Geschichte der politischen Ideengeschichte 9783848748655, 9783845289830

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Geschichte der politischen Ideengeschichte
 9783848748655, 9783845289830

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Gérard Raulet | Marcus Llanque [Hrsg.]

Geschichte der politischen Ideengeschichte

Nomos

Der Band erscheint mit finanzieller Unterstützung des CIERA (Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne) und der Groupe de recherche sur la culture de Weimar (Stiftung Maison des sciences de l’homme, Paris). Die Vorbereitung des Manuskripts wurde im Auftrag der Groupe de recherche sur la culture de Weimar von Julia Rebholz geleistet.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4865-5 (Print) ISBN 978-3-8452-8983-0 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung

9

I. Probleme einer reflexiven Geschichte der Geschichte

21

Zur Diskussion um Ideengeschichte und Intellectual History. Eine Spurensuche nach dem Wert ihrer Historisierung Ellen Thümmler

23

Diskontinuität als Paradigma. Ideengeschichte im Zeitalter der Kontingenz Frauke Höntzsch

43

Produktive Erkenntnisfehler. Anachronismen in der politischen Ideengeschichte

69

Rieke Trimҫev Geschichtsschreibung und Politikwissenschaft: ein problematisches Verhältnis

93

Benjamin Pinhas II. Lehren von Weimar. Diskursstrategien

113

Das Alte Testament als Kategorie des (theologisch-) politischen Denkens im 20. Jahrhundert

115

François Prolongeau Max Horkheimers Spinoza-Interpretation und der Spinoza-Streit im frühen 20. Jahrhundert

129

Gérard Raulet

5

Inhalt

Eine „andere“ Dialektik der Aufklärung? Rousseau-Lektüren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Alfons Söllner

145

Thomas Hobbes – totalitärer oder liberaler Denker? Zur Hobbes-Diskussion der dreißiger Jahre Manfred Gangl

175

Der Apologet als Mineur. Carl Schmitts agonale Ideengeschichte

203

Reinhard Mehring Thymos und heroische Männlichkeit, von Leo Strauss bis zur AfD. Zur Ideengeschichte eines antiliberalen und antifeministischen Motivs

221

Bruno Quélennec Machiavelli im Dienst der Gegenwart. Hans Freyers Machiavelli-Auslegung von 1938

253

Christian E. Roques C’est la faute à Rousseau. Die Rousseau-Rezeption und das deutsch-französische Verhältnis im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

277

Gérard Raulet Materie oder Form? Rousseau und Kant in der bundesrepublikanischen Demokratietheorie

299

Daniel Schulz Rezeptionsblockaden und Ladehemmungen im Arsenal der politischen Ideengeschichte. Die Rousseau-Rezeption im Kommunitarismus (Charles Taylor, Benjamin Barber) Martin Oppelt

6

321

Inhalt

Martin Heideggers aristotelische Wandlungen Daniel Meyer Überlegungen zu einer Ideengeschichte des Nationalsozialismus im Anschluss an Helmuth Plessner und Hannah Arendt. Ansätze zu einer Methodologie der Ideengeschichte Wolfgang Bialas

347

367

III. Rechtsstaat und Republik

397

Die Geschichte der Ideengeschichte der Menschenrechte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Georg Jellinek bis zu Hannah Arendt

399

Marcus Llanque Ideengeschichte als Krisengeschichte? Die politische Theorie republikanischer Selbsthistorisierung von der Weimarer Renaissanceforschung bis zur Cambridge School. Daniel Schulz

435

Interpretationskämpfe im US-amerikanischen Konstitutionalismus. Die Liberalismus-Republikanismus-Debatte und die Entstehung der Cambridge School

