. 10. S. 12. S. 35. S. 49.

337

paßte merkwürdig für seinen Zweck, die Apologetik der bestehenden englischen Zustände, Landlordismus, ,Staat und Kirche', Pensionäre, Steuereinnehmer, Zehnten, Nationalschuld, Börsenjobbers, Büttel, Pfaffen und Lakaien, die von den Ricardianern als ebenso viele nutzlose und überlebte Nachteile und Schäden der bürgerlichen Produktion bekämpft wurden.. ," 1 ) Ricardo vertrete, sagt Marx, die bürgerliche Produktion ohne Rücksicht und unbekümmert um das Schicksal der Träger dieser Produktion, seien sie Kapitalisten oder Arbeiter. 2 ) „Er hielt am geschichtlichen Recht und der Notwendigkeit dieser Stufe der Entwicklung fest. So sehr ihm der geschichtliche Sinn für die Vergangenheit fehlt, so sehr lebt er in dem geschichtlichen Springpunkt seiner Zeit." 3 ) Auch Malthus wollte die möglichst freie Entwicklung der bürgerlichen Produktion, „soweit nur das Elend ihrer Hauptträger, der arbeitenden Klassen, Bedingung dieser Entwicklung ist", aber „sie soll sich gleichzeitig anpassen den ,Konsumtionsbedürfnissen' der Aristokratie und ihrer Sekkursalen in Staat und Kirche, soll zugleich als materielle Basis dienen für die veralterten Ansprüche der Repräsentanten der von dem Feudalismus und der absoluten Monarchie vererbten Interessen". 4 ) Malthus wollte die bürgerliche Produktion, soweit sie nicht revolutionär ist, sondern „bloß eine breitere und bequemere materielle Basis für die ,alte' Gesellschaft schafft".5) Die Arbeiterklasse ist stets zu zahlreich im Verhältnis zu den Lebensmitteln. Die Kapitalisten, die von Profit leben, verkaufen an den Teil der Gesellschaft, der aus Parasiten besteht. Die Kapitalisten werden vom Akkumulationstrieb in der Produktion gepeitscht, die Unproduktiven stellen den bloßen Konsumtionstrieb dar. „Und zwar ist dieses das einzige Mittel, der Überproduktion zu entgehen, die zugleich existiert mit einer Uberbevölkerung im Verhältnis zur Produktion. Als bestes Heilmittel für beide wird die Uberkonsumtion der außerhalb der Produktion bestehenden Klassen empfohlen. Das Mißverhältnis zwischen der Arbeiterbevölkerung und der Produktion wird dadurch aufgehoben, daß ein Teil des Produktes von Nichtproduzenten, Faulenzern, aufgegessen wird. Das Mißverhältnis der Überproduktion der Kapitalisten wird wettgemacht durch die Uberkonsumtion des prassenden Reichtums." 6 ) Malthus habe nicht das Interesse — schreibt Marx •—, die Widersprüche der bürgerlichen Produktion zu verhüllen. Sein Interesse sei umgekehrt, sie hervorzuheben, einerseits, um das Elend der arbeitenden Klassen als notwendig zu demonstrieren, andererseits, um den Kapitalisten zu demonstrie*) Ebd. Ebd., S. 50. 3 ) Ebd. 4) Ebd. 5 ) Ebd. 6 ) Ebd., S. 51. 2)

338

ren, daß ein gemästeter Kirchen- und Staatsklerus unentbehrlich sei, um ihnen eine adäquate Nachfrage zu schaffen. Er zeigte also auch, daß, für den „stetigen Fortschritt des Reichtums" weder Wachstum der Bevölkerung, noch Akkumulation des Kapitals hinreicht, noch Fruchtbarkeit des Bodens, noch „arbeitssparende Erfindungen", noch Ausdehnung der „auswärtigen Mächte".1) Malthus polemisiert auch gegen die Bestimmung des Wertes durch Ricardo, indem er auf die Veränderungen hinweist, die in dem Tauschwert der Waren zustande gebracht werden, unabhängig von der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit, durch die aus dem Zirkulationsprozeß, der verschiedenen organischen Zusammensetzung des Kapitals usw. entspringenden Umstände. Malthus faßte diese von Ricardo gegen die Bestimmung des Wertes durch die Arbeitszeit selbst hervorgehobenen und von ihm erst entdeckten Widersprüche auf, wie Marx bemerkt, nicht um sie zu lösen, „sondern um zu rein gedankenlosen Vorstellungen zurückzugehen und das Aussprechen der sich widersprechenden Erscheinungen, ihre Übersetzung in die Sprache, für ihre Lösung auszugeben".2) Marx fügt hinzu, daß dieselbe Methode sich bei der Auflösung der Ricardoschen Schule zeige, „die die widersprechendsten Erscheinungen direkt mit dem allgemeinen Gesetz in Einklang zu schwatzen" suche.3) „Ricardo habe mit Recht, für seine Zeit, die kapitalistische Produktionsweise als die vorteilhafteste für die Produktion, überhaupt als die vorteilhafteste zur Erzeugung des Reichtums" betrachtet. Er wolle die „Produktion der Produktion halber, und dies mit Recht", schreibt Marx. „Wollte man behaupten" — fügt er hinzu —, „wie es sentimentale Gegner Ricardos getan haben, daß die Produktion nicht als solche der Zweck sei, so vergißt man, daß Produktion um der Produktion halber nichts heißt als Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, also Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck. Stellt man, wie Sismondi, das Wohl der einzelnen diesem Zwecke gegenüber, so behauptet man, daß die Entwicklung der Gattung aufgehalten werden muß, um das Wohl des einzelnen zu sichern, daß also z. B. kein Krieg geführt werden dürfe, worin einzelne jedenfalls kaputtgehen."4) Ricardo hat mit seinem rigorosen Standpunkt — stellt Marx fest — historisch recht gehabt. Sismondi habe nur recht „gegen die Ökonomen, die diesen Gegensatz vertuschen, leugnen", schreibt Marx. Es werde nicht verstanden, daß diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, „obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und gewissen Menschenklassen" vollziehe, schließlich diesen Antagonismus durchbrechen und zusammenfallen werde „mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die höhere *) 2) 3) 4) 22*

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 57. S. 22/23. S. 23. Bd. II/l, S. 309. 339

Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozeß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden". 1 ) Die Betrachtungen solcher Ökonomen seien anfechtbar, meint Marx, „da die Vorteile der Gattung im Menschenreich w i e im Tier- und Pflanzenreich sich stets durchsetzen auf Kosten der Vorteile von Individuen". Die Rücksichtslosigkeit Ricardos sei also „nicht nur wissenschaftlich ehrlich, sondern wissenschaftlich geboten für seinen Standpunkt". Deshalb sei es ihm aber „auch ganz gleichgültig, ob die Entwicklung der Produktivkräfte Grundeigentum totschlägt oder Arbeiter!" Ricardo sei es ebenso willkommen, „wenn dieser Fortschritt das Kapital der industriellen Bourgeoisie entwertet". 2 ) Wenn die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit das vorhandene fixe Kapital um die Hälfte entwerte, „was liegt daran", sagt Ricardo. „Die Produktivkraft der menschlichen Arbeit hat sich verdoppelt." Hier sei also wissenschaftliche

Ehrlichkeit,

ruft

Marx

aus!

„Wenn die Auffassung Ricardos im ganzen im Interesse der industriellen Bourgeoisie ist, so nur, Weil und soweit deren Interesse zusammenfällt mit dem der Produktion oder der produktiven Entwicklung der menschlichen Arbeit. W o sie in Gegensatz dazu tritt, ist Ricardo ebenso rücksichtslos gegen die Bourgeoisie, als er es sonst gegen das Proletariat oder gegen die Aristokratie ist." 3 ) Aber Malthus — „dieser Elende", schreibt Marx weiter, „zieht aus den wissenschaftlich gegebenen und von ihm stets gestohlenen Vordersätzen nur solche Schlüsse, die der Aristokratie gegen die Bourgeoisie und beiden gegen das Proletariat angenehm sind und nützen. Er will deshalb nicht die Produktion um der Produktion willen, sondern nur soweit sie das Bestehende erhält oder ausbaut, dem Vorteil der herrschenden Klasse konveniert." 4 ) „Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst — wie irrtümlich sie immer sein mag —, sondern von außen, ihr fremden äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt anzupassen sucht, nenne ich ,gemein'", ruft Marx aus!5) „Es ist nicht gemein von Ricardo, wenn er die Proletarier der Maschinerie oder dem Lasttier oder der Ware gleichstellt, weil es die ,Produktion', von seinem Standpunkt aus, erfordert, daß sie bloß Maschinerie oder Lasttier seien, oder weil sie wirklich bloß Waren in der kapitalistischen Produktion sind. Es ist dieses stoisch, objektiv, wissenschaftlich. Soweit es ohne Sünde gegen seine Wissenschaft geschehen kann, ist Ricardo immer Philanthrop, wie er es auch in der Praxis war. Ebd., Ebd. 3) Ebd., 4) Ebd., 5) Ebd.,

S. 309/310.

2)

340

S. 310. S. 312. S. 311/312 (von mir hervorgehoben, F. B.).

Der Erfinder einer Idee mag sie ehrlich übertreiben, der Plagiarius, der sie übertreibt, macht stets ein Geschäft aus dieser Übertreibung." 1 ) Das Beispiel wissenschaftlicher Unredlichkeit ist für Marx Malthus. „Der P f a f f e Malthus . . . setzt freilich auch der Produktion wegen die Arbeiter zum Lasttier herab, verdammt sie selbst zum Hungertod und zum Zölibat. W o aber dieselbe Forderung der Produktion dem Landlord seine ,rente' schmälert oder dem Zehnten der Staatskirche oder den Interessen der Steuerverzehrer zu nahe tritt — oder auch dem Teil der industriellen Bourgeoisie, dessen Interesse den Fortschritt hemmt —, wo es also irgendein Interesse der Aristokratie gegen die Bourgeoisie oder der konservativen und stagnanten Bourgeoisie gegen die progressive gilt — in allen diesen Fällen opfert ,Pfaffe' Malthus das Sonderinteresse nicht der Produktion, sondern sucht, soviel an ihm, die Forderungen der Produktion dem Sonderinteresse bestehender herrschender Klassen oder Klassenfraktionen zu opfern, und zu diesem Zweck verfälscht er seine wissenschaftlichen Schlußfolgerungen. Das ist seine wissenschaftliche Gemeinheit, seine Sünde gegen die Wissenschaft...";-) mit dieser Feststellung verurteilt Marx die apologetischen Ökonomen, die sich zugunsten der herrschenden Klassen gegen den geschichtlichen Fortschritt und damit gegen die wissenschaftliche Wahrheit stellen. Die wissenschaftlichen Konsequenzen von Malthus — und wir können statt Malthus setzen: die bürgerlichen Apologeten — seien „rücksichtsvoll gegen die herrschenden Klassen im allgemeinen und gegen die reaktionären Elemente dieser herrschenden Klassen im besonderen", stellt Marx fest. Malthus und die Apologeten verfälschen die „Wissenschaft f ü r diese Interessen! Sie sind dagegen rücksichtslos, soweit es die unterjochten Klassen betrifft." 8 ) Malthus sei nicht nur rücksichtslos, er affektiere Rücksichtslosigkeit, gefalle sich zynisch darin und übertreibe die Konsequenzen, soweit sie sich gegen die im Elend Lebenden richten — „selbst über das Maß, das von seinem Standpunkt aus wissenschaftlich gerechtfertigt wäre". 4 ) Der Haß der englischen Arbeiterklasse gegen Malthus, schließt Marx, sei also „völlig gerechtfertigt". „Das Volk ahnte hier mit richtigem Instinkt, daß es keinen Mann der Wissenschaft, sondern einen gekauften Advokaten, Plaideur seiner Gegner, einen schamlosen Sykophanten der herrschenden Klassen gegenüber habe", 5 ) und so wird Malthus auch heute gehaßt vom Volk, und mit Malthus seine modernen Nachbeter, ob sie bürgerliche Ökonomen von Beruf oder Agenten der imperialistischen Bourgeoisie im Lager der Arbeiterklasse sind, rechte Sozialdemokraten z. B. w i e Eduard Heimann! ') Ebd., Ebd., 3) Ebd., 4) Ebd., 5) Ebd. 2)

S. 312. S. 313 (von mir hervorgehoben, F. B.). S. 313/314. S. 314.

341

3. Die Zersetzung

der klassischen

bürgerlichen

Ökonomie

a) Jeremy Bentham (1748—1832) Bentham gilt als Begründer des sogenannten „Utilitarismus", des vulgären bürgerlichen Nützlichkeitsstandpunktes. Er erklärt sich gegen die Smithsche Forderung eines gesetzlich festgelegten Maximalzinsfußes, da hierdurch eine Art Monopol am Kreditmarkt getroffen würde. Später entwickelte Bentham den „modernen" Gedanken der „erzwungenen Sparsamkeit" durch Steuern oder durch Ausgabe von privatem oder staatlichem Papiergeld. Die Geldvermehrung führe zu einer Preiserhöhung, und dadurch ergebe sich eine Art indirekte Steuer. Bentham ist also sozusagen ein Vorläufer moderner finanzkapitalistischer Praktiker! „Der freie Wucher wird als Element der kapitalistischen Produktion anerkannt", meint Marx. 1 ) Das „Nützlichkeitsprinzip" war allerdings keine Erfindung Benthams. „Er reproduzierte nur geistlos, was Helvetius und andere Franzosen des 18. J a h r hunderts geistreich gesagt hatten", 2 ) stellt Marx fest. Bentham habe kein Federlesens gemacht, meint Marx. „Mit der naivsten Trockenheit unterstellt er den modernen Spießbürger, speziell den englischen Spießbürger, als den Normalmenschen. Was diesem Kauz von Normalmenschen und seiner Welt nützlich, ist an und für sich nützlich." 3 ) Marx bezeichnet Bentham als „ein rein englisches Phänomen. Selbst unseren Philosophen Christian Wolff nicht ausgenommen, hat zu keiner Zeit und in keinem Land der hausbackenste Gemeinplatz sich jemals so selbstgefällig breit gemacht". Wenn er — Marx — die Courage seines Freundes Heinrich Heine hätte, beschließt Marx sein Urteil über Bentham, würde er „Herrn Jeremias ein Genie in der bürgerlichen Dummheit nennen". 4 ) Selbstverständlich hat dieses Urteil Marx' die bürgerlichen Dogmenhistoriker nicht daran gehindert, Bentham zu den Klassikern der bürgerlichen Ökonomie zu zählen.

b) Jean Baptiste Say (1767—1832) Durch J . B. Say, dessen Hauptwerk „Traité d'Économie Politique" 1803 erschien, wurde die Smithsche Theorie systematisiert und auf dem Kontinent verbreitet. Durch ihn wurde — nach der großen französischen Revolution — als Wortführer der „klassischen Schule" die Herrschaft der physiokratischen Schule in Frankreich endgültig gebrochen. Say war nicht nur ein Zeitgenosse von Ricardo und Malthus, er stand mit ihnen in Gedankenaustausch. Es ist !) 2) 3) 4)

342

Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 591. Marx, Kapital, Bd. I, S. 640, Note 63. Ebd., S. 640/641. Ebd., S. 641.

auch richtig, daß Say nicht nur der Popularisator der Smithschen Theorie ist, sondern daß er neue „Gedanken hinzutat"! Von Say stammt die seither immer wieder in den verschiedensten Variationen von den bürgerlichen Ökonomen breitgewalzte und dabei schon von Natur so unsagbar platte Lehre von den drei „Produktionsfaktoren": Natur, Kapital und Arbeit — als den drei „Einkommensquellen". Diese drei Faktoren stellen nach Say die „produktiven Dienste" bei der Gütererzeugung bereit. Von Say stammt auch die nach ihm allgemein übernommene Einteilung des Stoffes der politischen Ökonomie in die Lehre von der Produktion, Distribution und Konsumtion der Güter. Say meint, daß die Eigentümer der Produktionsfaktoren für die geleisteten Dienste eine Vergütung verlangen können, da die „Produktionsfaktoren" sich im Eigentum befinden. Der Unternehmer kaufe die „produktiven Dienste" zu ihren Preisen: Arbeitslohn, Kapitalzins und Bodenpacht — am Markte von ihren Eigentümern, die die produktiven Dienste der Produktionsfaktoren anbieten. Der Preis der produzierten Güter setzt sich also aus den Preisen der Produktionsfaktoren zusammen. Das sind „Gedanken", die Say zur „Entwicklung" der politischen Ökonomie beisteuerte und für die er von den bürgerlichen Dogmenhistorikern als „Klassiker" gefeiert wird. „Unter denjenigen Forschern, die außer den drei großen Theoretikern Smith, Ricardo und John Stuart Mill zur Ausgestaltung der klassischen Lehre beigetragen haben, muß an erster Stelle der Franzose J . B. S a y . . . genannt werden", schreibt Gerhard Stavenhagen in seiner „Geschichte der Wirtschaftstheorie". 1 ) Wodurch also hat Say die klassische bürgerliche Ökonomie „ausgestaltet"? Der erste Beitrag zur „Ausgestaltung der klassischen Lehre" lag auf dem Gebiet der Werttheorie. Say „war nicht beeindruckt von der Werttheorie", meint Eduard Heimann, „möglicherweise, weil er ihre revolutionären Auswirkungen argwöhnte". 2 ) Das ist bezeichnend: nicht, weil er die Werttheorie von Smith und Ricardo für einseitig hielt, war er von ihr „nicht beeinflußt", sondern weil er ihre revolutionären Konsequenzen „argwöhnte", die j a auch Marx tatsächlich zog. Say wandte sich dabei auch — konsequent — von der gefährlichen klassischen Werttheorie ab und wandte sich der sogenannten „Nutzwerttheorie" zu. Denn die „Nutzwerttheorie" hat keine revolutionären, dafür aber apologetische Konsequenzen. Wenn der „Nutzen" den Wert bestimmt, meint Say, dann müsse man alle drei Produktionsfaktoren als „produktiv" ansehen. Sie werden ihrem „Nutzen" entsprechend „entlohnt", und der Unternehmer, der die Dienste der drei Produktionsfaktoren auf dem Markt kauft, erhalte als Profit den Überschuß, der über den Zins für das Kapital hinausgeht. t

») Göttingen, 1951, S. 41. ) Heimann, a- a. O., S. 128.

2

343

Der zweite — ebenso „konsequent" apologetische — Beitrag von Say ist seine sogenannte Markttheorie, die Theorie der Absatzwege. Nach seiner Auffassung ist eine allgemeine Überproduktion in einem System ohne Eingriffe von außen nicht möglich. Da jeder Verkauf einer Ware zugleich ein Kauf sei, rufe jede Nachfrage ein Angebot hervor und erzeuge das Angebot selbst eine Nachfrage. Zwar können Mißverhältnisse eintreten zwischen Angebot und Nachfrage, doch müßten sich diese wieder ausgleichen, ohne daß es zu einer allgemeinen Krise hierdurch käme. Diese ebenfalls trotz ihrer Plattheit immer noch breiter gewalzte „Theorie" der Absatzwege von Say bildet, wie Salin ausdrücklich feststellt, „einen festen Bestand jeder Konjunktur- und Krisenlehre, ebenso wie jeder Kreislauftheorie" . . . der bürgerlichen Ökonomie, haben wir hinzuzufügen. Denn so fragwürdig die Behauptung, daß „kein Angebot ohne entsprechende Nachfrage bestehe", sei, meint Salin, so sei doch „die Erklärung der Krisen aus einer allgemeinen Überproduktion bei richtiger Würdigung der Sayschen Argumente nicht mehr möglich". 1 ) In der Tat: auf die „richtige" Würdigung kommt es an! Die große Industrie ist da, und das „natürliche" Wirtschaftssystem ist geboren. Nun wird es Zeit, daß als Regulator der „stumme Zwang" der ökonomischen Verhältnisse seine Herrschaft antritt. Die klassischen Ökonomen zeigten der Welt das System, das ohne staatliches Eingreifen leben und gedeihen kann. Es ist die beste aller Welten. Da es „unmöglich wäre, zu sagen, mit welchem neuen Einfall dieser komische ,Prinz der Wissenschaft' — wie die Franzosen Say nach Marx bezeichneten — die politische Ökonomie bereichert hätte — sein Verdienst bestand vielmehr in der Unparteilichkeit, womit er seine Zeitgenossen Malthus, Sismondi und Ricardo gleichmäßig mißverstand •—, haben seine kontinentalen Bewunderer ihn als Heber jenes Schatzes vom metaphysischen Gleichgewicht der Käufe und Verkäufe ausposaunt", schreibt Marx. 2 ) Die „Leistung" Says bestand einzig darin, den Übergang zur Vulgärökonomie zu bilden und Ansatzpunkte auszuarbeiten, einerseits zur Verflachung der klassischen Ökonomie in Produktionskostentheorie und Betriebswirtschaftslehre, andererseits zur Entstehung der sogenannten „Grenznutzentheorie", dem System der „wissenschaftlichen" Apologetik, dem apologetischen System des zum Untergang reifen Kapitalismus. Marx charakterisiert in unübertrefflicher Weise diesen „Klassiker" der bürgerlichen Ökonomie, indem er von dem „faden Say", diesem „Jammermenschen", spricht 3 ), der „Geschäfte mit Smith machte, bloß daß der wenigstens das Verdienst hatte, dessen Gedanken in eine gewisse formelle Ordnung ') Salin, a. a. O., S. 107. ) Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, a. a. O., S. 99 u. 183. 3 ) Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. II/2, S. 264. 2

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zu bringen, und hin und wieder sich, außer seinen Mißverständnissen, auch theoretische Skrupel erlaubt". 1 ) Say unterscheide sich von den ihm nachfolgenden Vulgärökonomen dadurch, meint Marx, daß er „den Stoff noch nicht ganz bearbeitet findet, also noch selbst mehr oder minder an der Lösung der ökonomischen Probleme vom Standpunkt der Ökonomie mitarbeitet". 2 ) Ist es ein Wunder, daß Say und dessen noch flachere Nachfolger sowie — der noch reaktionärer und barbarischer gemachte — Malthus, wie Georg Lukacs feststellt, für die moderne bürgerliche Ökonomie die Klassik repräsentieren? 3 )

c) Robert Torrens (1780—1864) Torrens versuchte die Arbeitswerttheorie, wie sie Ricardo entwickelt hatte, mit dem Gesetz der Durchschnittsprofitrate zu vereinbaren. Zwei Punkte seien charakteristisch für die „Methode der ökonomischen Apologetik", wie sie auch bei Torrens erscheint, stellt Marx fest. „Erstens die Identifizierung von Warenzirkulation und unmittelbarem Produktionsaustausch durch einfache Abstraktion von ihren Unterschieden. Zweitens der Versuch, die Widersprüche des kapitalistischen Produktionsprozesses wegzuleugnen, indem man die Verhältnisse seiner Produktionsagenten in die einfachen Beziehungen auflöst, die aus der Warenzirkulation entspringen. Warenproduktion und Warenzirkulation sind aber Phänomene, die der verschiedensten Produktionsweise angehören, wenn auch in verschiedenem Umfange und Tragweite. Man weiß also noch nichts von der differentia specifica (dem kennzeichnenden Unterschied) dieser Produktionsweisen und kann sie daher auch nicht beurteilen, wenn man nur die ihnen gemeinschaftlichen, abstrakten Kategorien der Warenzirkulation kennt." 4 ) Torrens geht völlig von dem Phänomen der sinnlichen Wahrnehmung aus. Er bleibt bereits beim Sinnlich-Konkreten stehen, ohne Versuch, durch Analyse zum Wesen und vom Wesen zum Geistig-Konkreten, zum wissenschaftlichen System zu kommen. Er registriert die Erscheinung und spricht sie aus, ohne nach ihrem Gesetz zu forschen. Er unterstellt eine „herkömmliche Profitrate", ohne zu zeigen, woher sie kommt, „ohne auch nur zu ahnen, daß diese gezeigt werden müsse". 5 ) Torrens fällt daher bereits hinter Ricardo zurück! Er erforscht nicht nur das Gesetz der Erscheinung nicht, er leugnet es, gestützt auf die Ricardoschen Ausnahmen. 6 ) Torrens kehrt, wie Marx feststellt, zu A. Smith zurück, „der ) 3) 4) 5) 6) 2

Ebd., Bd. III, S. 206. Ebd., S. 573/574. Lukacs, a. a. O., S. 619. Kapital, Bd. I, S. 119, Note 73. A. a. O., S. 77/78. Ebd., S. 80.

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annahm, daß zwar in den ursprünglichen Zuständen der Gesellschaft' der Wert der Ware durch die in ihr enthaltene Arbeitszeit bestimmt werde, nicht aber, sobald sich Kapital und Grundeigentum gebildet hat". 1 ) Das Wertgesetz ebenso wie der Begriff der Ware als allgemeine Form des Arbeitsproduktes sei — wie Marx feststellt — aus der kapitalistischen Warenproduktion abstrahiert, solle aber gerade für sie nicht gelten. 2 ) Torrens kommt dagegen zu der „merkantilistischen Vorstellung des durch Veräußerung erzielten Profites" zurück. 8 ) Was bei Torrens schließlich herauskommt, ist eine bei Smith ebenfalls im Keime schon vorhandene Produktionskostentheorie ohne wissenschaftlichen Charakter. A. Smith hatte auf Grund seiner Beobachtung der Konkurrenz die Tatsache registriert, daß Kapitalien von gleicher Größe im Durchschnitt den gleichen Profit liefern. Er machte sich über den Zusammenhang dieser Tatsache mit der von ihm aufgestellten Werttheorie „keine Gewissensskrupel" •— wie Marx feststellt —, um so weniger, „als er neben seiner sozusagen esoterischen Theorie noch verschiedene andere aufgestellt hatte und nach Belieben sich an die eine oder andere halten konnte". 4 ) Die einzige Reflexion, zu der diese von ihm konfrontierte Tatsache Smith veranlaßt habe — meint Marx — sei eine Polemik gegen die Ansicht, die den Profit in einen Lohn für die Arbeit der Überwachung und Leitung auflösen wolle. 5 ) Ricardo identifizierte — von einigen wenigen und nur zufälligen Bemerkungen abgesehen — im Prinzip den Profit unmittelbar mit dem Mehrwert. Aber nicht, weil sie über ihrem Wert, sondern weil sie zu ihrem Wert verbraucht werden, verkaufe sich die Ware bei Ricardo mit Profit! Ricardo konstatiert aber auch die Tatsache, daß gleich große Kapitalien nicht immer oder auch nur in der Regel von gleicher organischer Zusammensetzung sind. Die Bestimmung der gleichen Profitrate für gleich große Kapitalien verschiedener organischer Zusamensetzung widerspricht aber dem Wertgesetz oder bildet — wie Ricardo meint — eine Ausnahme vom Wertgesetz. Malthus bemerkte hierzu richtig, daß mit der Entwicklung der Industrie die Regel die Ausnahme und die Ausnahme die Regel werde. 6 ) Torrens geht von der Konstatierung Ricardos aus, aber — wie Marx bemerkt — „keineswegs, um das Problem zu lösen, sondern um die Erscheinung als das Gesetz der E r scheinung auszusprechen". 7 ) ') Ebd. Ebd. 3) Ebd., S. 84. 4) Theorien über den Mehrwert, III, S. 73. 5) Ebd. 6) Ebd., S. 26. 7) Ebd., S. 76/77.

2)

346

d) James Mill (1773—1836) James Mill war neben Smith, Ricardo und Malthus einer der einflußreichsten und weitwirkenden bürgerlichen Ökonomen der sogenannten „klassischen Periode". Er war Historiker, Philosoph und Ökonom. Mill war der erste, der — wie Marx schreibt — „Ricardos Theorie in systematischer Form darstellte, wenn auch nur in ziemlich abstrakten Umrissen".') Mit seinem Versuch, die Widersprüche der Ricardoschen Theorie wegzuerklären, verwickelte er sich selbst in Widersprüche und stellt mit seinem Versuch, sie zu lösen, „zugleich die beginnende Auflösung der Theorie dar, die er dogmatisch vertritt".' 2 ) Da die immanenten Widersprüche der Theorie, wie wir gesehen haben, bei Ricardo nicht im System aufgehoben waren, so mußte diese „formell logische" Darstellung diese Widersprüche besonders klar hervortreten lassen. Daher beginnt mit James Mill, wie Marx feststellt, „die Auflösung der Ricardoschen Schule". 3 ) Bei James Mill scheidet sich bereits das Vulgärelement, der Empirismus, von der Theorie und vervollständigt sich als Vulgärsystem: abstrakte und formale Theorie des SinnlichKonkreten. Damit beginnt auch die dogmatische Ökonomie und die Epoche der Dogmengeschichte f ü r die bürgerliche Ökonomie. Marx formuliert in seiner Kritik James Mills in klassischer Weise das Wesen des Dogmatismus — im Gegensatz zur lebendigen, d. h. dialektischen Theorie. „Bei dem Meister entwickelt sich das Neue und Bedeutende mitten im ,Dünger' der Widersprüche", schreibt Marx, „er arbeitet das Gesetz gewaltsam aus widersprechenden Erscheinungen heraus. Die Widersprüche selbst, die zugrunde liegen, zeugen von dem Reichtum der lebendigen Unterlage, aus der die Theorie sich herauswindet." 4 ) Die „Meister" der bürgerlichen Ökonomie — Smith und Ricardo — gingen von der lebendigen Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise aus. Dabei machte es den „Meistern" nichts aus, Widersprüche auszusprechen, waren es doch keine Widersprüche der Theorie, sondern in der Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise vorhandene Widersprüche. Bei allen Schülern sei es anders, schreibt Marx. Ihr Rohstoff sei „nicht mehr die Wirklichkeit", heißt es, „sondern die neue theoretische Form, wozu der Meister sie sublimiert" habe. Teils sei es „der theoretische Widerspruch des Gegners der neuen Theorie", teils sei es „das oft paradoxe Verhältnis dieser Theorie zu der Realität", die den Schüler des Meisters zu dem Versuch anspornen, „die ersten — die Gegner also — zu widerlegen, das letztere Ebd., S. 94. ) Ebd. 3 ) Ebd. 4 ) Ebd. 2

347

— die Realität also — wegzuerklären". 1 ) Bei diesem Versuch verwickele er sich selbst in Widersprüche und stelle mit seinem Versuch, sie zu lösen, zugleich die beginnende Auflösung der Theorie dar, „die er dogmatisch vertritt". 2 ) Die Schüler fassen die Widersprüche des Meisters als Widersprüche der Theorie auf. Weil sie von der Theorie des Meisters ausgehen, diese als Stoff ihrer Forschung, als Dogmensammlung und daher auch als Gegenstand der „Dogmengeschichte" auffassen, erfassen sie die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr. Sie können diese vielen Widersprüche daher auch nicht mehr „lösen", d. h. sie im theoretischen System erklären. Sie systematisieren den Stoff seiner Forschung, die Dogmen des Meisters. Das zeigt sich bei James Mill! Mill wollte einerseits die bürgerliche Produktion als absolute Form der Produktion darstellen. Er suchte daher zu beweisen, „daß ihre wirklichen Widersprüche nur scheinbar sind". 8 ) Mill suchte andererseits die Ricardosche Theorie „als die absolute theoretische Form dieser Produktionsweise darzustellen und die teils von anderen geltend gemachten, teils ihm selbst sich aufdrängenden theoretischen Widersprüche ebenfalls wegzubeweisen". 4 ) Für seine Art ist das bezeichnend, was er über den Arbeitslohn schreibt: „Statt zu warten, bis die Produkte vollendet sind und ihr Wert realisiert ist, hat man es für die Arbeiter bequemer gefunden, ihnen ihren Teil im Vorschuß auszuzahlen. Die Form, worunter man passend gefunden, daß sie ihn erhielten, ist die des Arbeitslohnes. Wenn der Anteil am Produkt, welcher dem Arbeiter unter der Form des Arbeitslohnes zukommt, ganz von ihm erhalten ist, gehört dieses Produkt ausschließlich dem Kapitalisten, weil der faktisch den Anteil des Arbeiters gekauft und ihm denselben als Vorschuß gezahlt hat." 5 ) Es handelt sich also nach James Mill hier — bei der Klassenteilung zwischen Lohnarbeiter und Kapitalisten — um Zweckmäßigkeitsverhältnisse. „Statt zu warten" . . . „hat man es bequemer" gefunden! Daß hierbei der Profit für den Kapitalisten herausspringt, das ist selbstverständlich ein purer Zufall — genauso zufällig, wie in der modernen bürgerlichen Ökonomie im sogenannten „Gleichgewicht" der Profit mit in die „Kosten" hineingerät. Hier wie dort reine „Zweckmäßigkeitsgründe"! >) 2) 3) 4) r>) 348

Ebd., S. 94. Ebd., S. 94. Ebd. Ebd. Zitiert bei Marx, ebd., S. 100.

Das heißt — mit anderen Worten — d a ß Mill das Klassenverhältnis, die Scheidung zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter, als eine Sache der Bequemlichkeit — selbstverständlich der Kapitalisten, für die Arbeiter spricht er nicht •—• hinstellt. Es sei höchst charakteristisch für Mill, schreibt Marx, „daß — wie ihm das Geld bloß ein für die Bequemlichkeit erfundenes Auskunftmittel, so das Kapitalverhältnis selbst für die Bequemlichkeit erfunden ist". 1 ) Durch diese Auffassung solle die spezifische Schwierigkeit des Ricardoschen Systems umgangen werden, das den Arbeiter direkt seine Arbeit, nicht seine Arbeitskraft verkaufen lasse, die Schwierigkeit, warum das Quantum realisierter Arbeit, das der Arbeiter als Lohn empfängt, nicht gleich dem Quantum unmittelbarer Arbeit ist, das er im Austausch für den Arbeitslohn dem Kapitalisten gibt! „Wodurch kommt es, daß das Gesetz der Werte sich nicht in dem größten aller Austausche, der Grundlage der kapitalistischen Produktion, bewährt, dem Austausch zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter?" fragt Marx. 2 ) Mill kann allerdings nicht sehen, daß das Wertgesetz auch dem Austausch zwischen den Klassen der Kapitalisten und der Lohnarbeiter zugrunde liegt, weil er ebensowenig wie Ricardo zwischen der Arbeitskraft und ihrer Funktion unterscheidet. Statt dessen löst er die Schwierigkeit dadurch, „daß er die Transaktion zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter, die den Gegensatz von realisierter und unmittelbarer Arbeit einschließt, in die gewöhnliche Transaktion von Besitzern realisierter Arbeit, von Warenbesitzern, umdichtet".3) Während Torrens das Wertgesetz wieder aufgab, weil es nicht unmittelbar, sondern mittelbar über verschiedene Vermittlungsglieder im Kapitalismus wirkt, gibt James Mill es wieder auf, weil er den Austausch zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern als einfachen Warenaustausch, als Austausch der Produkte einfacher Warenproduzenten auffaßt. Das aber bedeutet, daß der Kapitalist, um Profit zu machen, die Ware, die er vom Lohnarbeiter kauft, unter ihrem Wert bezahlen muß, „womit die ganze Werttheorie über den Haufen geworfen ist." 4 ) Der Versuch Mills, einen Ricardoschen Widerspruch zu lösen, hebt in der Tat — wie Marx schreibt — „die ganze Basis des Systems auf". 6 ) Bei Mill fände indes — stellt Marx fest — „in gewisser Weise auch noch ein Fortschritt der Ricardoschen Ansicht über die Schranken hinaus statt, worin Ricardo sie darstellt". 6 ) Mill habe „noch dasselbe geschichtliche Interesse, das Ricardo hatte — und er zieht rücksichtsloser die praktischen Konsequenzen der Theorie", schreibt

2) 3) 4) 5) e)

Ebd. Ebd., S. 101. Ebd. Ebd., S. 104. Ebd. Ebd., S. 95. 349

Marx. 1 ) Er vertusche den Gegensatz von Kapital und Arbeit noch nicht. 2 ) Damit die Profitrate groß sei, müsse der Arbeitslohn relativ klein sein. „Es ist nötig, daß die Arbeitermasse Sklave ihrer Bedürfnisse und nicht Herr ihrer Zeit sei, damit sich die menschlichen (gesellschaftlichen) Fähigkeiten frei in den Klassen entwickeln können, denen diese Arbeiterklasse n u r als Unterlage dient." 3 ) James Mill schreibt daher: „Die menschliche Vervollkommnungsfähigkeit, oder das Vermögen, beständig von einer Stufe der Wissenschaft und des Glückes zu einer anderen, höheren fortzuschreiten, scheint größtenteils von einer Klasse Menschen abzuhängen, die Herren ihrer Zeit, das heißt, die reich genug sind, um aller Sorgen f ü r die Mittel, in einem gewissen Zustand von Genuß zu leben, überhoben zu sein. Durch diese Menschenklasse wird das Gebiet der Wissenschaft kultiviert und vergrößert; sie verbreiten Licht; ihre Kinder empfangen bessere Erziehung und bereiten sich vor, die wichtigsten und feinsten Funktionen der Gesellschaft auszuüben; sie werden Gesetzgeber, Richter, Verwalter, Lehrer, Erfinder in den Künsten, Leiter aller großen und nützlichen Arbeiten, worauf sich die Herrschaft der Mensehengattung über die Naturkräfte erstreckt." 4 ) Das heißt aber, daß „der Gewinn der Kapitalien sehr hoch sein muß, damit ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft in der Lage ist, die Vorteile zu genießen, die die Masse verschafft". 5 ) Es klingt zwar sehr brutal, ist aber sehr aufrichtig, wie Mill hier die Privilegien der herrschenden und ausbeutenden Klasse ausspricht — im Gegensatz zur späteren Ökonomie, die das gute Gewissen, das James Mill noch hatte, verloren hat. Wir werden diese Ökonomie besonders in der deutschen historischen Schule treffen! Mit James Mill beginnt in der bürgerlichen Ökonomie der Versuch, konstatiert Marx, „das, was nicht ist, als seiend darzustellen". 6 ) Das bedeutet, daß „der Widerspruch zwischen dem allgemeinen Gesetz und weiter entwickelten konkreten V e r h ä l t n i s s e n . . . hier nicht gelöst werden" solle „durch Auffindung von Mittelgliedern, sondern durch direkte Subsumtion und u n mittelbare Anpassung an das Abstrakte". 7 ) Durch eine solche Methode sei aber — wie Marx hinzufügt — „keine Lösung in der Sache, sondern nur ein spezifisches Wegräsonieren der Schwierigkeit möglich, also nur Scholastik". 8 ) Diese laufe darauf hinaus, da „dies durch eine sprachliche Fiktion bewirkt >) ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 7 ) 8 ) 2

350

Ebd. Ebd., S. 111. Ebd. Zitiert bei Marx, ebd., S. 111/112. Ebd. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 97/98.

werden" solle, „indem man die richtigen Namen der Dinge ändert". 1 ) Es handele sich also „in der Tat um Wortstreitigkeiten, weil reelle Widersprüche, die nicht reell gelöst worden sind, durch Phrasen gelöst werden sollen". 2 ) Marx hebt hervor, daß die Methode, die Widersprüche des Kapitalismus einfach hinwegzureden, die bei Mill nur erst im Keim auftreten, „die ganze Grundlage der Ricardoschen Theorie viel mehr aufgelöst hat, als alle Angriffe der Gregner . . .".8) Worauf läuft diese Methode im Grunde hinaus? „Wo das ökonomische Verhältnis — als auch die Kategorien, die es ausdrücken — Gegensätze einschließt, Widersprüche, und eben die Einheit von Widersprüchen ist", hebt sie „das Moment der Einheit der Gegensätze hervor und leugnet die Gegensätze." Die Einheit von Gegensätzen wird also zur unmittelbaren Identität dieser Gegensätze gemacht. 4 ) Es sei immer dieselbe Logik, schreibt Marx, „wenn ein Verhältnis Gegensätze einschließt, so ist es also nicht nur Gegensatz, sondern Einheit von Gegensätzen". Bei Mill aber ist es Einheit ohne Gegensatz. „Diese ist Mills Logik, wodurch er .Widersprüche' aufhebt." 5 ) Marx hat hier ein Prinzip ausgesprochen, das wir bekanntlich auch bei Hegel finden: die Synthese als Versöhnung statt als Einheit der Gegensätze. Es ist natürlich kein Zufall, daß bei Hegel dieses Versöhnungsprinzip a u f tritt in dem Bestreben, die revolutionären Konsequenzen seiner Dialektik mit der reaktionären Wirklichkeit des preußischen Staates zu vereinen. So tritt auch bei dem Nachfolger das Bestreben auf, die revolutionären Konsequenzen zu „verneinen", d. h. aber zu versöhnen mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Es ist klar, daß dieses „Versöhnungsprinzip" mit der Natur der Dialektik nichts zu tun hat!

e) John Ramsay MacCulloch (1789—1864) MacCulloch ist — wie Marx schreibt — „der Vulgarisator der Ricardoschen Ökonomie und zugleich das klägliche Bild ihrer Auflösung". 6 ) Er war aber „Vulgarisator nicht nur von Ricardo, sondern auch von James Mill".7) MacCulloch sei „in allem Vulgärökonom, Apologet des Bestehenden", schreibt Marx. „Das einzige, was ihm Angst macht, ins Komische getrieben, ') ) ) 4 ) 6 ) 6 ) 7 ) 2

3

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

S. 98. S. 98. S. 99. S. 114/115. S. 201.

351

ist die Tendenz des Profits zum Fall." 1 ) Mit der Lage der Arbeiter sei er völlig zufrieden, „überhaupt mit allen Widersprüchen der bürgerlichen Ökonomie, die auf der Arbeiterklasse lasten". 2 ) Seine „ganze zärtliche Besorgnis" gelte den „armen Kapitalisten, angesichts der Tendenz der Profitrate zu fallen". 3 ) MacCulloch beschäftigte sich ebenfalls mit dem von Ricardo entdeckten Widerspruch gegen das Wertgesetz durch den Austausch toter gegen lebendige Arbeit. Er stellt sich dabei auf den Standpunkt von Malthus, wonach der Wert der Ware durch das Quantum Arbeit bestimmt ist, das sie tauscht, und das immer größer sein muß als das in ihr enthaltene. Aber — w i e Marx hierzu bemerkt — bei Malthus wird dieses „als das, was es ist, als Gegensatz zu Ricardo ausgesprochen", während MacCulloch „diesen Gegensatz adoptiert, nachdem er den Ricardoschen Ausdruck mit einer scheinbaren Konsequenz adoptiert hat, d. h. mit der Konsequenz der Gedankenlosigkeit, einer Konsequenz, die den Sinn der Ricardoschen Theorie auflöst. Den innersten K e r n der Ricardoschen Lehre — wie Profit realisiert wird, weil die Waren sich zu ihrem Werte austauschen — versteht Culloch daher nicht und läßt ihn fahren." 4 ) Der Profit entsteht durch Aufschlag auf den Wert der Waren beim, Verkauf, d. h. durch Abzug vom Wert der Waren beim Kauf — „und damit sind wir wieder bei den Merkantilisten angelangt". 5 ) Bei Malthus wird diese Konsequenz bewußt gezogen, während sie MacCulloch als die Konsequenz des Ricardoschen Systems betrachtet. 6 ) Ricardo hatte auch — wie Marx bemerkt — die beim Austausch der Waren von Kapitalien verschiedener organischer Zusammensetzung, auf der Grundlage des Wertgesetzes sich ergebenden Schwierigkeiten — wenn auch nicht in ihrer allgemeinen Form — aufgefunden und konstatiert als Ausnahme vom Wertgesetz. Malthus habe mit diesen Ausnahmen „die Regel über den Haufen geworfen", da die Ausnahme in der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise eben die Regel bildet. 7 ) Torrens hatte das Problem wenigstens soweit ausgesprochen, als er sagte, „daß gleich große Kapitalien ungleiche Massen Arbeit in Bewegung setzen, dennoch Waren von gleichen ,Werten' produzieren", so daß der Wert nicht durch die Arbeit bestimmt sei.8) Mill hatte die von Ricardo konstatierten Ausnahmen als Ausnahmen angenommen, ohne daß sie ihm im ganzen Skrupel machten.9) MacCulloch aber „löst" diesen *) 2) 3) 4) 5) 6) 7) e) 9) 352

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 205/206. Ebd., S. 206. Ebd. Ebd., S. 123. Ebd. Ebd.

Widerspruch — und zwar „löst" er ihn in der Weise, daß er alle Waren in Arbeiter verwandelt und den Profit als Lohn für akkumulierte Arbeit betrachtet. Wir finden also bei MacCulloch im Keime die sogenannte Produktivitätstheorie des Zinses, die darauf hinausläuft, daß das Kapital, weil es auch Arbeit ist, tote Arbeit, ebenfalls produziert, W e r t produziert, nämlich den Zins, w i e die Arbeit den Lohn und der Boden die Rente produziert. Mit anderen Worten: „Arbeit kann mit Recht als eine A r t Aktion oder Operation definiert werden, ob sie nun von Menschen verrichtet wird, von niederen Tieren, Maschinen oder Naturkräften, die dahin streben, ein gewisses Resultat herbeizuführen", schreibt MacCulloch. 1 ) A l l e Waren, die in den Produktionsprozeß eingehen, enthalten nicht nur ihren Wert, sondern sie schaffen neuen Wert dadurch, daß sie „arbeiten", nicht bloß vergegenständlichte, tote Arbeit sind. „Damit ist natürlich alle Schwierigkeit beseitigt", schreibt Marx ironisch hierzu. 2 ) Aus diesem Unsinn folgt, daß den Arbeitsinstrumenten usw., außer ihrem Wert, den sie als „akkumulierte Arbeit" besitzen, auch noch Arbeitslohn für ihre „Operationen" oder „Aktionen" gezahlt werden muß. „Diese Löhne der Waren werden natürlich von den Kapitalisten eingesteckt, sind ,Löhne für akkumulierte Arbeit' alias Profit, und damit ist nachgewiesen, daß der Profit als Profit aus Kapitalien, mögen sie viel oder wenig Arbeit in Bewegung setzen, unmittelbar folgt aus der Bestimmung des Wertes durch die Arbeitszeit." 3 ) Man habe zu sagen gewagt, schreibt Marx, „daß der elende Mac den Ricardo auf die Spitze getrieben habe, er, der in seinem gedankenlosen Streben die Ricardoschen Theorien eklektisch mit ihren Gegensätzen zu versöhnen sucht, ihr Prinzip und das aller Ökonomie, die Arbeit selbst, als menschliche Tätigkeit und gesellschaftliche Tätigkeit, mit der physischen usw. Aktion identifiziert, die die Waren als Gebrauchswert, als Dinge haben! Er, der den Begriff der Arbeit selbst verliert". 4 ) Der Profit ist für MacCulloch nur ein anderer Name für den Arbeitslohn, der den Waren für die Dienste gezahlt wird, die sie als Gebrauchswerte in der Produktion leisten. 6 ) „Und diese völlige Auflösung des Ricardoschen Systems, ein Mischmasch — eine Auflösung, die sich dabei spreizt, die konsequente Ausführung zu sein — hat der Mob, namentlich der kontinentale Mob (darunter fehlt Herr Roscher natürlich nicht), als zu weit getriebene, bis zur Spitze getriebene Konsequenz des Ricardoschen Systems adoptiert, dem Herrn Culloch so glaubend, daß ') 2) 3) 4) 5)

Zitiert bei Marx, ebd., S. 216. Ebd. Ebd., S. 212. Ebd., S. 219. Ebd., S. 223.

23 Behrens

353

die Ricardosche A r t ,zu räuspern und zu spucken', w o r u n t e r er seinen hilf-, gedanken- und gewissenlosen Eklektizismus versteckt, in der Tat ein wissenschaftlicher Versuch sei, dieses System konsequent durchzuführen." 1 ) MacCulloch sei ganz einfach ein Mann, schließt Marx, „der mit der Ricardoschen Ökonomie Geschäfte machen wollte". Und dies sei, fügt Marx hinzu — „ihm auch in bewunderungswürdiger Weise gelungen".2) Ein zeitgenössischer Kritiker, den Marx zitiert, schreibt über MacCulloch: „Die Artikel des H e r r n MacCulloch sind dem Himmelskörper so unähnlich als n u r möglich, aber in einer Beziehung ähneln sie diesen erhabenen Leuchten — sie haben bestimmte Zeiten der Wiederkehr." 3 )

f) William Nassau Senior (1790—1864) Senior „bereicherte" die bürgerliche Ökonomie — ähnlich wie Say — u m eine neue Variante: er ist der „Schöpfer" der sogenannten „Abstinenztheorie". Der Zins, die „Entlohnung" des „Produktionsfaktors Kapital", ist nach Say eine Vergütung f ü r die Enthaltsamkeit der Kapitalisten, eine Vergütung f ü r den Genußaufschub, den die Kapitalisten dadurch auf sich nehmen, daß sie ihr Kapital nicht selbst verzehren. Diese Enthaltsamkeit der Kapitalisten, ihr Genußaufschub, ist nach Senior ein Opfer, das dem Arbeitsaufwand gleichgestellt und daher entlohnt werden muß. Nach dem „wegen seiner ökonomischen Wissenschaft und seines schönen Stils" 4 ) unter den Fabrikanten b e r ü h m t e n Senior können bei der Produktion Arbeit und N a t u r k r ä f t e n u r w i r k s a m werden, w e n n sie durch ein drittes Element, durch die Enthaltsamkeit der Kapitalisten, vom unmittelbaren Verbrauch und damit durch die Zurverfügungstellung von Mitteln f ü r die Produktion unterstützt werden. Dieses „Opfer" wird durch den Zins belohnt. Das Element der Enthaltsamkeit ist nach Senior ein Bestandteil der Produktionskosten, die den Wert bestimmen. Dieser m u ß groß genug sein, u m neben der Arbeit auch die Enthaltsamkeit der Kapitalisten entschädigen, u m sie damit sicherstellen zu können. So ist nach Senior der Mehrwert erklärt. „Der Vulgärökonom h a t nie die einfache Reflexion angestellt", meint Marx zu dieser ,Theorie', „daß jede menschliche Handlung als .Enthaltsamkeit' von ihrem Gegenteil a u f gefaßt werden kann. Essen ist Enthaltsamkeit vom Fasten, Gehen E n t h a l t samkeit vom Stehen, Arbeiten Enthaltsamkeit vom Faulenzen, Faulenzen Enthaltsamkeit vom Arbeiten etc." 6 )

2

) 3 ) 4 ) 5 ) 354

Ebd., S. 206. Ebd., S. 206. Ebd., S. 224. Marx, Kapital, Bd. I, S. 232. Ebd., S. 626, Fußnote 41, Zusatz zur 2. Auflage.

g) Frédéric Bastiat (1801—1850) Bastiat, den Marx als den „gelungensten Vertreter vulgärökonomischer Apologetik" bezeichnet, 1 ) wird von bürgerlichen Dogmenhistorikern bezeichnenderweise als „Vollender der Klassik in Frankreich" charakterisiert. 2 ) In seinem Werk „Les harmonies économiques", 1850, will er beweisen, daß die Gesetze der sozialen Welt harmonisch sind: „sie streben in allen Richtungen nach einer Vollendung des Menschengeschlechtes". Dieses harmonische Zusammenwirken zeigt sich nach Bastiat vor allem in den solidarischen Interessen von Kapitalisten und Arbeitern. Damit ist die wissenschaftliche Substanz der Theorie von Smith und Ricardo verflüchtigt, die Vulgärökonomie vollendet. h) John Stuart Mill (1806—1873) John Stuart Mill war der Sohn von James Mill. Er war Freihändler, Eklektiker und Epigone der klassischen Ökonomie. Bei ihm kommt die endgültige Auflösung der Ricardoschen Schule zum Ausdruck, indem er einen Kompromiß zwischen der klassischen Ökonomie und den sozialistischen Ansprüchen des Proletariats versucht. Kein Autor in der Geschichte der politischen Ökonomie sei „so überschwenglich gefeiert worden —- selbst noch einige Zeit nach seinem Tode — wie John Stuart Mill", schreibt Eduard Heimann in seiner „Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen", aber auch sein Ruhm sei „so vollständig wieder verblichen". 3 ) Nicht als ob dieser Ruhm unverdient gewesen wäre, fügt Heimann hinzu, „aber Mill verdankt ihn mehr seiner Begabung f ü r glatte Formulierung, elegante Synthese und — vor allem — intelligentes und mitfühlendes Verstehen als der Originalität seiner Beiträge". 4 ) Dieses Urteil eines bürgerlichen Ökonomen der Gegenwart besteht ausnahmsweise zu Recht. Bevor Mill als politischer Ökonom berühmt wurde, war er bereits durch seine „Logik" und durch seine Aufsätze „über die Freiheit" und „über parlamentarische Regierung" bekannt geworden. John Stuart Mill, stark von den Lehren Benthams und Comtes beeinflußt, verdankt seinen Ruhm seinem „System der Logik". Als Ökonom knüpfte er an Smith und Ricardo an, dabei nach Vollständigkeit und Systematik strebend. In seinen 1848 erschienenen „Grundsätzen der politischen Ökonomie" wollte er ein vollständiges und systematisches Handbuch unter Zusammenfassung aller bisherigen Leistungen auf diesem Gebiete bieten. „Mill verkennt neben dem von anderen übermäßig betonten Grundsatz der freien Konkurrenz auch nicht die Notwendigkeit staatlichen Eingreifens unter Marx, Kapital, Bd. 1, S. 13. ) Vgl. Anton Tautscher, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, a. a. O., S. 82. 3 ) A. a. O., S. 141. 4 ) Ebd.

2

23*

355

gewissen Umständen", heißt es im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" in dem Artikel über „John Stuart Mill", er verteidige auch „die Interessen der arbeitenden Klassen in moralischer und materieller Hinsicht und gesteht selbst mancher sozialistischer Theorie eine gewisse Berechtigung zu, wie er denn unsere Eigentumsorganisation wesentlichen Reformen f ü r fähig hielt. Mit besonderem Eifer kämpfte er f ü r die soziale Befreiung des Weibes und das Stimmrecht der Frauen". 1 ) John Stuart Mill meinte, daß die Produktionsgesetze zwar „den Charakter physikalischer Wahrheiten" haben, die Gesetze der Verteilung dagegen nicht, „denn hier handelt es sich n u r um eine menschliche Einrichtung". Mill schlug daher die Konfiskation der Grundrente vor und war somit ein Vorläufer der Richtung des kleinbürgerlichen Sozialismus, die wir als „Bodenreformer" bezeichnen. Allerdings hatte bereits sein Vater, James Mill, diese Konsequenz aus der Ricardoschen Grundrententheorie gezogen, weil sie zeigte, daß die Rente ein f ü r die Produktion nicht benötigter Uberschuß sei. John Stuart Mill befürwortete ferner die Abschaffung von erblichem Besitz und die Einführung eines Systems von Genossenschaften auf der Grundlage von Kleineigentum. Wenn aber Eduard Heimann hieraus folgert, daß „ein solches P r o g r a m m . . . wirklich nicht von einem klassischen Nationalökonomen zu erwarten sei" und meint, „Mill sollte daher besser als Vorläufer des liberalen, antizentralistischen Sozialismus in die Geschichte eingehen", 2 ) so kennzeichnet er hiermit n u r die Begriffslosigkeit der modernen bürgerlichen Ökonomie. Solche Forderungen sind bezeichnend f ü r die kleinbürgerlichen Sozialisten, weil sie durchaus auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise bleiben und die bürgerlichen Produktionsverhältnisse nicht antasten. John Stuart Mill hat vor allem die sogenannte „Lohnfondstheorie" vollendet, als deren Begründer sein Vater, James Mill, gilt, die aber auch von Smith, Ricardo und Malthus vertreten wurde. Nach dieser „Theorie" kann der Lohn nie steigen, außer wenn der f ü r die Entlohnung der Arbeiter vorhandene Gesamtfonds vermehrt oder die Zahl der Arbeiter vermindert wird; der Lohn kann aber auch nicht fallen, außer wenn dieser Fonds vermindert wird oder die Zahl der Arbeiter sich vermehrt. Der Lohn ist also das Resultat einer Division des Lohnfonds durch die Zahl der Arbeiter. John Stuart Mill ist später von dieser „Theorie", die Ferdinand Lassalle in seiner „Theorie des ehernen Lohngesetzes" übernommen hat, allerdings wieder abgerückt. Smith hatte den Lohnfonds mit dem Gesamtkapital gleichgesetzt, während Malthus ihn gleichsetzte mit dem Unterhaltsfonds, der die Tendenz habe, hinter der Bevölkerungsvermehrung zurückzubleiben. Bei Ricardo war die Lohnfondstheorie ein Bestandteil seiner Theorie vom „natürlichen Lohn", nach der die Arbeiter auf die Dauer nur das Existenzminimum erhalten. Er >) A. a. O., Bd. VI, S. 708. ) Heimann, a. a. O., S. 145.

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356

begrenzte den Lohnfonds auf das umlaufende Kapital. John Stuart Mill definierte schließlich den Lohnfonds als nur umlaufendes Kapital, und nicht einmal das ganze, sondern den Teil, der unmittelbar zum Erwerb von Arbeit verwandt wird. Mit dieser Definition des Lohnfonds, als gleich dem als Lohn ausgezahlten Teil des Gesamtkapitals, ist selbstverständlich überhaupt nichts gesagt, und diese sogenannte Theorie hat n u r dann einen Sinn, wenn sie — wie bei Malthus und James Mill •— dahin ergänzt wird, daß das Kapital die Tendenz hat, sich langsamer als die Bevölkerung zu vermehren, so daß der Anteil des einzelnen Arbeiters am Lohnfonds notwendig immer kleiner wird. Die Lage der Arbeiterklasse verschlechtert sich daher aus natürlichen G r ü n den immer mehr. In diesem Sinne ist die Lohnfondstheorie eine wichtige Waffe der Bourgeoisie im Kampfe gegen die Arbeiterklasse gewesen, weil sie ihre Forderungen nach höheren Löhnen als unmöglich beweist. Die Lohnfondstheorie war daher auch seit je der Eckstein der bürgerlichen Apologetik. Ricardo kümmerte sich nie um den Ursprung des Mehrwertes, schreibt Marx. 1 ) Er habe ihn als eine der kapitalistischen Produktionsweisen inhärente Sache behandelt. Wo er von der Produktivität der Arbeit spreche, da suche er in ihr nicht die Ursache, die seine Größe bestimme. Seine Schule dagegen habe die Produktivkraft der Arbeit als die Ursache des Profits, also des Mehrwertes, proklamiert, und das sei der Fortschritt gegenüber dem Merkantilisten gewesen. Aber auch die Ricardosche Schule habe, wie Marx weiter schreibt, „das Problem bloß umgangen, nicht gelöst". 2 ) „In der Tat", schreibt Marx, „hatten diese bürgerlichen Ökonomen den richtigen Instinkt, es sei sehr gefährlich, die brennende Frage nach dem Ursprung des Mehrwertes tief zu ergründen." 3 ) Was solle man dazu sagen, f ü g t Marx hinzu, „wenn ein halbes Jahrhundert nach Ricardo Herr John Stuart Mill würdevoll seine Überlegenheit über die Merkantilisten konstatiert, indem er faule Ausflüchte der Verflacher Ricardos schlecht wiederholt?" 4 ) Trotz seiner „Logik" — John Stuart war bekanntlich der Verfasser einer „Logik" — komme Mill „nirgendwo auch nur solcher fehlerhaften Analyse seiner Vorgänger auf die Sprünge, welche selbst innerhalb des bürgerlichen Horizontes, vom reinen Fachstandpunkt aus, nach Berichtigung schreit". 5 ) Überall registriere er „mit schülermäßigem Dogmatismus die Gedankenwirren seiner Meister". 6 ) So fremd John Stuart Mill der Hegeische Widerspruch, „die Springquelle aller Dialektik", sei, „so heimisch ist er in platten Widersprüchen ".7) ') ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 7 ) 2

Kapital, Bd. I, S. 541. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 619, Note 31. Ebd. Ebd., S. 626, Note 41.

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i) Zusammenfassung Marx schreibt gelegentlich, daß er „nur zur Vermeidung von Mißverständnissen bemerkte", daß — „wenn Männer wie J o h n Stuart Mill usw. wegen des Widerspruchs ihrer altökonomischen Dogmen und ihrer modernen Tendenzen zu rügen sind — es durchaus unrecht wäre, sie mit dem Troß der vulgärökonomischen Apologeten zusammenzuwerfen". 1 ) Das ist eine sehr wichtige Bemerkung von Marx. In der Tat: So wie ein qualitativer Unterschied zwischen der klassischen bürgerlichen: Ökonomie u n d der nachklassischen bürgerlichen Ökonomie besteht, so besteht auch noch ein weiterer Unterschied zwischen den unmittelbar auf die Klassik folgenden Ökonomen u n d den bürgerlichen Ökonomen des Imperialismus und der allgemeinen Krise des Kapitalismus. In der Periode unmittelbar nach der Klassik zersetzt sich die bürgerliche Ökonomie erst als Wissenschaft und sie scheidet aus, erstens die Kritik und zweitens die Vulgärökonomie. Was bleibt, ist ein formales System inhaltloser Sätze. Die ganze Darstellung der Ricardoschen Schule zeige, wie Marx feststellt, daß sie sich in zwei P u n k t e n auflöst: erstens Austausch zwischen Kapital und Arbeit, dem Gesetz des Mehrwertes entsprechend; zweitens Bildung der allgemeinen Profitrate, Identifikation von Mehrwert und Profit, unverstandenes Verhältnis zwischen Wert u n d Produktionspreis. 2 ) Was als bürgerliche Ökonomie weiter existiert, das ist die empirischhistorische und die formal-theoretische Richtung. Beide sind — wie wir sehen — n u r besondere Erscheinungsweisen der vulgären Ökonomie.

4. Die klassische Schule in

Deutschland

Die Lehren von A d a m Smith fanden auch in Deutschland Eingang. Christian Jacob K r a u s (1753—1807) h a t zuerst in Deutsehland die Lehren von A d a m Smith vertreten. Er trat f ü r Freizügigkeit, f ü r die A u f h e b u n g der Feudallasten u n d der Leibeigenschaft sowie f ü r Handelsfreiheit ein. Andere Vertreter der Klassik in Deutschland w a r e n Gottlieb Hufeland (1760—1817), F. B. W. von H e r m a n n (1795—1868) und K. H. Rau (1792—1870), W. Ubbelohde (1794—1849). Doch ist die klassische bürgerliche Ökonomie in Deutschland aus geschichtlichen und gesellschaftlichen Gründen ein fremdes Gewächs, „eine ausländische Wissenschaft" geblieben, wie Marx es ausdrückt. 3 ) ') Kapital, Bd. I, S. 642, Note 65. ) Theorien über den Mehrwert, Bd. III, S. 280. 3 ) Kapital, Bd. I, S. 11. 2

358

Kennzeichnend ist die ethisch-historische, ja religiöse Grundeinstellung, die in Abhandlungen wie die „Geistlichen Gedanken" von Thoscher oder „Also sollten wir die Bibel lesen" von Ubbelohde zum Ausdruck kommt. 1 ) Erwähnt seien die von Thoscher als „Deutsch-russische Schule" bezeichneten Heinrich von Storch (1766—1835) und Ludwig Heinrich Jakob (1759—1827), die die Lehre der klassischen bürgerlichen Ökonomie in Rußland verbreiteten. Thoscher zählt hierzu auch Georg Graf Kanterin (1766—1845) und Theodor Bernhardi (1802—1885), die jedoch Gegner der wirtschaftspolitischen Anschauungen von Smith und Ricardo waren und Ansichten von Adam Müller und Friedrich List nahestanden. „Die politische Ökonomie bleibt in Deutschland bis zu dieser Stunde eine ausländische Wissenschaft", schrieb Marx im J a h r e 1873 im Nachwort zur 2. Auflage seines „Kapitals". 2 ) „Es f e h l t e . . . der lebendige Boden der politischen Ökonomie. Sie ward als fertige Ware importiert aus England und Frankreich; ihre deutschen Professoren blieben Schüler. Der theoretische Ausdruck einer fremden Wirklichkeit verwandelte sich unter ihrer Hand in eine Dogmensammlung, von ihnen gedeutet im Sinne der sie umgebenden kleinbürgerlichen Welt, also mißdeutet. Das nicht ganz unterdrückbare Gefühl wissenschaftlicher Ohnmacht und das unheimliche Gewissen, auf einem in der Tat fremdartigen Gebiet schulmeistern zu müssen, suchte man zu verstecken unter dem Punkt literaturhistorischer Gelehrsamkeit oder durch Beimischung fremden Stoffes, entlehnt den sogenannten Kameralwissenschaften, einem Mischmasch von Kenntnissen, deren Fegefeuer der hoffnungsvolle Kandidat deutscher Bürokratie zu bestehen hat." 3 ) Seit 1848 habe sich die kapitalistische Produktion in Deutschland zwar rasch entwickelt, fügte Marx hinzu, und treibe „heutzutage (1873, F. B.) bereits ihre Schwindelblüte". „Aber unseren Fachleuten blieb das Geschick gleich abhold. Solange sie politische Ökonomie unbefangen treiben konnten, fehlten die modernen ökonomischen Verhältnisse in der deutschen Wirklichkeit. Sobald diese Verhältnisse ins Leben traten, geschah es unter Umständen, welche ihr unbefangenes Studium innerhalb des bürgerlichen Gesichtskreises nicht länger zulassen. Soweit sie bürgerlich ist, d. h. die kapitalistische Ordnung statt als geschichtlich vorübergehende Entwicklungsstufe, umgekehrt als absolute und letzte Gestalt der gesellschaftlichen Produktion auffaßt, kann die politische Ökonomie nur Wissenschaft bleiben, solange der Klassenkampf latent bleibt, oder sich in n u r vereinzelten Erscheinungen offenbart." 4 ) In Deutschland sei also die kapitalistische Produktionsweise zur Reife gekommen, „nachdem ihr antagonistischer Charakter sich in Frankreich und Eng1 ) Vergl. Walter Braeuer, Handbuch zur Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Frankfurt a. M., 1952, S. 127. 2 ) Marx, a. a. O., S. 11. 3 ) Ebd. 4 ) Ebd., S. 11/12.

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larxd durch geschichtliche Kämpfe geräuschvoll offenbart hatte, während das deutsche Proletariat bereits ein viel entschiedeneres theoretisches Klassenbewußtsein besaß als die deutsche Bourgeoisie, sobald eine bürgerliche Wissenschaft der politischen Ökonomie hier möglich zu werden schien, war sie daher wieder unmöglich geworden".1) Heißt das, daß es in Deutschland keine bürgerliche Ökonomie gegeben hat? Natürlich heißt es das nicht! Das heißt nur, daß die bürgerliche Ökonomie in Deutschland nie eine wissenschaftliche Ökonomie gewesen ist. Sie konnte es noch nicht sein vor der Reife der kapitalistischen Produktionsweise. Sie konnte es nicht mehr sein nach ihrer Reife. Die bürgerliche Ökonomie war in Deutschland, seit sie Ausdruck deutscher Verhältnisse sein konnte, apologetische Ökonomie.

a) Die Neoklassiker in Deutschland Charakteristisch für den John Stuart Mill nachgemachten Versuch, „Unversöhnliches zu versöhnen", sind die Vertreter der sogenannten „neoklassischen Schule" in Deutschland, die die klassischen Lehren in einer Art vertreten, die sie ihres wissenschaftlichen Charakters völlig beraubte. Die sogenannten „Neoklassiker" Heinrich Dietzel (1857—1935) und F. J . von Neumann (1835—1919) versuchten nach der Reife der kapitalistischen Produktionsweise in Deutschland die Prinzipien der Klassiker anzuwenden. Dieser Versuch mußte deshalb zum Scheitern verurteilt sein, weil die „Neoklassiker" nicht einmal mehr die Probleme stellten, geschweige denn sie lösen konnten. Schon die unmittelbaren Nachfolger der Klassiker in England verleugneten die ökonomische Problemstellung und sanken zu Apologeten herab. Die deutschen „Neoklassiker" kannten aber nicht einmal die Problemstellung und waren von vornherein Apologeten des Kapitalismus. Dietzel lehnt die Auffassung der Klassiker und ihrer unmittelbaren Nachfolger ab, daß bei freier Konkurrenz das wirtschaftliche Selbstinteresse sich — von wenigen Ausnahmen abgesehen — in der Richtung der Interessen des Volksganzen auswirkt. Für Dietzel haben die Ergebnisse der Lehren der klassischen Ökonomie nur „theoretische" Bedeutung. Die Theorie soll zeigen, wie der Zustand der Volkswirtschaft unter den Verhältnissen der freien Konkurrenz sich gestaltet. Die Theorie, das wissenschaftliche System, ist nicht Ausdruck einer wirklichen Wirtschaft, spiegelt sie nicht wider, so daß sie völlig isoliert neben der Empirie, der Historik und Politik steht. Sache der Wirtschaftspolitik ist es z. B. nach Dietzel, die gesetzgeberischen Maßnahmen anzustreben, die zur Korrektur des Prinzips der freien Konkurrenz notwendig sind. Dietzel verwahrt sich ausdrücklich dagegen, daß die Sätze der Theorie die „volle Wirklichkeit" des Wirtschaftslebens zu erklären imstande seien. Sie ») Ebd., S. 13. 360

haben nach Dietzel nur hypothetische Geltung. Nach dem Vorbild von John Stuart Mili legt Dietzel seiner Theorie den „economical man" zugrunde. Motiv des Handelns sei allein das Streben nach Reichtum. Nach dem wirtschaftlichen Prinzip müssen die wirtschaftlichen Subjekte ihre Handlungen so gestalten, daß sie die wirtschaftlichen Zwecke — Erlangung wirtschaftlichen Vorteils, Verminderung wirtschaftlichen Nachteils — mit geringstmöglichem Aufwand wirtschaftlicher Mittel zu erreichen suchen. Auf dieser Grundlage, d. h. nach der Formalisierung der klassischen Theorie und der Ausscheidung aller empirisch-historischen Elemente, hat sich Dietzel in seiner Preis-, Lohn- und Rententheorie der klassischen bürgerlichen Ökonomie angeschlossen. Bezeichnend für diese „Übernahme" der klassischen bürgerlichen Ökonomie in Deutschland, für ihre Formalisierung durch Dietzel ist die Tatsache, daß er nicht mehr von politischer Ökonomie spricht, sondern seine Theorie „Sozialökonomik" nennt. Er teilt die „Sozialökonomik" in zwei Teile, in die „theoretische" und in die „praktische" Sozialökonomie ein. Die „theoretische Sozialökonomie" soll es mit den Tatsachen, die „praktische Sozialökonomie" mit dem Seinsollen des Wirtschaftslebens zu tun haben. Die „theoretische Sozialökonomie" teilt er weiter ein in die „Wirtschaftstheorie" und in die „Wirtschaftsgeschichte". Während für die „Wirtschaftstheorie" das „isolierende" Verfahren Geltung hat, sollen in den anderen Teilen der Sozialökonomie auch andere Methoden angewendet werden. Der Formalismus Dietzels kommt auch darin zum Ausdruck, daß er innerhalb des Teils der „theoretischen" Sozialökonomik, wo das „isolierende" Verfahren zur Anwendung gelangen soll, also in der eigentlichen „Wirtschaftstheorie", wieder zwei Teile: einen „allgemeinen" und einen „speziellen" Teil unterscheidet. Im „allgemeinen" Teil der Wirtschaftstheorie sollen die natürlichen Kategorien des Wirtschaftslebens dargelegt werden, d. h. solche „Bestände und Bewegungen", die ganz unabhängig von einer „Ordnung" des sozialen Lebens immer und überall existieren, wo gewirtschaftet wird. Im „speziellen Teil" der Wirtschaftstheorie sollen dagegen die „Bestände und Bewegungen" abgehandelt werden, die durch die Sonderart der sozialen Ordnung bedingt sind. Vermittels der „isolierenden Methode" sollen die wirtschaftlichen Sozialphänomene beschrieben und erklärt werden. Dietzel unterscheidet dabei erstens das Wesen solcher wirtschaftlichen Bestände wie Geld, Kredit, Kapital usw. und zweitens den Verlauf der wirtschaftlichen Vorgänge und Bewegungen, wie Lohn, Preis und Zins. Obwohl Dietzel einmal meinte, daß „das theoretische Lehrgebäude der Klassiker... einer starken Festung" gleiche, mit einigen noch nicht völlig ausgebauten, bezüglich mangelhaft angelegten „Außenwerken" und hinzufügte, „die Feinde können die Festung nicht einnehmen, wohl aber in diesen Außenwerken sich zeitweilig festsetzen, um schließlich wieder vertrieben zu 361

werden", ist Dietzel selbst nie in diese Festung eingedrungen! Das zeigt auch sein völliges Mißverstehen der Werttheorie, in der er zu einem Kompromiß zwischen objektiver und subjektiver Theorie gelangte. Neumann unterscheidet zweierlei Art wirtschaftlicher Gesetze, einmal die sogenannten „Entwicklungsgesetze" und dann die eigentlichen „Kausalgesetze". Für diese „kausalen Wirtschaftsgesetze", mit denen sich Neumann vorwiegend befaßt, gibt er fünf Merkmale an: 1. muß eine Wirkung bestimmter, insbesondere psychologischer Ursachen vorliegen; 2. muß es sich bei ihrer Wirkung u m eine Aufeinanderfolge von Erscheinungen handeln; 3. darf diese Aufeinanderfolge keine einmalige sein, sondern muß sich wiederholen; 4. dürfe sie sich nicht auf empirisch-fußbare, tatsächliche Dinge, sondern nur auf durch Abstraktion und Schluß aus dem Beobachteten zu erkennende beziehen; 5. soll es sich hierbei um besonders wichtige Erscheinungen wirtschaftlichen Charakters handeln. Ein volkswirtschaftliches Gesetz im kausalen Sinne ist nach Neumann „der Ausdruck f ü r eine aus bestimmten Ursachen als solchen sich im allgemeinen ergebende Wiederkehr besonders wichtiger wirtschaftlicher Erscheinungen". Neumann gliedert die wirtschaftlichen Gesetze in vier Gruppen, und zwar in Gesetze, die 1. sich aus dem Eigennutz ergeben und ihrerseits wieder Preisgestaltungen zu ihren Objekten haben; 2. sich aus dem Eigennutz ergeben und anderes als Preisgestaltungen zu ihren Objekten haben; 3. sich aus Empfindungen der Gerechtigkeit ergeben; 4. sich aus anderen Motiven oder anderen Ursachen ergeben. Die „neoklassische" Schule hat in Deutschland eine untergeordnete Rolle gespielt. Das zeigt sich schon rein äußerlich darin, daß Dietzel zwar am Rande, Neumann aber gar nicht in den neuen, sogenannten „Dogmengeschichten" erwähnt werden. Die Ursache hierfür ist in der Tatsache zu suchen, daß es zu einer Übernahme der klassischen bürgerlichen Ökonomie in Deutschland bereits zu spät war. Eine wissenschaftliche Ökonomie konnte es in Deutschland n u r noch als politische Ökonomie der Arbeiterklasse geben. Bürgerliche Ökonomie w a r nur noch möglich als atheoretische oder formale Ökonomie. Das zeigt uns auch die sogenannte „sozialrechtliche" Schule, die eine Besonderheit der deutschen Entwicklung unserer Wissenschaft und ebenfalls eine Fortführung der Klassik sein wollte. 362

b) Die sozialrechtliche Schule Walter Eucken hat in seinen „Grundlagen der Nationalökonomie" den Widerspruch formuliert, an dem die moderne bürgerliche Ökonomie nach seiner Auffassung gescheitert ist: „Der geschichtliche Charakter des Problems verlangt Anschauung, Intuition, Synthese, Verstehen, Einfühlung in individuelles Leben; — der allgemeine theoretische Charakter indessen erfordert rationelles Denken, Analyse, Arbeiten mit gedanklichen Modellen." 1 ) Das ist der Widerspruch zwischen Inhalt und Methode, Substanz und System, den auch Smith und Ricardo nicht zu lösen vermochten. Eucken nennt die Lösung des von ihm formulierten Widerspruches, die Herstellung also der Einheit von Geschichte und Theorie, wie sie in der politischen Ökonomie des MarxismusLeninismus verwirklicht ist, das „ e r s t e . . . Hauptproblem der Nationalökonomie . . ."2) Es sei die „große Antinomie", die die Nationalökonomie zu lösen habe. Schon in dieser Bezeichnung kommt der formal-logische Charakter der bürgerlichen Ökonomie zum Ausdruck, die nicht imstande ist, die „gewordene Form im Flusse der Bewegung" aufzufassen. Die Bewegung wird von ihr als eine Reihe zusammenhanglos nebeneinanderstehender und innerlich nicht verbundener Formen und die Form als im Grunde unveränderlich, höchstens durch äußere Anstöße zerstörbar zu begreifen versucht, also nicht begriffen. Die Verflüchtigung der wissenschaftlichen Substanz der klassischen bürgerlichen Ökonomie f ü h r t notwendig zur Vulgärökonomie, die sich n u r in den oberflächlichen Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise herumtreibt und überhaupt auf jede wissenschaftliche Problemstellung und theoretische Arbeit verzichtet. Aber diese Entwicklung oder richtiger: Entartung der bürgerlichen Ökonomie ist keine gradlinige. Auf diesem Wege von der klassischen bürgerlichen Ökonomie zur reinen Vulgärökonomie gibt es eine Reihe von Systemen oder sogenannte „Schulen", die die Etappen der Entwicklung kennzeichnen. Die sogenannte „sozialrechtliche" Schule kennzeichnet eine solche Etappe. Die in der Hauptsache von Karl Diehl (1864—1945) vertretene sogenannte „sozialrechtliche" Schule zeigt uns den Zustand der bürgerlichen Ökonomie, die — vom klassischen Erbe lebend — ihre sozialwissenschaftliche Substanz verloren hat. Sie zeigt die Unfähigkeit der bürgerlichen Ökonomie zum theoretischen System als Abbild der Wirklichkeit, obwohl die wissenschaftliche Problematik zum Teil noch bewußt ist! Von der klassischen bürgerlichen Ökonomie trennt die sozialrechtliche Schule, daß sie kein System von Erkenntnissen, sondern n u r ein Aggregat von Kenntnissen ist, von der reinen Vulgärökonomie trennt sie, daß sie sich der wissenschaftlichen Problematik noch bewußt ist. Sie bewältigt sie aber nicht mehr — und sie kann sie nicht mehr bewältigen, weil die gesellschaftliche Entwicklung, die sich immer mehr ') 4. Aufl., Jena 1944. 2 ) Ebd., S. 28. 363

zuspitzenden Klassenkämpfe, die dann 1917 zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland f ü h r e n , vom bürgerlichen Denker — nicht n u r auf dem Gebiete der Ökonomie: aber hier am entschiedensten den Bruch mit der eigenen Klasse verlangen, w e n n er weiter Wissenschaft treiben will. Die „sozialrechtliche" Schule k a n n es als bürgerliche Ökonomie n u r noch zu einem Aggregat von Kenntnissen bringen, und sie ist das Musterbeispiel h i e r f ü r , weil sie versucht, die in den anderen „Schulen" der bürgerlichen Ökonomie verselbständigten Momente der wissenschaftlichen Erkenntnis, Geschichte und Theorie zu vereinen. Die „Sozialrechtler" haben viele treffende Einwände sowohl gegen den Historismus als auch gegen den Formalismus in der b ü r g e r lichen Ökonomie gebracht, aber ihre Kritik ist Einzelkritik, sie ist Kritik vom bürgerlichen S t a n d p u n k t an den Mängeln der bürgerlichen Ökonomie im einzelnen. Sie trifft nicht und k a n n nicht treffen die Grundmängel der b ü r g e r lichen Ökonomie, die in ihrem unwissenschaftlichen, d. h. apologetischen Charakter liegen, weil eine solche grundsätzliche Kritik n u r vom S t a n d p u n k t der wissenschaftlichen Ökonomie, vom S t a n d p u n k t der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse g e f ü h r t w e r d e n kann. Zu den Vorläufern der von K a r l Diehl so benannten „sozialrechtlichen" Schule gehört Carl Rodbertus-Jagetzow (1805—1875). K a r l Diehl stellt bei Rodbertus „offenbare Widersprüche" fest, die bei ihm eine „Zwiespältigkeit" hervorgebracht hätten. 1 ) Rodbertus sei b e m ü h t gewesen, meint Diehl, „der sozialen Auffassung gegenüber der individualwirtschaftlichen zu i h r e m Rechte zu verhelfen . . . " Er sei aber „selbst keineswegs von dieser A u f f a s s u n g frei" gewesen. „Eine Vorliebe zu abstrakt-deduktiver Forschung läßt Rodbertus nicht zu der realistischen Einstellung gegenüber den Wirtschaftsproblemen kommen, die bei der richtig verstandenen sozialrechtlichen Methode vorhanden sein muß", schließt Diehl. 2 ) Das eben ist das Bezeichnende: der offene Widerspruch zwischen beiden Elementen eines wissenschaftlichen Systems, die Ohnmacht, diese beiden Elemente nicht zu „versöhnen", sondern sie in einer höheren Einheit als Gegensätze aufzuheben. Die sozialrechtliche Lehre will nach Diehl eine Wirtschaftstheorie in concreto an Stelle der Wirtschaftstheorie in abstracto sein. Sie vertritt die Auffassung, daß alle volkswirtschaftlichen Erscheinungen an bestimmte Formen des volkswirtschaftlichen Zusammenwirkens gebunden sind. Daher setzt die rechtliche O r d n u n g die Normen fest, innerhalb deren sich dieses Zusammenwirken vollzieht. Da die Volkswirtschaftslehre eine Sozialwissenschaft ist, k a n n das volkswirtschaftliche Zusammenwirken nicht aus dem „ökonomischen Prinzip" oder aus dem „homo economicus" erklärt werden. Es werden aber auch wirtschaftliche Gesetze abgelehnt, da es nach der sozialrechtlichen Auffassung keine gleichbleibenden wirtschaftlichen Erscheinungen geben kann. Allen ökono') Karl Diehl, Die sozialrechtliche Richtung in der Nationalökonomie, Jena 1941, S. 95. 2 ) Ebd. 364

mischen Gesellschaftsformen sind bestimmte natürlich-technische Tatbestände gemein, die Naturgesetzen unterliegen, f ü r die Volkswirtschaftslehre Daten und ihrem Charakter nach konstante Faktoren sind, die allem Wirtschaftsleben angehören. Wirtschaftsgesetze kann es nicht geben, weil die Wirtschaftsverhältnisse immer durch bestimmte Rechtsinstitute bestimmt sind. Karl Diehl bezeichnet Rodbertus nicht nur als Vorläufer der von ihm selbst formulierten ökonomischen Auffassungen und Anschauungen, sondern als den „eigentlichen Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland". „Denn schon vor Marx und Lassalle hatte er in seinen Schriften aus dem Jahre 1839 und 1842 ein vollständiges sozialistisches System geliefert, eine Kritik des Smithianismus, eine neue theoretische Grundlegung und soziale Reformvorschläge." 1 ) Wie sah diese „Begründung" des wissenschaftlichen Sozialismus durch Rodbertus aus? Den Ausgangspunkt von Rodbertus' ökonomischer Theorie bildet die auch von Smith vertretene Anschauung, daß der „natürliche" Lohn der Arbeit gleich ihrem Produkt sei. Rodbertus begründet dies damit, daß die n a t ü r lichen Güter von der Natur kostenlos zur Verfügung gestellt werden und nur in den wirtschaftlichen Gütern sich Arbeit verkörpert. Die wirtschaftlichen Güter kosten Arbeit, und zwar unmittelbare oder mittelbare Arbeit in Form von Kapital, d. h. von aufgespeicherter Arbeit. Der Wert solcher Güter bestimmt sich daher ausschließlich nach dem zu ihrer Erzeugung notwendigen Arbeitsaufwand und ist durch die Arbeitszeit, reduziert auf Arbeitsstunden, meßbar. Rodbertus unterscheidet zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit. Damit glaubt Rodbertus auch den gerechten Maßstab gefunden zu haben f ü r die Verteilung des Nationaleinkommens, d. h. der in einem bestimmten Zeitraum produzierten Güter, die dem unmittelbaren Interesse des Lebens, der Konsumtion also, gewidmet werden können. Einem jeden gebühre hiervon ein nach seiner „unmittelbaren Mitwirkung bei der Produktion", d. h. nach seiner Arbeitsleistung, bemessener Anteil. Rodbertus stellt weiter fest, der Anteil der Arbeit übersteige nicht den unumgänglichen Bedarf des Arbeiters und erhebe sich über dieses Niveau auch bei Zunahme ihrer Produktivität nicht. Der Arbeiter erhält nur einen Teil seines Arbeitsproduktes, seinen „Lohn". Der Rest fällt als „Rente" dem Grund- und Kapitaleigentum zu, weil unsere Rechtsordnung „den Boden und das Kapital als einzelnen Individuen ebenso eigentümlich zustehend erklärt als dem Arbeiter die Arbeitskraft. Dadurch sind die Arbeiter, um n u r überhaupt produzieren zu können, gezwungen, eine Verbindung mit den Besitzern des Bodens und des Kapitals einzugehen und sich in das Arbeitsprodukt mit diesen zu teilen. Diese Verbindung ändert nichts an den natürlichen produktiven Elementen aller Güter, sondern beseitigt n u r ein gesellschaftliches 1

) Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl., Bd. VII, S. 146. 365

Hindernis dieser Produktion, das willkürliche quod non der Grund- und Kapitaleigentümer, und beseitigt dies durch eine Teilung des Produkts." Unter der Herrschaft des Privateigentums und der Vertragsfreiheit wird die Arbeiterklasse so auf den unentbehrlichen Unterhaltsbedarf beschränkt. Da dieser eine ziemlich konkrete Größe bildet, so folgt daraus nach Rodbertus das „Gesetz der fallenden Lohnquote": parallel mit der steigenden Produktivität der Arbeit wächst auch die Quote der Rentenbezugsberechtigten am Nationaleinkommen, während diejenige der Arbeiterklasse in gleichem Maße abnimmt. Das „ist der Grund aller wirtschaftlichen Leiden der Gegenwart", meint Rodbertus. Darauf gehen die geschwächte K a u f k r a f t der arbeitenden Klassen, die Handelskrisen, der stetig zunehmende Pauperismus, der Ausschluß der Massen von den Segnungen der Kultur, kurz alle jene Erscheinungen zurück, die unsere Zivilisation mit dem Untergange bedrohen. Eine Änderung dieses ebenso ungerechten wie kulturfeindlichen Wirtschaftssystems ist nach Rodbertus notwendig. Da die Beschränkung des Lohnes auf dem Privateigentum beruht, so müßte, meint Rodbertus, um ihr und dem arbeitslosen Einkommen ein Ende zu machen, zum Kommunismus übergegangen werden. Rodbertus hält den Kommunismus aber auf absehbare Zeit hinaus f ü r unmöglich und begnügt sich daher mit Kompromißvorschlägen. Er will unter Aufrechterhaltung von Privateigentum und arbeitslosem Renteneinkommen auch den Lohn an der steigenden Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit teilnehmen lassen und die Arbeiter vor dem Schwanken der Beschäftigung und den Gefahren der Arbeitslosigkeit schützen. Diese Aufgabe soll dem Staate zufallen, den Rodbertus als selbständige Instanz über der Gesellschaft ansieht, in welche sich die Individuen „als schlechthin abhängige Organe, als gehorsame Funktionäre des Gesamtzweckes einzugliedern haben". Zur Erreichung des angestrebten Zieles ist notwendig: gesetzliche, bei Zunahme der Arbeitsproduktivität entsprechend zu revidierende Tariflerung der Löhne und Warenpreise. Das soll nach Rodbertus in Arbeitsgeld in der Art geschehen, daß in jedem Gewerk ein normaler Zeitarbeitstag und f ü r diesen das normale Arbeitswerk, d. h. die Durchschnittsleistung eines mittleren Arbeiters von mittlerem Fleiß mit mittlerer Geschicklichkeit in seinem Gewerbe, festgelegt wird. Diese Durchschnittsleistung während eines Tages oder einer Stunde soll nach Rodbertus als Werteinheit dienen und ist dem Arbeiter — nach Abzug des ebenfalls gesetzlich bestimmten Anteils zugunsten des Staates, der Grundrente und des Kapitalgewinnes — zu bescheinigen. Bei der Festsetzung der Warenpreise sollen auch die in den einzelnen Gütern enthaltenen Kapitalbestandteile berücksichtigt werden. Zur Realisierung des Arbeitsgeldes, der Bescheinigung über geleistete Arbeit, sollen staatliche Magazine dienen, aus denen jedermann beliebige Waren von einer der bescheinigten gleichen Normalarbeitszeit eintauschen könnte. 366

Das ist — nach Diehl — die „Begründung" des wissenschaftlichen Sozialismus; eine kleinbürgerliche Utopie, verbunden mit einer zum Teil treffenden Kritik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Rodbertus hat selbst behauptet, Marx habe seine Theorien von ihm übernommen. Engels hat zuerst in der „Vorrede" zu Marx' „Elend der Philosophie" im Jahre 1885 zu diesem sogenannten Plagiat von Marx an Rodbertus Stellung genommen und später noch einmal ausführlich im Jahre 1893 im „Vorwort" des von ihm herausgegebenen zweiten Bandes des „Kapitals". Heute ist diese groteske Behauptung ebenso wie die von Diehl, Rodbertus sei der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, längst zu den Akten gelegt. Ich will daher nur das anführen, was f ü r die Entwicklung der politischen Ökonomie von Bedeutung ist. „Wie steht es nun mit dem Inhalt, u m den Marx den Rodbertus g e plündert' haben soll?" fragt Engels. „Woraus der Mehrwert des Kapitalisten entspringt", sagt Rodbertus, „habe ich in meinem dritten sozialen Brief ebenso wie Marx, nur kürzer und klarer, gezeigt." Also das ist der Kernpunkt: die Mehrwerttheorie; und es ist in der Tat nicht zu sagen, was sonst Rodbertus bei Marx als sein Eigentum allenfalls reklamieren könnte. Rodbertus erklärt sich hier also f ü r den wirklichen Urheber der Mehrwerttheorie, die Marx ihm „geplündert" habe, stellt Engels fest. 1 ) „Und was sagt uns der dritte soziale Brief (S. 87) über die Entstehung des Mehrwertes?" fragt Engels. Einfach, daß die „Rente", wie er Bodenrente und Profit zusammenfaßt, nicht aus einem „Wertzuschlag" auf den Wert der Ware entstehe, sondern „infolge eines Wertabzuges, den der Arbeitslohn erleidet, mit anderen Worten: weil der Arbeitslohn n u r einen Teil des Wertes des Arbeitsproduktes beträgt" und bei hinreichender Produktivität der Arbeit „nicht äquat dem natürlichen Tauschwert ihres Produktes zu sein braucht, damit von diesem noch zu Kapitalersatz (!) und Rente übrig bleibt. Wobei uns nicht gesagt wird, was das f ü r ein .natürlicher Tauschwert' des Produktes ist, bei dem zu ,Kapitalersatz', also doch wohl Ersatz des Rohstoffs und des Verschleißes der Werkzeuge nichts übrig bleibt." 2 ) Glücklicherweise sei uns vergönnt zu konstatieren, meint Engels, welchen Eindruck diese epochemachende Entdeckung Rodbertus' auf Marx machte. Im Manuskript „Zur Kritik etc." findet sich im Heft X, S. 445 ff., eine „Abschweifung", „Herr Rodbertus. Eine neue Grundrententheorie". Nur unter diesem Gesichtspunkt wird hier der dritte soziale Brief betrachtet. Die Rodbertussche Mehrwerttheorie im allgemeinen wird erledigt mit der ironischen Bemerkung: „Herr Rodbertus untersucht erst, wie es in einem Lande aussieht, wo Grund- und Kapitalbesitz nicht geschieden sind, und kommt Kapital, Bd. II, S. 8. ) Ebd., S. 9.

2

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dann zum wichtigen Resultat, daß die Rente (worunter er den ganzen Mehrwert versteht) bloß gleich der unbezahlten Arbeit oder Quantum von Produktion ist, worin sie sich darstellt." 1 ) Marx selbst hat das Positive an der Theorie Rodbertus' stets anerkannt, wie Marx überhaupt mit peinlichster Gewissenhaftigkeit jeden fremden Gedanken, den er akzeptierte, als solchen kennzeichnete. Es erübrigt sich heute — wie oben gesagt —, die Priorität von Marx zu verteidigen. Rodbertus ist ein bürgerlicher Ökonom der Nachklassik, dessen Einfluß über dieselbe bis in die junge deutsche Arbeiterbewegung hineinging, weil er zu kleinbürgerlichen Reformvorschlägen gelangte. Das Bedeutende an der Theorie Rodbertus' ist, wie Marx in den „Theorien über den Mehrwert" hervorhob, daß sie die Grundrente aus dem Monopol des Grundeigentums erklärt und das von Marx entdeckte Gesetz der absoluten Rente bestätigte. Als weiterer wichtiger Vorläufer der sogenannten „sozialrechtlichen" Schule sei Adolph Wagner (1835—1917) genannt, einer der führenden deutschen „Kathedersozialisten", der Begründer der reaktionären Christlich-sozialen Partei (1878), der Mitbegründer des „Vereins f ü r Sozialpolitik" und Anhänger der Bismarckschen Sozial- und Finanzpolitik. Wir werden Wagner an anderer Stelle als „Kathedersozialist" betrachten. Hier möge die Bemerkung genügen, daß Wagner zwar — ähnlich wie Rodbertus — die klassischen Lehren noch erkannte, aber unter dem Eindruck der anwachsenden Arbeiterbewegung zu einem ausgesprochenen kapitalistischen Apologeten wurde. Als die eigentlichen Begründer der „sozialrechtlichen" Schule bezeichnet Diehl Rudolf Stammler und Rudolf Stolzmann. Es ist bezeichnend, daß Rudolf Stammler (1856—19??) seine Theorie mit einer Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung begründete, die zugleich sein völliges Unvermögen zeigte, den dialektischen Materialismus zu begreifen. 2 ) Stammler wollte in seinem Werk das Fundament zu einer „Sozialphilosophie" liefern, d. h. zu einer wissenschaftlichen Untersuchung darüber, unter welchen grundlegenden formalen Gesetzmäßigkeiten das soziale Leben der Menschen stehe. Das Kriterium dafür, wodurch das soziale Leben als eigener Gegenstand der menschlichen Erkenntnis konstituiert wird, findet Stammler in den von Menschen herrührenden Regelungen ihres Verkehrs und Miteinanderlebens. Soziales Leben ist nach Stammler nichts anderes als äußerlich geregeltes Leben. Rudolf Stolzmann (1864—1919) hat seine Theorie in dem ebenfalls 1896 erschienenen Buch „Die soziale Kategorie in der Volkswirtschaftslehre" begründet. Im Gegensatz zu der „natürlichen" Kategorie sollte die „soziale" Ebd. ) Wirtschaft und Recht 1. Aufl., Leipzig 1896. 2

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nach

der

materialistischen

Geschichtsauffassung,

Kategorie die Bedingungen umfassen, die „aus der gesellschaftlichen Natur der Menschen, aus den jeweils wechselnd-historischen Gesetzen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens sowie aus den konstruierten Machtund Rechtsverhältnissen herfließen, welche die Menschen als willensfreie Wesen im Grunde selbst gesetzt haben, die also, und soweit sie Menschenwerk sind, auch von den Menschen geändert werden können". Bei beiden — bei Stammler und bei Stolzmann — finden wir unter dem Eindruck der immer mehr erstarkenden Arbeiterbewegung den Versuch, Unversöhnliches zu versöhnen, u m das Bestehende zu erhalten. Diese Versuche werden gekrönt von Karl Diehl, dem eigentlichen Vertreter dieser „Schule" bis in die Gegenwart. Nach Karl Diehl hat „die Sozialwissenschaft... das äußerlich geregelte Zusammenwirken der Menschen zum Gegenstande; das Recht handelt von der formalen Regelung dieses Zusammenwirkens, die Nationalökonomie behandelt das tatsächliche Zusammenwirken, soweit es auf Beschaffung von Saatgütern zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung gerichtet ist". 1 ) Diehl hat die „wichtigsten Grundgedanken der sozialrechtlichen Richtung" in zehn Leitsätzen zusammengefaßt. 2 ) In diesen Leitsätzen stellte Diehl zwar fest, daß die Wirtschaft als Teil des menschlichen Kulturlebens nicht vermittels Robinsonaden erforscht werden könne, hält aber eine — wenn auch nur begrenzte — Anwendung der Methode der sogenannten „isolierenden Abstraktion" f ü r möglich. Diehl lehnt eine Theorie „der" Wirtschaft, der menschlichen Wirtschaft schlechthin mit Recht ab, verwirft aber zugleich die Erkenntnis von Wirtschaftsgesetzen. Er erkennt die Bedeutung der rechtlichen Verhältnisse f ü r die Produktionsweise an, ohne den Zusammenhang zwischen dem Stand und der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen und der Produktionsweise und dem gesellschaftlichen Überbau auch n u r entfernt zu begreifen. Die Produktivkräfte sind als „natürlichste Bedingungen" zum Teil als „feststehend" aufgefaßt und werden von der Gesellschaft isoliert. Die sozialrechtliche Schule bietet uns so im ganzen — ausgehend von Rodbertus — das Bild der immer mehr von der Wirklichkeit sich entfernenden bürgerlichen Ökonomie. Soweit sie Kritik übt am Kapitalismus, ist dies keine prinzipielle, vom Standpunkt der Arbeiterklasse ausgeübte Kritik, sondern kleinbürgerliche Kritik, wie sie z. B. unter anderen von Proudhon geübt wurde. Es ist daher bezeichnend f ü r diesen kleinbürgerlichen Charakter der Kritik am Kapitalismus, daß sie nicht nur von Rodbertus ausgeht, sondern auch beeinflußt ist von Proudhon, über den Karl Diehl 1888 bis 1896 eine große Untersuchung veröffentlichte. ') Karl Diehl, Die sozialrechtliche Richtung der Nationalökonomie, a. a. O., S. 75. 2 ) Ebd., S. 139/140. Ii Behrens

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Die Rechtsverhältnisse des Kapitalismus werden vom S t a n d p u n k t d e r Gerechtigkeit aus kritisiert. Wie steht es mit den „Rechtsverhältnissen", die von der wissenschaftlichen Ökonomie angeblich nicht berücksichtigt worden sind, so daß die „sozialrechtliche" Schule hier etwas nachzuholen gehabt hätte? Hierauf hat Engels in einem Nachtrag zu seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage", Berlin 1886, bereits eine A n t w o r t erteilt: 1 ) Auf einer gewissen, sehr ursprünglichen Entwicklungsstufe der Gesellschaft stellt sich das Bedürfnis ein, die täglich wiederkehrende Akte der Produktion, der Verteilung und des Austausches der Produkte u n t e r eine gemeinsame Regel zu fassen, d a f ü r zu sorgen, daß der einzelne sich den gemeinsamen Bedingungen der Produktion und des Austausches u n t e r w i r f t , meint Engels. 2 ) „Diese Regel, zuerst Sitte, wird bald Gesetz. Mit dem Gesetz entstehen notwendige Organe, die mit seiner Aufrechterhaltung b e t r a u t sind — die öffentliche Gewalt, der Staat." Mit der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung bilde sich das Gesetz fort zu einer m e h r oder weniger u m f a n g reichen Gesetzgebung. J e verwickelter diese Gesetzgebung werde, desto weiter e n t f e r n e sich ihre Ausdrucksweise von der, in welcher die gewöhnlichen ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgedrückt werden. „Sie erscheint als ein selbständiges Element, das nicht aus den ökonomischen Verhältnissen, sondern aus eigenen, inneren Gründen, meinetwegen aus dem ,Willensbegriff' die Berechtigung seiner Existenz und die Begründung seiner Fortentwicklung hernimmt. Die Menschen vergessen die Abstammung ihres Rechts aus ihren ökonomischen Lebensbedingungen, wie sie ihre eigene Abstammung aus dem Tierreich vergessen haben."3) Mit der Fortbildung der Gesetzgebung zu einem verwickelten umfangreichen Ganzen trete die Notwendigkeit einer neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung hervor; es bildet sich ein Stand berufsmäßiger Rechtsgelehrten, und mit diesen entstehe die Rechtswissenschaft. Diese vergleiche in ihrer weiteren Entwicklung die Rechtssysteme verschiedener Völker und verschiedener Zeiten miteinander, nicht als Abdrücke der jedesmaligen ökonomischen Verhältnisse, sondern als Systeme, die ihre Begründung in sich selbst finden. „Die Vergleichung" — so f ä h r t Engels fort — „setzt Gemeinsames voraus: dieses findet sich, indem die Juristen das m e h r oder weniger Gemeinschaftliche aller dieser Rechtssysteme als Naturrecht zusammenstellen. Der M a ß stab aber, an dem gemessen wird, was Naturrecht ist und nicht, ist eben d e r abstrakteste Ausdruck des Rechts selbst: die Gerechtigkeit." Von jetzt an sei die Entwicklung des Rechts f ü r die Juristen und die, die ihnen .aufs Wort glauben, n u r noch das Bestreben, die menschlichen Zustände, soweit sie juristisch ausgedrückt werden, dem Ideal der Gerechtigkeit, der ewigen ') Marx-Engels, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 1, S. 592/593. 2 ) Ebd., S. 592. 3 ) Ebd. 370

Gerechtigkeit, immer wieder näher zu bringen. Diese Gerechtigkeit sei aber immer nur der ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestehenden ökonomischen Verhältnisse, bald nach ihrer konservativen, bald nach ihrer revolutionären Seite hin. „Die Gerechtigkeit der Griechen und Römer fand die Sklaverei gerecht: die Gerechtigkeit der Bourgeoisie von 1789 forderte die Aufhebung des Feudalismus, weil er ungerecht sei." Für die preußischen Junker ist selbst die faule Kreisordnung eine Verletzung der ewigen Gerechtigkeit. Die Vorstellung von der ewigen Gerechtigkeit wechselt also nicht nur mit der Zeit und dem Ort, sondern selbst mit den Personen, und gehört zu den Dingen, worunter, wie Mülberger richtig bemerkt, „jeder etwas anderes versteht". Wenn im gewöhnlichen Leben bei der Einfachheit der Verhältnisse, die da zur Beurteilung kommen, Ausdrücke wie recht, unrecht, Gerechtigkeit, Rechtsgefühl auch in Beziehung auf gesellschaftliche Dinge ohne Mißverständnis hingenommen werden, so richten sie in wissenschaftlichen Untersuchungen über ökonomische Verhältnisse, wie wir gesehen haben, dieselbe heillose Verwirrung an, die z. B. in der heutigen Chemie entstehen würde, wollte man die Ausdrucksweise der phlogistischen Theorie beibehalten. Noch schlimmer wird die Verwirrung, wenn man, wie Proudhon, an dieses soziale Phlogiston, die „Gerechtigkeit" glaubt, oder, wie Mülberger beteuert, „mit dem Phlogiston nicht minder als mit dem Sauerstoff habe es seine vollkommene Richtigkeit". 1 ) Hiermit ist von Engels das Entscheidende gesagt worden. Es versteht sich von selbst, daß Engels' Ausführungen von den „Sozialrechtlern" unberücksichtigt geblieben sind.

B. Die historische Schule der bürgerlichen Ökonomie — der Empirismus 7. Das Wesen der bürgerlichen

Ökonomie

in

Deutschland

Eine der wichtigsten Tatsachen aus der deutschen Geschichte, die auch die Besonderheiten des deutschen Imperialismus bis zur jüngsten Zeit bestimmte, war die verspätet einsetzende Entwicklung der deutschen Industrie, des deutschen Kapitalismus. Im „Kommunistischen Manifest" wird von der „hundertjährigen Klassenherrschaft der Bourgeoisie" gesprochen. Aber dies bezieht sich nicht auf die deutsche, sondern auf die englische und französische Bourgeoisie. Wie Marx an anderer Stelle sagte, „begann die Entwicklung der Großindustrie in Deutschland erst im Jahre 1848". Die Rückständigkeit Deutschlands äußerte sich vor allem in den Privilegien des Feudaladels und in seiner starken staatlichen Zersplitterung. Neben den Ebd., S. 593. 24»

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Gerechtigkeit, immer wieder näher zu bringen. Diese Gerechtigkeit sei aber immer nur der ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestehenden ökonomischen Verhältnisse, bald nach ihrer konservativen, bald nach ihrer revolutionären Seite hin. „Die Gerechtigkeit der Griechen und Römer fand die Sklaverei gerecht: die Gerechtigkeit der Bourgeoisie von 1789 forderte die Aufhebung des Feudalismus, weil er ungerecht sei." Für die preußischen Junker ist selbst die faule Kreisordnung eine Verletzung der ewigen Gerechtigkeit. Die Vorstellung von der ewigen Gerechtigkeit wechselt also nicht nur mit der Zeit und dem Ort, sondern selbst mit den Personen, und gehört zu den Dingen, worunter, wie Mülberger richtig bemerkt, „jeder etwas anderes versteht". Wenn im gewöhnlichen Leben bei der Einfachheit der Verhältnisse, die da zur Beurteilung kommen, Ausdrücke wie recht, unrecht, Gerechtigkeit, Rechtsgefühl auch in Beziehung auf gesellschaftliche Dinge ohne Mißverständnis hingenommen werden, so richten sie in wissenschaftlichen Untersuchungen über ökonomische Verhältnisse, wie wir gesehen haben, dieselbe heillose Verwirrung an, die z. B. in der heutigen Chemie entstehen würde, wollte man die Ausdrucksweise der phlogistischen Theorie beibehalten. Noch schlimmer wird die Verwirrung, wenn man, wie Proudhon, an dieses soziale Phlogiston, die „Gerechtigkeit" glaubt, oder, wie Mülberger beteuert, „mit dem Phlogiston nicht minder als mit dem Sauerstoff habe es seine vollkommene Richtigkeit". 1 ) Hiermit ist von Engels das Entscheidende gesagt worden. Es versteht sich von selbst, daß Engels' Ausführungen von den „Sozialrechtlern" unberücksichtigt geblieben sind.

B. Die historische Schule der bürgerlichen Ökonomie — der Empirismus 7. Das Wesen der bürgerlichen

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in

Deutschland

Eine der wichtigsten Tatsachen aus der deutschen Geschichte, die auch die Besonderheiten des deutschen Imperialismus bis zur jüngsten Zeit bestimmte, war die verspätet einsetzende Entwicklung der deutschen Industrie, des deutschen Kapitalismus. Im „Kommunistischen Manifest" wird von der „hundertjährigen Klassenherrschaft der Bourgeoisie" gesprochen. Aber dies bezieht sich nicht auf die deutsche, sondern auf die englische und französische Bourgeoisie. Wie Marx an anderer Stelle sagte, „begann die Entwicklung der Großindustrie in Deutschland erst im Jahre 1848". Die Rückständigkeit Deutschlands äußerte sich vor allem in den Privilegien des Feudaladels und in seiner starken staatlichen Zersplitterung. Neben den Ebd., S. 593. 24»

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zwei großen Ländern — Preußen und dem nur zum Teil deutschen Österreich — gab es eine Anzahl selbständiger Fürstentümer und zahlreiche unabhängige „freie Reichsstädte". Die meisten deutschen Länder und Reichsstädte hatten ihr besonderes Geldsystem, Steuersystem, besondere Maße und Gewichte, Heer und Recht und Verwaltung. Diese Zersplitterung Deutschlands bildete ein starkes Hindernis f ü r die Entwicklung des Kapitalismus. Die deutsche Bourgeoisie versuchte zwar 1848, diese Hindernisse der Entwicklung des Kapitalismus zu beseitigen. Aber sie begann infolge der verspäteten Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland ihre Revolution zu einer Zeit, als das Proletariat der westeuropäischen Länder gegenüber der Bourgeoisie bereits eine drohende K r a f t darstellte. Als die deutsche Bourgeoisie daher den entscheidenden Kampf um die Macht führen wollte — wie die englische Bourgeoisie 1688 und die französische 1789 —, verriet sie aus Furcht vor dem Proletariat die Interessen der Revolution und suchte bei der Monarchie und den feudalen Kräften gegen das Proletariat Schutz. Daher wurden in Deutschland die starken Positionen der Feudalherren nie angetastet und blieben starke Uberreste des Feudalismus bis tief in die imperialistische Periode des Kapitalismus hinein erhalten. Aus diesem Grunde war die deutsche Bourgeoisie auch nicht in der Lage, die staatliche Einheit zu erkämpfen. Sie wurde nicht durch eine Volksrevolution, sondern im J a h r e 1871 durch Bismarck hergestellt. Während in den zwei Jahrhunderten nach dem Dreißigjährigen Krieg bis zur Bismarckschen Reichsgründung in den Staaten Westeuropas und Amerikas die industrielle Revolution, die Entwicklung der Naturwissenschaften und die Entwicklung der Technik von den bürgerlichen politischen Revolutionen begleitet wurde, die die feudalen Fesseln der Gesellschaft sprengten, hielt sich der Feudalismus, der preußische Militarismus und die preußische Bürokratie, an der Macht, so daß Deutschland ein hochkapitalistisches Land ohne bürgerliche Revolution und ohne bürgerliche Demokratie wurde. So wurde der deutsche Imperialismus eine Verquickung von Monopolkapitalismus mit preußischer Bürokratie und preußischem Militarismus. Er wurde getrieben von der doppelten Dynamik des zu spät auf den Schauplatz getretenen Kapitalismus, der nun verstärkt um seinen Anteil kämpfen mußte, und der wütend gegen jeden gesellschaftlichen Fortschritt überhaupt kämpfenden Reaktion in Deutschland. Deutschland hatte aber im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts in beschleunigtem Tempo den westeuropäischen und amerikanischen Kapitalismus eingeholt und überholt und begann das neue Jahrhundert nicht n u r mit voll entwickelten kapitalistischen Produktivkräften, sondern bereits als „organisierter" Kapitalismus. Seine besondere gesellschaftliche und politische Situation befähigte den deutschen Kapitalismus, zuerst und am „glücklichsten" die neue Form des Monopolkapitalismus zu entwickeln. Hierzu kam ein „Vorteil" des deutschen Kapitalismus, der eng mit dem Nachteil des deutschen Kapitalismus bis zum letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts 372

verbunden ist: der „Vorteil", eine nie gebrochene reaktionäre Tradition zu besitzen. Infolge der in Deutschland immer nur in Ansätzen vollzogenen bürgerlichen Revolution blieben die gesellschaftlichen Verhältnisse reaktionär und zeigten jenen eigentümlich preußisch-deutschen Geist, der dann in den Nationalsozialismus einging. Als der deutsche Kapitalismus Monopolkapitalismus geworden war und dazu überging, die gewaltsame Neuverteilung der Erde vorzubereiten, da war er in der „glücklichen" Lage, dank der in der deutschen Gesellschaft ausgebliebenen Revolution eine Ideologie vorzufinden, die im Keime alles enthielt, was der Imperialismus benötigte. Und wenn Deutschland den „Ruhm" für sich buchen konnte, das Land der steckengebliebenen, der nie zu Ende geführten Revolution zu sein, so erwarb es schließlich den neuen „Ruhm" hinzu, die Reaktion bis zur letzten Konsequenz, nicht nur im Geiste, sondern auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchgeführt zu haben. Deutschland ist nicht nur das Land der nie zu Ende geführten Revolutionen, es ist zugleich das Land der mit allen Konsequenzen zu Ende geführten Reaktion. Deutschland ist auch das Land, das die Apologetik des Kapitalismus zu einer Zeit hervorbrachte, als in anderen Ländern die Entwicklung des bürgerlich-ökonomischen Denkens erst einsetzte. In der Tat: sobald eine bürgerliche wissenschaftliche Ökonomie möglich war, war es schon wieder zu spät! Was hier — in Deutschland — möglich war, das war Vulgärökonomie, flacher Empirismus auf der einen, hohler Formalismus auf der anderen Seite: die historische Schule und die Grenznutzenschule. „Unter diesen Umständen teilten sich ihre Wortführer in zwei Reihen", schreibt Marx. „Die einen, kluge, erwerbslustige praktische Leute, scharten sich um die Fahne Bastiats, des flachsten und daher gelungensten Vertreters vulgärökonomischer Apologetik; die anderen, stolz auf die Professorialwürde ihrer Wissenschaft, folgten J. St. Mill in dem Versuch, Unversöhnliches zu versöhnen."1) Marx fügt hinzu, daß — „wie zur klassischen Zeit der bürgerlichen Ökonomie", auch jetzt „zur Zeit ihres Verfalls" — die Deutschen „bloß Schüler, Nachbeter und Nachtreter, Kleinhausierer des ausländischen Großgeschäftes" blieben.2) Marx ahnte nicht, daß die gründlichen Deutschen in der Person Hermann Heinrich Gossens schon zwei Jahrzehnte bevor er dies schrieb, aus bloßen Schülern der Apologetik zu Meistern geworden waren. Auf vielen wissenschaftlichen Gebieten hätten die Deutschen längst ihre Ebenbürtigkeit, auf den meisten ihre Überlegenheit gegenüber den übrigen ») Kapital, Bd. I, S. 14. Ebd.

2)

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zivilisierten Nationen bewiesen, schrieb Friedrich Engels im J a h r e 1859. „Nur eine Wissenschaft zählte keinen einzigen deutschen Namen unter ihren Koryphäen, die politische Ökonomie."1) Der G r u n d hierfür, f ü r das Zurückbleiben der Wissenschaft der politischen Ökonomie in Deutschland, meinte Engels, läge „auf der Hand". Die politische Ökonomie sei die „theoretische Analyse der modernen bürgerlichen Gesellschaft". Sie setze daher „entwickelte bürgerliche Zustände voraus, Zustände, die in Deutschland seit den Reformationen und Bauernkriegen und besonders seit dem Dreißigjährigen Krieg auf J a h r h u n d e r t e lang nicht a u f k o m m e n konnten". 2 ) Die Lostrennung Hollands vom Reich habe Deutschland vom Welthandel abgedrängt und seine industrielle Entwicklung von vornherein auf die kleinlichsten Verhältnisse reduziert. Während die Deutschen sich m ü h s a m und langsam von den Verwüstungen des Bürgerkrieges erholt hätten, während sie — wie Engels schreibt — „alle ihre bürgerliche Energie, die nie sehr groß war, abarbeiteten im fruchtlosen Kampf gegen die Zollschranken und v e r rückten Handelsregulationen, die jeder Duodezfürst und Reichsbaron der Industrie seinen U n t e r t a n e n auferlegte, w ä h r e n d die Reichsstädte im Z u n f t k r a m u n d Patriziertum verbauern" — w ä h r e n d dieser Zeit haben Holland, England und Frankreich die ersten Plätze im Welthandel belegt, haben Kolonien auf Kolonien angelegt und die M a n u f a k t u r zur höchsten Blüte entwickelt, „bis endlich England durch den Dampf, der seinen Kohlen- und Eisenlagern erst Wert gab, an die Spitze der modernen bürgerlichen Entwicklung trat". 3 ) Eine deutsche politische Ökonomie sei aber solange nicht möglich gewesen, stellte Engels fest, wie „noch der Kampf gegen so lächerlich antiquierte Reste Mittelalter zu f ü h r e n war, weil sie bis 1830 die materielle bürgerliche E n t wicklung Deutschlands fesselten". 4 ) Mit der Errichtung des Zollvereins erst — also im J a h r e 1833 — seien die Deutschen in eine Lage gekommen, „in der sie politische Ökonomie ü b e r h a u p t n u r verstehen konnten". 5 ) Von dieser Zeit an — also seit den dreißiger J a h r e n des vorigen J a h r h u n d e r t s — habe, wie Engels schreibt, „die Importation englischer und französischer Ökonomie zum Besten des deutschen B ü r g e r t u m s " begonnen. 6 ) Bald habe sich aber „das Gelehrten- und B ü r o k r a t e n t u m " des importierten Stoffes bemächtigt und ihn in einer „dem deutschen Geist" nicht sehr kreditablen Weise" verarbeitet. Aus dem Sammelsurium von schriftstellernden Industrierittern, Kaufleuten, Schulmeistern und B ü r o k r a t e n ent*) 2 ) 3 ) 4 ) 5 )

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Zur Kritik, a. a. O., S. 209 (von mir hervorgehoben, F. B.). Ebd. Ebd., S. 209/210. Ebd. Ebd. Ebd.

stand dann eine deutsche ökonomische Literatur, die an Fadaise, Seichtigkeit, Gedankenlosigkeit, Breite und Plagiarismus nur am deutschen Roman ein Seitenstück hat.1) Engels hebt dann weiter hervor, daß unter den Leuten „mit praktischen Zwecken" sich zuerst die Schutzzöllnerschule der Industriellen ausgebildet habe, „deren Autorität, List, immer noch das Beste" sei, „was die deutsche bürgerliche ökonomische Literatur produziert hat, obwohl List — wie Engels hinzufügt — „sein ganzes glorioses Werk von dem Franzosen Ferrier, dem theoretischen Urheber des Kontinentalsystems, abgeschrieben" habe.2) Der von List geführten Richtung stand in den vielseitigen Jahren die Freihandelsschule der Kaufleute in den Ostseeprovinzen gegenüber, die „die Argumente der englischen Freetra der in kindlichem, aber interessiertem Glauben nachlallten".8) Unter den Schulmeistern und Bürokraten, die die theoretische Seite der Disziplin zu behandeln hatten, gab es dürre Herbariensammler ohne Kritik, wie Herrn Rau, klugtuende Spekulanten, die die ausländischen Sätze ins unverdaute Hegeische übersetzten, wie Herrn Stein, oder belletristisierende Ährenleser auf dem „kulturhistorischen" Gebiet, wie Herrn Riehl. Was dabei denn schließlich herauskam, war die Kameralistik, ein von einer eklektischökonomischen Sauce angespülter Brei von allerhand Allotria, wie sie einem Regierungsreferendarius zum Staatsexamen nützlich zu wissen sind.4) Auch in Deutschland also zeichneten sich zwar die beiden Elemente einer wissenschaftlichen Ökonomie ab: der Empirismus und der Rationalismus, die Historie und die Theorie. Aber sie waren von vornherein getrennt, und auch bei solchen Vertretern wie F. List waren sie nicht in einem System vereint. „Während so Bürgertum, Schulmeistertum und Bürokratie in Deutschland sich noch abmühten, die ersten Elemente der englisch-französischen Ökonomie als unantastbare Dogmen auswendig zu lernen und sich einigermaßen klarzumachen, trat die deutsche proletarische Partei auf." 5 ) Ihr ganzes theoretisches Dasein ging hervor aus dem Studium der politischen Ökonomie, „und von dem Augenblick ihres Auftretens datiert auch die wissenschaftliche, selbständige deutsche Ökonomie".6) Während die Deutschen ökonomisch zurückgeblieben waren und daher auch die Theorie der politischen Ökonomie bei ihnen — wie Marx 1873 schrieb — „eine ausländische Wissenschaft" geblieben war, in der Bekämpfung der revolutionären Arbeiterbewegung, im Kampf für den Bestand der kapitalisti) 3) 4) 5) 6) 2

Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

S. 2X0. S. 210. S. 211. S . 211.

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sehen Produktionsweise brauchten sie keine ausländische Wissenschaft. Auf diesem Gebiet traten sie als Meister auf — und sie sind es geblieben! Während die französische und die englische bürgerliche Ökonomie einmal fortschrittlich waren und die gesellschaftliche Entwicklung förderten: die deutsche bürgerliche Ökonomie w a r — notwendig — reaktionär von Beginn und hemmte die gesellschaftliche Entwicklung! Die deutsche bürgerliche Ökonomie war auch eine Waffe, aber keine Waffe der Bourgeoisie gegen den Feudalismus, sondern gegen die. Arbeiterklasse. Sie stützte sich dabei auf die nie abgerissene Kette der reaktionären Tradition! Aus dem Mangel der deutschen Verhältnisse wurden von den deutschen Professoren der „deutsche Geist", das „deutsche Wesen" destilliert, und daraus wurde dann später bei Werner Sombart — und bei Adolf Hitler — der „deutsche Sozialismus". Jürgen Kuczynski hat recht, wenn er einmal schreibt: „Man soll endlich von der Vorstellung der weltgewandten, ihren tiefen wissenschaftlichen Studien ergebenen deutschen Professoren wegkommen. Die deutschen Professoren waren tatsächlich vielfach auf das engste mit der Entwicklung des deutschen Imperialismus verknüpft — nicht als unschuldige Opfer, nicht als harmlos im Zuge der Zeit vertrottelnde Denker, sondern als höchst aktive Männer, die sehr wohl wußten, was sie lehrten und wollten. Es ist keineswegs so, daß erst unter dem Nationalsozialismus die deutschen Katheder zu Katapulten imperialistischer Ideologien wurden. Sie waren es seit Jahrzehnten." 1 ) J a — sie waren es seit Jahrzehnten, und zwar dem Inhalt nach alle, der Form nach mit einigen Unterschieden. Es gab ausgesprochene Scharfmacher unter den deutschen bürgerlichen Ökonomen und sehr liberale, ja mit dem Sozialismus liebäugelnde Vertreter und dazwischen die ganze Schar der „objektiven", in der „Mitte" stehenden bürgerlichen Ökonomen. Aber die Wissenschaft wurde nicht von ihnen, sie wurde von der Arbeiterklasse vertreten! Die eigentümliche historische Entwicklung der deutschen Gesellschaft schloß zwar jede originelle Entwicklung der „bürgerlichen" Ökonomie aus, aber nicht deren Kritik, heißt es bei Marx. „Soweit eine solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist — das Proletariat." 2 ) Eine Geschichte der politischen Ökonomie, die eine wissenschaftliche, d. h. auf dem Boden des dialektischen Materialismus stehende Wissenschaftsgeschichte sein muß, findet in den Arbeiten von Marx und Engels somit nicht nur die methodischen Hinweise, sondern auch f ü r wichtige Abschnitte der Jürgen Kuczynski, Heinrich von Treitschke und der Reichsverband der deutschen Industrie, Der Aufbau, Berlin, Jg. 2, 1947, S. 950. 2 ) Kapital, Bd. I, S. 14.

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Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie die Ausführung. Die Darstellung der Entwicklung der bürgerlichen Ökonomie durch Marx und Engels erleichtert uns das Begreifen der Entwicklung der bürgerlichen Wissenschaft überhaupt. Worin kommen die Merkmale der deutschen bürgerlichen Ökonomie zum Ausdruck? Sie kommen erstens in der starken Bedeutung der Vulgärökonomie in Deutschland zum Ausdruck, im Fehlen des wissenschaftlichen, des nationalen Moments in den Theorien auch der berufsmäßigen Vertreter der Ökonomie; sie kommen zweitens darin zum Ausdruck, daß auch bei den ernsthaften Vertretern einer bürgerlichen Ökonomie nie eine Vermittlung zwischen rationalem und empirischem Moment, eine Synthese von Logik, und Geschichte zustande gekommen ist. Diese Synthese war in Deutschland vor der Reife der kapitalistischen Produktionsweise aus historisch-gesellschaftlichen G r ü n den noch nicht möglich, nach der Reife der kapitalistischen Produktionsweise aber war eine solche Reife nur möglich f ü r die politische Ökonomie der Arbeiterklasse. Die bürgerliche Ökonomie Deutschlands im ganzen zerfiel dabei in „Schulen", die ja ein Moment der einheitlichen wissenschaftlichen Methode widerspiegelten und konnte demzufolge nie die Höhe erreichen, die die bürgerliche Ökonomie der Klassik in England oder auch in F r a n k reich erreicht hatte.

2. Die „deutsche" Schule der politischen

Ökonomie

a) Die Romantiker — Adam Müller (1779—1829) Es ist von mehr als symbolischer Bedeutung, daß in Deutschlands trübster Zeit, während des „tausendjährigen Reiches" Adolf Hitlers, die Ideen des Erzreaktionärs Adam Müller wieder hervorgeholt wurden. Mit Adam Müller beginnt in der Tat eine deutsche Tradition in der bürgerlichen Ökonomie, und Edgar Salin ist zuzustimmen, wenn er schreibt, daß „die Lehren von Müller, List und T h ü n e n . . . nicht nur ein eigentümliches deutsches Wesen zeigen, sondern auch in Deutschland allein unmittelbar verstanden und fruchtbar ausgebaut wurden". 1 ) Wir werden sehen, wie sehr Salin mit diesem „eigentümlichen" deutschen Wesen recht hat, das allerdings in der deutschen geschichtlich-reaktionären Tradition begründet liegt. Und Salin ist sogar noch weiter zuzustimmen, wenn er auch Marx in diesem Zusammenhang der Begründung einer deutschen Tradition nennt, wenn auch wieder in einem ganz anderen Sinne als Salin meint! Die reaktionäre deutsche Tradition, begründet in den reaktionären deutschen Verhältnissen, brachte nicht n u r einen Adam Müller hervor A. a. O., S. 60. 377

und erlaubte, daß seine Gedanken nicht mit einem Hohnlachen dahin gestellt wurden, wohin sie gehören: in das Raritätenkabinett des menschlichen Geistes — oder Ungeistes —; sie schufen die Bedingungen zugleich f ü r den fortschrittlichsten und revolutionärsten Denker der neuen Zeit: Karl Marx! Beides ist deutsche Tradition: Adam Müller und Karl Marx! Aber Adam Müller, das ist die reaktionäre deutsche Tradition, das ist der Mann, von dem sogar ein Othmar Spann, der selbst noch f ü r Hitler zu reaktionär war, sagen mußte, daß die Ursache f ü r seinen geringen praktischen Einfluß hauptsächlich in der übertriebenen, stockreaktionären Wirtschaftspolitik lag, welche . . . Adam Müller . . . vertrat. Das war den Zeiterfordernissen zuwider gehandelt. Die Zeit strafte Müller mit Nichtbeachtung — zum Schaden „wahrer" Wissenschaft. Es blieb Spann vorbehalten, eine solche „wahre" Wissenschaft zu begründen, diesen trüben Quell wieder zum Fließen zu bringen. Er hatte aber auch zwischendurch die deutsche „Wissenschaft" schon gespeist! Und welche Politik vertrat dieser „Romantiker"? Hören wir Othmar Spann! „Es war die vollständige Ablehnung aller liberalen Reformen, nicht nur der Gewerbefreiheit, sondern auch der Aufhebung der ständigen Unterschiede und der Bauernbefreiung, die Rückkehr zu mittelalterlichen Zuständen, welche ihr wirtschaftspolitisches Programm bildete." Das heißt doch nichts weiter, als daß die romantische Schule und ihr Haupt, Adam Müller, die feudale Seite der deutschen Verhältnisse nicht n u r widerspiegelte, sondern jeden Fortschritt entschieden bekämpfte. Von hier aus floß das Gift der reaktionären Geisteshaltung über die historische Schule in die deutsche ökonomische Wissenschaft ein und wirkte von hier als Hemmschuh der gesellschaftlichen Entwicklung auf diese zurück. „Die Elemente alles politischen L e b e n s . . . sind im Mittelalter zu finden", meinte Müller. „Die Verbindung dieser E l e m e n t e . . . war unvollkommen, weil sie mehr föderativ als organisch vollzogen wurden." Und Spann f ü g t hinzu: „ . . . ohne Zweifel ein Wort von hoher Weisheit." Die deutschen Faschisten fanden die nicht nur föderative, sondern organische Verbindung der „Elemente des Mittelalters" — womit? Mit den Elementen des sterbenden Kapitalismus; und das ergab nicht n u r die brutalste, -sondern auch die geistloseste Reaktion der menschlichen Geschichte! Aber auch hierin begründete Müller die deutsche Tradition: „Im J a h r e 1813 ließ Müller eine Durchschrift an Hardenberg überreichen", schreibt Spann, „indem er die Stein-Hardenbergschen Reformen v e r w i r f t . . . Genz und A. Müller wurden überdies die politischen Helfershelfer des argen Dunkelmannes Metternich in Österreich." Nach Marx waren es „zwei Umstände, die A. Müller speziell zu einer sogenannten ,höheren' Auffassung der politischen Ökonomie" befähigten: 378

„Einerseits seine ausgebreitete Unbekanntschaft mit ökonomischen Tatsachen, andererseits sein bloß dilettantisches Schwärmerei-Verhältnis zur Philosophie." 1 ) Obwohl Salin meint, dieses Urteil von Marx sei „dem allgemeinen Unverständnis der Aufklärung aller Richtungen und Parteien" entsprungen, charakterisiert er Müller doch schließlich selbst als „einen philosophischen Kopf ohne die Gnade, und darum ohne das Gewicht der echten Philosophie . . ," 2 ) Was heißt das aber weiter, als daß Müller eben nur ein Dilettant auf philosophischem Gebiet gewesen ist? Was seinen „mehr als gewöhnlichen Sinn für die gesunden und aufbauenden Kräfte von Mensch und Staat und Gesellschaft" betrifft, von denen Salin weiter spricht, 3 ) so berufen wir uns demgegenüber nur auf den gewiß des Fortschritts unverdächtigen Spann: Müller war ein stockreaktionärer Politiker! Da aber reaktionäre Geisteshaltung und Realismus immer notwendig in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen, muß es mit dem Sinn Müllers für die „gesunden und aufbauenden Kräfte" sehr schlecht bestellt gewesen sein. Adam Müller war nach Marx „ein ökonomischer Romantiker, dessen ,Tiefsinn' darin besteht, die Staubwolken der Oberfläche zu sehen, und dieses Staubig anmaßlich als etwas Geheimnisvolles und Bedeutendes auszusprechen". 4 ) Doppeltes Pech war es aber für Müller, daß diese „Staubwolken der Oberfläche" Staubwolken der Oberfläche eines noch unentwickelten Kapitalismus waren. Anders wäre er schließlich ein gemeiner bürgerlicher Vulgärökonom mit Talent, wie z. B. Werner Sombart oder Adolf Weber geworden. So aber wurde er ein romantisierender Vulgärökonom und Begründer einer reaktionären Tradition! Das Verfahren von Müller, sagt Marx an anderer Stelle, sei „für die Romantik in allen Fächern charakteristisch. Ihr Inhalt aus Alltagsvorurteilen, abgeschöpft von dem oberflächlichsten Schein der Dinge. Dieser falsche und frivole Inhalt soll dann durch eine mystifizierende Ausdrucksweise .erhöht und poetisiert' werden." 5 ) Müller wird von den bürgerlichen Dogmenhistorikern nicht nur als V o r läufer der historischen Schule, sondern auch als Vorläufer der Knappschen Geldtheorie und einiges andere in Anspruch genommen, was bei seiner romantischen Verschwommenheit nicht weiter verwunderlich ist! 6 ) Er war — meint Salin — „im Guten wie im Bösen ein deutscher Mensch romantischer Art und romantischen Schicksals, mehr reich als klar, mehr Geist als Kraft, in Leben und Lehre vor der Frucht geknickt und doch von starker unterirdischer Wirkung auf viele Geschlechter". 7 )

-) 3) 4) 5) °) 7)

Marx, Zur Kritik, S. 71, Fußnote 41. Salin, a. a. O., S. 147. Ebd. Marx, Kapital, Bd. III, S. 391. Ebd., S. 434. Vgl. Salin, a. a. O., S. 147 f und Kunze, a. a. O., S. 129 f. A. a. O., S. 149. 379

b) Heinrich von Thünen (1783—1850) J o h a n n Heinrich von Thünen w a r als Sohn eines Gutsbesitzers in Oldenburg geboren und e r w a r b 1810 das Gut Teltow bei Rostock. Sein Hauptwerk, „Der isolierte Staat", erschien 1826. Er w a r also Grundeigentümer u n d beschäftigte sich in seinem Werk mit den Fragen, wie er als Kapitalist erfolgreich sein könnte. In einem Brief an Kugelmann vom 6. März 1868 schreibt Marx: „Ein mecklenburgischer J u n k e r (übrigens mit deutscher Denk-Distinktion), der sein Gut Teltow als das Land u n d Mecklenburg-Schwerin als die Stadt behandelt und von diesen Voraussetzungen aus, mit Hilfe von Beobachtung, Differentialkalkül, praktischer Rechnungsführung etc., sich die Ricardosche Theorie der G r u n d r e n t e selbst konstruiert. Es ist dies respektabel u n d zugleich ridicul." 1 ) Wie bescheiden die bürgerliche Ökonomie im G r u n d e in methodologischer Beziehung ist, zeigt das große Lob, das Thünen von allen Seiten wegen seiner „Methode der isolierenden Abstraktion" gespendet wurde. „In der A r t des abstrahierenden Vorgehens den Engländern verwandt, hat Thünen in Wirklichkeit als einziger das zu vermeiden gewußt, was immer wieder als der Fehler der Klassiker gerügt und doch nie geändert wurde, ihre V e r w e n d u n g wirklichkeitsfremder Arbeitshypothesen", schreibt Salin, „statt vermittels einer angreifbaren Psychologie sich einen wirtschaftlichen Homunkulus zu konstruieren, h a t er die staatliche Wirtschaftseinheit zugrunde gelegt, nicht einen unwirklichen Robinson fingiert, sondern den wirklichen Staat isoliert." 2 ) K u n z e meint, daß die „isolierende Abstraktion" f ü r Thünen ein „logisches Hilfsmittel" sei, „um allgemeine Ursachen und Tendenzen zu erkennen und darzustellen". Er sei sich aber bewußt gewesen, daß noch andere Ursachen einwirken, die er ausgeschieden habe. Er habe deshalb „seine Ergebnisse" wieder „mit der Wirklichkeit in Zusammenhang bringen" wollen. Nachdem T h ü n e n das theoretische Resultat g e f u n d e n hatte, folgte durch etappenweise Wiederauflösung der Isolierung eine A n n ä h e r u n g des theoretischen Ergebnisses an die Wirklichkeit. „Darüber hinaus dienten ihm Zahlenbeispiele aus seiner landwirtschaftlichen Praxis zur Verifikation seiner Ergebnisse. So fand e r den Weg von seiner abstrakten Theorie zur realen Wirklichkeit." 3 ) Während die Klassiker allerdings eine ganz andere Methode als die der sogenannten „isolierenden Abstraktion" angewandt hatten, wie wir gesehen haben, aber dabei vom Erfahrungsgehalt des englischen Industriekapitalismus ausgingen, verarbeitete Thünen den Erfahrungsgehalt eines mecklenburgischen Gutes vermittels dieser sogenannten Methode der „isolierenden Abstraktion". So bestimmt der Inhalt auch die Methode! Und so w u r d e diese Marx-Engels, Ausgewählte Briefe, a. a. O., S. 231/232. ) Salin, a. a. O., S. 155. 3 ) Kunze, a. a. O., S. 18. 2

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Methode der „isolierenden Abstraktion" in Deutschland die Methode der bürgerlichen Ökonomen schlechthin! „Thünen ist in der Tat ein Pionier der modernen nationalökonomischen Theorie . . . " , schreibt Heimann. 1 ) Untersuchen wir, w i e die Methode von Thünen aussieht, und die „reale Wirklichkeit", zu der er zurückkehrt. Worin besteht die von Thünen angewandte Methode der „isolierenden A b straktion"? Er wendet sie an, um in einem „isolierten Staat" zu untersuchen, w i e die größere oder geringere Entfernung von der Stadt auf die A r t des Landbaues und auf das Einkommen der Landwirte einwirkt. Er entdeckt dabei die bereits in der Ricardoschen Rententheorie enthaltene Diflerenzialrente der Lage und findet einige recht fragwürdige Erkenntnisse einer Standorttheorie. Die Voraussetzungen, die Thünen zur Untersuchung der Standorte der verschiedenen Systeme der landwirtschaftlichen Erzeugung machte, sind folgende: „Man denke sich eine sehr große Stadt, in der Mitte einer fruchtbaren Ebene g e l e g e n . . . Die Ebene selbst bestehe aus einem durchaus gleichen B o d e n . . . In großer Entfernung von der Stadt endige sich die Ebene in eine unkultivierte Wildnis, wodurch dieser Staat von der übrigen W e l t gänzlich getrennt wird." Es entsteht die Frage, w i e sich unter diesen Verhältnissen j e nach der größeren oder geringeren Entfernung von der Stadt, das ist v o m Marktorte, der Ackerbau gestalten würde. Thünen antwortet: Die größere Entfernung v o m Marktorte wirkt, wegen der zunehmenden Transportkosten, w i e ein Sinken der Preise bei gleichbleibender Entfernung. Infolgedessen muß mit der wachsenden Entfernung v o m Markte immer mehr zu solchen Bewirtschaftungssystemen übergegangen werden, welche, wenn sie auch geringere Roherträge liefern, so doch weniger Kostenaufwand (Kapital und A r b e i t ) erfordern, indem sie immer größere Teile des Erzeugungsprozesses der Natur selber überlassen, d. h., es w i r d mit immer zunehmender Extensität gewirtschaftet. Es folgt also: „ . . . daß in der Nähe der Stadt solche Produkte gebaut werden müssen, die im Verhältnis zu ihrem W e r t ein großes Gewicht h a b e n . . . und deren Transportkosten nach der Stadt so bedeutend sind, daß sie aus entfernten Gegenden nicht mehr geliefert werden können (weil die Transport-: kosten im Verhältnis zum Preise zu hoch wären), so, w i e auch solche P r o dukte, die dem Verderben leicht unterworfen sind . . . " — deren entfernter Anbau also unmöglich wäre. So werden sich stufenweise die Anbauorte einzelner Erzeugnisse v o m Marktort entfernen, das heißt aber: es werden sich um die Stadt scharf geschiedene konzentrische Kreise bilden, in welchen jeweils andere Gewächse das Haupterzeugnis ausmachen und andere B e w i r t schaftungsweisen herrschen. Und zwar ergeben sich vier konzentrische Kreise: 1. Freie Wirtschaft, A. a. O., S. 133. 381

2. Forstwirtschaft, 3. Fruchtwechsel-, Koppel- und Dreifelderwirtschaft, 4. Viehzucht. Wie Thünen im I. Teil seines Werkes den Standort der einzelnen Wirtschaftszweige behandelt und den Einfluß untersucht, den die Getreidepreise, der Reichtum des Bodens und die Abgaben auf den Ackerbau ausüben, so behandelt er im II. Teil den naturgemäßen Arbeitslohn und dessen Verhältnis zum Zinsfuß und zur Landrente. Hier erörtert er die Höhe des Zinsfußes, den Unternehmerlohn und Unternehmergewinn, die Bildung des Kapitals usw. „Diesen nicht aus dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage entspringenden, nicht nach dem Bedürfnis des Arbeiters abgemessenen, sondern aus der freien Selbstbestimmung der Arbeiter hervorgehenden Lohn j / a • pl nenne ich den naturgemäßen oder auch den natürlichen Arbeitslohn." Der naturgemäße Arbeitslohn wird also nach Thünen gefunden, wenn man die notwendigen Bedürfnisse des Arbeiters (in Korn oder Geld ausgedrückt) multipliziert und hieraus die Quadratwurzeln zieht." Mit diesem Arbeitslohn, meint Thünen, fallen alle die Übelstände weg, an denen der soziale Zustand Europas erkrankt ist. „In \f a • pi ist der Lohn des Arbeiters dem Werte seiner Erzeugnisse proportional; in unseren gegenwärtigen Zuständen ist der Lohn des Arbeiters von seinem Arbeitsprodukt ganz unabhängig. In der Trennung des Arbeiters von seinem Erzeugnis Hegt die Quelle des Übels." Thünen hoffte, diese Quelle verstopfen zu können, war aber doch zweifelhaft geworden, ob sich sein Wunsch verwirklichen lasse, ob und unter welchen Bedingungen der Arbeitslohn Y a ' P1 »für unsere europäischen Zustände" möglich sei. „Soviel aber leuchtet ein", meinte er, „daß wenn auch die vollständige Zurückführung zum naturgemäßen Arbeitslohn nicht möglich wäre, doch die Ubelstände sehr gemildert werden, wenn die Arbeiter auch nur einen Teil ihres Lohnes im Anteil an dem Erzeugnis ihrer Arbeit erhalten." Dies veranlaßte ihn, auf seinem Gut, um so dem Gesetz vom naturgemäßen Arbeitslohn näherzukommen, den Arbeitern einen Anteil am Reingewinn zu gewähren. Thünen war auf die Entdeckung seiner „Lohnformel" so stolz, daß er sie sogar auf seinen Grabstein gesetzt haben wollte! Was besagt diese Lohnformel? Sie ist nichts weiter als das geometrische Mittel zwischen Arbeitslohn und Wertprodukt des Arbeiters, müßte also zu einer Senkung der Mehrwertrate führen. Sie verlangt, daß der Kapitalist freiwillig zugunsten des Arbeiters auf einen Teil der unbezahlten Arbeit verzichten, also kein Kapitalist mehr sein soll. Das ist alles! In einem Brief vom 21. September 1875 an Schumacher schreibt Marx zu dieser Lohnformel, wegen der Thünen mitunter zu den Vorläufern des wissenschaftlichen Sozia382

lismus gerechnet wird, ebenso kurz wie sachlich: „Ich habe T h ü n e n i m m e r fast f ü r eine A u s n a h m e u n t e r den deutschen Ökonomen gehalten, da selbständige, objektive Forscher sehr selten u n t e r ihnen zu finden sind. Ich könnte Ihr ganzes Vorwort unterschreiben, w e n n sich unsere S t a n d p u n k t e in der Frage ,des Arbeitslohnes' nicht wesentlich unterscheiden. T h ü n e n u n d Sie selbst betrachten den Arbeitslohn als unmittelbaren Ausdruck der wirklichen ökonomischen Verhältnisse; ich aber betrachte ihn n u r als Erscheinungsform, die den Inhalt verbirgt, der sich wesentlich von seinem Ausdruck u n t e r scheidet." 1 ) Um zu den wissenschaftlichen Ökonomen gezählt zu werden, genügt die selbständige Forschung natürlich nicht. Vielleicht w ä r e Thünen, h ä t t e er als Forschungsobjekt nicht seine Junkerwirtschaft, sondern den industriellen Kapitalismus gehabt, wirklich eine A u s n a h m e u n t e r den deutschen b ü r g e r lichen Ökonomen geworden. So kann m a n dem Urteil nichts m e h r hinzufügen, das Marx in einer Fußnote des ersten Bandes seines „Kapitals" in dem lakonischen Satz zusammenfaßt: „Es ist das Verdienst Thünens, gefragt zu haben. Seine A n t w o r t ist einfach kindisch." 2 ) In der Tat, es ist so, w i e Salin feststellt: „Das Werk Thünens ist nicht n u r inhaltlich, sondern auch verfahrensmäßig bedeutungsvoll und lehrreich." 3 ) Salin meint dies allerdings nicht i r o n i s c h . . . ! Wenn von den bürgerlichen Historikern der politischen Ökonomie Thünens Entdeckungen zu den Großtaten der theoretischen Ökonomie gezählt wurden, d a n n beweist das n u r die Seichtigkeit und Flachheit der übrigen bürgerlichen Ökonomen. Es w a r die Ökonomie des Kapitalismus aus der Perspektive des mecklenburgischen Gutes!

c) Friedrich List (1789—1846) Friedrich List w u r d e im J a h r e des S t u r m e s auf die Bastille und der E r klärung der Menschenrechte durch die Große französische Revolution geboren und starb zwei J a h r e vor der verunglückten deutschen Revolution von 1848 durch Selbstmord. Während Thünen sich damit begnügen mußte, die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise aus den E r f a h r u n g e n eines mecklenburgischen Gutes zu abstrahieren und sie an ihnen zu demonstrieren, beging List Selbstmord aus Verzweiflung über die engen deutschen Verhältnisse. List w a r der Vertreter der jungen deutschen industriellen Bourgeoisie. Deswegen hebt er den nationalen Charakter der einzelnen Volkswirtschaften hervor, u n d dem entspricht seine Theorie der produktiven K r ä f t e u n d des Schutzzolles. ») Marx-Engels, Gesamtausgabe der Werke, Bd. XXVI, S. 395. ) Kapital, I, S. 653, Fußnote 774. 3 ) A. a. O., S. 155.

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Im Eingang des zweiten Buches seines Hauptwerkes „Das nationale System der politischen Ökonomie" kennzeichnet List den Unterschied zwischen der „politischen" und „kosmopolitischen" Ökonomie. Er weist darauf hin, daß es zur Zeit der Merkantilisten nur eine von den Staatsadministratoren geübte Praxis der politischen Ökonomie gegeben habe. Quesnay jedoch habe seine Forschungen auf das ganze menschliche Geschlecht ausgedehnt. So handelte er von der Wissenschaft, welche lehrte, wie das gesamte menschliche Geschlecht zu Wohlstand gelangen könne, im Gegensatz zu derjenigen Wissenschaft, die sich darauf beschränkte, zu lehren, wie eine gegebene Nation unter den gegebenen Weltverhältnissen durch Ackerbau, Industrie und Handel zu Wohlstand, Zivilisation und Macht gelange. Von denselben Gesichtspunkten sei auch Adam Smith, seien J. B. Say und alle späteren Schriftsteller der „Schule" ausgegangen. Dieser „kosmopolitischen" Ökonomie, wie sie von den Klassikern ausgebildet sei, stellte List die „politische" Ökonomie gegenüber. In der Gesellschaftsökonomie, die von der Privatökonomie zu trennen sei, müsse man unterscheiden: „die politische oder Nationalökonomie, welche, von dem Begriff und der Natur der Nationalität ausgehend, lehrt, wie eine gegebene Nation bei der gegenwärtigen Weltlage und bei ihren besonderen Nationalverhältnissen ihre ökonomischen Zustände behaupten und verbessern kann — von der kosmopolitischen oder Weltökonomie, welche von der Voraussetzung ausgeht, daß alle Nationen der Erde nur eine einzige, unter sich in ewigem Frieden lebende Gesellschaft bilden". List stellt der „Theorie der Werte" der Klassiker der bürgerlichen Ökonomie seine „Theorie der produktiven Kräfte" entgegen. Die Kraft, Reichtümer zu erzeugen, sei wichtiger als der Reichtum selbst. Adam Smith habe — so meint List — in einseitiger Weise n u r an die Arbeit gedacht, die materielle Güter hervorbringe. Zu den produktiven Kräften gehöre jedoch alles, was Arme und Hände in Bewegung setze, also der Geist, der die Menschen beseele, und die gesellschaftliche Ordnung ebenso wie alle Naturkräfte. Die Nation sei mit ihren Eigenschaften, Fähigkeiten und Einrichtungen Träger der produktiven Kräfte. Die einzelnen Volkswirtschaften befinden sich nach List in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung, wobei fünf Wirtschaftsstufen unterschieden w e r den müßten: 1. Jagd und Fischerei, 2. Viehzucht, 3. Ackerbau 4. Ackerbau in Verbindung mit Gewerbe, 5. Ackerbau mit Gewerbe und Handel. Die höchste Stufe könne von jeder Nation erreicht werden, aber der Stand müsse die Voraussetzungen hierfür schaffen. Die produktiven Kräfte einer 384

Volkswirtschaft dürfen nicht als eine gegebene Größe angesehen werden, sondern das Ziel: die volle Entfaltung aller produktiven Kräfte eines Landes müsse durch ein Schutzzollsystem erreicht werden, das die nationale Industrie gegen die Ubermacht der Industrie des Auslandes schützen müsse. Sobald diese höchste Stufe erreicht sei, können diese „Erziehungszölle" der nationalen Industrie fallen. Die Bedeutung Friedrich Lists liegt nicht sosehr auf theoretischem als vielmehr auf politischem Gebiet. „Friedrich List war von enthusiastischem Glauben an den progressiven Kapitalismus beseelt", meint Eduard Heimann.1) Er scheiterte daran, daß ein solcher progressiver Kapitalismus zu seiner Zeit noch nicht möglich war. List hat nie einen bedingungslosen Schutzzoll befürwortet. Er ist infolgedessen zu Unrecht von den imperialistischen Ideologen als Vorläufer in Anspruch genommen worden. List war für Erziehungszölle, um den jungen deutschen Kapitalismus zu fördern! Die allgemeine Blindheit für „den theoretischen Gehalt und den soziologischen Rahmen von Lists Lehren" habe dazu geführt, meint Salin, „daß Interessenten und Nationalisten seinen Namen mißbrauchen konnten und daß noch ein Teil der Exzesse des Hochkapitalismus durch Berufung auf List gestützt wurde".2) In seinen theoretischen Auffassungen blieb auch List weit hinter den englischen und französischen Ökonomen zurück. Sein Werk trägt den Stempel der ökonomischen und politischen Zurückgebliebenheit Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verbindet fortschrittliche und reaktionäre Tendenzen miteinander. Als bürgerlicher Ökonom stellt er niemals die Frage nach dem historischen Charakter des Kapitalismus, obwohl er die zeitgenössischen bürgerlichen Ökonomen Deutschlands ebenso wie die oberflächlichen Freihändler überragt. List hat die politische Ökonomie nicht um Erkenntnisse bereichert, ebensowenig wie Thünen, er ist aber wie dieser ein ernsthaft um die wissenschaftliche Erkenntnis Ringender, der an der Enge der deutschen Verhältnisse arbeitete. Durch seinen Kampf für Zollverein und Eisenbahnwesen wurde Friedrich List zu einem Vorkämpfer des einheitlichen nationalen Marktes in Deutschland als einer Bedingung der deutschen Einheit. Aber List trug als Vorläufer der sogenannten historischen Schule infolge der Zwiespältigkeit seines Werkes auch zu der späteren aggressiven imperialistischen deutschen Ideologie bei. „Arbeit, als die eine Quelle von stofflichem Reichtum, sei dem Gesetzgeber Moses ebenso wie dem Zollbeamten Adam Smith bekanntgewesen", schreibt Marx einmal in seiner „Kritik der politischen Ökonomie" — und er fügt hinzu: „Friedrich List, der den Unterschied zwischen der Arbeit, sofern sie Nützliches, einen Gebrauchswert schaffen hilft, und der Arbeit, sofern sie eine bestimmte gesellschaftliche Form des Reichtums, den Tauschwert, schafft, nie begreifen konnte, wie Begreifen überhaupt seinem interessiert praktischen 2

A. a. O., S. 156. ) S a l i n , a. a. O., S. 152/153.

23 Behrens

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Verstand fern lag, erblickte daher in den englischen Ökonomen bloße Plagiarien des Moses von Ägypten." 1 ) In Thünen und List zeigt sich die Misere der deutschen Geschichte, die fortschrittliche Ansätze in der bürgerlichen Ökonomie erstickte. Heinrich von Thünen, der mecklenburgische Gutsbesitzer, wäre unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen vielleicht ein bedeutender bürgerlicher Ökonom geworden, und Friedrich List wäre nicht in der Enge der deutschen Verhältnisse zugrunde gegangen, wäre nicht als Vorkämpfer der deutschen Einheit an der Kleinstaaterei in Deutschland gescheitert, sondern hätte vielleicht eine Analyse der Entwicklung des deutschen industriellen Kapitalismus und seiner Wirtschaftspolitik gegeben.

3. Die historische

Schule

a) Allgemeines „In der gleichen Zeit, in der der Aufstieg des Marxismus sich vollzog", schreibt Edgar Salin, „gelangte innerhalb jener Ökonomie, die Marx als Vulgärökonomik mißachtet hatte, trotz aller ein Jahrhundert währender Irrwege in Deutschland eine Richtung zur Ausbildung und zeitweise zur Herrschaft, die in einer Zeit, da im Marxismus die Klassik zu gipfeln und zu enden schien, die Fundamente eines eigenen Lehrgebäudes bereitete: der Historismus." 2 ) Salin sieht in der Arbeit an Geschichte und Theorie der nationalen Volkswirtschaften „die stärkste deutsche Leistung der Vergangenheit . . ." s ) Diese deutsche „Leistung" hat ihre Ursachen aber in der ökonomischen Rückständigkeit der deutschen Volkswirtschaft bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts und in der politischen Rückständigkeit der deutschen Bourgeoisie nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Erst ökonomisch rückständig und daher unfähig, die klassische Ökonomie zu begreifen, geschweige denn eine eigene bürgerliche Ökonomie hervorzubringen, w i e das Beispiel von Thünen und List zeigt, nur in der Lage, die Ökonomie des Kapitalismus aus der Perspektive des mecklenburgischen Gutes oder der praktischen Bourgeoisie zu begreifen, die erst die Hindernisse für ihre Entwicklung beseitigen muß; dann voller Furcht vor den Kräften, die sie geweckt hat, angstbebend vor dem „Gespenst des Kommunismus", das sich erst 1848 und dann noch drohender 1871 aufreckte und ihr die Fähigkeit zum klaren Denken überhaupt raubte — war die deutsche Bourgeoisie nur noch in der Lage, eine „historische" Schule der Ökonomie — das „Grab jeder Wissenschaft" — hervorzubringen. Die ökonomischen Theoretiker der englischen Bourgeoisie, die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie brachten mit den Interessen des engMarx, a. a. O., S. 31, Fußnote 9. Salin, a. a. O., S. 145. 3) Ebd. 2)

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lischen Kapitalismus die allgemeinen Gesetze des Kapitalismus zum Ausdruck. Sie brauchten ihre A u f m e r k s a m k e i t nicht auf die — vorhandenen — Besonderheiten des englischen Kapitalismus zu lenken, da das Allgemeine, das Wesen des Kapitalismus in England, bereits weit genug entwickelt w a r , und sie analysierten daher mit den Gesetzen der englischen Ökonomie die allgemeinen Gesetze des Kapitalismus. Die deutschen Ökonomen konnten aber — erst noch nicht und später nicht m e h r — mit den allgemeinen Gesetzen des Kapitalismus nicht zugleich die Interessen des deutschen Kapitalismus zum Ausdruck bringen, weil das Allgemeine, das Wesen des Kapitalismus in Deutschland, noch nicht weit genug entwickelt war, u n d sie richteten daher ihre Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten des deutschen Kapitalismus. Deutschland w u r d e zur Wiege der „historischen" Schule, weil es f ü r die deutsche Bourgeoisie im Gegensatz zur englischen Bourgeoisie eine Notwendigkeit war, nicht sosehr die allgemeine Gesetzlichkeit der kapitalistischen Produktion zu untersuchen, als vielmehr die Besonderheiten der deutschen Entwicklung zu betonen. Das Interesse der bürgerlichen Ökonomen in Deutschland konzentrierte sich zwangsläufig auf die Herausarbeitung des historisch Besonderen und national Beschränkten. Sowohl klassische wie historische Schule sind „national", weil P r o d u k t und Ausdruck einer beschränkten historischen u n d territorialen Entwicklung. Aber der verschiedene Reifegrad dieser Entwicklung machte die klassische Ökonomie zu einer allgemeinen, d. h. internationalen und fortschrittlichen Theorie, die historische Schule zu einer n u r besonderen, d. h. nationalen und daher reaktionären Theorie. Dabei m u ß m a n die Verwandtschaft der historischen Schule mit der Romantik eines A d a m Müllers beachten! „Nicht mit Unrecht werden die Romantiker und vor allem Adam Müller als Vorläufer der historischen Richtung in der Volkswirtschaftslehre angesehen", heißt es im „Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre". 1 ) Die „romantische" Richtung in der deutschen Ökonomie habe zunächst keinen nennenswerten Einfluß gehabt, aber „Männer wie Hildebrand, Knies und Roscher" haben „die Müllerschen Theorien eingehend und im großen und ganzen vorurteilslos" behandelt. — Diese „Geistesverwandtschaft" ist selbstverständlich m e h r als eine n u r ideologische Tradition. Die reaktionären Ideen von A d a m Müller paßten v o r züglich zur Begründung der Ansprüche der deutschen Bourgeoisie auf dem Weltmarkt und gegen die deutsche Arbeiterklasse. „Man k a n n sich d e r . . . falschen Resultate Müllers klar bewußt sein", schreibt Knies, „und doch die Nachfolge nicht verschmähen in dem Streben . . . über die Berechnung von Sachgüterquantitäten die sittlichen und politischen B e d ü r f n i s s e . . . nicht zu vernachlässigen." 2 ) Deswegen eben — wegen dieser „Nachfolge" in der BeJ

) 2. Aufl., 1935, Bd. II, S. 806. ) Politische Ökonomie, 2. Aufig., 1883, S. 311.

2

25»

387

friedigung der „sittlichen und politischen Bedürfnisse" war auch die deutsche „Leistung" in der politischen Ökonomie — um mit Salin zu sprechen — so sehr geeignet, die imperialistische Ideologie abzugeben, als der deutsche Kapitalismus zum führenden Kapitalismus geworden war. Die „historische" Schule brachte in ihrer Entwicklung eine Reihe Schattierungen hervor, deren Einzeluntersuchung und Einzeldarstellung aber uninteressant ist. Die Männer, die im Anschluß an die historische Rechtsschule Eichhorn, Savigny, Puchta die romantische, d. h. die deutsche reaktionäre feudale Überlieferung übernahmen, nennt man die „ältere" historische Schule. Dazu gehören vor allem Roscher, Knies und Hildebrand. Dieser sogenannten „älteren" historischen Schule reihte sich in den siebziger Jahren die „jüngere" historische Schule an. Dazu gehören vor allem Schmoller, Brentano, Knapp, Bücher, Held, Gothein. Diese „jüngere" historische Schule wird auch als „historisch-ethische" Schule bezeichnet. Die Vertreter der „älteren" historischen Schule versuchten noch eine Synthese zwischen Theorie und Geschichte herzustellen. Die Vertreter der „jüngeren" historischen Schule gingen dagegen immer mehr in Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsbeschreibung auf. Denn nun war zwar der deutsche Kapitalismus erstarkt, mit ihm war aber auch eine starke deutsche Arbeiterbewegung entstanden. Damit mußte unbefangene wissenschaftliche Forschung sofort zur „Kritik der politischen Ökonomie" hinführen, d. h. zur Anerkennung der Tatsache, daß die bürgerliche Produktionsweise in der Arbeiterklasse ihren eigenen Totengräber produzierte. Fürchtete man diese Anerkennung — Anerkennung dieser Tatsache bedeutete in der Konsequenz Bruch mit der eigenen Klasse —, so mußte man die Theorie eben verleugnen! Die „jüngere" historische Schule bildete so einen engen Empirismus aus, der vor jeder Verallgemeinerung zurückschreckte. Die extremsten Vertreter der „jüngeren" historischen Schule machten die Sammlung von konkrethistorischem Material zu ihrer ausschließlichen Aufgabe. Sie verschoben die verallgemeinernde theoretische Arbeit auf unbestimmte Zeit. „So wurden die bevölkerungsmäßigen, politischen, ethischen bis zu den religionsbedingten Grundlagen und Vorbedingungen der Volkswirtschaft erforscht und dargelegt. Je weiter man die Grundlagen verschob, desto näher glaubte man an die Quellen der Erkenntnis sozialwissenschaftlicher Erscheinungen und Geschehnisse zu kommen. Die Volkswirtschaftslehre löste sich auf in die Beschreibung aller unendlich mannigfachen Grundlagen und Voraussetzungen der Volkswirtschaft. Die Volkswirtschaftslehre ging unter im Beschreiben der tausendundein Tatsachen und Beziehungen der Volkswirtschaft,ai) Das war das eine Extrem, der Empirismus, der sich aus der Auflösung der bürgerlichen Klassik ergab und der Situation der deutschen Bourgeoisie entsprach, deren Wortführer die deutschen bürgerlichen Ökonomen waren. ' ) Tautscher, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, a. a. O., S. 216 (von Tautscher hervorgehoben, F. B).

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„Der Unterschied der jüngsten historischen Schule von Roscher ist der", so charakterisiert Schmoller die „jüngere" historische Schule, „daß sie weniger rasch generalisieren will, daß sie viel stärkeres Bedürfnis empfindet, von der Datensammlung zur Spezialuntersuchung der einzelnen Epochen, Völker und Wirtschaftszustände überzugehen. Sie verlangt zunächst Monographien. Sie will lieber zunächst den Werdegang der einzelnen Wirtschaftsinstitution als den der ganzen Volkswirtschaft und der universellen Weltwirtschaft erklären. Sie knüpft an die strenge Methodik rechtsgeschichtlicher Forschung an, sucht aber durch Reisen und eigenes Befragen das Bücherwissen zu ergänzen, die philosophische und psychologische Forschung heranzuziehen."1) Eine solche prinzipiell theoriefeindliche Stellung blieb in Deutschland lange tonangebend —• bis man in der sogenannten „Grenznutzentheorie" jene „Theorie" fand, die nicht befürchten ließ, daß daraus gefährliche Konsequenzen zu ziehen waren. Im Jahre 1908 — als der deutsche Imperialismus sich inmitten der Vorbereitungen zum ersten imperialistischen Weltkrieg befand, erklärte Schmoller: „Wir stecken noch vielfach in der Vorbereitung und Materialsammlung."2) Kann man offener seine Unfähigkeit erklären, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu erklären — oder sein Nichtwollen? Insgesamt gesehen war die historische Schule also der ideologische Ausdruck des Wachstumsprozesses des deutschen Kapitalismus und der deutschen Bourgeoisie. Aus der ursprünglichen ökonomischen Zurückgebliebenheit und der späteren Furcht vor der revolutionären Arbeiterklasse entstand dieses System. Als Ergebnis der Tätigkeit der „historischen Schule" erschien eine Anzahl von beschreibend-historischen Arbeiten über die Geschichte der Preise, des Arbeitslohnes, des Kredits, des Geldes usw. Die Theorie des Preises und des Wertes, die Theorie des Arbeitslohnes, der Geldzirkulation wurde durch diese Arbeiten der historischen Schule um keinen Schritt gefördert. Die Negation der „allgemeinen Theorie" bedeutet die Negation der politischen Ökonomie als einer selbständigen theoretischen Disziplin. Die aus der besonderen historischen Situation der deutschen Bourgeoisie sich ergebende Kritik der klassischen politischen Ökonomie durch die theoretischen Vertreter der deutschen Bourgeoisie erwies sich als völlig unfruchtbar. Sie war Schmoller, Grundriß S. 119. 2 ) Ebd., S. 123.

der

allgemeinen Volkswirtschaftslehre,

Leipzig 1908,

389

nicht schöpferisch — sie baute nicht auf dem erreichten Niveau auf —, sondern sie sank tief unter das erreichte Niveau herab! Da die „historische Schule" die Ableitung allgemeiner Gesetze überhaupt verschmähte, vernichtete sie die politische Ökonomie als Wissenschaft schlechthin. Sie ersetzte sie durch reine Beschreibung „ideographischer" Natur, sie läßt sie aufgehen in der Wirtschaftsgeschichte und in der Wirtschaftsstatistik. Der „historischen Schule" blieb versagt, ihre einzig richtige Idee, den Entwicklungsgedanken, in den Rahmen der theoretischen Forschung aufzunehmen. Damit erwies sie sich als völlig unfruchtbar für die wissenschaftliche Bereicherung. Karl Menger, der Begründer der österreichischen Schule, gibt eine durchaus zutreffende Charakteristik der historischen Schule: „Die äußerliche Verbindung gediegenen historischen Wissens mit einem sorgfältigen, aber führerlosen Ekletizismus auf dem Gebiet unserer Wissenschaft — d. h. der politischen Ökonomie — bildet den Ausgangspunkt, zugleich aber den Höhepunkt der historischen Schule." 1 ) 1884, Vorwort, S. IV.

Aufgabe der deutschen Theorie wäre gewesen: 1. aus den deutschen Besonderheiten die allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise zu konkretisieren, 2. in den deutschen Besonderheiten die allgemeinen Gesetze wirkend nachzuweisen und 3. kritisch, d. h. aber revolutionär, von den deutschen Besonderheiten her der Politik den Weg zu weisen! Die deutsche politische Ökonomie des Bürgertums hätte die feudal-reaktionären deutschen Verhältnisse kritisieren müssen, statt sie zu verherrlichen. Statt dessen ging man daran, „vorerst alle vor- und außerwirtschaftlichen Grundlagen und Bedingungen der Volkswirtschaft zu untersuchen. Weiter kam man dann nicht mehr, weil man die Forschung immer weiter in der Richtung nichtwirtschaftlieher Grundlagen der Volkswirtschaft vorschob." 2 )

b) Die „ältere" historische Schule Im Gegensatz zur späteren „jüngeren" historischen Schule lehnte die „ältere" historische Schule die „Theorie" nicht vollkommen ab. Die Vertreter der „älteren" historischen Schule wollten im Prinzip Theorie treiben, aber sie waren Gegner der angeblich „reinen" Theorie der Klassiker. Sie wollten an Stelle der Deduktion die Induktion in der Ökonomie verwenden, um die Lehren der klassischen Theorie zu bereichern und zu verifizieren. *) K. Menger, Die Irrtümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie, ) Tautscher, a. a. O., S. 176.

2

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1. Wilhelm Roscher (1817—1894) Wilhelm Roscher, der eigentliche Begründer der „historischen" Schule, wollte die Lehren der Klassiker ergänzen und von der klassischen Theorie zur deutschen Wirklichkeit durch geschichtliche Beispiele eine Brücke schlagen. Im Jahre 1843 erschien Roschers: „Grundriß zur Vorlesung über die Staatswissenschaft nach geschichtlicher Methode". Im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" heißt es über diese Schrift: diese kleine Schrift bildet ein Ereignis in der Geschichte der Volkswirtschaftswissenschaft." 1 ) Roscher will durch die Anwendung der historischen Methode auf die Nationalökonomie — wie er im Vorwort seiner Schrift schreibt — „für die Staatswissenschaft etwas Ähnliches erreichen, was die Savigny-Eichhornsche Methode f ü r die Jurisprudenz erreicht hat". Als Ziel setzt sich Roscher die Darstellung dessen, was die Völker in wirtschaftlicher Hinsicht gedacht, gewollt und empfunden, was sie erstrebt und erreicht, warum sie es erreicht haben. Eine solche Därstellung sei n u r möglich im engsten Bunde mit den anderen Wissenschaften vom Volksleben, insbesondere der Rechts-, Staats- und Kulturgeschichte. Roschers tatsächliche Leistung bestand jedoch höchstens in einer Ergänzung der vorhandenen bürgerlichen Ökonomie durch die geschichtliche Betrachtungsweise, indem er die Feststellung der Klassiker durch historische Beispiele belebte und vervollständigte. Roscher, dessen „Grundriß" im Untertitel „System der Volkswirtschaft, ein Hand- und Lesebuch f ü r Geschäftsmänner und Studierende" hieß und das aus fünf Bänden bestand, hat sich selbstverständlich auch m i t dem Sozialismus beschäftigt. Das verlangten die „Geschäftsmänner" von ihm. Er hat dies sogar ausführlich und — man kann wohl sagen — in f ü r die deutsche bürgerliche Ökonomie epochemachender Weise getan! Im Jahre 1892 ließ Roscher ein Buch erscheinen unter dem Titel: „Naturgeschichte der Monarchie, Aristokratie, Demokratie". In diesem Buch befindet sich ein Kapitel über „Sozialismus und Kommunismus". So unzweideutig das Wort Kommunismus die gänzliche Aufhebung des Privateigentums anzeige, so vieldeutig sei das „neuerdings aufgekommene Wort Sozialismus", meint Roscher.2) Wir wollen uns nicht bei der so ganz nebenbei von Roscher mit ausgesprochenen Lüge aufhalten, daß der Kommunismus die „gänzliche Aufhebung des Privateigentums" bedeutet. Diese Lüge gehört nun einmal bis auf den heutigen Tag zum eisernen Bestandteil der Mittel zum Kampfe gegen die Arbeiterbewegung, und es ist völlig hoffnungslos, bürgerlichen Ökonomen den Unterschied klarzumachen, der zwischen dem Privateigentum an ProA.a.O., 3. Auflage, Artikel: Roscher, Bd. IV. ) Neudruck 1935, S. 446.

2

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duktionsmitteln und dem Privateigentum an Konsumtionsmitteln besteht. Roscher gibt uns eine Definition des „vieldeutigen" Wortes Sozialismus, um seine Vieldeutigkeit zu beseitigen: Sozialismus „nenne ich eine Gemeinwirtschaft, die über den Gemeinsinn hinausgeht". 1 ) Doch sogleich wird der tiefe Sinn dieser dunklen Worte erhellt: „Eine solche („Gemeinwirtschaft", F. B.) ist immer freiheitswidrig, bei ihrer ersten Einführung und rechtswidrig . . ,"2) Da haben wir die völlige Eindeutigkeit der Auffassungen von Roscher! Man möchte hinzufügen: welch klare Erkenntnis! Aber warten wir mit dem Ausdruck unserer Bewunderung f ü r Roscher, bis wir alles gehört haben, was er uns zu sagen hat: Diese erste — rechtswidrige — Einführung des Sozialismus „kann der durch Zwang verletzten Person keine volle Entschädigung gewähren, weil sie f ü r das Volksvermögen durch Schwächung der Triebfedern zu Fleiß und Sparsamkeit immer eine Art Raubbau sein wird". Wie tragisch f ü r die „verletzten" Personen, möchte man ausrufen! Aber Roscher kritisiert nicht n u r negativ. Er macht auch Vorschläge: „Dagegen empfiehlt die Nationalökonomie nur dann Expropriationen, wenn die Triebfedern zu Fleiß und Sparsamkeit im Volke dadurch verstärkt werden; und der so gewonnene Vermögenszuwachs dient ihr zu voller Entschädigung der Expropriierten." 3 ) Welche kristallklare Logik! Erstens: Expropriationen führen immer zu einer Schwächung der Triebfedern zu Fleiß und Sparsamkeit — zweitens: Roscher empfiehlt daher nur solche Expropriationen, die nicht zu einer solchen Schwächung f ü h r e n . . . woraus folgt, daß das bürgerliche Eigentum nicht anzutasten ist! Die „Geschäftsmänner" sind zufrieden! Aber das ist noch keineswegs die äußerste Leistung dieses Meisters der historischen Schule! Wilhelm Roscher bemerkt, sehr besorgt um die üblen Folgen, welche der Sozialismus nicht nur f ü r „Geschäftsmänner", sondern auch f ü r die Arbeiter haben muß, daß einer „der besten neueren Nationalökonomen... sehr richtig" bemerkt habe, „daß im kollektivistischen' Staate der Arbeiter, ,der seine Werkzeuge usw. von der Gemeinschaft entnehmen muß, von dieser, d. h. von ihren Beamten, viel- abhängiger wäre als jetzt von den Fabrikanten usw., weil dort jede Konkurrenz fehlen würde'" 4 ) Roscher kann sich selbstverständlich unter Sozialismus nichts anderes vorstellen, als daß die preußischen Staatsbürokraten die Menschen wie im preußischen Zuchthausstaat beherrschen. „Der Staat würde nur solche Bedürfnisse befriedigen lassen, die ihm gefallen. Ein irgendwelcher Fortschritt könnte nur durchgesetzt werden, wenn der Erfinder die Mehrzahl überzeugt hätte. Dabei würden die Absatzkrisen schlimmer als jetzt, wo die Mannigfaltigkeit der Spekulationen die Irrtümer kleiner macht, als wenn ein einzelner großer Spekulant die Zuschrift falsch ') ) ) 4 ) 2

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A. a. O., S. 446. Ebd. Ebd. Ebd., S. 451.

beurteilte. Der internationale Handel wäre beim Kollektivismus so gut wie unmöglich . . ," 1 ) Genug dieser Plattheiten — die größte steht uns noch bevor: „Bei dem engen Zusammenhange zwischen Eigentum und Familie, Tisch und B e t t . . . stehen die meisten Sozialisten schon seit Piatos Zeiten der Weibergemeinschaft (oder der Zölibate) ebenso nahe wie der Gütergemeinschaft." 2 ) Das ist konsequent: Weil die Kommunisten alles wollen und die Weiber Eigentum der Männer sind, gemeinschaft — das ist die Logik des Herrn Roscher! Bourgeoisie! Wie er die Welt sieht, so glaubt er, sehen

Eigentum abschaffen sind sie für WeiberEr steht aber für die sie auch die anderen!

Ich kann aber nicht umhin, nun auch noch das Beispiel Roschers über die Entstehung des „Kapitals" anzuführen, das sich im selben Kapitel dieses Buches findet. „Denken wir uns ein Fischervolk", meint Roscher — und das Denken fällt ihm leicht, wie wir gesehen haben: „ein Volk ohne Privateigentum und Kapital, das nachts in Höhlen wohnt und sich von Seefischen nährt, welche bei der Ebbe, in Uferlachen zurückgeblieben, mit bloßer Hand gefangen werden. Alle Arbeiter mögen hier gleich sein, und jeder täglich drei Fische sowohl fangen wie verzehren. Nun beschränkt ein kluger Mann hundert Tage lang seinen Konsum auf zwei Fische täglich, und benutzt den auf solche Art gesammelten Vorrat von hundert Fischen dazu, fünfzig Tage lang seine ganze Arbeitskraft auf Herstellung eines Bootes und Fischnetzes zu verwenden." 3 ) Es ist doch ganz klar: Wenn der kluge Fischer nicht während der 100 Tage infolge der Einschränkung seines Konsums um Vs vor Entkräftung gestorben ist oder nicht während der nächsten 50 Tage an Fischvergiftung krepierte, dann ist das Resultat dieses lebensnahen und „historischen" Beispiels das, daß — wie Roscher aufatmend fortführt — er nun „mit Hilfe dieses Kapitals . . . fortan dreißig Fische täglich" fängt. 4 ) „Was werden seine Stammesgenossen, die nicht so planmäßiger Selbstüberwindung fähig sind: was werden sie ihm für die Nutzung seines Kapitals bieten", fragt Roscher nunmehr triumphierend? Die Antwort lautet jetzt aber nicht, wie wir denken: einen Eisschrank für die Aufbewahrung der Fische — nein, die Antwort ist: „Bei einer Verhandlung hierüber achten beide Teile gewiß nicht bloß auf die fünfzigtägige Arbeit, welche zur Herstellung des Bootes usw. erforderlich war, sondern zugleich auf die hundertfünfzigtägige Entbehrung der vollen Speiseration."5) Dabei ist Roscher aber noch sehr >) Ebd. Ebd. 3 ) Ebd., S. 459. 4 ) Ebd. 5 ) Ebd.

2)

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zurückhaltend in seiner Beurteilung dieser Leistung! Denn nicht nur die Entbehrung eines Drittels der gewohnten Konsumtion, sondern die Uberwindung, die darin besteht, während 50 Tagen faule Fische zu verzehren, sind gewiß Grund dafür, diesem klugen Mann das zu gewähren, was Roscher meint: Zins! „Es entstehen Kapitalien hauptsächlich durch Ersparnis, indem neue Produkte dem augenblicklichen Genußverbrauche des Besitzers entzogen und wenigstens ihrem Werte nach als Grundlage einer dauernden Nutzung aufbewahrt werden." 1 ) Wir sehen also, daß dieser „geniale" Denker den Sozialismus nicht nur negativ kritisiert. Er erklärt auch zugleich erschöpfend die wirkliche Entstehung des Kapitals: Entsagung und Selbstüberwindung — das sind seine Ursachen! Auf dieser so gelegten Grundlage kritisiert Roscher nun Marx! Nachdem Roscher uns selbst so viele Proben seines Scharfsinns gegeben hat, ist es durchaus berechtigt von ihm, zunächst festzustellen, daß Marx „überhaupt kein scharfer Denker" sei.2) Aber das bleibt keine leere Behauptung bei Roscher! Nein — er beweist sie. Marx drückte „z. B. den Vorgang, wo ein Goldbesitzer und ein Eisenbesitzer ihre Waren gegeneinander vertauschen wollen, so aus: das Eisen habe den Wunsch Gold zu werden, und das Gold Eisen. Einem Rock, der gegen Leinwand vertauscht werden soll, schreibt er wohl Bescheidenheit, dem Rock Zwecke zu. Seine berühmte Formel, daß der Umsatz W — G — W . . . Äquivalente austausche, bei dem Umsatz G — W — G aber das letzte G immer etwas Größeres sei als das erste, woraus er die goldherrschende K r a f t des Geldes folgert, sobald es nicht als Tauschwerkzeug, sondern als Kapital gebraucht werde: hebt sich dadurch auf, daß bei jedem normalen Tausche beide Kontrahenten ihre Lage subjektiv verbessern, und die berufsmäßigen Vermittler hierfür einen Lohn beanspruchen können. Dies ist aber ebensogut der Fall bei dem Umsatz W — G — W: nur daß hier das Verhältnis weniger klar zum Ausdruck kommt, als bei dem Umsatz G — W — G".3) Nach diesem Musterbeispiel „scharfer" Denktätigkeit, die die Theorie des Mehrwerts restlos — wie wir zugeben müssen — erledigt, folgt noch die erleuchtende Erkenntnis: „Charakterisch falsch ist die Aussicht,, daß die Direktionsarbeit gar nicht wertbildend sei, ebenso die Arbeit des Packers, Sortierers usw." 4 ) Ist es ein Wunder, daß Marx „die Schattenseiten des neuen Gewerbefleißes" zwar „oft sehr gut kritisiert, so doch nicht selten mit der äußersten Übertreibung.. .?"5) 2

) 3 ) 4 ) 5 )

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Ebd. Ebd., S. 465. Ebd., S. 465. Ebd. Ebd.

Was kann uns hiernach weniger wundern, als daß Roscher nun die Bibel z i t i e r t . . . „Darum herrscht in der Wissenschaft und Kunst so viel edler Kommunismus, welcher den Stärkeren gern und mit größtem Erfolge f ü r die Schwächeren arbeiten läßt. So ist auch eine christliche Armenpflege, selbst wenn sie bis zur Höhe von Evangel. Lucas 3, 11 gestiegen wäre, kein direktes Hindernis f ü r die Volkswirtschaft, wofür sie nur als christliche Wohltat geleistet und empfangen wird. Die Annäherung an die Gütergemeinschaft soll von der Liebe der Reichen ausgehen, nicht von dem Hasse der Armen. Wenn alle Menschen wahre Christen wären, dann könnte die Gütergemeinschaft ohne Gefahr bestehen; dann würde freilich auch das Privateigentum keine Schattenseite mehr haben." 1 ) Freilich... Daher schlägt Roscher der Sozialdemokratie dann auch vor, ihre Anhänger so zu erziehen, daß sie „an sich selbst die höchsten Anforderungen stellen, die die Uneigennützigsten, Anspruchslosesten, Aufopferungsfähigsten, Fügsamsten w ä r e n . . ,"2) Dann hätte das Privateigentum freilich keine Schattenseiten mehr, und in christlicher Liebe könnten die „Geschäftsmänner" die Mehrarbeit der Fügsamen sich aneignen . . . Über die theoretischen Leistungen Roschers meint der von Roscher so in Grund und Boden kritisierte Marx, allerdings recht nüchtern, daß „neben wirklicher Ignoranz" es „apologetische Scheu vor gewissenhafter Analyse des Wertes und Mehrwertes" sei, und „etwa verfänglich-polizeiwidrigem Resultat, die einen Roscher und Konsorten zwingt, die mehr oder minder plausiblen Rechtfertigungsgründe des Kapitalisten f ü r seine Aneignung vorhandener Mehrwerte in Entstehungsgründe des Mehrwertes zu verdrehen". 3 ) Aber selbst der zu „äußersten Übertreibungen" neigende Marx verkennt nicht, daß auch Wilhelm Roscher die politische Ökonomie bereichert hat. „Eine Entdeckung ist i h m . . . geschuldet, schreibt Marx, nämlich, „daß Geld ,eine angenehme Ware' ist."4) „Herr Professor Roscher will entdeckt haben", schreibt Marx einmal, „daß eine Nähmamsell, die während zwei Tagen von der Frau Professorin beschäftigt wird, mehr Arbeit liefert, als zwei Nähmamsellen, welche die Frau Professorin am selben Tage beschäftigt. Der Herr Professor stelle seine Beobachtungen über den kapitalistischen Produktionsprozeß nicht in der Kinderstube an und nicht unter Umständen, worin die Hauptperson fehlt, der Kapitalist", meint Marx. 5 ) *) 2 ) 3 ) 4 ) 5 )

Ebd., S. Ebd., S. Kapital, Ebd., S. Ebd., S.

470. 468. Bd. I, S. 225, Fußnote 30. 98, Fußnote 49. 339, Fußnote 9. 395

Das letzte Buch Wilhelm Roschers — es erschien 1895, nach dem Tode „mit dem Bildnis des Verfassers aus dem J a h r e 1893" versehen, wie es im „Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre" so schön heißt —, dieses letzte Werk nennt sich: „Geistliche Gedanken eines Nationalökonomen" (Dresden 1893). Sicherlich wurde es nicht ganz ohne Sinn mit dem Bildnis des Verfassers versehen! Marx meint gelegentlich in den „Theorien über den Mehrwert", nachdem er die falsche Beurteilung der Andersonschen Streitschrift über Zollschutz durch Roscher richtiggestellt hatte: „Wollte ich alle ähnlichen groben Geschichtsfälschungen, die Wilhelm Thucydides in seinen literarhistorischen Notizen begeht, ebenso ausführlich beleuchten, so müßte ich ein Werk schreiben so dick wie seine .Grundlagen', und ein solches Werk wäre in der Tat das Papier nicht wert, auf das es geschrieben worden." 1 ) Um nicht in den Verdacht der Übertreibung zu kommen, f ü g t Marx sodann hinzu: „Man wirft mir hoffentlich keine ,Lieblosigkeit' gegen Wilhelm Thucydides vor. Mit solcher Lieblosigkeit' behandelt dieser Schulfuchs die Wissenschaft selbst! Ich habe jedenfalls dasselbe Recht, von seinen totalen ,Unwahrheiten' zu sprechen, wie er selbstgenügend herablassend von den ,halben Wahrheiten' Ricardos sprechen darf. Zudem ist Wilhelm Thucydides keineswegs ,ehrlich' mit seinem Katalogstudium. Was nicht .respektabel' ist, existiert f ü r ihn auch historisch nicht, zum Beispiel Rodbertus existiert nicht als Theoretiker über die Grundrente, weil er .Kommunist' ist. Außerdem ist Wilhelm Thucydides auch f ü r die .respektablen' Schriftsteller ungenau. Zum Beispiel Bailey existiert f ü r Mac Culloch, sogar als epochemachend. Er existiert nicht f ü r Wilhelm Thucydides. Sollte die Wissenschaft der politischen Ökonomie in Deutschland befördert und popularisiert werden, so müßten Leute wie Rodbertus ein Journal stiften, das allen Forschern, nicht Pedanten, Schulfüchsen und Vulgarisateuren, offenstände und den Hauptzweck hätte, die Ignoranz der Fachgelehrten sowohl in der Wissenschaft selbst wie in ihrer Geschichte nachzuweisen." 1 )

2. Bruno Hildebrand (1812—1878) Bruno Hildebrand bestritt die durch die Klassiker aufgezeigte ökonomische Gesetzlichkeit. Die Geschichte sollte nach ihm ein Weg zur Erneuerung der Wissenschaft werden. Hildebrand wollte die Ökonomie zu einer Lehre von den Entwicklungsgesetzen der Völker umgestalten. Er bestritt die Existenz von Naturgesetzen, wie sie nach seiner Auffassung von den Klassikern der englischen Ökonomie behauptet worden waren. In seinem 1848 erschienenen Hauptwerk „Die Nationlökonomie der Gegenwart und Zukunft" betrachtete er es als seine Aufgabe, im wirtschaftlichen Leben der Völker die Vervoll') Ebd., S. 319.

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kommnung der menschlichen Gattung überhaupt, in dem Wechsel der wirtschaftlichen Erscheinungen den Fortschritt nachzuweisen. „Die Arbeit, deren erste Abteilung hiermit der Öffentlichkeit übergeben wird, verfolgt die Aufgabe, auf dem Gebiete der Nationalökonomie einer gründlichen historischen Methode und Richtung Bahn zu brechen, und diese Wissenschaft zu einer Lehre von den ökonomischen Entwicklungsgesetzen der Völker umzugestalten. Sie bezweckt eine ähnliche Reform f ü r die E r kenntnis der wissenschaftlichen Seite des Volkslebens, wie sie in diesem Jahrhundert die Sprachwissenschaft erlebt hat." Hildebrand entwarf als Schema der wirtschaftlichen Entwicklung eine Folge von drei Wirtschaftsstufen: Naturalwirtschaft, Geldwirtschaft und Kreditwirtschaft. Die Volkswirtschaft soll eine Naturlehre der menschlichen Selbstsucht darstellen, sie müsse eine ethische Wissenschaft sein.

3. Karl Knies (1821—1848) Auch Karl Knies hielt die Auffindung ökonomischer Gesetze überhaupt f ü r unmöglich. Die einzelnen Nationen seien verschieden geartet, stellt er in seinem Buch „Die politische Ökonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode", 1853, fest, so daß auch ihre Entwicklung verschieden verlaufe. Ersetze man die abstrakte durch die historische Methode, so könne die Ökonomie zu einer Geschichte der wissenschaftlichen Meinungen in verschiedenen Epochen werden. Knies sah in der Klassik nur eine englische Ökonomie. Er wollte ihren „Perpetualismus", d. h. die Annahme ihrer Sätze unabhängig durch die Zeit, ersetzen durch einen „Relativismus". Außerdem wandte er sich gegen die Psychologie der Klassiker. Neben dem Egoismus gäbe es auch noch andere Triebfedern im Wirtschaftsleben, wie Eitelkeit, Rechensucht, Mitleid, Wohlwollen, Nächstenliebe u. a. Im Gegensatz zum „Absolutismus" der Theorie soll nach Knies die geschichtliche Auffassung der politischen Ökonomie auf dem Grundsatz beruhen, „daß wie die wirtschaftlichen Zustände, so auch die Theorie der politischen Ö k o n o m i e . . . ein Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung ist; daß sie in lebendiger Verbindung mit dem Gesamtorganismus einer menschlichen und völkergeschichtlichen Periode mit und aus den Bedingungen der Zeit, des Raumes, der Nationalität erwächst, mit ihnen besteht, und zu fortschreitenden Entwicklungen sich fortbildet; daß sie in dem geschichtlichen Leben den Fonds ihrer Argumentation hat", ihren Resultaten den Charakter geschichtlicher Lösungen beilegen muß; daß sie auch die allgemeinen Gesetze der Nationalökonomie nicht anders denn als eine geschichtliche Explikation und fortschreitende Manifestation der Wahrheit darstellen, auf jeder Stufe als die Verallgemeinerung der bis zu einem bestimmten Punkte der Ent397

Wicklung erkannter Wahrheit dastehen und weder der Summe noch der Formulierung nach f ü r unbedingt abgeschlossen erklärt werden können und daß der Absolutismus der Theorie . . . selbst nur als ein Kind der Zeit dasteht und eine bestimmte Periode der geschichtlichen Entwicklung der politischen Ökonomie bezeichnet. Die Forderung der „älteren" historischen Schule, die wirtschaftliche Entwicklung historisch zu erfassen, blieb also bei ihnen — wie bei allen bürgerlichen Ökonomen—ein unerfülltes Programm. Sofern sich bei ihnen theoretische Gedankengänge befinden, sind es — meist allerdings nicht verstandene — Gedanken der bürgerlichen Klassiker. Ihre historischen Darstellungen blieben Stückwerk.

c) Die „jüngere" historische Schule Die „jüngere" historische Schule, deren Hauptvertreter neben Gustav Schmoller Knapp, Bücher und Brentano waren, glaubte, daß die „ältere" historische Schule zu „schnell" generalisiert habe. Es wurden wirtschaftsgeschichtliche Einzeluntersuchungen gefordert, da man zunächst die Entwicklung der einzelnen wirtschaftlichen Institutionen erforschen müsse, bevor man die Entwicklung der ganzen Volkswirtschaft darstellen könne. Die deskriptive Forschung sollte nur Vorarbeit f ü r eine allgemeine und u m fassende Theorie sein.

1. Gustav Schmoller (1838—1917) In seiner Rektoratsrede im Jahre 1897 erklärte Schmoller: „Weder strickte Smithianer noch strikte Marxianer können heute Anspruch darauf machen, f ü r vollwertig gehalten zu werden." 1 ) Schmoller war einer der Veranstalter der im Jahre 1872 in Eisenach zur Besprechung der „sozialen Frage" zusammengetretenen Versammlung, heißt es im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" über „Schmoller", aus welcher die neue realisierte Schule hervorging, und gehörte somit auch zu den Begründern des „Vereins für Sozialpolitik". Als einer der Hauptvertreter der „historisch-ethischen" Richtung in der Nationalökonomie hat er in seiner Streitschrift gegen Treitschke „Über einige Grundfragen der Rechts- und der Volkswirtschaft, ein offenes Rundschreiben an Herrn Prof. Dr. H. von Treitschke", Jena 1875, der mechanischen Naturlehre der Volkswirtschaft, „welcher in den Händen der Smithschen Epigonen, der sogenannten Manchesterleute, zu einer ') Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten, Berlin 1897. 398

Rechtfertigung jeder sozialen Ungerechtigkeit zu werden drohte, scharfe Opposition gemacht". 1 ) Schmoller habe dadurch die Kluft zwischen der deutschen Freihandelspartei, d. h. den Vulgärökonomen, und der „jüngeren" oder ethischen Nationalökonomie aufgerissen. Wir werden sehen, worin diese Kluft besteht! „In seinen Untersuchungen über die .Soziale Frage', heißt es weiter, über wirtschaftliche Gerechtigkeit und soziale Klassenbildung suchte er auf Grund psychologisch-ethischer weil wirtschaftsgeschichtlicher Studien den Gang der sozialen Geschichte und das Wesen sozialer Institutionen aufzuhellen und damit eine wissenschaftliche Grundlage für die maßvollen sozialreformatorischen Bestrebungen der Gegenwart zu schaffen." Wohlgemerkt: maßvolle Sozialreformen im J a h r e 1911 — das zu fordern war das Verdienst Schmollers! Worin bestanden diese „maßvollen" sozialreformatorischen Bestrebungen Schmollers? „Nur die Erhaltung eines Mittelstandes k a n n . . . uns davor bewahren, in letzter Instanz einer politischen Entwicklung entgegenzugehen, schreibt Schmoller, die in einer abwechselnden Herrschaft der Geldinteressen und des vierten Standes bestehen w i r d . . . Nur die soziale Reform erhält die Aristokratie der Bildung und des Geistes an der Spitze des Staates." 2 ) Wir haben sie kennengelernt, diese „Aristokratie der Bildung und des Geistes", die Deutschland beherrschte! Sie hat uns zu Hitler geführt, zu Goebbels und zu R o s e n b e r g . . . Aber das war kein Zufall, Schmoller bereitete sie vor! Schmoller begründete seine Auffassungen „tiefer". So schreibt er in Untersuchungen über die Arbeitsteilung folgendes: „Die Anpassung der Individuen an verschiedene Tätigkeiten ist in erblicher Weise durch Jahrhunderte und Jahrtausende gesteigert und hat immer individuellere, verschiedene Menschen erzeugt." Alle höhere Gesellschaftsorganisation beruht auf fortgesetzter, durch die Arbeitsteilung hervorgebrachter Differenzierung. „Die Kasten, die Aristokratien der Priester, der Krieger, der Händler, des Zunftwesens, die ganze heutige Arbeitsverfassung sind nur die zeitlich verschiedenen Formen, welche die Arbeitsteilung und Differenzierung der Gesellschaft ausgeprägt hat, und jeder einzelne ist zu der ihm eigentümlichen Funktion nicht bloß durch individuelles Geschick und Schicksal gekommen, sondern mit durch seine körperliche und geistige Verfassung, seine Nerven, seine Muskeln, welche auf erblicher Veranlagung beruhen, durch eine Kausalkette von vielen Generationen bestimmt sind. Nur eine sekundäre Folge der sozialen Differenzierung ist ') Uber einige Grundfragen der Sozialpolitik und Leipzig 1898, S. 5/6. 2 ) A. a. O., 3. Auflage, Bd. VII, S. 311.

der

Volkswirtschaftslehre,

399

die Verschiedenheit des sozialen Ranges und Besitzes, der Ehre und des Einkommens." 1 ) Von hier zur Rassentheorie ist nur noch ein kleiner Schritt! Die Verschiedenheit von Besitz und Einkommen hat nach Schmoller als Ursache die Verschiedenheit der Menschen! Sie beruhen also auf natürlicher Grundlage und sind daher ewig und unabänderlich. Was würde Schmoller z. B. zum Studium der Arbeiter und Bauern heute gesagt haben? Er würde gesagt haben, daß das Arbeiter- und Bauernstudium eine Versündigung gegen die ewigen und unabänderlichen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft sei, weil die Arbeiter und Bauern auf Grund ihrer körperlichen und geistigen Veranlagung zum Studium nicht geboren seien! Wir sehen, daß die Argumente der modernen Reaktionäre eine Tradation haben . . . Allerdings haben auch schon zu Schmollers Zeiten fortschrittliche Bürger gegen solche Ideen Stellung genommen. So schrieb Karl Bücher hierzu: „Jene Vererbungstheorie trägt d a r u m . . . die unerfreulichen Gesichtszüge einer Sozialphilosophie der Besitzenden. Sie r u f t dem Niedriggeborenen, der in sich die K r a f t zu spüren meint, eine höhere Stellung des Berufslebens auszufüllen, zu: „Laß alle Hoffnung schwinden, deine körperliche und geistige Verfassung, deine Nerven, deine Muskeln, die Kausalkette von vielen Generationen hält dich am Boden fest! Deine Vorfahren sind seit Jahrhunderten Leibeigene gewesen; dein Vater und Großvater waren Tagelöhner, du bist zu einem ähnlichen Berufe b e s t i m m t . . ."2) So war der „Begründer" der „jüngeren" ein durchaus würdiger Nachfolger der „älteren" historischen Schule. Beide schrieben sie f ü r die „Geschäftsmänner", d. h. f ü r die reaktionäre deutsche Bourgeoisie. 2. Georg Friedrich Knapp (1842—1916) Knapp ist durch agrarhistorische und rechtshistorische Arbeiten und durch seine „Staatliche Theorie des Geldes", 1905, bekannt geworden. In seiner „Staatlichen Theorie des Geldes" behauptet Knapp, das Geld sei ein „Geschöpf der Rechtsordnung" und eine Theorie des Geldes könne daher nur rechtsgeschichtlich sein. Knapp leugnet die grundlegende Eigenschaft des Geldes, Maß der Werte zu sein. Das Geld erhalte seinen Wert allein durch staatlichen Befehl. 3. Karl Bücher (1847—1930) Das Hauptwerk Büchers ist seine „Entstehung der Volkswirtschaft", eine Sammlung von Aufsätzen in zwei Bänden, erschienen 1893 und 1918. Bücher 1

) Zitiert bei Karl Bücher, Entstehung der Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, S. 350. ) Ebd., S. 362/363.

2

400

behandelt hier vor allem Fragen der Arbeits- und Produktionsverhältnisse und formuliert u. a. das sogenannte „Gesetz der Massenproduktion". Wenn k = Stückkosten c = konstante Kosten v = variable Kosten m = produzierte Menge, so ergibt sich nach Bücher ein Sinken der Stückkosten bei wachsender Betriebsgröße nach der Formel: k = — + v. m

Dieses sogenannte „Gesetz der Massenproduktion" wurde Ausgangspunkt der Lehre von den fixen Kosten, wie sie heute in der bürgerlichen Betriebswirtschaftslehre etwa in dem sogenannten „Fixkostengesetz" formuliert wird.