461

Bruno Quélennec Republikanische Ideengeschichte. Ein Entwurf

475

Gérard Raulet Die Autoren

493

7

Einleitung

Merkwürdigerweise ist die Geschichte der politischen Ideengeschichte, die per se eine selbstreflexive Disziplin ist, nie selber einer Reflexion (zumindest einer systematischen) unterzogen worden. Ein solcher Ansatz hat nicht nur historische Bedeutung, man muss ihn vielmehr als archäologisch bezeichnen. Er hat weder die philosophischen Grundlagen noch die historischen Anfänge der modernen Politikwissenschaft zum Ziel, sondern das, was den historischen Diskurs über diese Grundlagen und diese Geschichte bedingt – d.h. die Art und Weise, in der die Politikwissenschaft ihre eigene (ideale) Geschichte denkt und schreibt, ihr „Narrativ“. Dieses begründet sowohl die Rolle und Funktion, die der politischen Ideengeschichte innerhalb der Politikwissenschaft eingeräumt wird, als auch ihre politische Bedeutung als Traditionsstiftung, sei es zugunsten des Liberalismus, des Konservativismus oder des Liberalismus. Es geht nicht darum, Doktrinen und Wissenschaftsdebatten um ihrer selbst willen (in der Tradition der Philosophiegeschichte) zu untersuchen, ebenso wenig handelt es sich darum, im Stil der Ideengeschichte der Abfolge von Thesen und Themen nachzugehen, als ob die Welt der Ideen von einem Eigenleben beseelt sei, als ob Ideen aus sich andere Ideen erzeugten, eine Idee auf die andere wirkte, die Kritik an alten Ideen neue hervorbringen würde. Es geht darum, Diskursstrategien zu beschreiben, die zugleich dazu dienen, sich im wissenschaftlichen Feld und im politischen Kontext zu profilieren und zu positionieren. Ein Teil der Antwort ist auf der Seite der politischen Geschichte zu suchen. Es ist ein Gemeinplatz daran zu erinnern, dass die deutsche Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts auf einer Nationalgeschichtsschreibung beruhte, die im Dienste der Reichsgründung durch Preußen stand. Ebenso bekannt ist die Bedeutsamkeit der Sonderwegthese in der Geschichtswissenschaft und in der entstehenden Politikwissenschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts. Der eigentliche politische Hintergrund darf also nicht unterschätzt werden. Nach dem Ersten Weltkrieg fand eine Reorientierung statt, die das Paradigma des Staates durch dasjenige des Politischen ersetzte und eine Debatte über Souveränität auslöste, in der die Tradition des politischen Denkens stark mobilisiert wurde. Diese Debatte wurde durch die ganze Zwischenkriegszeit hindurch fortgesetzt, aber

9

Einleitung

durch die Erfahrung der NS-Diktatur zur schematischen Gegenüberstellung der Demokratie und des Totalitarismus verfestigt. Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus regte zwar, sowohl unter den exilierten wie auch unter den in Deutschland verbliebenen Historikern und Politikwissenschaftlern, zu einer kritischen ideengeschichtlichen Besinnung an, von der die Auseinandersetzung über den deutschen Sonderweg nur die auffälligste Manifestation darstellt. Vor allem die mit der angelsächsischen Wissenschaftskultur konfrontierten Emigranten haben ihre Herangehensweise an Geschichte und Politik tiefgreifend verändert. Parallel dazu begannen die ideengeschichtlich untermauerten Positionen sich zu den ideologischpolitischen Fronten des Kalten Krieges zu verhärten. Insofern lässt sich sagen, dass diese Umbruchzeiten für die Anerkennung der Funktion der politischen Ideen und der Ideengeschichte im politischen Denken zugleich günstig und verhängnisvoll gewesen sind, da ihre Bedeutung erst im Zusammenhang ihrer Instrumentalisierung anerkannt wurde. Nicht zuletzt aus diesem Grund kann man politische Geschichte und politische Ideengeschichte nicht gleichsetzen. Wir interessieren uns in diesem Band nur mittelbar für die „historische Bedeutung“ der politischen Ideen und Ideologien. Das heißt, dass wir es uns verbieten, die Auseinandersetzungen auf der Ebene der Ideengeschichte mit unmittelbar bedeutsamen, ja gar wirksamen Ideologien zu verwechseln. Wir untersuchen Diskursstrategien, die sich im Raum der (prinzipiell freien) Eigenlogik der Ideen entfalten, ohne sie vorschnell auf die unmittelbare Politik zu reduzieren, aber auch ohne darüber den historischen und politischen Kontext aus den Augen zu verlieren, in dem sie auf mittlere oder längere Frist Bedeutung erlangen. Dieser Ansatz eröffnet die Dimension der mittleren, oder gar der langen Dauer, bzw. der Ungleichzeitigkeit des gedanklichen „Spiels“ mit ideellen Möglichkeiten und Figuren im Verhältnis zu unmittelbaren Programmen, Manifesten und Pseudo-Theorien, die sofort ins politische Schlachtfeld eingreifen wollen. Man kann zum Beispiel beobachten, dass sich die Politikwissenschaft von ihren ersten Anfängen an ein gleichsam ideales Archiv zubereitet hat, aus dem sie schöpfen konnte, um zugleich ihre Legitimität zu begründen und zu den aktuellen Problemen Stellung zu nehmen. So ist es zum Beispiel sicher kein Zufall, wenn Carl Schmitt an Hobbes appelliert, während Hermann Heller sich doch eher auf Bodin beruft. Ebenso wenig darf natürlich die Disziplinengeschichte unterschätzt werden. Die Autonomisierung und Institutionalisierung neuer Disziplinen (in unserem Fall die Politikwissenschaft) bringt nicht nur neue Methoden, 10

Einleitung

sondern auch neue Forschungsgegenstände und Konzepte hervor (wobei die neuen Phänomene oft im Rückgriff auf vergangene Epochen und im Gewande historischer Begriffe thematisiert werden – als Bonapartismus, Cäsarismus, politische Romantik etc.). In diesem Band werden diese Phänomene nicht unterschätzt, frappierend aber ist vor allem die grundlegende Kontinuität eines Gesamtkorpus von Autoren und Texten, die sozusagen den festen Hintergrund bilden, auf dem sich dann die eigentlichen Differenzierungen abspielen. Was unter ideengeschichtlicher Strategie verstanden wird, sei an einem Beispiel illustriert. In der Frage der ideengeschichtlichen Verwurzelung des Liberalismus werden fast immer dieselben Autoren herangezogen, wobei man freilich zwei Traditionslinien pauschal entgegensetzen kann: einerseits – wenn man an Leo Strauss oder an Carl Schmitt denkt – vor allem Spinoza und Hobbes, die gleichsam ein Gegensatzpaar bilden, andererseits in erster Linie Rousseau und Kant. Man darf annehmen, dass die zweite Gruppe von Referenzen (Rousseau, Kant) eine republikanische, oder gar „linke“ Traditionslinie bildet. Die erste Gruppe ist hingegen schwieriger zu umreißen. Es kommt in unserem Projekt nicht zuletzt darauf an, anhand der Bezüge auf Spinoza und Hobbes die liberale Ideologie zu hinterfragen und die simple Gegenüberstellung von liberal und konservativ in Frage zu stellen. Diesbezüglich ist Leo Strauss ein guter Kandidat, zugleich auch ein schwieriger Klient wegen seiner zum Äußersten getriebenen diskursiven Strategien, die gerade den Raum ideengeschichtlicher Strategie voll ausnutzen. Strauss hat politische Philosophie von Anfang an im Medium des philosophischen Kommentars betrieben und selber zwischen exoterischer und esoterischer Lektüre unterschieden. In der Rezeption hat er freilich weit mehr als politischer Philosoph denn als Interpret Schule gemacht, wobei die Bedeutung seiner Interpretationen zum (politischen) Zankapfel geworden ist. In Nordamerika wird der Name Leo Strauss seit Jahrzehnten immer wieder mit dem Neokonservatismus in Verbindung gebracht. Für die einen ist er ein echter Heroe des liberalen Widerstandskampfes gegen den Totalitarismus. Für die anderen ist sein Denken in die sog. „konservative Revolution“ einzuschreiben, der er in der Zwischenkriegszeit tatsächlich sehr nahe stand. Während des dritten Golfkrieges erreichte die mediale Aufmerksamkeit auf die „Straussians“ ihren vorläufigen Höhepunkt. In der Mainstream-Presse wurde die Strauss’sche Philosophie als „theoretisches Substrat“ der nordamerikanischen Außenpolitik nach dem 11. September 2001 dargestellt. 11