4. Lujo Brentano

(1844—1931)

Lujo Brentano war vor allem Wirtschaftshistoriker. Er faßte das Ergebnis seiner Kritik der klassischen Politökonomie dahin zusammen, daß es f ü r den Nationalökonomen offenbar nur eine Lösung geben könne, die unmittelbare Beobachtung der Erscheinung. „Notwendig tritt damit f ü r s erste die spezielle praktische Nationalökonomie in den Vordergrund, die allgemeine oder theoretische dagegen zurück." Notwendig sei vor allem die geschichtliche Erforschung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Beobachtung der wirtschaftlichen Zustände. Seine Arbeiten sind: Arbeitergilden der Gegenwart, 2 Bände, 1871/1872, Die deutschen Getreidezölle, 1910, Die Anfänge des modernen Kapitalismus, 1916, Eine Wirtschaftsgeschichte Englands, 3 Bände, 1927, Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands, 1931. Brentano gehörte mit Adolf Wagner und Gustav Schmoller zu den sogenannten Kathedersozialisten. In seiner 1877 erschienenen Schrift „Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht" kritisierte Brentano das eherne Lohngesetz und die Lohnfondstheorie. Brentano sah nicht darin den Nachteil f ü r den Arbeiter, daß seine Arbeitskraft eine Ware sei, sondern darin, daß sie es zu wenig sei. Er trat f ü r gewerkschaftliche Organisationen ein, weil der Arbeiter hierdurch seine Position als Warenanbieter verbessern könne. Lenin hat in seiner Arbeit „Die proletarische Revolution und der Renegat Karl Kautsky" Brentano dadurch in die Geschichte eingehen lassen, daß er den Typus der wohlwollenden bürgerlichen Ökonomen historischer Schule als „Brentanismus" bezeichnete. „Brentanismus", sagte Lenin, „ist eine bürgerlich26 Behrens

401

liberale Schule, die einen nichtrevolutionären ,Klassenkampf des Proletariats anerkennt". 1 ) Mittels „offenkundiger Sophismen wird der Marxismus seiner revolutionären lebendigen Seele beraubt, man akzeptiert vom Marxismus alles, nur nicht die revolutionären Kampfmittel, die Propagierung und Vorbereitung dieser Kampfmittel, die Erziehung der Massen gerade in dieser Richtung". 2 )

d) Kritik Die „historische" Schule sei nie zu einer völlig klaren Formulierung ihrer Doktrin gelangt, meint Eduard Heimann. 3 ) „Das einzige, was sich mit B e stimmtheit von ihr sagen läßt, ist, daß sie eine Reaktion gegen die klassische Theorie darstellt." 4 ) Die historische Schule hat durch ihre große Zahl von Schülern und Anhängern viele und wertvolle wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen hervorgebracht und hierdurch zweifellos die Wissenschaft bereichert. Zugleich hat sie aber durch ihre theoriefeindliche Haltung auf lange Zeit hinaus zu einer fast völligen Lahmlegung der theoretischen Forschung geführt. Das ist selbstverständlich kein Zufall! „Wir dürfen nicht vergessen, daß die deskriptive Methode eine Waife der reaktionären, bürgerlichen sogenannten historischen Schule ist, sagte der sowjetische Ökonom Ostrowitjenow im Jahre 1948. Diese Methode widerspricht dem Marxismus. Man muß in Betracht ziehen, daß die modernen Ideologen des absterbenden und verfaulenden Kapitalismus in den erbitterten Zusammenstößen zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen System stark dazu neigen, den Gesetzmäßigkeiten auszuweichen, daß sie sich scheuen, die Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, welche die unumgängliche Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus bedingen. Somit feiert die deskriptive Methode heute ihre Auferstehung in den bürgerlichen Wirtschaftsliteraten." 5 ) Hegel drückte die Gründe für das Überwiegen der „historischen" Tendenz und seiner Geschichte der Philosophie wie folgt aus: „Wenn die historische Tendenz in einem Zustand überwiegend ist, dann kann man annehmen, daß der Geist in Verzweiflung geraten, gestorben sei, daß er aufgegeben habe, sich selbst zu befriedigen; sonst würde er sich nicht mit solchen Gegenständen beschäftigen, die für ihn tot sind." *) A. a. O., S. 411. Ebd., S. 411/412. 3) Heimann, a. a. O., S. 202. 4) Ebd. 6) Vgl. Mängel und Aufgaben der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsarbeit, in: Sowjetwissenschaft, 1949, Nr. 2, S. 196. 2)

402

Der aus Furcht vor der Arbeiterbewegung in Verzweiflung geratene bürgerliche Geist flieht in den Historismus! Salin stellt die Frage, warum die „ältere" historische Schule im Grunde auf dem Gebiete der historischen Forschung selbst so unfruchtbar geblieben ist. „Die Tatsache, daß keine eigene repräsentative Leistung den programmatischen Forderungen der Roscher, Hildebrand, Knies entspricht, ist unbestritten", meint Salin richtig. 1 ) „Es ist nicht leicht, sich Rechenschaft darüber zu geben, w a r u m es nicht nur jetzt, sondern durch fünf Jahrzehnte bei dem bloßen Programm geblieben ist." 2 ) Nun, Salin gibt uns schließlich auf seine Frage selbst eine Antwort, die die Wahrheit enthält — aber n u r enthält! Er meint, „daß Roscher wie Hildebrand zwar unter dem Bann des geschichtlichen Geistes der Zeit bleiben, daß aber ihre geschichtlichen wie ihre theoretischen Studien Mittel zum Zweck werden — nämlich zum Zweck der Sozialpolitik". 3 ) In der Tat: Mittel zum Zwecke der „Sozialpolitik"! Welcher „Sozialpolitik"? Solcher „Sozialpolitik", wie sie der „Verein f ü r Sozialpolitik" trieb! Das ist „Sozialpolitik" im Sinne des im „Kommunistischen Manifest" gekennzeichneten „Bourgeois-Sozialismus"! Es ist ganz richtig, wie Salin schreibt: „Diese ältere geschichtliche Wirtschaftsschule setzt sich zusammen aus Gelehrten, die im Kern ihres Wesens nicht geschichtlich, noch theoretisch, sondern praktisch-politisch ausgerichtet waren." 4 ) Sie waren praktisch-politisch ausgerichtet, diese Begründer der historischen Schule, genauso, wie es Adam Müller war, der Stockreaktionär, wie es Thünen, Friedrich List waren, praktischpolitisch im Sinne der konterrevolutionär gewordenen deutschen Bourgeoisie. Es sei seltsam, meint auch Eduard Heimann, daß die Begründer der sogenannten „älteren" historischen Schule „trotz lebhafter Erörterung" ihre methodologischen Grundsätze „in ihrer eigenen gelehrten Arbeit auf der theoretischen Ebene" stehengeblieben seien. „Ihr Bemühen, die von ihnen vertretenen Prinzipien praktisch anzuwenden, beschränkt sich auf eine Durchsetzung ihrer theoretischen Studien mit historischem Anschauungsmaterial . . ,"5) Erst die „jüngere" historische Schule habe der Theorie wirklich den.Rücken gewandt und „jene monumentalen wirtschaftsgeschichtlichen Studien" geschaffen, „die neue Horizonte des Wissens und Verständnisses eröffneten und keiner methodologischen Rechtfertigung bedürfen". 6 ) Wir haben gesehen, worin diese „neuen Horizonte des Wissens und Verständnisses" bestanden! Sie enden in jenem bürgerlichen „Objektivismus", der — wie Max Weber — vor lauter „Objektivität" die geschichtliche Reaktion stützt! *) ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 2

26*

Salin, a. a. O., S. 166, Fußnote 2. Ebd., S. 165. Ebd., S. 167. Ebd., S. 166. Heimann, a. a. O., S. 202/203. Ebd., S. 203. 403

Marx hat die historische Schule der bürgerlichen Ökonomie als die „Grabstätte dieser Wissenschaft bezeichnet". 1 ) Selbst die wirklichen Gedanken eines Smith, Ricardo usw. — nicht nur ihr eigenes Vulgärelement erscheinen hier gedankenlos und werden in Vulgarismus verwandelt. 2 ) Ein „Meister dieser Art" sei „Herr Professor Roscher" — fügt Marx hinzu —, „der sich weise als Thucydides der politischen Ökonomie angekündigt hat". Seine Identität mit Thucydides möge vielleicht auf der Vorstellung beruhen, meint Marx, die Roscher von Thucydides habe, „daß dieser nämlich beständig Ursache und Wirkung verwechselt habe". 3 ) Es ist bezeichnend, daß die „historische" Schule — im ganzen gesehen — ein „Schuß ohne Schall" geblieben i s t . . . „Wenn es auch in anderen Ländern nicht an Angehörigen der geschichtlichen Methode gefehlt hatte, so konnten sie doch dort, ganz im Gegensatz zu Deutschland, nachhaltigen Einfluß gewinnen", stellt Kunze richtig fest. „Das Wirtschaftsleben Englands und Frankreichs entsprach den Arbeitshypothesen der Klassiker und ihrer Epigonen in weit höherem Grade als das des agrarischen und politisch zersplitterten Deutschlands." 4 ) Was heißt das? Heißt das insbesondere, daß in der historischen Schule eine positive Besonderheit der deutschen kapitalistischen Entwicklung zum Ausdruck kam? Das heißt es keineswegs! Wir haben gesehen, daß die wissenschaftliche Methode der politischen Ökonomie die Einheit von Geschichte und Logik ist. Wir haben weiter gesehen, daß die historische Entwicklung des Kapitalismus es bedingt, daß das in der bürgerlichen Ökonomie vorhandene Vulgärelement immer mehr dabei in den Vordergrund tritt. In Deutschland wurde diese Entwicklung durch die einseitige Ausbildung einer historischen Schule begünstigt. Vulgärökonomie und wissenschaftliche Ökonomie brauchten sich in Deutschland nicht erst zu trennen wie in England, weil hier die selbständige — „nationale" — bürgerliche Ökonomie als „historische" Schule von vornherein „Empirismus", d. h. also Vulgärökonomie war.

4. Der Kathedersozialismus

und der „Verein

für

Sozialpolitik"

Salin gibt — wie so oft allerdings ungewollt — eine treffende Charakteristik der sogenannten „Kathedersozialisten": „Die sozialreformerische Richtung Sismondis, der englische Chartismus, der Idealismus Fichtescher Prägung, der Konservatismus Rodbertusschen Gehaltes, — die besten deutTheorie, Bd. III, S. 574. ) Ebd. 3 ) Ebd. 4 ) Kunze, a. a. O., S. 34.

2

404

sehen sozialen Ideen und Ideologien, bestärkt und gewachsen durch die ausländischen Entsprechungen, wie sie zumal Brentanos Geschichte der englischen Gewerkvereine und Heids Untersuchung der englischen Sozialgeschichte festgehalten hat, Schmollers Sozialkonservatismus und Brentanos Sozialliberalismus vereinigen sich im Kathedersozialismus zu wissenschaftlicher Politik." 1 ) Salin hätte es kürzer ausdrücken können: Bourgeois-Sozialismus! „Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Mißständen abzuhelfen, u m den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher: Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre, Verbesser der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, MäßigkeitsVereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art. Und auch zu ganzen Systemen ist dieser Bourgeois-Sozialismus ausgearbeitet worden", heißt es im „Kommunistischen Manifest" über den sogenannten „Konservativen oder Bourgeois-Sozialismus". 2 ) Hans Gehring schreibt in einer Schrift über „Die Leistung der deutschen Volkswirtschaftslehre" tief befriedigt, daß die „deutschen Historiker" durchaus entschieden stets dem Marxismus entgegengetreten seien, „und zwar seiner Weltenordnung und seinen Forderungen; ü b e r ihrem Kampf gegen den populären individualistischen Liberalismus vergaßen weder die Historiker Schmollerscher Richtung noch Brentano, noch Schaffte oder Wagner die A b w e h r des sozialdemokratischen Sozialismus". 3 ) In Deutschland trat dieser „Bourgeois-Sozialismus" u n t e r der Bezeichnung „Kathedersozialismus", aber auch „Staatssozialismus" auf. Er schuf sich sogar eine eigene Organisation: den „Verein f ü r Sozialpolitik". Welches ist das P r o g r a m m dieses „konservativen" Sozialismus? Das „Kommunistische Manifest" charakterisiert diese, den Kapitalismus zwar kritisierende, ihn aber nie e r n s t h a f t angreifende Richtung wie folgt: „Die sozialistischen Bourgeois wollen die Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft ohne die notwendig d a r a u s hervorgehenden K ä m p f e und Gefahren. Sie wollen die bestehende Gesellschaft mit Abzug der sie revolutionierenden und sie auflösenden Elemente. Sie wollen die Bourgeoisie ohne das Proletariat. Die Bourgeoisie stellt sich die Welt, worin sie herrscht, natürlich als die beste Welt vor. Der Bourgeois-Sozialismus arbeitet diese tröstliche Vorstellung zu einem halben oder ganzen System aus. Wenn er das P r o letariat auffordert, seine Systeme zu verwirklichen u n d in das neue J e r u salem einzugehen, so verlangt er im G r ü n d e nur, daß es in der jetzigen Gesellschaft stehenbleibt, aber seine gehässigen Vorstellungen von derselben abstreife." 4 ) *) ) 3 ) 4 )

2

Salin, a. a. O., S. 172. Marx-Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. I, S. 49. Jena 1936, S. 27. Ebd., S. 50. 405

Aber das ist nur die eine Seite dieses „Sozialismus". Die andere Seite ist gefährlicher! „Eine zweite, weniger systematische, nur mehr praktische Form des Sozialismus suchte der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden durch den Nachweis, w i e nicht diese oder jene politische V e r änderung, sondern nur eine Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse ihr von Nutzen sein könne. Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem W e g e möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt vereinfachen." 1 ) Genau das war das Programm der Kathedersozialisten und des „Vereins für Sozialpolitik", genau — als ob diese deutschen Bourgeois-Sozialisten die Sätze des „Kommunistischen Manifestes" sich zur Richtschnur genommen hätten — womit ich aber wahrhaftig nicht den Verdacht aussprechen möchte, als hätten die früheren oder jetzigen „Vereinsmitglieder" das „ K o m munistische Manifest" gelesen. So etwas auch nur zu denken, liegt mir selbstverständlich völlig fern . . . Was heißt „Kathedersozialismus"? „Kathedersozialismus ist der Spottname, den H. B. Oppenheim zuerst in einem Zeitungsartikel (,Universalzeitung') v o m 17. Dezember 1871 der damals von der Mehrzahl der deutschen Universitätslehrer vertretenen Richtung beigelegt hat, die seitdem auf die deutsche Gesetzgebung einen leitenden Einfluß erlangt und in weiten Kreisen, auch außerhalb Deutschlands, zu einer von den früher herrschenden Anschauungen wesentlich verschiedenen Beurteilung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme geführt hat", so lautet die Erklärung, die Lexis im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" uns im Jahre 1910 gibt. 2 ) Diese Erklärung belehrt uns über zweierlei: Erstens belehrt sie uns darüber, daß es sich beim „Kathedersozialismus" keineswegs etwa um eine polizeiwidrige, der Arbeiterklasse nahestehende, sondern um eine offizielle, von deutschen Lehrstuhlinhabern begründete Einrichtung handelte, sie belehrt uns aber zweitens auch darüber, daß sich etwas im Bewußtsein der herrschenden Klasse verändert hatte! Und in der Tat: die Arbeiterbewegung schwoll zu bedrohlichen Formen an. Es wird nicht mehr lange dauern, und Bismarck wird sein „Sozialistengesetz" verkünden. Es wurde höchste Zeit, etwas zu tun, um der Arbeiterklasse „jede revolutionäre Bewegung zu verleiden". >) Ebd. 2) 3. Aufl., Bd. V, S. 804. 406

Wie aber sollte man das tun? Man mußte Sozialpolitik treiben! Man mußte administrative Verbesserungen, die „auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Lohnarbeit mit Kapital nichts ändern", vornehmen . . . Das tat man denn auch! „Den jeder Sozialreform feindlichen Manchesterleuten und den Sozialisten traten die namhaftesten Vertreter der historischen Schule entgegen und forderten vom Staat verantwortungsbewußte Sozialpolitik", schreibt Alfred Kunze in seinem eigentümlichen friedlichen Stil! 1 ) „Sie erstrebten eine Anpassung der Wirtschaftsordnung an die Forderung des sozialen Ausgleiches, wie ihn lange Zeit vor ihnen Sismondi und auch sich ihrer sozialen Verantwortung bewußte Vertreter der klassischen Nationalökonomie gefordert hatten", schreibt Kunze weiter, womit er auf die Einheitlichkeit trotz Unterschiede im einzelnen und dem auf Sismondi zurückgehenden Sozialismus eingeht. 2 ) Der „Verein f ü r Sozialpolitik" wurde im Jahre 1872 in Eisenach unter Führung Von Gustav Schmoller gegründet. Zu seinen bekanntesten Mitgliedern gehörten u. a. Engel, Hildebrand, Conrad, Knapp, Brentano, Werner Sombart, Max Weber u. a. Schmoller ging in seiner Eröffnungsrede auf dem Eisenacher Gründungskongreß auf das Vereinsprogramm ein. Ich folge bei der Wiedergabe des Inhaltes dieser Rede dem Artikel von Lexis im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften", weil es schöner nicht ausgedrückt werden kann, was diese „Bourgeois-Sozialisten" wollten. Schmoller hob die Ubereinstimmung hervor, die in der Versammlung bestehe hinsichtlich einer Auffassung des Staates, die gleich weit von der n a t u r rechtlichen Verherrlichung des Individuums und seiner Willkür und der absolutistischen Theorie einer alles verschlingenden Staatsgewalt abstehe. Man erkenne die glänzenden Fortschritte der neueren Zeit und der Technik in den volkswirtschaftlichen Leistungen, aber ebenso offen auch die tiefen Mißstände an, die durch die steigende Ungleichheit der Vermögen und Einkommen, das unreelle Treiben und die mangelnde Solidität in einzelnen Kreisen des Handels, der Roheit und Zügellosigkeit in einem Teile der unteren Klassen entständen. Die Hauptursache dieser Übel sehe m a n darin, daß in der neueren Zeit bei allen Fortschritten der Arbeitsteilung, allen Neubildungen der Betriebe, der Geschäftseinrichtungen, der Arbeitsverträge wie auch der Gesetzgebung über diese Dinge stets n u r gefragt werde, wieweit dadurch im Augenblick die Produktion gesteigert werde, und nicht, welche Wirkung dadurch auf die Menschen selbst ausgeübt werde. Die Arbeiter seien heute vielleicht etwas besser gekleidet und genährt als in f r ü h e r e n J a h r hunderten, aber die Lebensbedingungen, unter denen die meisten ständen, A. a. O., S. 140. ) Ebd.

2

407

machten ihren sittlichen und wirtschaftlichen Fortschritt nicht wahrscheinlich, sie träten zu den Besitzenden und Gebildeten in immer schrofferen Gegensatz, und das Gefährlichste dabei sei die in Gesittung, Anschauung und Idealen entstehende Kluft zwischen den beiden Klassen. Man wollte keine Nivellierung der Gesellschaft, keine sozialistischen Experimente; man erkenne die bestehenden Formen der Produktion, die bestehende Gesetzgebung und die bestehenden Klassenverhältnisse als Ausgangspunkt der bessernden Tätigkeit an, aber man wollte wirklich f ü r eine Besserung kämpfen und nicht auf jede Reform verzichten. Man wolle keine Aufhebung des Lohnverhältnisses, aber man wolle eine maßvolle, mit fester Hand durchgeführte Fabrikgesetzgebung, volle und wirkliche Freiheit f ü r den Arbeiter bei Feststellung des Arbeitsvertrages, Kontrolle dieser Freiheit durch die Öffentlichkeit, unter Umständen die nötigen Veröffentlichungen von Staats wegen, daher Fabrikinspektion, ein Bank- und Versicherungskontrollamt, namentlich aber Enqueten über die sozialen Fragen; man verlange endlich bessere staatliche Fürsorge f ü r die Erziehung und Bildung und die Wohnungsverhältnisse der Arbeiterklasse. Dies war das Programm! Die 131 Bände, die der „Verein" bis 1909 veröffentlichte, enthalten lediglich monographische Untersuchungen über tatsächliche wirtschaftliche und soziale Zustände, aus denen auch Vorschläge zu praktisch ausführbaren Verbesserungen abgeleitet werden, ohne daß dabei irgendein Anklang an sozialistische Gedanken zu finden wäre. Der literarische Streit zwischen Treitschke und Schmoller (1875) bildete eine der letzten Plänkeleien, die der „Kathedersozialismus" als solcher zu bestehen hatte. Wenn das Wort auch später noch zuweilen, namentlich gegen Schmoller und Wagner und ihre Schüler, gebraucht wurde, so geschah das von solchen Vertretern der Bourgeoisie, denen selbst eine auf dem Boden der bestehenden Ordnung bleibende Arbeiterbewegung immer noch zu gefährlich erschien. Was aber wollte der „Verein f ü r Sozialpolitik"? Keine „Nivellierung der Gesellschaft, keine sozialistischen Experimente", aber „man wollte wirklich f ü r eine Besserung kämpfen und nicht auf jede Reform v e r z i c h t e n . . . " Ob Schmoller nicht doch — vielleicht ganz heimlich oder sogar nur versehentlich — das „Kommunistische Manifest" gelesen hat? Man wird den quälenden Zweifel nicht los! Wie dem aber auch sei: Lexis konnte 1910 jedenfalls mit großer Beruhigung feststellen, daß „ v i e l . . . von diesem Programm gegenwärtig verwirklicht" sei „und dazu noch die Arbeiterversicherung in einem Umfange ins Leben gerufen, wie es damals auch der kühnste ,Kathedersozialist' noch nicht auszusagen wagte, ohne befürchten zu müssen, phantastischer Träumereien beschuldigt zu werden". 1 ) *) A. a. O., S. 805. 408

Schmoller muß das „Kommunistische Manifest" doch gelesen haben! Denn der Bourgeois-Sozialist fordert das Proletariat auf, hieß es, „seine Systeme zu verwirklichen und in das neue Jerusalem einzugehen" und verlange im Grunde nur, „daß es in der jetzigen Gesellschaft stehenbleibe, aber seine gehässigen Vorstellungen von derselben abstreife —", er suche „der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden . . . " Hat er das etwa nicht getan? Zusammen mit dem Revisionismus in der deutschen Arbeiterbewegung hat er es in Deutschland getan! Der August 1914 hat es bewiesen — der „Verein für Sozialpolitik" hat sein Programm verwirklicht! Er hat es aber auch in der Weimarer Republik — und der im Jahre 1946 neu begründete „Verein für Sozialpolitik" hielt im Oktober 1950 eine Tagung in Bonn ab über die Frage der „Vollbeschäftigung". Wäre das Schmollersche Programm, das im „Kommunistischen Manifest" so prophetisch charakterisiert wurde, nicht so gut erfüllt worden, so hätte der „Verein für Sozialpolitik" kaum noch Gelegenheit gehabt, im Jahre 1950 über die „Vollbeschäftigung" im Kapitalismus zu debattieren! Die „Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse" hätte dies verhindert... Einer der Mitbegründer des „Vereins für Sozialpolitik" war Adolph Wagner (1835—1917), der sich aber bereits im Jahre 1877 wieder vom „Verein" trennte. Wagner ist der typischste Vertreter des „konservativen" Sozialismus. Er selbst bezeichnet sich als „Staatssozialist". Wagner trat für die Bismarcksche Finanz- und Steuerpolitik ein und war mehrere Jahre Mitglied der von Adolf Stöcker begründeten reaktionären „Christlich-Sozialen Arbeiterpartei". Von 1882 bis 1885 war Wagner auch Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, wo er der Konservativen Partei beitrat. Er war erster Präsident des Evangelisch-Sozialen Kongresses. In einer Rede im Jahre 1871 in der Berliner Garnisonkirche hatte Wagner gefordert, daß in der Nationalökonomie wieder sittliche Grundsätze zur Geltung kommen müßten. Wagner machte zur Grundlage seiner ökonomischen Theorie den Satz, daß jede wirtschaftliche Erkenntnis damit beginnen müsse, die menschliche Seele zu studieren: „Es zeigt sich nämlich", schreibt Wagner, „daß alle wirtschaftlichen Probleme, weil sie mit dem Menschen, seinem Tun und Lassen, neben seinen Motiven und Trieben untrennbar verbunden sind, als solche aufgefaßt und behandelt werden müssen. So auch in allem, wo es sich um Rechts- und Organisationsfragen in der Volkswirtschaft handelt. Die Nationalökonomie als Wissenschaft ist in dieser Hinsicht angewandte Psychologie." „Angewandte Psychologie" — das ist der Inhalt dieses „Staatssozialismus". Wagner wendet sich gegen die Einseitigkeit der klassischen Ökonomie, die alles aus dem Triebe des Selbstinteresses ableitet, stellt eine große Tafel der Motive auf, welche den Menschen bei seinem wirtschaftlichen Handeln leiten. 409

In der unzureichenden Psychologie liegt die Hauptschwäche des Sozialismus — das ist die große Bereicherung, die Adolf Wagner der bürgerlichen Ökonomie brachte. Wie sah seine Tafel der Motive aus? Wagner gliederte die Motive, die den Menschen beim wirtschaftlichen Handeln leiten: A. Egoistisches Leitmotiv: 1. Streben nach dem eigenen wirtschaftlichen Vorteil aus Furcht vor eigener wirtschaftlicher Not; 2. Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Anerkennung; 3. Ehrgefühl, Geltungsstreben und Furcht vor Schande und Mißachtung; 4. Drang zur Betätigung und Freude am Tätigsein, auch an der Arbeit als solcher, und an den Arbeitsergebnissen als solchen, seine Furcht vor den Folgen der Untätigkeit (Passivität). B. Unegoistische Leitmotive: 5. Triebe des inneren Gebotes zum sittlichen Handeln, Drang des Pflichtgefühls und Furcht vor dem inneren Tadel (vor Gewissensbissen). In dem redaktionellen Artikel des „Handwörterbuches der Staatswirtschaftslehre" aus dem J a h r e 1911 (3. Aufl.) über „Wagner" heißt es sehr schön, Wagner suche zwischen Individualismus und Sozialismus zu vermitteln. „Wagner sucht jedem das Seine zu geben, dem letzteren (dem Sozialismus, F. B.) n u r vielleicht etwas mehr als andere seiner Fachgenossen. In psychologischen Auseinandersetzungen mit beiden Richtungen wird aber der Sozialismus von ihm gerade psychologisch angegriffen." 1 ) Lassen wir auch Wagner „das Seine" — es ist wenig genug, u m nicht unhöflich zu sagen: nichts! Denn was hat es mit dieser sogenannten „Psychologie" auf sich? Diese Ökonomie ist methodologisch völlig prinziplos und spiegelt n u r die Ideologie jener Kreise der herrschenden Klasse wider, die in Bismarcks „Sozialpolitik" die Lösung der Klassengegensätze zu finden glauben. Sie teilt mit den älteren deutschen Ökonomen den Kampf gegen die klassische bürgerliche Ökonomie und verbindet ihn zeitgemäß mit dem Kampf gegen den Marxismus. Sie vollzieht eine radikale Subjektivierung. An Stelle der objektiven ökonomischen Probleme sucht sie psychologische Triebfedern und polemisiert gegen die angeblich enge Psychologie der klassischen bürgerlichen Ökonomen! Im „Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre" meint Karl Diehl, nachdem er die „Motiventafel" von Wagner wiedergegeben hat: „Auch bei seiner Bekämpfung des Sozialismus hat Adolph Wagner immer psychologische Erwägungen in den Vordergrund gestellt." 2 ) ') Bd. VIII, S. 531. ) 2. A u f l a g e , Bd. III, 1953, S. 851.

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Was ist dem noch hinzuzufügen: Welcher Staat aber ist es eigentlich, der nach diesen „Kathedersozialisten" die „soziale Frage" lösen soll? Engels gab hierauf in seiner „Wohnungsfrage" im J a h r e 1872 Antwort. Und indem wir Engels zitieren, geben wir zugleich die erschöpfende Kritik des „Kathedersozialismus", dieser deutschen Spielart des Bourgeois-Sozialismus. Engels schrieb: „In Preußen — und Preußen ist jetzt maßgebend — besteht neben einem noch immer starken großgrundbesitzenden Adel eine verhältnismäßig junge, namentlich sehr feige Bourgeoisie, die sich bisher weder die direkte politische Herrschaft, wie in Frankreich, noch die mehr oder weniger indirekte, wie in England, erkämpft hat. Neben beiden Klassen aber besteht ein sich rasch vermehrendes, intellektuell sehr entwickeltes und sich täglich mehr und mehr organisierendes Proletariat. Wir finden also hier neben der Grundbedingung der alten absoluten Monarchie: dem Gleichgewicht zwischen Grundadel und Bourgeoisie, die Grundbedingung des modernen Bonapartismus: das Gleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Sowohl in der alten absoluten wie in der modernen bonapartistischen Monarchie aber liegt die wirkliche Regierungsgewalt in den Händen einer besonderen Offiziers- und Beamtenkaste, die sich in Preußen teils aus dem kleinen Majoratsadel, seltener aus dem großen Adel, zum geringsten Teil aus der Bourgeoisie ergänzt. Die Selbständigkeit dieser Kaste, die außerhalb und sozusagen über der Gesellschaft zu stehen scheint, gibt dem Staat den Schein der Selbständigkeit gegenüber der Gesellschaft. Die Staatsform, welche sich in Preußen (und nach seinem Vorgang in der neuen Reichsverfassung Deutschlands) aus diesen widerspruchsvollen gesellschaftlichen Zuständen mit notwendiger Konsequenz entwickelt hat, ist der Scheinkonstitutionalismus; eine Form, die sowohl die heutige Auflösungsform der alten absoluten Monarchie wie die Existenzform der bonapartistischen Monarchie ist. In Preußen vermittelte und verdeckte der Scheinkonstitutionalismus von 1848 bis 1866 nur die langsame Verwesung der absoluten Monarchie. Seit 1866 und namentlich seit 1870 aber geht die Umwälzung der gesellschaftlichen Zustände und damit die Auflösung des alten Staates vor aller Augen und auf kolossal wachsender Stufenleiter vor sich. Die rasche Entwicklung der Industrie und namentlich des Börsenschwindels hat alle herrschenden Klassen in den Strudel der Spekulation hineingerissen. Die 1870 aus Frankreich importierte Korruption im großen entwickelte sich mit unerhörter Schnelligkeit. Strausberg und Pereire ziehen den Hut voreinander, Minister, Generäle, Fürsten und Grafen machen in Aktien trotz der geriebensten Börsenjuden, und der Staat erkennt ihre Gleichheit an, indem er die Börsenjuden massenweise baronisiert. Der Landadel, seit langem als Rübenzuckerfabrikant und Branntweinbrenner industriell, hat die alten, 411

soliden Zeiten längst hinter sich und schwellt mit seinem Namen die Listen der Direktoren aller soliden und unsoliden Aktiengesellschaften. Die Bürokratie verachtet mehr und mehr den Kassendefekt als einziges Mittel der Gehaltsaufbesserung; sie läßt den Staat laufen und macht Jagd auf die weit einträglicheren Posten in der Verwaltung industrieller Unternehmungen, die noch im A m t bleiben, folgen dem Beispiel ihrer Vorgesetzten, spekulieren in Aktien oder lassen sich bei Eisenbahnen usw. ,beteiligen'. — Kurz, die Zersetzung aller Elemente des alten Staates, der Ubergang der absoluten Monarchie in die bonapartistische ist in vollem G a n g e . . ," 1 ) Und dieser Staat, „dessen nichtbürgerliche Elemente sich täglich mehr verdrängen", soll die „soziale Frage" lösen, ruft Engels aus! „ I m Gegenteil" — antwortet er —, „in allen ökonomischen Fragen verfällt der Staat mehr und mehr der Bourgeoisie.. ," 2 ) Er ist alles andere als eine über der Klasse schwebende Macht! Er ist wie jeder Klassenstaat „die organische Gesamtmacht der besitzenden Klasse", er ist im speziellen Fall der Staat der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber der ausgebeuteten Klasse, der Bauern und Arbeiter! 3 ) Das — der Appell an den Staat — enthüllt noch mehr den bürgerlichapologetischen und das ist gleichbedeutend unwissenschaftlichen Charakter dieser Bourgeois-Sozialisten! Staatssozialisten ? Sie sind genauso „sozialistisch", w i e ihr Staat „über" den Klassen steht! W i e wird doch dieser Bourgeois-Sozialist im Kommunistischen Manifest charakterisiert? „Seinen entsprechenden Ausdruck erreicht der Bourgeois-Sozialismus erst da, w o er zur bloßen rechnerischen Figur wird. Freier Handel im Interesse der arbeitenden Klasse; Zellengefängnisse! I m Interesse der arbeitenden Klasse; das ist das letzte, das einzige ernst gemeinte Wort des Bourgeois-Sozialismus. Der Sozialismus der Bourgeoisie besteht eben in der Behauptung, daß die Bourgeois Bourgeois sind — im Interesse der arbeitenden Klasse." 4 ) Kann man es heute treffender sagen? Man kann es nicht! Es sei denn, man zitiert den Stoßseufzer, der Marx entfuhr, als er sich mit Adolph Wagner, diesem „Klassiker" des „konservativen Sozialismus" beschäftigte. „Obgleich die deutsche Gesellschaft sehr post festum, ist sie doch nach und nach aus der feudalen Naturalwirtschaft, oder wenigstens deren Vorwiegen, zur kapitalistischen Wirtschaft gelangt. Aber die Professoren stehen mit einem Fuß immer noch im alten Dreck, was natürlich! Aus Leibeigenen von GutsMarx-Engels, Ausgewählte Werke, zwei Bände, Bd. 1, S. 574/575. Ebd., S. 575. 3) Ebd., S. 573. 4) A. a. O., S. 51. 2)

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besitzern haben sie sich in Leibeigene des Staates, gemeinhin Regierung, verwandelt." 1 ) Engels schrieb im J a h r e 1887 im „Vorwort" zur 2. Auflage seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage", daß „der Bourgeois- und kleinbürgerliche Sozialismus in Deutschland bis z u r Stunde stark vertreten" 2 ) sei. Und zwar einerseits durch Skatbechersozialisten und Menschenfreunde aller A r t . . . Andererseits aber in der sozialdemokratischen Partei selbst, bis in die Reichstagsfraktion hinein, findet ein gewisser kleinbürgerlicher Sozialismus seine Vertretung. Und zwar in der Weise, daß m a n zwar die G r u n d e r o b e r u n g e n des modernen Sozialismus und die Forderung der V e r w a n d l u n g aller P r o d u k tionsmittel in gesellschaftliches Eigentum als berechtigt anerkennt, aber ihre Verwirklichung n u r in entfernter, praktisch unabsehbarer Zeit f ü r möglich erklärt. Damit ist m a n dann f ü r die Gegenwart auf bloßes soziales Flickwerk angewiesen und k a n n je nach Umständen selbst mit den reaktionären Bestrebungen zur sogenannten „Hebung der arbeitenden Klasse" sympathisieren. Das Bestehen einer solchen Richtung ist ganz unvermeidlich in Deutschland, schreibt Engels, „dem Land des Spießbürgertums p a r excellence, und zu einer Zeit, wo die industrielle Entwicklung dies alteingewurzelte Spießbürgertum gewaltsam und massenweise entwurzelt". 3 )

C. Die Grenznutzentheorie 1. Das Wesen der

Grenznutzentheorie

Eine Wissenschaft entsteht mit ihren Problemen. Die Wissenschaft der politischen Ökonomie konnte erst entstehen, nachdem die Probleme der kapitalistischen Produktionsweise als allseitig entwickelte Warenproduktion ins Bewußtsein drängten. Weil diese Probleme in anderen Produktionsweisen nicht oder n u r am Rande existierten, konnten hierdurch n u r Ansätze dieser Wissenschaft, einzelne Elemente, sich entwickeln. Die bürgerliche sogenannte „Dogmengeschichte" entwickelt aus der logischen Verbindung u n v e r b u n d e n e r Elemente eines Systems eine ideengeschichtliche Entwicklung. Sie konstruiert eine Tradition, wo n u r Elemente einer werdenden Produktionsweise zum Denken und zum Formulieren anregten. Nicht die immer weiter getriebene logische Durchdringung, sondern die Entwicklung der kapitalistischen P r o duktionsweise, ihre Reife, f ü h r t schließlich zur Verbindung der v o r h a n d e n e n begrifflichen Elemente. Der Sprung von der Quantität der im Merkantilismus *) Marx, Realglossen zu A. Wagner, Kapital I, a. a. O., S. 849. ) Engels, Zur Wohnungsfrage, in Marx und Engels, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, 1. Bd., Moskau 1950, S. 522/523. 3 ) Ebd. 2

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besitzern haben sie sich in Leibeigene des Staates, gemeinhin Regierung, verwandelt." 1 ) Engels schrieb im J a h r e 1887 im „Vorwort" zur 2. Auflage seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage", daß „der Bourgeois- und kleinbürgerliche Sozialismus in Deutschland bis z u r Stunde stark vertreten" 2 ) sei. Und zwar einerseits durch Skatbechersozialisten und Menschenfreunde aller A r t . . . Andererseits aber in der sozialdemokratischen Partei selbst, bis in die Reichstagsfraktion hinein, findet ein gewisser kleinbürgerlicher Sozialismus seine Vertretung. Und zwar in der Weise, daß m a n zwar die G r u n d e r o b e r u n g e n des modernen Sozialismus und die Forderung der V e r w a n d l u n g aller P r o d u k tionsmittel in gesellschaftliches Eigentum als berechtigt anerkennt, aber ihre Verwirklichung n u r in entfernter, praktisch unabsehbarer Zeit f ü r möglich erklärt. Damit ist m a n dann f ü r die Gegenwart auf bloßes soziales Flickwerk angewiesen und k a n n je nach Umständen selbst mit den reaktionären Bestrebungen zur sogenannten „Hebung der arbeitenden Klasse" sympathisieren. Das Bestehen einer solchen Richtung ist ganz unvermeidlich in Deutschland, schreibt Engels, „dem Land des Spießbürgertums p a r excellence, und zu einer Zeit, wo die industrielle Entwicklung dies alteingewurzelte Spießbürgertum gewaltsam und massenweise entwurzelt". 3 )

C. Die Grenznutzentheorie 1. Das Wesen der

Grenznutzentheorie

Eine Wissenschaft entsteht mit ihren Problemen. Die Wissenschaft der politischen Ökonomie konnte erst entstehen, nachdem die Probleme der kapitalistischen Produktionsweise als allseitig entwickelte Warenproduktion ins Bewußtsein drängten. Weil diese Probleme in anderen Produktionsweisen nicht oder n u r am Rande existierten, konnten hierdurch n u r Ansätze dieser Wissenschaft, einzelne Elemente, sich entwickeln. Die bürgerliche sogenannte „Dogmengeschichte" entwickelt aus der logischen Verbindung u n v e r b u n d e n e r Elemente eines Systems eine ideengeschichtliche Entwicklung. Sie konstruiert eine Tradition, wo n u r Elemente einer werdenden Produktionsweise zum Denken und zum Formulieren anregten. Nicht die immer weiter getriebene logische Durchdringung, sondern die Entwicklung der kapitalistischen P r o duktionsweise, ihre Reife, f ü h r t schließlich zur Verbindung der v o r h a n d e n e n begrifflichen Elemente. Der Sprung von der Quantität der im Merkantilismus *) Marx, Realglossen zu A. Wagner, Kapital I, a. a. O., S. 849. ) Engels, Zur Wohnungsfrage, in Marx und Engels, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, 1. Bd., Moskau 1950, S. 522/523. 3 ) Ebd. 2

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vorhandenen Einsichten in die Ökonomie der Warenproduktion zur Qualität des physiokratischen Systems und zur klassischen bürgerlichen Ökonomie ist ein Problem der Wissenschaftsgeschichte auf der Grundlage der Wirtschaftsgeschichte. Daher ist die „Dogmengeschichte" als solche zutiefst unfruchtbar, da sie eine Tradition konstruiert, w o in Wirklichkeit ein materieller Zusammenhang vorliegt. Selbst Böhm-Bawerk, der der Anwendung des dialektischen Materialismus auf die Geschichte doch gewiß so fern w i e möglich steht, kann in seiner „Dogmengeschichte" des Kapitalzinses nicht leugnen, daß die Entwicklung der Zinstheorie eine gewisse Rolle spielt. „Es ist eine sehr gewöhnliche Erscheinung, daß nicht allein unser Wissen von den fragwürdigen Dingen, sondern auch unser Fragen nach ihnen sich erst allmählich entwickeln muß", beginnt er seine Betrachtungen, um festzustellen, daß „die Zeit vor T u r g o t . . . einer wissenschaftlichen Untersuchung des ursprünglichen Kapitalzinses unvollkommen ungünstig gewesen war". 1 ) Es fehlte „an einem äußeren Anlaß, sein Dasein in Diskussion zu ziehen". Erst als die „Kapitalmacht" so groß geworden war, daß der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit sich zu einem „Klassengegensatz zugeschärft" hatte, war dieser Anlaß gegeben. Vorher „feindete — niemand diese Form des Kapitalgewinnes an, und es hatte in weiterer Folge auch niemand äußeren Anlaß, ihn zu verteidigen oder überhaupt seine Natur eingehender zu erforschen". 2 ) „Die Geistesarbeit von Jahrhunderten", die nach Auffassung Böhm-Bawerks nötig war, um der ökonomischen Berechtigung des Leihzinses „gegen widerstrebende Eindrücke und Vorurteile Glauben zu verschaffen", 3 ) sie war v e r knüpft mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. „Das Zinsproblem war jetzt zum Range eines großen sozialen Problems emporgehoben, an dem die Wissenschaft weder vorübergehen konnte noch wollte." 4 ) Und damit — mit ihrem Problem — entstand die politische Ökonomie der Gesellschaft, unabhängig voneinander mit eigenen Produktionsmitteln produzierende Produzenten, die ihre Arbeitsprodukte wechselseitig zu ihren Werten austauschen und trotzdem als Eigentümer der sachlichen Produktionsbedingungen „mehr" Wert im Austausch erhalten, als sie hingeben! Wertgesetz und Mehrwertgesetz — das sind die Antworten, die die politische Ökonomie auf die beiden Probleme, die diese Produktionsweise aufgibt, erteilt. Das Wertgesetz besagt, daß private Produzenten gesellschaftlich produzieren, daß nicht isolierte Individuen sich verbinden, sondern daß v e r gesellschaftete Menschen sich isolieren. Das Wertgesetz zeigt, w i e überhaupt Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, 4. Aufl., 1921, S. 9 u. 53. 2) Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, a. a. O., S. 53. 3) Ebd., S. 50. 4) Ebd. 414

sich isolierende vergesellschaftete Menschen existieren können. Es ist das regelnde Gesetz der atomisierten Gesellschaft. Die ökonomische Theorie der kapitalistischen Produktionsweise wurde von Marx in ihrem Wesen vollendet. Aber diese Vollendung war wiederum ein Sprung von einer in die andere Qualität. Die Marxsche Theorie als „Kritik" der klassischen bürgerlichen Ökonomie ist einmal die bewußt zu Ende gedachte, konsequent durchgeführte klassische Theorie. Aber diese bewußt zu Ende gedachte, konsequent durchgeführte klassische Theorie ist etwas qualitativ» Neues geworden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse werden durch die Unterscheidung des Doppelcharakters der Arbeit und des Produktionsprozesses der Ware als historisch entstehende und vergehende Verhältnisse gefaßt. Damit wurde die politische Ökonomie aus einer bürgerlichen zur sozialistischen Ökonomie. Die Vollendung der Theorie der kapitalistischen Produktionsweise konnte gemäß der Dialektik der Geschichte nicht von bürgerlichen Theoretikern, sondern nur von Theoretikern der Klasse geleitet werden, deren geschichtliche Aufgabe die Überwindung der bürgerlichen Produktionsweise durch die sozialistische ist. Die sozialistische Ökonomie, die politische Ökonomie der Arbeiterklasse, ist damit aber zugleich mehr als bloße Theorie der „kapitalistischen" Produktionsweise. Sie ist die Theorie von der Überwindung dieser Produktionsweise, die wissenschaftliche Begründung von der Notwendigkeit der Errichtung der proletarischen Diktatur. Sie entwickelt sich weiter zur Theorie vom Aufbau der sozialistischen Produktionsweise und des allmählichen Übergangs zum Kommunismus, zur politischen Ökonomie des Sozialismus. Wirkliche Tradition ist nicht nur Weiterentwicklung, sondern Höherentwicklung, wie es die qualitative Umgestaltung des geistigen Erbes durch die Physiokraten und Klassiker der bürgerlichen Ökonomie nach den Merkantilisten und durch Marx nach den Klassikern der bürgerlichen Theorie in der Tat ist. Die bürgerliche Ökonomie nach Smith und Ricardo wird mit den Tatsachen und Problemen ihrer eigenen Produktionsweise nicht mehr fertig. Marx f ü h r t durch seine „Kritik" der politischen Ökonomie die offengebliebenen Fragen der klassischen bürgerlichen Ökonomie zu einer einheitlichen und in sich widerspruchsfreien Lösung. In der Analyse der Ware Arbeitskraft, dieser „Ware besonderer Art", die als Ware ihren Wert bildet nach dem allgemeinen Wertgesetz, aber zugleich die Quelle allen Wertes selbst und des Mehrwertes ist, deckt Marx den Angelpunkt aller Probleme der bürgerlichen Produktionsform überhaupt auf. Aber indem er die Gesetze der bürgerlichen Produktionsweise „nach der negativen Seite hin" darstellt und damit die klassische politische Ökonomie zu Ende f ü h r t , ist die Marxsche Theorie gegenüber der bürgerlichen Ökonomie mehr als die höchstmögliche Selbsterkenntnis dieser Produktionsweise. Wie sie die notwendige Aufhebung der bürgerlichen Produktionsweise durch die sozialistische Produktionsweise aufzeigt, so ist die 415

politische Ökonomie als sozialistische Ökonomie die wirkliche Aufhebung der bürgerlichen Ökonomie, schon bevor ihre Produktionsweise in der Wirklichkeit aufgehoben wird. Nach der Marxschen kann es eine bürgerliche Ökonomie als Wissenschaft nicht mehr geben, weil diese durch ihre Kritik aufgehoben und in die sozialistische Theorie eingegangen ist. Soweit es neben der marxistischen politischen Ökonomie fernerhin noch eine „bürgerliche" Ökonomie gibt, ist sie als bloßer Empirismus und reiner Formalismus „VulgärÖkonomie" im Marxschen Sinne und „Apologetik" des kapitalistischen Systems. Nicht nur die offengebliebenen Fragen aber beantwortete Marx, er setzte die Erforschung des „inneren" Zusammenhangs fort und vollendete sie. Marx konnte, da ihm als erstem die Entzifferung der „gesellschaftlichen Hieroglyphen" gelang, den gesellschaftlichen Gesamtprozeß in allen seinen widersprechenden Momenten erfassen. Die bürgerliche politische Ökonomie erschöpft sich seither in der Beobachtung und Registrierung der Erscheinungen der Konkurrenz, in ihrer Katalogisierung und Schematisierung, weil sie mit dem Ausgangspunkt und der Grundlage, dem Arbeitswert, den „inneren" Zusammenhang verlor und sich als Wissenschaft auflöste und entartete. Das Aufgeben der Tradition und der Einsichten der bürgerlichen Ökonomen vor Marx durch die bürgerlichen Ökonomen nach Smith und Ricardo ist ein gesellschaftliches Phänomen, das mit der Lösung des Mehrwertproblems durch Marx zusammenhängt. Indem schon die klassische bürgerliche Ökonomie zeigte, daß der Profit nur möglich ist durch Ausbeutung der Klasse „freier" Lohnarbeiter, wurde der antagonistische Charakter der bürgerlichen Gesellschaftsordnung bloßgelegt. Das in jeder auf Klassen beruhenden Gesellschaft erforderliche Mehrprodukt der Arbeit nimmt aber in der auf dem kapitalistischen Eigentum beruhenden Gesellschaftsordnung die Form des von den kapitalistischen Eigentümern angeeigneten Mehrwerts an. Die bürgerliche Ökonomie enthüllte noch in Ricardo den Klassencharakter ihrer Gesellschaftsordnung. Damit aber enthüllte sie zugleich, wie Marx in ihrer Kritik nachwies, ihr Bewegungsgesetz und führte damit zu politischen Konsequenzen, die die bürgerliche Klassenherrschaft gefährdeten. In dem Augenblick, wo die bürgerliche Ökonomie sich anschickte, ihre höchste Aufgabe als wissenschaftliche Ökonomie zu lösen, stieß sie an ihre klassenmäßigen Schranken. Selbst als interpretierende Wissenschaft ist die bürgerliche Ökonomie nun unmöglich geworden, da die bürgerlichen Interessen der Träger einer Wissenschaft von der politischen Ökonomie in Widerstreit geraten mit dem Willen zur Erkenntnis der Wahrheit. Lange bevor daher die politische Ökonomie des Kapitalismus durch den unaufhaltsamen Prozeß der revolutionären Umwandlung ihren Gegenstand verliert, „verlieren" die bürgerlichen Ökonomen ihren Gegenstand, weil sie statt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nach Apologetik streben. Es findet eine eigenartige Verschiebung im Gegenstand dieser 416

Wissenschaft statt, die nur aus den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst heraus zu verstehen und zu erklären ist. Die bürgerlichen Ökonomen „verlieren" die Probleme der politischen Ökonomie des Kapitalismus, bevor die aus diesen Problemen sich ergebenden politischen Fragen gelöst worden sind, weil sie kraft ihres gesellschaftlichen Standpunktes vor der Lösung dieser politischen Fragen zurückschrecken. Die gesellschaftliche Wirklichkeit, der Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie, drängt so gewaltig in das Bewußtsein, daß schon die Stellung der Probleme polizeiwidrig geworden ist. Aber die „Grenznutzentheorie" stellt die Probleme noch! Sie stellt die Probleme aber nur noch, um sie so zu beantworten, daß ihre Antworten der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr gefährlich werden. Die Grenznutzentheorie will eine wissenschaftliche Ökonomie ohne revolutionäre Konsequenzen sein — ein Widerspruch in sich — und beseitigt damit auch die Voraussetzungen jedes wissenschaftlichen Systems. Die „Grenznutzentheorie" ist ein — selbstverständlich gescheiterter — Versuch, bürgerliche Ökonomie als wissenschaftliche Ökonomie zu einer Zeit zu treiben, wo die Reife der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dies nicht mehr gestattete. Das bedeutet keineswegs, daß die „Grenznutzentheorie" keine Anknüpfungspunkte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit hat. Sie hat solche A n knüpfungspunkte. Aber diese Anknüpfungspunkte sind nicht die — historischen — Produktionsverhältnisse! Sinn jeder Wirtschaft ist die Befriedigung der vorhandenen gesellschaftlichen Bedürfnisse, d. h. der Bedürfnisse der in Gesellschaft lebenden, der vergesellschafteten Menschen. Daß die Bedürfnisse der in Gesellschaft lebenden Menschen größer sind als die von Natur zu ihrer Befriedigung vorhandenen Mittel, ist der Anlaß zur Arbeit. Die gesellschaftlich vorhandene Gesamtarbeit wird auf die in der Gesellschaft vorhandenen Bedürfnisse verteilt. Die Tatsache, daß die Bedürfnisse der Menschen größer als die vorhandenen Mittel zu ihrer Befriedigung sind, ist eine „natürliche", eine ewige Grundlage aller bisherigen Produktionsweisen, weil sie unabhängig von ihren gesellschaftlichen Formen vorhanden ist. Erst in der kommunistischen Gesellschaft, „in der nach Stalin — die Produktion durch die Bedürfnisse der Gesellschaft reguliert werden" wird, weil die vorhandenen Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse größer sind als die Bedürfnisse der Menschen, wird dieser „natürliche" Anlaß zur Arbeit verschwinden. Obwohl aber diese „natürliche" Bedingung allen bisherigen Formen der Wirtschaft zugrunde liegt, führt sie nicht zu „der" menschlichen Wirtschaft, nicht zur Wirtschaft überhaupt. Sowenig es in der Geschichte „den" Menschen, den Menschen überhaupt gibt, sowenig gibt es „die" Wirtschaft, die Wirtschaft überhaupt, d. h. die „natürliche" Wirtschaft ohne gesellschaftliche Form. Daher kann auch die politische Ökonomie nicht die Wissenschaft „der" Wirtschaft, der Wirtschaft überhaupt sein, sondern sie ist die politische Ökonomie der jeweiligen 27 Behrens

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Produktionsweise. Daß sie sich außerdem auch mit den Gesetzen beschäftigt, sie erforscht und darstellt, die allen Produktionsweisen zugrunde liegen, ändert nicht ihren Charakter als einer „historischen Wissenschaft". Quesnay, der Physiokrat, ging von der richtigen, aber einseitigen Wahrheit aus, daß die Quelle des Reichtums die Arbeit in der Landwirtschaft sei. Richtig war die Einsicht, daß die Arbeit die Quelle des Reichtums, falsch, weil einseitig, daß nur die landwirtschaftliche Arbeit die Quelle des Reichtums sei. Quesnay hatte nur den stofflichen Reichtum in seinem Blickfeld. Obwohl er, der Entdecker des wirtschaftlichen Kreislaufes, die warenproduzierende Gesellschaft untersucht, analysiert er nicht den Tauschwert, sondern geht vom Gebrauchswert aus. Alle Arbeit muß ihm dabei als konkrete Arbeit, aber nur eine Arbeit als gebrauchswertverzehrende Arbeit erscheinen. Schon mit dem einleitenden Satz seines berühmten Buches führt Adam Smith den Reichtum der warenproduzierenden Gesellschaft auf ihren wirklichen Ursprung zurück und läßt den Physiokratismus damit hinter sich. „Die jährliche Arbeit eines Volkes", so führt er aus, „ist der Fonds, welcher dasselbe mit allen Bedürfnissen und allen Annehmlichkeiten des Lebens versorgt, die es jährlich verbraucht und die immer entweder in dem unmittelbaren Erzeugnis dieser Arbeit oder darin bestehen, was für dieses Erzeugnis von anderen Völkern erhandelt wird". Damit stellt sich Smith nicht nur auf den Boden der objektiven Theorie, sondern geht auch von der gesellschaftlichen Gesamtarbeit aus. Smith beginnt nicht mit „dem" Menschen, mit seinen Bedürfnissen und der Verteilung eines vorhandenen Gütervorrates, sondern mit der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, die verwendet werden muß, um die gegebenen gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Smith geht also aus vom vergesellschafteten, in Gesellschaft produzierenden Menschen und sucht die objektiven Gesetze, die den arbeitsteiligen Produktionsorganismus auf der Grundlage des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln regeln. Im Gegensatz hierzu beginnt G. H. Gossen, ein Vorläufer der „Grenznutzentheorie", mit dem individuellen Bedürfnis, mit dem „Trieb zu genießen". Und das ist typisch für diese Art bürgerlicher Ökonomie: statt mit der Arbeit beginnt sie mit dem Genuß. Die Gesellschaft ist für Gossen kein objektiv gegebener Zusammenhang, dessen Gesetz es zu entdecken gilt, sondern ist der Zusammenhang isolierter Individuen. Nicht ihrem Wesen nach als vergesellschaftlichtete Menschen, als nur in der Gesellschaft existenzfähige Wesen werden die Menschen begriffen, sondern als isolierte Menschen, als atomisierte Wesen, und damit nicht begriffen. Der homo oeconomicus ist für das bürgerliche Denken des reifen und niedergehenden Kapitalismus viel mehr als eine „idealtypische" Konstruktion. Er ist für eine Grundhaltung typisch, die sich aus der Entwicklung der bürgerlichen Produktionsweise ergibt. Der homo oeconomicus ist der Ausdruck dafür, daß die Analyse und Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit von der bürgerlichen Ökonomie zugunsten der Apologetik der bestehenden gesellschaftlichen Verhält418

nisse und: des Kampfes gegen die wissenschaftliche Ökonomie aufgegeben wurde. Er ist die Grundlage f ü r den kämpferisch-apologetischen Charakter dieser „Theorie", die ihrem Wesen und ihrem Inhalt nach Theorie gegen den Mehrwert ist. Diese neue „Grundlegung" gestattet den bürgerlichen Ökonomen jetzt das bewußt zu tun, was unbewußt auch bereits die vorklassischen und klassischen bürgerlichen Ökonomen getan hatten: die bürgerliche Produktionsweise als eine ewige, unveränderliche, aus der menschlichen Natur notwendig sich ergebende Produktionsweise zu erklären.

2. Hermann

Heinrich

Gossen

Als Begründer der sogenannten subjektiven Werttheorie gilt Hermann Heinrich Gossen (1810—1850). Bei Gossen ist nicht mehr der arbeitsteilige Produktionsorganismus Ausgangspunkt der Untersuchungen, sondern das isolierte Individuum, nicht mehr der vergesellschaftete, sondern der entzweite Mensch. Daher steht dann auch folgerichtig nicht mehr die Arbeit als Substanz des gesellschaftlichen Zusammenhangs, sondern der Verbrauch, der Genuß im Mittelpunkt der theoretischen Betrachtungen. Aus dem objektiven Zusammenhang des arbeitsteiligen Produktionsorganismus wird auf subjektiven Momenten beruhendes Zusammenfinden atomisierter Individuen. Die Atomisierung in der Warenproduktion wird nicht als historischer Prozeß der Zersetzung naturwüchsiger Produktionsweisen erklärt, sondern als gegeben, naturgegeben hingenommen, als natürliche Voraussetzung der „ewigen" bürgerlichen Gesellschaft. Aus dem Zusammenhang durch die gesellschaftliche Arbeit wird der Zusammenhang durch den Genuß. Lassen wir Gossen sprechen! „Was einem Kopernikus zur Erklärung des Zusammenseins der Welten im Raum zu leisten gelang, das glaube ich f ü r die Erklärung des Zusammenseins der Menschen auf der Erdoberfläche zu leisten", beginnt Gossen die „Vorrede" seines 1853 erschienenen Buches „Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fixierenden Regeln f ü r das menschliche Handeln". Er glaube, fährt er fort, daß es ihm gelungen sei, „die K r a f t und in großen Umrissen das Gesetz ihrer Wirksamkeit zu entdecken, weldie das Zusammensein der Menschen möglich macht und die Fortbildung des Menschengeschlechtes unaufhaltsam bewirkt". 1 ) Die Kraft, die das bewirkt und die Gossen entdeckt zu haben glaubt, ist die K r a f t zu genießen, die „Genußkraft". Wie die Entdeckungen des Kopernikus es möglich machten, „die Bahnen der Weltkörper auf unbeschränkte Zeit zu bestimmen", so sollte seine Entdeckung Gossen „in den Stand setzen", „dem ') A. a. O., S. V. 27»

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Menschen mit untrüglicher Sicherheit die Bahnen zu bezeichnen, die er zu wandeln hat, um seinen Lebenszweck in vollkommenster Weise zu erreichen". 1 ) Eine erstaunliche Behauptung! „Der Mensch wünscht sein Leben zu genießen und setzt seinen Lebenszweck darein, seinen Lebensgenuß auf die möglichste Höhe zu steigern." 2 ) Da aber einesteils das Leben des Menschen eine geraume Zeit dauert und es „eine Menge Lebensgenüsse" gibt, die der Mensch sich augenblicklich verschaffen kann, die ihm aber in ihren Erfolgen Entbehrungen auflegen, die außer allem Verhältnis stehen mit dem früher gehabten Genüsse, und andererseits die Menschen zum Verständnis der höchsten und reinsten Genüsse erst herangebildet werden müssen, 8 ) stellt Gossen den folgenden, für seine Theorie grundlegenden Satz an die Spitze seiner Ausführungen: „Es muß das Genießen so eingerichtet werden, daß die Summe des Genusses des ganzen Lebens ein Größtes werde." 4 ) Nach diesem Grundsatz sieht Gossen alle Menschen handeln — „von der Wiege bis zum Grabe — ohne Ausnahme — den König wie den Bettler, den frivolen Lebemann wie den büßenden M ö n c h . . . " Indem der Schöpfer diese K r a f t schuf, die „Genußkraft", „welche im Menschen den Wunsch unvertilgbar und ununterbrochen erzeugt, diesen Zweck zu erreichen", erreicht er durch dieselbe für das Zusammenleben der Menschen genau dasselbe, was er durch die Schwerkraft und die ihr eigentümlichen Gesetze für das Zusammensein seiner Welten erreichte. Mit solcher Klarheit ist das Prinzip des bürgerlichen Denkens, der Individualismus, später nicht mehr ausgesprochen worden. Wie die Welten des Schöpfers isoliert im Räume schweben und nur durch die Schwerkraft zusammengehalten werden, so isoliert stehen die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft und werden durch ihr Streben nach höchstmöglichem Genuß allein zusammengehalten. So wie der Schöpfer durch die Schwerkraft „Ordnung in seine Welten" schaffte, so schaffte er durch die Genußkraft „Ordnung unter seine Menschen; wie er durch die Gesetze der Schwerkraft seinen Welten ihre Bahnen ewig und unabänderlich vorschrieb, so schrieb er durch die Gesetze der Kraft, zu genießen, dem Menschen ewig und unabänderlich seine Bahnen im Zusammenleben mit seinesgleichen vor". 5 ) Die „Genußkraft", „sie ist das Band, welches alle Menschen umschlingt und sie zwingt, im gegenseitigen Austausch mit dem eigenen Wohl zugleich das Wohl des Nebenmenschen zu fördern". 6 ) Man muß sich den Wechsel des Standpunktes völlig klarmachen! Auch Gossen geht es offenbar um das erste ') A. a. O., S. 1. Gossen, a. a. O., S. 4. 3) Ebd., S. 4. ') Ebd., S. 1. 5) Gossen, a. a. O., S. 3/4. Ebd., S.4. 2)

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Grundproblem der politischen Ökonomie. Aber die gesellschaftliche Produktion privater Produzenten wird jetzt nicht mehr verstanden als objektiver Arbeitszusammenhang, sondern als äußerliche Verknüpfung ursprünglich isolierter Individuen. Das Bild vom Menschen, das dieser Theorie zugrunde liegt, ist nicht mehr das Bild der klassischen bürgerlichen Ökonomie. Aus A d a m Smith und David Ricardo Subjektivisten machen, heißt, sie falsch interpretieren. Wenn die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie vom „Selbstinteresse" als der treibenden K r a f t der Wirtschaft sprechen, so zeigen sie damit nur die historische Besonderheit des kapitalistischen Produktionsprozesses auf, Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozeß zu sein, wobei die Bewegungsanstöße nicht v o m Arbeitsprozeß, sondern v o m Verwertungsprozeß ausgehen. Wenn auch weder Smith noch Ricardo dies explikativ aussprechen, so liegt doch diese erst von Marx deutlich gezogene Folgerung ihrer Analyse der kapitalistischen Produktionsweise stets zugrunde. Nicht die produktive Kombination der Produktivkräfte als Produktionsmittel und Arbeitskraft ist für die kapitalistische Produktionsweise wesentlich, sondern ihre Kombination als Werte, als konstantes und variables Kapital, die sich verwerten sollen. Und hiervon, vom Wert, d. h. v o m Tauschwert, gehen die Klassiker aus. Der Arbeitsprozeß, die Erzeugung von Gebrauchswerten, wird getrieben, weil die Kapitalisten ihren vorgeschossenen Wert, ihr Kapital, verwerten wollen. Es ist also das Selbstinteresse der Kapitalisten, ihr Verwertungsstreben, das die kapitalistische Wirtschaft antreibt und vorwärtstreibt, nicht das Selbstinteresse der Menschen schlechthin. Gegenstand der politischen Ökonomie bis zur Klassik ist immer der gesellschaftliche Prozeß als kapitalistischer Prozeß; der Kapitalist mit seinem Selbstinteresse wird als Triebkraft dieses Prozesses begriffen. Keineswegs ist es die Genußsucht des isolierten Menschen, w i e bei Gossen. Aus diesem Grunde ist die politische Ökonomie bis zur Klassik eine objektive Theorie. Der Grundbegriff der bürgerlichen Ökonomie bis zur Klassik ist der vergesellschaftete Mensch. Jevons spricht den Charakter der bürgerlichen politischen Ökonomie der Nachklassik zwei Jahrzehnte später ebenfalls aus, wenn er sagt, daß es „die Aufgabe der Wirtschaft ist, die Erreichung eines Höchstmaßes von Glücksgütern dadurch" zu erreichen, „daß man sich Lustgefühle um ein möglichst geringes Ausmaß von Unlustgefühlen verschafft". 1 ) Der Gegenstand der politischen Ökonomie ist nach Jevons eine „Häufung von Personen", deren „Gemütsverfassung" durchforscht wird. „Die formalen Gesetze der Ökonomie sind dieselben im Falle der Einzelpersonen und Nationen." 2 ) „Ich habe in diesem Werke den Versuch unternommen", schreibt Jevons, „die Volks-

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W. St. Jevons, Die Theorie der politischen Ökonomie, Jena 1924, S. 22. Ebd., S. 14. 421

wirtschaftslehre als eine Mathematik der Lust- und Unlustgefühle darzustellen . . . " » ) Es ist daher durchaus bezeichnend, wenn H. H. Gossen folgerte, daß — wenn man „den Zweck dieser Wissenschaft auf seine wahre Größe" erweitere, nämlich: „den Menschen zur größten Summe des Lebensgenusses zu verhelfen" — die bis dahin übliche Benennung „nicht mehr paßt". Gossen wählte daher statt dessen die Bezeichnung „Genußlehre". 2 ) Damit ist in der Tat alles ausgedrückt: Die bürgerliche Ökonomie ist jetzt keine Wissenschaft mehr, die objektive ökonomische Gesetze erforschen will, auch nicht bei denen, die noch Anspruch darauf erheben, Theorie zu treiben. Ebensowenig wie der Historismus Wissenschaft ist, ist es die Grenznutzentheorie. Gossen wurde nur zum Entdecker, nicht zum Begründer der Grenznutzentheorie. Zwischen dem Erscheinen seines Werkes im Jahre 1853 und der Begründung der Grenznutzentheorie lagen einige Jahrzehnte völliger Vergessenheit. Als das Buch von Gossen im Jahre 1853 erschienen war, blieb es zunächst gänzlich unbeachtet, und er zog es selbst im Jahre 1858 aus dem Verkehr. Sein Buch, und damit seine Entdeckung der Grenznutzentheorie, wurde von den Begründern der Grenznutzentheorie erst wiedergefunden, als diese Theorie bereits systematischen und anerkannten Ausdruck gefunden hatte. 3 ) Das Rätseln um die Ursachen des Vergessens und des Wiederentdeckens der Gossenschen Theorie bei den bürgerlichen Dogmenhistorikern ist ebenso unwissenschaftlich wie die durch Gossen begründete Grenznutzentheorie selbst. Es bleibe „unerklärlich", schreibt Stavenhagen, „warum nicht aber von den Klassikern auf der Grundlage der Benthamschen Philosophie der Zugang zu einer subjektiven, auf dem Nutzenprinzip aufbauenden Wertund Preislehre gefunden w u r d e . . .!" 4 ) Unerklärlich bleibt es nur den bürgerlichen Dogmenhistorikern, die bei der Darstellung der Entwicklung einer Wissenschaft von der materiellen Grundlage abstrahieren, von der sie die Widerspiegelung ist. Das Schicksal der Gossenschen Theorie, ihr Vergessen und ihre gleichzeitige Neuentdeckung durch Menger, Jevons und Walras in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist ein Ereignis, das nicht ideengeschichtlich erklärt werden kann. Als Gossen seine Theorie konzipierte, waren alle Elemente dieses neuen Systems, alle Anknüpfungspunkte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit genau schon so vorhanden wie zwei Jahrzehnte später. Doch wenn auch der Klassenkampf der bürgerlichen Ökonomie die Totenglocke als Wissenschaft schon geläutet hatte — die Widerlegung des „definitiven" Charakters der bürgerlichen Ordnung durch die Geschichte war ») ) 3) 4)

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Ebd., S. 24. Gossen, a. a. O., S. 34. Vgl. hierzu Behrens: H. H. Gossen, Leipzig 1949, S. 64 ff. A. a. O., S. 48.

noch nicht tief genug ins bürgerliche Bewußtsein gedrungen. Erst als nach der Niederringung der Revolution von 1848 in den sechziger Jahren die revolutionäre Arbeiterbewegung wiederentstand und in der Pariser Kommune im Jahre 1871 ihren Höhepunkt fand, war die Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht, die die bewußte, d. h. die kämpferische Apologetik verlangte. Erst jetzt, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Strukturwandlung des Kapitalismus vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus einsetzte und der Imperialismus zu entstehen begann, hatte der Kapitalismus jene Reife erreicht, die für die Kristallisation der Elemente der bewußt apologetischen Theorie zum „System" Bedingung war. Erst jetzt konnte aus der Möglichkeit Wirklichkeit werden, weil die Reife der gesellschaftlichen Verhältnisse die bürgerliche Ökonomie bei wissenschaftlicher Betrachtung die Anerkennung des transitorischen Charakters der bürgerlichen Produktionsweise abzwingen mußten. Die Gossensche Theorie war eine „Frühblüte" der bewußten Apologetik, keine „späte Blüte der HarmonievorStellungen", wie Emil Lederer glaubte. Sie mußte verdorren, weil das bürgerliche Bewußtsein für die Annahme dieser Theorie noch nicht reif war. Um so üppiger entfalteten sich dann die Blüten der siebziger Jahre, um schließlich als Früchte in den formalen Theorien unserer Zeit „auszureifen".

3. Das System der

„Grenznutzentheorie"

„Die von der sogenannten österreichischen Schule begründete Methode der theoretischen Volkswirtschaftslehre weist grundsätzlich andere Züge als die bisher besprochenen Theoretiken auf, die der Lehre der klassischen Ökonomie folgten", heißt es in dem von Karl Diehl geschriebenen Artikel über „Volkswirtschaft und Volkswirtschaftslehre" im „Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre".1) Während diese Theoretiker „ihre Wirtschaftsgesetze im Anschluß an die englischen Klassiker aus den Sphären der Produktion ableiten, ging die österreichische Schule von der Konsumtionssphäre aus. Die Klassiker legten ihren Deduktionen einen homo oeconomicus productus zugrunde, die Österreicher einen homo oeconomicus consumus".2) Das ist vollkommen richtig, aber bei weitem nicht alles: Die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie gingen von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen aus, während die Subjektivisten von einer imaginären „ewigen" und „unveränderlichen" Wirtschaft ausgehen: von einem Arbeitsprozeß ohne gesellschaftliche Formen, und das heißt, von einem fiktiven, konstruierten, imaginären Arbeitsprozeß. Was ist der Inhalt der subjektiven Theorie? J) 2)

2. Auflage, Bd. III, 1933, S. 846. Ebd., S. 846/847. 423

Es gibt Güter, „deren v e r f ü g b a r e Quantität geringer ist als der Bedarf der Menschen". 1 ) Diese lapidare Feststellung Carl Mengers enthält die ganze moderne bürgerliche Wirtschaftstheorie. Diese „naturgegebene" Tatsache sei die grundlegende Voraussetzung jeder menschlichen Gesellschaft, aus ihr entstehen Wirtschaft u n d Eigentum, so lehrt diese „Theorie". Hieraus, „daß bei einer G r u p p e von G ü t e r n der Bedarf der Menschen größer ist als die ihnen v e r f ü g b a r e Quantität", resultierten Erscheinungen, die m a n „ganz im allgemeinen" betrachten kann, stellt Menger fest, „ohne besondere Rücksicht auf die soziale Gliederung der Menschen —, so zwar, daß das Gesagte ebensowohl f ü r das isolierte Individuum als f ü r eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, wie immer sie auch organisiert sein mag, seine Geltung hat". 2 ) Diese Aussagen Carl Mengers drücken mit größtmöglicher Klarheit aus, was die von Gossen zuerst entdeckte, von Menger, Jevons u n d Walras wiederentdeckte nelie Theorie zu sein beansprucht, aber auch allein zu sein beanspruchen k a n n : Theorie „der" Wirtschaft, der Wirtschaft überhaupt, unabhängig von ihrer jeweiligen konkret-historischen Form, Theorie der natürlichen Wirtschaft, d. h. alles andere, n u r keine wirkliche Wirtschaftstheorie ! Explikativ h a t Gossen diesen Gedanken selbst noch nicht ausgesprochen. „Bei der bisherigen Betrachtung des Wertes der verschiedenen Gegenstände der Außenwelt f ü r den Menschen", f ü h r t Gossen aus, nachdem er die subjektive Theorie des Wertes konstituiert hat, „wurde auf die Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Beschaffung des Gegenstandes keine Rücksicht genommen, w ä h r e n d bekanntlich die N a t u r in unseren Zuständen n u r einen unbedeutend kleinen Teil der gewünschten Gegenstände ohne unser Z u t u n liefert, bei allen anderen aber eine mehr oder minder große K r a f t a n s t r e n g u n g von seiten des Menschen erforderlich ist, u m sie entstehen zu lassen." 3 ) Diese Kraftanstrengung, der der Mensch sich unterziehen muß, u m die Knappheit bestimmter Güter zu überwinden, ist die Arbeit. Und wie die Knappheit bestimmter Güter eine Naturgrundlage jedes menschlichen Lebens ist, so sei es auch die Arbeit. „Um die Schätzung der Außenwelt zu vollenden", schreibt Gossen, wird d a n n „die Untersuchung noch auf Auffindung der Gesetze zu richten sein, welche die Größe der Beschwerde beim Schaffen von Werten bestimmen", 4 ) auf die Auffindung der Gesetze der Arbeit. Gossen untersucht dann auch den Arbeitsprozeß als Naturprozeß, als technischen Prozeß, ohne Rücksicht auf die konkret-historische Form, auf die gesellschaftliche Form, in welche er immer gekleidet ist. Er begreift den Arbeitsprozeß n u r als die produktive Kombination von Produktionsmittel und Arbeitskraft! Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Wien 1871, S. 56. ) Ebd., S. 55 (von mir gesperrt, F. B.). 3 ) Gossen, a. a. O., S. 34/35. 4 ) Gossen, a. a. O., S. 35. 2

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„Untersuchen wir zu diesem Zweck", leitet Gossen seine Überlegung über die Arbeit ein, „von welcher Art die Einwirkung ist, welche wir zum Schaffen von Werten auf die Außenwelt auszuüben haben".1) Und er findet, „daß vor allem Kenntnis der Naturgesetze, durch deren Zusammenwirken einzig und allein Werte entstehen, als Grundbedingung erforderlich ist.. ,"2) Kenntnis der Naturgesetze! Der Arbeitsprozeß wird als angewandte Naturwissenschaft verstanden. Und in der Tat: als solch technischer Prozeß, als produktive Kombination von Produktionsmittel und Arbeitskraft ist der Arbeitsprozeß eine Naturgrundlage jeder Gesellschaft. „Die Produktion von Gebrauchswerten oder Gütern ändert ihre allgemeine Natur nicht dadurch, daß sie für den Kapitalisten und unter seiner Kontrolle vorgeht", schreibt Marx und fügt hinzu: „Der Arbeitsprozeß ist daher zunächst unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form zu betrachten."3) Aber Marx bleibt bei dieser Betrachtung des Arbeitsprozesses, „unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form", nicht stehen. „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen."4) Und für die Analyse dieser ökonomischen Epochen, speziell einer ökonomischen Epoche interessiert sich Marx — im Gegensatz zu Gossen und seinen Wiederentdeckern, den „Theoretikern" des subjektiven Wertes! „Der Arbeitsprozeß — in seinen einfachen und abstrakten Momenten — ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam."5) Der Arbeitsprozeß als Naturbedingung jeder gesellschaftlichen Produktion ist nur die eine Seite des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Die andere Seite sind die verschiedenen gesellschaftlichen Formen, in denen dieser natürlich-technische Arbeitsprozeß vor sich gehen muß. Diese gesellschaftlichen Formen, in welche der Arbeitsprozeß immer gekleidet ist, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen und unter denen die Produktion vor sich geht, ist für die subjektive Theorie seit Gossen völlig uninteressant. Aber gerade diese Formen, die Produktionsverhältnisse der Menschen, sind Gegenstand der politischen Ökonomie. Gegenstand der Ökonomie Gossens und der von ihm ausgehenden bürgerlichen Ökonomie sind also nicht die Produktionsverhältnisse oder — genauer — nicht die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, sondern natürliche Verhältnisse, Naturverhältnisse. Aber selbst diese ») Ebd., S. 35. Ebd., S. 35. 3) Marx, Kapital, Bd. I, S. 182. 4) Ebd., S. 188. 5) Ebd., S. 192. 2)

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„natürlichen" Verhältnisse sind nicht wirklich, sondern konstruiert, fiktiv. „Die Menschen streben nach ihrem Glück", schreibt Böhm-Bawerk, „ . . . auch . . . nach möglichst vollständiger Bedürfnisbefriedigung . . . " Die tauglichen Befriedigungsmittel menschlicher Bedürfnisse sind die Güter, oder enger, die Sachgüter, und „Sachgüter sind Teile der natürlichen Außenwelt, sind Naturdinge". 1 ) Es sind also solche „mit ihrem Wesen und Wirken von Anfang bis Ende auf den Boden des Natürlichen und Naturgesetzlichen gestellt". 2 ) Und weiter: „Sachgüter entstehen also nicht anders, als wenn die Naturgesetze gestatten und fordern, daß eine gerade so und nicht anders geartete Stoffgestalt zustande kommt, sie vergehen, wenn eine neue Kombination wirkender Naturkräfte die Auflösung der bisherigen Stoffgestalt zur zwingenden naturgesetzlichen Folge h a t . . ." 3 ) Produktion heiße demnach, daß der Mensch, selbst ein Stück der Naturwelt, seine natürlichen K r ä f t e mit den unpersönlichen Naturkräften kombiniert, und zwar so kombiniert, daß aus dem Zusammenwirken der vereinigten K r ä f t e die Entstehung einer bestimmten gewünschten Stoffgewalt naturgesetzlich erfolgen muß. „Die Gütererzeugung bleibt trotz des Menschen ein reiner Naturprozeß.. ." 4 ) Und als solcher Naturprozeß wird von dieser „Theorie" die Wirtschaft aufgefaßt — als ein natürlicher, nicht als ein gesellschaftlicher Prozeß! Die Produktion wird aufgefaßt nur als die produktive Kombination von Produktionsmitteln und Arbeitskraft, als die Kombination der produktiven Kräfte, unabhängig und losgelöst von der gesellschaftlichen Form, damit aber als nicht existent, als imaginär. Diese „Theorie" hat also zwar eine Grundlage im gesellschaftlichen Produktionsprozeß, einen Anhaltspunkt: den Arbeitsprozeß! Sie knüpft aber nur an dieser, nur an einer Seite des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an. Die andere Seite, die gesellschaftliche Form des Arbeitsprozesses, und damit natürlich auch den Formwechsel, läßt sie völlig außer Betracht! Damit läßt sie aber den wirklichen Prozeß außer Betracht und wendet sich Fiktionen zu. Ausgehend von einigen Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Produktion katalogisiert und schematisiert sie. So verschleiert sie das Wesen und das eigentliche Problem dieser Produktion: den verdinglichten und entfremdeten Charakter der historischen kapitalistischen Produktionsweise, die im Wert zusammenlaufen und sich verdichten. Ausgehend von der „naturgegebenen" Tatsache, daß bestimmte Güter im Verhältnis zu den menschlichen Bedürfnissen knapp sind und daß diese Knappheit nur überwunden werden kann, wenn durch die Kombination der produktiven Kräfte, der menschlichen Arbeitskraft mit den Arbeitsmitteln, ') Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins, Bd. II, Positive Theorie des Kapitals I, 4. Aufl., 1921, S. 5. 2) Ebd., S. 6. 3) Ebd. 4) Ebd., S. 6. 426

Gebrauchswerte erzeugt werden, betrachten also Gossen und seine Wiederentdecker nur diese „naturgegebene", d. h. „ewige" und „unabänderliche" Seite des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, entkleidet ihrer gesellschaftlichen Formen und damit entkleidet ihrer Existenz! Daß die Kombination der produktiven Kräfte in verschiedenen gesellschaftlichen Formen vor sich gehen kann, wird von dieser „Theorie" außer Betracht gelassen. Damit wird die Wirklichkeit außer Betracht gelassen. Die gefundenen Sätze sollen Gültigkeit für jede Gesellschaftsform haben. Sie haben es für keine Gesellschaftsordnung. Sie haben überhaupt keine Gültigkeit, sie sind inhaltlos und formal. Mit dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß gibt diese „Theorie" auch den Grundbegriff jeder gesellschaftswissenschaftlichen Theorie auf, den Begriff, des vergesellschafteten Menschen. Gossen verweist — und das ist durchaus typisch für die ganze subjektive Werttheorie — auf Robinson Crusoe, „um sich die vollkommenste Überzeugung zu verschaffen", daß „die Grundsätze, nach denen die Schätzung der Außenwelt von dem einzelnen Menschen für sich selbst vorzunehmen ist" und daß aber „die daraus fließende Hauptregel für seine Handlungsweise, um ein Größtes von Lebensgenuß sich zu verschaffen..., aufs genaueste den Erfahrungen, wie sie uns die Wirklichkeit gibt", entsprechen!1) Dieser Robinson und der „homo oeconomicus" oder der „economical man" ist der Grundbegriff der gesamten subjektiven Theorie in dieser oder jener Weise. Es gibt keinen Theoretiker der subjektiven Richtung, der dies nicht — wenigstens implikativ — ausgesprochen hätte. Das bedeutet, daß die subjektive Theorie von Gossen und seit Gossen nicht ausgeht von den gegebenen gesellschaftlichen Bedürfnissen, den Bedürfnissen der in Gesellschaft lebenden, der vergesellschafteten Menschen, die durch die vorhandene gesellschaftliche Gesamtarbeit zu befriedigen sind. Sie geht nicht aus von einem konkreten historischen Individuum, sondern von einem isolierten Individuum, und das heißt von einem konstruierten Individuum. Für die objektive Theorie ist der Wert ein gesellschaftliches Verhältnis. Das Wertgesetz ist das regelnde Gesetz des arbeitsteiligen, auf der Grundlage des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln produzierenden Produktionsorganismus. Der Austausch der Waren zu ihren Werten bzw. zu ihren Produktionspreisen ermöglicht überhaupt erst die Existenz der gesellschaftlichen Produktion privater Produzenten. Das Wertgesetz erklärt uns nicht nur, wie aus dem Chaos der warenproduzierenden Gesellschaft ein Kosmos wird — wenn auch ein immer in Gefahr der Explosion sich befindender Kosmos —, das Wertgesetz ist ein objektives, ein wirkliches Gesetz dieser Wirtschaft, wie die Naturgesetze wirkliche Gesetze der Natur sind. Aus diesem Grunde geht die politische Ökonomie als gesellschaftswissenschaftliche Theorie von der Analyse des Gesamtprozesses, d. h. von der Analyse der gesellschaftlichen Bedürfnisse und der Gesamtarbeit aus. Das Wertgesetz, der Austausch der Gossen, a. a. O., S. 45.

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Waren zu ihren Werten bzw. zu ihren Produktionspreisen, bewirkt die V e r teilung der Gesamtarbeit einer Gesellschaft auf die Gesamtbedürfnisse. Ausgangspunkt und damit auch Gegenstand der bürgerlichen Ökonomie bis zur Klassik und der subjektiven Theorie sind also völlig verschieden. Gossen wie seine Wiederentdecker haben die wirkliche Bedeutung des Wertes und des Wertgesetzes nie begriffen, weil für sie Erscheinung mit Wesen zusammenfällt, weil sie die „Hieroglyphe" für bare Münze nehmen und daher ihre Entzifferung als Problem überhaupt nicht einmal stellen. Sie haben es nie begriffen, daß das Wertgesetz und seine Konsequenz, das Mehrwertgesetz, ein Bewegungsgesetz ist, daß es überhaupt nicht Aufgabe der Werttheorie sein kann, das Zustandekommen des Preises einer einzelnen Ware zu erklären, sondern daß ihre Aufgabe nur sein kann, Antwort auf die Frage zu geben: Wie ist gesellschaftliche Produktion privater Produzenten möglich? Auf diese Frage aber vermag die subjektive Theorie keine Antwort zu geben. Gossen beschränkt sich darauf, nachdem er festgestellt hat, daß die verschiedenen Ansichten der „Nationalökonomen" in der Werttheorie „in den verschiedenen Begriffsbestimmungen von Wert ihren Grund haben", „darauf aufmerksam zu machen", daß „nach seiner Anschauungsweise der Außenwelt nichts existiert, dem ein sogenannter absoluter Wert z u k ä m e . . ."-1) Die von Marx vollendete objektive Werttheorie gibt keine „Begriffsbestimmung vom Wert", "sondern formuliert das Bewegungsgesetz der warenproduzierenden Gesellschaft. 2 ) Die subjektive Theorie dagegen geht von einer Begriffsbestimmung des Wertes und vom individuellen Bedürfnis, vom individuellen Verbrauch aus. Es ist auch bei bürgerlichen Ökonomen längst anerkannt, daß die subjektive Theorie, wenn überhaupt, eine falsche Psychologie ist, weil die Psychologie eines konstruierten, eines künstlichen und nicht eines wirklichen Menschen. „Die grundlegende These, die eine Theorie des Gebrauchswertes überhaupt erst möglich macht", stellt Emil Lederer fest, „ i s t . . . das Gesetz der Bedürfnissättigung", 3 ) das von Wieser als das erste Gossensche Gesetz bezeichnet wurde. „Dieses Gesetz der Bedürfnislosigkeit weist uns darauf hin, nicht die Bedürfnisse im ganzen, abstrakt, ungeteilt, sondern nur in ihren einzelnen Bedürfnisregungen zu betrachten." 4 ) Die Bedürfnisse werden nach diesem Gesetz der Bedürfnissättigung „mit fortschreitender Befriedigung weniger dringlich e m p f u n d e n . . . " . Auf „diese verwegenen B e hauptungen also reduziert sich die ,Psychologie' der Grenznutzenschule, von der wir hoffen können, daß sie durch keine noch so rapiden und unerwarteten Fortschritte der wissenschaftlichen Psychologie entkräftet werden wird . . .". 5 ) Welches sind nun die sogenannten „Gossenschen Gesetze", auf denen die subjektive Werttheorie beruht? d)

Gossen, a. a. O., S. 46. Vgl. Marx, Briefe an Kugelmann, Berlin 1947, S. 51/52. 3) Lederer, Aufriß der ökonomischen Theorie, Tübingen 1931, 3. Aufl. 4) Ebd., S. 189. 6) Ebd., S. 188. 2)

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Das „erste Gossensche Gesetz" wird auch als das „Gesetz der Bedürfnissättigung" bezeichnet. Es lautet nach Gossen: „Die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt." Eine ähnliche Abnahme des Genusses tritt ein, „wenn wir den früher bereiteten Genuß wiederholen, und nicht bloß, daß bei wiederholter Bereitung die ähnliche Abnahme eintritt, auch die Größe des Genusses bei seinem Beginnen ist eine geringere, und die Dauer, während welcher etwas als Genuß empfunden wird, verkürzt sich bei der Wiederholung, es tritt früher Sättigung ein, und beides, anfängliche Größe sowohl wie Dauer, vermindern sich um so mehr, je rascher die Wiederholung eintritt". Dieses Gesetz der Bedürfnissättigung soll ein ewig geltendes und ein natürliches Gesetz sein. So wiederholte sich dann dieses Gesetz der Abnahme der Größe des Genusses „bei allem Genießen ohne alle Ausnahme, bei den geistigen Genüssen sowohl wie bei den materiellen . . . " , schreibt Gossen und •—• fügen wir hinzu, zu allen Zeiten! Aus diesem sogenannten „ersten Gossenschen Gesetz", dem sogenannten „Gesetz der Bedürfnissättigung", wurde der Begriff des .„Grenznutzens" gefolgert. Als „Grenznutzen" hat man den Nutzenzuwachs bezeichnet, der eine Erhöhung der Menge eines Konsumgutes um eine Grenzeinheit zu verdanken ist. Heinrich von Stackelberg, ein neuerer bürgerlicher Ökonom, der selbst grundsätzlich auf dem Boden der subjektiven Theorie steht, muß zugeben: „Es gibt tatsächlich keine objektiven Vorgänge, aus denen man das erste Gossensche Gesetz deduzieren könnte." 1 ) Das heißt — das muß selbst ein Anhänger der subjektiven Werttheorie zugeben, daß dieses sogenannte „Gesetz" eine Konstruktion ist, eine Fiktion, die gemacht wurde, um eine Theorie von der „ewigen" und „unveränderlichen" Wirtschaft zu erhalten. Stackelberg schreibt sehr richtig: „Seine unmittelbare Begründung ist an sich durchaus einleuchtend: J e mehr ein Mensch von einem Gute besitzt, desto weniger ist er auf eine Erhöhung dieser Gutsmenge bedacht, desto geringer ist also der zusätzliche Nutzen, der ihm aus einer Vermehrung dieser Gutsmenge erwächst. Aber dieses scheinbar so einleuchtende Gesetz ist ebenso fiktiv wie der Grenznutzenbegriff selbst. Der Nutzen und der Grenznutzen sind Hilfsbegriffe, die für die Beschreibung der Vorgänge in einem Haushalt bequem zu verwenden sind, jedoch eines objektiven Charakters entbehren."2) Genauso steht es aber nun mit dem sogenannten „zweiten Gossenschen Gesetz", dem sogenannten „Gesetz vom Ausgleich des Grenznutzens". Nach diesem sogenannten „Gesetz" werden die Güter so lange auf die verschiedenen *) Grundlagen der theoretischen Volkswirtschaftslehre, S. 77. Ebd.

2)

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Möglichkeiten zur Befriedigung der Bedürfnisse verteilt, bis ihr Grenznutzen, überall gleich hoch wird. „Die günstigste Versorgungsanlage ist dadurch demonstriert, schreibt Stackelberg, daß die Grenznutzen des Geldes im Einkauf der verschiedenen Güter einander gleich sind." 1 ) Dieses sogenannte „zweite Gossensche Gesetz" lautet: „Der Mensch, dem die Wahl zwischen mehreren Genüssen freisteht, dessen Zeit aber nicht ausreicht, alle vollaus sich zu bereiten, muß, wie verschieden auch die absolute Größe der einzelnen Genüsse sein mag, um die Summe seines Genusses zum Größten bringen, bevor er auch nur den größten sich vollaus bereitet, sie alle teilweise bereiten, und zwar in einem solchen Verhältnis, daß die Größe eines jeden Genusses in dem Augenblick, in welchem seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt."2) Die einzelnen Atome „eines und desselben Genußmittels" haben „einen höchst verschiedenen Wert", schreibt Gossen, d. h., „daß überhaupt für jeden Menschen nur eine bestimmte Anzahl dieser Atome, d. h. eine bestimmte Masse Wert hat, eine Vermehrung dieser Masse über dieses Maß hinaus aber für diesen Menschen vollkommen wertlos ist, nachdem der Wert nach und nach die verschiedensten Stufen der Größe durchgegangen ist". Daraus folgt, „daß mit Vermehrung der Menge der Wert jedoch von hinzukommenden Atomen fortwährend eine Abnahme erleiden müsse, bis dahin, daß derselbe auf Null herabgesunken ist". 3 ) Auf diesen beiden Gossenschen „Gesetzen" beruht die ganze Entwicklung der subjektiven Werttheorie. Sie wurde, während Gossens Untersuchungen zunächst unbeachtet blieben, fast gleichzeitig und unablässig voneinander von W. Stanley Jevons, Theory of political economy, 1871, Léon Walcas, Eléments d'économie politique pure, 1874, und Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 1871, formuliert. Der subjektive Wert der Grenznutzentheorie hat also nichts mit dem ökonomischen Wert zu tun; er ist eine willkürliche Konstruktion, die für die Erklärung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nichts bedeutet. Der Wert eines Gutes beruht hiernach nicht auf einer objektiven Größe, sondern auf den subjektiven Empfindungen der isolierten Individuen. Den Zustand der Außenwelt, der sie befähigt, uns zur Erreichung unseres Lebenszweckes behilflich zu sein, bezeichnen wir mit dem Ausdruck, so heißt es bei Gossen: „Die Außenwelt hat für uns Wert, und es folgt daraus, daß der Wert der Außenwelt für uns genau in demselben Maße steigt und sinkt wie die Hilfe, die sie uns gewährt zur Erreichung unseres Lebenszweckes, daß die Größe ihres Wertes demnach genau gemessen wird durch die Größe des Lebensgenusses, den sie uns verschafft." 4 ) >) 2) 3) 4) 430

Ebd., S. 79. Gossen, a. a. O., S. 12. Ebd. A. a. O., S.

Das wird noch deutlicher bei einem der drei Begründer oder Wiederentdecker der „Grenznutzentheorie", bei Carl Menger. „Die Bedürfnisse entspringen unseren Trieben, diese aber wurzeln in unserer Natur, schreibt Menger. Die Nichtbefriedigung der Bedürfnisse hat die Vernichtung, die mangelhafte Befriedigung, die Verkümmerung unserer Natur zur Folge; seine Bedürfnisse befriedigen, heißt aber leben und gedeihen. Die Sorge für die Befriedigung unserer Bedürfnisse ist demnach gleichbedeutend mit der Sorge für unser Leben und unsere Wohlfahrt; sie ist die wichtigste aller menschlichen Bestrebungen, denn sie ist die Voraussetzung und die Grundlage aller übrigen." 1 ) Der Mensch mit seinen Bedürfnissen und seiner Gewalt über die Mittel zur Befriedigung derselben sei „Ausgangspunkt und Zielsetzung aller menschlichen Wirtschaft", schreibt Menger. „Der Mensch empfindet zunächst B e dürfnisse nach Gütern erster Ordnung und macht diejenigen, deren ihm verfügbare Menge geringer ist als sein Bedarf, zu Gegenständen seiner w i r t schaftlichen Tätigkeit, zu wirtschaftlichen Gütern, während er die übrigen in den Kreis seiner ökonomischen Tätigkeit einzubeziehen keine praktische Veranlassung findet."2) Ausgangspunkt der Wirtschaft und des Eigentums ist die ewige und u n veränderliche natürliche Erscheinung, daß gewisse Güter knapp sind. Weil gewisse Güter knapp sind, wirtschaftet der Mensch und hat er das Eigentum erfunden! Hieraus ergibt sich auch die subjektive „Lehre vom Tausch". Axiom der subjektiven Theorie ist: getauscht wird, weil jeder der Tauschenden einen größeren Wert eintauscht als er hingibt. Der Tausch bezweckt nach der subjektiven Werttheorie, daß möglichst viele Verkäufer und Käufer durch den Tausch einen Nutzenzuwachs erreichen. Dies ist dann der Fall, wenn sich der Preis nach dem „Gesetz" der Grenzpaare bildet, d. h., der Preis bildet sich zwischen den Wertschätzungen des Grenzpaares, das noch zum Tausch kommt, und der Wertschätzung des Grenzpaares, das nicht mehr zum Tausch kommt. Lassen wir — bevor wir dies erläutern — aber Carl Menger noch einmal selbst sprechen: Das Prinzip, „welches die Menschen zum Tausche führt, ist kein anderes als dasjenige, das sie bei ihrer gesamten ökonomischen Tätigkeit überhaupt leitet, d. i. das Mehr nach der möglichst vollständigen Befriedigung ihrer B e dürfnisse, schreibt Menger. Die Lust, welche die Menschen bei dem ökonomischen Austausch von Gütern empfinden, ist aber jenes allgemeine Gefühl der Freude, welches die Menschen empfinden, wofür durch irgendein Ereignis für die Befriedigung ') Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, S. 69. 2) A. a. O., S. 69/70. 431

ihrer Bedürfnisse besser vorgesorgt wird, als dies ohne den Eintritt desselben der Fall gewesen wäre." 1 ) Menger erläutert diese „tiefe" Erkenntnis nun an einem für den Kapitalismus ebenso „bedeutsamen" wie in der bürgerlichen Ökonomie „berühmt" gewordenen Beispiel. Er läßt zwei Wirtschafts„subjekte", Pferde und Kühe, miteinander austauschen! Beispiel: Auf dem Markt sind zehn Verkäufer, die ein Pferd verkaufen, und zehn Käufer, die ein Pferd kaufen wollen. Der erste Verkäufer schätzt sein Pferd mit 10, der zweite mit 9 usw., der erste Käufer schätzt es nun umgekehrt mit 1, der zweite mit 2 usw. Käufer: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Verkäufer: 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 Der Preis soll sich nach Auffassung der subjektiven Werttheorie bei 5,5 bilden. Verkäufer mit niedrigeren Wertschätzungen ihrer Pferde als 5,5 können ihre Pferde an die Käufer mit höheren Wertschätzungen für die zu kaufenden Pferde verkaufen. Verkäufer mit höheren Wertschätzungen als 5,5 und Käufer mit niederen kommen nicht zum Tausch. Die weiterentwickelte Grenznutzentheorie hat solchen „Erkenntnissen" nichts weiter hinzugefügt. Ihre Darstellung erübrigt sida daher, weil sie für die Erkenntnis der kapitalistischen Produktion und ihrer Gesetze Neues nichts gebracht hat. Während die Grenznutzentheorie sich rasch und allgemein in Italien, Holland, Skandinavien und den USA unter den bürgerlichen Ökonomen verbreitete und auch in England und Frankreich Anhänger fand, stieß sie in Deutschland zunächst auf Ablehnung, da hier die historische Schule völlig dominierte. Außer Carl Menger waren es vor allem E. von Böhm-Bawerk, F. von Wieser, J. Schumpeter, R. Meyer. V. Mataja, E. Sax und F. Schüller, die die Grenznutzentheorie vertraten. Die bekanntesten Vertreter des Auslandes sind vor allem Léon Walcas (1834—1910), Vilfredo Pareto (1848—1923), Enrico Barone (1859—1924) und William Stanley Jevons (1835—1882), Alfred Marshall (1842—1924), Francis J. Edgeworth (1845—1926) und Alfred Pigou 1877— ).