Einleitung

Festzuhalten ist jedoch, dass sich Leo Strauss – außer in den frühen zionistischen Schriften der 1920er Jahre – kaum zum politischen Alltagsgeschehen geäußert hat. Er war das Gegenteil eines engagierten Intellektuellen. Im Zentrum der US-amerikanischen Debatte stehen dabei zwei Probleme. Erstens geht es darum, das Verhältnis des Neokonservatismus zum Liberalismus zu bestimmen: Ist der Neokonservatismus eher in eine liberale oder in eine antiliberale, in eine aufklärerische oder in eine gegenaufklärerische Tradition einzuordnen? Zweitens wird in dieser Debatte das komplexe Verhältnis zwischen Philosophie und Politik verhandelt: Wie konnte ein Philosoph, der sich von den politischen Debatten seiner Zeit relativ fern hielt und ausschließlich Kommentare zur philosophischen Tradition verfasste, nach seinem Tod eine so starke politische Rezeption erfahren? Beide Fragestellungen sind für die Reflexion über Ideengeschichtsschreibung von entscheidender Bedeutung. Allerdings soll man sie anders als in der US-amerikanischen Debatte auffassen. Anstatt sich auf die Rezeption der Strauss’schen Schriften zu fokussieren, sollte man auf die Schriften des jungen Strauss (vor seinem amerikanischen Exil) zurückgreifen und sich für ihren intellektuellen und politischen Entstehungskontext in der Weimarer Republik interessieren. Wenn der amerikanische Neokonservatismus als eine politische Antwort „von rechts“ auf den sogenannten „Kollaps des liberalen Konsenses“ in den 1960er Jahren verstanden werden kann (Henning), so reagierte der junge Strauss in den 1920er und 1930er Jahren auf eine andere Krise, nämlich auf die Notlage der Weimarer Republik und das Scheitern des historischen Modells der Judenemanzipation. Die hier gesammelten Beiträge bemühen sich deshalb, die holzschnittartigen, ideengeschichtlichen Dualismen wie Liberalismus vs. Anti-Liberalismus, Aufklärung vs. Gegenaufklärung, Moderne vs. Anti-Moderne zu entkräften. Der „Fall Strauss“ lädt dazu ein, jede steife Kategorisierung in Frage zu stellen, da seine ideengeschichtliche Leistung eben darin zu bestehen scheint, Aufklärung und Gegenaufklärung auf paradoxe Weise miteinander verkettet zu haben. Wenn Leo Strauss der Begründer des Neokonservatismus in der Philosophie ist, dann allenfalls, weil er versucht hat, dem politischen Programm der Gegenaufklärung eine „rationalistische“, „aufklärerische“ Basis zu geben, was ihn dann doch deutlich von den Intellektuellen der „konservativen Revolution“ unterscheidet. Umso mehr sollen seine philosophischen Texte, die fast ausschließlich die Form des Kommentars annehmen, als politische Interventionen im zweiten Grad gelesen werden. Strauss war kein „conseiller du Prince“ und 12

Einleitung

kein Philosophenkönig; er hat auch kein Manifest und keine Theorie der Politik geschrieben. Vielmehr geht es also darum, Strauss’ Interpretationen als eine Form von politischer Praxis zu verstehen, die sich aus einer Reihe von Stellungnahmen im Kontext der „deutsch-jüdischen Renaissance“ der 1920er und 1930er Jahre heraus profiliert hat. In diesem Licht werden Fragen wie die folgenden relevant: Warum und wie liest Strauss Spinoza, Hobbes, Maimonides oder Platon? In welcher politischen und ideologischen Konstellation und in welchem Rezeptionskontext? Gegen welche vorherrschenden Interpretationen wendet er sich in seinen Schriften? Für welche Adressaten schreibt er? Was sind die politischen Implikationen seiner Lesart? Die Antworten sind in seinen diskursiven Strategien verschlüsselt. Je nach dem Stellenwert und der Funktion, die man Spinoza und Hobbes zuschreibt (um zunächst nur diese beiden Brennpunkte als Beispiel zu nehmen), ändern sich das Verhältnis zwischen Theologie und Politik und die Konsequenzen, die von den an dieser Debatte Beteiligten im Hinblick auf die Zukunft moderner Gesellschaften gezogen werden. Darum kreisen die Debatten seit der ersten Konfrontation zwischen Leo Strauss und Carl Schmitt in der Zwischenkriegszeit. Dabei fällt auf, dass sowohl die Spinoza- als auch die Hobbes-Interpretationen einander diametral entgegengesetzt sind. Was aber noch interessanter ist, ist der Umstand, dass die Hobbes-Debatte von vorne herein deutsch-französisch angelegt ist, aber nicht Deutsche und Franzosen einander entgegenstellt, sondern auf beiden Seiten eine philosophische und verfassungsrechtliche Auseinandersetzung über ein um 1935 herum höchst aktuelles Problem auslöst. Joseph Vialatoux, der Auslöser der Debatte, der vom katholischen Personalismus aus das Denken von Hobbes als materialistisch, mechanisch und totalitär kritisiert hatte, aktualisiert dies nun 1935 unter dem Eindruck der totalitären Staaten zur provokanten These, dass Hobbes der Vordenker der totalitären Regime sei. Dem widerspricht René Capitant vom liberal-demokratischen Denken aus, das er zudem mit dem französisch-republikanischen Denken identifiziert, mit dem Verweis auf das zutiefst individuelle und liberale Denken Hobbes’, das dem mystischen, organizistischen und irrationalen Charakter des totalitären Staates widerspreche. Dem schließt sich Carl Schmitt an: Hobbes sei der Vorläufer des Liberalismus und sein mechanistisches Denken sei keiner Totalität fähig. Wenn sich die Hobbes-Debatte vor allem auf die Frage des Totalitarismus konzentrierte, wurden damals bereits Weichen gestellt, und zwar nicht nur – grob vereinfacht – zwischen „liberalem“ und „totalitärem“ 13