4. Kritik der

Grenznutzentheorie

Ist die „Grenznutzentheorie" eine Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Ökonomie? Die Antwort auf diese Frage ist ganz klar! Ebd., S. 159.

432

Die Grenznutzentheorie ist keine Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Ökonomie und kann eine solche auch nicht sein, weil sie überhaupt keine wissenschaftliche Ökonomie mehr ist! Die Grenznutzentheorie erklärt erstens nicht das Grundproblem der politischen Ökonomie des Kapitalismus, den Mehrwert. Sie erklärt nicht das Grundproblem, weil sie das Wertgesetz verleugnet, weil sie von der Zirkulation und dem Konsum statt der Produktion ausgeht. Sie ist somit in keiner Weise eine Weiterentwicklung der politischen Ökonomie. Die Grenznutzentheorie geht aber auch zweitens nicht aus von der wirklichen kapitalistischen Wirtschaft, weil sie auf Konstruktionen und Fiktionen aufgebaut ist. Wir haben gesehen, wie durch die Kritik von Marx die klassische bürgerliche Ökonomie dadurch widerlegt wurde, daß nicht nur ihre Einseitigkeiten und Mängel aufgehoben, sondern auch ihre Wahrheiten aufbewahrt werden und wie durch diese Kritik ein qualitativ höheres System der politischen Ökonomie entstand. Die Widerlegung bestand — mit anderen Worten — also darin, daß das Prinzip der widerlegten Theorie aufgezeigt und damit zum Moment einer höheren und konkreten Theorie gemacht wird. Soweit die Grenznutzentheorie von den Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise ausgeht — Preis und ursprünglicher Kapitalzins —, waren diese Erscheinungen bereits durch die wissenschaftliche Ökonomie analysiert und im wissenschaftlichen System erklärt worden. Sie fügte der Wissenschaft somit neue Gedanken nicht hinzu. Ihr Wesen, ihre „Neues" besteht vielmehr gerade darin, die wissenschaftliche Analyse und Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise zu verschleiern, indem sie an Stelle der kapitalistischen Produktionsweise eine begriffliche Konstruktion setzt. Der Gebrauchswert „drücke" die Naturbeziehung zwischen Dingen und Menschen aus, schreibt Marx einmal, „das Dasein der Dinge für die Menschen. Der Tauschwert ist eine später — mit der gesellschaftlichen Entwicklung, die ihn schuf — auf das Wort Wert = Gebrauchswert gepfropfte Bedeutung. Er ist das gesellschaftliche Sein des Dinges."1) Damit ist in einem Satz alles gesagt: Es handelt sich nicht um eine Analyse und Darstellung der Produktionsverhältnisse, sondern um psychologische und technische Beziehungen. Aber selbst diese psychologischen und technischen Beziehungen sind von der Grenznutzentheorie unwissenschaftlich gefaßt worden. Dies zeigte uns auch die Behandlung der Produktion. Aber die Grenznutzentheorie ist nicht nur eine „Erfindung" der bürgerlichen Ökonomie schlechthin! Sie ist ein notwendiger Bestandteil der bürgerlichen Ideologie! Es wäre primitiv, wollte man die Grenznutzentheorie lediglich als eine böswillige apolegetische Erfindung bezeichnen. Sie ist eine notwendige ideologische Erscheinung des Kapitalismus! J)

Theorie über den Mehrwert, II, S. 355, Note 1.

28 Behrens

433

Die apologetische Grundkonzeption liegt zwar der gesamten bürgerlichen Ökonomie zugrunde. A b e r der Schritt von der unbewußten, sozusagen „naiven" Apologetik der vorklassischen und klassischen bürgerlichen Ökonomie zur „bewußten" • Apologetik w a r durch die gesellschaftliche Entwicklung bedingt. Dieser Schritt k a m historisch in der sogenannten „Wiederentdeckung" der Gossenschen Theorie zum Ausdruck. Mit Gossen kommt der Formalismus in der bürgerlichen Ökonomie zum Durchbruch, der nur ein anderer Ausdruck ist f ü r ihre Inhaltlosigkeit. Die Klassik w a r der Gipfel der bürgerlichen Ökonomie, aber K a r l M a r x gab erst die Lösung der Probleme. Form und Inhalt waren jetzt in Einklang. Die Wirklichkeit w u r d e durch Marx begriffen als von allgemeinen und o b j e k tiven Gesetzen beherrschtes System. Die Weiterentwicklung dieser Wissenschaft konnte jetzt nur noch darin bestehen, als bewußte Faktor die Fortentwicklung der bürgerlichen Produktionsweise zu betreiben, d. h. die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie auch zu verändern und diese Fortentwicklung jeweils wieder ins theoretische Bewußtsein zu heben. Nur bei einer solchen Weiterentwicklung konnten Form und Inhalt im Einklang bleiben, die erreichte Höhe der wissenschaftlichen Methode und der theoretischen Einsicht gewahrt bleiben. A b e r der gesellschaftliche Standpunkt der bürgerlichen Ökonomen ließ eine solche Wahrung des Einklangs von Form und Inhalt nicht zu. Nach der Klassik wahrte zwar die bürgerliche Ökonomie als Grenznutzentheorie die theoretische „Form", aber die Substanz verschwand, bis sie in der modernen mathematischen Theorie sich völlig verflüchtigte. Man muß sehen, daß hier, bei der „neuen" Theorie, d. h. bei der subjektivistischen Werttheorie, eine neue „Qualität" vorliegt, die sich von der „älteren" bürgerlichen Theorie wesentlich unterscheidet. Ihr Gegenstand ist ein verschiedener. Bei der „älteren" bürgerlichen Theorie ist es die gesellschaftliche Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise mit ihren Problemen, bei der „neuen" Theorie ist es eine Abstraktion mit ihren Scheinproblemen. Die Verschiedenheit der „älteren" Theorie und der „neuen" Theorie ist daher die Verschiedenheit von richtiger und falscher Theorie. Bei der einen handelt es sich u m die mehr oder minder vollkommen ins B e w u ß t sein gehobenen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise, u m die kapitalistische Theorie der bürgerlichen Klassiker, bei der anderen u m eine V e r hüllung der Widersprüche, um eine Verschleierung der Gegensätze und des Schicksals dieser Produktionsweise. Mit der „Entdeckung" der sogenannten Gossenschen Gesetze schuf sich die Bourgeoisie eine Ökonomie, die es ihr erlaubte, ohne Gefährdung ihrer Interessen „Theorie" zu treiben — ohne Wissenschaft! Es w a r also nicht geistiges Unvermögen, sondern die objektive Entwicklung der bürgerlichen Produktionsweise, die zu diesem Resultat führte. Das neue System ermöglichte erst wieder, daß das geistige Vermögen der Bourgeoisie weiterhin ohne Risiko in der Ökonomie investiert werden konnte. 434

Die Geschichte der bürgerlichen Ökonomie seit Marx beweist, daß unabhängig von den Richtungen und Schattierungen ihr Formalismus, ihre Inhaltlosigkeit und damit ihre Unfähigkeit, auch nur eines der vom Kapitalismus gestellten Probleme annähernd zu lösen, gemeinsam ist. Dieser Formalismus, in dem das bürgerliche Denken immer mehr erstarrt, hat seinen Grund in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen selbst. Er wird schon geboren mit der bürgerlichen Produktionsweise, die zwar die rechtliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen proklamiert, aber ihre ökonomische Unfreiheit und Ungleichheit zur Voraussetzung hat. Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt liegt schon in den Wurzeln dieser Produktionsweise. Im Maße, wie die ökonomische Unfreiheit und Ungleichheit immer mehr in Gegensatz gerät zur rechtlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen, mit der Entfaltung der produktiven Kräfte der Gesellschaft durch diese bürgerliche Produktionsweise, muß das Bewußtsein entweder ein revolutionäres, d. h. wirklichkeitserfülltes, inhaltliches oder ein reaktionäres, d. h. wirklichkeitsfremdes, formales werden. Aber wenn auch der Formalismus so schon zutiefst im Wesen der bürgerlichen Produktionsweise begründet ist, die formalistische Entleerung des bürgerlichen Denkens, zuletzt die Schöpfung eines Systems reiner „VerbalAssoziationen", ist erst das Produkt der reifen und überreifen, schon von den Schatten ihres Unterganges umwehten bürgerlichen Produktionsweise. Immer schroffer müssen sich zuletzt revolutionär-inhaltsvolles und reaktionärformales Denken gegenübertreten. Die formale Theorie ist mehr als ein passives Element der bürgerlichen Gesellschaft. Sie fängt einmal aktive denkerische Kräfte der Bourgeoisie auf und leitet sie so, daß ihre Potenzen den revolutionären Kräften, dem Proletariat nicht nutzbar gemacht werden können, sie ist aber außerdem auch noch eine wichtige ideologische Angriffswaffe der Bourgeoisie gegen diese Klassen. Sie wirkt als Hemmnis der Entwicklung auf eine neue Produktionsweise, da sie zersetzend auch auf das Denken der fortschrittlichen Schichten der Gesellschaft einwirkt. Die kapitalistische Produktionsweise ist die Vollendung eines sehr langen Prozesses der Verwandlung des Arbeitsproduktes in die Warenform. Die bürgerliche Ideologie ist dabei ebenfalls das Produkt einer langen Entwicklung. Sie hat sich in langer Tradition zu ihren typischen Formen herausgearbeitet und verfestigt. Die Grenznutzentheorie ist aber eine höchste und damit letzte Form der bürgerlichen Ideologie zugleich. Sie begreift nur noch die private Existenz. Der gesellschaftliche Zusammenhang wird, wenn er überhaupt gesehen wird, als die nachträgliche Verbindung ursprünglich zusammenhangloser Individuen aufgefaßt. Durch den Formalismus wird das bürgerliche Denken mehr und mehr der Fähigkeiten zur Unterscheidung, der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, beraubt, das ist die Wirkung des Formalismus, die Kehrseite der Inhaltslehre 28*

435

der neuen Theorie. Die gesellschaftliche Wirklichkeit unserer Tage ist durch das Nebeneinanderstehen verschiedener sozialökonomischer Formationen sehr verwirrend f ü r bürgerliche Ökonomen geworden. Beschreibung und Vergleich äußerer Merkmale kann ein interessantes Spiel müßiger Literatur sein, aber auch als Waffe der Verwirrung zur Erhaltung des Alten dienen. J e katastrophaler sich die Widersprüche zuspitzen, die der Kapitalismus produziert und die Gegensätze anhäufen, um so bedeutungsvoller wird eine Theorie, die die Wirklichkeit erkennt, weil sie Erscheinungen vom Wesen ebenso trennen wie die Vermittlungsglieder zwischen beiden aufzuzeigen lehrt. Der Kapitalismus zerstört durch seine Zivilisation nicht nur die Instinkte der Menschen, er zerstört in seiner letzten Entwicklung auch wichtige Bewußtseinsleistungen der Menschen, die Fähigkeit zur Unterscheidung und in Zusammenhängen zu denken. Dies ist der tiefere Grund f ü r die Anfälligkeit der Masse in den kapitalistischen Ländern f ü r die Hysterie, die auf mangelnder Kritik und Tiefe beruht. Theorie und Praxis gehören eng zusammen. Auch das Auseinanderreißen von Theorie und Praxis in der modernen bürgerlichen Ökonomie ist eine Praxis, und zwar eine Praxis, die — wie die Entwicklung uns gezeigt hat — sehr handgreiflich und f ü r die ganze Menschheit sehr böse Folgen haben kann.

Literatur R. Malthus:

Abhandlungen über das Bevölkerungsgesetz, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 6 u. 7, Jena 1905.

J. St. Mill:

Grundsätze der politischen Ökonomie, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 17 u. 18, Jena 1921—1924.

Heinrich von Thünen:

Der isolierte Staat, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 13, Jena 1921.

Friedrich List:

Das nationale System der politischen Ökonomie, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 3, Jena 1922.

K. Rodbertus-Jagetzow:

Soziale Briefe an von Kirchmann, Berlin 1875. „Ältere" historische Schule

W. Roscher:

Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft nach geschichtlicher Methode, Göttingen 1843.

ders.:

Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland, München 1874.

436

der neuen Theorie. Die gesellschaftliche Wirklichkeit unserer Tage ist durch das Nebeneinanderstehen verschiedener sozialökonomischer Formationen sehr verwirrend f ü r bürgerliche Ökonomen geworden. Beschreibung und Vergleich äußerer Merkmale kann ein interessantes Spiel müßiger Literatur sein, aber auch als Waffe der Verwirrung zur Erhaltung des Alten dienen. J e katastrophaler sich die Widersprüche zuspitzen, die der Kapitalismus produziert und die Gegensätze anhäufen, um so bedeutungsvoller wird eine Theorie, die die Wirklichkeit erkennt, weil sie Erscheinungen vom Wesen ebenso trennen wie die Vermittlungsglieder zwischen beiden aufzuzeigen lehrt. Der Kapitalismus zerstört durch seine Zivilisation nicht nur die Instinkte der Menschen, er zerstört in seiner letzten Entwicklung auch wichtige Bewußtseinsleistungen der Menschen, die Fähigkeit zur Unterscheidung und in Zusammenhängen zu denken. Dies ist der tiefere Grund f ü r die Anfälligkeit der Masse in den kapitalistischen Ländern f ü r die Hysterie, die auf mangelnder Kritik und Tiefe beruht. Theorie und Praxis gehören eng zusammen. Auch das Auseinanderreißen von Theorie und Praxis in der modernen bürgerlichen Ökonomie ist eine Praxis, und zwar eine Praxis, die — wie die Entwicklung uns gezeigt hat — sehr handgreiflich und f ü r die ganze Menschheit sehr böse Folgen haben kann.

Literatur R. Malthus:

Abhandlungen über das Bevölkerungsgesetz, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 6 u. 7, Jena 1905.

J. St. Mill:

Grundsätze der politischen Ökonomie, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 17 u. 18, Jena 1921—1924.

Heinrich von Thünen:

Der isolierte Staat, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 13, Jena 1921.

Friedrich List:

Das nationale System der politischen Ökonomie, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Bd. 3, Jena 1922.

K. Rodbertus-Jagetzow:

Soziale Briefe an von Kirchmann, Berlin 1875. „Ältere" historische Schule

W. Roscher:

Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft nach geschichtlicher Methode, Göttingen 1843.

ders.:

Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland, München 1874.

436

B. Hildebrand:

Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, Frankfurt a. M. 1848.

Karl Knies:

Die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode, Braunschweig 1853. „Jüngere" historische Schule

G. Schmoller:

Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1906.

G. F. Knapp:

Staatliche Theorie des Geldes, Leipzig 1905.

K. Bücher:

Die Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen 1893. Grenznutzentheorie

C. Menger:

Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie, Leipzig 1883.

ders.:

Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 1871.

E. Böhm-Bawerk:

Kapital und Kapitalismus, Innsbruck 1884/1889.

F. Wieser:

Der natürliche Wert, Wien 1889.

ders.:

Theorie der geschichtlichen Wirtschaft, Tübingen 1914.

E. Barone:

Grundzüge der theoretischen Nationalökonomie, Bonn 1927.

Alfred Marshall:

Handbuch der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart und Berlin 1905.

W. St. Jevons: H. von Stackelberg:

Theorie der politischen Ökonomie, Jena 1924. Grundlagen der theoretischen Volkswirtschaftslehre, Bonn 1948.

437

5. K A P I T E L

DIE K L E I N B Ü R G E R L I C H E K R I T I K AM S O Z I A L I S M U S DER K L E I N B Ü R G E R L I C H E S O Z I A L I S M U S A. Der Begründer des kleinbürgerlichen Sozialismus — I. Ch. Sismonde de Sismondi 1. Kleinbürgerliche

Kritik am

Sozialismus

Der Kapitalismus w a r eine progressive Gesellschaftsformation, als er den Feudalismus ablöste. Die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie haben das erkannt und ausgesprochen. Die proletarische Kritik am Kapitalismus gewann erst Bedeutung, als der Kapitalismus ein gewisses Stadium seiner Reife erreicht hatte. Sie löste damit die bürgerliche Ökonomie als Wissenschaft ab. Außer der proletarischen Kritik am Kapitalismus gab es aber schon früh und bis in unsere Gegenwart eine Kritik am Kapitalismus vom kleinbürgerlichen Standpunkt aus. Typisch für diese „kleinbürgerliche" Kritik am Kapitalismus w a r Sismondi, der sich nach Lenin „in allen Punkten . . . von den Klassikern dadurch" unterscheidet, „daß er auf die Widersprüche des Kapitalismus hinweist. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite kann er in keinem Fall — und will es auch nicht — die Analyse der Klassiker weiterführen und beschränkt sich deshalb auf eine sentimentale Kritik des Kapitalismus vom Standpunkt des Kleinbürgers." Kritik am Kapitalismus, d. h. Aufdeckung seiner Widersprüche — aber Kritik vom Standpunkt der kapitalistischen Produktionsweise aus: das ist das grundlegende Merkmal des kleinbürgerlichen Sozialismus — von Sismondi über den heutigen sogenannten „freien" Sozialismus, den „Theoretikern" des sogenannten „dritten Weges", bis zum christlichen Sozialismus. In allen Schattierungen diente die kleinbürgerliche Kritik am Kapitalismus stets objektiv dem Schutze der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, so wie sie heute ganz offen und subjektiv dem amerikanischen Imperialismus dient. Das entspricht durchaus dem Wesen des Kleinbürgertums. Engels hat es treffend im „Deutschen Bauernkrieg" charakterisiert! „Was die Kleinbürger, Handwerksmeister und Krämer betrifft", schreibt Engels im „Deutschen Bauernkrieg", „werden sie sich immer gleich bleiben. Sie hoffen in das Großbürgertum sich emporzuschwindeln, sie fürchten ins Proletariat hinabgestoßen zu werden. Zwischen Furcht und Hoffnung w e r den sie während des Kampfes ihre werte Haut salvieren und nach dem Kampfe sich dem Sieger anschließen. Das ist ihre Natur." 1 ) ') A. a. O., S. 9/10.

439

Wie kommt es zu dieser schwankenden, zwischen den beiden großen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft stehenden Stellung des Kleinbürgertums? „In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen, heißt es im kommunistischen Manifest'. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene und noch dazu in fast jeder dieser Klassen wieder besondere Abstufungen. Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche der Bourgeoisie zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat."1) Das aber bedeutet, daß die zwischen diesen beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft stehenden Mittelschichten durch die Entwicklung des Kapitalismus zerrieben werden. „Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalien erliegt, teils dadurch, daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird. So rekrutiert sich das Proletariat aus allen Kreisen der Bevölkerung."2) Aber die proletarisierten Kleinbürger ziehen daraus keine revolutionären Konsequenzen. „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenes Produkt. Die Mittelstände: der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Ubergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen."3) ') Marx-Engels, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, S. 24. 2) Ebd., S. 31. 3) Ebd., S. 33. 440

So wurde 1848 im „Kommunistischen Manifest" erstmalig die These von der zwangsläufigen Proletarisierung und Verelendung der Mittelschichten im Kapitalismus ausgesprochen. Diese These wurde später vom „Erfurter Parteiprogramm der Sozialdemokratie" übernommen. „Die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebes, dessen Grundlage das Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln bildet. Sie trennt den Arbeiter von seinen Produktionsmitteln und verwandelt ihn in einen besitzlosen Proletarier, indes die Produktionsmittel das Monopol einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Kapitalisten und Großgrundbesitzern werden." „Hand in Hand mit dieser Monopolisierung der Produktionsmittel geht die Verdrängung der zersplitterten Kleinbetriebe durch kolossale Großbetriebe, geht die Entwicklung des Werkzeugs zur Maschine, geht ein riesenhaftes Wachstum der Produktivität der menschlichen Arbeit. Aber alle Vorteile dieser Umwandlung werden von den Kapitalisten und Großgrundbesitzern monopolisiert. Für das Proletariat und die versinkenden Mittelschichten — Kleinbürger und Bauern — bedeutet sie wachsende Zunahme der Unsicherheit ihrer Existenz des Elends, des Druckes, der Knechtung, der Erniedrigung, der Ausbeutung."1) Kapitalistische Produktion ist gesellschaftliche Produktion, sie entwickelt sich historisch zwar auf der handwerklichen Technik und Arbeitsgeschicklichkeit der feudalen Produktionsweise, hebt jedoch die zersplitterte Produktion des Handwerks schon in ihrer ersten Form, der Manufaktur, auf. Konzentration der Produktionsmittel und die Zentralisierung ihres Eigentums in immer weniger Händen sind Wesensmerkmale der geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation.2) Kapitalismus heißt nicht nur Monopolisierung der produktiven Kräfte der Gesellschaft in immer weniger Hände, sondern als Grundlage hierfür ihre Zusammenballung in großen Betrieben, die auf dem Prinzip der betrieblichen Arbeitsteilung beruhen. Dieser Proletarisierungsprozeß der Mittelschichten, ihre die kapitalistische Akkumulation, ist ein vielseitiger und schichtlicher Prozeß, der von zahlreichen Faktoren in den listischen Ländern modifiziert wird. Der Grundzug dieser

Ruinierung durch komplizierter geeinzelnen kapitaEntwicklung aber

1 ) Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitage in Erfurt 1891, abgedruckt: Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, Berlin 1946, S. 153. 2) „Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzers und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenige Hände zentralisiert." Kommunistisches Manifest, a. a. O., S. 28.

441

ist genauso unabänderlich wie die kapitalistische Entwicklung selbst. Er spiegelt sich wider in der kleinbürgerlichen Ideologie, von der der „kleinbürgerliche Sozialismus" ein Teil ist. Auch dieser „kleinbürgerliche Sozialismus" wurde von Marx und Engels bereits im „Kommunistischen Manifest" gekennzeichnet. „Die feudale Aristokratie ist nicht die einzige Klasse, heißt es im ,Kommunistischen Manifest', welche durch die Bourgeoisie gestürzt wurde, deren Lebensbedingungen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft verkümmerten und abstarben. Das mittelalterliche Pfahlbürgertum und der kleine Bauernstand waren die Vorläufer der modernen Bourgeoisie. In den weniger industriell und kommerziell entwickelten Ländern vegetiert diese Klasse noch fast neben der aufkommenden Bourgeoisie." 1 ) So wird die Klasse der einfachen Warenproduzenten, der Handwerker und der Bauern, in ihrer Existenz durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bedroht und teilweise vernichtet. Bedrohung und V e r nichtung dieser als „alter" Mittelstand bezeichneten Schicht der bürgerlichen Gesellschaft ist der Grundzug aber nur ein Teil dieser Entwicklung. Dazu kommt die Entstehung einer neuen Schicht, des sogenannten „neuen" Mittelstandes. „In den Ländern, w o sich die moderne Zivilisation entwickelt hat, heißt es weiter im Kommunistischen Manifest, hat sich eine neue Kleinbürgerschaft gebildet, die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie schwebt und als ergänzender Teil der bürgerlichen Gesellschaft stets von neuem sich bildet, deren Mitglieder aber beständig durch die Konkurrenz ins Proletariat hinabgeschleudert werden, ja selbst mit der Entwicklung der großen Industrie einen Zeitpunkt herannahen sehen, w o sie als selbständiger Teil der modernen Gesellschaft gänzlich verschwinden und im Handel, in der Manufaktur, in der Agrikultur durch Arbeitsaufseher und Domestiken ersetzt werden." 2 ) „Alter", in seiner Existenz bedrohter und immer mehr schwindender „Mittelstand" und „neuer", zum Teil erst durch den Kapitalismus geschaffener „Mittelstand", die technische und kommerzielle Intelligenz und die Bediensteten des bürgerlichen Staates — das ist die gesellschaftliche Grundlage des „kleinbürgerlichen Sozialismus", dessen Wesen, aber auch dessen Entwicklung im Kommunistischen Manifest wie folgt charakterisiert wurde: „In Ländern w i e Frankreich, w o die Bauernklasse weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, war es natürlich, daß Schriftsteller, die für das Proletariat gegen die Bourgeoisie auftraten, an ihre Kritik des Bourgeoisieregimes den kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Maßstab anlegten und *) Ebd., a. a. O., S. 45. Ebd., S. 45/46 (von mir hervorgehoben, F. B.).

2)

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die Partei der Arbeiter vom Standpunkt des Kleinbürgertums ergriffen. Es bildete sich so der kleinbürgerliche Sozialismus." Sismondi ist das Haupt dieser Literatur nicht nur für Frankreich, sondern auch für England. Dieser Sozialismus zergliederte höchst scharfsinnig die Widersprüche in den modernen Produktionsverhältnissen. Er enthüllte die gleisnerischen Beschönigungen der Ökonomen. Er wies unwiderleglich die zerstörenden Wirkungen der Maschinerie und der Teilung der Arbeit nach, die Konzentration der Kapitalien und des Grundbesitzes, die Uberproduktion, die Krisen, den notwendigen Untergang der kleinen Bürger und Bauern, das Elend des Proletariats, die Anarchie in der Produktion, die schreienden Mißverhältnisse in der Verteilung des Reichtums, den industriellen Vernichtungskrieg der Nationen untereinander, die Auflösung der alten Sitten, der alten Familienverhältnisse, der alten Nationalitäten.1) Dieser „kleinbürgerliche Sozialismus" hat den Ausgangspunkt mit der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse gemein, mit der bürgerlichen Ökonomie teilt er das Ende: Vulgärökonomie und Apologetik. Er kritisiert den Kapitalismus: dies trennt ihn von der bürgerlichen Ökonomie — er verteidigt die Grundlage der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, das kapitalistische Eigentum: dies verbindet ihn mit der bürgerlichen Ökonomie. Sein wissenschaftlicher Gehalt ist so hoch, wie seine Kritik am Kapitalismus richtig ist. Er verliert seinen wissenschaftlichen Gehalt in dem Maße, wie er einmündet in die moderne bürgerliche Ökonomie, die Vulgärökonomie und Apologetik ohne jede wissenschaftliche Substanz ist. Der kleinbürgerliche Sozialismus ist genauso widerspruchsvoll wie das Kleinbürgertum selbst, aber sein Klassencharakter ist ebenso eindeutig bürgerlich, wie die Ideologie des Kleinbürgertums eindeutig bürgerlich ist. „Seinem positiven Gehalte nach will jedoch dieser Sozialismus entweder die alten Produktions- und Verkehrsmittel wiederherstellen und mit ihnen die alten Eigentumsverhältnisse und die alte Gesellschaft, oder er will die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der alten Eigentumsverhältnisse, die von ihnen gesprengt wurden, gesprengt werden mußten, gewaltsam wieder einsperren. In beiden Fällen ist er reaktionär und utopisch zugleich. Zunftwesen in der Manufaktur und patriarchalische Wirtschaft auf dem Lande, das sind seine letzten Worte." 2 ) Naiv apologetisch, wie die bürgerliche Ökonomie in ihren besten Zeiten, in ihren Anfängen, wird der kleinbürgerliche Sozialismus wie die moderne bürgerliche Ökonomie zur bewußten Apologetik. Es wird immer schwerer, die schreienden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu verkleistern und seine Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen, so daß die apologe*) Ebd., S. 45/46 (von mir hervorgehoben, F. B.). 443

tischen Kunststücke der kleinbürgerlichen Sozialisten immer kühner, ihre Erfolge aber immer geringer werden. „In ihrer weiteren Entwicklung h a t sich diese Richtung in einem feigen K a t z e n j a m m e r verlaufen." 1 )

2. Jean Charles Léonard Sismonde

de Sismondi

(1773—1842)

„Wir befinden uns in einer Lage, die f ü r die Gesellschaft gänzlich neu i s t . . . Wir streben dahin, jede A r t Eigentum von jeder A r t Arbeit zu trennen . . ,"2) Diese Worte kennzeichnen Sismondi, Begründer und A h n h e r r des kleinbürgerlichen Sozialismus. „Der römische Proletarier lebte fast ganz auf Kosten der G e s e l l s c h a f t . . . " , schreibt er u n d f ü g t hinzu: „Man könnte fast sagen, daß die moderne Gesellschaft auf Kosten der Proletarier lebt von dem Teil, den sie auf Belohnung der Arbeit ihnen entzieht." 3 ) Aber Sismondi wird noch deutlicher, w e n n er schreibt: „Die Reichen, welche die P r o d u k t e der Arbeit anderer verzehren, erhalten sie n u r durch Austauschakte (Warenkäufe) . . . Sie scheinen daher einer baldigen Erschöpfung ihrer Reservefonds a u s g e s e t z t . . . Aber in der gesellschaftlichen Ordnung h a t der Reichtum die K r a f t erhalten, sich durch f r e m d e Arbeit zu reproduzieren . . . Der Reichtum, wie die Arbeit und durch die Arbeit, liefert eine jährliche Frucht, welche jedes J a h r vernichtet werden kann, ohne daß der Reiche ä r m e r wird. Diese Frucht ist die Revenue, die aus dem Kapital entspringt." 4 ) Durch den Fortschritt der Industrie und Wissenschaft, meint Sismondi, könne jeder Arbeiter jeden Tag viel m e h r produzieren, als er zu seinem Konsum braucht. Aber zu gleicher Zeit, w ä h r e n d seine Arbeit den Reichtum produziert, w ü r d e der Reichtum, w ä r e er berufen, ihn selbst zu konsumieren, ihn wenig geeignet zur Arbeit machen. Nach Sismondi „würden die Menschen (d. h. die Nichtarbeiter) wahrscheinlich auf alle Vervollkommnungen der Künste verzichten, wie auf alle Genüsse, die die Industrie uns verschafft, m ü ß t e n sie diese durch anhaltende Arbeit, wie die des Arbeiters, e r k a u f e n . . . Die Anstrengungen sind heute geschieden von ihrer Belohnung: es ist nicht derselbe Mensch, der erst arbeitet und sich dann a u s r u h t ; im Gegenteil, eben weil der eine arbeitet, m u ß der andere sich ausruhen . . . Die endlose Vervielfältigung der P r o d u k t i v k r ä f t e der Arbeit k a n n also kein anderes Resultat haben als die Z u n a h m e des Luxus u n d der Genüsse der müßigen Reichen." 5 ) So sieht Sismondi sehr deutlich die Schwächen der kapitalistischen P r o d u k tionsweise und ihre Auswirkungen f ü r das Proletariat. Was aber folgert Sismondi hieraus? ') ) 3 ) 4 ) 5 ) 2

444

Marx-Engels, Ausgew. Werke, Bd. 1. Zitiert bei Marx, Kapital, Bd. I, S. 802, Fußnote 251. Ebd., S. 625, Note 37. Ebd., S. 594, N o t e l . Zitiert bei Marx, Kapital, Bd. I, S. 683.

Sismondi war ursprünglich ein begeisterter Anhänger von Adam Smith, der den großartigen Aufschwung in Industrie und Handel bewunderte und staunend auf die Erfolge des neuen Systems blickte. Ein längerer Aufenthalt in England hatte ihm das Elend der unteren Bevölkerungsschichten vor Augen geführt, und er kam zu der Überzeugung, daß eine schrankenlose Freiheit auf wirtschaftlichem Gebiete nur dem stärkeren und mächtigeren Teile zugute komme, aber zur Unterdrückung und Ausbeutung der Schwachen führe. Sein Glaube an die wirtschaftliche Harmonie war erschüttert, und in seinen „Nouveaux principes d'économie politique", 1819, stellte er fest, daß „der Unternehmer bemüht ist, dem Arbeiter nur gerade das zu lassen, was ihm zum Leben notwendig ist, und sich alles das behält, was der Arbeiter darüber hinaus erzeugt". Sismondi folgerte, es müsse ein Verteilungsfehler und damit auch ein Erzeugungsfehler vorliegen, weil nicht mehr alle produzierten Güter nachgefragt werden können. „Die Verteilung der Arbeitsfrüchte zwischen denen, die zu ihrer Erzeugung beitragen, erscheint mir voller Fehler." Der Staat soll nach Sismondi eingreifen, die konzentrierten Betriebe wieder aufspalten, über das ganze Land verstreuen und dem Arbeiter die Möglichkeit geben, Teilhaber an den Produktionsmitteln zu werden.

a) Die Lage der arbeitenden Klassen In einem Artikel „Political economy" der Encyclopaedia Edinburgh äußerte Sismondi zuerst sein Bedenken gegen das System der freien Konkurrenz. In seinen „Nouveaux principes d'économie politique", 1819, und in den „Études sur l'économie politique", 1836/38, entwickelt und begründet er dann eingehend seine neuen Grundsätze. Die Lehre von Adam Smith sei auch die seinige. Trotz der unbegrenzten Bewunderung aber, die er Adam Smith zollte, sei das Ergebnis, welches er aus seiner Lehre ziehe, oft diametral dem von Smith entgegengesetzt. „Ich bekenne mit Adam Smith, daß die Arbeit die einzige Quelle des Reichtums ist und die Sparsamkeit das einzige Mittel, ihn anzuhäufen, aber ich füge hinzu, daß der Genuß der einzige Grund dieser Anhäufung ist, und daß es kein Wachstum des wahren Nationalreichtums gibt ohne ein gleichzeitiges Anwachsen des nationalen Wohlbefindens." Adam Smith habe aus der Tatsache, daß die Reichen ein Interesse daran haben, ihren Reichtum zu vermehren, gefolgert, es sei für die Gesellschaft am besten, wenn dem einzelnen völlige Freiheit gelassen würde. Diese Anschauung sei falsch, stellt Sismondi fest, denn der Gesamtreichtum der industriell vorgeschrittenen Völker habe sich zwar vermehrt, aber die Zahl der Reichen habe sich eher vermindert als vermehrt. Die arbeitende Klasse, die die Reichtümer hervorbringe, hänge nur noch durch einen 445

Mietvertrag, der mit dem Arbeitgeber von Woche zu Woche erneuert wird, mit ihrem Wert zusammen. Sie werde in Lohn genommen oder entlassen, je nach den Wechselfällen des Handels, welche sie weder berechnen noch vorhersehen könne. Diese Arbeiter befänden sich in einem fortwährenden Kampfe teils unter sich, teils mit ihren Herren um die Höhe ihres Lohnes. Seien sie der Not, unter der sie unaufhörlich litten, heute durch einen glücklichen Zufall vorübergehend überhoben, so seien sie morgen von neuem von ihr bedroht. Sismondi kritisiert die freie Konkurrenz. Die Wissenschaft, die diese freie Konkurrenz anerkennt, sei nicht die wahre politische Ökonomie. Sie sei schon von Aristoteles mit Recht als „Chrematistik" bezeichnet worden. Das Fortbestehen der Zivilisation und das Heil der Menschheit sei jedoch untrennbar verknüpft mit dem Triumph der echten politischen Ökonomie^ sowohl in der öffentlichen Meinung als in der Gesetzgebung, mit der weiteren Entwicklung jener Wissenschaft, die den Menschen und nicht den Reichtum zum Zweck hat, die sich die Frage stellt: wie dieser Reichtum zum Glück und zur Vervollkommnung aller verwendbar sei, nicht aber, wie er ins Unendliche vermehrt werden könne. Die ganze Schuld an den traurigen sozialen Zuständen sei darauf zurückzuführen, daß man der zügellosen Konkurrenz Raum gegeben habe, die zur Unterdrückung der Schwachen durch die Stärkeren mit Notwendigkeit führen mußte. Solle das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sich in gesunden Bahnen bewegen, so bedürfe es der Intervention des Staates. Sismondi betonte den ethischen Charakter der Volkswirtschaftslehre. Ziel und Zweck der Wissenschaft vom Staate sei die Förderung des Wohlbefindens der in der Gesellschaft vereinigten Menschen. Die Wissenschaft, welche die Verfolgung dieses Zieles lehre, sei in Wahrheit eine ethische Wissenschaft,, die Wissenschaft der menschlichen Wohlfahrt.

b) Das Bevölkerungsproblem Von dem Grundsatz ausgehend, daß der Reichtum nur Wert hat, soweit er der Bevölkerung diene, soweit die Gesamtheit der Bevölkerung an ihm teilnehme, behandelt Sismondi ausführlich und wiederholt das Bevölkerungsproblem. Er bestreitet, daß die Beschränktheit des Bodens und der auf ihm erzeugbaren Unterhaltsmittel gegenüber der unendlichen Vermehrungsfähigkeit des menschlichen Geschlechts eine feste Grenze bilde. Die Ursache der Leiden der Überbevölkerung findet Sismondi nicht in einem Mangel an Subsistenzmitteln, sondern darin, daß es einem Teile der Bevölkerung an den Mitteln fehle, um sich den erforderlichen Lebensunterhalt zu verschaffen. Nach Sismondi ist die Bevölkerungsfrage in erster Linie ein Verteilungs446

Problem. In der Hauptsache ist das Einkommen der Regulator der Volksvermehrung. Nicht natürliche, sondern historische, gesellschaftliche Ursachen sind die Ursachen des Bevölkerungsproblems. Obwohl aber die Bevölkerung bisher noch niemals die Grenzen der möglicherweise zu erzeugenden Lebensmittel erreicht habe Und sie wahrscheinlich auch nie erreichen werde, hätten nicht alle diejenigen, welche Unterhaltsmittel bedürfen, die Mittel oder das Recht,, sie von dem Boden zu verlangen. Diejenigen, welche das Monopol der Ländereien besitzen, haben keineswegs immer Interesse daran, dem Boden alle Früchte abzugewinnen, die er erzeugen kann. Lange bevor das Wachstum der Bevölkerung durch die Unmöglichkeit, weitere Nahrungsmittel zu gewinnen, aufgehalten werde, sei sie durch die Unmöglichkeit gehemmt, die Nahrungsmittel zu kaufen. Wodurch wird die Bevölkerungsvermehrung nach Sismondi geregelt? Sismondi unterscheidet bei der Beantwortung dieser Frage zwischen den reichen Schichten der Bevölkerung und den armen. In den besseren Bevölkerungsschichten sind es gewisse gesellschaftliche Verpflichtungen, Rücksichten auf den Stand, in dem man geboren ist und in dem man lebt, welche die Bevölkerungsbewegung beeinflussen. Es sind psychologische Motive, welche auf Einschränkung der möglichen menschlichen Fruchtbarkeit hinwirken, und diese sind keineswegs allein auf die von Malthus betonte moralische Enthaltsamkeit zurückzuführen. Anders liegen die Verhältnisse in denjenigen Bevölkerungsklassen, die nur über ein ganz geringes Einkommen verfügen. Die Ursache der hier zu beobachtenden starken Vermehrung ist nach Sismondi in erster Linie darauf zurückzuführen, daß der Arme, der von allem Eigentum entblößt ist, sich am ehesten über sein Einkommen täuscht. Zu der Unkenntnis über die Gestaltung seines Einkommens und der wirtschaftlichen Lage überhaupt tritt dann im weiteren die Unsicherheit der Existenz und die Aussichtslosigkeit, hierin Wandel zu schaffen. Die auf die unterste Stufe der Lebenshaltung gesunkenen Arbeiter wissen, daß sie nicht tiefer zu sinken vermögen, sie sehen aber auch keinen Weg, der sie zu besseren Verhältnissen führt. c) Krisentheorie Mit diesen Anschauungen steht die Krisentheorie Sismondis in engstem Zusammenhange. Sie ist f ü r ihn gleichfalls ein Verteilungsproblem, eine Frage des Gleichgewichtes zwischen Konsumtion und Produktion. Ricardo' und Say behaupten, eine Überfüllung des Marktes sei nicht zu befürchten, weil die Bedürfnisse der Menschen unersättlich seien. Dagegen wendet Sismondi ein, daß es vor allem notwendig sei, ein richtiges Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion zu schaffen und aufrechtzuerhalten. 447

Das rücksichtslose Gewinnstreben der Produzenten erzeuge eine falsche Produktion. Die durch die Gewerbefreiheit geförderte rasende Vervielfältigung der Produktion habe aber nur die Vermehrung des Luxus oder der Genüsse der müßiggehenden Reichen zur Folge und führt nach Sismondi zur Vermehrung der Ungleichheit unter den Menschen. J e mehr Fortschritte eine Bevölkerung macht, um so größer sei das Mißverhältnis zwischen der Lage derer, die arbeiten, und derer, die genießen; je mehr die einen sich mühen, um so mehr Luxus stellen die anderen zur Schau. Von der Vervielfältigung der Produktion hat der Arbeiter keinen Nutzen; sein Lohn wird nicht erhöht. Die Erfahrung lehrt im Gegenteil, daß der Arbeitslohn fast stets im Verhältnis dieser Vermehrung vermindert wird. Hieraus ergibt sich ein beständiger Unterkonsum, der notwendig zu Krisen führt, die auf einer Diskrepanz zwischen der Produktions- und der Kauffähigkeit der Gesellschaft beruhen. J e ungleichmäßiger die Einkommensverteilung, desto mehr zeigt sich die Störung des Gleichgewichts zwischen Produktion und kauffähiger Nachfrage. Infolge ihrer Verelendung sind die Arbeiter immer weniger in der Lage, die von ihnen selbst erzeugten Produkte zu kaufen. Nur durch Steigerung der Massenkonsumtion kann eine Besserung bewirkt werden. Sismondi befürwortet daher solche Maßnahmen, die zu einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung und dadurch zu einer Hebung der Kaufkraft der Arbeiterklasse führen. Mit großer Offenheit deckte Sismondi also die kapitalistischen Widersprüche auf und trat dem Dogma von der Harmonie der Interessen der Klassen entgegen. Überall könne man die großartigen Fortschritte der Zivilisation bewundern, aber zugleich auch wahrnehmen, daß die unteren Bevölkerungsklassen an diesen Errungenschaften keinen Anteil haben. Die in den Fabriken beschäftigten Arbeiter haben kein Eigentum und keine Lebenssicherheit, weil sie auf die kärgliche Nahrung, auf die elendeste Wohnung und schlechteste Kleidung angewiesen sind. Wenn eine unerwartete Nachfrage nach Arbeit ein unerwartetes Steigen ihres Lohnes herbeiführt, ihnen einen vorübergehenden Mehrverdienst verschafft, so wissen sie, daß schon am folgenden Tage die Nachfrage nach Arbeit und damit der Lohn aufhören kann. Die Fortschritte in der Technik, weit entfernt, ihre Arbeitszeit zu verkürzen, verlängern die Arbeitszeit der Proletarier nur noch mehr. Wie sich der Notstand dieser Bevölkerungsklasse vergrößert, so wächst in starker Progression der Reichtum der Nation. Während dem Arbeiter fast alles fehlt, leben die höheren Klassen im Überfluß. d) Die agrarpolitischen Anschauungen Sismondis Typisch für den kleinbürgerlichen Sozialismus sind auch die Ausführungen Sismondis über die Zustände und Erscheinungen auf landwirtschaftlichem Gebiete. 448

Die Bebauer des Grund und Bodens, so f ü h r t Sismondi aus, seien bislang noch am wenigsten von der alten Lebensweise abgelenkt, obgleich auch ihre Arbeit von der „Chrematistik" ganz anders betrachtet und beurteilt werde, als im Interesse der Gesamtheit wünschenswert sei. Allein f ü r die wahre Wissenschaft der politischen Ökonomie, die nicht so sehr auf eine möglichst große Produktion als vielmehr auf eine alle Klassen der Bevölkerung befriedigende Verteilung der Güter bedacht sei, gelte es vor allem, das Wohlbefinden der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu fördern, da diese bei weitem die Mehrzahl der Nation ausmache. In wirtschaftlicher wie politischer Beziehung sei es wünschenswert, daß ein großer Teil der Bevölkerung auf dem Lande lebe; dies aber erreiche man zumeist durch eine zweckmäßige Verteilung des Grundeigentums. Sismondi betont, daß bei allen, die in der Landwirtschaft tätig sind, das Interesse am Gelingen und Gedeihen der Arbeit tunlichst gefördert werden muß. Kein anderer Landarbeiter sei mit dem freien Bauern vergleichbar, der mit dem direktesten Interesse seinen Grund und Boden bewirtschaftet. Der Besitzer eines Erbpachtgutes arbeite fast mit derselben Liebe wie der freie Bauer, weil er wisse, daß alles, was er f ü r das Land tut, wenn nicht ihm selbst, so doch seinen Erben zugute komme. Dann folge der Teilbauer; erhalte dieser auch n u r die Hälfte der Erzeugnisse, so habe er doch an der Produktion fast ein ebenso großes Interesse wie der Gutsherr. Daher sei auf eine gesunde Grundeigentumsverteilung vor allem Gewicht zu legen, und als eine solche müsse diejenige bezeichnet werden, wo das Land vorwiegend durch kleine Grundeigentümer oder durch Teilbauern bewirtschaftet werde. Aber Sismondi anerkannte als kleinbürgerlicher Sozialist auch die „Vorzüge" der großen Güter. Trotz seiner Vorliebe f ü r den bäuerlichen Betrieb sah er das Ideal der Grundeigentumsverteilung in einer sogenannten „richtigen" Mischung von großem, mittlerem und kleinem Besitz. Er verwahrt sich ausdrücklich — dem kleinbürgerlichen Grundsatz des „Sowohl als auch" entsprechend — gegen den Vorwurf, Gegner des Großgrundeigentums zu sein. Man könne vielleicht aus dem, was er über das Vorteilhafte der selbstarbeitenden Bauern f ü r den Staat gesagt habe, schließen, es sei sein Wunsch, daß alle Bauern Herren des Bodens wären, den sie kultivierten, und daß alle Grundeigentümer selbst Hand anlegende Bauern wären; dies aber, so bemerkt er ausdrücklich, sei nicht seine Meinung. Er nehme die Gesellschaft so, wie sie sei, mit ihren Reichen und Armen, und halte diese Verschiedenheit der Stände zuträglich f ü r das Ganze. Die Reichen seien notwendig, weil es Kräfte des Geistes und der Seele gebe, die sich nur bei vollkommener Muße entwickeln, weil die körperlichen Anstrengungen die übrigen Fähigkeiten des Geistes abstumpfen, weil das unausgesetzte Sinnen auf Gewinn die Regungen des Herzens beeinträchtige, weil die herrlichsten Errungenschaften des menschlichen Geistes nicht des Geldes willen erzielt werden. Damit wollte Sismondi nicht sagen, wie er bemerkt, daß diejenigen Männer, welche der Menschheit vorangehen, aus der Klasse der Reichen hervorgehen. Aber diese 29 Behrens

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Klasse schätze sie, sie allein habe die Muße, um aus dem, was Kunst und Wissenschaft hervorbrächten, Genuß zu schöpfen. Die Reichen seien die Konsumenten aller geistigen Produkte. So wie es von Nutzen sei, daß es Reiche unter dem Volke gebe, so sei es auch von Nutzen, daß ein Teil dieser Reichen auf dem Lande lebt. Auf dem Lande seien sie inniger mit dem Volke verbunden. Ihr Eigentum, das von der einen Generation auf die andere übergeht, gibt ihnen einen Sinn f ü r Beständigkeit, wodurch sie inmitten der täglichen Neuerungen bei den übrigen Ständen eine gewisse Freude am Beharrenden erhalten und so Träger des konservativen Elements werden. Ihre Gegenwart verhelfe dazu, Bildung und Sitte zu verbreiten. Dazu komme, daß der Großgrundbesitzer alle Fortschritte auf wissenschaftlichem, besonders naturwissenschaftlichem Gebiete zum Nutzen der Landwirtschaft anwende und dem kleinen Besitzer auf diese Weise die f ü r den Ackerbau gemachten neuen Erfindungen und Entdeckungen mitteilen werde. e) Sismondis Reformvorschläge So ist f ü r Sismondi seine scharfe Kritik am Kapitalismus und an den Lehren der klassischen bürgerlichen Ökonomie charakteristisch, aber auch seine Verteidigung der Klassengesellschaft. Aus der Natur des Menschen oder aus der Natur der Arbeit ergibt sich nicht, so stellte er fest, daß das Zusammenarbeiten der beiden Klassen, das zur Herstellung jeder Art von Produkten nötig ist, entgegengesetzte Interessen zeitigen müsse. Ihr Interessengegensatz sei vielmehr die Folge der künstlichen Ordnung, die der menschlichen Gesellschaft gegeben sei, die die Menschen zu verbessern in der Lage seien. Kein Produkt entsteht ohne eine Verbindung beider Klassen; der Arbeiter braucht den Unternehmer, dieser den Arbeiter. Wo diese Solidarität sich nicht finde, da müsse sie mit Hilfe des Staates geschaffen w e r den — so lehren auch die kleinbürgerlichen Sozialisten bis in die Gegenwart! Die Gesellschaft könne verlangen, daß der, welcher den Arbeiter beschäftige und zu seinem Nutzen gebrauche, ihn auch ernähre, und daß er diese Last nicht anderen Personen aufbürde, die keinen Nutzen von dem Arbeiter gehabt haben. Auf den niederen Kulturstufen, wo Sklavenarbeit bestand, habe niemand daran gedacht, die nicht mehr voll leistungsfähigen oder kranken Sklaven einfach fortzujagen. Jeder habe gewußt, daß er auch die kranken und alten Sklaven verpflegen müsse. Ebenso sei im Feudalsystem die Verpflichtung des Grundherrn, f ü r die Existenz seiner Hörigen zu sorgen, stets anerkannt gewesen. Um so mehr aber müsse man heute fordern, daß die großen Eigentümer und Pächter Anstalten treffen, daß die f ü r sie arbeitenden Familien nicht nur so lange von ihnen unterhalten werden, als sie arbeiten können, sondern auch dann, wenn sie ihre Arbeitskraft verloren haben. Das gleiche gelte von den industriellen Gewerben. Freilich habe man hier mit weit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Sismondi schlägt vor, daß die ein 450

gleiches Gewerbe treibenden Fabrikanten sich zusammenschließen und eine Korporation bilden, lediglich zu dem Zwecke, um mit gemeinsamen K r ä f t e n die ihnen im Interesse der Arbeiter obliegenden gemeinsamen Aufgaben zu lösen. Die Genossenschaft solle für Notfälle einen Fonds zusammenbringen, zu dem jeder Fabrikant f ü r jeden seiner Arbeiter einen gewissen Beitrag zu zahlen habe. Lasse sich dies verwirklichen, so werde dem Elend der Arbeiterklasse ein Ziel gesetzt sein; in den Fällen der Krankheit, der Invalidität und des Alters werde f ü r sie gesorgt sein. Sismondi glaubt, daß eine derartige Veranstaltung nach den verschiedensten Richtungen hin einen segensreichen Einfluß ausüben müsse. Ein festes Band würde die Arbeitgeber wieder mit ihren Arbeitern verknüpfen; erstere würden vorsichtiger in allen ihren Unternehmungen sein, weil eine ganz andere Verantwortlichkeit auf ihnen laste; der Überspekulation und der fieberhaften Produktionssucht würde ein Halt geboten werden. Die Arbeiter aber, der äußersten Not entrissen und zu einer sicheren Lebenshaltung gehoben, würden höheren Interessen zugänglich sein. Bevor jedoch diese großen Reformen durchgeführt würden, müßte den Arbeitern das Koalitionsrecht gewährt, müßte die Sonntags- und die Kinderarbeit verboten, die Arbeitszeit der Erwachsenen begrenzt werden.

f) Kritik Sismondis Scharfe Kritik und Reformvorschläge am Kapitalismus — das ist der Inhalt der Lehre von Sismondi. Wahrheitsgehalt, soweit sie den Kapitalismus kritisiert, und Ideologie, soweit sie zu praktischen Konsequenzen kommt •— das ist der Inhalt der Lehre des „Begründers" des kleinbürgerlichen Sozialismus. „Sismondi hat das tiefe Gefühl, daß die kapitalistische Produktion sich widerspreche", schreibt Marx. 1 ) Sismondi habe das Gefühl, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse einerseits die ungezügelte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte anspornen, daß diese Produktionsverhältnisse aber andererseits „bedingt" sind, d. h., „daß deren Widersprüche von Gebrauchswert und Tauschwert, Ware und Geld, Kauf und Verkauf, Produktion und Konsumtion, Kapital und Lohnarbeit usw. um so größere Dimensionen annehmen, je weiter sich die Produktivkraft entwickelt". 2 ) Sismondi fühle namentlich den Grundwiderspruch, schreibt Marx: „Ungefesselte Entwicklung der Produktivkräfte und Vermehrung des Reichtums, der zugleich aus Waren besteht, versilbert werden muß, einerseits; andererseits als Grundlage Beschränkung der Masse der Produzenten auf die notwendigen Lebensmittel." 3 ) ') Marx, Theorien, Bd. III, S. 55. -) Ebd. 3 ) Ebd. 29*

451

Die kapitalistischen Krisen sind daher auch bei Sismondi nicht wie bei Ricardo Zufälle,, sondern sie sind „wesentliche Ausbrüche der immanenten Widersprüche auf großer Stufenleiter und zu bestimmten Perioden". 1 ) In direkter Polemik mit Ricardo betonte Sismondi den spezifisch gesellschaftlichen Charakter der Tauschwert setzenden Arbeit. Er bezeichnet es aber auch zugleich als „Charakter unseres ökonomischen Fortschritts", die Wertgröße auf notwendige Arbeitszeit zu reduzieren, d. h. auf „das Verhältnis zwischen dem Bedürfnis der ganzen Gesellschaft und der Quantität Arbeit, die hinreicht, dies Bedürfnis zu befriedigen". 2 ) Wenn in Ricardo die politische Ökonomie rücksichtslos ihre letzte Konsequenz ziehe und damit abschließt, stellt Marx in der „Kritik der politischen Ökonomie" fest, so ergänze Sismondi diesen Abschluß, indem er den Zweifel der politischen Ökonomie an sich selbst darstelle. 8 ) Auch Lenin kritisierte Sismondi in seiner Arbeit „Zur Charakteristik des ökonomischen Romantismus". 4 ) Lenin kritisiert besonders „die Lehre von der Unmöglichkeit, das Produkt überhaupt und den Mehrwert im besonderen zu realisieren, und als Folge dieser Unmöglichkeit die Notwendigkeit des äußeren Marktes". 5 ) Uns ist bereits bekannt, daß diese fehlerhafte Lehre, die auch von Rosa Luxemburg vertreten wurde, ihre Ursache in der falschen Methode der isolierten Abstraktion hat. „Die Frage der Realisierung kommt u m kein Jota weiter voran", schreibt Lenin, „wenn wir anstatt des Marktes eines einzigen Landes den Markt eines bestimmten Länderkomplexes nehmen." 6 ) Lenin kritisiert aber auch die Lehre Sismondis von den Krisen durch das Mißverhältnis zwischen Produktion und Konsumtion, die — wie Lenin feststellt — auch von Rodbertus übernommen worden ist.7) Die Analyse der Akkumulation und der Realisierung des Produkts in der kapitalistischen Gesellschaft durch Marx hat alle Begründungen dieser Theorie durch den Nachweis widerlegt, daß gerade in Zeiten, die den Krisen vorausgehen, die Konsumtion der Arbeiter steigt, daß es Unterkonsumtion in den verschiedensten Wirtschaftsordnungen gegeben hat, während die Krisen gerade das charakteristische Merkmal des kapitalistischen Systems sind. Die Sismondische Theorie erklärte die Krisen aus dem Widerspruch zwischen der Produktion und der Konsumtion der Arbeiterklasse, d. h. aus Unterkonsumtion. Sie erblickte also die Wurzel der Erscheinung außerhalb der Produktion, fügt Lenin hinzu und meint, daß sich daher bei Sismondi ') 2 ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) ') 452

Ebd., S. 55. Zitiert bei Marx, Zur Kritik, S. 59. Ebd., S. 59/60. Abgedruckt, Kapital, Bd. III, S. 45 ff. Ebd., S. 45. Ebd., S. 547. Ebd., S. 550.

z. B. allgemeine Angriffe gegen die Klassiker finden. Weil sie die Konsumtion ignorieren und sich nur mit der Produktion beschäftigen. Es frage sich aber, meint Lenin weiter, ob man die Tatsache eines Widerspruchs zwischen Produktion und Konsumtion, die Tatsache der Unterkonsumtion bestreiten könne. „Selbstverständlich nicht", antwortet Lenin. Er „anerkennt vollkommen diese Tatsache, weist ihr aber den ihr zukommenden, untergeordneten Platz an, als einer Tatsache, die sich nur auf die eine Abteilung der gesamten kapitalistischen Produktion bezieht". Lenin stellt fest, daß „diese Tatsache die Krisen nicht zu erklären vermag, da sie durch einen anderen, tieferen, grundlegenden Widerspruch des heutigen Wirtschaftssystems hervorgerufen werde, nämlich durch den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Charakter der Aneignung".1) So schwankt Sismondi beständig zwischen zwei Möglichkeiten, und dies beweist seinen kleinbürgerlichen, zwischen den beiden Hauptklassen der bürgerlichen Produktionsweise stehenden Standpunkt — er schwankt, ob die Produktivkräfte von Staats wegen gefesselt werden sollen, um sie den kapitalistischen Produktionsverhältnissen anzupassen, oder ob die Produktionsverhältnisse deren Produktivkräfte adäquat werden sollen. Sismondi „beurteilt" die Widersprüche der bürgerlichen Produktion schlagend, aber er begreift sie nicht, und er begreift daher auch nicht den Prozeß seiner Auflösung.2) Daher flüchtet er oft in die Vergangenheit. Er begreift nicht, daß die Distributionsverhältnisse nur die Produktionsverhältnisse unter einem anderen Gesichtspunkt sind. Was aber bei Sismondi zugrunde liegt, stellt Marx fest, „ist in der Tat die Ahnung, daß den im Schöße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelten Produktivkräften, materiellen und sozialen Bedingungen der Schöpfung des Reichtums, neue Formen der Aneignung dieses Reichtums entsprechen müssen; daß die bürgerlichen Formen nur transitorische und widerspruchsvolle sind, in denen der Reichtum immer nur eine grundsätzliche Existenz erhält und überall zugleich als sein Gegenteil auftritt. Es ist Reichtum, der immer die Armut zur Voraussetzung hat und sich nur entwickelt, indem er sie entwickelt."3) Sismondi habe „durch seine Ahnung dieses Widerspruchs Epoche in der politischen Ökonomie" gemacht, schreibt Marx an anderer Stelle.4) Wir werden sehen, daß diese von Lenin und von Marx widerlegten kleinbürgerlichen Auffassungen Sismondis bis in die Gegenwart — und aus erklärlichen Gründen sogar betonter — vertreten werden. Sie geben die Grund') Ebd. Marx, Theorien über gehoben, F. B.). 3) Ebd., S. 56. 4) Ebd., S. 308. 2)

den Mehrwert,

Bd.

III, S. 55/56 (von mir

hervor-

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läge für alle „Theoretiker" des sogenannten „dritten Weges" ab! Bedarf es doch nach solchen Auffassungen nur gewisser Reformen, um den Kapitalismus erträglich zu machen!

3. Pierre Joseph

Proudhon

(1809—1865)

Proudhon wurde zuerst durch seine 1840 erschienene Schrift „ Qu'est-ce que la propriété?" bekannt. Proudhon kritisierte in dieser Schrift das Eigentumsrecht und wies die üblichen Begründungen des Privateigentums zurück. Er bezeichnete das Eigentum als ungerecht, weil es das Recht sei, nach Belieben fremdes Gut zu genießen und über die Früchte der Arbeit anderer zu verfügen. Seine Kritik am Eigentum faßte er in der Formel zusammen: „Eigentum ist Diebstahl." Aber trotzdem ist Proudhon kein Gegner des kapitalistischen Eigentums. Auch er wollte nur die „Fehler des Eigentumsrechts" beseitigen und schlug die Errichtung einer „Tauschbank" vor, die jedem Warenproduzenten seine Produkte gegen Gutscheine verkaufen bzw. in Pfand nehmen sollte. Diese Gutscheine sollten selbst nur gegen Waren einzutauschen sein. Hierdurch, so hoffte Proudhon, würden die Waren sich nur nach ihrem Wert austauschen und würde das Eigentum daher nur noch auf der Arbeit beruhen. Proudhons Auffassungen zeigen alle Merkmale des kleinbürgerlichen Sozialismus: utopisch und reaktionär zugleich. Seinen Auffassungen liegt die ökonomische Anschauung zugrunde, daß der Wert in der Zirkulationssphäre entsteht. Proudhon wollte die Ordnung des kleinen Privateigentums und der zersplitterten Kleinproduktion aufrechterhalten, das war der reaktionäre Charakter seiner Auffassungen. Proudhon wollte das durch den gegenseitigen Tausch der kleinen Warenproduzenten nach dem Grundsatz der Gleichwertigkeit, das war der utopische Charakter seiner Auffassungen. Das ökonomische Prinzip der Gleichwertigkeit, das die Grundlage seiner „idealen" Gesellschaft bilden sollte, wurde ergänzt durch den „Mutualismus" (System der Gegenseitigkeit). Die ökonomischen Auffassungen und Anschauungen Proudhons wurden von Marx vernichtend kritisiert. Proudhon schöpfte erst sein Ideal der Gerechtigkeit, der „ewigen Gerechtigkeit", aus den der Warenproduktion entspringenden Produktionsverhältnissen, „wodurch, nebenbei bemerkt, auch der für alle Spießbürger so tröstliche Beweis geliefert wird, daß die Form der Warenproduktion ebenso ewig ist wie die Gerechtigkeit". 1 ) Dann umgekehrt wollte Proudhon die wirkliche Warenproduktion und das ihr entsprechende wirkliche Recht diesem Ideal gemäß ummodeln. „Was würde man von einem Chemiker denken", fragt Marx, „der, anstatt die wirklichen Gesetze des Stoffwechsels zu studieren und auf Basis derselben bestimmte Aufgaben zu lösen, >) Marx, Kapital, Bd. I, S. 90, Fußnote 38.

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den Stoffwechsel durch die ,ewigen Ideen' der ,naturalité' (natürlichen Beschaffenheit) und der ,affinité' (Verwandtschaft) ummodeln wolle? Weiß m a n etwa m e h r über den ,Wucher', w e n n m a n sagt, er widerspreche der Justice éternelle' (ewigen Gerechtigkeit) und der ,équité éternelle' (ewigen Billigkeit) und der ,mutualité éternelle' (ewigen Gegenseitigkeit) und anderen ,vérités éternelles' (ewigen Wahrheiten), als die Kirchenväter wußten, w e n n sie sagten, er widerspreche der ,grâce éternelle' (ewigen Gnade), der ,foi éternelle' (dem ewigen Glauben), der ,volonté éternelle de dieu' (dem ewigen Willen Gottes)?" 1 ) Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, w e n n auch ihre Kritik, Reform, also Verewigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse — das ist also auch der Inhalt des Proudhonschen kleinbürgerlichen Sozialismus. F ü r den Kleinbürger, der in der Warenproduktion den Gipfel menschlicher Freiheit und individueller Unabhängigkeit erblickte, w ä r e es natürlich sehr wünschenswert, meint Marx an anderer Stelle, 2 ) der mit dieser F o r m verbundenen Mißstände überhoben zu sein, namentlich auch der nicht u n m i t t e l baren Austauschbarkeit der Waren. „Die Ausmalung dieser Philisterutopie bildet Proudhons Sozialismus, der, wie ich anderswo gezeigt, nicht einmal das Verdienst der Originalität besitzt, vielmehr lange vor ihm von Gray, B r a y und anderen weit besser entwickelt wurde. Dies verhindert solche Weisheit nicht, heutzutage, in gewissen Kreisen, u n t e r dem N a m e n ,science' (Wissenschaft) zu grassieren. Nie h a t eine Schule m e h r als die Proudhonsche mit dem Wort ,science' u m sich geworfen, denn ,wo Begriffe fehlen, da stellt zur rechten Zeit ein Wort sich ein'." 3 ) Auf Proudhon blicken als ihren A h n h e r r n Anhänger von Geldreformen bis in die neueste Zeit. Auf ihn b e r u f e n sich die Gegner des Kommunismus, die als „Anarchisten" auch in der Arbeiterklasse V e r w i r r u n g zu stiften suchen. Die Werke Proudhons strotzen geradezu von böswilligen Verleumdungen des Kommunismus, der auf dem gesellschaftlichen Eigentum der Produktionsmittel beruht. Proudhon sprach sich gegen den Zusammenschluß der Arbeiter in Gewerkschaften und gegen den Streik aus. Er lehnte den Klassenkampf der Arbeiter und vornehmlich den politischen Kampf als Mittel zur B e f r e i u n g der Arbeiterklasse ab. Während der Revolution von 1848 w a n d t e er sich mit einem verräterischen A u f r u f an die Arbeiter: „Arbeiter, reicht euren Herren die Hände, und ihr, Arbeitgeber, stoßt nicht die Hände derjenigen zurück, die von euch Arbeitslohn empfingen." 4 ) P r o u d h o n prägte auch den Satz: „Die ') Ebd. ) Ebd., S. 74, Fußnote 24. 3 ) Ebd. 4 ) Große Sowjet-Enzyklopädie, Reihe Marxismus-Leninismus, Der Anarchismus, S. 25. 2

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politische Revolution ist das Ziel, die ökonomische Revolution das Mittel." Unter der „politischen Revolution" versteht Proudhon die „Zersetzung" des durch den „Gesellschaftsvertrag" zu ersetzenden Staates, die „ökonomische Revolution" dagegen ist die Verwirklichung der Rezepte Proudhons auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Umgestaltung „ohne jeglichen Klassenkampf". Beide „Revolutionen" haben mit einer wirklichen Revolution selbstverständlich nichts gemein. Marx, der Proudhon besonders in seiner Schrift „Das Elend der Philosophie" mit beißendem Hohn übergoß, meinte: „In einer streng wissenschaftlichen Geschichte der politischen Ökonomie w ä r e die Schrift (,Qu'est-ce que la propriété?', F. B.) k a u m erwähnenswert. Aber solche Sensationalschriften spielen in der Wissenschaft ebensogut ihre Rolle wie in der Romanliteratur." 1 )

B. Der „liberale" Sozialismus Vor r u n d h u n d e r t J a h r e n w a r f e n Marx und Engels ihr „Kommunistisches Manifest" in die mit der bürgerlichen Produktionsweise entstandene Arbeiterbewegung. Einige Wochen vor Ausbruch der bürgerlichen Revolutionen Westu n d Mitteleuropas verfaßt, die im J a h r e 1848 Frankreich, Deutschland, Österreich und die Nachbarländer erschütterten, w a r das „Kommunistische Manifest" die G e b u r t s u r k u n d e des wissenschaftlichen Sozialismus. Es zeichnete in k ü h n e n Strichen die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft und enthüllte das Bewegungsgesetz der menschlichen Geschichte. Indem es die großen Epochen der menschlichen Geschichte als S t u f e n eines Prozesses des menschlichen Fortschritts begriff, erfaßt es zugleich die historische Vergänglichkeit der bürgerlichen Gesellschaft als den „vollendetsten Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die anderen beruht". Das „Kommunistische Manifest" stellte damit dem Kapitalismus den Totenschein bereits aus zu der Zeit, als sich das B ü r g e r t u m noch zu gewaltigen Lebens- und Machtsteigerungen anschickte. Seither sind m e h r als h u n d e r t J a h r e vergangen, und die Voraussagen des „Manifests" haben sich in grandioser Weise erfüllt: Nicht n u r erfüllt in dem Sinne, daß die kapitalistische Welt mit schnellen Schritten ihrem U n t e r g a n g entgegengeht, sondern auch in dem Sinne, daß die Menschheit durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution Zeuge der Geburt einer neuen Gesellschaftsordnung als einer höheren Stufe der menschlichen Entwicklung geworden ist. Die von Marx und Engels bereits im „Kommunistischen Manifest" getroffene Kennzeichnung des „kleinbürgerlichen Sozialismus" trifft auch alle ') Das Elend der Philosophie, Berlin 1942, S. 40. 456

politische Revolution ist das Ziel, die ökonomische Revolution das Mittel." Unter der „politischen Revolution" versteht Proudhon die „Zersetzung" des durch den „Gesellschaftsvertrag" zu ersetzenden Staates, die „ökonomische Revolution" dagegen ist die Verwirklichung der Rezepte Proudhons auf der Grundlage einer gesellschaftlichen Umgestaltung „ohne jeglichen Klassenkampf". Beide „Revolutionen" haben mit einer wirklichen Revolution selbstverständlich nichts gemein. Marx, der Proudhon besonders in seiner Schrift „Das Elend der Philosophie" mit beißendem Hohn übergoß, meinte: „In einer streng wissenschaftlichen Geschichte der politischen Ökonomie w ä r e die Schrift (,Qu'est-ce que la propriété?', F. B.) k a u m erwähnenswert. Aber solche Sensationalschriften spielen in der Wissenschaft ebensogut ihre Rolle wie in der Romanliteratur." 1 )

B. Der „liberale" Sozialismus Vor r u n d h u n d e r t J a h r e n w a r f e n Marx und Engels ihr „Kommunistisches Manifest" in die mit der bürgerlichen Produktionsweise entstandene Arbeiterbewegung. Einige Wochen vor Ausbruch der bürgerlichen Revolutionen Westu n d Mitteleuropas verfaßt, die im J a h r e 1848 Frankreich, Deutschland, Österreich und die Nachbarländer erschütterten, w a r das „Kommunistische Manifest" die G e b u r t s u r k u n d e des wissenschaftlichen Sozialismus. Es zeichnete in k ü h n e n Strichen die geschichtliche Entwicklung der Gesellschaft und enthüllte das Bewegungsgesetz der menschlichen Geschichte. Indem es die großen Epochen der menschlichen Geschichte als S t u f e n eines Prozesses des menschlichen Fortschritts begriff, erfaßt es zugleich die historische Vergänglichkeit der bürgerlichen Gesellschaft als den „vollendetsten Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die anderen beruht". Das „Kommunistische Manifest" stellte damit dem Kapitalismus den Totenschein bereits aus zu der Zeit, als sich das B ü r g e r t u m noch zu gewaltigen Lebens- und Machtsteigerungen anschickte. Seither sind m e h r als h u n d e r t J a h r e vergangen, und die Voraussagen des „Manifests" haben sich in grandioser Weise erfüllt: Nicht n u r erfüllt in dem Sinne, daß die kapitalistische Welt mit schnellen Schritten ihrem U n t e r g a n g entgegengeht, sondern auch in dem Sinne, daß die Menschheit durch die Große Sozialistische Oktoberrevolution Zeuge der Geburt einer neuen Gesellschaftsordnung als einer höheren Stufe der menschlichen Entwicklung geworden ist. Die von Marx und Engels bereits im „Kommunistischen Manifest" getroffene Kennzeichnung des „kleinbürgerlichen Sozialismus" trifft auch alle ') Das Elend der Philosophie, Berlin 1942, S. 40. 456

jene „sozialistischen" Theoretiker und Bewegungen, die entweder den wissenschaftlichen Sozialismus dadurch „überwunden" haben, daß sie ihn überhaupt nicht kennen oder daß sie ihn einfach verheimlichen, mögen sie sich „christliche" Sozialisten, „idealistische" Sozialisten oder auch „freie" Sozialisten nennen. Sie sind alle auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: Die Eigentumsfrage ist für sie nicht die Grundfrage ihrer Theorie, sondern ihre Theorie dient vielmehr geradezu dazu, die bestehenden bürgerlichen Eigentumsverhältnisse gegen den wissenschaftlichen Sozialismus in irgendeiner Form zu verteidigen. Verteidigung, nicht Überwindung, Aufrechterhaltung, nicht Aufhebung des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln ist die Grundlage jedes kleinbürgerlichen Sozialismus. Und es ist nur zu verständlich, daß in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen wie nach dem ersten und zweiten Weltkrieg, wo gerade die zwischen den beiden Hauptklassen unserer Gesellschaftsordnung stehenden Schichten in ihrer Existenz bedroht oder gar zum großen Teil vernichtet sind, die „antikapitalistischen" Stimmungen bereiten Massen des Volkes von solchen kleinbürgerlichen Sozialisten formuliert werden. Das hat seinen tiefen Grund: Weltuntergangsstimmung hat die kleinbürgerlichen Massen ergriffen! Weil sie zwischen den beiden großen Hauptklassen stehen oder zu stehen scheinen, scheinen sie klassenlos, das Volk schlechthin zu sein. Mit ihrer Welt glauben sie die Welt überhaupt untergehen zu sehen! B e schränkt wie ihr Horizont ist auch ihr Wollen, aber gerade deshalb für die herrschende und vom Untergang bedrohte Bourgeoisie wertvoll.

1. Die

Bodenreformen

a) Allgemeines Die Bodenreformbewegung ist eine besondere Spielart des kleinbürgerlichen Sozialismus, die sich gegen die Aneignung der Grundrente durch Privatpersonen richtet. Die Bodenreformer anerkennen, wie alle kleinbürgerlichen Sozialisten, grundsätzlich das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Als Privateigentum an Grund und Boden stört es aber nach ihrer Auffassung die auf dem privaten Eigentumsrecht überhaupt errichtete Ordnung. Es ist „Monopoleigentum", und die Bodenreformer erstreben daher eine Reform des privaten Bodenbesitzes, und zwar entweder durch die Beseitigung des privaten Grundeigentums überhaupt oder durch bloße Wegsteuerung der Grundrente. Die Bodenreformer kritisieren also keineswegs das kapitalistische Eigentum an sich, sondern nur das aus einer bestimmten Art des Eigentums gewonnene Einkommen, die Grundrente. Bereits James Mill hatte aus der Ricardoschen Grundrententheorie die Forderung der Wegsteuerung der Grundrente gezogen. John Stuart Mill nahm 457

diesen Gedanken auf. Die wirtschaftliche Entwicklung f ü h r e dem Grundeigentümer einen wachsenden Anteil am gesellschaftlichen Arbeitsprodukt in Gestalt der vorhandenen Grundrente zu. Dieser „unverdiente Wertzuwachs" müsse daher weggesteuert werden.

b) Henry George (1839—1897) Der eigentliche Theoretiker der Bodenreform aber ist Henry George. Im J a h r e 1879 veröffentlichte George sein Werk „Progress and Poverty" — „Fortschritt und Armut" —, das in fast alle Kultursprachen übersetzt wurde und zahlreiche Auflagen erlebte. George untersucht das Problem, woher es komme, daß trotz zunehmenden Reichtums und immer neuer technischer Fortschritte doch die Armut immer größer werde, oder anders ausgedrückt, woher es komme, daß der Arbeitslohn, trotz der Vermehrung der Produktivkraft nach einem Minimum strebe, das nur den kargen Lebensunterhalt gestatte. Gegenüber der Lohnfondstheorie der klassischen bürgerlichen Ökonomie, wonach der Lohn durch das Verhältnis zwischen der Arbeiterzahl und dem Kapital, das der Beschäftigung der Arbeit dient, bestimmt werde, behauptet George, daß der Arbeitslohn nicht dem Kapital entnommen werde, sondern in Wahrheit ein Ergebnis der durch ihn bezahlten Arbeit sei. — Der Arbeiter erhält im Lohne die mit seiner Arbeit geschaffenen Güter zurück. Wenn jeder Arbeiter aber durch seine Arbeit wirklich die Fonds schafft, aus denen sein Lohn entnommen wird, dann könne der Lohn durch Vermehrung der Arbeiterzahl nicht vermindert werden; im Gegenteil, da die Leistungsfähigkeit der Arbeit offenbar mit der Vermehrung der Arbeiterzahl zunehme, so müsse, wenn sonst gleiche Verhältnisse vorhanden sind, der Lohn sich erhöhen. Dieser notwendige Vorbehalt, „wenn sonst gleiche Verhältnisse vorhanden sind", bringt George auf die Frage: „Haben die produktiven Kräfte der Natur die Neigung, sich mit den wachsenden Ansprüchen zu vermindern, die durch Vermehrung der Bevölkerung an sie gestellt werden?" George erklärt, ebenso wie Sismondi, die Malthussche Bevölkerungstheorie f ü r falsch. Gerade das Gegenteil der Malthusschen Behauptungen sei wahr, schreibt er. In jedem gegebenen Zustand der Zivilisation könne eine größere Anzahl Menschen als Gesamtheit besser versorgt werden als eine kleinere. Die Ungerechtigkeit der Gesellschaft und nicht die Kargheit der Natur sei die Ursache jenes Mangels und Elends, das die herrschende Lehre der Überbevölkerung zuschreibe. — Die Verteilung der Güter sei falsch geregelt, und George sucht dies durch seine Theorie der Verteilung nachzuweisen. Er untersucht zuerst die Bodenrente und schließt sich hier Ricardos Theorie an, daß die Bodenrente bestimmt werde durch den Überschuß des Bodenertrages über den Ertrag, der bei gleicher Anwendung von Arbeit und Kapital vom schlech458

"testen Boden zu erzielen sei. — George gibt dieser Lehre die Fassung: Der Besitz eines natürlichen Mittels der Produktion gibt die Macht, sich so viel Güter anzueignen, produziert durch die Tätigkeit der Arbeit und des Kapitals auf dem Boden, als den Ertrag übersteigt, den derselbe Aufwand von Arbeit und Kapital am wenigsten einträglichen Beschäftigungen, denen sie sich zuwenden, erzielen kann. — Aus der Existenz der Bodenrente zieht George Schlüsse auf die Höhe von Lohn und Zins. Da nämlich Lohn und Zins nicht vom Produkt der Arbeit und des Kapitals abhängig seien, sondern von dem, was nach Entnahme der Bodenrente übrig bleibe, so folge, daß, wie groß auch die Vermehrung der produktiven K r a f t sei, weder Lohn noch Zins sich vermehren könnten, wenn die Vermehrung der Bodenrente gleich Schritt halte. Der Zins ist nach George ein gerechter Einkommenszweig, denn er entspringe aus der Vermehrungsfähigkeit, die die reproduktiven Naturkräfte dem Kapital verleihen. Viele Kapitalgegenstände, z. B. Weiden, Herden usw., erfuhren durch den Ablauf einer bestimmten Zeit vermöge des Waltens der Naturkraft eine Verbesserung oder Vermehrung. Dieser Umstand wirke dann auch auf die übrigen Kapitalgegenstände zurück, welche wie Werkzeuge keiner inneren Vermehrung und Verbesserung fähig sind, weil diese, wenn nicht auch die Kapitalzins abwürfen, überhaupt nicht zum Zweck des Austausches verfertigt werden würden. So entspringt — nach George — der Kapitalzins aus der Vermehrungsfähigkeit, welche einzelnen Kapitalgegenständen infolge der reproduktiven Naturkräfte innewohnt, ferner aus der Fähigkeit der übrigen Kapitalgegenstände, gegen jene ausgetauscht zu werden. Die Höhe des Zinses reguliert sich durch Angebot und Nachfrage, doch ohne großen Schwankungen unterworfen zu sein, weil jedes Steigen desselben durch Begünstigungen, jedes Fallen desselben durch Hinderung der Kapitalbildung ein rasch wirkendes Gegenmittel an sich selbst trägt. Der Lohn wird bestimmt durch die Größe des Produkts, welches die Arbeit auf dem besten, ihr ohne Zahlung von Grundrente zugänglichen Boden erzielen kann, abzüglich des Betrages, der nötig ist, um etwa aufgewendetes Kapital zu ersetzen und zu verzinsen. Nun aber kann die Arbeit, wiewohl die Konkurrenz sie treibt, sich mit dem geringsten Lohnsatz zu begnügen, bei einem geringeren Lohnsatz als dem, der zur Fristung des dürftigsten Lebensunterhaltes hinreicht, nicht bestehen. Deshalb ist das geringste Land, das in Kultur gewonnen werden kann, dasjenige, welches neben der Reproduktion des etwa aufgewendeten Kapitals und dem Zins desselben gerade noch den Betrag des notdürftigsten Lebensunterhaltes als Lohn f ü r die Arbeit trägt. Und da nach dem Rentengesetz alles, was den Ertrag des geringsten Bodens übersteigt, Grundrente ist und der Kapitalzins in allen Fällen wenigstens annähernd auf dem gleichen Niveau steht, so kann f ü r die Arbeit auch auf dem besten Boden nicht mehr als der Betrag des dürftigsten Lebensunterhaltes übrigbleiben. George kommt zum Schluß, daß die Bodenrente die Quelle alles sozialen Elends sei: da der Bodenwert ganz abhängig sei von der durch 459

seinen Besitz gewährten Macht, sich die von der Arbeit geschaffenen Früchte anzueignen, so erfolge eine Steigerung des Bodenwertes stets auf Kosten des Wertes der Arbeit. Wenn die zunehmende Produktionskraft den Lohn nicht erhöhe, so unterbliebe das nur, weil sie den Wert des Bodens steigere. Die Bodenrente sauge den ganzen Gewinn auf, und der Pauperismus begleite den Fortschritt. Überall könne die Tatsache beobachtet werden, daß mit zunehmendem Bodenwert auch der Unterschied zwischen Reichtum und Armut sichtbar werde. Wo der Bodenwert am größten sei, zeige die Zivilisation neben dem größten Luxus auch die größte Armut. Auch die Handels- und Absatzkrisen haben nach der Ansicht Henry Georges ihre letzte Ursache in der Bodenrente; denn tausend und aber tausend Menschen, die jetzt in der Industrie keine Arbeit finden, könnten Beschäftigung erhalten, und alle Waren, die in Zeiten der Krise unverkauft liegenbleiben, könnten Absatz finden, wenn die Ausnutzung des Bodens nicht durch die Rente so sehr erschwert wäre. Als Heilmittel für alle soziale Not betrachtet daher George die Beseitigung des privaten Bezugs der Grundrente. Die Besitzergreifung des Grund und Bodens durch einzelne sei eine Ungerechtigkeit; denn im Gegensatz zu allen anderen Gütern sei der Boden nicht vermehrbar und verleihe daher seinen Privateigentümern ein Monopol gegenüber allen anderen Nichtbesitzern. Auf Grund dieses Monopols erhalten jene Bodenbesitzer einen ewigen Tribut von der Arbeit aller anderen: die Grundrente, welche eine beständig steigende Tendenz gemäß der steigenden Produktion, Bevölkerung und Kultur habe. Der hierdurch notwendig gegebene Zuwachs der Rente sei jedoch von den Eigentümern ökonomisch nicht verdient, nicht durch sie, sondern durch die gesellschaftlichen Zusammenhänge erzeugt, d. h. durch die Gesamttätigkeit der Gemeinschaft, von deren Gliedern die wenigen Grundherren den Tribut der Grundrente erpressen. Als rechtmäßige Basis des Eigentumsrechts könne nur das Recht des Menschen auf die Früchte seiner Arbeit angesehen werden. Der Boden aber, der von niemandem erarbeitet, sondern ein Geschenk Gottes sei, dürfe auch nicht von einzelnen zu ihrem Privatvorteil ausgenutzt werden. Das gleiche Recht aller .Menschen auf den Gebrauch des Landes sei so klar wie ihr gleiches Recht zu atmen. — George empfiehlt jedoch nicht eine Konfiskation des gesamten Privateigentums an Grund und Boden zugunsten des Staates, sondern verlangt nur die Wegsteuerung der Grundrente. Die Grundsteuer müsse so ausgestaltet werden, daß die ganze Grundrente absorbiert werde; alle übrigen Steuern könnten dann abgeschafft werden. Der Form nach würde das Privileg des Grundbesitzers, ein Extraeinkommen aus seinem Boden zu beziehen, fortfallen, und dieser Gewinn aus dem Bodenbesitz würde der Gesamtheit zugute kommen. Eine Entschädigung der Grundbesitzer hält George nicht für notwendig, sondern ebenso, wie die Sklavenhalter bei der Sklavenbefreiung das Eigentum verloren hätten, sollten die Besitzer entschädigungslos die Rente verlieren. — Nach Beseitigung der privaten Grund460

rente kämen die beiden bisher verkümmerten Einkommenszweige zu ihrem Rechte. Denn wo dem Arbeiter jederzeit freies Land zur Benutzung offenstünde, könne der Arbeitslohn nur unter denjenigen Betrag sinken, den der Arbeiter als selbständiger Benutzer des Bodens erzielen kann. Und andererseits streiche nun auch der Unternehmer und Kapitalist seinen vollen Gewinn ein, befreit von dem ungerechten Tribut an den Landmonopolisten.

c) Bodenreformer in Deutschland In Deutschland waren die bekanntesten Vertreter der Bodenreform Theodor Hertzka, Franz Oppenheimer und Adolf Damaschke. Theodor Hertzka (1845—1919) entwarf in seinem 1889 erschienenen Buch „Freiland, ein soziales Zukunftsbild" das Bild eines Gemeinwesens, in dem es ein Monopol an Grund und Boden nicht gibt. Die Produzenten können in Produktivgenossenschaften, die die Träger des Wirtschaftslebens sind, jederzeit frei eintreten. Die aus der verschiedenen Lage und Fruchtbarkeit des Bodens sich ergebende Rente verschwindet hier nach Hertzka, weil die Genossenschaften, die einen besonders guten Boden haben, den größten Zulauf haben und sich ihr Ertrag daher unter mehr Mitgliedern verteilen muß als bei den minder günstig gestellten Genossenschaften. Ähnliche Gedanken vertrat Franz Oppenheimer (1864—1943) in seiner Schrift „Die Siedlungsgenossenschaft, Versuch einer positiven Uberwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage", Berlin 1898. Auch nach Oppenheimer muß das Privateigentum an Grund und Boden aufgehoben werden, da dies die Wurzel allen sozialen Übels ist. Nach Oppenheimer ist das volle, lebenslängliche, aber veräußerliche Nutzungsrecht am Boden anzustreben. Er schlägt zur Verwirklichung seines Planes die Entwicklung von Siedlungsgenossenschaften, d. h. von landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften vor. Der bekannteste Vertreter der Bodenreform war in Deutschland Adolf Damaschke (1865—1935), der im Jahre 1898 den „Bund deutscher Bodenreformer" gründete. In dem von ihm entworfenen Programm dieses Bundes hieß es: „Der Bund tritt dafür ein, daß der Grund und Boden, diese Grundlage aller nationalen Existenz, unter ein Recht gestellt werde, das seinen Gebrauch als Werk- und Wohnstätte befördert, das jeden Mißbrauch mit ihm ausschließt und das die Wertsteigerung, die er ohne die Arbeit des einzelnen erhält, möglichst dem Volksganzen nutzbar macht." Adolf Damaschke ist ein sehr fruchtbarer Schriftsteller gewesen. Außer zahlreichen Schriften hat er eine „Geschichte der Nationalökonomie", 1. A u f lage 1905,11. Auflage 1919, und ein Buch „Die Bodenreform", 1. Auflage 1902, geschrieben. 461

d) Kritik der Bodenreformer Engels hat in seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage" die klassenmäßigen Ziele der Bodenreformer am Beispiel des Proudhonisten Mühlberger aufgedeckt. Er h a t gezeigt, was hinter diesen „menschenfreundlichen" Bestrebungen w i r k lich steckt. „Wie ist n u n die Wohnungsfrage zu lösen?" f r a g t Engels und a n t w o r t e t : „In der heutigen Gesellschaft gerade wie eine jede andere gesellschaftliche Frage . . . : durch die allmähliche ökonomische Ausgleichung von Nachfrage und Angebot, eine Lösung, die die Frage selbst immer wieder von n e u e m erzeugt, also keine Lösung ist. Wie eine soziale Revolution diese Frage lösen würde, hängt nicht n u r von den jedesmaligen Umständen ab, sondern auch zusammen mit viel weitergehenden Fragen, unter denen die A u f h e b u n g des Gegensatzes von Stadt und Land eine der wesentlichsten ist. Da wir keine utopistischen Systeme f ü r die Einrichtung der künftigen Gesellschaft zu machen haben, w ä r e es mehr als müßig, hierauf einzugehen. Soviel a b e r ist sicher, daß schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, u m bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen .Wohnungsnot' sofort abzuhelfen. Dies k a n n natürlich n u r durch E x p r o priation der heutigen Besitzer resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehen, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, w i r d eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht a u s f ü h r b a r sein wie andere Expropriationen und E i n quartierungen durch den heutigen Staat." 1 ) U n d wie steht es mit der „radikalen" Forderung der kleinbürgerlichen Sozialisten, mit der Forderung der Nationalisierung des G r u n d und Bodens? Auf diese Frage hat Lenin im Anschluß an Marx schon die Antwort, gegeben! „Die Differentialrente k a n n bei Existenz kapitalistischer Produktionsweise nicht vernichtet werden", schreibt Lenin, „die absolute Rente dagegen kann es z. B. bei Nationalisierung des Bodens, bei Ü b e r f ü h r u n g des Bodens in Staatseigentum." 2 ) Aber Lenin f ü g t hinzu und gibt damit eine Kritik der bürgerlichen Bodenreformer: „Solche Ü b e r f ü h r u n g w ü r d e die U n t e r g r a b u n g des Monopols der Privateigentümer bedeuten, w ü r d e die konsequente, vollkommene D u r c h f ü h r u n g der Konkurrenzfreiheit in der Landwirtschaft bedeuten. Aus diesem G r u n d e sind auch, wie Marx vermerkt, radikale Bourgeois in der Geschichte zu wiederholten Malen mit dieser progressiven bürgerlichen F o r d e r u n g der Nationalisierung des Bodens aufgetreten, die jedoch die g r o ß e Mehrheit der Bourgeoisie abschreckt, da sie allzu nahe noch einem anderen,, A. a. O., S. 542. ) Lenin, Karl Marx, Eine Einführung, a. a. O., S. 50.

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in unserer Zeit besonders wichtigen und empfindlichen' Monopol ,auf den Leib rückt': dem Monopol der Produktionsmittel überhaupt." 1 ) Was also sind die Bodenreformer? Kleinbürgerliche Sozialisten, wie sie schon durch das „Kommunistische Manifest" gekennzeichnet wurden. Sie kritisieren den Kapitalismus, aber sie möchten selbst gern die kapitalistischen Produktionsverhältnisse aufrechterhalten. Sie sind dem Kapitalismus dadurch nie wirklich gefährlich geworden, im Gegenteil: sie waren seit je eine seiner Stützen!

2. Der „liberale" Sozialismus

Franz

Oppenheimers

Der Typus des „freien" Sozialisten ist Franz Oppenheimer (1864—1943), der sein System des „liberalen" Sozialismus an Ideen des nur durch seine Abfertigung durch Friedrich Engels in die Geschichte eingegangenen „Sozialisten" Eugen Dühring anknüpft. Oppenheimers Grundgedanke ist, daß die tatsächlich bestehende volle Okkupation des Bodens nicht durch wirtschaftliche Besiedlung erfolgt ist, sondern auf politisch rechtliche Sperrung zurückzuführen sei. Überall bei der Staatenbildung hätten Erobererklassen den Boden f ü r sich monopolisiert. Diese „ursprüngliche Bodenokkupation" ist die Ursache eines Klassenmonopolverhältnisses bis in die Gegenwart. Durch die Bodensperre, durch die politische Gewalt der Eroberer ist jedes Eigentum an produzierten Produktionsmitteln sekundäres Gewalteigentum, weil die Arbeiter gezwungen seien, zu einem „Monopollohn" zu arbeiten, der den Kapitalisten einen „Monopolgewinn" als Mehrwert lqsse. Das durch außerökonomische Gewalt, durch den auf Eroberung zurückzuführenden Staat — Oppenheimer nennt ihn das „politische Mittel" — geschaffene Kapitalverhältnis ist nur durch die A u f hebung der Bodensperre wieder zu beseitigen. Mit der Aufhebung der Bodensperre würde ein Zustand des Sozialismus eintreten, in dem nur Arbeitseigentum existiert. Es ist das System der wahren freien Konkurrenz. Zwei Wege wollte Oppenheimer f ü r die Rückkehr zur „freien" Konkurrenz, zur Überwindung der Bodensperre geben: Siedlung und Genossenschaften! Wie alle kleinbürgerlichen „Sozialisten" ist Franz Oppenheimer als V e r fechter des Privateigentums an den Produktionsmitteln ein entschiedener Gegner des Kommunismus! In seinem Buch „Weder so — noch so — der dritte Weg", Potsdam 1933, meint Oppenheimer, in einem Punkte seien sich „Kapitalisten" und „Kommunisten" einig: „Sie glauben und erklären beide, der Kapitalismus sei das System der freien Konkurrenz." 2 ) ') A. a. O., S. 50. ) A. a. O., S. 16.

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Aber Oppenheimer stellt befriedigt fest, daß es sich hierbei „zum G l ü c k . . . um die größte aller Täuschungen" handele. Es ist nicht wahr, daß die Menschheit nur die Wahl hat zwischen Kapitalismus und Kommunismus...') Natürlich! Es gibt ein Kleinbürgertum, das zwischen den beiden großen Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft steht — und es zeigt der Welt den „dritten Weg"! „Es ist nämlich nicht wahr", sagt Oppenheimer, „daß der Kapitalismus das System der freien Konkurrenz ist: es ist das genaue Gegenteil, es ist das System der gefesselten Konkurrenz. Die beiden Arten der Konkurrenz verhalten sich zueinander wie weiß und schwarz, wie Himmel und Hölle. Wenn der Kapitalismus die Ordnung der massenverderblichen Ungleichheit ist, so ist das System der freien, aber von ihrer Fessel befreiten Konkurrenz die Ordnung der vernunftgemäßen Gleichheit. Und das bedeutet: Gleichheit der Einkommen bei gleicher Leistung für die Gesellschaft, Abstufung der Einkommen lediglich nach der Verschiedenheit der Leistung für die Gesellschaft, mithin Fortfall jedes Großeinkommens aus reinem Besitz." 2 ) Das ist also die Lösung der „sozialen" Frage dieses „liberalen" Sozialismus: Herstellung der freien Konkurrenz. Unter der Herrschaft des auf die Bodensperre zurückzuführenden Kapitalverhältnisses erhält der Arbeiter vom Kapitalisten nicht den vollen Wert seiner Arbeit. Da zwei Gesellen einem Meister nachlaufen, kann der Kapitalist den Lohn unter den Wert der Arbeit drücken. Zerschlägt man aber die Bodensperre, so kann jeder Arbeiter selbst Warenproduzent werden, und es werden nun zwei Meister einem Gesellen nachlaufen, so daß der Kapitalist dem Arbeiter den vollen „Wert seiner Arbeit" zahlen muß. Damit aber lohnt es sich nicht mehr, Kapitalist zu sein, denn der Monopolpreis, der Oppenheimersche Mehrwert ist verschwunden! Der „Monopollohn" ist der volle Arbeitsertrag, vermindert um den „Monopolprofit"! Es sind vertraute Gedanken, die dieser „Haupttheoretiker" des „dritten" Weges produziert! Oppenheimer berechnet, daß die Erde 7 Milliarden statt 2 Milliarden Menschen ernähren könnte, wären sie alle kleine Warenproduzenten, die ihre Arbeitsleistung miteinander tauschen.3) Der Kapitalismus ist „eine schwere Gleichgewichtsstörung".4) Durch die Aufhebung der Bodensperre wird aber das Gleichgewicht wiederhergestellt. Im Jahre 1939 erschien in Leyden das letzte, von dem emigrierten Oppenheimer geschriebene Buch mit dem anmaßenden Titel „Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie". Hier heißt es: „Dieses Buch gipfelt in den kühn) ) 3) 4) 1

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A. a. O., S. 17. Ebd. Ebd., S..43. Ebd., S. 60.

sten aller Behauptungen. Es erklärt, die vollständige Lösung aller Probleme zu bringen, die der theoretischen Nationalökonomie aufgegeben sind, und damit auch der praktischen Lösung der sozialen Frage den sicheren Weg zu weisen, der zwischen der Skylla des kapitalistischen Imperialismus und der Charybdis des Bolschewismus zur Rettung unserer Kultur, ja unseres Lebens führt." Dieser „große Theoretiker" schrieb 1933: „Eine Theorie, die der Rede wert wäre, liegt weder dem Kommunismus noch den verschiedenen Richtungen des Faschismus zugrunde."1) Aber er setzte hinzu: „Mit unserem Nachweis, daß die Konkurrenz nicht abgeschafft oder gefesselt, sondern im Gegenteil entfesselt werden muß, sind Faschismus und Kommunismus abgetan. Sie kommen höchstens beide als politische Systeme des Ubergangs in Betracht, wenn es nötig sein sollte, die Fesseln gegen den Willen der Besitzenden zu zerbrechen."2) Aber dieser „große Theoretiker" des „dritten Weges" war auch ein genialer „Politiker". „Noch stehen, das wissen wir, die Millionen der Wähler und Wählerinnen der NSDAP stark unter dem Einfluß der Großagrarier und der Schwerindustrie", schrieb er 1933 und fügte in seiner Fußnote hinzu: „Das hat sich zwischen Niederschrift und Korrektur schon geändert."3) Blind gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit, war Franz Oppenheimer, wie alle kleinbürgerlichen Sozialisten, mit welchen Schlagworten und unter welchen Parolen sie auch auftraten, blind, weil durch kleinbürgerliche Vorurteile am Sehen gehindert. Franz Oppenheimers Kritik am Kapitalismus war scharf, aber völlig unfruchtbar, da sie seinen Boden nie verließ. Aber gerade deswegen sind seine Ideen auch in den opportunistischen Teil der deutschen Arbeiterbewegung eingeflossen. Sie wurden vertreten und werden vertreten von vielen Sozialdemokraten, von solchen Elementen, die ihre Aufgabe darin sehen, das Bewußtmachen der geschichtlichen Situation und der geschichtlichen Aufgabe zu verhindern. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatten die Oppenheimerschen Ideen, verbunden mit den Ideen des Rechtsphilosophen Leonard Nelson, eine eigene Organisation gefunden. Heute gehören ihre Träger zu den offiziellen Vertretern der SPD und stehen auf ihrem rechten Flügel.

3. Die

„Frei-Geld"-Bewegung

Zu den komischen Vertretern des kleinbürgerlichen Sozialismus gehört die auf Silvio Gesell zurückgehende, an Proudhon anknüpfende „Frei-Geld1

) Ebd., S. 96. ) Ebd., S. 97. 3 ) Ebd., S. 14. 2

30 Behrens

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Bewegung". In einer Arbeit über diese Richtung des kleinbürgerlichen Sozialismus heißt es: „Wenn Karl Marx der Prophet des Sozialismus genannt werden darf, dann darf Silvio Gesell der Prophet der freien Privatwirtschaft genannt werden. Und doch haben seltsamerweise wenige Geschäftsleute jemals von Gesell gehört; er ist von den orthodoxen Wirtschaftstheoretikern hartnäckig v e r nachlässigt worden, und keine Nation hat je seine Lehren in die Praxis umgesetzt. Dafür gibt es natürlich Gründe; nichtsdestoweniger mag einst der Tag kommen, w o man erkennen wird, daß dies eine der größten Ironien der Weltgeschichte war." 1 ) Es gibt auf jedem wissenschaftlichen Gebiet Käuze, deren Komik darin besteht, daß ihre Wichtigtuerei ihrer Unkenntnis umgekehrt proportional anwächst: die Konstrukteure des perpetuum mobile auf physikalischem Gebiet, die Weiße-Käse-Doktoren auf medizinischem Gebiet und die „Frei-Geld"Leute auf ökonomischem Gebiet. Daß häufig gewisse Trübungen der Denkfähigkeit die Ursache derartiger Ideen sind, zeigt allein schon die Tatsache, daß die sogenannten Geldreformer meistens auch gleichzeitig v o m Vegetarismus und von der Abstinenz von Alkohol und Nikotin nicht nur die seelische und moralische, sondern auch die materielle Besserung des sündigen Menschengeschlechtes erwarten. Das wäre selbstverständlich kein Grund, solche Leute in einer Geschichte der politischen Ökonomie zu behandeln, zumal sie es ja in der Regel — was die verschiedenen Abstinenzen betrifft — mit Heinrich Heine halten: „Himmlisch war's, wenn ich bezwang meine sündige Begier; aber wenn's mir nicht gelang, hatt' ich doch ein groß Pläsier." Aber diese komischen Käuze ökonomischer Observanz gehören mit ihren Sparren zu den ökonomischen Anschauungen und „Ideen", die von der kapitalistischen Basis hervorgebracht werden. Sie sind nicht nur Objekte von Psychotherapeuten, sondern müssen auch den politischen Ökonomen insofern interessieren, als ihre Anschauungen und „Ideen" auf die sie hervorbringende Basis zurückwirken. Nehmen wir also Silvio Gesell! Fangen w i r an mit der Frage, was Silvio Gesell alles ablehnt. Silvio Gesell ist gegen die durch Monopole verursachten Hemmungen und Einschränkungen, die der industriellen Entwicklung durch das Finanzkapital auferlegt wurden, um den Eigentümern der Industrie Knappheitsprofite zuzuschanzen, er ist gegen ein Wirtschaftssystem, welches rechtlich begründeten Interessen an Boden und Kapital gestattete, sich eines nicht erarbeiteten Einkommens zu erfreuen auf Kosten jener, die es erarbeitet hatten, er ist ') G. R. Walter, Silvio Gesell und die freie Privatwirtschaft, in: Die Gefährten, Lauf/Pegnitz, 1947, Mai, S. 153. 466

gegen die Sozialisierung und jegliche Form von geplanter oder staatlich gelenkter Wirtschaft. Silvio Gesell ist also, wenn wir alles in allem nehmen, gegen alles: gegen den Kapitalismus und gegen den Sozialismus. Wofür ist er? Silvio Gesell ist für die „wirtschaftliche Freiheit" — freien Zutritt zu den Rohstoffen, freien Wettbewerb und Freiheit des Marktes. Und er beschreibt die Bedingungen, unter welchen die wirtschaftliche Freiheit angeblich erreicht werden kann. Gesell ist für das Privateigentum an den Produktionsmitteln, für die Privatinitiative und für das Gewinnstreben. Wofür ist er also? Für den Kapitalismus! Einer seiner Anhänger, den ich bereits zitierte, drückt diese Tatsache etwas dramatischer aus. „Gesells Lehre von der freien Privatwirtschaft stand somit zwischen dem Sozialismus einerseits und dem orthodoxen Kapitalismus andererseits. Und da die Wirtschaftsgeschichte der vergangenen hundert Jahre Zeugnis abgelegt hat von einem gigantischen Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in welchem jede der beiden Wirtschaftsformen die andere als eine Art Tyrannei betrachtet, ist nicht überraschend, daß Gesell, der Tyrannei in jeder Form haßte, von beiden Seiten entweder mißbraucht oder ignoriert wurde." 1 ) Da Walter die Ansichten von Gesell mit so ungewolltem Humor wiedergibt, daß meine trockene Darstellung nur seine langweiligen Ansichten noch langweiliger erscheinen lassen würde, folge ich Walter. Gesells Antworten seien vernünftig, einfach und klar, meint Walter. Und doch sind sie weitgehend falsch ausgelegt worden. „Um sie zu verstehen, muß man entweder eine gewisse einfache Denkweise oder die Einsicht eines Philosophen besitzen." Gesell entdeckte, daß die klassischen Nationalökonomen sich in ihren Ansichten über die Natur des Geldes irrten, und Geld sei eine gefährliche Sache, wenn man nur wenig Kenntnis auf diesem Gebiet besitze. Geld sei eine Art Macht (die Macht, materielle Wünsche zu befriedigen), die leidenschaftlich von den Menschen erstrebt wird. Es sei daher nur natürlich, daß die verschiedenen Geldtheorien, wie die Theorien über Gott, verwickelt und widersprechend sind und leidenschaftlich verteidigt werden. Das Studium des Geldes werde manchmal eine Wissenschaft genannt, aber in Wahrheit ähnele es mehr einer Theologie. Es sei ein Labyrinth von verwickelten Lehrmeinungen, und es sei vollkommen richtig, wenn gesagt werde, daß man klarere Vorstellungen vom Geld hat, bevor man das. Labyrinth betritt, sich auf genaue Beobachtungen und den gesunden Menschenverstand verläßt, oder nachdem man das Labyrinth verlassen hat, als wenn man sich mit dem Gefühl der Verlorenheit mitten in dem Labyrinth befindet. ') Ebd. 30*

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Denjenigen, welche sich nicht als „Währungsfachleute" betrachten, wird daher von diesem — mit Verlaub gesagt — Ökonomen der Gesellschen Theorie angeraten, daß sie sich beim Lesen ruhig auf ihren gewöhnlichen gesunden Menschenverstand verlassen sollten! Die kapitalistischen Wirtschaftstheoretiker glaubten zunächst (und Karl Marx stimmte nach Auffassung unseres Gewährsmannes darin mit ihnen über ein), daß Geld entweder aus einem wertvollen Stoff, wie Gold oder Silber, bestehen müsse oder aus einem Ersatz, wie Papiergeld, das durch einen wertvollen Stoff gedeckt und in einen solchen umtauschbar sein müßte. Gesell stritt das ab und vertrat, wie G. F. Knapp, daß der Wert des Geldes nicht abhängig sei von dem Stoff, aus dem es hergestellt wird, sondern daß es einen Wert habe, weil es eine notwendige wirtschaftliche Funktion erfülle. In einer modernen Wirtschaft mit weitgehender Arbeitsteilung sei der Tausch von Waren gegen Ware undurchführbar. Alle Waren und Dienstleistungen, die auf dem Markt zum Verkauf angeboten werden, stellten eine Nachfrage nach Geld dar, und diese Nachfrage sowie der Umstand, daß die moderne Wirtschaft nicht ohne ein Tauschmittel durchgeführt werden könne, sind es, die dem Gelde einen Wert verleihen. Gesell meint weiter, die zwei Funktionen des Geldes, nämlich als Tauschmittel zu dienen und als „Wertaufbewahrer", seien nicht miteinander vereinbar. Es sei klar, daß, wenn alles Geld als „Wertaufbewahrer" benutzt würde, kein Geld mehr für Tauschzwecke vorhanden sei und das ganze Wirtschaftsleben zu Stillstand kommen müsse. Werde Geld aus dem Verkehr gezogen und gehortet, dann müssen entweder die Preise heruntergezwungen oder das Wirtschaftsvolumen verkleinert werden. Das bedeutet Arbeitslosigkeit und Krise. Gesell folgerte daher, wolle man Depressionen vermeiden, müsse man darauf bestehen, daß das Geld nur als Tauschmittel gebraucht wird. Wollen Leute „Werte aufbewahren", sollten sie nicht Geld horten und dadurch die Nachfrage nach Industrieprodukten schmälern, sondern haltbare Güter kaufen oder ihr Geld in neuen Fabriken und Maschinen anlegen. Sowohl kapitalistische als auch sozialistische Wirtschaftstheoretiker gingen von der Annahme aus, so stellt Gesell fest, daß Geld und Ware Äquivalente seien, da Geld gegen Güter und Güter gegen Geld ausgetauscht werden könnten. Gesell behauptet, daß dem nicht so sei. Er weist darauf hin, daß das Geld der einzige Faktor im Produktionsprozeß sei, der kostenlos beliebig lange vom Markte zurückgehalten werden kann. Waren rosten, verrotten, schwinden oder werden unmodern, und wenn sie aufbewahrt werden, verursachen sie Lagerspesen, Versicherungskosten und Steuern. Brachland wird besteuert. Stilliegende Fabriken verursachen Kosten für Steuern, Versicherung und Instandhaltung. Und wenn die Arbeiter müßiggehen, müssen sie und ihre Familien bald an Entbehrungen leiden. Aber Geld, das müßig im Auszug des Kontorpultes oder in der Bank liegt, kostet keinerlei Aufbewahrungsgebühr oder Versicherung; es verrostet nicht, verdirbt nicht, schwindet 468

nicht und wird nicht unmodern; es wird nicht hungrig und wird nicht besteuert. So hat der Besitzer vom Geld, der es nicht notwendigerweise ausgeben muß, einen besonderen Vorteil gegenüber demjenigen, der Waren und Dienstleistungen zum Verkauf anbietet: er kann warten, bis das Geschäft zu den von ihm gewünschten Bedingungen gemacht wird. Wenn das Geld seine Tauschfunktion wirksam erfüllen soll, sagt Gesell, dann sollte es auch die gleichen Eigenschaften der Waren haben, gegen die es getauscht werden soll. Waren und Geld sind nur dann Äquivalente, wenn keines von beiden kostenlos vom Markte zurückgehalten werden kann. Diejenigen, welche Geld horten, sollen deshalb in der gleichen Weise bestraft werden, wie jene, welche Waren horten oder ihre Arbeitskraft zurückhalten, jetzt bestraft werden. Nachdem Gesell seine Ideen über die Natur und Funktion des Geldes entwickelt hat, erklärt er uns auch, warum die Wirtschaftsentwicklung viel mehr durch abwechselnde Konjunkturen und Krisen charakterisiert ist als durch eine ständige Ausweitung der Industrie und warum die Zinssätze keinerlei Tendenz aufweisen, nach unten zu gehen und unten zu bleiben. Eine Konjunktur hält solange an, sagt er, bis es den Investierenden klar wird, daß eine weitere Ausweitung der Industrie eine „Überproduktion" verursachen würde sowie ferner eine gesteigerte Nachfrage nach Arbeitskräften und höhere Löhne, größere Konkurrenz und niedrigere Preise und schließlich eine absinkende Gewinnspanne. Wenn dieser Punkt erreicht ist, sehen diejenigen, welche Kapitalgüter besitzen oder kontrollieren, keinen befriedigenden Ertrag mehr von Neuinvestitionen voraus; sie sehen daher von weiteren Investierungen ab und lassen ihr Geld müßig liegen. Sie können natürlich an der Börse oder am Grundstücksmarkt spekulieren, wie das am Ende der zwanziger Jahre der Fall war; aber sie hören auf, ihr Geld in neuen Häusern, Hotels, Geschäftsgebäuden und Fabriken aller Art anzulegen. Die Folgen sind Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsniedergang. Der Grund dafür, sagt Gesell, daß die Kapitalisten in der Lage sind, die Ausweitung der Industrie periodisch zu unterbrechen, liegt darin, daß sie das Vorrecht genießen, ihr Geld kostenlos zurückzuhalten. Und dieses gleiche Vorrecht ist auch der Grund dafür, daß die Zinssätze niemals unten bleiben. Wenn die Zinssätze unter den Punkt fallen, den die Kapitalisten als zufriedenstellend ansehen, hören sie einfach auf, Geld auszuleihen, und sie warten, bis die Zinssätze sich wieder aufwärts bewegen. Und wenn die Regierung nicht eingreift, gehen sie zwangsläufig auch einmal wieder nach oben. Löhne können nicht bezahlt werden, Güter können nicht verkauft werden, und keinerlei Umsatztätigkeit ist möglich ohne ein Tauschmittel. Und deshalb sind diejenigen, welche in nennenswertem Umfange gespart haben, in der Lage, zu sagen, und sie sagen es auch tatsächlich: „Mit unserem Gelde könnt ihr kein Geschäft machen, wenn ihr uns nicht einen Zinssatz bezahlt, den wir als befriedigend betrachten. Und denkt daran, wir können aushalten, solange 469

wie wir wollen, denn es kostet uns nichts, unser Geld müßig auf der Bank liegen zu lassen." Gesell hat also absolut nichts dagegen einzuwenden, daß die Geldbesitzer einen Gewinn mit ihrem Gelde erzielen. Wenn sie ihr Geld nutzbringend ausleihen oder anlegen können, sollen sie dazu auch berechtigt sein, und es sollen ihnen alle Profite zustehen, die sie auf diese Weise machen können. Hatte Gesell nicht selbst Gewinn erzielt und sich mit einem ansehnlichen Vermögen zurückgezogen ? Gesell nimmt Stellung nur dagegen, daß sich die Kapitalisten — wie er sagte — einfach weigerten, am Wirtschaftsablauf teilzunehmen, wenn sie keine gewinnbringenden Anlagen für ihr Geld finden oder ihr Geld nicht zu einem zufriedenstellenden Zinssatz ausleihen konnten. Sie treten in den Streik, genauso wie die Arbeiter, die eine Fabrik verlassen. Aber im Gegensatz zu den Arbeitern erleiden die Kapitalisten keinerlei Strafe. Sie können ihr Geld träge liegen lassen und die ganze Wirtschaft in die Depression treiben — und nicht einmal deswegen getadelt werden. Dennoch will Gesell ihnen das Recht auf Streik nicht absprechen. Aber er sagte, daß es sie etwas kosten solle, wenn sie streikten. Kurzum, ihr nicht umlaufendes Geld sollte besteuert werden. Und dann würden sich Kapitalisten, Arbeiter, Bauern, Fabrikbesitzer und Geschäftsleute alle in dem gleichen Boot befinden: sie würden bestraft werden, wenn sie ihren Arbeitsplatz verließen. So will Gesell Krisen verhindern, so will er die Fragen lösen, die seit vielen Jahrzehnten die Menschheit beunruhigten: die Verelendung der großen Masse der kapitalistischen Völker, die Bereicherung eines immer kleineren Teiles! John Maynard Keynes hat Gesell in seinem Buch „Allgemeine Theorie der Beschäftigung usw." mehrere Seiten gewidmet und festgestellt, daß das grundlegende Prinzip der Gesellschen Lehre vom Gelde richtig sei. „Die Zukunft", meinte Keynes, „wird mehr von dem Geiste Gesells lernen als von dem Geiste Marx'" — was weiter nichts beweist, als daß der führende Wirtschaftstheoretiker des bürgerlichen Lagers auf dem Niveau der Vulgärökonomie angelangte. Das wird uns auch noch in anderem Zusammenhange bestätigt werden! Aber das darf uns nicht davon abhalten, die gesellschaftliche Bedeutung solcher „Theorien" zu beachten. Sie wurde schon im „Kommunistischen Manifest" ausgesprochen: „Schutz der bürgerlichen Produktionsverhältnisse!" „Freiland — Freigeld" — unter dieser Parole haben sich eigene Organisationen und Parteien gegründet, die trotz ihrer phantastisch anmutenden Ideen zahlreiche Menschen anlockten. Das ist ihre gesellschaftliche Funktion, und dabei meinte auch Keynes, daß die Zukunft mehr von Gesell als von Marx lernen sollte. Es ist sein Wunsch, weil für den Kapitalismus notwendig, wenn er in seiner allgemeinen Krise bestehen will! Wenn für den kleinbürgerlichen Sozialismus allgemein gilt, 470

d a ß sein Horizont u n d Wollen beschränkt ist, so zeichnen sich die Anhänger der charakterisierten Richtung im besonderen dadurch aus, daß ihre Beschränktheit unbegrenzt ist.

4. Der „dritte" Weg der „freien"

Sozialisten

Seit der Sozialismus in der UdSSR gesiegt hat, hat die bürgerliche und kleinbürgerliche Kritik am Sozialismus ihre Methode geändert. W ä h r e n d bis dahin diese Kritik sich nachzuweisen bemühte, daß der Sozialismus mit der „ewigen" u n d „unveränderlichen" N a t u r des Menschen unvereinbar sei, daß der Sozialismus dem Wesen des Menschen zutiefst widerspräche und daß er aus diesem G r u n d e unmöglich sei, versucht diese gleiche Kritik n u n zu beweisen, nachdem der Sozialismus in einem Lande Wirklichkeit geworden und in anderen Ländern vor der Verwirklichung steht, daß es sich hier ja gar nicht u m Sozialismus handele! Sozialismus sei etwas ganz anderes als das, was hier geschichtliche Wirklichkeit geworden oder geschichtliche Wirklichkeit zu werden im Begriffe ist! Die bürgerliche Welt sieht sich durch die allgemeine Krise des Kapitalismus nicht n u r in ihrem materiellen Bestand, sie f ü h l t sich durch die Wirklichkeit des Sozialismus in der UdSSR u n d in den Ländern der Volksdemokratie auch in ihrer geistigen Existenz bedroht. Die geschichtliche Entwicklung hat ihr sehr handgreiflich bewiesen, daß der Kapitalismus in der Tat n u r „transitorischen" Charakter h a t und daß die neue, die sozialistische Produktionsweise sehr wohl geeignet ist, ihre geschichtliche Mission, die gesellschaftlichen P r o d u k t i v k r ä f t e auf ein in der bisherigen Entwicklung nicht f ü r möglich gehaltenes Niveau zu heben, zu verwirklichen. Angst u n d Sorge vor der Z u k u n f t erfüllt daher die Herzen, u n d die bürgerlichen Ideologen bringen sie in ihren „Systemen" zum Ausdruck. Zur großen B e r u h i gung der so arg in ihrem Selbstbewußtsein und ihrem Glauben an die Unerschütterlichkeit ihrer besten aller Welten erschütterten Bürger u n d Kleinbürger v e r k ü n d e n diese Ideologen nun, daß der Kapitalismus ja eigentlich gar nicht m e h r existiere, ja — bei Lichte betrachtet — eigentlich nie existiert habe und daß er infolgedessen auch nicht ü b e r w u n d e n zu w e r d e n brauche. 1 ) Und das, w a s in der UdSSR geschehe, v e r k ü n d e n sie weiter, existiere ebenfalls nicht, u n d somit es existiere, sei nichts Neues, sondern als „zentralgeleitete Verwaltungswirtschaft" mindestens schon bei den alten Pharaonen dagewesen. 2 ) Daß die „umwälzende Praxis" der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der darauf folgenden J a h r z e h n t e nicht n u r völlig neue Produktionsverhältnisse, sondern auch neue Menschen schuf, das zu begreifen sind alle diese Ideologen von ihrem gesellschaftlichen S t a n d p u n k t x ) So schreibt Walter Eucken in seinen „Grundlagen der Nationalökonomie", 4. Aufl., 1944, daß der Kapitalismus ein „wissenschaftlich unbrauchbarer Begriff" sei. (S. 74 f.) 2 ) Vgl. ebenfalls Eucken, a. a. O., S. 97 f.

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aus unfähig. Unfähig, die Zusammenhänge zu begreifen, die den einzelnen mit dem gesellschaftlichen Geschehen unserer Tage verknüpfen, sind sie außerstande, der Menschheit einen Weg in die Zukunft zu zeigen. Das Programm des „freien" Sozialismus ist daher im Grunde interessanter durch das, was es ablehnt, als durch seine eigene „Idee" des Sozialismus. Allerdings gibt es auch „Theoretiker", die die Kritik am Sozialismus „tiefer" zu fundieren versuchen, indem sie sich der marxistischen Terminologie dabei bedienen. Hierzu gehört Paul Sering mit seinem Buche „Jenseits des Kapitalismus." 1 ) Paul Sering nennt seine Schrift im Untertitel „Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung". Die „Sozialisten", die mit ihm auf dem Boden seiner Auffassungen stehen, haben sich in der Tat „neu orientiert". Sie haben einen anderen Weg und ein anderes Ziel als die revolutionären Sozialisten gewählt — wobei sich allerdings bei näherem Zusehen ergibt,.daß die „neue" Orientierung gar nicht neu, sondern das Ergebnis der alten antisozialistischen Orientierung der Bernstein und David, des Revisionismus, ist. „Von den Reformisten und Revolutionären der alten Arbeiterbewegung konnte gesagt werden", meint Sering, „daß sie im Ziele einig und nur über den Weg verschiedener Meinung waren. Von Sozialdemokraten und Kommunisten gilt das nicht.. ."2) Wege und Ziele sind verschieden. Sering irrt nur in dem, was er von den „Reformisten und Revolutionären" der alten Arbeiterbewegung sagt. „Die Kommunisten als Partei der totalitären Diktatur wollen etwas prinzipiell anderes als die Parteien des demokratischen Sozialismus." 3 ) „Kommunisten und Sozialdemokraten", heißt es an einer anderen Stelle, sind „grundverschieden im Ziel."4) Nur die „neu" orientierten Sozialisten halten nach Sering das Banner des Sozialismus noch aufrecht. Die Kommunisten haben es sinken lassen. Was heißt das? Das heißt, daß die „neu" orientierten Sozialisten nicht mehr das alte Ziel der sozialistischen Arbeiterbewegung haben: die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhende kommunistische Gesellschaft, deren erste Phase in der UdSSR bereits verwirklicht ist, sondern daß sie einen „Sozialismus" nach Bernstein und David, nach Oppenheimer und Gesell wollen, d. h. einen „Sozialismus" ohne Sozialismus. Sering ist gut unterrichtet über den Stand der modernen bürgerlichen Soziologie und macht reichhaltigen Gebrauch von ihren Resultaten für seine Zwecke. Dabei hat er mit ihren Argumenten gegen den Sozialismus auch ihren Glauben an die Unvermeidlichkeit der Klassengesellschaft übernommen. *) Paul Sering, „Jenseits des Kapitalismus". Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung, Lauf bei Nürnberg, 1946. 2 ) Ebd., S. 245 (von mir gesperrt, F. B.). 3 ) Ebd., S. 245. 4 ) Ebd., S. 246. 472

Da der Sozialismus in der UdSSR bereits gesellschaftliche Wirklichkeit geworden ist, kann man seine Unmöglichkeit a priori natürlich nicht mehr behaupten. Man muß daher zu „beweisen" versuchen, daß das, was in der UdSSR existiert, kein Sozialismus ist, daß Sozialismus entweder n u r im Kopfe der „neuorientierten" Sozialisten oder — im imperialistischen England existiert! Die Idee dieses n u r im Kopfe, d. h. in der Einbildung existierenden „reinen", unbefleckten Sozialismus und die Idee des „Labour-Sozialismus", dazu die entsprechenden Argumente aus dem Arsenal der Antisowjethetze — selbstverständlich alles streng „wissenschaftlich" und marxistisch getarnt: und das „neue" Ziel kann angesteuert werden! Die „neue" Theorie als Kompaß f ü r die „neuorientierten" Sozialisten ist gefunden! „Die Abschaffung der Klassen kann", schreibt Sering, „soviel wir heute sehen können, nicht bedeuten, daß die berufliche Arbeitsteilung aufgehoben wird." 1 ) Die berufliche Arbeitsteilung, die Spezialisierung durch die „Verwissenschaftlichung der Produktion" vielmehr hat, wie Marx angeblich annahm, nicht abgenommen, sondern sich vertieft. Und diese dem Spätkapitalismus eigentümliche Entwicklung f ü h r t zur Ausbildung einer „bürokratischen Hierarchie", die Sering zum Merkmal einer besonderen Produktionsweise macht. „Die Tendenz zur Herausbildung einer beruflichen Hierarchie ist somit der modernen Produktion ebenso immanent wie dem modernen Staat." 2 ) Die kapitalistische Produktionsweise, wie sie Marx und die Marxisten theoretisch untersuchen, ist nach Sering bereits überwunden und durch eine neue Produktionsweise abgelöst worden. „Wir wiederholen es noch einmal: die Ersetzung der kapitalistischen Marktwirtschaft durch ein staatlich geplantes Wirtschaftssystem, die Marx vorausgesagt hatte, ist in unserer Zeit zur Tatsache geworden." 3 ) Aber die kapitalistische Marktwirtschaft ist nicht durch die sozialistische Planwirtschaft, sondern „durch nichtsozialistische Plansysteme, durch Plansysteme unter Beibehaltung des monopolkapitalistischen Eigentums" in Europa und den USA und eine neue „hierarchische" Produktionsweise in der UdSSR abgelöst worden. Was Marx erwartete, sei nicht eingetreten und kann auch, nicht eingetreten sein, weil Marx hier Utopist war. Nach Marx würde „die klassenlose G e s e l l s c h a f t . . . erreicht sein, wenn es nicht mehr auf der einen Seite Kanalräumer und auf der anderen Generaldirektoren gäbe" — wie z. B. in der UdSSR —, „sondern wenn jedes Mitglied der arbeitenden Gemeinschaft verpflichtet wäre, zeitweise die Funktionen des Kanalräumers, und befähigt wäre, zeitweise die Funktionen des Generaldirektors auszuführen". 4 ) Und wenn Marx auch nicht angenommen habe, daß sich diese „klassenlose" Gesellschaft schon unmittelbar nach dem Sturze des Kapitalismus verwirklichen lasse -— „die technische Seite der Entwicklung Ebd., S. 66. ) Ebd., S. 68. 3 ) Ebd., S. 66. 4 ) Ebd., S. 67. 2

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mindestens würde schon im Kapitalismus" in diese Richtung weisen. Doch fügt Sering — bedauernd? — hinzu, daß es „heute wohl unbestritten" sei, „daß die technische Entwicklung nicht in dieser Richtung gegangen ist". 1 ) Die „gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung" geht, wie Sering vielmehr zusammen mit „vielen kritischen Beobachtern" feststellt, „in der Tat auf die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht durch eine sozialistische oder klassenlose Gesellschaft, sondern durch eine neue Klassengesellschaft hinaus — die Herrschaft der Bürokraten oder der ,Manager' ", 2 ) Diese Herrschaft der Bürokratie, die „Produktionshierarchie" des Monopolkapitalismus, führt also zu einer neuen Produktionsweise, die weder kapitalistisch noch sozialistisch ist. Der Monopolkapitalismus schlägt um in den „Plankapitalismus". Die staatliche Planung, getragen von dem „Manager", wird zu einer Lebensnotwendigkeit schon für den Kapitalismus. „Das unentbehrliche Organ für die Steuerung der hierarchisch organisierten Produktion ist staatliche Planung." 3 ) Und die Bürokratie, die diese staatliche Planung vollzieht, ist nicht mehr kapitalistisch gebunden, sondern eine Wirkung von Marx nicht gesehener oder falsch interpretierter technischer Entwicklung, die neue herrschende Schicht der neu entstandenen „hierarchischen" Produktionsweise. „Die Masse des Beamtenpersonals ist in den demokratischen Ländern heute gewerkschaftlich organisiert." Diese neue Produktionsweise, schreibt Sering, erzeuge eine „neue soziale Schichtung. An Stelle der funktionslos gewordenen Eigentümer tritt als neue Oberschicht die funktionelle Hierarchie der Produktionsweise." 4 ) Das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln hört „im Rahmen des neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsaufbaues" auf, ein „entscheidendes Produktionsverhältnis zu sein". 5 ) Der Staat, die Bürokratie also, die „Manager", „steuern die Produktivkräfte im großen", und diese „neue Form des organisierten gesellschaftlichen Zusammenhangs schiebt neue Motive menschlichen Handelns in den Vordergrund". 6 ) Diese neue hierarchische Produktionsweise, „die wir in der Welt von heute allenthalben sich herausbilden sehen, ist doch nicht der Sozialismus, die klassenlose Gesellschaft". Sie enthält zwar die Möglichkeit, zur sozialistischen Entwicklung, aber Wirklichkeit ist diese Möglichkeit heute noch nirgends geworden. Im imperialistischen England mit seiner Verstaatlichung im Rahmen des bürgerlichen Staates sieht Sering die günstigsten Ansätze, aus der Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Aber die Entwicklung kann auch in der „hierarchischen Produktionsweise" steckenbleiben! So stehen drei Wege vor der Menschheit: „Der Weg der kapitalistischen Planung >) 2) 3) 4) 5) 6)

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

67. 68. 204. 205. 204 (von mir gesperrt, F. B.). 206.

mit der Tendenz zum Faschismus und Krieg, der Weg der bürokratischen Planung durch eine totalitäre Diktatur und der Weg des demokratischen Sozialismus." 1 ) „Die englische Arbeiterregierung ist zweifellos bestimmt, die entscheidende Probe aufs E x e m p e l . . . zu werden . . . sie führt im Programm einschneidende Enteignungsmaßnahmen und langfristige Planung durch •—• unter voller E r haltung der Rechte der Konservativen Opposition.. ,", 2 ) denn es ist „für den Charakter der Planung nicht entscheidend, ob die Enteignung der Monopolkapitalisten mit oder ohne Entschädigung erfolgt!" Ich wies schon darauf hin: Sering bedient sich der Ergebnisse der modernen bürgerlichen Soziologie, die an die Stelle der Theorie der Klassenschichtung die Theorie der Eliten setzt. „Die Differenzierung des materiellen Besitzes ist inzwischen nicht nur weniger scharf, sondern für die gesellschaftliche Schichtung immer bedeutungsloser geworden", heißt es in einem B e richt über den Achten Deutschen Soziologentag im September 1946 in Frankfurt am Main. Der letzte Grund aller sozialen Gefahren liegt nach dieser „Soziologie" nicht in der Differenzierung des Besitzes, sondern in der Bildung. Aber „keine Gesellschaft kann ohne vertikale Gliederung existieren". Sering stellt sich völlig auf den Boden solcher Ergebnisse. Und da — stellt Sering fest — im Monopolkapitalismus die berufliche Arbeitsteilung nicht ab-, sondern zugenommen hat, und da außerdem im Monopolkapitalismus — aus den Marxisten durchaus bekannten und geläufigen Gründen — die staatliche Bürokratie ebenfalls zugenommen hat und diese staatliche Bürokratie die produktiven Kräfte des Kapitalismus „lenkt", ist die vertikale Gliederung eine für jede Gesellschaftsordnung notwendige Erscheinung, die den Ansatzpunkt für eine neue horizontale Gliederung der Gesellschaft in der „hierarchischen" Produktionsweise des „Plankapitalismus" und der UdSSR darstellt. Das Thema ist das gleiche: Das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln hat aufgehört, „ein entscheidendes Produktionsverhältnis zu sein", und daher ist der Monopolkapitalismus nicht mehr kapitalistisch, die UdSSR aus dem gleichen Grunde aber eine Klassengesellschaft. Die „Manager", die „Lenker" der Produktivkräfte, die „Planer" im Monopolkapitalismus und in der UdSSR sind die neue herrschende Schicht. Sie sind die „politische Elite", und es kommt nur „darauf an, die Prinzipien der Elitenbildung zu ändern", zu verhindern, wie Gerloff auf dem Achten Deutschen Soziologentag ausführte, „daß der Wechsel der Eliten nicht bloß einem Wandel der Eliten gleichkommt. Die gesellschaftliche Führungsschicht wird ihre Macht mißbrauchen, wenn sie nicht kontrolliert wird." Und auch darin stimmt Sering mit der bürgerlichen Soziologie voll überein, daß das beste Mittel, diese jeder künftigen Gesellschaftsordnung wesensnotwendige Schicht der „Manager", also der Elite, zu kontrollieren, die bürgerliche Demokratie ist. Die Sowjet') Ebd., S. 246. Ebd., S. 188.

2)

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demokratie, der vollendete Ausdruck der Herrschaft der Werktätigen und ihrer Selbstverwaltung ist nach Sering und des bürgerlichen Soziologen Meirung völlig ungeeignet. Warum? Weil sie im Gegensatz zur bürgerlichen Demokratie nicht nur formelle, sondern materielle Demokratie ist und daher auch mit solchen Maßnahmen Ernst gemacht hat, die dazu führten, daß das kapitalistische Eigentum nicht mehr das „entscheidende Produktionsverhältnis ist". So wie die angeführten Auffassungen Serings also im Grunde nur auf eine getarnte Verteidigung des „natürlichen", d. h. ewigen Charakters der Klassengesellschaft auf der Grundlage der Verwechslung der beruflichen Arbeitsteilung und der ökonomischen Klassenschichtung hinauslaufen, also auf eine Verleugnung des sozialistischen Charakters der UdSSR, so ist auch seine Konstruktion eines „Plankapitalismus" im Grunde weiter nichts als eine Verwischung des Wesensunterschiedes von Kapitalismus und Sozialismus. Während im Kapitalismus die produktiven Kräfte gelenkt werden durch den Preis- und Profitmechanismus, nach den Erfordernissen des Mehrwertgesetzes, werden in der sozialistischen Planwirtschaft die Produktivkräfte durch die Organe der Gemeinschaft aller Produzenten bewußt so eingesetzt, daß die gesellschaftlichen Bedürfnisse maximal befriedigt werden. Es ist also kein Zufall, daß Sering mit seiner Kritik des Sozialismus auf einer Ebene steht mit dem Neo-Liberalen Wilhelm Röpke, der schreibt, daß der „moderne Sozialismus... um so fruchtbarer werden kann, je mehr er sich von der marxistischen Erbschaft b e f r e i t . . . " Diese „Befreiung" des Sozialismus von der „marxistischen Erbschaft", die bei den „freien" Sozialisten deshalb gar nicht erst erforderlich war, weil sie den Marxismus nie verstanden, besteht bei den „neuorientierten" Sozialisten darin, daß sie eine reaktionäre Utopie aufstellen. Aus den Theoretikern einer „unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung", deren Sätze — wie es im „Kommunistischen Manifest" heißt — „nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes" sind, werden diese „neuorientierten" Sozialisten zu Ideologen, zu Weltverbesserern, denen die Wirklichkeit zu unvernünftig ist, weil sie ihre Vernunft nicht entdecken können. So liegt es völlig auf der gleichen Ebene, wenn Röpke vom „modernen" Sozialismus verlangt, daß er „den schrecklichen Gedanken aufgibt, daß die soziale Frage ein Rechenexempel oder eine Aufgabe der Behördenorganisation sei", und wenn Sering schreibt, daß „die Emanzipation des Menschen von wirtschaftlicher Ausbeutung von der Herrschaft einer unkontrollierten Elite und von der Sklaverei der Notwendigkeit, sich sein Stück Brot Stück f ü r Stück zu „verdienen", zusammenfällt. Es ist zu verstehen, daß es f ü r den Neo-Liberalen Röpke ein „schrecklicher Gedanke" ist, daß die soziale Frage vom Staat der Arbeiter und Bauern ohne Mithilfe, ja gegen den Willen der alten „Elite" gelöst wird, und interessant ist zweifellos nur, daß auch die „Neuorientierten" diesen Gedanken als 476

„schrecklich" empfinden. Sie dokumentieren damit nur ihren wahren gesellschaftlichen Standpunkt auf andere Weise erneut. Denn diese „unkontrollierte Elite" — das soll die „neue herrschende Schicht" im Sozialismus sein, gegen welche auch Röpke sich wendet, die Produktionshierarchie, „die Manager". Die gemeinsame Front der „freien", der „neuorientierten" Sozialisten und der Neo-Liberalen wendet sich also gegen den „wirklichen" Sozialismus. Was ist der Sinn solcher „Theorien" eines „dritten" Weges? Ihr Sinn ist die Spaltung der Arbeiterklasse als Voraussetzung dafür, dem sterbenden Kapitalismus eine weitere Frist zur Ausbeutung der Arbeiterklasse und Ruinierung der Mittelschichten zu geben. Serings Schrift ist die ideologische Grundlage für die Aufrechterhaltung der Spaltung der Arbeiterklasse durch die rechten Sozialdemokraten. Sie dient der Rechtfertigung der Aufrechterhaltung dieser Spaltung und des Verrates der Interessen der Arbeiterklasse durch die rechten Sozialdemokraten. „Die Tatsache", schreibt Sering, „daß in wichtigen Ländern, in denen der Kampf um den Sozialismus auf der Tagesordnung steht, die Anhänger der Arbeiterbewegung von zwei Parteien grundsätzlich verschiedenen Charakters einander streitig gemacht werden, ist ein schweres Hemmnis für die Erreichung des sozialistischen Zieles. Aber dieses Hemmnis kann nicht durch die Vereinigung von Kräften, die dieses Ziel verfolgen, mit solchen, die tatsächlich ein anderes anstreben, beseitigt werden." 1 ) Dieses Hemmnis kann in der Tat nur dadurch beseitigt werden, daß die Werktätigen die gesellschaftliche Funktion solcher antikommunistischer Theorien immer besser verstehen und sich unter dem Banner des revolutionären Sozialismus, des Marxismus-Leninismus, zusammenschließen. Der Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, das Fortschreiten auf dem Wege zum Kommunismus sowie der erfolgreiche Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in den Ländern der Volksdemokratie, in denen der volksdemokratische Staat erfolgreich die Aufgaben der Diktatur des Proletariats erfüllt, zeigen immer deutlicher die Wahrheit und Lebenskraft der Ideen des Marxismus-Leninismus. Die „Theoretiker" des „dritten" Weges seit Bernstein haben dagegen die Interessen der Arbeiterklasse und des Sozialismus unzählige Male verraten. Heute sind die rechten Sozialdemokraten bereits ganz offen in das Lager der USA-Imperialisten, dieser ärgsten Feinde des deutschen Volkes, und ihres deutschen Beauftragten, Adenauer, eingeschwenkt. Sie haben bereits jede Tarnung fallen gelassen, sie wollen derartige „Theorien", wie sie Sering aufstellte, nicht mehr. „Es ist unzutreffend, wenn behauptet wird, die Sozialdemokratie sei Anhänger der Planwirtschaft und damit Gegner des freien Wettbewerbs", erklärte Ollenhauer ganz offen im Bonner Bundestag und fügte hinzu: >) Ebd., S. 246. 477

„Die Sozialdemokratie fordert wirksame Maßnahmen zur Sicherung dieses Wettbewerbs, die gleichzeitig der Steigerung der Produktivität und der Ausdehnung unserer Wirtschaft dienen müssen." 1 ) Ollenhauer spricht also ganz offen von der kapitalistischen Wirtschaft als „unserer Wirtschaft"! Damit sind die rechten Sozialdemokraten am Ende ihres Weges angelangt: Von Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung wurden sie zum „linken" Flügel der Bourgeoisie selbst, zu offenen Verteidigern des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Das wurde im Juli 1951 in F r a n k f u r t am Main ausgesprochen, als man den dritten Versuch der bereits zweimal verschiedenen II. Internationale unternahm. Dort wurde ein Beschluß über „Ziele und Aufgaben des demokratischen Sozialismus" gefaßt, in dem die ideologische Versumpfung der rechten sozialdemokratischen Führer klar in Erscheinung tritt. Als Grundpfeiler des wissenschaftlichen Sozialismus sind verschwunden: die politische Herrschaft der Arbeiterklasse, die Verstaatlichung der Produktionsmittel und die gesellschaftliche Planung der Wirtschaft. Statt dessen wird die Entwicklung des monopolistischen Staatskapitalismus in den imperialistischen Ländern als „Ergebnis" jahrzehntelanger sozialistischer und gewerkschaftlicher Kämpfe" und als das „Entstehen einer neuen Ordnung" gepriesen. Das zeigt die folgende Formulierung in diesem „Programm": „Das Ausmaß des öffentlichen Eigentums und die Formen der Planung sind durch die wirtschaftliche Struktur der einzelnen Länder bedingt." Da die Struktur dieser Länder eine monopolistische ist, bedeutet dies, daß die Ziele des demokratischen Sozialismus den Monopolkapitalisten untergeordnet sind. Was in der Tat den wahren Sachverhalt trifft. Von der Planwirtschaft heißt es dann weiter: „Sozialistische Planung erfordert nicht die Kollektivisierung der P r o duktionsmittel; sie ist vereinbar mit der Existenz von Privateigentum auf wichtigen Gebieten." Bis zum zweiten Weltkrieg betrachteten die rechten Sozialdemokraten das; Vorhandensein staatlicher Betriebe in den bürgerlichen Ländern als Anzeichen dafür, daß der Kapitalismus „in den Sozialismus hineinwächst". Jetzt erklären sie, das Vorhandensein staatlicher Betriebe sei ein Beweis dafür, daß' der Prozeß des Hineinwachsens des Kapitalismus in den Sozialismus a b geschlossen und der Kapitalismus zum „Sozialismus" geworden sei. In den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg pflegten die rechten Sozialdemokraten die von der Labour-Party in England durchgeführte Nationalisierung als Musterbeispiel des „demokratischen Sozialismus" h i n zustellen. Die Interessen des britischen Kapitals erforderten zur Erhöhung seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt die Nationalisierung d e r Neues Deutschland vom 1. November 1953, Nr. 257, S. 2. 478

jenigen Industriezweige, deren Produktion gewisse Selbstkostenposten der übrigen Industriezweige darstellt (Kohle, Strom, Verkehrswesen, Stahl). Das war die von den Labouristen durchgeführte Nationalisierung. Seitdem diese Industriezweige im Interesse der englischen Kapitalisten nationalisiert sind, tritt die Labour-Party gegen eine weitere Nationalisierung auf. Und aus diesem Grunde ist auch diese Parole der Nationalisierung, mit der die „Rechtssozialisten" in den letzten Jahren hausieren gingen und die sie zur Grundlage des „demokratischen Sozialismus" erklärt hatten, aus der Deklaration verschwunden. Der „demokratische Sozialismus" der Rechtssozialisten hat somit seine wirkliche Bestimmung offenbart, nämlich als Kulisse zu dienen, die die Herrschaft der Monopole und die kapitalistische Ausbeutung verdecken soll. Die These, wonach der kapitalistische Staat „die Privateigentümer hindern soll, ihre Macht zu mißbrauchen", bedeutet, daß die sogenannte Kontrolle über die Monopole den Monopolherren selbst übertragen wird. Diese amerikanische Praxis, die die unumschränkte Macht der Monopole und die Unterordnung der Staatsgewalt unter ihre Macht bedeutet, wurde nun auch von der Frankfurter Internationale zum wichtigsten Teil der „sozialistischen Planung" erklärt, die in Wirklichkeit weder mit Planung noch mit Sozialismus irgend etwas gemein hat. Was aber die These betrifft, daß der Staat den Privatunternehmern helfen soll, „die Produktion zu steigern", so bedeutet sie nur eine Rechtfertigung der verstärkten Ausbeutung der Werktätigen in jeder Form. Dieser P u n k t der Deklaration hilft in Wirklichkeit den „Rechtssozialisten" in allen bürgerlichen Ländern, ihre Tätigkeit zu tarnen, die darin besteht, den Arbeitern bei ihrem Kampf gegen das kapitalistische System in den Rücken zu fallen und das Kapital bei seinem Angriff auf die Arbeiterklasse zu unterstützen. Als wirtschaftliche Ziele des „demokratischen Sozialismus" verkündete die Deklaration „Vollbeschäftigung, Erhöhung des Produktionsausstoßes, soziale Stabilität und gerechte Verteilung der Einkünfte und des Vermögens". Den Sinn dieser laut angepriesenen Ziele des „demokratischen Sozialismus" enthüllte die Politik der ehemaligen Labour-Regierung, die den „Rechtssozialisten" aller Länder als Vorbild hingestellt wurde. Die Politik der „Vollbeschäftigung" bedeutet in Wirklichkeit n u r die Profitsteigerung f ü r die Monopolherren und weitgehendste Unterstützung einer erweiterten Rüstungsproduktion. Der Programmpunkt über die „soziale Stabilität" als Ziel des „demokratischen Sozialismus" legt der Frankfurter Internationale die Verpflichtung auf, jedes reaktionäre kapitalistische Regime und jeden Kampf, den ein derartiges Regime gegen die Bewegung der u m ihre Befreiung von der kapitalistischen Ausbeutung ringenden werktätigen Massen führt, mit allen Mitteln zu unterstützen. Die These von der „gerechten Verteilung der Einkünfte und des Vermögens" ist auch in den Schriften der reaktionären Wirtschaftler zu 47»

finden: sowohl bei Marshall wie bei Pigout und Keynes. Die Labour-Leute erklärten dieses Prinzip zu einer der Grundlagen ihres Pseudosozialismus. Unter der Flagge der „gerechten Verteilung der Einkünfte und des Vermögens" führte die Labour-Regierung im Laufe der Nachkriegsjahre im Interesse der Monopole ihren Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse durch. Die Ziele des „demokratischen Sozialismus" auf wirtschaftlichem Gebiet oder, wie sich die Frankfurter Deklaration ausdrückt, die Ziele der „wirtschaftlichen Demokratie" laufen auf die Subsidierung der Monopole, auf eine fortschreitende Verschmelzung des Staatsapparates mit den monopolistischen Kapitalistenverbänden sowie auf die Unterordnung dieses Staatsapparates unter die Monopole und auf die Hilfestellung beim Angriff auf die Arbeiterklasse hinaus. Die These, wonach das Privateigentum an den Produktionsmitteln mit dem Sozialismus vereinbar sei, ist eine direkte Kampfansage an den Sozialismus, der bekanntlich auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruht. Die „gemischte Wirtschaft", die nichts anderes bedeutet als die Verschmelzung des Staates mit den Monopolen und seine Unterordnung unter die Monopole, wird von allen imperialistischen Wirtschaftlern gepredigt, vom Faschisten Sombart bis zu den amerikanischen Keynes-Anhängern. Jetzt wurde sie zum Glaubenssymbol der Rechtssozialisten erklärt. Die Frankfurter Deklaration vollendete die Zersetzung und Selbstentlarvung des reformistischen Sozialismus. In dieser Deklaration haben die Rechtssozialisten sich offen vom Marxismus losgesagt, denn sie erklärten, der „demokratische Sozialismus" sei das Ziel aller bürgerlichen Theorien vom christlichen bis zum ethischen Sozialismus. Der Charakter dieser neuen Internationale ist bereits dadurch genügend gekennzeichnet, daß die politische und ideologische Führung dieser Internationale bei der Labour-Party liegt, die als antimarxistische Partei entstand und sich auch in dieser Richtung weiterentwickelte und an deren Spitze reaktionäre bürgerliche Politiker stehen. Somit hat der reformistische Sozialismus, der mit der Propaganda für kleine Veränderungen im Kapitalismus und mit der Revision des Marxismus begann, mit der Ausrufung des Monopolkapitalismus zum „Sozialismus" und mit der Verherrlichung aller auf eine verstärkte Ausbeutung und den Kampf gegen den Sozialismus hinzielenden Maßnahmen geendet. So ist die einheitliche Front der „kleinbürgerlichen" Sozialisten hergestellt: Alle Wortführer des „dritten" Weges stehen in der Periode der sich verschärfenden allgemeinen Krise des Kapitalismus an der Spitze des Kampfes gegen den Sozialismüs, gegen die sozialistische Sowjetunion, gegen die Länder der Volksdemokratie und gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung in den sozialistischen Ländern. Dem steht gegenüber, was Walter Ulbricht, der Erste Sekretär der SED, auf dem 16. Plenum des ZK der SED für die Wiedervereinigung Deutschlands auf friedlicher und demokratischer Basis ent480

wickelte, das den wahren Interessen der Arbeiterklasse und den übrigen Werktätigen entspricht: „Im Interesse der Sicherung der friedlichen Entwicklung werden die Bergwerke, die Hüttenwerke und großen Chemiebetriebe, die im Besitz der Kriegstreiber sind, entschädigungslos in die Hände des Volkes übernommen. Im Interesse der Arbeiterschaft muß das reaktionäre Betriebsverfassungsgesetz außer K r a f t gesetzt werden. Die Gewerkschaften sollen volle Freiheit ihrer Betätigung erhalten. Den Arbeitern, Angestellten und Beamten wird das volle Mitbestimmungsrecht in den Betrieben und auf allen Gebieten der Wirtschaft garantiert. Das Recht auf Arbeit wird verwirklicht. Für die Arbeitsurlauber wird auch in den westdeutschen Kurorten und Erholungsstätten die notwendige Anzahl Plätze zur V e r f ü g u n g gestellt. Die Steuergesetzgebung wird nach sozialen Gesichtspunkten geändert." Das darf uns aber nicht hindern, auf die gesellschaftliche Funktion derartiger „Theorien" immer wieder hinzuweisen: die einheitliche Front der Werktätigen zu spalten durch Verhüllung des Charakters der kapitalistischen Produktionsweise auf der einen, Verleumdung der sozialistischen Produktionsweise in der UdSSR auf der anderen Seite, Verwirrung zu stiften, um damit die noch fehlende Reife des subjektiven Faktors, die Reife des Bewußtseins zu verhindern! Serings Schrift „Jenseits des Kapitalismus" erfüllt diese gesellschaftliche Funktion zweifellos: die Frist für den Kapitalismus um ein weiteres zu verlängern. — Wir sehen in ihr eine „Theorie" der rechten Sozialdemokraten, der entschiedensten Gegner des wirklichen Sozialismus!

C. Der christliche „Sozialismus" 1. Das Wesen des christlichen

„Sozialismus"

Wenn man unter „Sozialismus" „grundsätzliche Ablehnung des Privateigentums zugunsten einer kollektivistischen Gestaltung unserer Wirtschaftsverfassung versteht", schreibt K a r l Grünberg im „Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre" in seinem Artikel über „Christlichen und religiösen Sozialismus", so „könne man vom ,christlichen' oder .religiösen' Sozialismus nur im weiteren, uneigentlichen Sinne sprechen". 1 ) In der Tat, wenn man unter „Sozialismus" das versteht, was er ist, nämlich die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhende gesellschaftliche Ordnung, die von der sozialistischen Arbeiterbewegung angestrebt und in der UdSSR verwirklicht wurde, dann gibt es keinen anderen als den proletarischen, d. h. marxistischen Sozialismus. Alles andere sind Manöver der E. Aufl., Bd. 1, S. 538. 31 Behrens

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wickelte, das den wahren Interessen der Arbeiterklasse und den übrigen Werktätigen entspricht: „Im Interesse der Sicherung der friedlichen Entwicklung werden die Bergwerke, die Hüttenwerke und großen Chemiebetriebe, die im Besitz der Kriegstreiber sind, entschädigungslos in die Hände des Volkes übernommen. Im Interesse der Arbeiterschaft muß das reaktionäre Betriebsverfassungsgesetz außer K r a f t gesetzt werden. Die Gewerkschaften sollen volle Freiheit ihrer Betätigung erhalten. Den Arbeitern, Angestellten und Beamten wird das volle Mitbestimmungsrecht in den Betrieben und auf allen Gebieten der Wirtschaft garantiert. Das Recht auf Arbeit wird verwirklicht. Für die Arbeitsurlauber wird auch in den westdeutschen Kurorten und Erholungsstätten die notwendige Anzahl Plätze zur V e r f ü g u n g gestellt. Die Steuergesetzgebung wird nach sozialen Gesichtspunkten geändert." Das darf uns aber nicht hindern, auf die gesellschaftliche Funktion derartiger „Theorien" immer wieder hinzuweisen: die einheitliche Front der Werktätigen zu spalten durch Verhüllung des Charakters der kapitalistischen Produktionsweise auf der einen, Verleumdung der sozialistischen Produktionsweise in der UdSSR auf der anderen Seite, Verwirrung zu stiften, um damit die noch fehlende Reife des subjektiven Faktors, die Reife des Bewußtseins zu verhindern! Serings Schrift „Jenseits des Kapitalismus" erfüllt diese gesellschaftliche Funktion zweifellos: die Frist für den Kapitalismus um ein weiteres zu verlängern. — Wir sehen in ihr eine „Theorie" der rechten Sozialdemokraten, der entschiedensten Gegner des wirklichen Sozialismus!

C. Der christliche „Sozialismus" 1. Das Wesen des christlichen

„Sozialismus"

Wenn man unter „Sozialismus" „grundsätzliche Ablehnung des Privateigentums zugunsten einer kollektivistischen Gestaltung unserer Wirtschaftsverfassung versteht", schreibt K a r l Grünberg im „Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre" in seinem Artikel über „Christlichen und religiösen Sozialismus", so „könne man vom ,christlichen' oder .religiösen' Sozialismus nur im weiteren, uneigentlichen Sinne sprechen". 1 ) In der Tat, wenn man unter „Sozialismus" das versteht, was er ist, nämlich die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhende gesellschaftliche Ordnung, die von der sozialistischen Arbeiterbewegung angestrebt und in der UdSSR verwirklicht wurde, dann gibt es keinen anderen als den proletarischen, d. h. marxistischen Sozialismus. Alles andere sind Manöver der E. Aufl., Bd. 1, S. 538. 31 Behrens

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Bourgeoisie und ihrer Beauftragten zur Verhinderung dieses einzigen wirklichen Sozialismus. Karl Grünberg hat daher auch durchaus recht, wenn er weiter schreibt •—, daß der christliche sogenannte „Sozialismus" dann auch „neben den eigentlichen christlichen und religiösen Sozialisten auch jene Richtungen und Parteien" umfasse, „welche sich zwar selbst als .christlichsozial' bezeichnen, die aber nur eine Reform der herrschenden Ordnung unter Beibehaltung ihrer prinzipiellen Grundlage erstreben, d. h. den falschen' durch einen Richtigen', ,sozialen' Kapitalismus ersetzen wollen. Das Christentum als solches hat sich aber niemals prinzipiell für die kollektivistische und gegen die Privateigentumsordnung ausgesprochen". 1 ) Wie gesagt — Grünberg hat mit diesen 1933 geschriebenen Worten durchaus recht, wenn er auch so ganz nebenbei gleichzeitig den uralten Ladenhüter der sogenannten „Eigentumsfeindlichkeit" des Sozialismus mit unterschlüpfen läßt. Aber das braucht er schließlich als bürgerlicher Ökonom, das ist „objektiv", wenn man dem Sozialismus zwar einerseits ganz gerecht wird, ihn aber dann — zum Ausgleich gewissermaßen — etwas Verleumdet. Wie soll man es anders verstehen, wenn ein so guter Kenner des wissenschaftlichen Sozialismus wie Karl Grünberg im „Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre" im Artikel über „Sozialistische Idee — und Lehren" schreibt, daß der Sozialismus „in bewußtem Gegensatz zum Privateigentum als der überlieferten Grundlage unserer herrschenden Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtsordnung . . . steht". 2 ) Das „Wesen" des Sozialismus ist nach Karl Grünberg durchaus „privateigentumsfeindlich". Daß ein gewisser Karl Marx in seinen Werken gerade nachgewiesen hat, daß die breiten Massen der unmittelbaren Produzenten, der Werktätigen, und vor allem die Arbeiter erst zu „individuellem Eigentum" gelangen können, wenn man — nicht das private Eigentum überhaupt —, sondern das private Eigentum an den Produktionsmitteln, und zwar zunächst das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln abschafft, ist solchen „Kennern" des Marxismus unbekannt. Auf gleicher Ebene liegt es, wenn im gleichen „Wörterbuch" der führende Kopf der sogenannten „sozialrechtlichen Schule" der Volkswirtschaftslehre, Karl Diehl, ebenfalls ein „guter" Kenner des Sozialismus, schreibt, daß nach der Auffassung des wissenschaftlichen Sozialismus „Kapitalzins" und „Unternehmergewinn" ihre Ursache darin haben, „daß die allein wertschaffende menschliche Arbeitskraft nicht zu ihrem vollen Wert bezahlt wird". 3 ) „Nach dieser Auffassung beruht also der Unternehmergewinn des Kapitalisten auf nichts anderem als auf einem Abzug, den der Kapitalist am Arbeitsertrag des Arbeiters vornimmt." 4 ) Daß Marx das Grundproblem der kapitalistischen Produktionsweise, an dem die Klassiker der bürgerlichen politischen ö k o Ebd., S. ) A. a. O., 3 ) Ebd., S. *) Ebd., S. 2

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538. S., Jena 1933, Bd. III, S. 273. 1127. 1001.

nomie, trotz vieler und tiefer Einsichten, scheiterten und an denen die bürgerliche politische Ökonomie wissenschaftlich zugrunde gegangen ist, gerade dadurch löste, daß er zeigte, wie Mehrwert entstehen kann trotz — oder gerade wegen — des Austausches von Äquivalenten, das hat Karl Diehl •—• er steht f ü r viele, wenn nicht f ü r alle bürgerlichen Ökonomen — nicht begriffen. Noch einige Stufen tiefer steht — willkürlich herausgegriffen aus der geradezu erdrückenden Fülle des Materials — die Marx-Kritik des „christlichen Sozialisten" Joachim Tiburtius. „Der stärkste Einwand gegen die Mehrwertlehre, gegen die Annahme einer ständigen Beraubung des Arbeiters als Quelle der Kapitalbildung durch akkumulierten Mehrwert ist der Hinweis darauf, daß die umfangreichsten Anhäufungen von Kapital nicht in den in erster Linie auf Handarbeit aufbauenden Gewerbezweigen (Handwerk, Bekleidungsindustrie, Spielwarenindustrie u. a.) stattgefunden haben, sondern in der Großeisen- und chemischen Großindustrie, in der die Pferdestärke der Maschine vorherrschen und den Arbeitern im wesentlichen n u r die Tätigkeit des Überwachens, Regulierens und Instandsetzens der Maschine zufallen." 1 ) Dieser „stärkste" Einwand gegen die Mehrwerttheorie zeugt nur f ü r eine Tatsache: daß auch dieser Kritiker noch nicht einmal die elementarsten Anfänge des Marxismus begriffen hat, den er kritisiert. Als „Kritiker" hat er sich damit sein Urteil selbst gesprochen, aber da es sich u m einen „bewußten" Christen handelt, wiegt die mangelnde Wahrheitsliebe natürlich doppelt schwer! Unfähigkeit oder Böswilligkeit? Das ist die Frage, die sich aufdrängt! Es ist beides: Unfähigkeit, nicht weil die subjektiven Voraussetzungen f ü r das Begreifen des wissenschaftlichen Sozialismus fehlten, sondern weil das Begreifen des wissenschaftlichen Sozialismus nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktisch-politische Frage ist. Es setzt f ü r die bürgerlichen Ökonomen einen Wechsel des gesellschaftlichen Standpunktes voraus. Man kann heute nur vom gesellschaftlichen Standpunkt der Arbeiterklasse die gesellschaftlichen Zusammenhänge wirklich, • d. h. die Wahrheit erkennen. Trotz größter Fähigkeiten muß heute auch der fanatischste Wahrheitsforscher im bürgerlichen Lager scheitern, wenn er sich scheut, seine Klassenschranken zu sprengen und zur Arbeiterklasse überzugehen. Objektive, d. h. sachliche, von Klassenvorurteilen ungetrübte Wissenschaft kann heute nur derjenige treiben, der im Lager der Klasse steht, die die Zukunft vertritt. Schreckt der Forscher vor diesem Schritt zurück, scheut er davor, die Schranken des bürgerlichen Seins zu durchbrechen, so bleiben ihm nur zwei Möglichkeiten: entweder inhaltlose, formale Wissenschaft zu treiben, die im Grunde nichtssagend ist, keine wahren Einsichten, sondern nur Irrtümer vermittelt, oder bewußte Apologetik zu treiben, und das heißt in erster Linie, den Sozialismus zu verleumden und durch „neue" Systeme zu ersetzen: Böswilligkeit! ') Joachim Tiburtius: Christliche Wirtschaftsordnung, ihre Wurzeln und ihr Inhalt, Berlin 1947, S. 39/40.

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Das letzte aber tut dieser sogenannte „christliche" Sozialismus. Er ist bewußte Apologetik der kapitalistischen Klassengesellschaft, also der Ausbeutung von Menschen durch Menschen! Kann man das beweisen? J a — das kann man! Zunächst muß man zwei Dinge ganz klar trennen: Es gibt Christen, die zugleich Sozialisten sind, d. h. sich zur sozialistischen Arbeiterbewegung und ihren Zielen bekennen— das ist das eine! Das andere aber ist der sogenannte christliche „Sozialismus" oder wohl auch Sozialismus aus „christlicher Verantwortung", der die zum Sozialismus sich bekennenden Christen ablehnt und bekämpft! Was heißt das? Wie steht der katholische Papst zum Sozialismus? Nach der Feststellung Papst Pius' XI. in der Enzyklika „Quadragesimo anno" habe der Sozialismus zur Zeit Papst Leos XIII., als er die Enzyklika „Rerum novarum" (15. Mai 1891) erlassen habe, ein einheitliches Gebilde dargestellt. Heutzutage spalte sich der Sozialismus in zwei Richtungen, in die kommunistische und in die sozialistische Richtung. Der Kommunismus verfolge in Theorie und Praxis seine beiden Hauptziele: schärfsten Klassenkampf und äußerste Eigentumsfeindlichkeit. Der Sozialismus verzichte nicht nur auf die Anwendung von Gewalt, sondern komme mehr oder minder auch zu einer Abminderung des Klassenkampfes und der Eigentumsfeindlichkeit, wenn nicht zu ihrer gründlichen Preisgabe. Beide Richtungen aber — obwohl sie sich untereinander scharf bekämpfen — hätten eine gemeinsame widerchristliche Grundlage, die im Gegensatz zur christlichen Gesellschaftsauffassung stehe: „Nach christlicher Auffassung ist der Mensch mit seiner gesellschaftlichen Anlage von Gott geschaffen, um in der Gesellschaft und in Unterordnung unter die gottgesetzte gesellschaftliche Autorität sich zur ganzen Fülle und zum ganzen Reichtum dessen, was Gott an Anlagen in ihn hineingelegt hat, zur Ehre Gottes zu entfalten und durch treue Erfüllung seines irdischen Lebensberufes sein zeitliches und zugleich sein ewiges Glück zu wirken. Von alldem weiß der Sozialismus nichts; vollkommen unbekannt und gleichgültig ist ihm diese erhabene Bestimmung sowohl des Menschen als der Gesellschaft, er sieht in der Gesellschaft lediglich eine Nutzveranstaltung. Enthält der Sozialismus — wie übrigens jeder Irrtum — auch einiges Richtige (was die Päpste nie bestritten haben), so liegt ihm doch eine Gesellschaftsauffassung zugrunde, die ihm eigentümlich ist, mit der echten christlichen Auffassung aber in Widerspruch steht. Religiöser Sozialismus, christlicher Sozialismus sind Widersprüche in sich, es ist unmöglich, gleichzeitig guter Katholik und wirklicher Sozialist zu sein." 1 ) *) Ebd., S., Abs. 118 u. Abs. 120.

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Damit ist im Grund alles gesagt. In den päpstlichen Enzykliken wird der Kapitalismus scharf kritisiert — das ist richtig! Darauf antwortete uns schon das „Kommunistische Manifest"! „Übrigens verheimlichen sie den reaktionären Charakter ihrer Kritik so wenig, daß ihre Hauptanklage gegen die Bourgoisie eben darin besteht, unter ihrem Regime entwickele sich eine Klasse, welche die ganze alte Gesellschaftsordnung in die Luft sprengen werde. Sie werfen der Bourgeoisie noch mehr vor, daß sie ein revolutionäres Proletariat erzeugt, als daß sie überhaupt ein Proletariat erzeugt." 1 ) Genau das kritisieren die christlichen Sozialisten am Kapitalismus: nicht daß er „überhaupt ein Proletariat erzeugt" hat, sondern daß er ein revolutionäres Proletariat erzeugt hat, denn man möchte wieder zurück — ins Mittelalter. Aber was ergibt sich aus der christlichen „Kritik" am Kapitalismus? Etwa der Kampf gegen den Kapitalismus? Natürlich nicht! „In der politischen Praxis nehmen sie daher an allen Gewaltmaßregeln gegen die Arbeiterklasse teil, und im gewöhnlichen Leben bequemen sie sich, heißt es im „Kommunistischen Manifest", allen ihren aufgeblähten Redensarten zum Trotz, die goldenen Äpfel aufzulesen und Treue, Liebe, Ehre mit dem Schacher in Schafwolle, Runkelrüben und Schnaps zu vertauschen", heißt es im „Kommunistischen Manifest". 2 )

2. Der

Solidarismus

a) Heinrich Pesch Der sogenannte „Solidarismus" ist eine Erfindung des Jesuitenpaters Heinrich Pesch (1854—1926). Pesch geht auf die Lehren des Thomas von Aquino von der Rechtsmäßigkeit und Notwendigkeit des Privateigentums als eines Ausflusses der menschlichen Natur, der natürlichen Vernunft zurück. Das Privateigentum schlechthin — und damit selbstverständlich auch seine „höchste", weil konsequenteste Ausformung: das kapitalistische Privateigentum, ist eine allgemein-menschliche Einrichtung, die von den wechselnden Richtungen des positiven Rechts unabhängig ist. Im „Solidarismus" gipfelt die katholische Soziallehre. Er ist das katholische System zur Verhinderung des Sozialismus, zum Schutze des kapitalistischen Eigentums, ein spezielles Erzeugnis der bürgerlichen Ideologie als Waffe im Klassenkampf gegen das Proletariat. „Der Kapitalismus ist eine aus individualistischer Freiheit des privaten Erwerbsstrebens hervorgegangene und von verkehrten Grundsätzen der liberalen Wirtschaftsepoche beherrschte, in erster Linie nicht der Gesamtwohlfahrt des Volkes, sondern dem Kapital') A. a. O., S. 44. ) A. a. O., S. 44.

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besitz und seiner Grundinteressen dienstbare Wirtschaftsverfassung. Oder kürzer! Kapitalismus ist die Beherrschung der Volkswirtschaft durch das Geldinteresse des Kapitalbesitzes." Daraus folgt nun aber für Pesch nicht, daß man nach einer nicht durch das „Geldinteresse des Kapitalbesitzes" beherrschten, also auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Volkswirtschaft streben müsse. Der Sozialismus ist nur eine Reaktion auf die umgekehrte Wirtschaftsordnung des Kapitalismus. An die Stelle der „naturgemäßen Ordnungskräfte" lasse der Sozialismus nach Pesch „einen die gesamte Volkswirtschaft umfassenden bürokratischen Apparat treten". Dadurch würden, so meint Pesch, „die anonymen Sachnotwendigkeiten eines solchen organisatorischen Riesengebildes noch einmal so stark zur Geltung kommen, Sachnotwendigkeiten, die jetzt nicht mehr nur wirtschaftlicher, sondern auch ebensosehr organisatorisch-staatlicher Art sein werden. Der Verwaltungsapparat der kollektivistisch-sozialistischen Wirtschaft wird der Freiheit und Würde des Menschen ebenso, wenn nicht weniger, Raum lassen wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung". Wir haben also die Requisiten des kleinbürgerlichen Sozialismus wieder beisammen: die Ablehnung des Kapitalismus in Worten, d. h. die Kritik seiner Mängel und die Anerkennung seiner gesellschaftlichen Grundlagen, des kapitalistischen Eigentums und die Ablehnung des Sozialismus in der Tat, d. h. seine Verleumdung und die Ablehnung seiner gesellschaftlichen Grundlagen, des gesellschaftlichen Eigentums. Pesch ist nicht gegen den Sozialismus, er ist nur gegen den wirklichen Sozialismus! Im „richtigen" Sozialismus, d. h. im Sozialismus, wie ihn Pesch wünscht, geht es „um die Freiheit und Würde des Menschen inmitten des umgebenden Sachapparates der modernen Volkswirtschaft". Wie will Pesch die „Freiheit" und „Würde" des Menschen verwirklichen? Durch die Unterordnung der Interessen der Arbeiterklasse unter die Kapitalisten. Hören wir: „Die Volkswirtschaft ist zwar eine reale Einheit, aber keine Einheit des wirtschaftlichen Subjektes, sondern um eine organischmoralische Einheit, indem in ihr die Wirtschaften durch den Sozialzweck zur Einheit der Ordnung verbunden sind." Das heißt, daß auf der Grundlage des kapitalistischen Eigentums der „Sozialzweck" die maximale Verschwendung des Kapitals, d. h. die maximale Ausbeutung der Arbeitskraft der Lohnarbeiter ist. Darüber täuschen auch nicht solche Phrasen hinweg wie: „Des Menschen materielle Wohlfahrt bildet den Zweck jenes Inbegriffs von Tätigkeit und Einrichtungen, den man .Wirtschaft' n e n n t . . . " Erkennt man die Grundlage an, so ergibt sich der „Sozialzweck". Daraus folgt „die Einheit der Ordnung", zu der die „Wirtschaftler", die Kapitalisten als Ausbeuter, die Proletarier als Ausgebeutete, „verbunden" sind. „Der Stand als oberste Instanz muß durch positive Rechtsordnung, wirtschaftspolitische Maßnahmen und öffentliche Ein486

richtungen den volkswirtschaftlichen Prozeß in einer der N a t u r der s t a a t lichen Gesellschaft, ihrem Zweck und den besonderen Zeitverhältnissen und Bedürfnissen entsprechenden Weise auf jenes Ziel positiv und negativ h i n lenken." Wie soll diese staatliche „Lenkung" geschehen? Durch die genossenschaftlichen Zusammenschlüsse gleichartiger Interessenvereinigungen. Diese I n t e r essenverbände, verbunden mit dem beruflichen Genossenschaftsprinzip, sollen die Funktion der Ordnung der Wirtschaft übernehmen. Die Berufsorganisationen, Stände also, sind die Organisation der Volkswirtschaft. Sie sollen f ü r ihren Bereich Organisationsaufgaben f ü r die Erzeugung und Verteilung in der Volkswirtschaft übernehmen. Das ist der „Solidarismus", wie ihn Pesch konstituierte! Was bedeutet er? Das sagte uns bereits das „Kommunistische Manifest": „Auf diese A r t entstand der feudalistische Sozialismus, halb Klagelied, halb Pasquill, halb Rückhall der Vergangenheit, halb Pläne der Z u k u n f t , mitunter die Bourgeoisie ins Herz treffend durch bitteres, geistreich zerreißendes Urteil, stets komisch wirkend durch glänzende Unfähigkeit, den Gang der modernen Geschichte zu begreifen. Den proletarischen Bettlersack schwenkten sie als F a h n e in der Hand, u m das Volk hinter sich her zu v e r sammeln. So oft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihrem Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem, unehrerbietigem Gelächter." 1 ) b) Paul Jostock Betrachten wir noch abschließend zum Kapitel „christlicher Sozialismus" das System des „Solidarismus", wie es von P a u l Jostock dargestellt wird. In seinen „Grundzügen der Soziallehre u n d der Sozialreform" versucht Jostock, den „Solidarismus" als System neu zu begründen u n d zu propagieren, u m ihn an Stelle des Sozialismus zu setzen. 2 ) Jostock will mit seinem Buch den „vielen Belehrungsuchenden", vor allem aus „der Jugend", eine „echte Sozialunterweisung" in die Hand geben u n d einen Überblick über die wichtigsten praktischen Reformen geben, „die h e u t e not tun". Das bedeutet, daß Jostock einmal sagen muß, was der Sozialismus will und was er ist — und daß er zweitens sein eigenes positives Ziel a u f zeigt. Um es vorwegzunehmen: Wie nicht anders zu erwarten, setzt Jostock die Tradition der kleinbürgerlichen Sozialisten fort, indem er ein Zerrbild vom Sozialismus entwirft. „Das ideale Ziel des Sozialismus w a r natürlich nicht die Versklavung des einzelnen", schreibt Jostock großmütig, wo er v o m bisherigen, d. h. wirklich gewordenen Sozialismus spricht. „Vielmehr wollte auch er freie Menschen (das gilt freilich n u r f ü r die demokratischen, nicht f ü r die diktatorischen Spielarten des Sozialismus)" (S. 27). Wir lesen es ohne Phantasie zwischen den Zeilen heraus, daß die „diktatorische Spielart" des !) A. a. O., S. 44. ) Freiburg im Breisgau, 1946.

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Sozialismus eben diese „freien Menschen" nicht geschaffen hat, denn „bei zentralistischer Planwirtschaft und Aufhebung des Privateigentums ist dieses Ziel unerreichbar, weil jeder einzelne nur noch ein Rädchen an der großen Maschine darstellt, das alle Selbständigkeit und Selbstverantwortung eingebüßt hat" (S. 27/28). Dafür führt, Jostock erinnert sich alter literarischer Kamellen, die heute selbst bürgerliche Ökonomen nicht mehr bringen, diese „zentralistische Planwirtschaft" zu „UnWirtschaftlichkeit und Korruption und mindert also den volkswirtschaftlichen Ertrag". Diese Feststellung unterbaut er mit der falschen Behauptung, daß „nach alter Erfahrung Staatsbetriebe teurer als Privatbetriebe arbeiten, also den volkswirtschaftlichen Ertrag schmälern". Die Tendenz ist also deutlich: gegen den Sozialismus, wie er wirklich ist! Er versklavt die Menschen, er befreit sie nicht, er erhöht nicht die Produktivität, er mindert sie! Das kapitalistische Eigentum ist die „eherne Wahrheit", von der die Konstrukteure der Ersatzsysteme f ü r den Sozialismus auszugehen haben. So lehrt es uns Pesch, so lehrt es Jostock! Was steckt dahinter? Die angebliche Versklavung des Menschen durch den wirklichen Sozialismus wird begründet mit einer völlig falschen Auffassung von der Diktatur des Proletariats. Marx und Engels hätten es zwar „nicht so gemeint" (S. 98)! Sie wollten „die Gemeinschaft wahrhaft freier Menschen . . . in der allen Gerechtigkeit widerfahren", aber leider: „viele griffen diese Verheißungen gierig auf und lebten sich in den Gedanken ein, auf den Gräbern der gestürzten Kapitalistenherrschaft eine ebenso einseitige Proletarierherrschaft als Dauerzustand aufzurichten" (S. 98). Der Sozialismus war „eine n u r zu verständliche Reaktion auf die Ubersteigerung des Individualismus, aber man ging nur nach der anderen Seite zu w e i t . . . " (S. 27). Kann man sich daher wundern, daß in der UdSSR nicht die Gemeinschaft „wahrhaft freier" Menschen errichtet worden ist, obwohl man es „nicht so gemeint" habe und weil „man zu weit" ging? Das ist eben das Niveau der „Kritik" der kleinbürgerlichen Sozialisten am wirklichen Sozialismus! Immerhin sind es bei Jostock schon „viele", die die Proletarierherrschaft errichteten. Sonst waren es nur wenige oder gar nur einzelne, die ihre Diktatur in der UdSSR errichteten! Man darf sich — wie wir zur Genüge gesehen haben •— bei kleinbürgerlichen Sozialisten über nichts wundern, auch nicht darüber, daß Jostock die uralte Lüge über den Sozialismus, daß die Sozialisten die Aufhebung des „Privateigentums" erstrebten, ebenfalls noch einmal anführt. Diese alte Lüge tut immer wieder ihre „Dienste" und wird nicht ersetzt durch die neue Lüge, daß das russische Proletariat die Sache der Gerechtigkeit zugunsten einer neuen Klassenherrschaft verraten habe! Jostock erkennt andererseits durchaus an, und wer will das auch bestreiten, angesichts der Erkenntnisse der modernen, durchaus bürgerlichen Betriebswirtschaftslehre, daß die Entwicklung zum Großbetrieb auch die Entwicklung zur Planwirtschaft bedingt. „So wie die beiden Erscheinungen Großbetriebe und Kartelle einander stark zugeordnet sind und sich fördern, so auch Großbetrieb und bürokratische Plan488

Wirtschaft. Nichts ist ja auch f ü r eine starke Planwirtschaft bequemer, als wenn s i e . . . statt mit unzähligen vielen mannigfaltigen — nur mit wenigen Riesenbetrieben zu tun hat, die selber schon durch und durch bürokratisiert sind." (S. 153) Und jetzt kommt der Formalismus und die Inhaltslosigkeit dieser Art Wissenschaft, von denen wir noch einige weitere Kostproben zu geben gedenken. Es sei erschreckend, festzustellen, meint Jostock, wie die deutsche Planwirtschaft der letzten zehn Jahre Großbetriebe direkt gezüchtet und damit die konstitutionelle Erkrankung verschlimmert hatte. „Diese Tendenz ist jeder Planwirtschaft immanent, und deswegen soll man sich vor ihr hüten, selbst wenn man sich von dem Aberglauben an ihre ökonomischen Vorzüge nicht frei zu machen weiß" (S. 153/154). Die deutsche Planwirtschaft — jede P l a n w i r t s c h a f t . . . ! Daß die im Interesse des Krieges gelenkte Wirtschaft Hitlers eine „Planwirtschaft" war, ist eine Entdeckung dieser Art Wissenschaft, und es ist daher kein Wunder, und f ü r Jostock ist es sehr erfreulich, daß das, was besonders gegen diese sogenannte „Planwirtschaft" spricht, gegen jede Planwirtschaft, d. h. auch gegen die sozialistische Planwirtschaft der UdSSR, spricht. Die Tendenz ist klar: man bekämpft den Sozialismus, wie man ihn versteht, weil man ihn so verstehen will! Man bekämpft den Geist, den man begreift, und um so leichter ist es dann, ein neues Ziel aufzustellen. Die Argumente gegen den Sozialismus, die Beweise dafür, daß der Sozialismus nicht wirklich geworden sein kann, werden weit hergeholt. Man bemüht sich bei dem Aristoteles und den alten Kirchenvätern. Der Mensch hat eine „Sozialanlage". Die individuelle Verschiedenheit der Menschen ist eine natürliche Veranlagung, diese „individuelle Verschiedenheit der M e n s c h e n . . . bringt die große Mannigfaltigkeit der Berufsneigungen und Befähigungen hervor, die eine weitgehende Arbeitsteilung ermöglichen, dadurch aber auch den sozialen Zusammenschluß erzwingen" (S. 10). Die Arbeitsteilung ist also naturbedingt, und da die Arbeitsteilung in der bisherigen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nur ein anderer Ausdruck f ü r das private Eigentum an den Produktionsmitteln sei, so folgt f ü r Jostock, daß auch das private Eigentum an den Produktionsmitteln eine Naturbedingung f ü r den Menschen sei. Erinnern wir uns, daß dies alte Klänge sind! Wieviel höher stand doch noch die Wissenschaft eines Karl Bücher, der mit harten Worten schon ähnliche Meinungen Wilhelm Roschers angriff und geißelte. Das Buch von Jostock ist, von allem anderen abgesehen, charakteristisch f ü r den Formalismus und die Inhaltslosigkeit der modernen bürgerlichen Sozialwissenschaft überhaupt. Diese moderne bürgerliche Sozialwissenschaft hat nicht mehr als konkretes Objekt die bürgerliche Gesellschaft des späten und sterbenden Kapitalismus, sondern ihr Gegenstand ist die menschliche Gesellschaft und das menschliche Wesen schlechthin. Diese moderne bürgerliche Sozialwissenschaft geht von bloßen Konstruktionen statt von der 489

Wirklichkeit aus. „Es ist also im letzten die Philosophie und Weltanschauung, die über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft entscheidet", schreibt Jostock (S. 2) und folgert, „unverrückbare Grenzen nach oben und unten setzt die sich ewig gleichbleibende Menschennatur" (S. 19). „Eherne Wahrheiten" sind es, von denen aus, nach Jostock, „den Staatslenkern aller Zeiten aufgegeben ist — der jeweiligen Lage angemessene Lösungen zu finden..." (S. 22). Das Objekt ist unter der Hand verschwunden, man konstruiert und folgert aus den Konstruktionen und ist sehr erfreut, wenn man das findet, was man sucht. Wir wollen uns nicht mit allen Meinungen und Banalitäten Jostocks über „materialistische Selbstsucht" usw. auseinandersetzen, die den Sinn haben, zu beweisen, daß „eine allzu optimistische Erkennung der gefallenen Menschennatur" dem „Traum vom Sozialismus" zugrunde lag. Es geht Jostock und seinesgleichen um eins: „Die christliche Sozialphilosophie hat seit jeher das Kollektiveigentum als allgemeine Form abgelehnt und das Privateigentum als die naturgemäße und zweckdienliche Form verteidigt" (S. 114). „Naturgemäß" und „zweckdienlich" — was wollen wir weiter? Die Argumente finden sich schon, wenn man, „allgemein" genug, seine „Wissenschaft" fundiert. „Die Beweisführung ist in ihrer anschaulichen Verwendung von Bildern aus der täglichen Erfahrung unmittelbar einleuchtend" (ebd). Wem sollte sie nicht einleuchten? Bürgern und Kleinbürgern? „Geschäftsmännern" aller Art? Zumal „sie im weiteren auch dann dadurch bekräftigt wird, daß die Geschichte der Menschheit uns zu allen Zeiten und bei allen Völkern das Vorkommen von Privateigentum bestätigt, was darauf hinweist, daß das vernünftige Denken und das natürliche moralische Empfinden des Menschen von selbst zu dieser Institution gelangt, weil es sie für gut und notwendig hält" (S. 115). Nachdem wir das Zerrbild des Sozialismus, das der bewußte Apologet gezeichnet hat, kennenlernten, wollen wir uns mit dem Ziel des „Solidarismus" bekannt machen. Um es gleich zu bemerken und niemanden zu enttäuschen: es ist genauso, wie wir es nach dem Vorstehenden erwarten können! „Das beherrschende soziologische Kennzeichen des modernen Industriezeitalters ist die Masse besitzloser Lohnarbeiter", so belehrt uns Jostock. „Die Ausdehnung des Fabrikwesens hat dazu geführt, daß in der Regel die Produktionsmittel denen, die damit werken, nicht mehr gehören, sondern Eigentum anderer sind, die man darum Kapitalisten genannt hat" (S. 147). Man hat sie „darum Kapitalisten genannt"! Sind sie es etwa nicht? Sie sind es selbstverständlich nicht — das ist eine bösartige Erfindung! Der Sozialismus „älteren Stils" wollte das Ziel durch Abschaffung des Privateigentums und Übertragung der Produktionsmittel in das Kollektiveigentum der Arbeiter und des ganzen Volkes erreichen. Diesen Weg will die „Sozialreform", d. h. der „Solidarismus", nicht gehen (S. 148). Die Sozial490

reform, der „Solidarismus", wie ihn Jostock lehrt, „möchte aus naturrechtlichen und sozialphilosophischen Gründen die Kollektivisierung tunlichst vermeiden und das Privateigentum samt der aus ihm erfließenden Selbstverantwortung erhalten oder besser gesagt: für die große Masse der Arbeiter wiederherstellen", also vom kapitalistischen nicht zum sozialistischen, sondern vom kapitalistischen zum kleinbürgerlichen, längst überwundenen Eigentum des Mittelalters zurück. Das ist in der Tat das Ziel des Solidarismus! Denn es ist „eine der ältesten und echtesten soziologischen Erkenntnisse der Menschheit, die wir darum bei den großen Weltweisen und Philosophen von Aristoteles bis Goethe und selbst bei Nietzsche immer wieder ausgesprochen finden", daß „der mittelständische Betrieb und Besitz die vorherrschende und darum das Ganze stärkstens mittragende Form der Wirtschaft sein sollte und dergestalt die einzige Grundlage einer gesunden Gesellschaft bildet" (S. 111). Natürlich weiß Jostock, daß das Fabrikwesen „zwar in einem gewissen Umfang stets der großbetrieblichen Form bedarf", aber die moderne Wissenschaft, wir haben sie schon kennengelernt, diese moderne Wissenschaft steht auf dem Standpunkt, daß der Großbetrieb keine Notwendigkeit mehr ist. Man kann nach ihr eine Atombombe durchaus in einem handwerklichen Schlossereibetrieb herstellen. Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, dieser so oft von der bürgerlichen Ökonomie „widerlegte" Irrtum von Marx, der freie Wille, der den bürgerlichen Menschen eingeboren ist, er überwindet sie durch seinen Entschluß und kehrt zurück zum kleinen Betrieb. Die Proletarisierung wird überwunden durch die Entproletarisierung! „Also wollen wir zurück zur freien Konkurrenz?" (S. 152) fragt Jostock und antwortet: „Jawohl, soweit es die Vernunft gutheißt und die reale Wirklichkeit es zuläßt." Die — bürgerliche — Vernunft heißt es gut, und die Wirklichkeit — wie das bürgerliche Bewußtsein sie sieht — läßt es zu? Die bürgerliche Vernunft hat schon manches gutgeheißen, und sie ist daher oft mit der Wirklichkeit zusammengestoßen, und die Erfolge waren die Katastrophen unserer Zeit. Zu Kriegen und zu neuen Katastrophen mag uns dieser „Solidarismus, dieser Ersatzsozialismus" führen, wenn es ihm gelänge, die Massen noch einmal zu betören! Jostock will eine berufsständische Ordnung, wo „alle, die an der Erstellung eines bestimmten Produktes... mitwirken, Arbeiter wie Unternehmer, einen ,Berufsstand' bilden" und „alle Berufsstände zusammen die Volkswirtschaft". Diese Wirtschaftsverfassung „setzt freilich voraus, daß Klein- und Mittelbetriebe wieder die vorherrschende Form der gewerblichen Wirtschaft und auch der Industrie werden" (S. 152/153). Und Jostock möchte daher das wieder herstellen, was „das dritte Reich . . . an Hand- und Einzelhandelsexistenzen vernichtet hat" (S. 153). Also nicht nur utopisch — auch reaktionär: wie es das „Kommunistische Manifest" schon feststellte! Die Idee des „Berufsstandes" ist nicht neu. Vielleicht erinnert sich auch Herr Jostock, daß es im tausendjährigen „Dritten Reich" etwas Ähnliches gab! Auch die Nazis wollten den Mittelstand als „gesunde Basis" einer jeden 491

Volkswirtschaft. Auch sie wollten Berufsstände, die „Arbeiter wie Unternehmer vereinigen sollten" — und es ist gewiß kein Zufall, daß sie es wollten! Die reale Wirklichkeit war die deutsche Katastrophe. Sollten nicht die Sozialisten realistischer sein, die feststellen, Sozialismus oder Untergang in die Barbarei? Es würde den Rahmen sprengen, wollte ich alle Irrtümer und Schiefheiten des Buches von Jostock aufzeigen. Das ist aber auch nicht einmal erforderlich! Sie haben alle einen Grund: Apologetik des kapitalistischen Eigentums, und alle ein Ziel: Verleumdung des wirklichen, d. h. des revolutionären Sozialismus. Der Wille zur Apologetik, Folge des Klassenstandpunktes, verhindert die wissenschaftliche Einsicht. Sicher argumentieren nicht alle bürgerlichen Ökonomen so primitiv wie Jostock — aber was auch „hervorragende" Vertreter hier zu leisten imstande sind, belegte ich bereits. Sicher drücken es andere besser aus als Jostock, der schreibt, daß „die Kinder zu braven und arbeitsamen Menschen" erzogen werden müssen und daß „die Familie. .. ein besonders fruchtbarer Pflanzboden der Tugend und des Gemeingeistes und damit auch ein Hauptträger der staatsbürgerlichen Erziehung" ist. „Sie ist von Natur aus der beste Hort aller Sittlichkeit und Zucht. Um sie in dieser Eigenschaft zu schützen, sind höhnende Angriffe auf Sitte und Anstand, unsittliche Erscheinungen und Zügellosigkeiten im Straßenbild, in der Presse und auf der Bühne durch die Staatsgewalt zu unterbinden" (S. 37). Hier klingt es banal — aber andere meinen dasselbe! Hierher gehört die „Naturnotwendigkeit" des Staates „für das geordnete Menschenleben" (S. 46), der dem Volke „die Wachsamkeit der Polizei" gibt (S. 47). Und schließlich der Gipfel des Ganzen: „Unter Gesellschaft' versteht man in diesem Zusammenhang alle innerhalb des Staates bestehenden oder auch über ihn hinausgreifenden freiheitliebenden Verbände, Zusammenschlüsse, Vereine und soziale Beziehungen, die den Sonderbestrebungen bestimmter Gruppen entstammen und ihnen dienen, sei es auf dem Gebiete der Religion oder der Wirtschaft, des Geisteslebens oder der Geselligkeit oder wo immer" (S. 69). Der Kegelklub neben der Gewerkschaft und Partei, die Klasse neben der Kirche! Auf derselben Ebene liegt es, wenn Jostock feststellt, daß „Entstehungsprinzip" und „Zielsetzung" der Klasse „ein subjektives Moment" ist, „das viele einzelne beseelt und sie zusammenschart" (S. 83). „Die Klasse.. . entsteht erst dadurch, daß viele einzelne sich durch einen sozialen Zustand benachteiligt glauben und sich mehr oder weniger als eine einheitliche Masse fühlen, die eine Änderung des Zustandes herbeizuführen bestrebt ist" (S. 83/84). Was soll man weiter sagen? „Subjektive Unzufriedenheit w i r d . . . stets der Ausgangspunkt der Klassenbildung sein" (S. 93). Der Weg zur Volksgemeinschaft ist damit geöffnet. Das kapitalistische Eigentum, die objektive Stelle im gesellschaftlichen Produktionsprozeß, ist bedeutungslos. Der Klassenkampf entspringt dem Neide und dem Ressentiment — wer lehrte das eigentlich schon einmal? Die Gesinnung ist alles, und wenn die Pfaffen nur genügend predigen, dann wird die Herde schon folgen! 492

Ich könnte die Beispiele fortsetzen. Doch es möge genügen! Es bleibt die Frage, was soll das alles? Jostock stellt viele gute und richtige politische Forderungen auf. So schreibt er auf Seite 58 vom „Recht auf aktiven Widerstand" gegen offenkundig „ungerechte Gesetze" und stellt sogar fest, daß es „zweifellos ein Notwehrrecht des Volkes" gibt, Übelständen „gewaltsam entgegenzutreten" (S. 59)! Uns freut dieses Bekenntnis eines Christen zur Revolution besonders. Aber wo bleibt die Konsequenz? Uns freut auch die Forderung Jostocks, daß in der internationalen Politik von den Grundsätzen der Humanität auszugehen sei (S. 61)! Die christlichen Staaten haben diese Humanität bisher leider oft vermissen lassen. Ihre Politik entsprang nicht dem „Geiste christlicher Verantwortung", sondern dem Profit. Sie war nicht christlich, sondern imperialistisch, oder jeder anständige Mensch müßte sofort aufhören, ein Christ zu sein. Auch viele andere Forderungen Jostocks sind richtig und verdienstvoll. Aber sie sind nicht notwendig für seinen Ausgangspunkt! Sie sind zufällig und werden entwertet durch seine bewußte Apologetik des Kapitalismus und seine Verleumdung des Sozialismus. Und er bekennt sich daher zum Schlüsse auch wieder — nun wieder konsequent •— zur „Brüningschen Wirtschaftspolitik" der Weimarer Republik (S. 177). Die Jostocksche Schrift beweist uns so aufs neue: es gibt diesen dritten Weg nicht, den sie alle gehen wollen, die „freien" und die „christlichen" Sozialisten, die „Solidaristen" und wie sie alle heißen mögen. Es gibt nur den reaktionären Weg oder den Weg zum Sozialismus. Alle „christlichen"'Wege enden in der Reaktion. Und alle Programme eines solchen „dritten" Weges, heißen sie „liberaler" oder „christlicher" Sozialismus, „Solidarismus" oder sonstwie, sie sind Programme der Restauration des Kapitalismus. Ihre Verfasser mögen gutgläubig, sie mögen fähig oder unfähig sein — sie sind objektiv reaktionär! Und je häufiger und je lauter sie wiederholen, daß das kapitalistische Eigentum nicht die zentrale Frage ist, daß es seine Bedeutung verloren habe oder dergleichen, desto deutlicher beweist uns das, daß sie es nötig haben, die Werktätigen von dieser wirklichen Frage abzulenken! Die Stellungnahme zur UdSSR ist heute der kritische Punkt für jeden Sozialwissenschaftler. Es gibt heute keine Frage mehr in den Sozialwissenschaften, die man lösen kann, ohne zu der neuen Wirklichkeit des Sozialismus in der UdSSR Stellung genommen zu haben, ohne Stellung genommen zu haben zu den Ländern der Volksdemokratie! Es gibt für einen deutschen Sozialwissenschaftler heute keine Frage mehr in den Sozialwissenschaften, die er beantworten könnte, ohne zu der neuen Wirklichkeit in der Deutschen Demokratischen Republik Stellung genommen zu haben, ohne Stellung genommen zu haben zu der Errichtung der Grundlage des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. Es zeigte sich, daß der kleinbürgerliche Sozialismus — wie er sich auch nennt, ob „frei" oder „christlich" — zwar keinen Wahrheitsgehalt, aber eine gesellschaftliche Funktion besitzt. Diese gesellschaftliche Funktion wird um 493

so wichtiger f ü r die Bourgeoisie, je mehr der Endkampf der beiden gesellschaftlichen Systeme Kapitalismus und Sozialismus sich in der Gegenwart zuspitzt. Man braucht dringend verhüllende Ideologien — woher nehmen? J e älter — um so besser; denn selbst im Aussprechen neuer Ideen ist die Bourgeoisie unproduktiv geworden! Wie hieß es im „Kommunistischen Manifest"? „Wie der Pfaffe immer Hand in Hand ging mit dem Feudalen, so der p f ä f fische Sozialismus mit dem feudalistischen." Nichts leichter, als dem christlichen Asketismus einen sozialistischen Anstrich zu geben. Hat das Christentum nicht auch gegen das Privateigentum, gegen die Ehe, gegen den Staat geeifert? Hat es nicht die Wohltätigkeit und den Bettel, das Zölibat und die Fleischesertötung, das Zellenleben und die Kirche an ihrer Stelle gepredigt? „Der christliche Sozialismus ist nur das Weihwasser, womit der P f a f f e den Ärger der Christokraten einsegnet"1) und setzen wir hinzu: den Ärger der Kapitalisten ... über die UdSSR.

Literatur K. Grünberg u. H. Großmann: N. Diehl: ders.: ders.: Heinrich Pesch: Paul Jostock: Paul Sering: Sismonde de Sismondi: Franz Oppenheimer: ders.: Henry George: >) A. a. O., S. 45. 494

Sozialistische Ideen und Lehren, Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl., Bd. 3, Jena 1933. Sozialismus und Kommunismus, Handwörterbuch der Staatswissenschaft, 4. Aufl., Bd. 2, Jena 1926. Uber Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus, 4. Aufl., Jena 1922. Proudhon, Jena 1896. Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 1—5, Freiburg i. Br. 1905—1926. Grundzüge der Soziallehre und der Sozialreform, Freiburg i. Br. 1946. Jenseits des Kapitalismus, Lauf b. Nürnberg 1946. Neue Grundsätze der politischen Ökonomie, Berlin 1901. Großgrundeigentum und soziale Frage, Jena 1898.. Weder so — noch so — der dritte Weg, Potsdam 1933. Fortschritt und Armut, Jena 1920.

so wichtiger f ü r die Bourgeoisie, je mehr der Endkampf der beiden gesellschaftlichen Systeme Kapitalismus und Sozialismus sich in der Gegenwart zuspitzt. Man braucht dringend verhüllende Ideologien — woher nehmen? J e älter — um so besser; denn selbst im Aussprechen neuer Ideen ist die Bourgeoisie unproduktiv geworden! Wie hieß es im „Kommunistischen Manifest"? „Wie der Pfaffe immer Hand in Hand ging mit dem Feudalen, so der p f ä f fische Sozialismus mit dem feudalistischen." Nichts leichter, als dem christlichen Asketismus einen sozialistischen Anstrich zu geben. Hat das Christentum nicht auch gegen das Privateigentum, gegen die Ehe, gegen den Staat geeifert? Hat es nicht die Wohltätigkeit und den Bettel, das Zölibat und die Fleischesertötung, das Zellenleben und die Kirche an ihrer Stelle gepredigt? „Der christliche Sozialismus ist nur das Weihwasser, womit der P f a f f e den Ärger der Christokraten einsegnet"1) und setzen wir hinzu: den Ärger der Kapitalisten ... über die UdSSR.

Literatur K. Grünberg u. H. Großmann: N. Diehl: ders.: ders.: Heinrich Pesch: Paul Jostock: Paul Sering: Sismonde de Sismondi: Franz Oppenheimer: ders.: Henry George: >) A. a. O., S. 45. 494

Sozialistische Ideen und Lehren, Wörterbuch der Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl., Bd. 3, Jena 1933. Sozialismus und Kommunismus, Handwörterbuch der Staatswissenschaft, 4. Aufl., Bd. 2, Jena 1926. Uber Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus, 4. Aufl., Jena 1922. Proudhon, Jena 1896. Lehrbuch der Nationalökonomie, Bd. 1—5, Freiburg i. Br. 1905—1926. Grundzüge der Soziallehre und der Sozialreform, Freiburg i. Br. 1946. Jenseits des Kapitalismus, Lauf b. Nürnberg 1946. Neue Grundsätze der politischen Ökonomie, Berlin 1901. Großgrundeigentum und soziale Frage, Jena 1898.. Weder so — noch so — der dritte Weg, Potsdam 1933. Fortschritt und Armut, Jena 1920.

6. KAPITEL

DIE B Ü R G E R L I C H E Ö K O N O M I E I N D E R P E R I O D E DER A L L G E M E I N E N KRISE D E S K A P I T A L I S M U S Die klassische bürgerliche Ökonomie brachte die fortschrittliche Rolle zum Ausdruck, die die Bourgeoisie im K a m p f e gegen den Feudalismus spielte. Sie war die bürgerliche Ökonomie des aufsteigenden Kapitalismus. Die moderne bürgerliche Ökonomie bringt die reaktionäre Rolle zum Ausdruck, die die Bourgeoisie im Kampf gegen den Sozialismus spielt. Sie ist die bürgerliche Ökonomie des sterbenden Kapitalismus. Die moderne bürgerliche Ökonomie macht sich die direkte Verteidigung der kapitalistischen Ausbeutung, der Unter dem Einfluß der den Kapitalismus zerreißenden unlöslichen Widersprüche ins Wanken geratenen Basis zur Aufgabe. Das Ende der bürgerlichen Ökonomie als Wissenschaft, die Preisgabe ihres wissenschaftlichen Charakters und der offene und schamlose Betrug des Volkes über die wahren Ursachen der Katastrophen, der Not und des Elends des „20. Jahrhunderts", das unter diesem Aspekt nach dem kapitalistischen Kernland gut und gern als „amerikanisches Jahrhundert" bezeichnet werden mag, die brutale und zynische Verteidigung der Ausbeutung der Arbeiterklasse und aller übrigen W e r k tätigen durch eine immer kleiner werdende Schicht von Monopolisten, dieses Ende als Wissenschaft ist für die bürgerliche Ökonomie früher gekommen als das Ende der Basis, der sie dient. Man spricht oft von einer Krise der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft in der Gegenwart. Das ist falsch! Die Krise der bürgerlichen Ökonomie w a r bereits im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Aus der Krise entstand als Fortsetzung aller fortschrittlichen Traditionen der klassischen bürgerlichen Ökonomie die qualitativ neue politische Ökonomie des MarxismusLeninismus. Die bürgerliche Ökonomie befindet sich seither in einer Depression, der kein neuer Aufschwung, sondern das absolute Ende als Wissenschaft folgte. Während die bürgerliche Ökonomie vor Marx aus Theorien über den Mehrwert bestand, kann man die bürgerliche Ökonomie bis etwa in das letzte Drittel des vorigen, zum Teil bis in den Anfang unseres Jahrhunderts als Theorie gegen den Mehrwert bezeichnen, und sie ist heute Theorie ohne den Mehrwert. Das ist kein Wortspiel: wenn es richtig ist, daß Aufgabe der Wissenschaft die Erkenntnis der objektiven Wahrheit ist, dann kennt die moderne bürgerliche Ökonomie dieses Merkmal nicht. Die noch aus der „wissenschaftlichen Periode" der bürgerlichen Ökonomie und aus der Periode 495-

unmittelbar darauf stammenden Unterschiede zwischen Historismus und Formalismus verwischen sich, und — so können wir mit dem bürgerlichen Dogmenhistoriker Kruse sagen — „die Unterschiede in der modernen Theorie" sind „nicht allzu tiefgreifend. In allen praktischen Fragen des Wirtschaftslebens besteht heute unter den wissenschaftlichen Volkswirten in aller W e l t . . . weitgehende Einmütigkeit." 1 ) Wenn wir von der bürgerlichen Ignoranz absehen, die bürgerliche — kleiner gewordene — Welt mit „in aller W e l t " gleichzusetzen, so können wir Kruse sehr wohl zustimmen: der Gegensatz zwischen den „verschiedenen theoretischen Systemen" wird in der kapitalistischen Welt durch die Grundfrage ihrer Wirtschaftspraxis überdeckt: der Kampf gegen den Sozialismus, gegen die UdSSR, gegen die Länder der Volksdemokratie in Europa und Asien. Immer offenbarer w i r d der unaufhaltsame Untergang des Kapitalismus, und längst wurde aus dem einheitlichen System der kapitalistischen Weltwirtschaft das System der zwei parallelen Weltmärkte. Die Überlegenheit des sozialistischen Systems entfaltet sie immer stärker. Die „Einmütigkeit" der „wissenschaftlichen Volkswirte in aller W e l t " besteht darin, Argumente und „Theorien" zu liefern, um die rebellierenden Massen bei der Stange des Kapitalismus zu halten. Aber das können sie längst nicht mehr offen im Kampf gegen Mehrwerttheorie, denn die politische Ökonomie des MarxismusLeninismus kann man heute nicht mehr, w i e vor einigen Jahrzehnten noch, „widerlegen", ohne sich mit dem wachsenden und erstarkenden Sozialismus auseinanderzusetzen. Deshalb „vergißt" und verschweigt man die Mehrwerttheorie, macht „Theorien" ohne den Mehrwert, d. h. ohne jede wissenschaftliche Substanz, ohne Wahrheitsgehalt. Man müsse, schreibt Salin in seiner „Geschichte der Volkswirtschaftslehre", „alle zeitgenössischen Theorien, die nicht nur in Deutschland, sondern vor allem in England und in den USA, aber auch in Italien und Frankreich völlig unabhängig, meist in Unkenntnis von Marx entstanden sind, scharf auf ihren Sinn und ihre Fruchtbarkeit" prüfen. 2 ) Tut man das, so kommt man zweifellos zu zwei folgerungen.

allgemeinen

Schluß-

Die erste Schlußfolgerung, die sich bei einer solchen Prüfung der bürgerlichen Ökonomie ergibt, besteht darin, daß eine Unmenge von Pseudotheorien verschiedenster A r t im Umlauf sind. Jeder Wirtschaftswissenschaftler versucht, sein „eigenes" System auszuarbeiten und durch überraschende Schlußfolgerungen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die zweite allgemeine Schlußfolgerung besteht darin, daß die Wirtschaftswissenschaftler die politische Ökonomie des Marxismus-Leninismus in der Regel nicht offen angreifen. Die Werttheorie und die Mehrwerttheorie werden nicht mehr erörtert, und die Frage nach dem Ursprung des Profits !) Kruse, a. a. O., S. 11. A. a. O., S. 186.

2)

496

und das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation werden mit Schweigen übergangen. Wenn es aber nicht gelingt, diese aktuellen Fragen zu umgehen, stellt man Erwägungen bürgerlicher Philosophen über den Wert oder die schon von Marx widerlegte Theorie der' drei Einkommenquellen Boden, Kapital und Arbeit als unwiderlegbare Wahrheiten hin. Wer sich indessen diese Theorien näher ansieht, dem wird klar, daß alle ihre Bemühungen in erster Linie darauf gerichtet sind, den Marxismus totzuschweigen oder die wissenschaftlichen Wahrheiten der politischen Ökonomie des Marxismus-Leninismus entstellt wiederzugeben. Alle diese „Theorien" dienen der Bourgeoisie als Rechtfertigung. Sie haben den Zweck, die Werktätigen untereinander zu entzweien und sie ihrer schärfsten ideologischen Waffe in ihrem Kampf zu berauben. Bei aller „Einmütigkeit" in der prinzipiellen Frage: Kampf gegen den Sozialismus, Hetze und Verleumdung gegen die Sowjetunion und die Länder der Volksdemokratie — herrscht durchaus „Arbeitsteilung" unter den bürgerlichen Ökonomen. Als Vulgärökonomen schlechtweg knüpfen die einen an die theoretischen Elemente, die anderen an die historischen Elemente in der klassischen bürgerlichen Ökonomie an, beide Richtungen also das klassische Erbe auf bürgerliche Art „pflegend", indem sie das Negative weiterentwickeln und das Positive verleugnen. Aus den Theoretikern gegen den Mehrwert, die z. B. noch Böhm-Bawerk und zum Teil sogar noch Joseph Schumpeter waren, sind sie zu Theoretikern ohne den Mehrwert geworden. Ob „wertlose" Theorien, wie die von Gustav Cassel, oder „historische", wie die von Walter Eucken, der Gesichtspunkt zu ihrer Systematik ergibt sich nicht mehr aus ihren „Systemen", nicht mehr daraus, wie sie die Probleme des Kapitalismus lösen wollen, weil sie diese Probleme nicht mehr kennen. Der Gesichtspunkt zu ihrer Systematik ergibt sich aus ihrer Funktion und ihrer Bedeutung als Waffe der imperialistischen Bourgeoisie für die Verteidigung des sterbenden Kapitalismus gegen die Arbeiterbewegung. Mit der Behauptung, die entscheidende Rolle spiele „die Einwirkung des Menschen auf das Wirtschaftsleben", versuchen die bürgerlichen Ökonomen den unumstößlichen Charakter der objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu widerlegen. Während eine Gruppe von „Theoretikern" versucht, gegen den Begriff objektiven ökonomischen Gesetze anzukämpfen, nehmen andere gegen Begriff der Kausalität Stellung, indem sie behaupten, er müsse durch Begriff „funktioneller Zusammenhang" ersetzt werden, der das Ergebnis Studiums von Tatsachen sei.

der den den des

Verschiedene Vertreter dieser Richtung behaupten, daß die politische Ökonomie nicht sosehr eine Wissenschaft als vielmehr eine Kunst sei und daß der Wirtschaftswissenschaftler wie ein Arzt „empirisch" eine Diagnose stellen müsse, auf deren Grundlage er dann versuchen kann, eine Methode der „Behandlung" vorzuschreiben. 32 Behrens

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Es gibt indes gewisse Punkte, über die alle gegenwärtigen bürgerlichen Ökonomen einer Meinung sind. Dazu gehört zum Beispiel die Frage des Staates. Alle behaupten, der Staat sei ein Organismus, der „über den Klassen" stehe und „allgemeine" Interessen zu vertreten habe. Verschiedener Meinung sind sie nur über die konkrete Wirtschaftspolitik des bürgerlichen Staates. Die „Neoliberalen" vertreten den Standpunkt, der Staat müsse in erster Linie jeden wie immer gearteten Eingriff in das Eigentumsrecht verbieten und dürfe sich in wirtschaftliche Dinge nur einmischen, um die „Wirtschaftsfreiheit" in den Fällen wiederherzustellen, wo sie gefährdet ist. Die Verfechter der „Wirtschaftsführung" durch den Staat (die sogenannten Dirigisten) meinen, der Staat müsse das gesamte Wirtschaftsleben des Landes „kontrollieren" und „lenken" — natürlich im Rahmen des Kapitalismus. Am stärksten wird diese Theorie der „gesteuerten Wirtschaft" und der sogenannten „Planung" von den Rechtssozialisten und der Gruppe der A n hänger des „Plankapitalismus" propagiert. Sie behaupten, der bürgerliche Staat sei in der Lage, die Wirtschaft zu leiten, die Truste zu kontrollieren, Entscheidungen über Kapitalinvestitionen zu treffen, die für die Wirtschaft des Staates nützlich sind, Vollbeschäftigung zu gewährleisten usw. In Wirklichkeit ergibt sich aber aus den Vorschlägen der Befürworter der „gelenkten Wirtschaft" eine ständige Erweiterung der Vollmachten der Monopole, die das Kommando über den Staatsapparat haben. Es liegt auf der Hand, daß durch die Verwirklichung derartiger Pläne die Monopole eine immer günstigere Stellung erhalten, während die nicht monopolisierten Teile der Wirtschaft noch schärfer unterdrückt werden. Zugleich wird die Theorie der „gelenkten Wirtschaft" dazu ausgenützt, um gegen die Arbeiterklasse angewandte Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen. Es. ist bezeichnend, daß der von den Anhängern solcher Theorien vorgeschlagene Weg zum Faschismus führt. Das ist selbstverständlich kein Zufall! In der vormonopolistischen Epoche des Kapitalismus rechtfertigten die durch die kapitalistische Basis hervorgebrachten und von den bürgerlichen Ökonomen formulierten ökonomischen Anschauungen und Theorien das privatkapitalistische Eigentum und die Unternehmerinitiative. Sie begründeten die Notwendigkeit der „Freiheit" der Massen im bürgerlichen Sinne, d. h. im Sinne der Freiheit ihrer Ausbeutung durch die Kapitalisten. In der Epoche des Imperialismus und insbesondere in der Periode der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems vollziehen sich in den politischen und juristischen Anschauungen der Bourgeoisie gewisse Veränderungen. Die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution in den kapitalistischen Ländern wird den w e r k tätigen Massen immer klarer, und die Kräfte des Sozialismus und der Demokratie werden so stark, daß die kapitalistische Basis sich ihrem endgültigen Zusammenbruch nähert. Die bürgerlichen Ökonomen rechtfertigen und verteidigen als Ideologen der imperialistischen Bourgeoisie zwar das kapitalistische Eigentum und die Unternehmerinitiative ebenfalls, aber sie begründen nun zugleich die Notwendigkeit der sogenannten „Lenkung" der Wirtschaft 498

durch den Staat, d. h. die Verschmelzung des bürgerlichen Staates mit den Monopolen. Diese Verschmelzung des bürgerlichen Staates mit den Monopolen bedeutet die direkte Unterordnung des bürgerlichen Staates unter die Monopole, d. h. die unmittelbare und direkte Lenkung der Regierung, des Parlaments, der Justiz, der Schule usw. durch die Monopolisten. Mit diesen Veränderungen in den ökonomischen Anschauungen und „Theorien" eröffnen die bürgerlichen Ökonomen jetzt einen aktiven Kampf gegen die von ihnen im vormonopolistischen Kapitalismus noch anerkannten bürgerlich-demokratischen Freiheiten. Sie begründen und rechtfertigen die Notwendigkeit des Krieges und der Vorbereitung des Hinterlandes des kapitalistischen Staates hierauf durch den Faschismus. Dazu kommt, daß die bürgerlichen Ökonomen sich jetzt bemühen, die Verstärkung der hemmungslosen Ausbeutung der Werktätigen und die Einführung amerikanischer Lohnsysteme zu rechtfertigen. Zu diesem Zweck haben sie die Theorie aufgestellt, daß sich die Steigerung der Arbeitsproduktivität im Kapitalismus für die Arbeiter günstig auswirken könne. Sie versuchen, die Arbeiter davon zu überzeugen, daß der einzige Ausweg aus der Not und Unsicherheit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse darin bestehe, sich den Ausbeutern bedingungslos zu unterwerfen. Diese, mit Verlaub zu sagen, Theorie ist von der Bourgeoisie natürlich mit Begeisterung aufgegriffen worden. Die Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist die Periode der schärfsten Zuspitzung aller Widersprüche des kapitalistischen Systems, seiner völligen Zersetzung und Fäulnis, seines schnelleren Verfalls und Sterbens. Dementsprechend zersetzt sich und zerfällt auch die bürgerliche Ökonomie in schnellem Tempo. Die Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist aber auch die Periode des heftigsten Kampfes des Imperialismus gegen die Sowjetunion und gegen die Länder der Volksdemokratie und die Deutsche Demokratische Republik. Dementsprechend ist es auch Hauptaufgabe der bürgerlichen Ökonomie, gegen die Sowjetunion und gegen die Volksdemokratie und gegen die Deutsche Demokratische Republik zu hetzen. Weil der Kapitalismus in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus ohne Perspektive ist, ist auch die Ideologie des Monopolkapitals ohne Perspektive. Auf der Beratung des Informationsbüros Kommunistischer Parteien im November 1949 warnte M. Suslow: „Das ideologische Rüstzeug der von den Kriegsbrandstiftern und ihren Helfershelfern betriebenen Propaganda ist äußerst primitiv, was jedoch nicht ') M. Suslow, „Die Verteidigung des Friedens und der Kampf gegen die Kriegsbrandstifter"; „Beratung des Informationsbüros Kommunistischer Parteien", Dietz Verlag, Berlin 1951, S. 33. 32'

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bedeutet, daß es keinen Schaden bringt." 1 ) Deshalb dürfen wir es auch nicht verschmähen, uns mit ihren „Theorien" selbst zu befassen und nicht nur — wie es manchmal geschieht — nur mit ihren Schlußfolgerungen. 1. Der

Institutionalismus

Der Institutionalismus ist die historische Schule der bürgerlichen Ökonomie in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Er ist, wie Jürgen Kuczynski richtig feststellt, „eine Sonderform des bürgerlichen verzerrten Historismus in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus". 1 ) An die Stelle der Erforschung der objektiven ökonomischen Gesetze tritt bei den Institutionalisten die n u r noch empirische Tatsachenforschung und die rein statistische Beschreibung. Es ist kein Zufall, daß der Institutionalismus in den USA „als eine eigenständige Lehre amerikanischer Geistesart" entstand, „aber trotz dieser Selbständigkeit in ihren Anschauungen in mancherlei Hinsicht eine Verwandtschaft mit der historischen Schule erkennen" läßt, wie der bürgerliche Dogmenhistoriker erklärt. 2 ) Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nach dieser Auffassung — soweit man überhaupt von Entwicklung sprechen könne — vielmehr das Resultat aufeinander einwirkender gesellschaftlicher Einrichtungen (Institutionen), Organisationsformen und „Verhaltensformen der Einzelmenschen" (Behaviorismus). Daraus folgt, daß nur eine laufende Beobachtung von Tatsachen möglich sei, jedoch keine Verallgemeinerung der Erfahrungen zu Regeln und Gesetzen. Die Institutionalisten sind Feinde jeder Theorie, da Gesetze nach ihnen von den Menschen in die Gesellschaft hineingetragen werden. Lenin sagt von solchen Ideologen: „Das Verzweifeln an der Möglichkeit, die Gegenwart wissenschaftlich zu analysieren, der Verzicht auf die Wissenschaft, das Bestreben, auf alle Verallgemeinerung zu pfeifen, sich vor allen ,Gesetzen' der geschichtlichen Entwicklung zu verstecken, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen zu wollen — das ist der klassenmäßige Sinn dieses modischen bürgerlichen Skeptizismus . . ,"3) Und an anderer Stelle bemerkt er: „Die Gesetze aus der Wissenschaft hinauszujagen, bedeutet in Wirklichkeit nur, die Gesetze der Religion durchschmuggeln zu wollen." 4 ) Für Deutschland ist f ü r solche Auffassungen typisch Werner Sombart (1863—1941). Sombart ging von der historischen Schule der bürgerlichen Ökonomie aus und suchte das zu verwirklichen, was weder die „ältere" noch die „jüngere" historische Schule vermochte, Sombart war, wie Salin schreibt, „nicht gehemmt durch Verfahrensbedenken, noch durch S t o f f u r c h t . . ."•>) ') der 2 ) 3 ) 4 ) 5 ) 500

Die politökonomische Apologetik des Monopolkapitalismus allgemeinen Krise des Kapitalismus, Berlin 1952, S. 50. Stavenhagen, a. a. O., S. 92. Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XVII, Zürich 1935, S. 333. Ebd., S. 337. A. a. O., S. 183.

in der Periode

Sombart teilte die bestehenden Systeme der Ökonomie, indem er sie „auf ihre letzten Erkenntnisgrundlagen zurückführen" wollte, um sie •— wie er sagte — „dadurch einander vergleichbar zu machen", in drei „Grundeinstellungen" ein: in die richtende, die ordnende und die verstehende Volkswirtschaftslehre. Die richtende Volkswirtschaftslehre wolle nicht so sehr das lehren, was ist, sondern vielmehr das, was sein soll. Ihre Vertreter fassen die Volkswirtschaftslehre somit als eine Normwissenschaft auf. Sie treiben nach Sombart keine Wissenschaft, weil sie von außerökonomischen Idealen ausgehen, nach denen sich die Wissenschaft richten solle. Die ordnende Volkswirtschaftslehre dagegen treibt nach Sombart Wissenschaft, weil sie erkennen wolle, was ist. Sie strebt „die Allgemeingültigkeit ihrer Forschungsergebnisse an". Hierfür sollen „einfache, wenn möglich berechenbare und meßbare Tatsachen — qualitätslose Größen — genommen werden". Sie kann nach Sombart „nur soweit volkswirtschaftliche Vorgänge erkennen, als es Quantitäten oder quantifizierbare Erscheinungen im Wirtschaftsleben gibt". Die verstehende Volkswirtschaftslehre ist Erfahrungs-, Kultur- und Sozialwissenschaft. Sie ist Erfahrungswissenschaft, „weil ihr Untersuchungsgebiet der raum-zeitlichen Wirklichkeit angehört; sie ist Kulturwissenschaft, weil die von ihr zu erklärenden Erscheinungen nur durch die Sphäre des Geistes hindurch verstanden werden können"; sie ist Sozialwissenschaft, „weil ihr Gegenstand: die Wirtschaft, einen Teil der menschlichen Gesellschaft bildet, und zwar ihrem Wesen nach, so daß das Soziale ein a priori ist, wenn wir Wirtschaft denken". Die Bestandteile des Wissens können nach Sombart nur dann zu einem System gefügt werden, wenn sie nach einer Idee geordnet werden. Eine solche systembildende Idee für die Volkswirtschaftslehre ist nach Sombart die „Idee" der Wirtschaft: für den Bedarf die Deckung zu schaffen. Zwecksetzungen, Beweggründe und Verhaltungsregeln der wirtschaftenden Menschen treten in der Wirtschaftsgesinnung zutage, und die Wirtschaftsgesinnung schlägt sich in der Wirtschaftsordnung nieder. Sombart versteht schließlich unter „Wirtschaftssystem die als Einheit gedachte Wirtschaftsweise, die 1. von einem bestimmten Geiste (Wirtschaftsgesinnung) beherrscht ist; 2. eine bestimmte Ordnung und Organisation hat; 3. eine bestimmte Technik anwendet". Dieser Begriff des „Wirtschaftssystems" wird von Sombart auf alle ökonomischen Formationen von der primitivsten bis zu der höchstentwickelten angewandt. Sombart will also nicht die objektiven ökonomischen Gesetze erkennen, die jeweiligen Grundgesetze der Produktionsformationen sowie die allgemein wirkenden und die kurzfristig wirkenden Gesetze, wie sie die politische 501

Ökonomie des Marxismus-Leninismus erforscht, er will nicht die jeweilige ökonomische Struktur, die Produktionsverhältnisse als die gesellschaftliche Seite der Produktionsweise untersuchen, sondern „die Sinnzusammenhänge der Wirtschaft als Kulturwirklichkeit erklären". 1 ) Wir werden sehen, wie Werner Sombart von der Leugnung objektiver Gesetzmäßigkeiten über die „Wirtschaftsgesinnung" zum Theoretiker des deutschen Faschismus wurde. Eine andere Variante vertrat Max Weber (1864—1920). Er begründete die objektivistische Auffassung, die f ü r viele bürgerliche Ökonomen dieser Periode typisch ist. Max Weber verlangt die völlige Trennung der „Sozialwissenschaft" von der „Sozialpolitik". Der Wirtschaftswissenschaftler hat ausschließlich die Aufgabe, sich der Erforschung der Wirklichkeit zu widmen, die er objektiv darstellen soll. Es ist jedoch ausschließlich die Aufgabe des Politikers, Schlüsse f ü r die Praxis aus den Forschungsresultaten zu erzielen. 2 ) Was bedeutet dieser bürgerliche Objektivismus? Im J a h r e 1919 hielt Max Weber vor der akademischen Jugend in München einen Vortrag über das Thema „Wissenschaft als Beruf". In diesem Vortrag rief er aus: „Politik gehört nicht in den Hörsaal." Politische Stellungnahme im Hörsaal sei ein „Frevel", meinte Max Weber! Und Weber stellt die Frage, wer denn der Jugend, insbesondere also der akademischen Jugend sagen solle, was sie zu tun habe? „Wer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: Was sollen wir denn tun? und: Wie sollen wir unser Leben einrichten?" fragte Weber. Die Antwort, die Max Weber auf diese von ihm selbst gestellte Frage im J a h r e 1919 gab, lautete: „Nur ein Prophet oder ein Heiland." Während aber Weber sofort hinzufügt, „der Prophet, nach dem sich so viele unserer jüngsten Generationen sehnen, ist noch nicht da", predigt dieser „Prophet" bereits in München! Während Max Weber die „Objektivität" des Wissenschaftlers forderte, sammelte Adolf Hitler die Kräfte der deutschen Reaktion; während Max Weber die Parteilichkeit des Wissenschaftlers verwarf, organisierte sich die Partei, die unser ganzes Volk und auch die deutsche Wissenschaft an den Abgrund führte. Die Forderung dieses bürgerlichen „Objektivismus" ist also sehr eindeutig und augenfällig eine Parteinahme f ü r die Reaktion! Sie ist in unserer gegenwärtigen Situation eine Forderung nach direkter und unmittelbarer Unterstützung des Lagers des Imperialismus und des Krieges und nach Schwächung des Lagers der Demokratie und des Friedens. Der bürgerliche „Objektivismus" ist sehr weit entfernt davon, „parteilos" zu sein; er ist eine Waffe, eine Waffe der Imperialisten und der Kriegstreiber, ') Stavenhagen, a. a. O., S. 43. ) „Gesammelte Aufsätze zur Wirtschaftslehre", Tübingen 1922; „Wissenschaft als Beruf", München 1919; „Politik als Beruf", München 1919. 2

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eine Waffe zur Schwächung der Friedensfront — und damit auch unserer Deutschen Demokratischen Republik als eines Bestandteiles dieser Friedensfront! Die Erforschung und Darstellung der objektiven ökonomischen Gesetze schließt bereits die Parteinahme, die Teilnahme am Klassenkampf ein. Eine andere Variante wird von Walter Eucken (1891—1950) vertreten. Eucken unterscheidet zwei Grundtypen der Wirtschaft, die „Verkehrswirtschaft" und die zentral geleitete „Verwaltungswirtschaft". Diese teilt er in total zentral geleitete Wirtschaft, in zentral geleitete Wirtschaft mit Konsumguttausch, mit freier Konsumgutwahl und schließlich mit freier Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes ein. Bei der Verkehrswirtschaft sind je nach dem Einfluß des Angebotes und der Nachfrage auf die Preisbildung, Konkurrenz, Teiloligopol, Oligopol (mehrere große Konkurrenten), Teilmonopol und Monopol zu unterscheiden. Mit dieser „Morphologie" kann man, so glaubt Eucken, die ökonomische Wirklichkeit erkennen. Der gesellschaftliche Produktionsprozeß, das materielle Leben verschwindet auch hier völlig. Es ist kein Wunder, daß solche Konstruktionen selbst dem „anschaulichen" Ökonomen und Dogmenhistoriker Salin zu gewagt werden! Euckens Theorie, so meint er, sei zwar ein Fortschritt gegenüber dem bisherigen Stand der Theorie. „Eucken geht aber insofern weiter, als er die beiden Grundtypen in verschiedene Wirtschafts- bzw. Marktformen unterteilt, die ihrerseits mit verschiedenen Bedingungen wie unbeschränkter oder beschränkter Zulassung zum Markt, Preisfreiheit oder Preisfixierung und vor allem mit den von ihm unterschiedenen Geldsystemen zu kombinieren sind. J e nach der Zahl der durchgeführten Kombinationen käme man so zur Unterscheidung von bis zu 400 Formen!" 1 ) Euckens Begriffe sind, wie Salin mißbilligend feststellt, „aus verschiedenen Elementen kombinierte Konstruktionsmodelle".2) Aber diese „Konstruktionsmodelle" haben für die bürgerliche Ökonomie in der Periode der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems doch eine große Bedeutung! Mit ihrer Hilfe kann man jede Gesetzmäßigkeit der ökonomischen Wirklichkeit leugnen, man braucht nicht einmal mehr die „Wirtschaftsgesinnung" für den Begriff des Wirtschaftssystems zu strapazieren! Wenn es aber keine gesetzmäßige Entwicklung mehr gibt, so hat das den Vorteil für das Monopolkapital, daß die „Wirtschaftsordnung" von 1948 zum Beispiel grundverschieden ist von der im Jahre 1914 und die von 1914 wieder grundverschieden ist von der im Jahre 1939 und keine von ihnen aus der anderen herauswachsen mußte. Der Monopolkapitalismus ist also nicht mit gewissen Erscheinungen, die als „Fehler" des Systems des Kapitalismus empfunden werden könnten, behaftet. Da die Wirtschaftsordnungen so schnell folgen, verliert der Begriff des Kapitalismus jeden Sinn. „Weil der Begriff des

2)

A. a. O., S. 213. Ebd., S. 214.

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Kapitalismus über das Ordnungsgefüge der Wirtschaft nichts Bestimmtes aussagt, eignet er sich nicht zur Bezeichnung wirtschaftlicher Wirklichkeit." 1 ) Auch die zyklischen Krisen der Überproduktion verlieren damit selbstverständlich ihren gesetzmäßigen Charakter f ü r den nicht existierenden Kapitalismus. Jede Krise wird so individualisiert und historisiert, daß sich der Schluß ergibt: „Bemühen wir uns nicht mehr vergeblich darum, einen Normalzyklus von Aufschwung, Krise und Depression zu konstruieren — in der Hoffnung, so zu einer Konjunkturtheorie und hierdurch zu einer Konjunkturerklärung zu gelangen . . . Die Einzigartigkeit jeder einzelnen Konjunkturbewegung ergibt sich aus zwei Gründen: aus der Einzigartigkeit jeder einzelnen Wirtschaftsordnung und aus der Besonderheit nichtwirtschaftlicher Ereignisse, welche die Daten verändern." 2 ) Es kann nicht meine Aufgabe sein, den Prozeß der Verflüchtigung der in der historischen Schule der bürgerlichen Ökonomie noch verbliebenen und vorhandenen wissenschaftlichen Substanz im einzelnen zu untersuchen. Uns genügt der Grundzug. Es ist sowenig ein Zufall, daß der Institutionalismus amerikanischen Ursprungs ist, wie es zufällig ist, daß die bekanntesten Institutionalisten bürgerliche Ökonomen der Zitadelle des Kapitalismus sind. Die bekanntesten Institutionalisten sind Thorstein Veblen, J.R. Commons, J. B. Clark und W. C. Mitchell,3) R. E. Tugwell und W. H. Hamilton. So hat also, ausgehend von der empirischen Forschung der historischen Schule, der Institutionalismus die ökonomische Wirklichkeit in funktionale Beziehungen aufgelöst.

2. Der

Funktionalismus

Die subjektive Theorie hat sich durch ihre immanente Kritik selbst aufgelöst. Was wir heute in der bürgerlichen Ökonomie als vorherrschend haben, ist der sogenannte „Funktionalismus"! Dieser „Funktionalismus" ist auch die Fortsetzung der historischen Schule und besteht seinem Wesen nach in der Feststellung und Beschreibung der Oberflächenerscheinungen des monopolistischen Kapitalismus und lehnt — bewußt — die aus dem „Wert" sich ergebende Problemstellung ab. Aber noch ein zweites Merkmal hat dieser „Funktionalismus": Er unterscheidet sich prinzipiell nicht mehr von der ') Eucken, „Die Grundlagen der Nationalökonomie", a. a. O., S. 103. 2 ) Ebd., S. 296 u. 298. 3 ) Vgl. hierzu Kuczynski, a. a. O., S. 52. „Erst allmählich jedoch, vornehmlich in den Arbeiten von Mitchell aus den zwanziger Jahren und in den Schriften des von ihm geleiteten National Bureau of Economic Research in New York, wird aus dem Institutionalismus (und nicht ohne Einflußnahme des reaktionären Philosophen John Dewey) die völlig anarchische Lehre, die überhaupt keine Gesetze mehr kennt." Hier auch Literaturangaben.

504

Vulgärökonomie! Während es bislang neben der „wissenschaftlichen" Ökonomie — auch wenn wir ihre Wissenschaftlichkeit in Anführungszeichen setzen — das galt für die von den Klassikern kommende Produktionskostentheorie und das galt von der subjektiven Theorie —, eine vulgäre Ökonomie gegeben hat, ist dieser Unterschied in der modernen bürgerlichen Ökonomie nunmehr verschwunden! Wenn Marx die Vulgärökonomie dahin charakterisierte, daß sie „überall auf den Schein, gegen das Gesetz der Erscheinung pochte", so trifft genau das heute auch auf den modernen „Funktionalismus" und damit auf die moderne bürgerliche Ökonomie insgesamt zu! Die Vulgärökonomie „bekennt" — schrieb Marx —, „daß sie auch nicht einmal eine Ahnung über die Probleme besitzt, die die klassische Ökonomie beschäftigt haben". Aber genau das trifft heute auch auf die bürgerliche Ökonomie insgesamt zu! Während — das kann man nicht bestreiten — z. B. Jevons, Menger, Böhm-Bawerk und andere diese Probleme noch sehr genau kannten, besteht der „wissenschaftliche Charakter" der modernen bürgerlichen Ökonomie nur in ihrem formal-logischen Aufbau! Sie kennt die Probleme nicht einmal mehr, und sie „tut in der Tat nichts, als die Vorstellungen der in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen befangenen Agenten dieser Produktion doktrinär zu verdolmetschen, zu systematisieren und zu apologetisieren", wie Marx über die Vulgärökonomie schrieb. Obwohl Vilfredo Pareto vom Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie aus den Nachweis für die Unmöglichkeit, den Nutzen zu messen, erbracht hat und die immanente Zersetzung der subjektiven Schule damit abgeschlossen ist, geht die moderne bürgerliche Ökonomie gleichwohl nach wie vor vom Nutzen, d. h. vom individuellen Gebrauchswert aus. Für das von Pareto geschaffene System des „Funktionalismus" ist zweierlei, wie Hans Mayer feststellt, charakteristisch: „Erstens die strenge und ausnahmslose Ersetzung der kausalen Erfassung der Verbindungen der Elemente des ökonomischen Systems durch das Schema der gegenseitigen konventionalen Abhängigkeit und zweitens der Verzicht auf die ihm gänzlich irreal und daher unzulässig erscheinende Ausnahme der Meßbarkeit der Bedürfnisdringlichkeiten und -Wichtigkeiten und ihre Ersetzung durch ein reich experimentell gewonnenes System von mit bestimmten Indexziffern versehenen Rangordnungen der verschiedenen möglichen Güterkombinationen..."') Das heißt mit anderen Worten: Nach der Aufgabe des kausal-genetischen Standpunktes, der mit der Aufgabe der Meßbarkeit des Nutzens notwendig verbunden war, blieb der bürgerlichen Ökonomie nur noch, von den tatsächlich auf dem Markt erfolgenden Handlungen auszugehen und diese zu beschreiben, statt sie zu erklären. Der Funktionalismus will „ein funktionell-rationales Denkschema zur Verfügung" stellen, das es erlaubt, „über die Kausalverkettung hinwegzuspringen, Hans Mayer, „Der Erkenntniswert der funktionellen Preistheorie" in: Die Wirtschaftstheorie der Gegenwart, Bd. II, 1932, S. 199/200.

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und statt Ursache und Wirkung und die gegenseitige Verknüpfung, die substantielle Abhängigkeit zu geben, an die Stelle eines Kausalgesetzes ein horizontal und vertikal bestehendes Interdependenzsystem zu setzen, auch einem Mechanismus gleich".1) Der „Grundgedanke" des Funktionalismus ist „die Frage nach dem Zustandekommen eines Marktgleichgewichtes". 2 ) Was heißt das? Verschwunden ist die ökonomische Gesetzmäßigkeit, verschwunden ist vor allem der objektive ökonomische Wert, der den bürgerlichen Ökonomen der nachklassischen Periode so viel Kopfzerbrechen machte, bis sie ihn schließlich durch den subjektiven Wert, den Grenznutzen ersetzten. „Der technische Apparat der Grenznutzenschule ist h e u t e . . . " , so meint Salin, so verfeinert, „daß von ihr fast schon das gleiche gilt wie von der mathematischen Schule: aus einer Schule ist eine Technik geworden, die von jeder Richtung und in jeder Richtung benutzt werden kann." 3 ) Da sie die ökonomische Gesetzmäßigkeit leugnet, also auch keine ökonomischen Gesetze kennt, so braucht die moderne bürgerliche Ökonomie auch keinen Wert. Gustav Cassel (1866—1945) ist als Vertreter der bürgerlichen Ökonomie „ohne Wert" am bekanntesten geworden. In seinen Werken „Theoretische Sozialökonomie", 1918, und „Die Grundgedanken der theoretischen Nationalökonomie", 1926, entwickelte er seine Theorie, die nach Tautscher „in ihrer mathematischen Fassung als letzte Fassung des klassischen Lehrgutes anzusprechen ist". 4 ) Es ist nicht ganz klar, was Tautscher unter „letzte Fassung" versteht — auf jeden Fall ist die sozialwissenschaftliche Substanz der bürgerlichen Klassiker der Ökonomie aus der Casselschen Theorie verschwunden! Cassel geht vom Prinzip der Knappheit aus. „Nur knappe Mittel sind wirtschaftliche Mittel." Um die Knappheit der Mittel am vorteilhaftesten zu überbrücken, muß mit den gegebenen Mitteln die größtmögliche Bedürfnisbefriedigung erreicht werden. Da die Güterbeschaffung nicht im Rahmen der Einzelwirtschaft vor sich gehen kann, hat sich „eine größere wirtschaftliche Einheit aus einem gewissen Kreis von Einzelwirtschaften gebildet, die miteinander in wirtschaftlicher Verbindung stehen und ihre Bedürfnisbefriedigung nur durch Zusammenwirken und durch gegenseitigen Austausch von Diensten und Produkten gewinnen". Das Inverbindungtreten und Zusammenwirken der Einzelwirtschaften macht die Gesamtwirtschaft oder die Volkswirtschaft aus. Die Einzelwirtschaften stellen mit dem Geld, das sie auszugeben bereit sind, Ansprüche an die Güterversorgung der Gesamtwirtschaft, die eine Tauschwirtschaft ist. „Da diese Güterversorgung immer im ') Karl Brandt, Die Problemstellung in der gegenwärtigen Preistheorie, Zeitschrift für die ges. Staatswiss., Bd. 109, 1953, Heft 2, S. 255. 2 ) Ebd. 3 ) A. a. O., S. 191/192. 4 ) A. a. O., S. 85. 506

Zeichen der Knappheit steht, müssen die Ansprüche irgendwie beschränkt werden, d. h., es müssen gewisse Ansprüche von der Befriedigung ausgeschlossen werden." Dies geschieht durch die Preisbildung. Cassel setzt bei der Entwicklung seiner Preistheorie den Geldwert als gegeben voraus. Die Werttheorie hält er für überflüssig, weil er es für eine Fiktion hält, die wirtschaftliche Bedeutung der Güter mit der Intensität menschlicher Bedürfnisgefühle zu messen. Im Geld als dem gemeinsamen Mammon wurden die Wertschätzungen des Menschen als Preis ausgedrückt. Man braucht also unter Verzicht auf eine Werttheorie für die Preistheorie nur eine Rechenskala postulieren, nach der alle Schätzungen vorgenommen werden. Es soll hier auf den Widerspruch in der Casselschen Theorie, den Geldwert vorauszusetzen, obwohl er auf den Wert verzichtet, also Werte gar nicht in Preise verwandeln kann, nicht eingegangen werden. Das ist selbst von bürgerlichen Ökonomen aufgezeigt worden. 1 ) Für uns ist nur wichtig, festzuhalten, daß Cassel im Grund auf dem Boden der subjektiven Werttheorie steht, obwohl er den Wertbegriff als überflüssig eliminiert. Seine ganze Theorie ist auf dem Trick aufgebaut, den objektiven Zusammenhang der gesellschaftlichen Produktion und Zirkulation, der im Preissystem zum Ausdruck kommt, als gegeben hinzunehmen und ihn dann nur „funktionell" zu beschreiben. Da der Preis den Zweck hat, die Güternachfrage zu beschränken und das Güterangebot auf die Nachfrage einzustellen, wird der „Mechanismus der Preisbildung" zum zentralen Problem der Tauschwirtschaft. Das Verteilungsund Einkommensproblem ist nach Cassel nur ein Sonderfall des Preisproblems, und der Zins ist der Preis für Kapital, wobei Cassel unter Kapital die positive Verfügung über „Produktionsgüter", Kapitaldisposition versteht. Stavenhagen meint, daß „Cassels KostenbegrifE... der Kostenvorstellung des praktischen Geschäftsmannes nahe ,stehe', für den jede Summe Geldes, die e r für solche Zwecke ausgegeben hat, Kosten darstellen". 2 ) Cassel bedient sich zur Darstellung des Preisbildungsprozesses eines Systems simultaner Gleichungen. Aber schon vor Cassel bedienten sich Leon Walras und besonders Vilfredo Pareto (1848—1923) mathematischer Methoden, um das Preisproblem zu lösen. Dabei gingen sie aus von der Vorstellung des Marktgleichgewichtes, das dann eintritt, wenn für keinen Käufer oder Verkäufer ein Grund vorliegt, an den ihm zur Verfügung stehenden Gütermengen eine Änderung vorzunehmen. Preis, Angebot und Nachfrage stehen in einem Funktionalverhältnis zueinander. Die einzelnen Preise stellen Schnittpunkte der Nachfragekurve, die die Bedürfnisse der zahlungsfähigen Käufer zum Ausdruck bringt, mit der Angebotskurve dar, die eine Kostenkurve ist. Die Nachfrage verlagert sich, wenn der Preis einer Ware steigt, und ') Vgl. Stavenhagen, a. a. O., S. 136. ) A. a. O., S. 165.

2

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umgekehrt. Das Angebot verhält sich umgekehrt. Bei jedem Gleichgewichtszustand entsprechen die Preise dem Grenznutzen. Weitere Vertreter der mathematischen Methode in der Ökonomie sind Enrico Barone (1859—1924) und Maffeo Pantaleoni (1857—1924). Auch William Stanley Jevons (1835—1882) und Alfred Marshall (1842—1924) und andere, die teils von der bürgerlichen Klassik, teils von der Grenznutzentheorie h e r kamen, bedienten sich der mathematischen Methode. Was heißt das? „Die Anhänger der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, unter ihnen vor allem Pareto, haben die Wertlehre und jegliche psychologische Fundierung der Theorie fallen gelassen und an Stelle der kausalen Betrachtungsweise die funktionale gesetzt, wobei die funktionalen Beziehungen, die zwischen den Elementen ihres Systems bestehen, ,mittelst möglichst kurzer und möglichst allgemeingültiger Formeln' festgehalten und beschrieben werden." 1 ) Als Vertreter dieser Richtung der bürgerlichen Ökonomie, die sich mathematischer Methoden zur Lösung und Darstellung bedienen, kann neuerdings Heinrich von Stackelberg (1905—1941) gelten. Stackelberg leitete — wie er selbst betont — seine „Grundzüge der theoretischen Volkswirtschaftslehre" mathematisch ab,2) verzichtet also völlig auf die Analyse der konkreten ökonomischen Vorgänge. Das kommt bereits in der „Grundlegung" seiner Theorie zum Ausdruck, die auf inhaltslosen, d. h. formalen Konstruktionen beruht. Stackelberg nennt die Gesamtheit von Einrichtungen und Maßnahmen zur „planvollen Deckung des menschlichen Bedarfs" nach Gütern „Wirtschaft". Im „Begriff der Wirtschaft" liege — so postuliert Stackelberg — also schon die „Planmäßigkeit". 3 ) Auch das ist charakteristisch f ü r die moderne bürgerliche Ökonomie! Der Bedarf entstehe, heißt es dann weiter, aus der „Tatsache, daß Menschen f ü r ihre verschiedenen Zwecke Mittel der äußeren Welt, d. h. Güter benötigen. Die Vorsorge f ü r die Beschaffung dieser Mittel ist notwendig, weil die meisten Güter nicht in solcher Menge zur Verfügung stehen, daß der Bedarf nach ihnen vollständig gedeckt werden könne. Deshalb sind die knappen Güter — Sachgüter und menschliche Dienstleistungen — Objekte des Wirtschaftens. Die Subjekte aber sind die verschiedenen sozialen Gebilde — Familienhaushalte, Betriebe, Vereine, Verbände und nicht zuletzt der Staat, sofern sie Wirtschaftspläne aufstellen". 4 ) „Wirtschaftssubjekte" sind jetzt nicht mehr, wie bei den strengen Subjektivisten, die Individuen. Es sind „soziale Gebilde". Alle diese „Wirtschafts') Stavenhagen, a. a. O., S. 144. ) Heinrich von Stackelberg, Grundzüge der theoretischen Volkswirtschaftslehre, Bern 1948, S. X. 3 ) A. a. O., S. 10. 4 ) Von Stackelberg, a. a. O., S. 1. 2

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Subjekte" stellen jetzt „Wirtschaftspläne" auf. Die Wendung geht also von der „wandelnden Bedürfnisskala" der Grenznutzler zu den „planenden" sozialen Gebilden! Aber die „Pläne", die diese Wirtschaftssubjekte aufstellen, unterscheiden sich prinzipiell nicht von den „Plänen", die die Individuen der älteren Theorie aufstellten. Es sind „Pläne", die sich aus dem „Wesen" des Menschen, aus seiner „Natur" ergeben — keine aus der „sozialen" Gegebenheit entstehenden „Pläne"! „Ist das System der Bedürfnisse in seiner Gesamtheit auf die Meinung oder auf die gesamte Organisation der Produktion begründet", fragt Marx in seinem „Elend der Philosophie", um zu antworten: „In den meisten Fällen entspringen die Bedürfnisse aus der Produktion oder aus einem auf die P r o duktion begründeten allgemeinen Zustand. Der Welthandel dreht sich fast ausschließlich um Bedürfnisse nicht der Einzelkonsumtion, sondern der Produktion." 1 ) Aber hier, bei der modernen bürgerlichen Ökonomie dreht es sich um die „Einzelkonsumtion"! Da die Knappheit der Güter eine vollständige Deckung des Bedarfs ausschließe, stelle jede „Wirtschaftseinheit" eine sachliche und zeitliche Rangordnung ihres Bedarfs auf, fährt Heinrich von Stackelberg fort. Diese Rangordnung richtet sich nach der Wichtigkeit, die von der Wirtschaftseinheit ihren verschiedenen Zwecken zugemessen wird. „Die sachliche Rangordnung stellt eine Abstufung gleichzeitigen Bedarfs dar, während die zeitliche Rangordnung auf dem Vergleich der Zwecke verschiedener Zeitpunkte beruht. Aus der Gegenüberstellung der Rangordnung und der verfügbaren Mittel ergibt sich die Grenze, bis zu der der einzelne Bedarf gedeckt werden kann. Bevor weniger dringliche Bedarfsarten berücksichtigt werden können, wird die Deckung des dringlichen Bedarfs sichergestellt." 2 ) Aus der individuellen „wandelnden Bedürfnisskala" wurde also die Bedürfnisskala der sozialen Gebilde: Das ist das ganze Geheimnis des „Planes", der die produktiven K r ä f t e im Kapitalismus angeblich lenkt! Aber gibt es denn überhaupt einen Kapitalismus? „Das Kapital ist der gesamte jeweils vorhandene Bestand an produzierten Gütern aller Art." 3 ) Also — lautet doch die logische Folgerung: da jede gesellschaftliche Formation einen „vorhandenen Bestand an produzierten Gütern aller A r t " besitzt, sind alle gesellschaftlichen Formationen kapitalistisch oder — es ist selbstverständlich für die bürgerliche Ökonomie „zweckentsprechend" •— da alle gesellschaftlichen Formationen „Kapital" verwenden, gibt es überhaupt keine „besondere" kapitalistische gesellschaftliche Formation. So bewährt sich das alte Rezept der bürgerlichen Ökonomie immer wieder: mit dem Wort das Problem auszulöschen! ') Marx, a. a. O., S. 61. Von Stackelberg, a. a. O., S. 112. 3 ) Ebd., S. 4. 2)

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Die moderne bürgerliche Ökonomie ist viel zu vorsichtig geworden, um sich mit so simplen Problemen abzugeben, wie es die ältere subjektive Theorie noch tat! Die Wirtschaft vollziehe sich im Rahmen der staatlichen Ordnung und einer bestimmten sozialen und rechtlichen Organisation, schreibt von Stackelberg weiter. 1 ) Das kann wohl schlechterdings auch ein „Funktionalist" nicht leugnen! Aber: diese sind der Wirtschaft übergeordnet, sind Daten des Wirtschaftsprozesses, jedoch weder seine Ergebnisse noch seine Objekte. 2 ) Also braucht die „Theorie" sich mit diesen „Daten" nicht zu befassen! Wir können im Anschluß an Eucken, fährt von Stackelberg weiter fort, die gesamtwirtschaftlichen Datengruppen zusammenstellen, mit denen jeder Wirtschaftsplan rechnen muß. Es sind: 1. der jeweilige Bedarf in einer jeweiligen Rängordnung; 2. die drei Produktionsfaktoren: a) der originäre Produktionsfaktor Arbeit, b) der originäre Produktionsfaktor Boden, c) der abgeleitete Produktionsfaktor Kapital; 3. das technische und organisatorische Wissen, aus dem auch eine bestimmte Rangordnung der produktiven Kombinationen resultiere; 4. die rechtliche und soziale Organisation einschließlich aller ordnenden, kontrollierenden und lenkenden Maßnahmen der Wirtschaftspolitik. 3 ) Das alles sind die gegebenen Tatsachen, mit denen die Theorie nichts zu tun hat. Was bleibt, ist eine rein „formale" Theorie, die nichts sagt, weil sie gerade von allen wesentlichen Tatsachen abstrahiert. „Wir brauchen hier" — schreibt daher H. v. Stackelberg auch folgerichtig in seinen „Grundlagen einer reinen Kostentheorie" — „das Wort" U n t e r nehmer „formal", also nicht etwa im Sinne eines Unternehmers der kapitalistischen Wirtschaft. 4 ) Der Betrieb, den v. Stackelberg untersucht, ist die technische Kombination von Produktionsmitteln und Arbeitskraft, nicht der kapitalistische Betrieb. Soweit er zu Ergebnissen kommt, die f ü r die Erkenntnisse des modernen Kapitalismus von einer gewissen Bedeutung sind, ergeben sie sich nicht a u s ihren Grundannahmen, sondern sind die Folge von zusätzlichen Annahmen, die nicht notwendig mit seiner Grundkonzeption zusammenhängen. So heißt es von dem sogenannten „Ertragsgesetz", das eine große Rolle in der modernen bürgerlichen Ökonomie spielt, daß es „nur bei unveränderlichem Stand des technischen und organisatorischen Wissens" 5 ) gelte. Statt ») ) 3 ) 4 ) 5 ) 2

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Ebd., S. 9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9/10. A. a. O., S. 15, Anmerkung 2. Grundzüge einer Theorie der Volkswirtschaftslehre, S. 32.

nun daraus zu folgern, daß es also in der Wirklichkeit nicht gilt, weil die V e r änderungen die Regel und nicht die Ausnahme bilden, folgert H. v. Stackelberg: „Jeder Fortschritt auf diesem Gebiete erhöht den Ertrag und kann deshalb die Wirkung des Ertragsgesetzes zunächst verschleiern." Der Fortschritt der technischen Entwicklung, die Entwicklung der Arbeitsproduktivität also, „verschleiert" das Ertragsgesetz. Ein schönes „Gesetz", das nur für den Ausnahmefall gilt, für die Stagnation der Produktivkräfte also. Und auf solchen natürlichen „Gesetzen" und Begriffen beruht die moderne bürgerliche Ökonomie. „Aber auf dem neuen technischen Niveau gilt wieder das Ertragsgesetz — gleichsam auf einer höheren Ebene." 1 ) Die gleiche Rolle wie das sogenannte „Ertragsgesetz" spielt die „Grenzidee". W o sie brauchbar ist, w i e bei den „Grenzkosten", hat sie nichts mit dem sogenannten Grenznutzen zu tun. Als solcher, ausgehend also v o m I n dividuum, seinem Gütervorrat und dem Nutzen, den die verschiedenen Gütereinheiten dem Individuum gewähren, ist sie für die Analyse des Gesamtprozesses unbrauchbar! 2 ) Das zeigt sich z. B. auch bei dem Betriebswirt Eugen Schmalenbach, der ebenfalls bei seinem „Grenzwert" nicht vom Grenznutzen ausgeht. Nach der Grenzwertidee, schreibt Schmalenbach, komme „den zusätzlichen Kosten der letzten Produktionsschicht eine ähnliche Bedeutung zu w i e den Kosten des teuersten noch zur Bedürfnisbefriedigung heranzuziehenden Erzeugnisses für die Bewegung der Gesamterzeugung . . . oder der Grenznutzen der letzten Konsumtionsmenge... oder der Kosten der schlechtesten Grundstücke für die Rente der besseren oder die Rente kapitalisiert gedacht für den Wert der Gesamtheit der Grundstücke. Alle diese Fälle sind dadurch gekennzeichnet, daß dem Grenzwert nicht nur Bedeutung für den Grenzfall, sondern für den ganzen Komplex der hier zu berechnenden Gütermasse zukommt. Man kann das Gesetz, das allen diesen Fällen zugrunde liegt, als ,Grenzwertgesetz' schlechthin bezeichnen." 3 ) Wir wollen an den Auffassungen — Heinrich von Stackelbergs — die f o r male Theorie des Gleichgewichtspreises demonstrieren. Von Stackelberg beginnt seine Untersuchungen mit der richtigen Feststellung, daß „die Volkswirtschaft... aus sehr vielen Betrieben und Haushalten" besteht. 4 ) „Jede dieser Wirtschaftseinheiten fragt, sobald die Preise aller Güter — auch der Produktionsfaktoren — gegeben sind, bestimmte ') Grundzüge einer Theorie der Volkswirtschaftslehre, S. 32. -) Jevons hat besonders eindeutig den Ausgangspunkt der Subjektivisten — den Gütervorrat — ausgesprochen. „Wir werden die Güterbesitzer betrachten, nicht wie sie fortwährend diese Güter in den Strom des Handelsverkehrs hineinwerfen, sondern als Besitzer bestimmter fester Vorräte, welche sie tauschen, bis das Gleichgewicht erreicht ist." Theorie der politischen Ökonomie, S. 3) Schmalenbach, a.a.O., S. 47. 4) Ebd., S. 163. 511

Güter nach und bietet bestimmte Güter an, und zwar in Mengen, die von sämtlichen Preisen abhängig sind." 1 ) Also: „sobald die Preise gegeben sind" — das ist die nicht mehr weiter zu erklärende Voraussetzung dieser Theorie. Sie geht aus von einem „gegebenen Preissystem", daraus ergibt sich die Menge des Angebots und der Nachfrage der vorhandenen Wirtschaftseinheiten, Betriebe und Haushaltungen. „Diese Mengen summieren sich in einer geschlossenen Volkswirtschaft zu einer Gesamtnachfrage und einem Gesamtangebot in jedem Gut." „In dem sich ergebenden ,Gleichgewichtspreissystem' hat jeder Preis eine solche Höhe, daß Nachfrage und Angebot in jedem Gut einander gleich sind. Das Gleichgewichtspreissystem kann sich im Zeitablauf ständig ändern. In jedem Zeitpunkt gibt es jedoch ein theoretisch mögliches Preissystem, das dieser Gleichgewichtsbedingung genügen würde. Daß die tatsächlichen Preise von diesem gedachten Gleichgewichtssystem mehr oder weniger stark abweichen, steht in unserer Feststellung nicht im Widerspruch. Allerdings müssen wir beachten, daß nicht die absolute Höhe der Preise, das Preisniveau, sondern nur die Verhältnisse der einzelnen Preise zueinander, die Preisrelationen, für die Bestimmung der Gleichgewichtslage entscheidend sind. Eine Verdoppelung oder Halbierung sämtlicher Preise und Einkommen würde das Verhalten der Wirtschaftseinheiten auf den Märkten der verschiedenen Güter in keiner Weise berühren." 2 ) Das „Gleichgewichtspreissystem" wird also unter dem Gesichtspunkt aufgefaßt, daß bei ihm Angebot und Nachfrage eines jeden Gutes zur Deckung gelangen. Was das Angebot ist, als gesellschaftliche Erscheinung, wird ebensowenig begriffen w i e das, was die Nachfrage ist — Summe und Proportionen der Einkommen der gesellschaftlichen Klassen, der Gebrauchswert auf gesellschaftlicher Potenz, nicht individuelles, sondern gesellschaftliches Bedürfnis. Von Stackelberg entwickelt nun — konsequent in seiner formalen A u f fassung — die Kurven für das Angebot und die Nachfrage, die sowohl „individuelle" als auch „gesellschaftliche" Kurven sein können. Heinrich von Stackelberg stellt fest, „ d a ß . . . je höher der Preis, desto geringer die nachgefragte Menge. Die Nachfragekurve ist also negativ geneigt. In ganz entsprechender Weise können wir das Gesamtangebot eines Gutes durch eine Angebotskurve veranschaulichen, die bei normaler Reaktion der Anbieter positiv geneigt ist." 3 ) Preis

Preis

D D

S. Menge

DD = Nachfragekurve J) Ebd. 2) Ebd., S. 163. 3) Ebd., S. 164/165.

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SS = Angebotskurve

Beide hier getrennt gezeichneten Kurven können auch in einem koordinierten System so gezeichnet werden, daß sie sich schneiden. Der Schnittpunkt der beiden Kurven ergibt dann den Punkt, der als „Gleichgewichtspunkt" bezeichnet wird. Zeichnen wir beide Kurven in dasselbe Koordinatensystem ein, so schneiden sie sich in einem Punkt. Dieser Punkt ist der Gleichgewichtspunkt. Seine Abszisse ist die Gleichgewichtsmenge, seine Ordinate der Gleichgewichtspreis. Dieser Gleichgewichtspreis hat drei wichtige Eigenschaften: 1. Nur bei diesem Preis ist die Gesamtnachfragemenge der Gesamtangebotsmenge gleich. Ist der Preis niedriger, so ist die nachgefragte Menge größer, die angebotene Menge kleiner. Ist der Preis höher, dann wird umgekehrt mehr angeboten als nachgefragt. Diese Eigenschaft ist der Grund für die Bezeichnung „Gleichgewichtspreis". 2. Aus dieser Eigenschaft folgt: daß bei Geltung des Gleichgewichtspreises die umgesetzte Menge des Gutes am größten ist. Bei jedem anderen Preis ist entweder die nachgefragte oder angebotene Menge kleiner. 3. Schließlich ist der Gleichgewichtspreis der einzige Preis, bei dem jeder Nachfrager soviel kaufen und jeder Anbieter soviel verkaufen können, als sie zu diesem Preis zu kaufen bzw. zu verkaufen willens sind. „Bei jedem anderen Preis entsteht entweder eine unbefriedigte Nachfrage — oder ein unbefriedigter Angebotsüberschuß."1) Hinter dem „Gleichgewichtspreissystem" verbirgt sich die weitere Feststellung der bürgerlichen Ökonomie, daß im Gleichgewicht die Preise gleich den „Kosten" sind und daß sie zu den Kosten nicht nur die in der Produktion aufgewendete tote und notwendige lebende, sondern auch die Mehrarbeit zählt. „Nehmen wir einmal an", meint von Stackelberg, „der tatsächliche Preis würde aus irgendeinem Grunde unter den Gleichgewichtspreis... sinken. Dann würde mehr nachgefragt, als angeboten werden kann, und die Nachfrager würden nicht so viel kaufen können, wie sie zu diesem Preise zu kaufen bereit sind. Ein Nachfrager, der seinen Bedarf nicht voll gedeckt sieht, wird dem Verkäufer einen höheren Preis bieten, um mehr von dem gewünschten Gute zu erhalten. Die anderen Nachfrager müssen mit ihren Preisangeboten folgen, um nicht ihrerseits leer auszugehen. Diesen Vorgang bezeichnet man als Konkurrenz der Nachfrage. Erst wenn der Preis das Gleichgewichtsniveau erreicht hat, fällt für die Nachfrager jede Veranlassung fort, ihre Preisangebote weiter zu erhöhen. Liegt der Preis umgekehrt über dem Gleichgewichtsniveau, dann setzt die Konkurrenz der Verkäufer ein, da niemand auf seiner Ware sitzenbleiben möchte. Der Preis wird dadurch ») Ebd., S. 165. 33 Behrens

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auf das Gleichgewichtsniveau herabgedrückt." 1 ) „Wir sehen", schließt von Stackelberg seine Untersuchungen, „daß die Konkurrenz der Nachfrager u n d Anbieter den Preis auf die Dauer im Gleichgewicht hält, so daß er immer nur vorübergehend von ihm abweichen kann." 2 )

3. Gleichgewicht

und wirtschaftliche

Entwicklung

Die Wendung zum „Funktionalismus" wurde inzwischen von den h e r vorragendsten Vertretern der bürgerlichen Ökonomie vollzogen. Das heißt allerdings nicht, daß alle bürgerlichen Ökonomen die Wendung zum „Funktionalismus" vollzogen haben. So heißt es beispielsweise bei Adolf Weber in der 4. Auflage seiner „Kurzgefaßten Volkswirtschaftslehre" im J a h r e 1948: „Wert nennen wir die Bedeutung, die ein Gut f ü r die Bedürfnisbefriedigung der Menschen hat." 3 ) Auch Joseph Schumpeter, der den Weg zum „Funktionalismus" nicht nur vorbereitete, sondern anbahnte, schreibt an derselben Stelle, an der Hans Meyer, selber ein Subjektivist, die subjektive Werttheorie vernichtend kritisierte: „In diesem Sinne ist die Grenznutzentheorie nicht eine von vielen konkurrierenden Doktrinen, sondern einfach die momentan einzige Theorie überhaupt. Keine der vorhandenen Besonderheiten und Differenzen berührt das Wesen der Sache." 4 ) Heinrich von Stackelberg, dessen Auffassungen am besten den zurückgelegten Weg der bürgerlichen Ökonomie widerspiegeln, schreibt hierzu: „Schumpeter hat recht, wenn er von einer höheren Warte aus die Einheit der modernen Wirtschaftstheorie unterstreicht. Mit der Wiederentdeckung der Gossenschen Gesetze durch Jevons, Menger und Walras beginnt tatsächlich eine neue Ära der wirtschaftstheoretischen Forschung. Ungeachtet aller Unterschiede im einzelnen, sprechen die Theoretiker heute die gleiche Sprache. Von einer grundsätzlichen Vielheit der Meinungen oder gar von einer babylonischen Sprachverwirrung kann im Bereich der eigentlichen Theorie keine Rede sein." 5 ) Hieran ändert auch die Wendung zum Funktionalismus nichts. Sie verstärkt im Gegenteil noch den apologetischen Charakter der modernen bürgerlichen Ökonomie, läßt ihn klarer zutage treten. Ihr „instrumentaler" Charakter, ihr Formalismus und das heißt: ihre „Inhaltslosigkeit", wird dadurch immer deutlicher. Es ist gewiß kein Zufall, wenn der „Neue Brockhaus" ') =) 3 ) J ) ") 514

Ebd., S. 143. Ebd., S. 1105/1106. Adolf Weber, a. a. O., S. 81. Wirtschaftstheorie der Gegenwart, Bd. I, S. 22. Stackelberg, a. a. O., S. 10.

1941 über Pareto schreibt, daß er „den Marxismus ablehnte". Seine Lehren bilden z. T. die geistigen Grundlagen des Faschismus. Worin besteht dieser „instrumentale" Charakter? Die bürgerliche Ökonomie kann seit langem nicht mehr leugnen, daß die gesellschaftliche Praxis der Wissenschaft neue Aufgaben stellt. So meinte Schmalenbach in der 6. Auflage seiner „Selbstkostenrechnung und Preispolitik" im Jahre 1934, „daß, wenn die Wirtschaft fortschreiten soll, sie in steigendem Umfange exakte Methoden finden muß". 1 ) Das sei in der Wirtschaft nicht anders als in der Technik, fügt Schmalenbach hinzu und bemerkt: „Die Anwendung exakter Methoden bedeutet die Entwicklung der Methoden des Messens und Zählens." Die Notwendigkeit des Zählens und Messens sei für die Gemeinschaft noch wichtiger als für den einzelnen, meint Schmalenbach weiter, sie sei „in der mehr oder weniger gebundenen Wirtschaft noch wichtiger als in der freien Wirtschaft, weil in der freien Wirtschaft manches sich von selbst gestaltet, was in der gebundenen Wirtschaft planmäßig geschehen muß und der Anordnung bedarf". 2 ) Daher entsteht die Frage: „Wer und was tritt an die Stelle dieser Selbständigkeit?" Was der Betriebswirt Schmalenbach 1934 formulierte, entspricht der Empfindung vieler bürgerlicher Volkswirte in den Jahrzehnten zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg. Durch die Errichtung der sozialistischen Planwirtschaft in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution wurde der Wissenschaft eine völlig neue Aufgabe gestellt; die bewußte Lenkung der Produktivkräfte, um die produktiven und konsumtiven Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, die Lenkung der K r ä f t e also, die bislang im Kapitalismus durch das w i e ein Naturgesetz wirkende Wertgesetz reguliert wurden. Aber auch innerhalb des Kapitalismus drängte die Entwicklung infolge der fortschreitenden Vergesellschaftung der Produktion auf eine bewußte Lenkung der produktiven Kräfte, der man gerecht zu werden versuchte durch die einzelkapitalistische Lenkung — Kartellpolitik usw. — einerseits, durch die staatskapitalistische sogenannte Wirtschaftslenkung andererseits. Das neue Schlagwort vom „Plankapitalismus" kennen wir bereits aus den zwanziger Jahren als den „organisierten Kapitalismus". Wenn Schmalenbach im Jahre 1934 weiter feststellte, daß „die Entwicklung des wirtschaftlichen Rechnungswesens" seit Jahrzehnten hindurch „hinter der Entwicklung der Gesellschaft zurückgeblieben sei", 3 ) so trifft das in erhöhtem Maße aber noch für die bürgerliche Ökonomie im allgemeinen zu. Die von der politischen Ökonomie des Marxismus-Leninismus oft bewiesene Behauptung, daß „Planwirtschaft" nur als sozialistische Planwirtschaft möglich, der Begriff „Plankapitalismus" aber ein Widerspruch in sich selbst ist, wurde nicht zur Kenntnis genommen, weil die bürgerlichen Ökonomen sich ') Leipzig 1934, S. III. -) Ebd., S. III. 3) Ebd., S. IV. 33'

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mit der begriffslosen These, daß „Wirtschaften" identisch ist mit „Planen", die Einsicht in die wirklichen Probleme der kapitalistischen Produktionsweise versperren.

a) Der Profit im Gleichgewicht Die moderne bürgerliche Ökonomie geht bei ihrer Ermittlung der verschiedenen sogenannten „Kostenkurven" der Betriebe, insbesondere bei der Ermittlung des Gleichgewichts, von den „Gesamtkosten" aus, die prinzipiell den „Profit", und zwar im „Betriebsoptimum", d. h. im betrieblichen Gleichgewicht, den Durchschnittsprofit einschließen. Wir wissen, daß es notwendig ist, zwischen „Kostpreis" der Ware und ihrem „Produktionspreis" zu unterscheiden. Der „Kostpreis" einer Ware ist gleich dem in ihrer Produktion verbrauchten konstanten und variablen Kapital. Bei der Eröffnung des kapitalistischen Kreislaufes wird das Geldkapital in produktives Kapital: Produktionsmittel und Arbeitskraft verwandelt. Das Geldkapital am Schluß des Kapitalkreislaufes umfaßt nicht nur den realisierten Profit, sondern auch die Wertelemente, die wieder in produktives Kapital zurückverwandelt werden müssen. Diese Wertelemente sind eben der „Kostpreis" der Ware. Er ist damit die Grundlage der Reproduktion. „Der Umstand, daß die verschiedenen Wertbestandteile des vorgeschossenen Kapitals in stofflich verschiedenen Elementen ausgelegt sind, in Arbeitsmitteln, Roh- und Hilfsstoffen und Arbeit, bedingt nur, daß der Kostpreis der Ware diese stofflich verschiedenen Produktionselemente wieder zurückkaufen muß", 1 ) schreibt Marx. „Dabei ist zu beachten, daß das konstante Kapital sowohl aus ,fixem' als auch aus zirkulierendem' Kapital besteht. Der Kostpreis einer Ware bezieht sich nur auf das Quantum der in ihr enthaltenen bezahlten Arbeit, der Wert auf das Gesamtquantum der in ihr enthaltenen bezahlten und unbezahlen Arbeit; der Produktionspreis auf die Summe der bezahlten Arbeit, plus einem, f ü r die besondere Produktionssphäre unabhängig von ihr selbst, bestimmten Quantum unbezahlter Arbeit." 2 ) Der Kapitalist interessiert sich f ü r den Überschuß des Marktpreises über den Kostpreis einer Ware. Dieser Überschuß, realisiert durch den Verkauf seiner Waren, bezogen auf das insgesamt von ihm vorgeschossene Kapital, zeigt ihm, ob die Produktion sich „rentiert oder nicht". 3 ) !) Karl Marx, Kapital, Bd. III, 1, S. 8. ) Marx, Kapital, III, 1, S. 130. 3 ) Vgl. Kapital, III, 1, S. 22. 2

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Dabei realisieren im sogenannten „Marktgleichgewicht" die unter den besten Bedingungen produzierenden Produzenten außer dem Durchschnittsprofit einen Extraprofit. 1 ) Die bürgerlichen Ökonomen rechnen daher in die „Kosten" nicht nur den „Kostpreis" der Ware, sondern auch den durchschnittlichen „Profit" ein. Sobald die kapitalistische Produktionsweise einen gewissen Entwicklungsgrad erreicht habe, schreibt Marx, gehe die Ausgleichung zwischen den Profitraten der verschiedenen Sphären der Produktion zur allgemeinen Profitrate „keineswegs bloß noch vor sich durch das Spiel der Attraktion und Repulsion, worin die Marktpreise Kapital anziehen oder abstoßen". Sobald sich vielmehr die Produktionspreise und die ihnen entsprechenden Marktpreise f ü r eine Zeitlang befestigt haben, und trotz kurzfristiger Preisabweichungen findet eine solche Befestigung statt, tritt „in das Bewußtsein der einzelnen Kapitalisten, daß in dieser Ausgleichung bestimmte Unterschiede ausgeglichen werden, so daß sie dieselben gleich in ihrer wechselseitigen Berechnung einschließen. In der Vorstellung der Kapitalisten leben sie und werden sie von ihnen in Rechnung gebracht als Kompensationsgründe." 2 ) Die Kapitalisten kalkulieren nun, als ob ihre Profite Bestandteile der „Kosten" ihrer Produktion seien. Sie beziehen den Durchschnittsprofit, allerdings aufgelöst in verschiedene Kontenarten, in die kapitalistische Kalkulation ein.3) Die „Durchschnittspreise", wie Marx sie einmal nennt, d. h. die Marktproduktionspreise als die „Gleichgewichtspreise" sind gegeben und enthalten den sogenannten „brancheüblichen" Gewinn. Hiermit rechnet der Kapitalist, und hiermit kalkuliert er seine Kosten. Der Profit des einzelnen Kapitals verwandelt sich also auf der Oberfläche der kapitalistischen Produktionsweise und wird widergespiegelt von den bürgerlichen Ökonomen als „Kostenbestandteile" in der Form der 1. Zinsen f ü r Eigenkapital; 2. Zinsen f ü r Fremdkapital; 3. Steuern; ') Kapital, III, 1, S. 162. 2 ) Vgl. ebd., S. 170. 3 ) „Die Grundvorstellung ist dabei der Durchschnittsprofit selbst, die Vorstellung, daß Kapitale von gleicher Größe in denselben Zeiten gleich große Profite abwerfen müssen." Marx, ebd., S. 170. „Die fertige Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt, in ihrer realen Existenz und daher auch in den Vorstellungen, worin die Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über dieselben klar zu werden suchen, sind sehr verschieden von und in der Tat verkehrt, gegensätzlich zu ihrer inneren, wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden Begriff." Marx, ebd., S. 170.

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4. Versicherungsprämien; 5. Wagnis; 6. Akkumulationsquote; 7. Unternehmerlohn; 8. Repräsentation; 9. Unternehmergewinn. Diese Aufzählung soll keineswegs erschöpfend sein! Der individuelle Kapitalist kalkuliert diese Bestandteile gewohnheitsgemäß als „Kosten" in seinem Preise ein. Werden seine „Kosten" gedeckt, so erzielt er den Durchschnittsprofit; sind sie unterdeckt, so erleidet er einen „Verlust"; sind sie überdeckt, so realisiert er einen „Gewinn". Erzielt er nur den Durchschnittsprofit, d. h., werden die „Kosten" der kapitalistischen Produktion gerade gedeckt, so ist nach dieser begriffslosen Auffassung weder Gewinn erzielt noch ein Verlust eingetreten. Die aus dem Mehrprodukt der Arbeit für sich und f ü r andere angeeigneten Teile werden kritiklos dem „Herkommen" gemäß verteilt. Mellerowicz teilt beispielsweise die sogenannten „Kosten" des Betriebes zunächst ein in die vier Gruppen der Kosten 1. f ü r geleistete Arbeit; 2. f ü r eingesetztes und genutztes Kapital; 3. f ü r verbrauchtes Material; 4. f ü r Leistungen fremder Betriebe. Dazu kommt eine 5. Kostengruppe, nämlich die Kosten der „menschlichen Gesellschaft". Hierunter sind nach Mellerowicz insbesondere die Steuern und öffentlichen Abgaben zu verstehen, die aus der Tatsache der im Staat organisierten Gesellschaft und der Pflicht des einzelnen Individuums sowie der einzelnen Betriebe zum anteiligen Tragen aller Ausgaben der Gesellschaft resultieren. 1 ) Es handelt sich also bei dieser Kostengruppe eindeutig um Teile des Mehrproduktes, das in der kapitalistischen Produktionsweise die Form des Mehrwertes annimmt. Die Gruppe „Kosten der menschlichen Gesellschaft", die Steuern und Abgaben also, die die Unternehmung zu tragen hat, stellen nach Mellerowicz den pflichtgemäßen Anteil der Unternehmung an der Bestreitung der öffentlichen Ausgaben dar. 2 ) In der Kostentheorie wie in der Praxis sei die Behandlung dieser Gruppe immer eine „mindestens unklare" gewesen, meint Mellerowicz. „Die Theorie der Kosten hat nicht dazu Stellung genommen, ob und welche Steuerarten Kosten- und welche Ertragselemente sind, sie hat auch nicht die Frage untersucht, wie die Steuern die Preisbildung beeinflussen." 3 ) ') Mellerowicz, a. a. O., S. 20. ) A. a. O., S. 30. 3 ) Mellerowicz, a. a. O., S. 30. 2

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Die Steuern seien von der Praxis in ihrer Buchhaltung kontenmäßig erfaßt worden, „ohne sich aber über ihre kalkulatorische Behandlung Rechenschaft zu geben". 1 ) Nach dem ersten Weltkrieg sei hier zwar, „bedingt vor allem durch die steigende Höhe der Steuern", eine gewisse Wandlung eingetreten, aber wie die folgenden Ausführungen Mellerowicz' dann zeigen: es herrscht Unklarheit auf der ganzen Linie, und diese Unklarheit muß herrschen, weil ein theoretisches Einteilungssprinzip fehlt. Ein solches Prinzip aber vermag uns n u r die Theorie der politischen Ökonomie zu vermitteln. Mellerowicz geht zunächst davon aus, daß „nicht schlechthin alle betrieblichen Steuern Kosten des Betriebes" sind.2) Das sei kein Mangel der Theorie, sondern liege im Wesen der Sache selbst, weil „jeder Betrieb einer im Staat organisierten Gemeinschaft angehört und dementsprechend auch die daraus erwachsenden Pflichten zu erfüllen hat. Eine dieser Pflichten ist eben der Beitrag zu den Ausgaben dieser Gemeinschaft." 3 ) Mellerowicz unterscheidet daher: 1. Steuern, die Kostencharakter haben; 2. Steuern, die keinen Kostencharakter haben. Zu den Steuern, die Kostencharakter haben, rechnet Mellerowicz sowohl die Besitzsteuern als auch die Vermögenssteuern, Gewerbesteuern, Grundsteuern, als auch die Verkehrssteuern, also die Umsatzsteuern, Grunderwerbssteuern, Kraftfahrzeugsteuern usw. Zu den Steuern, die keinen Kostencharakter haben, rechnet Mellerowicz die Einkommen- und Körperschaftssteuern. „Sie sind nicht betriebsbedingt, sondern gewinnbedingt. Es ist dies nicht nur eine Frage der Bemessungsgrundlage, sondern grundsätzlicher Natur. Wird in einer Periode kein Gewinn erzielt, so ist auch keine Einkommen- oder Körperschaftssteuer zu zahlen, mag der Betrieb im übrigen soviel produziert haben, wie eben möglich war." 4 ) Diese Auffassung ist f ü r die moderne bürgerliche Ökonomie typisch. Sie ist zurückzuführen auf die Nichtunterscheidung von Kostpreis und Produktionspreis. Daß die Steuern und Abgaben Bestandteil des Produktionspreises sind, ist ebenso verständlich, wie es klar ist, daß vom theoretischen Standpunkt aus Steuern und Abgaben Profitbestandteile sind. Der Staat zweigt vermittels der Steuern und Abgaben aus den ursprünglichen kapitalistischen Einkommen, also sowohl aus „v" als auch aus „m", sein „Einkommen" ab. Sowenig man aber die von Lohn und Gehalt abgezweigten Steuern und Abgaben zu den Kosten rechnen kann, sowenig kann man die sonstigen Steuern und Abgaben hierzu rechnen. Ebd. ) Ebd., S. 31. ) Ebd. 4 ) Mellerowicz, a. a. O., S. 31.

2

3

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Steuern und Abgaben sind Bestandteile des Profits. Die Bemessungsgrundlage ist eine rein technische Frage, die mit dem Wesen dieses durch Steuern und Abgaben abgeleiteten Einkommens nichts zu tun hat. Aus dem Mehrprodukt muß in jeder Gesellschaft — unabhängig von der Form •— das gedeckt werden, was die sogenannten „Kosten der Gesellschaft" sind. Ein auf die Wirtschaftsplanung abgestelltes Rechnungswesen wird daher auf eine klare Ausweisung der „Kosten der Gesellschaft" besonderen Wert legen müssen, weil die Akkumulation und die Bildung von Reservefonds u. ä. hier aus einer privaten zu einer gesellschaftlichen Angelegenheit geworden ist. Schmalenbach hat den Vorschlag gemacht, die Zinsen als „Kosten" nicht aufzuteilen in Zinsen für das eigene Kapital und Zinsen für das fremde Kapital, sondern für „das gesamte Kapital kalkulatorische Zinsen als selbständige Kosten" zu rechnen. Es käme dann nicht auf das „Kapital im Sinne der Passivseite" an, sondern auf den Wert der von den einzelnen Abteilungen in Anspruch genommenen Gegenstände, also auf das Realkapital. Man braucht dann bei den die einzelnen Abteilungen belastenden Zinsen nicht erst zu fragen, was davon eigenes und was fremdes Kapital darstellt. 1 ) Dieser Vorschlag Schmalenbachs läuft also im Grunde darauf hinaus, Zinsen nur auf das sogenannte „betriebsnotwendige" Kapital zu berechnen. Mellerowicz meint: „Da aber der durch Eigenkapital finanzierte Teil der Kapitalgüter auch produktiv eingesetzt ist, also an der Leistung ebenso beteiligt ist wie der Fremdkapitalzins, ist nicht einzusehen, warum er anders behandelt werden soll." In der Tat: wenn der Zins für das Fremdkapital Kostenbestandteil ist, muß es auch der Zins für das Eigenkapital sein. Mellerowicz hat von seinem Standpunkt daher völlig recht, daß er nicht damit einverstanden ist, wenn „der Zins für das Eigenkapital lange als Kostenteil nicht anerkannt und auch in der Berechnung der Kosten nicht berücksichtigt" wurde. Auch der Eigenkapitalzins stellt daher nach ihm Kosten dar. 2 ) „Die Behandlung des Gesamtzinses als Kostenfaktor ist ferner aus betrieblichen, vor allem aus rechnungstheoretischen Gründen notwendig sowie für Zwecke des Betriebsvergleiches. In der Kalkulation ist daher ein besonderer kalkulatorischer' Zins zu berücksichtigen. Er muß auch in der Buchhaltung als Rechnungszins eingesetzt werden. Aber die Zinsen, sowohl die Fremd- als auch die Eigenkapitalzinsen, tragen Kostencharakter nur in der Höhe des reinen Z i n s e s . . . auf das betriebsnotwendige Kapital (Bilanzaktiva, aufgelöste stille Reserven — betriebsfremde Kapitalanteile und zinslose Kapitalanteile des Passivkapitals)." 3 ) Es zeigt sich also, daß selbst so ausgesprochen eindeutige Bestandteile des Profites ohne jede, auch nur die leiseste Andeutung der Kritik zu den Kosten *) Schmalenbach, a. a. O., S. 146. Mellerowicz, a. a. O., S. 24/25. 3) Ebd., S. 25. 2)

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gerechnet werden! Selbstverständlich wird m a n mir antworten, unsere Überlegungen seien f ü r die Betriebswirtschaftslehre irrelevant. Damit u n t e r streicht m a n aber n u r den bereits hervorgehobenen instrumentalen Charakter der modernen bürgerlichen Ökonomie! Als Vertreter der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre lassen wir Heinrich von Stackelberg sprechen. Von Stackelberg sieht „den Zins als ein P l a n d a t u m " an. 1 ) „Wir setzen also voraus", schreibt Heinrich von Stackelberg, „daß der Produzent f ü r jede Ausgabe eine Verzinsung bis zum Zeitpunkt in Rechnung stellen muß, in dem das feste P r o d u k t abgesetzt und bezahlt ist. Den Zinssatz n e h m e n w i r als eine vom Verhalten des Einzelbetriebes unabhängige Größe an; der Fall eines abhängigen Zinssatzes k a n n schon deshalb außer acht gelassen werden, weil er praktisch k a u m vorkommen dürfte." 2 ) Der Zins ist also auch nach dieser A u f f a s s u n g ganz eindeutig Kostenfaktor. „Erfolgen alle A u f w e n d u n g e n gleichzeitig u n d ist f ü r die Fertigstellung des Produktes eine bestimmte Zeitdauer vorgegeben, dann m u ß der Produzent die gesamte Kostensumme bis zum Zeitpunkt des Absatzes verzinsen." 8 ) So versteht Hans Möller ebenfalls „deshalb u n t e r Durchschnittskosten immer die Durchschnittskosten einschließlich des kalkulierten Gewinnes". 4 ) In die Durchschnittskosten wird immer ein „angemessener Gewinn" einkalkuliert. 5 ) Wir konstatieren also, daß die bürgerliche Ökonomie den Zins f ü r das gesamte notwendige Kapital eines Betriebes in die Produktionskosten des Betriebes einkalkuliert. Zusammen mit den anderen Profitbestandteilen ergibt sich also der Produktionspreis, so daß als Gewinn n u r der Extraprofit übrigbleibt. 6 ) Die Feststellung ihres „instrumentalen" Charakters trifft also auch auf die Volkswirtschaftslehre zu, die die wesentlichen Probleme zugunsten technischer Fragen ignoriert. Auch die G r u n d r e n t e m u ß — nach Stackelberg — ebenso als Preiseinkommen erklärt werden wie der Zins. „Sofern der U n t e r n e h m e r über eigenen Boden verfügt, bezieht er im Rahmen des Unternehmerüberschusses eine Grundrente, jedoch nicht als Unternehmer, sondern als Bodeneigentümer. In der Kostenrechnung der Betriebe wird die G r u n d r e n t e zugleich mit den Zinsen *) Von Stackelberg, Grundzüge der Theorie der Volkswirtschaftslehre, S. 45. 2 ) Ebd.. S. 45. 3 ) Ebd., S. 45. 4 ) Hans Möller, a. a. O., S. 78. 6 ) Ebd., S. 78. 6 ) „So sehr die Größe des Zinses schwankt", schreibt Marx, „so sehr ist er in jedem Augenblick noch für jeden Kapitalisten eine gegebene Größe, die für ihn, den einzelnen Kapitalisten, in den Kostpreis der von ihm produzierten Waren eingeht. Ebenso die...", Kapital, Bd. III/2, S. 363. 521

f ü r das Eigenkapital gesondert ausgewiesen. Denn auch der Boden gehört zum Erwerbsvermögen, das der Betriebswirt als .Kapital' zu bezeichnen pflegt. Deshalb bildet auch die Grundrente des Eigenbodens keinen Bestandteil des Unternehmereinkommens in funktionellem Sinne." 1 ) Wenden wir uns kurz der Behandlung dieses „Gewinns" in der modernen bürgerlichen Ökonomie zu! „Das Unternehmereinkommen ist eines der umstrittensten Probleme in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre", schreibt von Stackelberg. 2 ) Adam Smith, Ricardo, die anderen englischen Klassiker Und die Sozialisten des vorigen Jahrhunderts setzen den Unternehmer mit dem Kapitalisten gleich und behandeln nur den „Profit" als das kombinierte Einkommen der Unternehmerkapitalisten. Diese Auffassung erkläre sich daraus, daß damals in vielen Fällen ein erheblicher Teil des in den Unternehmungen angelegten Kapitals den Unternehmern gehörte. Der Gegenwert f ü r die Verzinsung des Eigenkapitals wurde nicht als Preissumme auf dem Darlehnsmarkt gezahlt, sondern als Überschuß des Erlöses über die produktiven Ausgaben verdient. Er gehört deshalb zum Unternehmerüberschuß. Demnach, schließt von Stackelberg seine Überlegungen, sei es notwendig, zwischen dem Unternehmereinkommen und dem Einkommen aus dem Eigenkapital genau zu unterscheiden. „In der Kostenrechnung der Betriebe werden auch f ü r das Eigenkapital Zinsen berechnet und erst der Überschuß über diese Zinsen als Unternehmererfolg gewertet. Auch wenn das Eigenkapital nicht über den Kapitalmarkt an den Unternehmer gelangt, so übt es doch auf die Bildung und Höhe des Zinssatzes einen indirekten Einfluß aus. Denn die Darlehnsnachfrage des Unternehmers ist um den Wert seiner eigenen Kapitalanlage niedriger, als wenn er genötigt wäre, seine Produktion vollständig mit fremden Mitteln zu finanzieren. So bezieht er die Zinsen aus seinem Eigenkapital nicht als Unternehmer, sondern als Kapitalist." Das Unternehmereinkommen im funktionellen Sinne enthalte diese Zinsen nicht. 3 ) Say und Hermann hatten als erste auf die selbständige Bedeutung des Unternehmereinkommens und des Unternehmergewinns als seines charakSchmalenbach stellt sogar „die Regel" auf, „daß dort, wo progressive Kosten herrschen und wo eine Vermehrung von Produktionsanlagen nicht möglich ist, bei unverminderter Nachfrage eine dauernde Rente entsteht, die sich in dem Werte derjenigen Anlage kapitalisiert, die der Anlaß der Hemmungen ist. Der Nutznießer dieser Entwicklung ist nicht der Betrieb, sondern der Eigentümer. Dort, wo landwirtschaftliche Grundstücke verpachtet sind, ist der Nutznießer einer Zollerhöhung auf die Dauer nicht der Pächter, sondern der Grundeigentümer", d. h., wir haben hier einen Fall, wo nicht die Produktionskosten die Preise, sondern die Preise die Produktionskosten machen. 2 ) H. v. Stackelberg, a. a. O., S. 185. 3 ) Ebd., S. 185. 522

teristischen Bestandteiles hingewiesen, meint von Stackelberg weiter. „In der gleichen Richtung hätten sich Rau, von Thünen, von Mangold und Schüffle verdient gemacht, f ü g t er hinzu. Wenn jedoch von Mangold als die wesentliche Leistung des Unternehmers die Ü b e r n a h m e des Risikos ansieht, so ist d a s insofern nicht zutreffend, als jedenfalls das Kapitalrisiko letzten Endes v o m Kapitalisten getragen w i r d und die d a f ü r in Ansatz zu bringende sogenannte ,Risikoprämie' ein besonderer Kostenbestandteil ist, der vorweg abgesetzt werden muß, wenn das Unternehmereinkommen in Erscheinung t r e t e n soll." Das Unternehmereinkommen ist also ein „Resteinkommen, das nach Abzug aller Kosten übrigbleibt". Im allgemeinen drücke sich das Risiko in einem Zuschlag zum „Netto-Zinssatz" aus. „So erhalten z. B. die Aktionäre einer AG., die nicht etwa als Unternehmer, sondern als Kapitalgeber anzusehen sind, ihr Risiko in einer erhöhten Rendite vergütet." 1 ) Ziehe m a n vom Unternehmerüberschuß die Zinsen f ü r das Eigenkapital, die G r u n d r e n t e f ü r den Eigenboden und die Risikokosten ab, so bleibt schließlich das Unternehmereinkommen übrig. Dieses Unternehmereinkommen setzt sich also zusammen aus nehmerlohn" u n d „Unternehmergewinn".

„Unter-

Der „Unternehmerlohn" sei in der Regel ein Bestandteil dessen, was der U n t e r n e h m e r als Überschuß aus seiner U n t e r n e h m u n g erzielt. „Während der Unternehmer sein Kapital ausleihen, seinen Boden verpachten, das Risiko teils auf Versicherungsgesellschaften, teils auf die Kapitalisten abwälzen u n d dennoch weiterhin mit f r e m d e m Kapital, f r e m d e m Boden und f r e m d e m Risiko die U n t e r n e h m u n g erfolgreich f ü h r e n kann, ist eine solche A b t r e n n u n g seiner Arbeitsleistung von seiner U n t e r n e h m e r f u n k t i o n schwer vorstellbar. In der Regel m u ß er seine Arbeitskraft in seiner eigenen U n t e r n e h m u n g zum Einsatz bringen. Deshalb bilden der Unternehmerlohn und der U n t e r n e h m e r gewinn praktisch eine Einheit." 2 ) Aber trotz dieser praktischen Einheit, meint von Stackelberg, habe „ein Vergleich zwischen dem Unternehmereinkommen u n d dem Lohneinkommen eines Angestellten oder Arbeiters in einer fachlich benachbarten Position nicht n u r eine rechnerische, sondern auch eine durchaus sachliche Bedeutung. Denn", schreibt er, „was ein Unternehmer in einer abhängigen Stellung v e r dienen könnte und was wir dementsprechend als den U n t e r n e h m e r l o h n bezeichnen, bildet auf die Dauer die Untergrenze seines U n t e r n e h m e r e i n k o m mens". Sieht der Unternehmer keine Möglichkeit mehr, selbständig in dem bisherigen oder in einem anderen Produktionszweig zu bleiben und mindestens einen Unternehmerlohn zu erwirtschaften, „so wird er den Beruf wechseln und sich in die günstigste abhängige Stellung begeben, die sich ihm bietet. Nur der Vorzug, den er vielleicht in seiner Selbständigkeit sieht, H. von Stackelberg, a. a. O., S. 185 u. 186. ) Ebd.

2

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wird ihn von einem solchen Schritt auch bei weiterem Absinken seines Unternehmereinkommens zurückhalten." 1 ) Und so verbleibt schließlich, nachdem alle „Kosten" in Ansatz gebracht worden sind, nun wirklich der sogenannte „Ctewinn" übrig! „Der Uberschuß des Unternehmereinkommens über den Unternehmerlohn ist der Unternehmergewinn", heißt es bei von Stackelberg, der aber nur die Auffassungen zusammenfaßt. „Er ist das eigentliche Residualeinkommen der Verkehrswirtschaft und fällt dem Unternehmer kraft seiner besonderen Leistung zu. Diese Leistung besteht in der selbständigen Auffindung und Verwirklichung einer möglichst ergiebigen praktischen Kombination zur Bereitstellung von Gütern, auf die eine kaufkräftige Nachfrage gerichtet ist." 2 ) W i r finden daher im konkurrenzwirtschaftlichen Gleichgewicht, also in sämtlichen Produktionszweigen, eine Grenzschicht von Unternehmern, deren Gewinne Null sind. Die erfolgreichen Unternehmer beziehen ihnen gegenüber einen „Differentialgewinn". 3 ) So kommen wir also immer zu diesem Kern der Auffassungen der modernen bürgerlichen Ökonomie zurück! Im „Gleichgewicht" gibt es keinen Gewinn, sondern nur „Kosten", weil die „Preise" hier gleich den „Kosten" sind. A m klarsten hat dies bekanntlich Schumpeter in seiner „Theorie der w i r t schaftlichen Entwicklung" ausgesprochen! Es handelt sich hier um ein grundsätzliches Axiom, das von den bürgerlichen Volkswirten und Betriebswirten in gleicher Weise vertreten wird. „Der Sondergewinn (bzw. Sonderverlust) entsteht immer dann", heißt es bei Heinrich von Stackelberg, „wenn die Unternehmung aus ihrem Betriebsoptimum in Kostenprogression (bzw. Degression) gelangt. Hier ist das tatsächliche Einkommen des Unternehmers größer (bzw. kleiner) als sein langfristiges Normaleinkommen'. Der Sondergewinn ist ein Residuum; das Prinzip der Grenzproduktivität führt in diesem Falle keine vollständige Zurechnung herbei. Die Absorption des Sondergewinnes bedeutet nicht etwa ein Sinken der Unternehmereinkommen, sondern nur eine Ausgleichung an die langfristige Normalhöhe .. ," 4 )

b) Die sogenannte Fixkostentheorie Die Schmalenbachsche Kostentheorie und damit zusammenhängend die gesamte herrschende betriebswirtschaftliche Kostentheorie und die moderne volkswirtschaftliche bürgerliche Theorie sind aus den Verhältnissen des !) Von Stackelberg, a. a. O., S. 186. Ebd., S. 187. 3) Ebd., S. 188/189. 4) Ebd., S. 83. 2)

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Kapitalismus standen.

in seiner

allgemeinen

Krise

nach dem ersten

Weltkrieg

ent-

Betriebe, deren Gesamtkosten genau auf den Pfennig proportional sind, gibt es nicht, meint Schmalenbach. Aber es gäbe Betriebe, deren Kosten sich wenigstens einigermaßen proportional verhalten, z. B. die Betriebe mit starker Hausindustrie (sogenannte Manufakturen, Betriebe des Verlagssystems). Diese Betriebe, die früher einmal vorherrschten, waren weder mit Maschinen noch mit einem großen Apparat leitender K r ä f t e belastet. Sie hielten außerdem auch bei starker Degression „die Arbeiten nicht durch". Die moderne Fabrikationsentwicklung habe aber unter diesen Betrieben stark aufgeräumt. Schmalenbach meint, die Tatsache, daß die klassische Nationalökonomie die Proportionalität der Kosten als typisch annahm, bewiese schon, daß die proportionalen Kosten, — ehedem — die Regel waren. Sonst wären diesen scharfsinnigen Beobachtern „die andersgearteten Kostenverhältnisse der modernen Betriebsformen nicht entgangen, und namentlich auf ihre Wert- und Preistheorien wäre die weittragende Wirkung dieser Kostenverhältnisse sicherlich von großem Einfluß gewesen". 1 ) Es ist also eine Strukturwandlung des Kapitalismus, die die „neue" Fragestellung verlangte. Die Betriebe mit hohem Anteil „fixer" Kosten haben eine obere Grenze der Leistungsfähigkeit, die sie praktisch nie erreichen. Hier ist die Ursache ihres starken Monopolbedürfnisses, das sich in „Verstaatlichungen, Verstadtlichungen und Kartellbildung" äußere. „Die Degression schreit nach Sättigung. Betriebe mit starker Degression sind sehr empfindlich gegen nicht volle Beschäftigung. Bei ihnen ist der Wettbewerb in Zeiten schwacher Beschäftigung viel stärker als bei anderen Betrieben." Der Drang, den Konkurrenzkampf in entlegene Gebiete zu tragen, sei daher bei diesen Betrieben ebenso charakteristisch w i e die Neigung zur Preisdifferenzierung zu gleichen Zwecken. 2 ) Es ist, können wir zusammenfassen, die immer höhere organische Zusammensetzung des Kapitals, der Ausdruck ist für die steigende Arbeitsproduktivität. Die tote Arbeit, die Produktionsmittel, nehmen im Verhältnis zur ») A. a. O., S. 30/31. A. a. O., S. 39. „Wenn in einem Betrieb 1 Prozent fixe Kosten sind, so machen sich die Störungserscheinungen der fixen Kosten nicht geltend; wenn sie 6 Prozent sind, so machen sie sich in kaum merkbarem Umfange geltend. Zu einem vollen Geltendmachen, insbesondere zu einem revolutionären Einfluß auf die Preispolitik gehört, daß die fixen Kosten innerhalb der Gesamtkosten eine wesentliche Größe sind." „Wie groß die Anteile der fixen Kosten sein müssen, um in der Preispolitik einer Branche starke Tendenzen zur Unterbietung der durchschnittlichen Vollkosten auszulösen, weiß man nicht. Es scheint, daß, wenn die fixen Kosten 20 Prozent der Gesamtkosten ausmachen, eine Beunruhigung des Preismechanismus bemerkbar wird." A. a. O., S. 57. 2)

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lebenden Arbeit immer stärker zu, das konstante und insbesondere das fixe konstante Kapital — wächst schneller als das variable Kapital. Schmalenbach schreibt in seiner „Kostenrechnung und Preispolitik", d a ß auch die „Gestaltung der Verhältnisse nach dem Kriege, insbesondere die übergroße Kapazität und das dadurch bedingte Steigen der Unkostendegression, die Verkürzung der Lebensdauer von Maschinen durch Erfindungen, das Anwachsen der Zinsen durch alles dies das Ansteigen der fixen Kosten" die Aufnahmebereitschaft f ü r seine Theorie schuf. 1 ) In der Erscheinung der „fixen Kosten" bestehe, wie Schmalenbach feststellt, „ein wesentliches Element der Strukturwandlung unserer Wirtschaft". 2 ) Schmalenbach macht zwar gelegentlich ausdrücklich darauf aufmerksam, daß es „seit jeher aufmerksamen Autoren aufgefallen" sei, daß die Kosten vom jeweiligen Beschäftigungsgrad abhängig sind und daß diese Verschiedenheit Bedeutung hat, 3 ) aber nie sei sie systematisch untersucht worden. Die Schmalenbachsche Lehre ist also weiter nichts als der Ausdruck der Situation, in der sich die deutsche Industrie nach dem ersten Weltkrieg und insbesondere nach der Rationalisierung während der Wirtschaftskrise 1929/32 befand. Sie ist darüber hinaus Ausdruck der Situation der kapitalistischen Industrie in der „allgemeinen Krise des Kapitalismus" überhaupt. Das wird bei einer näheren Analyse der Schmalenbachschen Gedanken sehr deutlich. Es gäbe allerdings auch „andere Einflüsse, die auf die Kostenhöhe wirken . . . " meint Schmalenbach, aber seine Begriffe der „fixen" und „proportionalen" Kosten seien nur im Zusammenhang mit der Beschäftigung zu verstehen. Um dies festzustellen, bedurfte es keiner besonderen betriebswirtschaftlichen „Kostentheorie". Dies ergibt sich zwangsläufig aus der Theorie der politischen Ökonomie und sind Folgerungen aus der Theorie der Produktionspreise. Es sollte an sich nichts verständlicher sein als die Tatsache, daß das vorgeschossene Gesamtkapital f ü r einen Betrieb sich nur zum gesellschaftlichen Durchschnittsgrad verwertet, wenn die Betriebe voll ausgenutzt sind, also in ihrem Optimum produzieren. Aus diesem Grunde ging und geht auch die theoretische Analyse des Gesamtkreislaufes seit je von den voll ausgenutzten Betrieben aus und nicht von solchen, die sich entweder in der Degression oder in der Progression, d. h. in der Unter- oder Überbeschäftigung, befinden. Bei mangelhafter Ausnutzung der Kapazität kann sich das vorgeschossene Gesamtkapital nicht „erwartungsgemäß" verwerten, und nichts berechtigt theoretisch zu der Auffassung, daß zugunsten dieser „erwartungsgemäßen" Verwertung ein Teil des vorgeschossenen Kapitals kostenmäßig außer Ansatz bleiben könnte, wie es Schmalenbach schließlich vorschlägt. A. a. O., S. ) Ebd., S. 2. 3 ) A. a. O., S. 29. 2

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V o m Optimum aus gesehen, gibt es nur Kostenprogressionen. I m Kapitalismus läßt sich aber das Optimum — auch im günstigsten Fall — nie f ü r alle Betriebe eines Produktionszweiges gleichzeitig verwirklichen. U m aus der jeweiligen Situation eines Betriebes die „richtigen" Konsequenzen ziehen zu können, bedarf es aber einer theoretisch fundierten Einteilung der Kostenarten in Kostengruppen, und diese besteht bisher noch nicht. Es ist mit anderen Worten — die Tendenz zur sinkenden Profitrate, die einerseits den Konkurrenzkampf der Kapitalien um die Anlagesphäre v e r schärft, die andererseits durch das Produzieren unterhalb des Optimums, also außerhalb des betrieblichen „Gleichgewichts", die Verwertung des v o r geschossenen Gesamtkapitals jetzt so stark gefährdet. Die „Vollbeschäftigung" wird daher jetzt zu einem Schlagwort nicht nur für die bürgerlichen Volkswirte, sondern auch zu einem Problem für die bürgerlichen Betriebswirte. Es sei noch einmal darin erinnert, daß die „fixen" Kosten bach allerdings durchaus nicht identisch sind mit den Kosten der Kosten der „Betriebsbereitschaft", 1 ) und hierzu gehört fortlaufende Verzinsung des angelegten Kapitals nach der bürgerlichen Ökonomie.

nach Schmalenaus dem Begriff nun einmal die Auffassung der

Wenn wir die Hauptgründe der fixen Kosten sehen, meint Schmalenbach, nämlich die „fortgesetzte Steigerung der Betriebsbereitschaft, insbesondere die Einflüsse von Taylorverfahren und Fließarbeit, den hohen Zinsfuß und vor allem die Überkapazität, diese wieder nicht unwesentlich „gefördert" durch die Umlagerung der „optimalen Betriebsgröße", so könne es uns nicht wundern, daß die „Zeit nach der Inflation die Wirkungen der fixen Kosten ungemein gesteigert hat, denn alle diese Ursachen waren in dieser Zeit gemeinsam und mit Macht am Werke".2) Denn nun zeigt sich — als besondere Situation der deutschen Industrie, als allgemeine Situation der kapitalistischen Industrie in der „allgemeinen Krise", daß das individuelle Gleichgewicht der Betriebe nicht erreicht werden konnte, weil das allgemeine Gleichgewicht gründlich zerstört ist, und es zeigt sich, daß das Marktgleichgewicht, sobald es für eine Industrie einmal erreicht war, sofort wieder von den inneren Kräften des Marktes zerstört wird. Das allerdings sieht der mit der Registrierung von Tatsachen beschäftigte Schmalenbach nicht! Er stellt nur naiv fest, daß „einen ungemein großen Einfluß auf das Wachstum der fixen Kosten offensichtlich die starke U b e r kapazität gehabt" habe, „die seit dem großen europäischen Kriege eingetreten sei. Denn die stärkste Betriebsdegression habe der Betrieb immer dann, 1 ) Auch von Stackelberg definiert die „konstanten" Kosten ausdrücklich als „Stillstandskosten", d. h. „Produktionsbereitschaftskosten". Grundlagen einer reinen Kostentheorie, S. 13. 2) A. a. O., S. 65 (von mir gesperrt, F. B.).

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wenn er nicht voll beschäftigt ist, und w e n n eine Branche an der Überkapazität leidet, seien die Angehörigen der Branche unterbeschäftigt." 1 ) Diese „Überkapazität" ist aber das Grundübel, an dem die kapitalistische Industrie in der Phase der „allgemeinen Krise" leidet. Das Angebot ist grundsätzlich größer als die Nachfrage, nicht weil die absoluten Bedürfnisse nicht groß genug sind, u m die Produktion aufzunehmen, sondern weil das „gesellschaftliche" Bedürfnis gleich der auf den antagonistischen Klassenverhältnissen beruhenden Nachfrage ist. Der positive Grenzproduzent, müßte n u n den Marktpreis bestimmen, die anderen Produzenten m ü ß t e n eine mehr oder minder stark u n t e r d u r c h schnittliche Profitrate erzielen. Es m ü ß t e Abfluß von Kapital oder Kapitale n t w e r t u n g stattfinden. Genügte der Preismechanismus nicht, u m den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage wieder herzustellen, so m ü ß t e eine Krise der Uberproduktion die Lage bereinigen, den Ausgleich gewaltsam erzwingen. Statt dessen wurde der Lenkungsmechanismus der kapitalistischen Produktion durch die Monopolisierung mehr und mehr außer Kraft gesetzt, und es w u r d e erzwungen, daß statt des positiven Grenzproduzenten sogar der negative Grenzproduzent — trotz Uberwiegens des Angebotes über die Nachfrage — den Marktpreis bestimmt. Die durchschnittliche V e r w e r t u n g des angelegten u n d vorgeschossenen Kapitals w u r d e selbst durch den negativen Grenzproduzenten gewaltsam aufrechterhalten. Infolge der aktiven Konjunkturpolitik des bürgerlichen Staates f ü h r t e die Krise nicht zu einer, w e n n auch n u r vorübergehenden, Bereinigung und gewaltsamen Durchsetzung des Wertgesetzes, sondern zu einer Verschärfung der Widersprüche vor der Krise. 2 ) Das Ende dieser Entwicklung haben wir in Deutschland erlebt, es ist die monopolkapitalistische Befehlswirtschaft, die durch die Machtmittel des faschistischen Staates die Kapitalverwertung ohne vorherige Bereinigung durch die Krise erzwang und dadurch zu einem gewaltigen Substanzverzehr — auch ohne die Kriegsfolgen — f ü h r t e . Es zeigt sich also, wie sehr wichtig die theoretische Analyse des Gesamtprozesses ist und wie gefährlich eine beschränkte Betrachtungsweise diese Entwicklungsprozesse i r r e f ü h r e n kann. „Gerade tragisch ist es, daß wir so ungemein schwache Aussicht haben", schreibt Schmalenbach 1934 ganz richtig, „daß dieser Mangel bald beseitigt wird. Die Z u n a h m e der Bevölkerung, die f r ü h e r durch Z u n a h m e des Bedarfs manche Überkapazität automatisch ausfüllte, läßt in Deutschland stark nach. Wenn etwa 1936 die jährliche Nettozunahme der Haushalte von etwa 250 000 jahrelang auf 100 000 und d a r u n t e r sinken sollte, entstünde f ü r viele B r a n chen, die vom Wohnungsbau und der Wohnungseinrichtung leben, eine A. a. O., S. 62. ) Vgl. unten S.

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Katastrophe."1) Dazu käme die technische Entwicklung, die zu einem weiteren Anwachsen der fixen Kosten führen muß. Diese Entwicklung ist allerdings unaufhaltsam, obwohl einige Ideologen — nicht nur im Lager der bürgerlichen Ökonomen — ein Anwachsen der kleinen und mittleren Betriebe aus zeitbedingten Gründen für eine Umkehrung dieses Prozesses ansehen. Der kapitalistische Betriebswirt Schmalenbach urteilt jedenfalls sehr eindeutig und sieht, von Einzelheiten abgesehen, die Grundrichtung der Entwicklung durchaus. Die Einteilung der Kosten nach ihrer Abhängigkeit vom Beschäftigungsgrad ist so charakteristisch für die betriebswirtschaftliche Denkweise nach dem ersten Weltkrieg geworden.2) Von der Ausnutzung der Kapazität hänge nicht nur der Erfolg des Betriebes, sondern unter Umständen damit auch seine Existenzfähigkeit ab. Dies gelte, wie Mellerowicz richtig feststellt, in um so höherem Maße, „je kapitalintensiver der Betrieb, je größer also der Anteil der Anlagen an dem Gesamtkapital des Betriebes ist, es gilt um so weniger, je arbeitsintensiver er ist".3) Mellerowicz macht ebenfalls nur auf die beiden Merkmale der modernen Produktion aufmerksam, auf den hohen Grad der Kapitalintensität der Betriebe und auf die wirtschaftlichen Bewegungen (Entwicklung, Änderung, Schwankung), die beide eine Tendenz zur Steigerung zeigen. „Die Produktion wird immer kapitalintensiver, die wirtschaftlichen Bewegungen werden immer heftiger. Aber die Steigerung geht in verschiedener Richtung: der Betrieb wird immer starrer, die Bewegungen werden immer schneller."4) Das Anlagekapital verursache Kosten, gleichgültig, wieviel oder ob überhaupt der Betrieb produziert. Je weniger der Betrieb produziere, um so weniger Produkte müssen die Kosten des Anlagekapitals tragen.5) Die Kosten werden hoch und können schließlich sogar den erzielten Preis übersteigen. Je mehr der Betrieb produziere, um so niedriger werden die Kosten sein. „Dem Betrieb muß es vor allem darauf ankommen, die Kapazität voll auszunutzen und bei der Vollausnutzung zu verharren. Beschäftigungsstabilität, möglichst auf der Basis der Vollausnutzung, ist oberster Grundsatz der Betriebspolitik."6) ' ) A . a. O., S. 64. M e l l e r o w i c z , a. a. O., S. 38. Der Beschäftigungsgrad ist das Verhältnis der tatsächlichen Erzeugung zur möglichen Erzeugung bei v o l l e r Ausnutzung der Erzeugungsmöglichkeit. Die Erzeugungsmöglichkeit ist die Kapazität des Betriebes, der Beschäftigungsgrad der Ausnutzungsgrad der Kapazität. 3 ) M e l l e r o w i c z , a. a. O., S. 39. 4 ) M e l l e r o w i c z , a . a . O . , S. 39. 5 ) Dies ist die bereits charakterisierte A u f f a s s u n g der bürgerlichen Ökonomen: D i e „Kapitalkosten", also v o r w i e g e n d die Zinsen, müssen getragen w e r d e n , gleichgültig, ob der Betrieb gesellschaftlich notwendig produziert oder nicht! W a r u m dies eigentlich so sein muß, das verrät uns allerdings keiner dieser Ö k o n o m e n ! Dazu sind sie zu „ o b j e k t i v " . 6 ) M e l l e r o w i c z , a. a. O., S. 38. 2)

34 Behrens

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Wenn daher Schmalenbach z. B. meint, daß der hauptsächlichste Grund für das Wachstum der fixen Kosten in der „Tatsache liege, daß die ,Umwegsproduktion' auf immer größeren Gebieten sich überlegen zeigt", daß „immer zahlreicher sich die Möglichkeiten zeigen, die Produktion dadurch zu verbessern, daß man statt unmittelbarer Produktion mittelbare Produktion treibt; daß man vor Inangriffnahme des eigentlichen Betriebes den allergrößten Wert auf sorgfältigen Ausbau der Betriebsbereitschaft legt", so ist das ganz einfach falsch! Das Einschlagen von „Produktionsumwegen" hat an sich mit der von Schmalenbach definierten „Betriebsbereitschaft" und daher mit den „fixen" Kosten im Schmalenbachschen Sinne gar nichts zu tun. Das Einschlagen von Produktionsumwegen ist eine technische Tatsache, die nur unter kapitalistischen Verhältnissen — und insbesondere unter den Verhältnissen der „allgemeinen Krise" des Kapitalismus sich so auswirkt, wie Schmalenbach feststellte! Unter gesellschaftlichen Verhältnissen, wo die Produktionskräfte der Gesellschaft nicht mehr von den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen gefesselt sind, wird das „Gesetz der fixen Kosten" dann ebenso verschwunden sein wie andere sogenannte „Gesetze", die die bürgerliche Ökonomie aufgefunden zu haben glaubt.

c) Die Zerstörung des Gleichgewichtes der kapitalistischen Produktion Das Wertgesetz entwickelt sich historisch vom Austausch der Waren gemäß der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zum Austausch der Waren zu ihren Produktionspreisen, wie aus der einfachen Warenproduktion die kapitalistische Warenproduktion wird. „Die Marktwirtschaft ist keine Schöpfung des 19. Jahrhunderts", heißt es in einer Betrachtung zur Frage der kapitalistischen Wirtschaft aus neuester Zeit, „wie vielfach angenommen wird. Sie ist seit Jahrtausenden die vorherrschende Form." 1 ) Nicht dem Auftrag einer Zentralinstanz, „sondern dem Automatismus des Marktgleichgewichts" gehorchen die „norwegischen Heringsfischer des Mittelalters, die Nürnberger Großkaufleute usw.". 2 ) Die Wirtschaftsgeschichte soll hier nicht interessieren, sondern nur der „Automatismus des Marktgleichgewichts", dieses Grundbegriffs der bürgerlichen Ökonomie, der allerdings heute auch bei fanatischen Liberalisten durch die „Einsicht" in die Notwendigkeit des „sozialen Erfordernis des politischen Eingriffs" ergänzt wird. Die „monopolkapitalistische Befehlswirtschaft", die Wirtschaftspolitik des staatsmonopolistischen Kapitalismus, ist ihrem Blute und Fleische nach ein Kind des liberalen Kapitalismus, und daher ist ihre ') Das Problem der künftigen Wirtschaftsformen. Gedanken zur Wirtschaftsordnung, III, in: Wirtschaftsspiegel, Dez. 1947. -) Ebd.

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Theorie von planwirtschaftlicher Theorie genauso weit entfernt, wie diese späteste Form der kapitalistischen Wirtschaft von der Planwirtschaft entfernt ist. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise führt notwendig zum monopolistischen und zum staatsmonopolistischen Kapitalismus und damit zur monopolkapitalistischen Befehlswirtschaft. Die bürgerlichen Freiheiten werden aufgehoben, weil die immanente Entwicklung des Kapitalismus zu einer Zerstörung seines Lenkungsmechanismus führte. Der Kapitalismus ist reaktionär geworden, dies nicht nur ökonomisch, d. h. stagnierend und parasitär, sondern auch politisch. Damit erlangt auch die bürgerliche Ökonomie „neue" Einsichten! Sie kann sich der Notwendigkeit „ökonomischer Eingriffe" seitens des Staates nicht mehr verschließen und produziert die „Theorien" der „Vollbeschäftigung" des „Plan"-Kapitalismus, der „sozialen" Marktwirtschaft und die „Fixkostentheorie", die alle die immanente Zerstörung des Lenkungsmechanismus der bürgerlichen Produktionsweise zur Voraussetzung haben. Der „Marktautoma tismus" und der „Gleichgewichtspreis" sind problematisch geworden! So gibt es zwar, wie wir bereits wissen, nach Heinrich von Stackelberg „auf jedem Markte zu jedem Zeitpunkt eine bestimmte Preishöhe, bei der sich die Nachfrage und das Angebot die Waage halten und der M a r k t . . . im Gleichgewicht befinden würden". Diesen Preis nennt man den „Gleichgewichtspreis". „Ein Markt befindet sich also im Gleichgewicht, wenn die nachgefragte und angebotene Gutsmenge einander gleich sind und wenn kein Teilnehmer des Marktverkehrs eine Veranlassung hat, sein Marktverhalten zu ändern." 1 ) So war die Theorie! „Nun brauchte allerdings" — fügt von Stackelberg hinzu — „freilich der Gleichgewichtspreis nicht immer der wirtschaftpolitisch zweckmäßigste zu sein. Es ist möglich, daß — z. B. durch staatliche Preisregelung — auf einem Markte ein Preis zustande kommt, der vom Gleichgewichtspreis abweicht."-) Und wir werden sehen, daß die immanente Gesetzlichkeit notwendig zu solchen „staatlichen Preisregelungen" in der kapitalistischen Produktionsweise führt, nachdem zunächst die monopolistischen Vereinigungen die Preise „regulieren", bis diese „Regulierungen" vom monopolkapitalistischen Staat vorgenommen werden. Damit aber ist das erstrebte Marktgleichgewicht völlig unmöglich geworden, und daher müssen zusätzliche Maßnahmen getroffen werden, die den Markt „ins Gleichgewicht bringen" sollen. Wenn der festgesetzte Preis höher ist als der Gleichgewichtspreis, „dann muß das Angebot in geeigneter Weise beschränkt werden, damit der Markt nicht mit Gütern überschwemmt wird. Liegt der Preis dagegen unter dem Gleichgewichtsniveau, dann muß die Nachfrage in geeigneter Weise gehindert werden, aber das verfügbare Angebot hinauswachsen. Wir kennen in unserer heutigen Volkswirtschaft eine ganze Reihe von Beispielen für eine solche Preisr)

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H. v. Stackelberg, Grundzüge der theoretischen Volkswirtschaftslehre, S. 18. Ebd. 531

festsetzung unterhalb des theoretischen Gleichgewichtspreises mit gleichzeitiger Beschränkung der Nachfrage. Die Rationierung der lebenswichtigen Bedarfsgüter hat hier die gleiche Bedeutung wie die Devisenbewirtschaftung und das Investitionsverbot. Dagegen ist die Festsetzung überhöhter Preise mit gleichzeitig direkter Beschränkung des Angebots vor allem bei Monopolen und Kartellen zu beobachten." 1 ) Die kapitalistische Wirtschaft schließt also Kräfte ein, die zu einer dauernden Störung ihres Gleichgewichtes führen. Schon die Herausbildung des Marktwertes aus dem individuellen Warenwert führt dazu, daß nur jeweils bestimmte Betriebe den vollen Wert ihres Arbeitsproduktes realisieren können, selbst unter der Voraussetzung, daß Angebot und Nachfrage übereinstimmen, also Marktgleichgewicht herrscht. Sowohl von den Betrieben, die ihren individuellen Warenwert nicht, als auch von denen, die einen Extramehrwert realisieren, werden Tendenzen zur Störung des Gleichgewichts ausgehen, da sie ihre Produktion einzuschränken oder auszudehnen streben. Durch die Tendenz zur Herausbildung einer allgemeinen Profitrate werden diese Störungsmomente noch verstärkt, da nun aus den individuellen Warenwerten sich nicht nur der einfache gesellschaftliche Wert, der Marktwert, sondern auf der Grundlage des Ausgleichs der besonderen Profitrate zur allgemeinen Profitrate der Marktproduktionspreis herausbildet. Die Gleichheit von Angebot und Nachfrage, das Merkmal für das Marktgleichgewicht, wird sich also um so schwieriger, und wenn überhaupt, dann nur um so vorübergehender herstellen, je höher die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist. Der Kapitalismus ist eine „dynamische" Produktionsweise, nicht nur deshalb, weil er wie keine Produktionsweise vorher die produktiven Kräfte der Gesellschaft ausnutzte und entwickelte, er ist „dynamisch" auch in dem Sinne, daß das „Ungleichgewicht" zu seinem Wesen gehört. „Diese richtige Proportion zwischen Angebot und Nachfrage hat seit langem zu bestehen aufgehört", schrieb Marx in seinem „Elend der Philosophie" im Jahre 1847. „Sie hat das Greisenalter überschritten; sie war nur möglich in jenen Zeiten, wo die Produktionsmittel beschränkt waren, wo der Austausch sich in außerordentlich engen Grenzen vollzog. Mit dem Entstehen der Großindustrie mußte diese richtige Proportion verschwinden, und mit Naturnotwendigkeit muß die Produktion in beständiger Aufeinanderfolge den Wechsel von Prosperität, Krisis, Stockung, neuer Prosperität und so fort durchmachen." 2 ) Das richtige Verhältnis von Angebot und Nachfrage: es wird — mit anderen Worten — von Zeit zu Zeit durch die Krise infolge Überproduktion hergestellt. Der Lenkungsmechanismus der kapitalistischen Produktionsweise ') Ebd. S. 8. ) Marx, a. a. O., S. 86.

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versagt, und zwar selbst im Kapitalismus der unbeschränkten Konkurrenz, und die Krisen verhelfen dem Grundgesetz der kapitalistischen Warenproduktion daher von Zeit zu Zeit zum gewaltsamen Durchbruch. Sie sind also ein — notwendiges — Zubehör einer Produktionsweise, die ihre produktiven Kräfte nicht durch bewußte und gemeinsame Aktion lenkt, sondern dies einem blind wirkenden Mechanismus überläßt. „Was hielt die Produktion in richtiger oder beinahe richtiger Proportion?" fragte Marx. 1 ) „Die Nachfrage, welche das Angebot beherrschte, ihm vorausging; die Produktion folgte Schritt für Schritt der Konsumtion. Schon durch die Instrumente, über welche sie verfügte, gezwungen, in beständig größerem Maße zu produzieren, kann die Großindustrie nicht die Nachfrage abwarten. Die Produktion setzt die Konsumtion voraus, das Angebot erzwingt die Nachfrage. In der heutigen Gesellschaft, in der auf dem individuellen Austausch basierten Industrie, ist die Produktionsanarchie, die Quelle so vielen Elends, gleichzeitig die Ursache allen Fortschritts."2) „Demnach von zwei Dingen eins", ruft Marx aus: „entweder man will die richtigen Proportionen früherer Jahrhunderte mit den Produktionsmitteln unserer Zeit, und dann ist man Reaktionär und Utopist in einem." Aber — wie man weiß — das ist heute noch wie vor 150 J a h r e n aktuell! „Oder man will den Fortschritt ohne Anarchie: und dann verzichte man, um die Produktivkräfte beizubehalten, auf den individuellen Austausch." 3 ) Auch die bürgerliche Ökonomie kann nicht gut bestreiten, daß immanente Kräfte des Kapitalismus das Gleichgewicht stören und zerstören! J a — durch die Logik der Sachen gedrängt —, wider ihren Willen gibt die bürgerliche Ökonomie die immanente Notwendigkeit der Aufhebung der freien K o n kurrenz und der Entstehung des MonopQlkapitalismus zu. „Im statischen Gleichgewicht", schreibt z. B. Heinrich von Stackelberg, der schon wiederholt als Zeuge für die Auffassungen der modernen bürgerlichen Theorie angeführt wurde, in seinen „Grundlagen einer reinen Kostentheorie", „befindet sich jede Unternehmung im Betriebsoptimum." 4 ) Wir brauchen diese Fiktion der modernen bürgerlichen Ökonomie nicht noch einmal zu widerlegen, sondern können uns sogleich den weiteren Ausführungen von Stackelbergs zuwenden, die inhaltlich den Prozeß der Monopolisierung des Kapitalismus beschreiben. Wir wissen ebenfalls aus einem anderen Zusammenhang bereits, daß Heinrich von Stackelberg den Profit als treibendes Motiv der kapitalistischen Produktion anerkennt. „Die bewegende K r a f t ist das Gewinnstreben der einzelnen Wirtschaftsindividuen", schreibt er, und daraus, aus dem Streben nach Gewinn, ergibt sich nun die Störung des „statischen Gleichgewichts". ') ) 3) 4) 2

Marx, a. a. O., S. 3. Ebd., S. 87. Ebd., S. 87.A. a. O., S. 78. 533

„Innerhalb der einzelnen Produktionszweige beginnt jede Unternehmung danach zu streben", überlegt von Stackelberg, „ihren Produktionsapparat zu verbessern, ihre äußeren und inneren Vorteile zu erhöhen, um so ihren Gewinn zu vergrößern." Jede Unternehmung suche den bei den „gegebenen technischen und sozialen Verhältnissen" bestmöglichen Produktionsapparat zu erzielen. „Veraltete Maschinen werden durch neue ersetzt, neue P r o duktionsverfahren werden eingeschlagen, aus Unternehmungen mit ungünstigem Standort wird das Kapital herausgezogen und an günstiger gelegener Stelle investiert; Produktionszweige mit geringer Gewinnmöglichkeit w e r den verlassen, und solche mit besseren Aussichten werden aufgesucht; Unternehmungen, die mit diesen Umstellungsvorgängen nicht Schritt halten können, brechen zusammen. Den Kapitaltranspositionen schließen sich Wanderungen der Bevölkerung an. So entsteht ein weitreichender und komplizierter Umstellungsprozeß; er endet in der Errichtung eines dauernden Gleichgewichts." 1 ) Aber dieses „dauernde" Gleichgewicht kann leider niemals erreicht werden, weil andere — immanente — K r ä f t e des Kapitalismus es verhindern! Schon „im System der statischen Konkurrenzwirtschaft" sind nämlich K r ä f t e v o r handen . . . , d i e . . . auf eine Konzentration hinführen. 2 ) Und es sind dieselben Kräfte, die nach von Stackelberg zu einem „dauernden" Gleichgewicht führen sollen, die verhindern, daß es sich herausbildet! „Es zeigt sich nämlich..., daß die Unternehmungen eines Produktionszweiges einen größeren Gewinn zu realisieren imstande sind, wenn sie sich zu einem Monopol zusammenschließen." 3 ) Hiermit wird klar und nüchtern das Motiv der Monopolisierung, die Erhöhung der Profitrate zugegeben und ausgesprochen! Es ist das gleiche Streben nach dem „maximalen Gewinn", das einerseits zum Gleichgewicht hinführt, das andererseits seine Herausbildung verhindert! Denn „der Monopolpreis" ist „stets größer als die Grenzkosten, während der K o n kurrenzpreis ihnen gleich ist", heißt eine der Erkenntnisse der modernen bürgerlichen Ökonomie! 4 ) „Der Monopolist könnte aber sehr wohl auch das konkurrenzwirtschaftlich günstigste Produktionsniveau realisieren. Wenn er dies nicht tut, so nur deshalb, weil er durch ein anderes Produktionsniveau einen höheren Gewinn erzielen kann." 5 ) Es ist wert, dieses Eingeständnis eines bürgerlichen Ökonomen festzuhalten! Dabei handelt es sich hier, wohlgemerkt, immer noch um die stationäre, keineswegs also schon um die sich erweiternde Wirtschaft! Die Tendenz zum monopolistischen Zusammenschluß innerhalb der Produktionszweige folgt also durchaus aus dem „erwerbswirtschaftlichen Prinzip". 6 ) J) 2) 3) 4) 5) 6)

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 77 (von mir gesperrt, F. B.). S. 79. S. 79. S. 79. S. 79. S. 80.

Diese Kraft, die nach Heinrich von Stackelberg zur Konzentration führt, „wirkt primär auf eine horizontale und sekundär auf eine vertikale Konzentration der Betriebe". 1 ) Allerdings fügt von Stackelberg hinzu, daß „diese K r a f t . . . kein im System der freien Konkurrenz enthaltener Zwang, sondern nur eine Tendenz, eine Lockung" ist.2) „Die Monopolisierungstendenz ist lediglich eine Nebenwirkung des erwerbswirtschaftlichen Prinzips." 3 ) Dazu kommt, daß diese „Konzentrationskraft" auf eine Reihe innerer „Gegenkräfte" stößt, die aber auf die Dauer, w i e die wirkliche Entwicklung uns beweist, die Konzentration nicht zu verhindern mögen. 4 ) Die „Lockung" ist jedenfalls eine sehr starke, so stark, daß sich die „Tendenz" absolut und gegen alle „inneren K r ä f t e " durchgesetzt hat! Sobald ein Produktionszweig nun aber monopolisiert ist, ergibt sich eine Tendenz zur Angliederung von weiterverarbeitenden Betrieben. „Aus einer horizontalen Konzentration folgt eine sekundäre Erscheinung der vertikalen Kombination." 5 ) Und hierzu, zu diesen schon in der „statischen Korikurrenzwirtschaft" wirkenden Kräften, kommt noch hinzu, daß sich in der „Dynamik" die K o n zen trationskräfte verstärken, und zwar, weil „die dynamisch bedingte V e r ringerung der Anzahl der Unternehmungen eines Produktionszweiges... schließlich zu einem Punkte führen" muß, „in welchem das Problem des Polypols auftaucht". 6 ) In der Marktform des Angebotspolypols ist „ f ü r jede Unternehmung . . . der Preis größer als die Grenzkosten". 7 ) Da aber andererseits — folgert Heinrich von Stackelberg — nach der Restatisierung kein Produktionszweig gegenüber einem anderen „einen Sondergewinn erzielen kann, der Preis also den Durchschnittskosten gleich ist", so müssen wir zu dem Ergebnis gelangen, „daß mit dem Übergang zum Polypol ein Übergang der Unternehmungen aus dem Optimum in die Degressionszone verknüpft ist". 8 ) *) Ebd., S. 79. Ebd., S. 79. 3) Ebd., S. 80. 4) „Diese Konzentrationsfähigkeit stößt auf innere Gegenkräfte, die desto stärker sie sind, je größer die Anzahl der Unternehmungen eines Produktionszweiges ist. Sie braucht sich keineswegs durchzusetzen — zumal die wichtigsten Konzentrationskräfte erst in der Dynamischen Wirtschaft auftreten. Ferner ergibt sich eine dezentralisierende Kraft aus der bekannten Tatsache, daß jedem Monopol die Gefahr der Außenseiter drohen kann. Sobald ein Produktionszweig monopolistisch ist, gewähren seine Preise gegenüber den anderen Produktionszweigen erhöhte Gewinnmöglichkeiten und locken in verstärktem Maße Unternehmer in den monopolisierten Produktionszweig hinüber." Ebd., S. 80. 5) Ebd., S. 80. «) Ebd., S. 90. 7) Ebd., S. 90. 8) Ebd., S. 90. 2)

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Und hiermit sind wir wieder bei dem Schmalenbachschen Problem der Überkapazität und der hieraus folgenden Tendenz zur Konzentration angelangt! Denn solange die Betriebe nicht voll ausgenutzt sind, befinden sie sich in der Degressionszone. Überkapazität aber heißt latente Uberproduktion. Gehen die in der Degressionszone sich befindenden Betriebe in ihr Optimum, so bedeutet das, daß aus der latenten die wirkliche Überproduktion wird. In der Betriebsdegression liegt der Grenzkostensatz unter, in der Betriebsprogression liegt der Grenzkostensatz über den Durchschnittskosten. Die Kostendegression stellt sich gewöhnlich bei unzureichendem, die Kostenprogression bei übermäßigem Beschäftigungsgrad ein. Wenn die Kostenverhältnisse aller Betriebe die gleichen wären, müßten infolge des verschiedenen Beschäftigungsgrades die stark beschäftigten Betriebe einen hohen, die schwach beschäftigten Betriebe einen niedrigen Grenzkostensatz aufzuweisen haben. Diese Erscheinung müßte, nach Auffassung Schmalenbachs, „auf die Verteilung der Beschäftigung ungemein ausgleichend wirken". 1 ) Aber es ist nicht so, wie Schmalenbach sofort feststellt, denn die Betriebe haben „selbst bei gleichen Durchschnittskosten keineswegs alle den gleichen Progressions- und Degressionsverlauf". 2 ) Der „degressionsstarke" Betrieb, der in der Regel auch der „progressionsstarke" Betrieb ist, wird vielmehr bei schwacher Beschäftigung den anderen Betrieb preislich unterbieten! „Degressionsstarke" Betriebe „sind so hungrig nach Beschäftigung, daß sie bei aller inneren Gegenwehr die Durchschnittskosten nicht zu halten vermögen .. ," 3 ) Da Stillegung noch größeren Verlust bedeutet als Weiterproduzieren zu den unter den Durchschnittskosten liegenden Grenzkosten, vollzieht sich „der Konkurrenzkampf gewöhnlich so, daß der degressionsstarke Betrieb differenzierte Preise stellt und auf diese Weise in die Kundenweide des Konkurrenten einzudringen sucht; aber der Konkurrent tut das gleiche, und schließlich ist das. ganze Preisniveau zerstört. Alle Betriebe arbeiten alsdann mit Verlust." 4 ) Man versteht also, meint Schmalenbach, „daß die Betriebe sich gegen derartige Preiserscheinungen kräftig wehren". In den Geschäftszweigen mit starker Degression ist daher die Neigung zur Kartellbildung überaus stark. Die modern eingerichteten Werke marschieren dabei an der Spitze, „denn mit der modernen Einrichtung ist eine starke Degressionswirkung regelmäßig verknüpft". 5 ) A m Monopol hängt, zum Monopol drängt doch alles — ach, wir Armen! könnten wir mit Gretchen ausrufen. Denn was der Betriebswirt feststellt, das folgert auch der Volkswirt. Schmalenbach, Preispolitik und Rechnungswesen, a. a. O., S. 92. Ebd., S. 92. 3) Ebd., S. 92. 4 ) Ebd., S. 92/93. 5) Schmalenbach, Preispolitik und Rechnungswesen, S. 93. 2)

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„Das Kartell", schreibt H. von Stackelberg, „kann sich niemals damit begnügen, den Preis einfach über dem Konkurrenzpreisniveaiu festzusetzen (Preiskartell). Es würde dann — und die Erfahrung hat das vielfach bestätigt — zusammenbrechen. Vielmehr muß es so neben dem Preis auch die Absatzverhältnisse regeln, indem es die Absatzmenge beschränkt (Produktionskartell). Das geschieht in der Weise, daß man den Mitgliedern Quoten am Gesamtabsatz zuweist (Quotenkartell) oder sie auf bestimmte Absatzgebiete beschränkt (Gebietskartell) oder schließlich den ganzen Verkauf zentralisiert (Kartell höherer Ordnung, Syndikat). In allen diesen Fällen wird f ü r die einzelnen Mitglieder die Tauschfreiheit aufgehoben. Sie bleibt n u r f ü r das Kollektivmonopol als Ganzes bestehen." 1 ) Und hier von einer anderen Seite noch einmal die gleiche Feststellung: das gesamte Wirtschaftssystem, die Wirtschaftsordnung wird in Mitleidenschaft gezogen, alles drängt zum Monopol! „Die Degressionserscheinungen können so stark und dauerhaft sein, daß die darunter leidenden Betriebe mit der geltenden Wirtschaftsordnung, insbesondere mit dem System der freien Konkurrenz, überhaupt nicht mehr z u r e c h t k o m m e n . . . Es ist in solchen Fällen nur eine Zeitfrage, daß selbst die bestentwickelte Abneigung des Konkurrenten gegen den Konkurrenten sich verflüchtigt." 2 ) Und dabei ist diese Entwicklung notwendig mit der technischen Entwicklung verbunden! Infolge der „modernen Fabrikationsgestaltung" sei „die f ü r die Erzeugung optimaler Auflagen nötige Zahl größer — als die im Markt überhaupt vorhandene Nachfrage", stellt Schmalenbach fest. „Es gibt bereits eine Menge von Produkten, bei denen es die kalkulatorisch beste Lösung wäre, alles, was der Markt braucht, an einer einzigen Stelle herzustellen. Es ist deutlich zu sehen, daß die Zahl dieser Produkte, namentlich in der Fertigungsindustrie, dauernd zunimmt. Wo dieser Vorgang sich durchsetzt, hat das System der freien Konkurrenz sich überlebt." 3 ) Es hängt also keineswegs vom „freien Willen" ab, von der berühmten „Unternehmerinitiative", ob die Wirtschaft zur freien Konkurrenz oder zum Monopol sich wendet, wie die Liberalisten es gern hätten. Der immanente ökonomische Zwang treibt unweigerlich zum Monopol! „Ungezählte Gegenstände der Fertigungsindustrie, solche des täglichen Gebrauchs und solche des Gebrauchs in Betrieben (Werkzeuge, Instrumente, Maschinen), ließen sich f ü r Bruchteile der heute geltenden Kosten herstellen, wenn man den ganzen Bedarf unter Verzicht auf Konkurrenz durch einen *) A. a. O., S. 113. „Als Kollektivmonopole" werden heute besonders die autonomen Zusammenschlüsse von Anbietern und Nachfragern bezeichnet, wie sie von den im Mittelalter geduldeten und geregelten Zunftmonopolen und verpönten „Aufund Fürkäufern bis zu den modernen Kartellen und Syndikaten reichen". C. Brinkmann, Wirtschaftstheorie, a. a. O., S. 49. 2 ) Ebd. 3 ) Schmalenbach, a. a. O., S. 79/80. 537

einzigen Betrieb herstellen ließe. Schreibmaschinen, Sprechmaschinen, Kräftemaschinen, ja sogar Staubsauger sind heute noch viel teurer, als sie zu sein brauchten, und machen einen großen Bedarf latent. Dies ganz abgesehen davon, daß im System der Konkurrenz oft mehr f ü r die Propaganda und Absatzorganisation ausgegeben wird als f ü r die eigentliche Erzeugung. Das muß immer wieder festgestellt werden, auch wenn man sich aus grundsätzlichen Erwägungen schließlich doch f ü r die Erhaltung der Konkurrenz erklärt." 1 ) Man möchte zwar wirklich sehr gern. aus „grundsätzlichen" Erwägungen die Konkurrenz erhalten — aber ach! — die Vorteile der Monopolisierung sind eben zu groß! Und wer möchte wohl wegen seiner Grundsätze sterben — oder gar auf Profitmöglichkeiten verzichten? „Ein namhafter Vorzug der aus vielen Fabriken bestehenden Großunternehmungen besteht darin", verrät uns also Schmalenbach, „daß sie im Falle der Uberkapazität" einzelne Werke stillegen und dafür andere voll arbeiten lassen können. Dieser eine Vorteil ist so durchschlagend, daß er große Fusionen gerechtfertigt hat. Auch die vorübergehende Anpassung an die Marktlage gelingt den großen Konzernbetrieben besser als einer Vielheit selbständiger Werke. Der Konzernbetrieb stellt, wenn er sich in horizontaler Richtung entwickelt hat, eine Batterie von Werken dar; er kann sich der Vorteile eines solchen Batteriesystems bedienen. 2 ) Während also bei freier Konkurrenz nach Auffassung der bürgerlichen Ökonomie grundsätzlich — in der Tendenz oder in „the long run" — ein „automatisches Ausgleichen zwischen Angebot und Nachfrage" stattfindet, wenn auch je nach der Länge der Produktionsperiode eine gewisse Zeit vergehen mag, wird dieser Ausgleich beim Vorliegen von Monopolen verhindert. Diese Tatsache kann selbst ein so exponierter Vertreter des Neo-Liberalismus wie Müller-Armack nicht bestreiten. Er spricht von dem „durch das Vordringen der fixen Kosten in allen Betrieben der industriellen Fertigung" hervorgerufenen „Konstruktionsfehler" der Marktwirtschaft, „der den ruhigen Marktablauf in Frage s t e l l t . . ."3) Nur dort vermag auf die Dauer „eine ausgeglichene Wettbewerbssituation" zu bestehen, wo die „Durchschnittskosten den Grenzkosten gleich sind". Aber leider wurde diese betriebliche Kostensituation immer mehr zur Ausnahme. Liegen aber die Grenzkosten ständig unter den Durchschnittskosten, so wird „konkurrenzwirtschaftlich... das Marktgleichgewicht durch diese Kostenstruktur stärkstens g e f ä h r d e t . . ,"4) Schmalenbach, a. a. O., S. 80. ) Ebd.,-S. 72. 3 ) Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg 1948, S. 48. 4 ) Ebd., S. 99. 2

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Die Kostendegression ließ schon im vergangenen Jahrhundert in verschiedenen Bereichen —• Elektrizitäts-, Gas-, Wasserversorgung, Eisenbahnbetrieb — „den privaten Wettbewerb in unüberwindliche Schwierigkeiten hineingeraten". 1 ) Die Konsequenzen „der Unmöglichkeit, im Wettbewerb selbst ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, das die Rentabilität der Erzeugung sicherte", ebnete nach Müller-Armack in Deutschland „der Verstaatlichung dieser Wirtschaftszweige den Weg". 2 ) Also nicht n u r zur Monopolisierung schlechthin f ü h r t zugegebenermaßen die Uberkapazität, sie f ü h r t sogar zum Staatsmonopol. Das beweist die innere Wesensgleichheit des monopolistischen und des staatsmonopolistischen Kapitalismus und die Notwendigkeit der monopolkapitalistischen Befehlswirtschaft, in der der stagnierende und parasitäre Kapitalismus unserer Zeit in höchster Form sich zeigt. Und so stellt sich auch bei Müller-Armack, der allerdings weit davon entfernt ist, diese Entwicklung zu begreifen, darüber wird noch einiges zu sagen sein, die „Einsicht" ein, daß „dauernde Kostendegression... so ständige preispolitische Eingriffe" verlangen. 3 ) Diese sich notwendig ergebenden preispolitischen „Eingriffe" beginnen mit der privaten monopolistischen Preispolitik, obwohl ihre Ansatzpunkte schon im vormonopolistischen Kapitalismus zu erkennen sind, und sie enden mit der staatsmonopolistischen Preispolitik, der modernen monopolkapitalistischen Befehlswirtschaft. Aus dem Streben nach der Verhinderung solcher aus der Überkapazität drohenden Überproduktion entsteht in der „Dynamik" also die zusätzliche Konzentrationstendenz. Die bürgerliche Ökonomie stellt so zwei Kräfte, die auf die Konzentration drängen, fest: 1. in der Statik das Gewinnstreben, das Streben nach Erhöhung des Marktpreises über den Produktionspreis, d. h. über die „Kosten" im bürgerlichen Sinne als Kostpreis plus Durchschnittsprofit im Betriebsoptimum; 2. in der Dynamik die Überkapazität, die bewirkt, daß die Marktpreise unter den Produktionspreis, also unter die „Kosten" im Betriebsoptimum, sinken. Es ist also, theoretisch gesprochen, einmal das Streben nach der Erhöhung der Profitrate, die zur Konzentration, und dann das Streben nach der Stabilisierung der erhöhten Profitrate, das schließlich zur Monopolisierung führt. „Jede Unternehmung erzielt" zunächst „einen Gewinn, der größer ist als der Gewinn, der sich in demselben Produktionszweig bei Vorhandensein der gleichen Anzahl von Unternehmungen in der freien Konkurrenz heraus') Ebd., S. 99. ) Ebd., S. 99. 3 ) Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg 1948, S. 99. 2

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gebildet haben würde. Dagegen ist der Polypolgewinn nicht größer als der Gewinn, den die Unternehmungen in anderen — konkurrenzwirtschaftlich organisierten — Produktionszweigen erzielen." 1 ) Da im Polypol „ein Gleichgewicht unmöglich ist", entsteht „ein K o n kurrenzkampf, der mit der Unterwerfung oder Vernichtung eines Gegners enden muß, wenn keine Einigung zustande kommt". 2 ) Aber diese Einigung kommt ebenso zustande, wie der Konkurrenzkampf mit der Unterwerfung oder Vernichtung eines Gegners endet; aus dem Kapitalismus der freien Konkurrenz wird der Monopolkapitalismus. „Es entsteht der Zwang zu einer Einigung in irgendeiner Form, sei es auf der Basis der Gleichberechtigung, was zunächst einem Kartell entsprechen würde, sei es auf dem Grundsatz der Uber- und Unterordnung, indem eine Unterordnung über die andere siegt und die Marktlage hyperpolitisch bestimmt." Bei einer größeren Zahl annähernd gleicher Unternehmungen sei ein K a r tell das Wahrscheinlichste, stellt von Stackelberg fest. „Ein solches führt, je nachdem, wie straff es ist, schließlich zu der Möglichkeit einer monopolistischen Beherrschung des Marktes. Damit hört der Konkurrenzmechanismus auf, die Produktion zu regulieren. Der marktwirtschaftliche Zusammenhang zwischen Betriebsgröße und Anzahl der Unternehmungen wird in dem gleichen Maße aufgehoben, in welchem die Konzentration straffere Formen annimmt; schließlich wird die Frage der Betriebsgröße und Betriebsanzahl ganz von Gesichtspunkten beherrscht, die im Innern des Gesamtverbandes liegen; die Gesichtspunkte können sowohl außerwirtschaftlich bestimmt sein als auch auf einer für den Gesamtverband gültigen Rentabilitätsberechnung und Kalkulation basieren; im letzten Falle wird die rationellste Gesamtproduktion angestrebt werden, allerdings im Dienste eines monopolistisch organisierten Gewinnstrebens." 3 ) So zerstört das „erwerbswirtschaftliche Prinzip" also schließlich seine eigene Grundlage, das Wertgesetz, dessen Durchführung es dient und dessen reibungslose Funktion wieder die Grundlage für die reibungslose Funktion des Verwertungsstrebens des Kapitals ist. Die Kartelle „höherer Ordnung", die Monopole, erstreben ein Optimum des Gesamtangebots, d. h., sie streben danach, daß der Durchschnitt der Marktpreise einer Ware höher ist als ihr Produktionspreis, indem sie den Marktpreis vom negativen Grenzproduzenten bestimmen lassen. Und dieser Prozeß ist ein notwendiger, ein der kapitalistischen Produktionsweise immanenter Prozeß. So stellt der bereits zitierte Carl Landauer schließlich fest, indem er die aus der „Lockung" nach Monopolprofit sich ergebende „Tendenz" erkennt: „Die Technik der Kartellorganisation wird weiter fortschreiten, sie wird die Monopolisierung von Von Stackelberg, a. a. O., S. 90. Ebd., S. 80. 3) Von Stackelberg, a. a. O.

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Produktionszweigen herbeiführen, in denen heute noch freier Wettbewerb herrscht. Ein Produktionszweig ist so lange einer Kartellregelung nur unter Schwierigkeiten zugänglich, als ein Teil der Produzenten noch hofft, den anderen Teil in ungehemmtem Kampf rasch ausschalten zu können. Diese Hoffnung findet notwendig einmal ihr natürliches Ende: entweder erfüllt sie sich, dann bleiben die siegreichen Unternehmungen ganz allein zurück und stehen vor der Frage, ob sie den Wettbewerb unter sich fortsetzen wollen, oder sie erfüllt sich nicht, die Starken oder vermeintlich Starken können die Kleineren nicht vernichten, dann werden sie es vorteilhafter finden, sich mit ihnen zu vertragen. In beiden Fällen mündet der Konkurrenzkampf in einem Kartell." 1 ) Die Tendenz zum Monopol ist also keineswegs, wie Landauer ausdrücklich und richtig festhält, „eine Ausartung, die sich hier und dort am Körper der Verkehrswirtschaft findet, sondern sie ist ein unvermeidlicher Prozeß, der sich mit dem Fortschritt der Organisationstechnik über die ganze Wirtschaft ausbreitet und der nur dort vorübergehend zum Stillstand kommt, wo besonders starke Wachstumsprozesse immer neue Voraussetzungen für den Wettkampf schaffen, deren Folgen von den Beteiligten erst erprobt werden müssen". 2 ) Wir konstatieren also: Der „dynamische Prozeß" enthält „formal bestimmte Tendenzen nicht allein auf horizontale, sondern auch auf vertikale Konzentration". 3 ) Diese vertikale Konzentrationstendenz wird desto stärker, je weiter die horizontale Konzentration vorschreitet. Sie ist zunächst nur eine aus dem Gewinnstreben folgende „Lockung", kein systematischer Zwang. Ein solcher ergibt sich jedoch, wenn man annimmt, daß in zwei aufeinanderfolgenden Produktionszweigen die technische Entwicklung zur horizontalen Konzentration führt. Die daraus entstehenden Kartelle können miteinander nicht auf Grund eines mechanischen Gleichgewichts konkurrieren. Es würde ein Machtkampf entstehen, weil jeder Partner versuchen würde, sein Preisgebot bzw. seine Preisforderung dem anderen aufzuzwingen. Das Ergebnis ist die Notwendigkeit einer Einigung: die vertikale Konzentration wird systematisch erzwungen. 4 ) Was von Stackelberg aus dem konsequent durchgeführten „erwerbswirtschaftlichen Prinzip" folgert, ist im Grunde nicht die Konzentration allein, sondern auch die Zentralisation des Kapitals. Schmalenbach macht demgegenüber auf die aus der technischen Entwicklung sich ergebende Konzentration der Produktionsmittel aufmerksam, deren Wirken er bekanntlich für die Strukturwandlung des Kapitalismus zum Monopolkapitalismus verantwortlich macht. Ebd., S. 19/20 (von mir gesperrt, F. B.). Von Stackelberg, ebd., S. 21 (von mir gesperrt, F. B.). 3) Ebd., S. 91. 4) Ebd., S. 97. 2)

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Diesen Gedanken hat Schmalenbach bekanntlich erstmalig in seinem. Vortrage auf der Betriebswirtschaftstagung in Wien im Jahre 1928 ausgesprochen.1) Er legte in diesem, in der bürgerlichen Ökonomie aufsehenerregenden Vortrag dar, „daß die fixen Kosten auf die Dauer die freie Wirtschaft zerstören müssen". Man brauche nicht Materialist zu sein, sagte Schmalenbach, „um zu sehen, daß bei uns die Entwicklung der Wirtschaftsstufen, von der geschlossenen Hauswirtschaft zur Volkswirtschaft mit dem Übergang über die Manufaktur zur Fabrik, im wesentlichen materielle, genauer gesprochen: Kostengründe gehabt hat". 2 ) „Und wenn aus der Wirtschaftsgeschichte . . . etwas zu lernen" sei, meinte Schmalenbach, so das, „daß man, um diesen Wandlungen nachzuspüren, zuerst den Kosten nachgehen muß". 3 ) Wäre die Tatsache der fixen Kosten eine vorübergehende Erscheinung, so bliebe der Druck der fixen Kosten so milde, wie er gegenwärtig noch in großen Teilen der Fertigungsindustrie ist, so würde kein Anlaß sein, von der Seite der fixen Kosten eine allgemeine Umgestaltung der Wirtschaftsverfassung zu erwarten. Man würde für die Fertigungsindustrie, das Handwerk und den Handel erwarten dürfen, daß sie die schon bestehende Marktgebundenheit der Schwerindustrie nicht übernehmen und die Anfänge dieser Entwicklung sogar abzuschütteln vermögen. Aber so liegen die Dinge nun eben nicht. Die Entwicklung der Betriebswirtschaft ist dergestalt, daß die fixen Kosten im Laufe der Zeit mächtig zunehmen müssen.4) Um das richtig zu sehen, müsse man allerdings den verschiedenen Entwicklungslinien nachgehen! Zunächst die Industrie. — „Die optimale Größe der Betriebe schreitet in der Industrie fast allenthalben fort. Die den großen Betrieben anhaftenden Größenprogressionen, die hauptsächlich in ihrer schwerfälligen Verwaltung liegen, lernt man immer besser überwinden." 5 ) Für die kleineren Betriebe liegen „die Dinge . . . heute ungünstig . . . Ein Teil ihrer Vorteile schwächt sich ohnehin ab, und die neuen technischen Vervollkommnungen sind ihnen zum großen Teil nicht zugänglich."6) Auch von der Seite der Fertigungsverfahren wachsen die fixen Kosten. Insgesamt also wachsende Abhängigkeit vom Beschäftigungsgrad! Dieses Wachstum der fixen Kosten „findet nicht kontinuierlich und unterbrechungslos, sondern in Schüben statt; es sind ') Schmalenbach, Die Betriebswirtschaftslehre an der Schwelle der neuen Wirtschaftsverfassung, Vortrag vom 31. Mai 1928, Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, 1928. 2 ) Ebd., S. 96. 3 ) Ebd., S. 97. 4 ) Ebd., S. 99. •"') Ebd., S. 100. °) Ebd., S. 100.

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meist große, von Modeströmungen, Modeübertreibungen und Schlagworten begleitete Stoßbewegungen, die man in dieser Entwicklung beobachtet".1) Das Wachsen der fixen Kosten sei nicht nur für die moderne Industrie, sondern auch für das Handwerk charakteristisch. „Der selbständige Handwerker mit wenigen Gesellen und einigen Lehrlingen ist noch nicht ausgestorben; aber dem Installateur macht die Installationsfirma, dem Anstreicher das Anstreichergeschäft, dem Maurer die Bauunternehmung, dem Schneider das Herrengarderobengeschäft übermächtige Konkurrenz. Und diese neuen Konkurrenten sind mit fixen Kosten belastet wie die Industrie auf der einen und die großen Einzelhandelsgeschäfte auf der anderen Seite."-) Schmalenbach ist, wie er 1934 schrieb, „immer noch des Glaubens, daß die fixen Kosten auf die Dauer mit der auf freier Preisbildung herrschenden Wirtschaftsverfassung unverträglich sind und daß es möglich wäre, diese unvermeidliche Umstellung planvoll zu bewirken, statt sie planlos sich auswachsen zu lassen. Das Wesentlichste, das es hier zu tun gibt, ist, diese großen Gebilde, die Konkurrenz und die Kartelle, auf die denkbar beste und leistungsfähigste Form zu bringen." 3 ) Sobald die Entwicklung einmal so weit fortgeschritten ist, wie sie Schmalenbach hier schildert, muß aber der Übergang vom Marktautomatismus zur monopolkapitalistischen Befehlswirtschaft oder •— wie man auch beschönigend sagen kann — zum „Plankapitalismus" erfolgen. Die von Schmalenbach geforderte Form fand der Monopolkapitalismus schließlich, wie uns die Erfahrung lehrte! Es ist die monopolkapitalistische Befehlswirtschaft, wie sie Hitler erstmalig verwirklichte! Hier lief alles und jedes auf die erhöhte Ausbeutung nicht nur der Arbeiterklasse, sondern aller Werktätigen und sogar eines Teiles der nichtmonopolistischen Bourgeoisie, also auf Erhöhung der Profitrate und Stabilisierung der Monopolprofitrate hinaus. Selbstverständlich ist Schmalenbach ebensoweit wie andere bürgerliche Ökonomen von einem Verständnis der Zusammenhänge entfernt. „In Zeiten der Degression beißt immer der kombinierte Betrieb die reinen Werke w e g und läßt sie nicht heran an die Schüssel", schreibt Schmalenbach.4) Es handelt sich hierbei nach Schmalenbach allerdings keineswegs um rein technische, „sondern zu erheblichem Teil um wirtschaftliche Ursachen. Das kombinierte Werk ist dem reinen Werk in Krisenzeiten kostenmäßig, infolge der höheren fixen Kosten, an Anpassungsfähigkeit unterlegen; aber preispolitisch ist es überlegen, sein Preisspielraum ist größer, und zwar ebenfalls wegen der fixen Kosten." 5 ) 5)

Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. 3 ) Ebd., S. 101. 4 ) Schmalenbach, Selbstkostenrechnung und Preispolitik, a. a. O., S. 62. 5 ) Ebd., S. 62. 2)

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Doch ist die Grundlage der wirtschaftlichen Überlegenheit des kombinierten Betriebes eben die Konzentration der Produktionsmittel. Schmalenbach unterscheidet bekanntlich zwischen Größendegression und Betriebsdegression. Er macht den Unterschied sehr anschaulich am Beispiel einer Dampfmaschine klar. Der Kohlenbedarf für die Pferdestunde ist bei einer 10 20 30 50 100 150 200 P S Leistung 1,4 1,2 1,05 0,95 0,93 0,92 0,915 kg „Das ist eine Größendegression." 1 ) Bei nicht voller Beanspruchung braucht die Maschine von 100 P S absolut weniger, aber relativ mehr Kohlen, und zwar bei 50 60 70 80 90 100 P S Leistung 1,8 1,32 1,25 1,16 1,04 0,93 kg j e PS-Stunde „Das ist eine Betriebsdegression." 2 ) Durch die Krisen sei nun durch „technische Umstellungen", wie Verbesserungen der Wärmewirtschaft, Elektrizifierung, Handarbeitsersatz und andere Maßnahmen, die „optimale Betriebsgröße verlagert", und zwar sei sie „in den meisten Fällen nach oben gerückt worden". Es liege also an sich ein Problem der Größendegression vor. „Eine solche Verlagerung der optimalen Größe nach oben hat die Wirkung, daß in einem Geschäftszweig nicht nur einzelne, sondern alle Betriebe, die geldlich dazu in der Lage sind, versuchen, ihre Produktion zu steigern, um so der Vorteile der Vergrößerung teilhaftig zu werden. Wirtschaftlich vernünftiger, meint Schmalenbach, wäre es natürlich, wenn sich nun die Unternehmer dieses Geschäftszweiges zusammentäten und dem kommenden Unheil dadurch begegneten, daß einige Betriebe ganz stillgelegt werden und die Gesamtkapazität dieses Geschäftszweiges nicht eine Höhe erreicht, die weit über dem Absatz steht." Der Betriebswirt Schmalenbach, eine der Leuchten der bürgerlichen Ökonomie, sagt hier in dürren Worten, daß die Beschränkung der gesellschaftlichen Produktivkräfte das „wirtschaftlich Vernünftige" sei! Wenn das kein Bankrott der bürgerlichen Ökonomie ist, was ist dann Bankrott? „Aber zu derartigen vernünftigen Besprechungen kommt es gewöhnlich nicht", stellt Schmalenbach bedauernd fest; „vielmehr sucht jeder einzelne den Wettkampf mitzumachen, und so ist dann eine Überkapazität von langer Dauer unvermeidlich." Ganz „besonders unerquicklich" aber werde das Bild, „wenn die Tendenz zur Vergrößerung der Betriebe zusammenfällt mit Absatzstockungen und wenn derartigen Stockungen durch Verbilligung der Produktion" begegnet werden soll. Dann trete das ein, „was die Klassiker der Wirtschaftstheorie sich nicht träumen ließen: die Kostensenkung bringt nicht die Tendenz zur Eindämmung der Kapazität, sondern im Gegenteil, sie ver*) Schmalenbach, Selbstkostenrechnung und Preispolitik, a. a. O., S. 67. Ebd., S. 68.

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größert sie noch", 1 ) d. h., es tritt genau das ein, was für die allgemeine Krise des Kapitalismus typisch ist. Ruinöse Konkurrenz auf der einen Seite, endend mit Monopol, Vereinbarungen auf der anderen Seite, endend mit dem Monopol — so oder so folgt aus dem Konkurrenzkapitalismus der Monopolkapitalismus, der nun allerdings die Konkurrenz keineswegs aufhebt, sondern sie nur emporhebt auf ein höheres und verderblicheres Niveau! Joseph Schumpeter, der „Theoretiker" des „dynamischen Unternehmers", faßt sehr gut die Stimmung derjenigen bürgerlichen Ökonomen zusammen, die den objektiven Zwang der Entwicklung nicht leugnen können: „Meine endgültige Folgerung unterscheidet sich deshalb nicht von jener der Marxisten, so anders auch meine Begründung ist", schreibt er und fährt fort: „ U m sie jedoch aufzunehmen, braucht man kein Sozialist zu sein. Die Prognose enthält nichts über die Wünschbarkeit des Laufes der Dinge, die sie voraussagt. Wenn ein Arzt voraussagt, daß sein Patient nächstens sterben wird, bedeutet das nicht, daß er es wünsche. Man kann den Sozialismus hassen oder ihn zumindest mit kühler Kritik betrachten und doch seinen Aufstieg voraussehen. Viele Konservative haben dies getan und tun es heute." 1 ) Aus dem Monopolkapitalismus wird schließlich der monopolistische Staatskapitalismus — und auch das muß die bürgerliche Ökonomie — sehr wider Willen — zugeben! „Eine weitere Zunahme der Betriebsgröße wird nun zu einer internen Angelegenheit der horizontalen Zusammenschlüsse", schreibt H. von Stackelberg bei der Verfolgung seiner von uns wiedergegebenen Gedankengänge weiter. „Je stärker die Zentralisierung ist, desto eher wird man jeden P r o duktionszweig als eine einzige Riesenunternehmung betrachten können, die in ihrer betrieblichen Zusammensetzung als parallel geschaltetes Batteriesystem gekennzeichnet werden kann. Hier ist jeder Elementarbetrieb ein optimaler. Der entscheidende Unterschied gegenüber der Konkurrenzwirtschaft liegt daran, daß das erwerbswirtschaftliche Prinzip nicht mehr die volkswirtschaftliche Produktivität gewährleistet, sondern ihr entgegenwirkt." 2 ) Damit ist die bürgerliche Ökonomie, die Betriebswirtschaftslehre und die Volkswirtschaftslehre, materiell zu dem Eingeständnis gekommen, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Entwicklung der Produktivkräfte hemmen. Der Betriebswirt bezeichnet die Stillegung der Betriebe als das „wirtschaftlich Vernünftige", der Volkswirt stellt fest, daß das Profitstreben, dieser berühmte Motor der bürgerlichen Produktionsweise, die in den Himmel Ebd., S. 64. Die Umschau, Internationale Revue, Jahrg. 3, 1948, Heft 2, J. Schumpeter, Bröckelnde Mauern, S. 138. 2)

35 Behrens

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gehobene Unternehmerinitiative, die „volkswirtschaftliche Produktivität" nicht mehr garantiert! Der Monopolkapitalismus ist, so nennt es die wirkliche Wissenschaft, ein stagnierender Kapitalismus, er ist aber auch parasitärer Kapitalismus. Und auch das ist die bürgerliche Ökonomie gezwungen zuzugeben! „Die Tendenz zur strafferen Zentralisierung wird desto stärker, je größer die optimale Betriebsgröße im Laufe der technischen Entwicklung wird", schreibt von Stackelberg, „und je mehr sie sich von einer vielleicht tatsächlich bestehenden, unter dem Schutze des Kartells rückständig gewordenen Betriebsgröße entfernt. Das Wirtschaftsbündnis wird zur W i r t schaftseinheit. Die letzte Konsequenz eines Wachstums des Betriebsoptimums ist gegeben, wenn die günstigste Ausbringung des optimalen Betriebes die Gesamtausbringung des betreffenden Produktionszweiges erreicht oder überschreitet." 1 ) Die Produktivkräfte werden jetzt nicht nur in ihrem weiteren Wachstum gehemmt, die bereits entwickelten Produktivkräfte werden nicht mehr voll ausgenutzt. Die monopolkapitalistische Wirtschaft ist dauernd unterbeschäftigt. Ihr Ertrag ist daher niedriger, als er sein könnte, würden die Hemmungen des monopolistischen Eigentums fallen. Die Gesellschaft, die vom Monopolkapitalismus ausgebeutet wird, ist also nicht nur dadurch ärmer, daß der vorhandene Reichtum in weniger Händen konzentriert ist — der vorhandene Reichtum ist zudem noch kleiner, als er es ohne Monopole sein würde! Aber der Monopolismus läßt sich nicht abschaffen, es sei denn, man schafft den Kapitalismus ab. Bei dem heutigen Stand der gesellschaftlichen P r o duktivkräfte kann man nicht den Kapitalismus wollen, aber den Monopolismus ablehnen! Auch das ist die bürgerliche Ökonomie gezwungen zuzugeben. „Mit jedem Maß von Sicherheit", schreibt Karl Landauer, „mit dem sich überhaupt Aussagen über die wirtschaftliche Zukunft machen lassen, läßt sich behaupten: solange die kapitalistische Verkehrswirtschaft dauert, wird auch der Monopolismus dauern. Er wird sich in dem Maße verschärfen, wie die Technik monopolistischer Verständigung sich fortbildet und w i e durch zunehmende Konzentration der Erzeugungsstätten Gelegenheit sich bietet, auch bei monopolistischer Beschränkung des Gesamtabsatzes dem einzelnen Werk die optimale Produktionsmenge zu sichern und damit die Vorteile des Gesetzes der sinkenden Kosten auszuschöpfen." 2 ) Damit hängt der parasitäre Charakter des Monopolkapitalismus auf der einen Seite, sein stagnierender Charakter auf der anderen Seite zusammen. So schließt auch Landauer daher, durchaus in Übereinstimmung mit der marxistischen politischen Ökonomie „ . . . der Ertrag der kapitalistischen W i r t schaft wird abnehmen", öder „er wird mindestens nicht zunehmen, w i e die Gestaltung der Technik es gestatten würde. Das Argument, daß im Namen ') H. von Stackelberg, a. a. O., S. 92. Ebd., S. 32.

2)

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der Produktivität der Kapitalismus beseitigt werden müsse, wird verstärkte Geltung gewinnen".1) Die Ausbreitung des Monopolismus vermindere „progressiv das Wirtschaftsergebnis. Die Schäden der Kartellisierung verschlimmern sich mit ihrer zunehmend verfeinernden Technik, die es gestattet, weitere Produktionszweige zu monopolisieren".2) Schmalenbach erinnert in seiner Selbstkostenrechnung und Preispolitik noch einmal daran, daß das „sächsische Finanzministerium 1928 im Einverständnis mit sämtlichen Werken einen Sachverständigen und einen Gutachter betraut habe", der die Möglichkeiten einer Rationalisierung der Sächsischen Steinkohlenbergwerke untersuchen sollte. „Das 1930 vorgelegte Gutachten ist", wie Schmalenbach schreibt, „nach eingehender Begründung zu dem Ergebnis" gekommen, „daß dem sächsischen Bergbau nur durch völligen Zusammenschluß aller Werke in ein einziges Gesamtwerk mit Zentralkokerei und Gasfernversorgung geholfen werden könnte."3) Schmalenbach fügt hinzu, er vermute, „würde man derartige Untersuchungen für andere Zweige, namentlich auch solche der Fertigungsindustrie, vornehmen . . . sich . . . ähnliche Ergebnisse zeigen würden". Beispielsweise sei es bekannt, „daß die Firma Opel den gesamten deutschen Fahrradbedarf nicht nur mühelos decken könnte, sondern daß diese Art der Bedarfsdeckung auch die billigste wäre".4) Der Drang nach größeren Betriebseinheiten sei in mancher Industrie so groß, daß die optimale Betriebsgröße selbst dann nicht erreicht sein würde, wenn alle Betriebe der Branche zu einem einzigen Betrieb zusammengeschweißt würden. Dieser Drang kommt dann nur von der Kostenseite her. „Monopolistische Gesichtspunkte brauchen nicht", aber können „nebenher auch eine Rolle spielen". In vielen Fällen würde sich sogar ergeben, meint Schmalenbach, „daß ein solches Einheitswerk nicht einmal voll ausgenutzt wäre und immer noch unter dauernden Betriebsdegressionen litte". Im ganzen- wird hier in nüchternen Worten nicht mehr und nicht weniger festgestellt, als daß die kapitalistische Produktionsweise in ihrem letzten und höchsten Stadium Bankrott macht! Und wenn die bürgerlichen Ökonomen aus ihren eigenen Untersuchungen diese Konsequenz nicht ziehen, so beweist das nur, daß mit dem Wirtschaftssystem auch die bürgerliche Wissenschaft von der Wirtschaft bankrott ist. Was Schmalenbach aus dieser Tendenz zur Konzentration und Zentralisation, die er nicht durch theoretische Analysen, sondern durch empirische Untersuchung des modernen Kapitalismus gefunden, richtig gesagt, wieder entdeckt hat — und dies ist seine bleibende Leistung —, zieht dem ganzen ') A. a. O., S. 32 (von mir gesperrt, F. B.). A. a. O., S. 36. 3) Schmalenbach, a. a. O., S. 72. 4) Ebd., S. 72. 2)

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antimarxistischen Chorus den Boden unter den Füßen weg. Schmalenbach schreibt: „Diese Fälle eines nicht aus monopolistischen, sondern aus Gründen der Größendegression entstehenden Monopolwerkes, eines im Verkehr, der Elektrizitätslieferung, der Gasfernversorgung und sonstigen Leistungsbetrieben schon nahezu erreichten Zustandes, müssen sich notwendigerweise vermehren, weil die Kräfte, die diesen Zustand verursacht haben, noch bei weitem nicht erschöpft sind. Richtig ist, daß hier Rückschritte und Abwege vorgekommen sind, auch in Zukunft vielleicht auch vorkommen werden. Aber im ganzen geht die Entwicklung seit 150 Jahren auf größere Betriebseinheiten; im Einzelhandel, bei den Banken, im Hotelwesen, in der Industrie und hier ganz besonders in großen Teilen der Fertigungsindustrie." 1 ) Schmalenbach erteilt nun der Vulgärökonomie eine Abfuhr, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen läßt. „Dieser Tatsache", schreibt er, „scheinen die Tendenzen, die im Jahre 1932 aufgetreten sind, zu widersprechen. Nachdem man mit viel Mühe in der Eisenindustrie, in der chemischen Industrie und im Bankwesen die Zentralisation bis aufs äußerste getrieben hatte, kam um diese Zeit die allgemeine Meinung auf, daß man damit zu weit vorgeschritten sei und daß es nun an der Zeit sei, die Dinge wieder der Auflösung entgegenzuführen. Dieser Zickzackkurs der öffentlichen Meinung ist eine Folge der inneren Unsicherheit... An wirklicher Erkenntnis steckt nicht viel dahinter." 2 ) Diesem Urteil schließen wir uns an! Und wir fügen nur hinzu: Schade, daß die wirkliche Erkenntnis sich nicht von der Beschreibung der Erscheinungen auch auf das Begreifen der Ursachen und Zusammenhänge erstreckt! Wie unrealistisch klingt demgegenüber die Formulierung Müller-Armaks, der behauptet, daß „die tatsächliche Entwicklung... die Erwartungen eines allgemeinen Vordringens des Großbetriebes widerlegte.3) „Wenn gleichwohl in der Gesamtentwicklung des Jahrhunderts der Großbetrieb zu sehr vordrang und der Klein- und Mittelbetrieb doch insgesamt in eine Abwehr gedrängt wurde, darf auch hierin nicht schlechthin ein Ergebnis der Machtwirtschaft als solches gesehen werden", meint Müller-Armak. 4 ) Schuld sei die falsche Wirtschaftspolitik! „Eine anders gerichtete Wirtschaftspolitik würde zu wesentlich anderen Ergebnissen geführt haben." 5 ) Damit bestehe auch kein Anlaß, „die sich in der Unternehmerwirtschaft herausstellende Betriebsstruktur als endgültig hinzunehmen". 6 ) Aus Schmalenbach spricht der „betriebsnahe" bürgerliche Ökonom! MüllerArmak ist der reine Ideologe — und wenn die Tatsachen anders sind, als sie sein sollten, dann um so schlimmer für diese Tatsachen! ') Ebd., S. 72. Ebd., S. 72/73. 3 ) Müller-Armack, a. a. O., S. 123. 4) Ebd., 122. 5 ) Müller-Armack, a. a. O., S. 123. 6 ) Ebd., S. 123. 2)

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Wie aber die Tatsachen sind, d a f ü r ein Beleg nur, von bürgerlicher Seite produziert, aus dem Vorbild der Ritter der „freien", allerdings nicht ganz von „äußeren Eingriffen freien Marktwirtschaft der USA". Durch eine vom Bundesgericht der USA veranstaltete „Enquete" über das Kartellwesen w u r d e festgestellt, „daß in den letzten 50 J a h r e n der Monopolismus außerordentlich zugenommen h a t . . . Industrien, die normalerweise unter dem Gesetz des freien Wettbewerbs standen, w u r d e n m e h r und m e h r in weniger Betrieben konzentriert". 1 ) So lautet die Mitteilung einer „Enquete", die von der „Wirtschaftszeitung" wiedergegeben wird. Aber die „Wirtschaftszeitung" f ü g t noch hinzu: „Der New Deal hat übrigens selbst stark zu dieser Tendenz beigetragen, und die Kriegskonjunktur h a t den Trend noch verstärkt. Es wird berechnet, daß ein Zehntel Prozent aller Aktiengesellschaften in den USA etwa die Hälfte des Reingewinns aller Gesellschaften verdient u n d etwa die Hälfte aller Aktien solcher Konzerne besitzt." 2 ) J a — wird Müller-Armak antworten: die Wirtschaftspolitik! Wir können n u r entgegnen: arme Wissenschaft! Wie weit ist es da noch von „wissenschaftlicher" Apologetik zur bewußten Klopf fechterei? Heinrich von Stackelberg geht in seinen Folgerungen dabei noch weiter als Schmalenbach. Er sieht als letzte Konsequenz dieser von der bürgerlichen Ökonomie wahrgenommenen Entwicklung die Vision nicht n u r des Hilferdingschen Generalkartells, sondern sogar die einer vertikalen u n d horizontalen Riesenunternehmung. „Hier ergibt sich auf die Dauer eine Riesenunternehmung", meint von Stackelberg, „die n u r aus einem einzigen Riesenbetrieb besteht. Diese wird zunächst a n n ä h e r n d ihr Optimum realisieren. Wächst dieses weiter, so gelangt die U n t e r n e h m u n g schließlich in z u n e h m e n d e m Maße in Kostendegression oder gar in den Bereich des zunehmenden Ertrages." 3 ) Und n u n ergibt sich zwangsläufig der Ubergang vom Monopolkapitalismus zum staatsmonopolistischen Kapitalismus! Das Wertgesetz, das Grundgesetz der Warenproduktion, wird durch diese ökonomische Entwicklung „aufgehoben". Der Staat, der bürgerliche Staat, wird jetzt völlig in den Dienst der Monopole gestellt u n d dient der E r j a g u n g von Monopolprofit. Der A u s tausch von Äquivalenten regelt n u n nicht m e h r die Produktion. Die Anarchie der kapitalistischen Produktion erreicht damit ihre letzte und höchstmögliche Spitze! „Führt der technische Fortschritt in allen Produktionszweigen zu einem dauernden Wachstum der optimalen Betriebsgröße", so w e r d e das Ergebnis Kartellkampf in den USA, H. Paechter, Wirtschaftszeitung Nr. 31, 30. Juli 1948, S. 4. 2 ) Ebd., S. 4. 3 ) Stackelberg, a. a. O., S. 92. 549

unvermeidlich „eine Zusammenballung des ganzen volkswirtschaftlichen P r o duktionsapparates zu einem Gebilde sein, das nur einem Interesse gehorcht und somit als eine Unternehmung bezeichnet werden k a n n . . . " , folgert von Stackelberg und fügt abschließend hinzu: „Diese volkswirtschaftliche Gesamtunternehmung würde eine Zusammenfassung aller Glieder der betreffenden Volkswirtschaft bedeuten, da unter dem Druck der allgemeinen Monopolisierungstendenz auch übrigbleibende konkurrenzfähige Produktionszweige zur Monopolisierung schreiten würden. — Diese formal konzipierte Gesamtunternehmung würde in der Realität nichts anderes als eine Funktion des Staates darstellen, der im gleichen Maße in den volkswirtschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozeß eingreifen wird, in welchem sich die Konzentration vollzieht." 1 ) „Plankapitalismus" oder „staatsmonopolistischer Kapitalismus" — das Wesen ist die Ersetzung des zerstörten Lenkungsmechanismus der kapitalistischen Produktionsweise durch den von den Monopolisten beherrschten bürgerlichen Staat, aber nicht seine Aufhebung zwecks planvoller Gestaltung der Produktion und der Konsumtion, sondern zwecks höchstmöglicher Erlangung von Profiten, von Monopolprofiten, und zwecks ihrer Stabilisierung. Es ist nicht uninteressant, daß auch E. Heimann die Folgen der Gleichgewichtstheorie erkennt. H. von Stackelberg kleide „die Theorie in eine unverhohlen faschistische Form", schreibt er. 2 ) „Wenn die wirtschaftliche Welt sich in einem wilden Kampf der Monopole ohne eine selbständig ordnende Gewalt auflöst, dann muß die Macht des Staates angerufen werden." Das Programm sei jetzt nicht mehr „Ordnung durch Freiheit", sondern „Ordnung durch Gewalt", 3 ) d. h. staatsmonopolistischer Kapitalismus und Faschismus ! „Ja", ruft Schmalenbach resigniert aus, „so gestalten sich die Dinge in der freien Wirtschaft, da die Selbstheilmittel infolge der fixen Kosten abhanden gekommen sind. Man wirkt der Überkapazität entgegen." 4 ) Man habe früher einmal geglaubt, „die freie Wirtschaft besitze gegenüber allen Gebrechen, die einen Organismus befallen können, die Fähigkeit der Selbstheilung", meint Schmalenbach in seinem neuesten Werk und fügt hinzu, „daß diese gute Meinung in mehr als einer Hinsicht übertrieben war. Gewiß hat die freie Wirtschaft die Fähigkeit gegenüber Krankheiten Antitoxine zu entwickeln, besessen. Aber als in vielen modernen Industriezweigen die fixen Kosten überhandnahmen und diese Industriezweige zu erheblichem Teil der besonders stark konjunkturempfindlichen Investitionsindustrie angehörten, war es mit der Fähigkeit der Selbstheilung vorbei". 5 ) Stackelberg, a. a. O., S. 93 (von mir gesperrt, F. B.). A. a. O., S. 246. 3) Ebd. 4) Schmalenbach, a. a. O., S. 65. 5 ) Schmalenbach, Pretiale Wirtschaftslenkung, a. a. O., S. 49/50. 2)

550

Die immanenten Kräfte des Kapitalismus führten zu seiner „immanenten" Zerstörung — das ist das Urteil des bürgerlichen Ökonomen SchmalenbachP) Das „Monopol", das zwar „aus dem Kapitalismus erwachsen ist", befindet sich aber, wie Lenin bemerkt, „im allgemeinen Milieu des Kapitalismus, der Warenproduktion, der Konkurrenz, in einem beständigen und unlösbaren Widerspruch zu diesem allgemeinen Milieu..."-) Aber — „wie jedes andere Monopol auch" — das kapitalistische Monopol erzeugt — unvermeidlich die Tendenz zur Stagnation und Zersetzung: im selben Maße, wie, sei es auch n u r vorübergehend, Monopolpreise eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade der Antrieb zum technischen und folglich auch jedem anderen Fortschritt, zur Vorwärtsbewegung; im selben Maße entdeckt es ferner die wirtschaftliche Möglichkeit, den technischen Fortschritt künstlich aufzuhalten. 3 ) Gewiß könne das kapitalistische Monopol zwar auf dem Weltmarkt die „freie K o n k u r r e n z . . . niemals restlos und auf sehr lange Zeit ausschalten". 4 ) Lenin weist ausdrücklich auf die andere Tendenz hin, die sich „zugunsten von Neuerungen" auswirkt, nämlich „durch technische Verbesserungen die Produktionskosten herabzumindern und die Profite zu e r h ö h e n . . . " , aber „die Tendenz zur Stagnation und Zersetzung, die dem Monopol eigen ist, tut das ihre und gewinnt in einzelnen Industriezweigen, in einzelnen Ländern f ü r gewisse Zeiträume die Oberhand". 5 )

4. Der Bankrott

des

Liberalismus

In einem Aufsatz über „Preispolitik und Währung" im neoliberalen „Wirtschaf tsspiegel" heißt es, daß die nationalsozialistische Preispolitik „jahrelang ohne nennenswerten Mißerfolg durchgeführt werden" konnte, weil nicht nur die historische Grundlage f ü r diese Politik vorhanden war, sondern sie sich darauf beschränken konnte, „die schrittweise Anpassung an veränderte Produktions- und Kostenverhältnisse zu vollziehen". 6 ) Es sei niemals darauf angekommen, das richtige Preissystem „in toto" zu finden. „Das etwas hochtrabende Versprechen, das in dem Worte .Preisbildung' enthalten war, wurde niemals eingelöst." 7 ) Hierin liegt das ganze Programm der liberalen Preispolitik oder der Preispolitik im vormonopolistischen Kapitalismus, Preise kann man nicht „bilden", sie werden auch nicht „gebildet", sie bilden sich! Es gäbe nur eine „Rechen2

) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 7 )

Ebd., S. 50. Lenin, Der Imperialismus, a. a. O., S. 112. Ebd., S. 112. Ebd., S. 112. Lenin, Der Imperialismus, a. a. O., S. 112/113. Der Wirtschaftsspiegel, Mainz, 15. Dezember 1947, 1948. Ebd. S. 478.

551

maschine", die fähig sei, dieses aus Billionen oder Trillionen bestehende Exempel zu bewältigen, und das sei der Markt. 1 ) Es ist daher zweifellos nicht falsch, wenn auch unvollständig, wenn man die kapitalistische Warenproduktion — und die Warenproduktion überhaupt — auch als „Marktwirtschaft" bezeichnet. Die theoretischen Vorstellungen der bürgerlichen Ökonomen müssen zwangsläufig in der „Idee" des Gleichgewichts, des „Marktgleichgewichts", gipfeln, obwohl dieses Gleichgewicht wirklich nicht mehr als eine „Idee" ist. Es ist deshalb auch einigermaßen paradox, wenn der Neo-Liberalismus behauptet, daß — selbst zugegeben, „daß der Staat das Produktionsprogramm in Zukunft durch Preisfestsetzungen steuern" solle,2) -— man gleichwohl nicht bestreiten könne, „daß diese Form der Wirtschaftslenkung — zunächst einmal die Herstellung eines vollständigen Marktgleichgewichts voraussetzt". Aber wer soll denn dieses „Marktgleichgewicht" herstellen? Der „Marktmechanismus" etwa? Es wurde gezeigt, daß er hierzu nicht in der Lage ist! Selbst das „Gleichgewicht" in einem, Produktionszweig trägt die Keime seiner Zerstörung schon in sich, wenn es wirklich einmal zustande gekommen sein sollte. Die bürgerliche Ökonomie übersieht, daß entsprechender Ausgleich der Profitraten der Produktionszweige zu einer allgemeinen Profitrate durch den Abfluß und den Zufluß der Kapitalien oder bei gegebener allgemeiner Profitrate Ausdehnung und Einschränkung der Produktion innerhalb der Produktionszweige immer wieder das „Gleichgewicht" zwischen Angebot und Nachfrage in den Produktionszweigen stören muß, daß das Gleichgewicht des Kapitalismus daher ein „dynamisch, sich nur im Durchschnitt", in „the long run" durchsetzendes Gleichgewicht sein kann. Zu verlangen, daß eine Preispolitik, gleich welcher Art, daher vom „Marktgleichgewicht" ausgehen müsse, ist gleichbedeutend mit dem Verlangen, daß eine solche Politik mit ihrem Resultat beginnen soll! Denn auch der bürgerliche Staat im sogenannten „Konkurrenzkapitalismus" treibt ja Preispolitik im Grunde nur deshalb, weil der Marktmechanismus zu dem erstrebten Gleichgewicht nicht von selbst kommt! So gibt selbst ein Verfechter der „Marktwirtschaft" wie Müller-Armak, der in der „völligen Ausschaltung der Marktwirtschaft — die tiefste Ursache unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten" sieht,3) zu, daß „der marktwirtschaftliche Preisapparat", dieses „zweifellos — unentbehrliche Signalinstrument, durch das Konsum und Produktion ohne großen Verwaltungsaufwand höchst rationell aufeinander abgestimmt" werden, 4 ) daß dieser Mechanismus „gewisse konstruktive Mängel" aufweist. Die liberalistische oder die neo') 2) 3) 4)

552

Ebd., S. 478. Ebd. Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, a. a. O., S. 98. Ebd., S. 98.

liberalistische Ansicht also „schließt die Anerkennung gewisser Korrekturnotwendigkeiten nicht aus". 1 ) Ja, Müller-Armak will „die Punkte notwendiger Preisinterventionen mit erheblicher Bestimmtheit angeben". 2 ) Uns interessieren diese Punkte hier nicht. Wir stellen nur fest, daß die liberalistische Position staatliche Interventionen für notwendig hält. Jede Preispolitik auf der Grundlage des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln — wenn wir zunächst noch absehen von der Politik, die geradezu in einer Zerstörung des Marktgleichgewichts zwecks Beraubung, d. h. Erzielung von Monopolprofiten, beruht wie die nationalsozialistische Preispolitik — bezweckt die Herstellung des Marktgleichgewichts, weil der Mechanismus es infolge seiner Konstruktionsfehler nicht herstellt. Sie kann daher auch nicht von einem solchen Gleichgewicht ausgehen! Das ist im Grunde auch Allgemeingut der bürgerlichen Ökonomen, die auf dem Boden der modernen „Gleichgewichtstheorie" der Preise stehen! Ihre Preispolitik läuft immer darauf hinaus, die immanente Gesetzlichkeit der „Marktwirtschaft" von Hemmungen zu befreien. Die freie „Marktwirtschaft" bedarf nach ihrer Auffassung nur einer unterstützenden Preispolitik. So schreibt Walter Eucken am Vorabend der Währungsreform in Westdeutschland, daß es „nur einen Weg" gäbe: „Preise, und zwar Wettbewerbspreise — sind heute das einzige Mittel, um die zahllosen Pläne und Entscheidungen der Millionen von Haushalten und Betrieben aufeinander abzustimmen und sinnvoll zu einem Gesamtprozeß zu verbinden. Der Preismechanismus ist das einzige Instrument, das uns zur Lösung der zentralen Aufgabe unserer Wirtschaftspolitik zur Verfügung steht." 3 ) Dieser Preismechanismus, der allein die produktiven Kräfte lenken könne, er ist nach Euckens Auffassung durch die „Planwirtschaft" ersetzt worden, „also die zentrale Lenkung des alltäglichen Wirtschaftsprozesses, wie sie sich seit 1936 in Deutschland entwickelte und auch den faktischen Zusammenbruch ü b e r d a u e r t e . . ."4) Eucken meint mit „Planwirtschaft" die monopolistische Befehlswirtschaft, die Wirtschaftspolitik des staatsmonopolistischen Kapitalismus, die abgewirtschaftet habe: „Sie wurde nicht durch staatlichen Befehl abgeschafft, sondern dupch die wirtschaftliche Entwicklung selbst aufgelöst", schreibt er. Wir wollen nicht auf die „Verwechselung" von „Planwirtschaft" und „monopolkapitalistische Befehlswirtschaft" eingehen, sondern uns interessieren an dieser Stelle die Folgerungen, die Eucken zieht. „Um das Preissystem wirksam zu gestalten, ist eine positive Politik nötig. Nicht eine Politik des laissez-faire kommt in Frage, nicht ein unbeschränktes Wirkenlassen von ») ) ) ") 2 3

Ebd., S. 100. Müller-Armack, Lenkung der Wirtschaft, Wirtschaftszeitung, a. a. O., S. 98. Walter Eucken, Lenkung der Wirtschaft, Wirtschaftszeitung v. 11. Juni 1948. Ebd. 553

ökonomischen Kräften, wie sie jetzt neben der zentralen Bewirtschaftung durchbrechen. Vielmehr ist die Herstellung einer Wirtschaftsordnung nötig, deren Formen geplant sind — wenn man diesen schillernden Ausdruck gebrauchen will —, die aber dem einzelnen im Rahmen dieser Ordnung Freiheit gewährt und in der Preise, die sich frei auf Konkurrenzmärkten bilden, den alltäglichen Wirtschaftsprozeß lenken. Hiermit ist das Kernproblem der heutigen Wirtschaftspolitik berührt. Die Wirtschaftspolitik hat sich zu fragen, was zu tun ist, damit Preise die Lenkungsfunktionell übernehmen können, damit der Produktionsprozeß anspringt und damit so die Voraussetzungen geschaffen werden, um die große soziale Not zu überwinden. Eine Reihe tiefgreifender wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die sich gegenseitig ergänzen und die alle zusammengehören." 1 ) Das ist im Grunde das alte Programm des Liberalismus — ergänzt allerdings durch einige neue Illusionen derart, daß der Wiederaufbau der deutschen Industrie in „kleinen und mittleren Werken" sich vollziehen müsse! Schmalenbach schreibt über die „Marktwirtschaft", die für Müller-Armark „eine reine Instrumentalfrage" ist,2) in seiner bereits zitierten „Pretialen Wirtschaftslenkung" zwar, daß „unter den Methoden, die den Fortschrittsanteil der Menschen besonders nachhaltig gesteigert haben, die Palme der Einführung der freien Wirtschaft" gebühre, „hauptsächlich einsetzend mit der Einführung der Gewerbefreiheit". Aber, schreibt er weiter, „mag man sich über die Frage, ob die Tage der Wirtschaftsverfassung, die man als freie Wirtschaft bezeichnet, gezählt sind, nicht einig sein. Über das eine aber besteht, wenn man sich nicht vollkommen blind gemacht hat, nur, eine Meinung. Die freie Wirtschaft ist als einer der großen Anreger der menschlichen Fortschritte nicht wegzudenken." 3 ) Nun — wir haben gesehen, daß die Tage der „freien" Wirtschaftsverfassung nicht mehr gezählt zu werden brauchen, sie sind schon vorbei! Die immanenten K r ä f t e des Kapitalismus haben den Mechanismus des Marktes außer K r a f t gesetzt, so daß selbst noch innerhalb des Kapitalismus alles nach einer bewußten Lenkung der Produktivkräfte drängt. Sowohl Walter Eucken als Müller-Armak müssen — indirekt zugeben! Gegen diese bewußte Lenkung wehrt sich die liberale und bei uns in Deutschland die neo-liberale Politik. Ihr Ideal ist der durch sich selbst zerstörte Kapitalismus der unbehinderten Konkurrenz. Wir erlebten in Westdeutschland eine Renaissance dieser „liberalen" Preispolitik, und wir erlebten, daß am Ende dieser Politik die Wiedergeburt des Monopolkapitalismus stand. Man argumentierte etwa folgendermaßen: Der Preisstop mag als Mittel der Preispolitik vorübergehend brauchbar gewesen sein, aber die damit ver') Ebd. (von mir gesperrt, F. B.). Müller-Armak, a. a. O., S. 66. 3) Schmalenbach, a. a. O., S. 9. 2)

554

bundene Erstarrung des Preisgefüges führe schließlich zu immer stärkeren Spannungen. Gewiß könne man die Bremswirkung der Stop-Preise nicht bestreiten. Nach einiger Zeit werde jedoch der Zwang, die Preise an Veränderungen der Kostenfaktoren anzupassen, immer größer; geschehe dies nicht, dann sind die Betriebe gezwungen, sich irgendwie selbst zu helfen, um dem Zusammenbruch infolge Unrentabilität zu entgehen. Deshalb habe die auf dem Stop-Preis von 1944 aufgebaute Preispolitik, die von den Alliierten in Deutschland festgelegt worden war, die Entwicklung des Schwarzen Marktes gefördert. Auf diesem Wege beschafften sich die Betriebe die zusätzlichen Einnahmen, mit denen sie das Defizit deckten, das durch den Verkauf zum Stop-Preis entstanden war. Wenn also die Preispolitik Erfolge haben solle, müsse auf Stop-Preise verzichtet werden. Natürlich, das müssen auch die Liberalisten zugeben, ist es nicht möglich, allein mit den Mitteln der Preispolitik den Schwarzen Markt zu beseitigen. Die durch Aufrüstung und Krieg verzerrten Proportionen unserer Wirtschaft können nicht durch den Marktautomatismus ein neues Gleichgewicht finden. Aber Preis und Rentabilität müßten ihre wirtschaftliche Funktion wiedererhalten. Der von der Militärregierung beschlossene Verzicht auf die weitere Anwendung der StopPreise in der Bizone hätte dafür eine wichtige Voraussetzung geschaffen. So etwa waren die Argumente der liberalen Preispolitiker. In einer Direktive für die Preis- und Lohnpolitik der BiZone ging das Zweizonendirektorium daher davon aus, daß in der Industrie die Preise im allgemeinen den Produktionskosten entsprechen sollten. Nun war der „Kostenpreis" aber eine typische Erscheinung der Kriegswirtschaft, und seine Mängel hatten in Deutschland während des Krieges bereits zum System der Einheits-Gruppenpreise geführt. Durch die Annäherung an den „Marktpreis" sollten das Streben nach größerer Wirtschaftlichkeit gefördert und übermäßige „Differenzgewinne" bekämpft werden. Ziel der Entwicklung in Westdeutschland ist also zweifellos die Rückkehr zu Preisen, die aus Angebot und Nachfrage entstehen. Nun gibt es am Schwarzen Markt bereits eine freie Preisbildung. Die Schwarzmarktpreise können aber für die künftige Preisbildung nicht Ausgangspunkt sein, weil ihre Höhe jeden Export unmöglich machen würde. Die Überwindung des Schwarzen Marktes und damit des doppelten Preisniveaus läßt sich nur durch ausreichende Rohstoffversorgung und entsprechende Produktionssteigerung erreichen, die zugleich eine Umgehung der Preisvorschriften durch Kompensationsgeschäfte reizlos machen. Einfache Ablösung der Stop-Preise durch freie Preise würde es aber den Kreisen, die Waren besitzen, ermöglichen, das Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage durch sehr hohe Preise auszunutzen. Diese Preise würden sehr weit von den Kosten entfernen und einem kleinen Teil der Bevölkerung eine überdurchschnittliche Lebenshaltung ermöglichen, während der größte Teil kaum das zum Leben Notwendige kaufen könnte. Der Verzicht auf die Stop-Preise kann also nicht mit dem Verzicht auf staatliche Preispolitik gleichgesetzt werden. Der Staat muß also wieder 555

regulierend eingreifen, und zwar schon nach kurzer Zeit, da — sobald die kapitalistische Wirtschaft zu einem Produktionsaufschwung führt — das mühsam erreichte Gleichgewicht wieder zerstört wird. Die klassischen Mittel kapitalistischer Preispolitik sind die Festsetzung von Höchst- oder Mindestpreisen bzw. Festpreise oder Richtpreise. Und es zeigt sich, daß auf diese Mittel bei der Rückkehr zur „Marktwirtschaft" im Westen Deutschlands keineswegs verzichtet werden konnte. Diese Mittel aber sind zugleich Instrumente der Monopolpreispolitik! „Die Erkenntnis", schreibt von Stackelberg, „daß staatliche Mindest- und Höchstpreise nicht anders als gewöhnliche Monopolpreise gesichert werden müssen und können, ist wichtig. Sie zeigt nämlich, daß die staatliche Preispolitik in gleicher Weise möglich ist wie etwa die Preispolitik eines Syndikats. Gelegentlich schafft der Staat deshalb Zwangssyndikate, die er zur Durchführung seiner Preispolitik benutzt. Früher vertrat man häufig die Ansicht, die staatliche Preispolitik sei im Gegensatz zur Kartellpolitik auf die Dauer zum Mißerfolg verurteilt. Diese Ansicht entbehrt der theoretischen Grundlage." 1 ) Die Festsetzung eines „Festpreises" als Gleichgewichtspreis ist dem Wesen des Kapitalismus als eines Systems des sogenannten dynamischen Gleichgewichts nicht möglich. Die Aufgabe eines solchen Festpreises wäre die Ausschaltung von zeitlichen Preisschwankungen. Eine solche Preispolitik müßte daher durch staatliche Vorratshaltungen und durch Angebots- und Nachfrageregulierungen ergänzt werden. „Bei reichlichem Angebot kauft der Staat das angebotene Gut in größerem Umfange ein und nimmt es auf Lager: dadurch verhindert er einen Preisausfall. Ändert sich die Wirtschaftslage und sinkt das Angebot, dann tritt der Staat als Anbieter auf und verhindert eine Preissteigerung." 2 ) Es zeigt sich also, daß die staatliche Preispolitik im Kapitalismus der nicht durch Monopol behinderten Konkurrenz über sich hinaustreibt. Der Staat muß zur Unterstützung seiner Politik der Höchst- oder Mindestpreise in immer stärkerem Maße die Vertragsfreiheit aufheben, zur Kontingentierung, Rohstoffzuteilung, zur Lenkung der Investitionen, zum Verwendungszwang und schließlich zu vollständiger Bewirtschaftung übergehen. Der Staat wird zum Syndikat der Monopolkapitalisten!

5. Was bleibt,

ist der Sozialismus



Die Konzentration der Produktionsmittel, die Zentralisation des Kapitals und die Entwicklung des Finanzkapitals sowie die Verwissenschaftlichung ') H. v. Stackelberg, Grundzüge der theoretischen Volkswirtschaftslehre, a. a. O., S. 126 (von mir gesperrt, F. B.). 2) H. v. Stackelberg, Ebd., S. 126. 556

der Produktion und der Zirkulation des Arbeitsproduktes durch den einzelnen Betrieb und durch den Staat entwickelten zahlreiche Elemente, die als Bausteine in eine neue Produktionsweise eingehen können. Der Kapitalismus verwandelte durch sein Geschöpf, die moderne Technik, die Arbeitsmittel in „nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel", 1 ) er ökonomisierte „alle Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit". 2 ) Der Imperialismus ist seinem ökonomischen Wesen nach, wie Lenin gezeigt hat, „monopolistischer Kapitalismus". Das Monopol aber, „das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz heraus entsteht, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren sozialistischen Ordnung." 3 ) In seinem höchsten Stadium hat der Kapitalismus alle Voraussetzungen des Sozialismus voll entwickelt. Der Sozialismus ist nun keine Utopie mehr, er ist möglich, und es bedarf, damit er wirklich wird, jetzt nur noch der befreienden Tat der gesellschaftlichen Klasse, die geschichtlicher Träger der neuen Gesellschaftsordnung ist, der Arbeiterklasse. „Wir sind nie Utopisten gewesen", heißt es bei Lenin im J a h r e 1919, „und haben uns nie vorgestellt, daß wir die kommunistische Gesellschaft mit den fein säuberlichen Händen fein säuberlicher Kommunisten aufbauen werden, die in einer rein kommunistischen Gesellschaft erzogen werden müssen. Das sind Ammenmärchen. Den Kommunismus müssen wir aus den Trümmern des Kapitalismus a u f b a u e n . . ," 4 ) Aber nicht nur der subjektive Faktor der neuen Produktionsweise, der Mensch, wurde vom Kapitalismus geschaffen, ist hervorgewachsen „aus den materiellen Bedingungen des kapitalistischen Großbetriebes", 5 ) auch „alle materiellen Voraussetzungen des Sozialismus" sind „vom Großkapitalismus geschaffen worden". 6 ) Die subjektiven und objektiven Faktoren also, die zum Aufbau der neuen Produktionsweise erforderlich sind, hat der Kapitalismus geschaffen, aber er bringt die neue Produktionsweise trotz allem nicht automatisch hervor! Also: Freisetzung der Elemente der neuen Produktionsweise, die sich im Schöße der alten gebildet haben, und ihre Organisierung, das sind die beiden Aufgaben. „Die Dialektik der Geschichte ist gerade die", schrieb Lenin, „daß der Krieg, der die Umwandlung des monopolkapitalistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus ungeheuer beschleunigt hat, dadurch ») Marx, Kapital, Bd. I, S. 803. Ebd., S. 803. 3) Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, WienBerlin 1930, S. 139. 4) Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. 9, S. 184. 5) A. a. O., Bd. 9, S. 468. °) Ebd. 2)

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die Menschheit dem Sozialismus außerordentlich nahe gebracht hat." Aber nur nahe gebracht, damit aber auch den Widerstand der herrschenden Klasse vervielfacht hat! In der Tat gibt es, wie Lenin schrieb, keinen Mittelweg für uns. „Der objektive Gang der Entwicklung ist derart, daß man von den Monopolen aus nicht vorwärtsschreiten kann, ohne zum Sozialismus zu schreiten." 1 ) Es mag bedauerlich sein, daß die Völker — bevor sie die sozialistische Planwirtschaft kennenlernen —• die von den Monopolkapitalisten und reaktionären Beamten inszenierte Befehlswirtschaft als Kriegszwangswirtschaft kennenlernten, die mit einer echten sozialistischen Planwirtschaft im Dienste der Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse nichts zu tun hat. Diese Befehlswirtschaft, die Kriegszwangswirtschaft, ist gerade von denen geschaffen worden, die zu den geschworenen Gegnern des Sozialismus und der sozialistischen Planwirtschaft gehören. Und man kann daher von ihnen schlecht verlangen, daß sie die sozialistischen Züge herausheben! So entwickelte sich die bürgerliche Ökonomie — Volks- und Betriebswirtschaftslehre — zu einem die Oberflächenzusammenhänge des monopolistischen Kapitalismus registrierenden Funktionalismus, der das wesentlichste Ereignis der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus ignoriert: den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Entstehung und Entwicklung einer neuen, der sozialistischen Produktionsweise. Aber diese Ignorierung drückt nur das Unbehagen der bürgerlichen Ökonomen aus, dem die Angst vor dem Neuen zugrunde liegt. „Unbekannt" und „unheimlich" ist den bürgerlichen Ökonomen die sozialistische Planwirtschaft. „Unbekannt", weil sie sich weigern, ihre Grundlagen zur Kenntnis zu nehmen und ihr einen Bruchteil der Zeit zu ihrer Entwicklung zuzubilligen, die der Kapitalismus bis zu seiner jetzigen Spätform hatte. „Unheimlich", weil statt der Freiheit des Unternehmers die Freiheit der unmittelbaren Produzenten verwirklicht wird. 2 ) Das Ziel, dem die Sowjetunion zustrebt, ist der bürgerlichen Ökonomie so „unheimlich", daß Müller-Armak in seiner 144 Seiten starken Schrift über „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft" nur an zwei ganz nebensächlichen Stellen die SU und ihre Planwirtschaft erwähnt! „Kann der Sozialismus funktionieren?", fragt Schumpeter. „Selbstverständlich kann er es", antwortet er auf diese Frage. 3 ) „Kein Zweifel ist darüber ') Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution. Ausgewählte Werke, Bd. II, Moskau 1947, S. 30. 2) Es ist die monopolkapitalistische Befehlswirtschaft, mit der die moderne bürgerliche Ökonomie nicht fertig wird! Zugrunde liegt „das Ergebnis der technischen Entwicklung, die — wie insbesondere Rußland beweist — unabhängig von den sozialorganischen Formen zu einem unbekannten und unheimlichen Ziel weiterschreitet. Wirtschaftsspiegel, a. a. O., S. 432. 3) Schumpeter, a. a. O., S. 144. 558

möglich, wenn wir einmal annehmen, daß erstens die erforderliche Stufe der industriellen Entwicklung erreicht ist, und daß zweitens Übergangsprobleme erfolgreich gelöst w e r d e n können." Bei diesen Voraussetzungen könne „einem natürlich — sehr unbehaglich zumute sein, und ebenso bei den Fragen, ob die sozialistische F o r m der Gesellschaft voraussichtlich demokratisch sein m u ß und — demokratisch oder nicht — wie gut sie aller Wahrscheinlichkeit nach funktionieren w i r d . . . Aber w e n n wir jene Voraussetzungen a n n e h m e n und diese Zweifel beiseite lassen, dann ist die A n t w o r t auf die verbleibende Frage ein klares Ja." 1 ) Dieses Zugeständnis des Theoretikers des „dynamischen U n t e r n e h m e n s " ist wertvoll! Es schließt einen Streit ab, der-seitens der bürgerlichen Ökonomen nicht mit wissenschaftlichen, sondern mit scholastischen A r g u m e n t e n g e f ü h r t worden ist! Aber das Unbehagen der bürgerlichen Ökonomie in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus f ü h r t e nicht n u r zur Entwicklung des Funktionalismus. Die Tatsache, die in der a n g e f ü h r t e n Formulierung S c h u m peters über das Funktionieren des Sozialismus zum Ausdruck gebracht wird, f ü h r t e auch zur Faschisierung der bürgerlichen Ökonomie u n d zur E n t s t e h u n g des Keynesianismus!

B. Der Universalismus — die Faschisierung der bürgerlichen Ökonomie 1. Der ideologische

Reflex der faschistischen

Diktatur

Wenn auch die moderne bürgerliche Ökonomie als Ganzes im Dienste d e r verfaulenden kapitalistischen Basis steht, so sind ihre „Dienste" doch nicht einheitlich. Die moderne bürgerliche Ökonomie ist zu einem Teil eine direkte „Anleitung zum Handeln" f ü r die „Geschäftsmänner" des Monopolkapitalismus, die Kostenlehren der Gleichgewichtstheorie, bürgerliche Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre, „Anleitung zum Handeln" f ü r den Staat des Monopolkapitalismus, der immer mehr den Monopolen u n t e r geordnet wird, zu einem anderen Teil die „Theorien" von Keynes und zu einem dritten Teil schließlich der Versuch, eine eigene, gewissermaßen „bodenständige" ökonomische „Theorie" zu schaffen, die allen überflüssigen^ an die fortschrittliche Vergangenheit der Bourgeoisie erinnernden Ballast über Bord geworfen hat. Das ist in Deutschland insofern erleichtert, als eine ungebrochene reaktionäre Tradition in der bürgerlichen Ökonomie herrscht, als solches reaktionäre Gedankengut wie das des A d a m Müiler von der historischen Schule „ a u f b e w a h r t " und weitergegeben wurde. ') Ebd., S. 144.

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möglich, wenn wir einmal annehmen, daß erstens die erforderliche Stufe der industriellen Entwicklung erreicht ist, und daß zweitens Übergangsprobleme erfolgreich gelöst w e r d e n können." Bei diesen Voraussetzungen könne „einem natürlich — sehr unbehaglich zumute sein, und ebenso bei den Fragen, ob die sozialistische F o r m der Gesellschaft voraussichtlich demokratisch sein m u ß und — demokratisch oder nicht — wie gut sie aller Wahrscheinlichkeit nach funktionieren w i r d . . . Aber w e n n wir jene Voraussetzungen a n n e h m e n und diese Zweifel beiseite lassen, dann ist die A n t w o r t auf die verbleibende Frage ein klares Ja." 1 ) Dieses Zugeständnis des Theoretikers des „dynamischen U n t e r n e h m e n s " ist wertvoll! Es schließt einen Streit ab, der-seitens der bürgerlichen Ökonomen nicht mit wissenschaftlichen, sondern mit scholastischen A r g u m e n t e n g e f ü h r t worden ist! Aber das Unbehagen der bürgerlichen Ökonomie in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus f ü h r t e nicht n u r zur Entwicklung des Funktionalismus. Die Tatsache, die in der a n g e f ü h r t e n Formulierung S c h u m peters über das Funktionieren des Sozialismus zum Ausdruck gebracht wird, f ü h r t e auch zur Faschisierung der bürgerlichen Ökonomie u n d zur E n t s t e h u n g des Keynesianismus!

B. Der Universalismus — die Faschisierung der bürgerlichen Ökonomie 1. Der ideologische

Reflex der faschistischen

Diktatur

Wenn auch die moderne bürgerliche Ökonomie als Ganzes im Dienste d e r verfaulenden kapitalistischen Basis steht, so sind ihre „Dienste" doch nicht einheitlich. Die moderne bürgerliche Ökonomie ist zu einem Teil eine direkte „Anleitung zum Handeln" f ü r die „Geschäftsmänner" des Monopolkapitalismus, die Kostenlehren der Gleichgewichtstheorie, bürgerliche Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre, „Anleitung zum Handeln" f ü r den Staat des Monopolkapitalismus, der immer mehr den Monopolen u n t e r geordnet wird, zu einem anderen Teil die „Theorien" von Keynes und zu einem dritten Teil schließlich der Versuch, eine eigene, gewissermaßen „bodenständige" ökonomische „Theorie" zu schaffen, die allen überflüssigen^ an die fortschrittliche Vergangenheit der Bourgeoisie erinnernden Ballast über Bord geworfen hat. Das ist in Deutschland insofern erleichtert, als eine ungebrochene reaktionäre Tradition in der bürgerlichen Ökonomie herrscht, als solches reaktionäre Gedankengut wie das des A d a m Müiler von der historischen Schule „ a u f b e w a h r t " und weitergegeben wurde. ') Ebd., S. 144.

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Adam Müller war nicht der einzige „Vorläufer" einer solchen „bodenständigen Theorie" der Ökonomie des Imperialismus. Dazu kommt Albert Schäffle (1831—1903) mit seiner Theorie von der Volkswirtschaft als einem „Organsystem" der Erzeugungszweige. Es ist kein Zufall, daß nach dem ersten Weltkrieg eine Belebung der reaktionären Elemente in der bürgerlichökonomischen deutschen Tradition versucht wurde. Das war ein Teil der geistigen Vorbereitung der Machtergreifung des Hitlerfaschismus als der reaktionärsten, chauvinistischsten, imperialistischsten Elemente des deutschen Finanzkapitals. Die bürgerliche Ökonomie hat mit ihrer Arbeitsteilung insgesamt eine wichtige Funktion bei der Aufrechterhaltung der monopolkapitalistischen Herrschaft. „Wer glaubt denn heutzutage außerhalb unserer Kreise noch an nationalökonomische Wissenschaft?", rief Werner Sombart zwar in einer Debatte des „Vereins f ü r Sozialpolitik" nach dem ersten Weltkrieg aus und gab damit einer damals weitverbreiteten Stimmung Ausdruck. Auch Walter Eucken hielt den unmittelbaren Einfluß der bürgerlichen Ökonomie auf die Wirtschaftspolitik f ü r wenig entscheidend. Aber entscheidend ist nach Eucken der unmittelbare Einfluß, den die Nationalökonomie über das Denken führender Schichten ausübt. „Die Nationalökonomie wirkt ä la longue." Mit der Abwendung vom Laissez-faire, mit der Forderung der Vollbeschäftigung, der Politik des billigen Geldes, der Arbeitsbeschaffung seien außerdem Probleme aufgetaucht, die der Verwaltungsfachmann oder der Wirtschaftspolitiker allein nicht lösen könne. „Die neue Konjunkturpolitik ist deshalb wissenschaftliche Konjunkturpolitik geworden", und das „gilt auch f ü r andere Teile der Wirtschaftspolitik". Jedoch sollte die Wissenschaft, ehe sie überhaupt „der Politik dient und ihr Ratschläge g i b t . . . fragen, wem sie dient". Eben: Wem dient sie? Das ist aber nur eine Frage — die andere Frage ist: Wie dient sie? Und weil eben die verfaulende Basis der kapitalistischen Gesellschaftsordnung mit den alten „Diensten" nicht mehr auskam, entstanden die „neuen" Theorien, die Theorien, die nicht nur praktische Anleitungen zum Handeln f ü r „Geschäftsmänner" und Staat geben sollten, sondern die die Praxis des staatsmonopolistischen Staates und des Faschismus auf „neue Art" begründen sollten.

2. Othmar

Spann

Othmar Spann (1878— ) knüpfte bewußt an den erzreaktionären Adam Müller an. Nach Müller ist der Staat „die Totalität der menschlichen Angelegenheiten, ihre Verbindung zu einem lebendigen G a n z e n . . . " Das Wesen der Volkswirtschaft besteht nach Müller in der lebendigen Gegenseitigkeit aller verschiedenen Seiten der Wirtschaft. „Müllers Thema ist die organische 560

Verbundenheit der Wirtschaften und Wirtschaftsmittel als Glieder", meint Spann, „nicht aber als einfache Partner, nicht als selbständige Atome; nein, als Glieder des Ganzen der Volksgemeinschaft, des verborgenen Organismus der Volkswirtschaft". Auch bei Thünen und List sucht Spann Ansatzpunkte zur Aufstellung seiner universalistischen Ökonomie. Nach Spann hat der Gegensatz von individualistischer und universalistischer Gesellschaftslehre die Volkswirtschaftslehre „in zwei unversöhnliche und unvereinbar einander gegenüberstehende Richtungen, in zweierlei Richtungen" gespalten. Die individualistische Richtung der bürgerlichen Ökonomie ist Spann noch zu gefährlich, da sie eine Gesetzmäßigkeit kausaler Art auf den Bereich des historischen und gesellschaftlichen Geschehens in Anwendung brachte. Im Gegensatz hierzu will die universalistische bürgerliche Ökonomie, wie sie Spann begründete, die ökonomischen Erscheinungen nicht als mechanisches Ineinandergreifen kausal wirkender K r ä f t e auffassen, sondern postuliert die gesellschaftliche Zweckbestimmung der Wirtschaft, die Gliedhaftigkeit ihrer Teile, das zweckhafte Ausgerichtetsein der Volkswirtschaft. „Die universalistische Volkswirtschaftslehre ist somit eine Zweckwissenschaft", meint Stavenhagen. 1 ) Spann hat die sozialwissenschaftliche Substanz, die auch in der modernen bürgerlichen Ökonomie, die Spann als individualistische bezeichnet, als Erbe der klassischen bürgerlichen Ökonomie von ihrem Ausgangspunkt her wenigstens noch als schwacher Abglanz vorhanden ist, bewußt als Ballast über Bord geworfen. Nicht der Tausch, wie in der klassischen bürgerlichen Ökonomie, sondern der „leistungsmäßige Zusammenhang der Glieder" soll der „Zentralbegriff" der Volkswirtschaftslehre sein. Die Leistungslehre soll den Vorrang vor der Wert- und Preislehre haben, und an Stelle der quantitaven Betrachtung soll eine qualitative treten. Spann faßt die Volkswirtschaft als ein „System von Leistungen" auf und definiert: „Wirtschaft ist die rangordnungsmäßige Widmung von Mitteln f ü r Ziele durch ausgleichendes und sparendes Abwägen der Mittel f ü r Ziele." In dieser „Definition" sind alle Elemente der faschistischen Diktatur als der offenen Terrorherrschaft der reaktionärsten, chauvinistischsten, imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals enthalten; die Unterordnung und Knechtung der Werktätigen als Objekte brutalster Ausbeutung, als „Mittel" f ü r die verbrecherischen „Ziele" der Monopolisten und Junker, das kaltblütige und brutale Abwägen des zweckmäßigsten Einsatzes, bis Einsatz f ü r die Sicherung der Maximalprofite, der „Mittel f ü r Zwecke", die ganze Bestialität und Verfaultheit des deutschen Imperialismus. In der Spannschen „Theorie" verkörpert sich der besonders reaktionäre Charakter des deutschen Imperialismus als des Bündnisses der Monopolkapitalisten mit dem preußischen Junkertum, dem preußischen Militarismus und der Bürokratie. Die A. a. O., S. 155. 36 B e h r e n s

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deutsche Volkswirtschaft ist für Spann eine preußische Kaserne, in der der „Geist" des Feudalismus ungebrochen herrscht. Spann will eine „körperschaftlich" und „ständisch" gegliederte Wirtschaft, eine von den Monopolen gelenkte Wirtschaft, wie sie im Hitlerdeutschland verwirklicht wurde. Auf dem Markt treffen sich nach Spann Produzenten und Konsumenten oder Händler als Vertreter bestimmter Wirtschaftszweige, und ihre „Wertschätzungen" sind „Ausdruck der Bedingungen des ihnen übergeordneten Wirtschaftsgefüges". Man kann diese faschistische „Theorie" nicht besser charakterisieren, als es Stavenhagen — bewußt? — tut: „Als objektiver Körper betrachtet, ist Wirtschaft ein Gebäude rangordnungsgemäß gegliederter Mittel für Zwecke." 1 ) Es ist selbstverständlich, daß Spann auch die Werttheorie der klassischen bürgerlichen Ökonomie bewußt fallen läßt. Die Wert- und Preistheorie der Klassiker der bürgerlichen Ökonomie ist nach Spanns Ansicht deshalb falsch, weil sie von der Arbeitsmenge statt von der Zielerreichung der wirtschaftlichen Leistungen und deren Gültigkeit ausgeht. Die Arbeitsmenge erlangt nach Spann seiner „Zweckwissenschaft" gemäß nur insofern Wert, als sie eins der Mittel ist, die in der Wirtschaft gelten. Wert ist — mit anderen Worten — nach Spann kein Quantum, „sondern ein Rang — der Rang der Leistungen im Gliederbau der Mittel für Ziele". Was folgt daraus? Spann schreibt es: „Es genügt nicht der subjektive Wunsch, reich zu werden, man muß den objektiven Eingliederungserfordernissen der wirtschaftlichen Ganzheiten gemäß handeln." Die „wirtschaftliche Ganzheit" — das ist der monopolistische Kapitalismus, die „objektiven Eingliederungserfordernisse" — das ist die Unterordnung als willenloses Ausbeutungsobjekt. Und wenn die werktätigen Massen nicht „reich werden", wenn sie den „Eingliederungserfordernissen" Widerstand entgegensetzen, dann antwortet ihnen Spann, daß sie sich eben als „Glieder" erst „zu geistig-sittlichen Persönlichkeiten bilden" müßten. Ein anderer Versuch einer faschistischen Wirtschaftstheorie ist die „sozialorganische" Theorie von Hugo Emanuel Vogel. „Es wäre an der Zeit, endlich den exklusiven und präroganten Ausdruck ,rein', .exakt' überhaupt aus dem Sprachschatze der Theorie als gänzlich zwecklos auszustreichen." Wozu bedarf es noch exakter ökonomischer Forschung, wenn die „Rangordnung der Werte" gegeben, wenn alles Wirtschaften — wie Vogel schreibt — „eine zugleich geistig gelenkte und von persönlicher Entschlußkraft getragene subjektive Lebensäußerung ist"? Es geht hier nur noch um die mit möglichst unveränderlichen Worten verhüllte Formulierung der Praxis des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Hier ist der Weg einer Wissenschaft zu Ende, die ihre eigene wissenschaftliche Substanz verleugnete. A. a. O., S. 157.

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3. Der „deutsche"

Sozialist

Werner

Sombart

Der schamloseste Versuch eines bürgerlichen Ökonomen, die faschistische Praxis des deutschen staatsmonopolistischen Kapitalismus zu begründen, ist der des „deutschen Sozialisten" Werner Sombart. Sombart war nach seinen eigenen Worten stets vom „Wind der Zeit" stark beeinflußt.1) Er, der in seinen Anfängen Sozialist war, endete als faschistischer Theoretiker. Im Vorwort seines 1934 erschienenen Buches „Deutscher Sozialismus" bemerkt er ausdrücklich, nur ja keinen Irrtum aufkommen zu lassen, daß er „nicht e t w a . . . der Hitlerregierung gleichgültig oder gar feindlich gegenüberstünde. Nichts weniger als dieses."2) Sombart hatte „vom Standpunkt einer nationalsozialistischen Gesinnung aus" sich zur Aufgabe gestellt, „eine einheitliche Ansicht von den verschiedenen Problemen der Zeit zu geben . . ," 3 ) Von schmutzigen Beschimpfungen von Marx und Engels kommt Sombart zü den „Vorläufern" seines „deutschen Sozialismus", zu denen er u. a. Albert Schäffle, Adolf Stöcker, Friedrich Nietzsche zählt, und definiert ihn als „einen Sozialismus, der ganz allein und ausschließlich für Deutschland Geltung hat, und zwar für das Deutschland unserer Tage, weil es auf die deutschen Verhältnisse eingestellt ist, der somit einem Kleide gleicht, das Deutschland ,auf den Leib zugeschnitten', also nach Maß gearbeitet i s t . . ," 4 ) Wie sieht dieser „nach Maß" von Werner Sombart geschneiderte „Deutsche Sozialismus" aus? Selbstverständlich, daß dabei die deutsche Überheblichkeit nicht zu kurz kommt, derart etwa, daß Sombart H. Taine zitiert, nach dem Deutschland „alle Ideen unseres Zeitalters hervorgebracht" habe und es „noch für ein halbes, vielleicht ein ganzes J a h r h u n d e r t . . . es unsere Hauptaufgabe sein" werde, „diese Ideen zu verarbeiten". Er besteht vor allem auf der „Abkehr vom Fortschrittsglauben"! „Ganz und gar müssen wir uns von dem greulichen Fortschrittsglauben frei machen . . . " Warum? Weil der die „Ideenwelt des proletarischen Sozialismus, noch mehr aber die des Liberalismus beherrscht". 5 ) Da der Liberalismus gestorben ist, der proletarische Sozialismus aber sehr kräftig lebt und sich entwickelt, ist es doch nur logisch, daß der Inhalt des „Deutschen Sozialismus" die „Abkehr vom Fortschrittsglauben" sein muß, denn Fortschritt bedeutet Untergang des Kapitalismus, Untergang des Monopolkapitalismus mit seiner Ideologie, darunter des „Deutschen Sozialismus"! Fortschritt bedeutet proletarischer Sozialismus! Aber den haßt Werner Sombart und die Schicht, für die er spricht, die imperialistische ') Sombart, Deutscher Sozialismus, Berlin-Charlottenburg 1934. Ebd., S. 12. 3) Ebd. 4 ) Ebd., S. 121. 5) Ebd., S. 164. 2)

36»

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deutsche Bourgeoisie, mehr als den Tod! Er haßt die „weitverbreitete Irrlehre" des Klassenkampfes. Für die Verwirklichung seines „Deutschen Sozialismus" kommt nur der Staatsmann in Betracht, dem es obliegt, das Zusammenspiel von Idee und Interesse richtend und bestimmend zu gestalten und damit „Geschichte zu machen". 1 ) Was ja bekanntlich geschehen ist: dieses „Geschichte machen" durch das Ideal eines Staatsmannes der imperialistischen Bourgeoisie, Adolf Hitler. Selbstverständlich, daß sich Sombart zur „Ständeordnung" bekennt und eine „Rangordnung" fordert wie Othmar Spann! „Gemeint ist hier die Werteordnung, die durch den Staat bestimmt wird und die einer Hierarchie entspricht, die den Interessen des Staates gemäß ist." 2 ) Da haben wir wieder alles zusammen, was die imperialistische Bourgeoisie braucht, die „Werteordnung" und die „Hierarchie" im „Interesse des Staates", des staatsmonopolistischen Kapitalismus! Es ist klar — das ist der Auftrag, den Sombart ausführt —, daß alles da ist, was den Inhalt der imperialistischen deutschen Wirtschaftspolitik ausmacht: die Autarkie, die Industrialisierung „unserer Ostmarken" und die „Agrarpolitik". „Daß die Gutswirtschaft, also bei der heutigen Agrarverfassung gleichbedeutend mit ,Großgrundbesitz', nicht aus der Reihe der Wirtschaftsformen verschwinden darf, halte ich f ü r ausgemacht", schreibt Sombart. „Nicht nur aus ökonomischen, sondern ebensosehr und noch mehr aus kulturellen und politischen Gründen", fügt er hinzu. 3 ) Und aus „politischen Gründen" soll „der" Staat das Arbeitsverhältnis in der Industrie so regeln, daß es den „Charakter des Beamtenverhältnisses" annimmt, weil damit „der Interessengegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer entfällt..."") Sombart bekennt sich zum „Führerprinzip" 5 ) und überschlägt sich schließlich vor Begeisterung: „Über das herrliche Schlagwort: .Gemeinnutz geht vor Eigennutz' brauche ich hier nichts Neues zu b e m e r k e n . . . Wir nehmen es zum Ausgangspunkt und Leitsatz auch unserer ganzen P o l i t i k . . ."6) Ist das der geistige Bankrott eines bürgerlichen Ökonomen? Das ist der geistige Bankrott der bürgerlichen Ökonomie, den Werner Sombart zum Schrecken anderer so offen aussprach! Es ist das Ende: die offene Anerkennung des faschistischen Terrorregimes, die am Ende einer Entwicklung steht, die die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise widerspiegelt. „Das Eigentumsrecht ist f ü r den deutschen Sozialismus kein selbständiges Problem", schreibt Sombart. Die Alternative, um die Jahrhunderte lang so erbittert gekämpft worden ist und mancherorts noch heute gekämpft ') ) 3 ) 4 ) 5 ) 6 ) 2

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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

170. 229. 298/299. 304. 304. 317.

wird: Privateigentum oder Gemeineigentum, besteht für ihn nicht." 1 ) Werner Sombart stimmt der Fassung, „die Othmar Spann dem Problem gegeben hat, durchaus zu, wenn er sagt: Es gibt formal Privateigentum, der Sache nach aber nur Gemeineigentum". 2 ) Der faschistische Staat ist die Rückkehr zur Leibeigenschaft und Sklaverei. Für ihre Maximalprofite eignen sich die Monopolisten und Junker „gemeinnützigerweise" das Volksvermögen an und raffen einen immer größeren Anteil am Volkseigentum an sich. „Die Grundsätze der Wirtschaftsführung bestimmen Umfang und Art des Eigentumsrechtes, sagt Sombart: das ist der Springpunkt." 3 ) Und es ist klar, daß Sombart zu diesem Zwecke auch die inflationistische Finanzpolitik des staatsmonopolistischen Kapitalismus verherrlicht, die — ein Raubzug der Finanzkapitalisten — eben der Enteignung der einfachen Warenproduzenten, ihre Ruinierung und die maßlose Ausbeutung der Arbeiter bedeutet. Auch wenn man Werner Sombarts „Deutschen Sozialismus" in den Werken der bürgerlichen Dogmenhistoriker heute mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe verhüllt, bleibt diese Schrift doch ein wichtiges Dokument für die Geschichte der bürgerlichen Ökonomie. Sombarts „Deutscher Sozialismus", 1934, Keynes „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und Geldes", 1936, und Schumpeters „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie", 1942, sind im gleichen Maße Ausdruck der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems, von bürgerlichen Ökonomen formuliert: der Faschisierung des kapitalistischen Staates, seine Rettungsversuche am kapitalistischen System und der Hoffnungslosigkeit, die kapitalistische Ordnung auch nur über die nächste Zeit noch hinüberzuretten!

C. Die „neue" Ökonomie des I. W. Keynes 1. Die gesellschaftlichen

Bedingungen

Die bürgerliche Ökonomie konnte sich unter den Bedingungen der allgemeinen Krise des Kapitalismus nicht mehr allein auf die Aufgabe beschränken, die seit der klassischen bürgerlichen Ökonomie ihre Hauptaufgabe geworden ist: auf die Verwischung und Verschleierung der dem Kapitalismus eigenen Widersprüche. Die' allgemeine Krise des Kapitalismus hat alle Widersprüche des Kapitalismus extrem verschärft, seine abstoßenden Schwären bloßgelegt und die ganze Unhaltbarkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems gezeigt. Das Ebd., S. 324. ) Ebd., S. 324. 3) Ebd. 2

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wird: Privateigentum oder Gemeineigentum, besteht für ihn nicht." 1 ) Werner Sombart stimmt der Fassung, „die Othmar Spann dem Problem gegeben hat, durchaus zu, wenn er sagt: Es gibt formal Privateigentum, der Sache nach aber nur Gemeineigentum". 2 ) Der faschistische Staat ist die Rückkehr zur Leibeigenschaft und Sklaverei. Für ihre Maximalprofite eignen sich die Monopolisten und Junker „gemeinnützigerweise" das Volksvermögen an und raffen einen immer größeren Anteil am Volkseigentum an sich. „Die Grundsätze der Wirtschaftsführung bestimmen Umfang und Art des Eigentumsrechtes, sagt Sombart: das ist der Springpunkt." 3 ) Und es ist klar, daß Sombart zu diesem Zwecke auch die inflationistische Finanzpolitik des staatsmonopolistischen Kapitalismus verherrlicht, die — ein Raubzug der Finanzkapitalisten — eben der Enteignung der einfachen Warenproduzenten, ihre Ruinierung und die maßlose Ausbeutung der Arbeiter bedeutet. Auch wenn man Werner Sombarts „Deutschen Sozialismus" in den Werken der bürgerlichen Dogmenhistoriker heute mit dem Mantel der christlichen Nächstenliebe verhüllt, bleibt diese Schrift doch ein wichtiges Dokument für die Geschichte der bürgerlichen Ökonomie. Sombarts „Deutscher Sozialismus", 1934, Keynes „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und Geldes", 1936, und Schumpeters „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie", 1942, sind im gleichen Maße Ausdruck der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems, von bürgerlichen Ökonomen formuliert: der Faschisierung des kapitalistischen Staates, seine Rettungsversuche am kapitalistischen System und der Hoffnungslosigkeit, die kapitalistische Ordnung auch nur über die nächste Zeit noch hinüberzuretten!

C. Die „neue" Ökonomie des I. W. Keynes 1. Die gesellschaftlichen

Bedingungen

Die bürgerliche Ökonomie konnte sich unter den Bedingungen der allgemeinen Krise des Kapitalismus nicht mehr allein auf die Aufgabe beschränken, die seit der klassischen bürgerlichen Ökonomie ihre Hauptaufgabe geworden ist: auf die Verwischung und Verschleierung der dem Kapitalismus eigenen Widersprüche. Die' allgemeine Krise des Kapitalismus hat alle Widersprüche des Kapitalismus extrem verschärft, seine abstoßenden Schwären bloßgelegt und die ganze Unhaltbarkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems gezeigt. Das Ebd., S. 324. ) Ebd., S. 324. 3) Ebd. 2

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Hauptmerkmal der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist die Spaltung der Welt in zwei Systeme — das System des Kapitalismus und das des Sozialismus. Der fortschreitende Verfall des Kapitalismus wird besonders augenfällig beim Vergleich mit dem sich entfaltenden und erstarkenden sozialistischen Wirtschaftssystem in der UdSSR. Die in der alten Form geübte Apologetik wurde damit immer schwieriger. Stalin sagte über den Einfluß der Wirtschaftskrise von 1929 bis 1933: „Die Illusionen über die Allmacht des Kapitalismus im allgemeinen, die Allmacht des nordamerikanischen Kapitalismus im besonderen stürzen zusammen. Immer zaghafter werden die Siegesgesänge zu Ehren des Dollars und der kapitalistischen Rationalisierung. Immer stärker ertönen pessimistische Klagelieder über die ,Fehler' des Kapitalismus." 1 ) Während die kapitalistischen Länder im eisernen Griff der Wirtschaftskrisen zappelten, ging es mit der Wirtschaft der UdSSR, die keine Überproduktionskrisen kennt, stetig aufwärts. Die werktätigen Massen in den kapitalistischen Ländern überzeugten sich durch den Augenschein davon, daß das Geschwätz der bürgerlichen Ökonomen, die Krisen seien eine ewige und nicht zu beseitigende Erscheinung, nichts als leeres Gerede ist, darauf berechnet, Leichtgläubige irrezuführen. Darum fordert die Monopolbourgeoisie von ihren gelehrten Lakaien eine schleunige „Umstellung", und sie gibt ihnen den Auftrag, eine „theoretische Begründung" der Behauptung auszuarbeiten, daß es möglich sei, die Anarchie in der Produktion und die Wirtschaftskrisen unter den Bedingungen des Kapitalismus, auf der Grundlage des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln zu überwinden. Damit trat eine andere Hauptaufgabe in den Vordergrund der bürgerlichen Ökonomie, der sie sich seither in steigendem Maße hingibt: die E r sinnung von Maßnahmen zur Heilung und Verbesserung des Kapitalismus. Die bürgerliche Ökonomie hat jetzt die undankbare Aufgabe, solche Maßnahmen zu ersinnen, die die wankenden Pfeiler des modernen Kapitalismus stützen und ihm wenn möglich, neue Pfeiler gewinnen sollen, die die maximalen Profite der Monopolbourgeoisie sichern auf Kosten einer weiteren Offensive der Werktätigen und durch einen Kampf gegen die Revolutionierung der Volksmasse, gegen das Anwachsen der Kräfte des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus. Die durch die allgemeine Krise des Kapitalismus herbeigeführten Veränderungen riefen — in anderen Worten — die Notwendigkeit des Umbaues der bürgerlichen Ökonomie hervor. Dieser Umbau, die neuen Aufgaben der bürgerlichen Ökonomie in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus kamen in der „neuen" Ökonomie des I. W. Keynes (1883—1946) zum Ausdruck, des Keynes, von dem Lenin schrieb, „er sei ein ausgesprochener Bourgeois, ein rücksichtsloser Gegner des Bolschel

) J. W. Stalin, „Fragen des Leninismus", 10. Auflage, Moskau 1938, S. 484.

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wismus, den er sich, wie ein englischer Spießer, als etwas Groteskes, Wildes, Barbarisches vorstellt". 1 ) Keynes tritt als „Reformator" auf, der die Dogmen der „klassischen Schule" der politischen Ökonomie kritisiert (so nennt er die bürgerliche Vulgärökonomie, wie sie sich in Marshall, Pigou und anderen ihrer neuesten Vertreter verkörpert). Keynes ist gezwungen, zuzugeben, daß der Kapitalismus einige Mängel hat. Er spricht von den „empörenden Mängeln der wirtschaftlichen Ordnung", vom „Paradox der Armut mitten im Überfluß", welches das kapitalistische Wirtschaftssystem hervorbringt. Er gibt das Vorhandensein der vielen Millionen Arbeitslosen zu und erklärt: „Es ist sicher, daß die Welt die Arbeitslosigkeit... nicht viel länger dulden wird." Doch Keynes macht diese Zugeständnisse nur, u m sich gleich darauf f ü r den Kapitalismus als Ganzes einzusetzen und zu „beweisen", daß dieser nicht schuld sei an seinen „empörenden Mängeln", daß es absolut möglich sei, diese Unzulänglichkeiten auf der Grundlage des kapitalistischen Eigentums zu überwinden. Nachdem er das Vorhandensein der Massenarbeitslosigkeit und die ungeheure Gefährlichkeit dieser Krankheit zugegeben hat, schreibt er: „Durch eine richtige Analyse des Problems sollte es aber möglich sein, die Krankheit zu heilen und gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Freiheit zu bewahren." Im Unterschied zu der Mehrzahl der anderen bürgerlichen Ökonomen nahm Keynes stets aktiven Anteil an der Führung der Wirtschaftspolitik Englands. So war er Direktor der Bank von England und Berater des Schatzamtes. Sein von ihm ausgearbeiteter Plan der Kriegsfinanzierung lag der Finanzpolitik der englischen Regierung während der Zeit des zweiten Weltkrieges zugrunde. Keynes trat auch mit seinem Projekt der Nachkriegsregulierung des Weltgeldumlaufes auf. Er war der Führer der englischen Delegation auf der Internationalen Finanzkonferenz in Breton-Woods und stand an der Spitze der britischen Delegation zur Zeit der Verhandlungen über die Einräumung einer amerikanischen Anleihe an England im J a h r e 1945. Die Werke von Keynes sind deshalb von so besonderem Interesse, weil in ihnen klar fast alle derzeitigen Entwicklungstendenzen der bürgerlichen politischen Ökonomie zum Ausdruck kommen. Die erste größere ökonomische Arbeit von Keynes, die im Jahre 1913 erschien, war einer speziellen Frage des Geldumlaufes und den Finanzen Indiens gewidmet. Im J a h r e 1919 erschien sein aufsehenerregendes Buch „Die wirtschaftlichen Folger} des Friedens". „Niemand hat so gut den Versailler Vertrag beschrieben wie Keynes in seinem Büchlein", schrieb Lenin. Auf dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale hat Lenin das Lehrreiche der Ausführungen von Keynes damit unterstrichen, daß sie „von einem anerkannten Bourgeois, einem, wie er sich selbst bezeichnet, rücksichtslosen Gegner des Bolschewismus, von einem englischen Spießbürger l

) Lenin, Ausgewählte Werke in 12 Bänden, Bd. X, Moskau 1937, S. 176. 567

von widerwärtiger, grimmiger, tierischer Art gemacht werden". Zu dieser steht Keynes noch ganz und gar auf dem Boden des klassischen bürgerlichen Liberalismus. Bald danach, schon in seinem „Traktat über die Geldreform", 1924, wendet er sich jedoch von den liberalen Doktrinen ab. Keynes stellt die Frage der Geldreform im Zusammenhang mit einem neuen Thema, das sich wie ein roter Faden durch alle seine folgenden Arbeiten zieht — nämlich über die unbedingte Notwendigkeit der „Heilung" des Kapitalismus von der Arbeitslosigkeit. Im Unterschied zu seinen früheren Arbeiten spricht sich Keynes nunmehr gegen den Übergang zum Goldstandard aus. Er weist darauf hin, daß der Goldstandard mit einer Senkung des Arbeitslohnes, mit dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit, mit der Verschärfung der Wirtschaftskrisen usw. verbunden ist. Das Gold sollte auf die Stellung eines „konstitutionellen Monarchen zurückgeführt werden, dem seine frühere despotische Macht entzogen wurde und der gezwungen ist, auf den Rat des Parlaments der Banken zu hören". Das Gold soll jedoch insoweit auf dem Thron bleiben, als „die Engländer es vorziehen, dem Monarchen nur die Macht zu entziehen, nicht aber den Kopf abzuschlagen". Ein bedeutsamer Wendepunkt in der Entwicklung der Anschauungen von Keynes ist in seinem Aufsatz „Das Ende des laissez-faire", 1926, zu ersehen. In diesem Aufsatz ist bereits die Grundaufgabe seiner folgenden Arbeit deutlich aufgezeichnet: „Vervollkommnung" des Kapitalismus. Keynes bezeichnet es als seine tiefste Uberzeugung, daß der Kapitalismus, wenn er „klug gelenkt wird, weitaus produktiver ist als jedes beliebige mit ihm konkurrierende Wirtschaftssystem". Aber hieraus — so folgerte er — könne nicht geschlossen werden, daß der Kapitalismus „nicht ernste Einwände hervorrufen" könne. „Unser Problem besteht darin, eine soziale Organisation zu gestalten, die ebenso produktiv und zugleich auch funktionsfähig sein müsse, ohne dabei unsere Vorstellungen von einer befriedigenden Lebensform über den Haufen zu werfen." Keynes fordert den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und andere Mißstände des Kapitalismus. Im Jahre 1930 erschien das große Werk von Keynes „Vom Geld", in dem er eine detaillierte Analyse der Goldprobleme gibt. Da sich Keynes von einigen Thesen, die er in dieser Arbeit darlegte, später distanzierte, kann man diese Arbeit nur als eine der Entwicklungsetappen seiner ökonomischen Ansichten betrachten. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 übt einen starken Einfluß auf die weitere Revolution der Ansichten von Keynes aus. Wenn früher seine Hauptaufmerksamkeit auf Fragen konzentriert war, die mit den Störungen des Geldumlaufs und deren sozialökonomischen Folgen verbunden sind, so war sie nunmehr auf ein neues Problem geheftet, nämlich auf die Frage: Wie kann man die Uberproduktionskrisen verhindern oder wenigstens mildern? Diese Fragen nehmen in allen folgenden Abhandlungen von Keynes eine zentrale Stellung ein. 568

Im Jahre 1931 sagte sich Keynes von der früher durch ihn verteidigten Freihandelspolitik los und trat für die Notwendigkeit des Übergangs zum Protektionismus ein, im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Wirtschaftskrisen. Er stellt zwei Grundformen einer solchen Politik dar: „Die expansionistische", d. h. eine Politik, die im wesentlichen den Ausweg in der Erweiterung der Produktion auf Kosten aller Maßnahmen, die die Vergrößerung der gesellschaftlichen Nachfrage stimulieren, und „eine restriktive Politik", die ihr Hauptaugenmerk auf die Senkung der Produktionskosten mittels jeglicher Maßnahme richtet einschließlich der Senkung des Arbeitslohnes. Von Wichtigkeit für die weitere Entwicklung der Keynesschen Auffassungen war seine 1933 erschienene Broschüre „Die Mittel zum Aufblühen". Den Hauptangriffshebel auf die Krisenerscheinungen sieht Keynes in der Vergrößerung der gesellschaftlichen Nachfrage. Keynes lehnt jetzt prinzipiell alle Maßnahmen restriktiver Art mit der Begründung ab, daß sie die Lage einzelner Unternehmungen oder Zweige nur auf Kosten der anderen verbessern. Er hält es für notwendig, die Gesamtsumme der Ausgaben für konsumtive und produktive Zwecke zu vergrößern, und zwar vor allem in der Form der öffentlichen Arbeiten, denen Keynes von da an besondere Bedeutung beimißt. Keynes beklagt sich darüber, daß der Staat nur in Kriegszeiten große Mittel für die Aufrüstung aufgewandt hat. In dieser Arbeit untersucht Keynes auch die Abhängigkeit des Nationaleinkommens vom allgemeinen Beschäftigungsvolumen. Er schreibt, daß es ein Fehler wäre, anzunehmen, daß ein Dilemma zum Schema der Vergrößerung der Beschäftigung und dem der Balancierung des Budgets besteht. „Es gibt keine andere Möglichkeit, das Gleichgewicht des Budgets herzustellen außer der Vergrößerung des Nationaleinkommens, was dasselbe bedeutet wie die Vergrößerung der Beschäftigung." Im Jahre 1936 erschien sein Buch „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes", in dem er eine systematische Darstellung seiner ökonomischen Auffassungen gibt. Eine Reihe von Ideen, die früher bereits in nicht zusammenhängender Art dargestellt wurde, wie z. B. die Notwendigkeit der Verhütung von Krisen mittels der Stimulierung der öffentlichen Nachfrage, mittels der Vergrößerung der Staatsausgaben, der Entwicklung der öffentlichen Arbeiten in großem Ausmaße wurde in dieser Arbeit voll entwickelt zum Ausdruck gebracht. Dieses Werk nimmt einen zentralen Platz in der gesamten literarischen Tätigkeit von Keynes ein. Alle seine später herausgegebenen Arbeiten stellen nur noch einen Kommentar zu dem genannten Werk dar. Das Buch von Keynes „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" übte einen starken Einfluß auf die bürgerliche Wirtschaftsliteratur in der kapitalistischen Welt aus. Es wurde geradezu zum Mittelpunkt aller theoretischen Diskussionen der bürgerlichen Ökonomen. 569

Die bürgerlichen Ökonomen sind heute in zwei Lager gespalten, in „Keynesianer" und „Antikeynesianer" (Hans Mayer) und in die Vertreter der „alten Ökonomie" und der „neuen Ökonomie" (W. Röpke). Keynes hat „den Froschteich der Nationalökonomie bis zum Grunde aufgewühlt" (Hahnen). Die „Ideen von Keynes" beherrschen „heute die ganze Welt" (Höpken-Aschoff).

2. Die Keynessche

Theorie der

Beschäftigung

Die sogenannte „Beschäftigungstheorie", ist der Kern der Keynesschen Theorie. Keynes lehnt die Theorie des laissez-faire ab und gibt zu, daß der sich selbst überlassene Kapitalismus zu Unterbeschäftigung führt. Keynes bemüht sich jedoch, zu zeigen, wie durch bestimmte staatliche Eingriffe der Kapitalismus so eingerichtet werden kann, daß Unterbeschäftigung und Krise eliminiert werden. Die weitreichende Bedeutung der Keynesschen Theorie rührt gerade von diesem Moment. Sie versucht zu erklären: 1. Warum der Kapitalismus in der Vergangenheit unter Krise und Unbeschäftigung litt. 2. Warum der Kapitalismus so reguliert werden kann, daß Krise und Unbeschäftigung fernbleiben. 3. Warum dazu die Dazwischenkunft des Staates erforderlich ist. Keynes geht dabei von Auffassungen aus, die typisch sind für die gesamte moderne bürgerliche Ökonomie: er setzt an die Stelle der objektiven ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus alle möglichen willkürlichen Konstruktionen und „psychologischen Gesetze", die angeblich universal sind und keinen historischen, keinen Klassencharakter haben. Nach Keynes ist die gesamte Nachfrage, die bei einem gegebenen Angebot den Grad der Beschäftigung bestimmt, ihrerseits unmittelbar abhängig von zwei psychologischen Faktoren — von dem Hang der Gesellschaft zum Verbrauch (gemeint ist der persönliche Verbrauch) und von der Veranlassung zur Investition. Das psychologische Grundgesetz einer jeden modernen Gesellschaft besteht angeblich darin, daß die Menschen zwar geneigt sind, mit wachsendem Einkommen ihren Verbrauch zu steigern, aber nicht in dem gleichen Maße, in dem das Einkommen wächst; mit dem größeren Einkommen wächst in noch größerem Maße der Anteil davon, der gespart wird. Daher rührt der bekannte Fehler in der Frage der gesamten Nachfrage. Damit die effektive Nachfrage so groß ist, daß sie über die Nachfrage nach allen erzeugten Gütern zu einer Vollbeschäftigung in der gesamten Volkswirtschaft führt, muß ein bestimmtes Verhältnis zwischen der „Neigung zu konsumieren" und dem „Anreiz zu investieren" gegeben sein. Das für die Volkswirtschaft richtige Verhältnis ist dann gegeben, wenn „durch Zufall oder Planung die laufende Investierung eine Nachfragenmenge ergibt, die gleich ist dem Uberbau vom Gesamtangebotspreis des Produktionsertrages 570

abzüglich dessen, was die Gesamtheit f ü r Konsumgüter auszugeben bereit ist". Da der Gesamtangebotspreis des Produktionsertrages nach Keynes gleich der Summe aller Einkommen der f ü r die Produktion Tätigen ist — E, so muß diese Einkommenssumme als Nachfrage nach Konsumgütern — K und Investitionsgütern — I — tätig werden, d. h. E = K + I. Wenn nicht die gesamte Einkommenssumme ausgegeben, sondern ein Teil gespart wird, so kann nach Keynes auch nicht das gesamte Beschäftigungspotential der Volkswirtschaft ausgenutzt werden. „Die Neigung zu konsumieren und das Maß der Investitionen bestimmen miteinander das volkswirtschaftliche Beschäftigungsvolumen." Da die Investitionen aus ersparten Einkommensteilen stammen, muß nach Keynes die volle Sparsumme — S — f ü r Investitionen verausgabt werden, soll der Beschäftigungsgrad auf der Höhe des gesamten Beschäftigungspotentials der Volkswirtschaft verbleiben, d. h. S = I. Verbraucher, Sparer und Investierer sind nach Keynes die Grundlagen f ü r die Beschäftigung in der Volkswirtschaft. Die Größenverhältnisse von Verbraucher, Sparer und Investierer bestimmen das Niveau der Erzeugung, damit aber das Beschäftigungsvolumen. Das richtige Verhältnis also f ü h r t zur „Vollbeschäftigung". Der Entschluß zu investieren oder nicht zu investieren hängt nach Keynes von den Gewinnaussichten der Unternehmer und diese wieder vom Verhältnis zwischen der Zinsrate und den Einkünften ab, die der Kapitalist von seinen Investitionen erwartet. Der Hang zum Verbrauch und die Investitionsneigung, beeinflußt vom Zins, bestimmen nach Keynes in einer Volkswirtschaft ohne staatliche Eingriffe den Grad der Ausnutzung des Produktionsapparates, der Beschäftigung also. Wenn die Ersparnisse identisch sind mit den Investitionen, dann wird die Verringerung des persönlichen Verbrauchs kompensiert durch eine Vergrößerung des Produktionsverbrauchs. Das ganze Unglück besteht, wie Keynes versichert, darin, daß Ersparnis und Investition nicht ein und dasselbe ist. Das Ausmaß der Investitionen hängt ab von der „Veranlassung zur Investition" und von den „Erwartungen" f ü r die Zukunft, bei denen eine entscheidende Rolle die „Schätzung des voraussichtlichen Erträgnisses" und die Höhe des Zinsfußes spielen. Der „Erwartung" widmet Keynes große Aufmerksamkeit. Aber es versteht sich, daß im Kapitalismus unter den Bedingungen des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Anarchie in der Produktion, wo die Forderungen des Marktes nicht auf fünf Wochen, geschweige denn auf fünf J a h r e vorauszusehen sind, von einer wirklichen Berechnung keine Rede sein kann. Schließlich und endlich muß Keynes nach langatmigen Erwägungen dies auch selbst zugeben. 571

Wenn es aber im Kapitalismus keine vernunftgemäße Grundlage f ü r die „Erwartung" gibt und geben kann — wodurch werden dann die Berechnungen der einzelnen Firmen bestimmt, die Kapitalien in der Produktion anlegen? Keynes kommt zu dem Schluß, daß diese Berechnungen nichts anderes sind als rein psychologische Faktoren, denen die Stimmung der Unternehmer zugrunde liegt. Unter den Bedingungen des Kapitalismus wird, wie er schreibt, „der Markt Wellen von Optimismus und Pessimismus ausgesetzt sein, die unvernünftig und doch in einem Sinne gerechtfertigt sind, wenn keine solide Grundlage f ü r eine vernunftgemäße Berechnung besteht". Die Tätigkeit des Privatunternehmers, meint Keynes, ist abhängig vom „spontanen Optimismus". „ . . . Wenn die Lebensgeister abgekämpft werden . . . wird die Unternehmerlust welken und sterben." Ergibt sich hieraus nicht ganz klar, daß man zur Erhöhung der Marktkonjunktur und zur Vergrößerung der Investitionen vor allen Dingen die gute Laune der Kapitalisten gewährleisten und die entsprechenden Bedingungen f ü r sie schaffen muß? Darum schreibt Keynes auch, daß „wirtschaftlicher Aufschwung übermäßig von einer politischen und gesellschaftlichen Stimmung abhängig ist, die dem durchschnittlichen Geschäftsmann zusagt". Wenn, fährt er fort, die Furcht der Monopolisten vor politischen Umwälzungen „die Lebenslust bedrückt, braucht dies weder auf eine vernunftgemäße Berechnung noch auf eine Verschwörung in politischer Absicht zurückzuführen sein — es ist lediglich die Folge einer Störung der empfindlichen Gleichgewichtslage des . spontanen Optimismus. In der Schätzung der Aussichten einer Investition müssen wir daher die Nerven und Hysterien, sogar die Verdauung und die Wetterabhängigkeit jener berücksichtigen, auf deren Tätigkeit sie zum großen Teil angewiesen ist." Was folgert nun Keynes aus seinen Untersuchungen? Wenn dem so ist, so ist das kapitalistische System nicht — wie die bürgerliche Ökonomie f r ü h e r behauptet hatte — ein System, das in sich selbst die Ausgleichstendenz zur Sicherung der Vollbeschäftigung trägt. Es sei nicht so, meint Keynes, daß das Wirtschaftssystem sich selbst überlassen, automatisch eine effektive Nachfrage hervorbringt, die ausreicht, die Produktion der Industrie auf dem Niveau der Vollbeschäftigung zu absorbieren. Die Tatsache, daß die Menschen sich der konsumtiven Verausgabung eines gewissen Teiles ihres Einkommens enthalten, schafft noch nicht ohne weiteres eine entsprechende neue Nachfrage f ü r Investitionsgüter. Im Gegenteil entmutigt die Bereitschaft zu sparen gerade die Investition nach seiner Aussage, da sie zu einer Marktkontraktion führt, die keinerlei stimulierende Wirkung auf die Kapitalisten in Richtung auf Ausdehnung ihrer Investitionen und einen Ausgleich der zurückgegangenen Konsumausgaben enthält. Die Konsequenz ist daher, daß die marktwirksame Nachfrage sinkt, die Preise fallen und die wirtschaftliche Aktivität sich vermindert, die Profite fallen und die Arbeiter aufs Pflaster geworfen werden. Alle Arten von Einkommen vermindern sich, und das ganze Wirtschaftssystem spielt sich auf ein niedrigeres'Niveau ein, 572

wobei eine große Zahl von Arbeitskräften unbeschäftigt bleiben. So ist es nach Keynes nicht n u r möglich, sondern sogar ganz normal, daß das gesamte System in rückläufige Bewegung gerät und einen neuen „Gleichgewichtsstand" auf einer Stufe findet, wo Millionen von Arbeitern in Beschäftigungslosigkeit verharren. Die Primitivität der Argumentation von Keynes liegt auf der Hand. Die Theorie von Keynes läuft darauf hinaus, daß mit der Steigerung des Einkommens zwar auch der persönliche Verbrauch wächst, jedoch nicht im gleichen Ausmaße, so daß der Anteil der Ausgaben f ü r den persönlichen Verbrauch sinkt und der Prozentsatz der Ersparnisse entsprechend steigt. Keynes stellt nicht die Frage nach den Wurzeln dieses „Gesetzes", nach den historischen Grenzen, nach seiner durch die antagonistischen Verhältnisse bedingten Verteilung der bürgerlichen Gesellschaft. — Es genügt, dieses „Gesetz" als ewige Notwendigkeit, die den Eigenheiten der menschlichen Natur entspringt, zu behandeln, als unabänderliches psychologisches Gesetz, das mit dem viel gerühmten Gossenschen Gesetz vom. abnehmenden Nutzen auf einer Ebene liegt. Selbst bürgerliche Ökonomen sahen sich gezwungen, auf die Fehlerhaftigkeit dieser Theorie hinzuweisen. So wird z. B. darauf hingewiesen, daß „das Gesetz von Keynes" untrennbar mit dem herrschenden System der Verteilung verbunden sei, mit der Konzentrierung großer Einkommen in den Händen der Aktiengesellschaften, die einen beträchtlichen Teil dieser Einkommen f ü r die Bildung von Kapital verwenden. Es wird bemerkt, daß, wenn nicht derartige große Vermögensunterschiede beständen, die von Keynes aufgestellte Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Konsumtion in Wegfall käme. Der Hauptfehler der Keynesschen Lehre von der Konsumtion liegt in der Ignorierung der Klassennatur des Verbrauchs, in der bürgerlichen Gesellschaft. Er stellt ein einheitliches Gesetz der Konsumtion f ü r alle Elemente fest und „vergißt" dabei, daß der Verbrauch der Arbeiter eine ganz andere Natur hat als der Verbrauch der Kapitalisten. Der Verbrauch der Arbeiter ist dem Wertgesetz der Arbeitskraft, der relativen und absoluten Verelendung unterworfen. Der Verbrauch der Kapitalisten hingegen wird durch das Ausmaß des Mehrwertes bestimmt, das den Kapitalisten das Wachsen ihres Reichtums bei gleichzeitiger Zunahme der Kapitalakkumulation garantiert. An Stelle des qualitativen Unterschiedes in den Bedingungen der Konsumtion der einzelnen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft konstatiert Keynes nur einen quantitativen Unterschied in bezug auf den Anteil des Spareinkommens. Keynes unterstreicht besonders die Tatsache, daß die Geldakkumulation keineswegs immer ein Anwachsen der Akkumulation f ü r produktive Zwecke bedeutet. Die Strafpredigt, die Keynes gegen die Geldakkumulation richtet, 573

spiegelt die Tatsache wider, daß in der Epoche der allgemeinen Krise des Kapitalismus sich eine große Menge untätigen Kapitals entwickelt, das weder f ü r die Konsumtion noch f ü r die Erweiterung der Produktion eingesetzt werden kann. Keynes sieht das Hauptübel im Ansteigen der Geldakkumulation oder der Ersparnisse. Er betrachtet die Ersparnisse als Unterschlagung gesellschaftlicher Kaufkraft. Indem er den Kampf gegen die Ersparnisse zuspitzt, hält es Keynes f ü r notwendig, so reaktionäre Ideologen der verschwenderischen Konsumtion wie Malthus auf den Schild zu heben. Er beschuldigt die wirkliche Wirtschaftswissenschaft einer Unterschätzung von Malthus, der sehr wohl die richtigen Thesen in der Politik mit Ricardo bezüglich der Märkte verteidigt hat. Keynes hält es f ü r unerläßlich, alle Arten der Konsumtion anzuregen, auch die verschwenderischsten und widerspruchsvollsten. Wenn Keynes die ungenügende „wirksame Nachfrage" und vor allem die ungenügenden Investitionen als Ursachen f ü r die Arbeitslosigkeit bezeichnet, so sucht er damit den Kapitalismus zu verteidigen und den Werktätigen den Gedanken zu suggerieren, daß es möglich sei, die Arbeitslosigkeit unter den Bedingungen des Kapitalismus zu überwinden. Aber die Arbeitslosigkeit ist vom Kapitalismus nicht zu trennen. Die Reservearmee der Arbeit macht dem Kapital die Hände frei und ist gleichzeitig f ü r die Kapitalisten ein wirksames Mittel, um auf die Arbeitsbedingungen der in Arbeit Stehenden einen Druck auszuüben und die Löhne zu senken. Stalin sagt: „ . . . kein einziger Kapitalist wird doch jemals f ü r eine völlige Liquidierung der Arbeitslosigkeit zu haben sein; er wird um keinen Preis auf eine Abschaffung der Arbeitslosenreservearmee eingehen, deren Bestimmung es ist, auf den Arbeitsmarkt zu drücken, billiger bezahlte Arbeitskräfte zu stellen." 1 ) Die Arbeitslosigkeit hat ihre Wurzeln im Wesen des Kapitalismus selbst und man kann sie im Rahmen des Kapitalismus nicht beseitigen. Hieraus ergibt sich ganz eindeutig, daß alle Rezepte, die die Beseitigung der Arbeitslosigkeit unter Beibehaltung des Kapitalismus versprechen, den Zweck haben, die Werktätigen zu betrügen. Um die Arbeitslosigkeit zu liquidieren, muß man die kapitalistische Ordnung liquidieren. Das hat die welthistorische Erfahrung des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR bestätigt. Wenn Keynes als Ursache f ü r die Arbeitslosigkeit den Mangel an Investitionen bezeichnet, so geht er dabei von der Annahme aus, daß das vorhandene Grundkapital nicht ausreicht, um alle Arbeiter in die Produktion einzubeziehen. Diese Annahme steht jedoch in diametralem Gegensatz zur Wirklichkeit. Es ist doch so, daß in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus neben der chronischen Massenarbeitslosigkeit auch eine gewaltige chronische Nichtauslastung der Betriebe besteht. Das Bestehen d e r *) J. W. Stalin, „Fragen des Leninismus", 10. Auflage, Moskau 1938, S. 820.

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chronischen Nichtauslastung der Betriebe neben der Arbeitslosigkeit e n t zieht der Grundthese von Keynes, daß angeblich an allem der Mangel a n Investitionen schuld ist, jede Grundlage.

3. Die sogenannte

„Paradoxie

des

Kapitalprofits"

Oft wird behauptet, daß es in der modernen bürgerlichen Ökonomie — trotz der Vielfalt ihrer „Lehrmeinungen" — einige Grundaussagen gibt, die allgemein anerkannt seien. Zu diesen Aussagen gehört zweifellos die von bürgerlichen Volks- und Betriebswirten v e r t r e t e n e Auffassung, daß im sogenannten Marktgleichgewicht die „Kosten" gleich den Preisen seien, also „Gewinn" nicht erzielt werde! In der Tat wird durch diese „allgemein a n erkannte" Aussage das Grundproblem der kapitalistischen Produktionsweise: Wie ist auf der Grundlage des Austausches von Äquivalenten der K a p i t a l profit möglich? — kurzerhand beiseite geschoben. Indem m a n den Durchschnittsprofit zu den „Kosten" rechnet, reduziert m a n das Problem des M e h r wertes auf den Surplusprofit. Aber selbst dieser Surplusprofit ist noch ein sehr unbequemes Problem, und man hat daher auch f ü r ihn sehr „plausible" Erklärungen zu finden sich bemüht. Eine dieser Erklärungen des Surplusprofits geht auch auf Keynes zurück. Bei diesen Erklärungen handelt es sich f ü r die bürgerlichen Ökonomen im Prinzip u m zwei Fragen: einmal wollen sie zeigen, daß der von ihnen als „Gewinn" bezeichnete Surplusprofit auf eine „Leistung" des U n t e r n e h m e r s zurückzuführen ist, also mit dem M e h r w e r t und seiner Quelle, die unbezahlte Arbeit der Lohnarbeiter, nichts zu t u n hat, und zweitens bemühen sie sich, diesen als „Gewinn" bezeichneten Surplusprofit als den Profit schlechthin zu verallgemeinern, u m so auch die letzte E r i n n e r u n g an den Mehrwert u n d seine Quelle im Bewußtsein der bürgerlichen Ökonomie auszulöschen. Die Keynessche „Erklärung" des Surplusprofits findet sich in seinem Buch „Vom Gelde". 1 ) Keynes stellt in diesem Buche zwei „Grundgleichungen" auf, von denen die erste Grundgleichung das Preisniveau der „liquiden K o n s u m güter", die zweite Grundgleichung das Preisniveau der „gesamten Erzeugung" bestimmen soll.2) Keynes stellt zwar selbst ausdrücklich fest, „daß alle diese Gleichungen rein formaler N a t u r sind", daß sie „bloße Indentitäten, Gemeinplätze" seien, „die n u r als solche nichts sagen". 3 ) Der einzige Zweck solcher Gleichungen sei, meint Keynes, „unser Material in einer Weise zu analysieren und zu ordnen, die sich zwecks Auffindung von Ursache und Wirkung als nützlich *) München und Leipzig 1932. 2 ) A. a. O., S. 111 und S. 112. 3 ) Ebd., S. 113. 575

erweisen wird, wenn wir unsere Gleichungen Leben einhauchen durch Einführung von Faktur aus der wirklichen Welt". 1 ) Aber Keynes benutzt diese Gleichungen nicht nur als formale Aussagen, Identitäten, sondern er leitet aus ihnen materielle Aussagen von weittragender Bedeutung ab. Er leitet aus ihnen Aussagen über die Höhe der Gewinne, der Produzenten von Konsumgütern und über die Höhe der Gewinne der Produzenten von „Investitionsgütern" und über die Höhe der Gesamtgewinne ab. Hieraus ergibt sich für Keynes — „im Vorbeigehen" — „eine Eigenart der Gewinne (oder Verluste).. ., weshalb es notwendig ist, die Gewinne von dem eigentlichen Einkommen als eine besondere Kategorie zu unterscheiden". 2 ) Worin besteht diese von Keynes „im Vorbeigehen" festgestellte „Eigenart der Gewinne oder Verluste" der Unternehmer, die aus den formalen, nichtssagenden Gleichungen sich ergibt? Diese Eigenart der Gewinne oder Verluste der Unternehmer besteht darin, daß „die Gewinne, als eine Quelle der Kapitalakkumulation bei den Unternehmern, unerschöpflich wie der Krug der Witwe" sind, „wieviel davon auch immer einer ausschweifenden Lebensführung dient". 3 ) Wenn die Unternehmen auch einen Teil ihrer Gewinne aus dem Verkauf liquider Konsumgüter genau um den Betrag der Gewinne für den Konsum verwenden, so erhöht dies „den Gewinn, der auf diese Weise verausgabt worden ist". 4 ) In der Tat: Das ist alles andere als eine „formale" Aussage! „Welchen Teil ihrer Gewinne demnach die Unternehmer auch für den Konsum verwenden, der Vermögenszuwachs zugunsten der Unternehmer bleibt der gleiche wie zuvor." 5 ) Und umgekehrt: wenn „die Unternehmer Verluste erleiden und versuchen, diese Verluste durch Einschränkung ihres normalen Verbrauchs, das heißt durch erhöhtes Sparen, wieder einzuholen, so wird der Krug zu einem Faß der Danaiden, das nie gefüllt werden kann". 6 ) Die Wirkung der durch das Sparen der Unternehmer „verminderten Verbrauchsaufwendung" besteht jetzt nämlich darin, „den Produzenten von Konsumgütern einen Verlust von gleicher Höhe zuzufügen". 7 ) Das bedeutet, daß — „wenn man die ganze Unternehmerschaft heranzieht" — trotz dem Sparen die Vermögensminderung genau so groß „wie zuvor" ist.8)

2) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

576

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S. S. S.

113. 113. 113. 113. 113. 113/114. 114. 114.

Diese Aussagen, die Keynes aus seinen Grundgleichungen ableitet, sind — wie m a n sieht — alles andere als formaler N a t u r ! Sie sind sogar, w e n n sie richtig sind, von ziemlich weittragender Bedeutung. Das ist auch von einigen bürgerlichen Autoren durchaus verstanden worden. So zieht Erich Schneider die Folgerungen hieraus, indem er feststellt, daß „das von den U n t e r n e h m e r n insgesamt erzielte Einkommen (der Gewinn der Unternehmer) von der G r u p p e der U n t e r n e h m e r durch ihren K o n s u m selbst geschaffen wird. 1 ) Der Unternehmergewinn ist — mit anderen Worten — „dem Wert des Unternehmerkonsums g l e i c h . . . und durch diesen K o n s u m ü b e r h a u p t erst geschaffen . . ."2) Das ist zweifellos eine sehr weittragende Erkenntnis, denn w a s k a n n m a n gegen eine solche Wirtschaftsordnung wohl noch sagen, wo der K o n s u m der Unternehmer das Einkommen dieser Klasse schafft? Wilhelm Lautenbach spricht daher auch v o m „Paradoxon des Kapitalprofits". Dieses „Paradoxon des Kapitalprofits" besteht nach Lautenbach in folgendem: „Die Vermögensbildung, die ,Ersparnis' der U n t e r n e h m e r insgesamt w i r d (in der geschlossenen Wirtschaft) nicht davon b e r ü h r t , ob sie wenig oder viel verbrauchen." Was soll m a n dem noch hinzufügen? Nicht n u r der Wert der Güter entsteht aus der Bedeutung, die der Konsument ihnen beimißt — die Eigentümer der kapitalistischen Produktionsmittel produzieren ihr Einkommen, indem sie konsumieren. Es ist notwendig, dieses — von Keynes „im Vorbeigehen" „Paradoxon des Kapitalprofits" etwas n ä h e r zu beleuchten.

gewonnene

Keynes stellt fest, daß Q = I —S, d. h. „die Gesamtgewinne aus der Erzeugung als G a n z e s . . . gleich der Differenz zwischen dem Wert der Neuinvestition u n d den Ersparnissen" sind. 3 ) Für Q „ d. h. f ü r „die Höhe d e s . . . Gewinnes aus der Produktion u n d den Verkauf von Konsumgütern" 4 ) gibt Keynes Q t = I' — S und f ü r Q 2 , „Gewinne a u s Investitionsgütern", 5 ) Q 2 = I — I'. Keynes versteht also unter „Gewinn" hier eine Diskrepanz zwischen Geldkapitalbildung und Bildung von produktivem Kapital. „Gewinn" ist nach Keynes, w e n n die Bildung von produktivem Kapital die Geldkapitalbildung übersteigt. 1

) ) 3 ) 4 ) 5 ) 2

A. a. O., S. 57, Einführung in die Wirtschaftstheorie, Tübingen 1947. Ebd., S. 59. Das gilt nur für die geschlossene Wirtschaft. A. a. O., S. 113. Ebd., S. 112. Ebd., S. 11.

37 Behrens

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„Verlust" ist nach Keynes, wenn die Bildung von Geldkapital die Bildung von produktivem Kapital übersteigt. Bezeichnen wir die Differenz zwischen I und S mit „d", so ist ± d = I — S. Ist diese Differenz positiv, so bedeutet dies, daß mehr investiert als gespart wird. Das bedeutet aber, daß eine Ausdehnung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses über das vorhandene Geldkapital hinaus stattfindet, d. h., daß der Kredit überspannt wird. In diesem Fall ist das Preisniveau nicht „stabil", sondern die Preise steigen, weil die Nachfrage größer als das Angebot ist, und zwar steigen die Preise je nach der konkreten Situation auf allen Märkten oder nur auf einigen Märkten gleich oder in verschiedenem Grade. Ist die Differenz negativ, so bedeutet das, daß die Investitionen hinter der Akkumulation von Geldkapital zurückbleiben, daß also Kreditreserven vorhanden sind. Auch in diesem Fall ist das Preisniveau nicht „stabil", sondern die Preise sinken, weil das Angebot größer als die Nachfrage ist, und zwar wieder je nach der konkreten Situation verschieden. Im ersten Falle geht W' — G' und W — G reibungslos und schnell vonstatten, weil die Nachfrage allgemein größer als das Angebot ist. Im zweiten Fall wird W' — G' stockend vor sich gehen, aber noch stockender W — G, weil die Nachfrage hinter dem Angebot zurückbleibt. Die Differenz „d" ist also weder „Gewinn" noch „Verlust", sondern der — positive oder negative — Teil des Geldkapitals, der entweder zuviel oder zuwenig in die produktiven Elemente des Kapitals — Produktionsmittel und Arbeitskraft — verwandelt wird. Sie ist das Maß f ü r die Disproportion zwischen I und S, die entweder durch die reale Entwicklung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses selbst oder durch den Geld- und Kreditprozeß herbeigeführt wird. Diese Differenz hat selbstverständlich mit dem Surplusprofit sowenig wie mit dem Profit überhaupt zu tun. Sie mit dem „Gewinn" gleichzusetzen, ist nur möglich f ü r eine „Wissenschaft", die nicht nur die eigentlichen Probleme völlig aus den Augen verloren hat, sondern die mit allen Kräften bemüht ist, die Widersprüche der Produktionsweise, die sie erklären - sollte, zu vernebeln! Nun ist die Proportion I = S bekanntlich, wie alle Proportionen der kapitalistischen Produktionsweise, nur eine solche im Durchschnitt. In der Depression ist I < S, und in der Belebung und im Aufschwung ist I = S und I > S, so daß nur im Durchschnitt eines Krisenzyklus die richtige Proportion zwischen I und S hergestellt wird. Hinzu kommt, daß in der Krise alle verletzten Proportionen, also auch die Proportion von I und S, gewaltsam wiederhergestellt werden. Ist durch eine Überspannung des Kredits zuviel Geldkapital „gebildet" worden, so wird das Geldkapital durch die Kreditkrise auf das erforderliche Maß reduziert. In der kapitalistischen Volkswirtschaft ohne Kredit — die selbstverständlich nur theoretisch möglich ist — ist eine Disproportionalität zwischen S und I 578

nur denkbar durch eine Unterbrechung des Kreislaufes W' — G' — W < AK Mit der Entwicklung des Kreditwesens jedoch ist — je nach der Währungsverfassung — eine gewisse Ausweitung des Geldumlaufes durch Kreditüberspannung möglich, die die im Aufschwung des Krisenzyklus sich herausbildenden Disproportionen der kapitalistischen Produktion noch vertieft, indem sie die Nachfrage noch weiter über das durch die Produktion gegebene Ausmaß hinaustreibt. J e größer diese „Kreditausweitung" ist, die die Diskrepanz zwischen S und I erhöht, um so schwerer wird der Rückschlag in Krise und Depression sein, in der die erforderlichen Proportionen der gesellschaftlichen Produktion wiederhergestellt werden müssen. Die notwendige Proportion zwischen S und I ist also nur eine der erforderlichen Proportionen und ihre Störung einer der notwendig sich aus dem Grundwiderspruch des Kapitalismus sich ergebenden Widersprüche, die zur Krise führen und in ihr ausgeglichen werden — oder ausgeglichen werden sollten! Es ist aber absolut nicht einzusehen, wann und wieso eine positive Differenz zwischen der Bildung von produktivem Kapital und der Bildung von Geldkapital „Gewinn", eine negative Differenz „Verlust" darstellen soll — ganz abgesehen davon, daß die Formeln von Keynes überhaupt nicht sinnvoll zu interpretieren sind, sondern ganz einfach sinnlose Formeln sind. Warum soll der Gewinn der Abteilung II der Produktion gleich der Differenz zwischen Investitionsrate und Produktion der Abteilung I der Wirtschaft sein? Warum soll der Gewinn der Abteilung I der Produktion gleich dem Produkt der Abteilung I minus Sparquote der gesamten Wirtschaft sein? Beide Formeln sind nicht nur „nichtssagend", wie I. M. Keynes selbst feststellt, sie sind sinnlos! Ja, sie sind falsch! Wenn die Unternehmer einen größeren Teil ihrer „Gewinne", statt sie zu akkumulieren, konsumtiv verwenden, so vermindert das — wie Keynes ganz richtig feststellt — die Spartätigkeit •— das ist j a schließlich dasselbe! —; aber warum soll das zu einer Erhöhung der Differenz zwischen den „Produktionskosten der Neuinvestition, d. h. Pm, und der Sparquote führen"? Die „umwälzenden neuen" Erkenntnisse von Keynes bestehen im Grunde darin, 4 a ß er den Prozeß der Akkumulation von Kapital, der Verwandlung von Mehrwert in Kapital, auf Grund der Entwicklung des modernen Kreditwesens in die beiden Phasen der Bildung von Geldkapital und der Verwandlung dieses neugebildeten Geldkapitals in produktives Kapital, Produktionsmittel und Arbeitskräfte, zerlegt. Diese Unterscheidung der beiden Phasen der Akkumulation ist in der Tat möglich und notwendig, aber schon in der Marxschen Kreislaufformel des Kapitals enthalten. Die Akkumulation von Geldkapital, die Verwandlung von Profit in Kapital, erfolgt nach Abschluß der Zirkulation W' — G', d. h. nach der Realisierung des Wertes der Waren und des darin enthaltenen Mehrwertes. Die Verwandlung des Geldkapitals, und zwar des alten und des neuen Geldkapitals, in produktives Kapital ist 37«

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die Eröffnungsphase G — W eines neuen Kapitalkreislaufes. Hierin, in dem Auseinanderfallen von W' — G' und G — W, liegen bekanntlich schon die Möglichkeiten der krisenhaften Störungen des Prozesses, f ü r w a h r keine „neue" Entdeckung! Die gesamte von der bürgerlichen Ökonomie als so umwälzend empfundene Keynessche Theorie — das gilt nicht nur von seiner Schrift „Vom Gelde" — ist, soweit wirklich positive Erkenntnisse darin enthalten sind, entweder von Marx bereits ausgesprochen oder in der Marxschen Theorie enthalten. Aber diese positiven Erkenntnisse Keynes' sind sehr mager, seine Irrtümer dafür um so grotesker! Das „Paradoxon des Kapitalprofits" läuft also nicht bloß — wie man erst anzunehmen geneigt sein könnte — einfach auf „nichtssagende" Formeln hinaus, es läuft auf recht primitive Verwechslungen realer Gleichungen des Volkseinkommens und des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses hinaus. Das Paradoxon des Kapitalprofits besagt nichts weiter, als daß — wenn die Proportion I = S nicht gestört ist •— der Teil des Volkseinkommens — V —, der konsumtiv verwendet wird — A —, wächst, wenn weniger gespart wird, daß er sinkt, wenn mehr gespart wird. Es besagt weiter nichts, als daß — wenn die Proportion I = S gewahrt bleibt — die Investitionsrate I um so größer ist, je kleiner A bei gegebenem V. Die „berühmte" Keynessche Gleichung S = I ist also weit davon entfernt, die Grundlage einer Krisentheorie abzugeben. Sie ist in den Proportionen enthalten, die sich aus der Marxschen Analyse des Reproduktionsprozesses des Kapitalismus ergeben. Die Folgerungen, die Keynes hier und anderswo aus ihr ableitete, beruhen auf Irrtümern und sind falsch!

4. Kritik des

Keynesianismus

Die bürgerlichen Dogmenhistoriker erkannten natürlich die Wendung in den Hauptaufgaben der bürgerlichen Ökonomie von der Vertuschung und Verschleierung der schreienden Widersprüche des Kapitalismus in der Periode seiner allgemeinen Krise zum Versuch, Maßnahmen zu seiner Heilung und Verbesserung zu finden, die Keynes zum Ausdruck bringt. „Keynes gehört nicht zu den Sozialisten", meint Tautscher, „obwohl er wie diese das laissezfaire-Prinzip ablehnt und wesentliche Einwände gegen die hergebrachte Theorie der Klassiker vorbringt. Wegen seines Vorschlages, die immer wieder anfallende Arbeitslosigkeit durch staatliche Lenkungsmaßnahmen zu beheben und nicht mehr eintreten zu lassen, nähert er sich aber der planwirtschaftlichen Richtung. Und als Vertreter dieser Gruppe kann er auch in diesem Rahmen genannt werden." 1 ) ») A. a. O., S. 163. 580

Die Einschätzung Lenins w u r d e schon zitiert. Keynes w a r immer ein geschworener Gegner der revolutionären Arbeiterbewegung und des M a r x i s m u s Leninismus, den er allerdings noch viel weniger verstand als manche andere bürgerliche Ökonomen, in deren Werken m a n wenigstens manchmal einen schwachen Abglanz eines solchen Verständnisses findet. „Der marxistische Sozialismus wird immer eine crux in der Geschichte der Lehrmeinungen b l e i b e n . . . " , schreibt Keynes, „wie es möglich sein konnte, daß eine so u n logische und so langweilige Lehre einen so mächtigen und dauernden Einfluß auf den Geist der. Menschen und durch ihn auf den Gang der Geschichte a u s zuüben vermochte." Die Keynessche Apologetik dient als ideologische Hechtfertigung des der allgemeinen Krise des Kapitalismus eigenen hochentwickelten staatsmonopolistischen Kapitalismus und seiner Kriegspolitik. Sämtliche von Keynes vorgeschlagenen M a ß n a h m e n zur sogenannten „Verbesserung" des Kapitalismus sind ausnahmslos berechnet f ü r eine immer stärkere und stärkere Ausnutzung des Apparates 'des bürgerlichen Staates seitens des Monopolkapitalismus als eine der wichtigsten Waffen zur V e r s t ä r k u n g seiner H e r r schaft und der Sicherung der maximalen Profite auf Kosten einer i m m e r mehr vorangetriebenen Offensive auf das Lebensniveau der eigenen W e r k tätigen und der Werktätigen anderer Länder. Was ist das von Keynes entworfene P r o g r a m m ? Es ist ein P r o g r a m m zur staatlichen „Lenkung" des Wirtschaftslebens im Interesse der Monopolkapitalisten, ein P r o g r a m m des Krieges u n d der R e a k tion, ein P r o g r a m m des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Der staatsmonopolistische Kapitalismus ist natürlich keine Erfindung von Keynes. Das Verwachsen der Monopole mit dem bürgerlichen Staat —• wobei die Monopole die F ü h r u n g in der Hand hatten — und die staatliche „Lenkung" des W i r t schaftslebens im Interesse eines kleinen Kreises von Monopolisten h a t t e sich in Deutschland und in anderen Ländern, d a r u n t e r auch in Großbritannien, schon lange vor Erscheinen des Keynesschen Buches vollzogen. Lenin h a t schon über den ersten Weltkrieg gesagt, daß dieser Krieg hinsichtlich der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus etwas bewirkte, „was in 25 J a h r e n nicht bewirkt wurde. Die Verstaatlichung der Industrie ist nicht n u r in Deutschland fortgeschritten, sondern auch in England." 1 ) So w a r also die staatliche Einmischung in das Wirtschaftsleben in den kapitalistischen Ländern schon vor Veröffentlichung der Keynesschen Rezepte in der Praxis weithin üblich. Keynes' Rolle bestand n u r darin, daß er in seinem Buche das, was bereits Wirklichkeit war, vom Stand der monopolistischen Bourgeoisie aus darstellte u n d theoretisch begründete. Hierbei ist Keynes ebenso wie alle anderen Verfechter des Kapitalismus b e m ü h t , seiner Arbeit einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben u n d das von ihm ») Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XX, 1. Halbbd., S. 333. 581

entwickelte, auf Bereicherung der Monopolherren und Unterdrückung der Werktätigen hinauslaufende Programm als ein den Interessen der W e r k tätigen dienendes, die Ausmerzung von Krisen und Arbeitslosigkeit ermöglichendes Programm hinzustellen. Was ist Keynes, und was stellt seine Theorie dar? Keynes ist der Apologet des monopolistischen Kapitalismus und der Ideologe des staatsmonopolistischen Kapitalismus im allgemeinen und des britischen im besonderen. Die Besonderheiten der Entwicklung des britischen Imperialismus kommen in einigen nationalen Zügen der Keynesschen Apologetik zum Ausdruck, vor allem in der Valutafrage und in dem Reformismus, der sich aus der Verknüpfung mit dem für England typischen stark entwickelten Opportunismus in der Arbeiterbewegung ergibt. Der „Umbau" der modernen bürgerlichen Ökonomie in der Richtung der Veränderung des Inhalts der bürgerlichen Apologetik und der Veränderung der Methoden in der Erfüllung der vor ihr stehenden neuen Aufgaben drückt sich aus in der Tendenz der modernen bürgerlichen Ökonomie, auf einige, für die bürgerlichen Theorien traditionellen Dogmen zu verzichten •— daß jede Arbeitslosigkeit sich als eine „freiwillige" erweist, dagegen die ökonomischen Krisen — als zufällige, und den Ersatz derselben mit einem neuen Dogma, der Bestätigung, daß der bürgerliche Staat durch seine Einmischung in die Wirtschaft in der Lage ist, die Entwicklung des ökonomischen Lebens zu regulieren, und insbesondere befähigt ist, die Arbeitslosigkeit und Krisen zu liquidieren. Sie drückt sich weiterhin aus in der Anwendung von raffinierten Methoden der Maskierung des tatsächlichen klassenmäßigen Inhalts der erfundenen „Theorien". Das zeigt sich u. a. darin, daß die Apologie des Kapitalismus und der Interessen des Monopolkapitals von den bürgerlichen Ökonomisten unter der falschen Flagge des „Kampfes" mit den Mängeln des Kapitalismus, der Verteidigung der Demokratie und Erhaltung der Freiheit der Persönlichkeit usw. geführt wird. Diese Veränderung drückt sich aus in banalen apologetischen, reformistischen Ideen, die dazu bestimmt sind, das Proletariat vom revolutionären Kampf abzulenken. Die moderne kapitalistische Wirklichkeit enthüllt daher auch am besten den Inhalt der Keynesschen Apologetik. Das spüren auch manche bürgerlichen Ökonomen. So schließt Hanns-Joachim Rüstow sein Buch „Theorie der Vollbeschäftigung in der freien Marktwirtschaft" 1 ) mit den Worten: „Der Aufgabe, zu zeigen, daß die freie Marktwirtschaft in der Lage ist, nicht nur die optimale Lenkung der Güterproduktion und -Verteilung in Anpassung an den Bedarf, sondern auch die Anpassung der Arbeitsplätze an die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte zu bewirken, kann geradezu schicksalhafte Bedeutung zukommen. Denn ohne Lösung dieser Aufgabe würde die wirtschaftliche und mit ihr die politische menschliche Freiheit Tübingen 1951. 582

ernstlich bedroht sein. Ohne ein Programm der Vollbeschäftigung muß der Kampf gegen Kommunismus, Kollektivismus, Bolschewismus und Diktatur aussichtslos erscheinen" (S. 328). Nun — obwohl ein solches „Programm" der Vollbeschäftigung existiert, ist dieser Kampf, den die bürgerlichen Ökonomen verschleiert unter der Maske der menschlichen Freiheit gegen den Kommunismus und die Staaten, in denen die Herrschaft der Arbeiter und Bauern verwirklicht ist, führen, aussichtslos. Das zu sehen, ist gar nicht einmal so schwer. Wenn man nämlich dies „Programm" der Vollbeschäftigung nur näher betrachtet, dann begreift man sehr schnell, warum dieser Kampf der Reaktion gegen den Fortschritt nicht nur aussichtslos „erscheint", sondern es in der Tat auch ist. Das von den Keynesanhängern gepredigte Programm der Lenkung der Wirtschaft im Interesse der Monopolisten wurde nach dem zweiten Weltkrieg sowohl in den USA als auch in Großbritannien in verstärktem Maße verwirklicht. Der Prozeß des Verwachsens der Monopole mit dem Staatsapparat hat in diesen Ländern weitere Fortschritte gemacht. Der bürgerliche Staatsapparat, der das Instrument eines kleinen Häufleins von Monopolisten geworden ist, „lenkt" das Wirtschaftsleben zugunsten der mächtigsten Kapitalmagnaten. Ein wichtiger Faktor dieser „Lenkung" ist das für Friedenszeiten beispiellose Kriegsbudget. Die aufgeblähten Militärbudgets in den kapitalistischen Ländern sind die Ursache für das Anwachsen der Staatsinvestitionen sowie einer durch die ungeheuren Rüstungsaufträge, die Zuschüsse aus der Staatskasse und die beispiellosen Uberprofite gesteigerten „Konsumneigung" der Monopolisten nach solchen öffentlichen Investitionen. Die beispiellose Bereicherung der Monopolkapitalisten an Rüstungslieferungen ist eine Folge der staatlichen „Eingriffe" in den Wirtschaftskreislauf, die von eigens zu diesem Zweck eingerichteten, von Vertretern der größten Monopolgesellschaften geleiteten rüstungswirtschaftlichen Organisationen ausgeübt werden. Daraus erklärt es sich, daß die Preise bei diesen Aufträgen auch immer so „reguliert" werden, daß sie nicht den „Optimismus" der die Staatskasse plündernden Auftraggeber beeinträchtigen. Es ist daher auch kein Wunder, daß der Verteidiger der „Freizügigkeit der wirtschaftenden Menschen", der „Bundesminister" Professor Erhard, die Gründung eines Arbeitskreises der deutschen Industrie für Rüstungsaufgaben förderte. Die deutsche Industrie wolle die bei einer Aufrüstung entstehenden Aufgaben „in eigener Verantwortung" lösen, wurde vom Bundesverband der Deutschen Industrie erklärt, als 1953 dieser Arbeitskreis für Rüstungsfragen gebildet wurde, der sich mit „Grundsatz- und Koordinierungsfragen" befassen soll, während die Aufgaben technischer Art von Arbeitsgruppen behandelt werden sollen. „Diese organisatorischen Maßnahmen werden als. notwendig angesehen, damit Störungen in der Wirtschaft durch die Hereinnahme von Rüstungsaufträgen vermieden werden" (Kurier, 13. Januar 1954). 583

Wer würde in der Tat daran zweifeln, daß die deutschen Industriellen, lies Monopolkapitalisten, in „eigener Verantwortung" die „Marktwirtschaft" wieder so koordinieren werden, daß ihre maximalen Profite gesichert sind, wenn es die Arbeiterklasse zuläßt? Denn für die Arbeiterklasse und alle übrigen werktätigen Schichten bedeuten die nach dem Muster von Keynes aufgestellten Programme steigende Ausbeutung, Ruinierung und schließlich Blut, Elend und Tod. Das Geschwätz über die Möglichkeit der Liquidierung der Krisen und der Arbeitslosigkeit im Kapitalismus dient dabei nur als Vorwand, den tatsächlichen Inhalt der volksfeindlichen Programme zu verdecken. Die Enthüllung der Rolle des modernen bürgerlichen Staates ist eine unerläßliche Bedingung zur Aufdeckung des tatsächlichen Inhaltes des Keynesschen Programms des Übergangs zum sogenannten „geplanten" Kapitalismus, der an sich nichts anderes darstellt als eine neue Auflage des berüchtigten „organisierten Kapitalismus". Immer klarer stellt sich heraus, daß die Ideologie des Keynesianismus eine Ideologie der imperialistischen Reaktion und des Krieges ist. Nicht umsonst wurde Keynes' Theorie seinerzeit von den Nazis so begeistert aufgenommen, und nicht umsonst ist sie jetzt die Theorie der amerikanisch-britischen Kriegsbrandstifter. Bezeichnenderweise sind die Lehren Keynes' — diese Ideologie der monopolistischen Bourgeoisie — aber auch ganz nach dem Geschmack der rechten Sozialisten, so daß nicht nur die britische LabourParty in ihnen den Grundstein ihres Programms des „demokratischen Sozialismus" sieht. Die sogenannte Überwachung und Regelung staatlicher Investitionen ist schon seit langem in das Wirtschaftsprogramm der westdeutschen Gewerkschaften und rechten Sozialdemokratie eingegangen. Die Gewerkschaften sehen im Zinsmechanismus (das heißt in der Möglichkeit, durch Zinsheraufbzw. -herabsetzung die Unternehmer zur Kreditaufnahme für Investitionen zu veranlassen) ein zu schwaches Instrument. Sie fordern seit Jahren eine staatliche Investitionsplanung und gingen sogar so weit, im Jahre 1951 ein generelles Verbot für bestimmte individuelle Investierungen zu verlangen. Auch in den Leitsätzen der SPD forderte der Führer der rechten Sozialdemokraten, Erich Ollenhauer: „Das bisherige ungesunde Maß der Selbstfinanzierung von Investitionen aus Gewinnen ist zugunsten der Investitionsfinanzierung über die gemeinnützigen, die öffentlichen (Investitionsanleihen) und die Privatkapital-Sammelstellen einzuschränken." Schon im Jahre 1936 hatte Keynes gefordert: „Ich denke mir, daß eine ziemlich umfassende Sozialisierung der Investition sich als das einzige Mittel zur Sicherung einer annähernden Vollbeschäftigung erweisen wird." Nicht umsonst wurde Keynes' Buch seinerzeit von den Nazis begeistert aufgenommen, nicht umsonst ist es jetzt das Glaubenssymbol der amerikanisch584

britischen Kriegsbrandstifter. Bezeichnenderweise waren die Lehren Keynes' — diese Ideologie der monopolistischen Bourgeoisie — ganz nach dem Geschmack der rechten Sozialisten, bezeichnenderweise sah die britische Labour-Party in ihnen den Grundstein ihres Programms des „demokratischen Sozialismus".

SCHLUSSBEMERKUNG Die Aufgaben in der Deutschen

der politischen Demokratischen

Ökonomie Republik

Die politische Ökonomie ist eine wichtige Waffe im Befreiungskampf des deutschen Volkes, in seinem Kampf gegen die nationale Unterdrückung und in seinem Kampf um die soziale Befreiung auch in Westdeutschland. Sie umfaßt die Erkenntnisse, die die Menschen in der Gestaltung der materiellen Produktion ihres Lebensunterhalts sammelten, die Kampfeserfahrungen der unterdrückten Klassen gegen die Ausbeutung. Immer wieder versuchten die herrschenden Klassen diese Erkenntnisse zu trüben, die Kampfeserfahrungen zu verfälschen. Das Studium der politischen Ökonomie ist dabei nicht zu trennen von einer stetigen Auseinandersetzung mit solchen trübenden und verfälschenden Einflüssen auf die politische Ökonomie, vom Kampf um das wahre wissenschaftliche Erbe. Dieses wissenschaftliche Erbe wird gehütet und gepflegt von der Arbeiterklasse. In seiner Schrift über „Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophie" schrieb Engels im Jahre 1886: „Je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter." Wie können wir uns die Wahrheit obigen Ausspruches von Engels mehr klarmachen als dadurch, daß wir die Situation der Gegenwart betrachten! Die bürgerliche Gesellschaft, längst zum Untergang verurteilt, liegt im Sterben, und die sozialistische Gesellschaft, geboren in der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, hat sich bereits zu einer unbesiegbaren Macht entwickelt. Wohl noch nie hat es für politische Ökonomen, denen die Erforschung der Wahrheit wirklich das erste Anliegen ist, so gewaltiges Studienmaterial gegeben. Aber die bürgerlichen Ökonomen, erforschen sie die Wahrheit, müssen den Untergang der bürgerlichen und die Überlegenheit der sozialistischen Ordnung beweisen. Das zu tun verbietet ihnen ihr Klasseninteresse und der gesellschaftliche Auftrag, den sie von der Bourgeoisie erhielten. Die Arbeiterklasse allein, als die Klasse, die mit ihr jede Ausbeutung beseitigt, vertritt rücksichtslos die wissenschaftliche Wahrheit. Die politischen Ökonomen der Arbeiterklasse müssen als erste und wichtigste Aufgabe die Erkenntnisse der politischen Ökonomie des Marxismus585

britischen Kriegsbrandstifter. Bezeichnenderweise waren die Lehren Keynes' — diese Ideologie der monopolistischen Bourgeoisie — ganz nach dem Geschmack der rechten Sozialisten, bezeichnenderweise sah die britische Labour-Party in ihnen den Grundstein ihres Programms des „demokratischen Sozialismus".

SCHLUSSBEMERKUNG Die Aufgaben in der Deutschen

der politischen Demokratischen

Ökonomie Republik

Die politische Ökonomie ist eine wichtige Waffe im Befreiungskampf des deutschen Volkes, in seinem Kampf gegen die nationale Unterdrückung und in seinem Kampf um die soziale Befreiung auch in Westdeutschland. Sie umfaßt die Erkenntnisse, die die Menschen in der Gestaltung der materiellen Produktion ihres Lebensunterhalts sammelten, die Kampfeserfahrungen der unterdrückten Klassen gegen die Ausbeutung. Immer wieder versuchten die herrschenden Klassen diese Erkenntnisse zu trüben, die Kampfeserfahrungen zu verfälschen. Das Studium der politischen Ökonomie ist dabei nicht zu trennen von einer stetigen Auseinandersetzung mit solchen trübenden und verfälschenden Einflüssen auf die politische Ökonomie, vom Kampf um das wahre wissenschaftliche Erbe. Dieses wissenschaftliche Erbe wird gehütet und gepflegt von der Arbeiterklasse. In seiner Schrift über „Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophie" schrieb Engels im Jahre 1886: „Je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter." Wie können wir uns die Wahrheit obigen Ausspruches von Engels mehr klarmachen als dadurch, daß wir die Situation der Gegenwart betrachten! Die bürgerliche Gesellschaft, längst zum Untergang verurteilt, liegt im Sterben, und die sozialistische Gesellschaft, geboren in der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, hat sich bereits zu einer unbesiegbaren Macht entwickelt. Wohl noch nie hat es für politische Ökonomen, denen die Erforschung der Wahrheit wirklich das erste Anliegen ist, so gewaltiges Studienmaterial gegeben. Aber die bürgerlichen Ökonomen, erforschen sie die Wahrheit, müssen den Untergang der bürgerlichen und die Überlegenheit der sozialistischen Ordnung beweisen. Das zu tun verbietet ihnen ihr Klasseninteresse und der gesellschaftliche Auftrag, den sie von der Bourgeoisie erhielten. Die Arbeiterklasse allein, als die Klasse, die mit ihr jede Ausbeutung beseitigt, vertritt rücksichtslos die wissenschaftliche Wahrheit. Die politischen Ökonomen der Arbeiterklasse müssen als erste und wichtigste Aufgabe die Erkenntnisse der politischen Ökonomie des Marxismus585

Leninismus anwenden bei der Analyse der gegenwärtigen Situation. Sie müssen den Friedenskampf der Werktätigen gegen den Imperialismus unterstützen, indem sie die neuen Methoden der Ausbeutung und Unterdrückung enthüllen, die die imperialistische Bourgeoisie in ihrer panischen Angst vor ihrem nahen Untergang entwickelt. Hierzu gehört der Kampf gegen den Einfluß, den die bürgerliche Ökonomie noch ausübt. Die Arbeiten der bürgerlichen Ökonomen im Dienste des sterbenden und verfaulenden kapitalistischen Systems müssen analysiert und schlagkräftig widerlegt werden. Die Geschichte zeigt, wie auch die politische Ökonomie im Kampf mit den irrtümlichen und falschen Auffassungen der bürgerlichen Ökonomie entstanden ist und wie die Weiterentwicklung der politischen Ökonomie n u r in stetigem Kampf mit irrigen und falschen Auffassungen möglich ist.

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