Einleitung

Denken, sondern viel eher zwischen sehr nuancierten Versionen des Liberalismus, die bis zu den amerikanischen Neokonservativen gehen und dabei in eine unerwartete Umkehrung der Ausgangslage gemündet haben: Während aus dem Kreis der Straussianer die neokonservativen Berater von George W. Bush hervorgingen, bekannten sich in den 1980er und 1990er Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks radikale Demokraten zu Carl Schmitt. Angesichts solcher Paradoxa besteht die Aufgabe des Projektes nicht zuletzt darin, eine eigene Praxis der Ideengeschichtsschreibung zu entwickeln, die sich nicht in die Widersprüche des Erbes verwickelt, sondern sie zu entwirren oder wenigstens zu umreißen versucht. Es geht dabei um alles andere als nur „antiquarische“ Interessen. Was sich nämlich kürzlich – das heißt in den letzten 10 bis 15 Jahren – in Deutschland, Frankreich und den USA, im Zusammenhang eines erneuten Interesses der rechten und der linken politischen Philosophie für Carl Schmitt, vor unseren Augen abgespielt hat, hat in den Interpretationen von Hobbes und von Spinoza, wie sie von der herrschenden Geschichte und Theorie des politischen Denkens mobilisiert wurde, seinen Angelpunkt. Carl Schmitt und Leo Strauss gehen ja von derselben Auffassung aus: Spinoza ist derjenige, der die Autonomie der subjektiven Innerlichkeit proklamiert hat. In Persecution and the Art of Writing (1952) folgert Strauss freilich daraus, dass Spinoza die politische Ordnung, die er durchzusetzen half, zugleich auch von vorn herein unterhöhlte. Daraus folgt, dass für Strauss ein autoritäres, oder zumindest konservatives Verständnis des Liberalismus schließlich die Oberhand erhält. Umgekehrt entwickelt sich im Anschluss an Spinoza von Carl Schmitt bis hin zum marxistischen Spinozismus der 1960er Jahre und darüber hinaus ein radikaldemokratischer Diskurs. Je nach der Bedeutung, die in diesem Dispositiv resp. Hobbes, Rousseau oder Kant beigemessen wird, ändert sich von Grund auf die implizierte Auffassung des Politischen. Das verstehen wir unter langfristigen strategischen Erkenntnisinteressen. Die weiterhin laufende Auseinandersetzung mit den methodischen Prämissen der Cambridge School ermöglicht es, die andere ideengeschichtliche Tradition, nämlich die republikanische, ins Blickfeld wieder einzuführen. Selbstverständlich ist der Republikanismus, ebenso wenig wie der Liberalismus, ein für allemal fest umrissener Begriff: Gerade weil er in der Antike oder in der frühen Neuzeit einen ganz anderen Sinn hat als nach 1789, ist er Gegenstand nicht nur ideologischer Kämpfe, sondern zugleich und vor allem auch strategischer diskursiver Manöver. Der Liberalismus und 14

Einleitung

der Republikanismus sind heuristische Begriffe, die sowohl praktisch als auch diskursstrategisch dazu dienen, bestimmte Optionen zur Geltung zu bringen: Vorrang des Gemeinwohls oder umgekehrt der Privatinteressen, Vorrang der Verfassung und der herrschaftsbegründenden Souveränität oder Vorrang der Gewaltentrennung etc. Was freilich keineswegs ausschließt, dass beide Modelle bestimmte Grundsätze gemeinsam haben, wie eben die Trennung der Gewalten. Dieser Zusammenhang zwischen historischer Semantik und republikanischer Selbstvergewisserung wird im Band am Beispiel der Weimarer Rezeption des oberitalienischen Städterepublikanismus untersucht: Die Suche nach einer ideengeschichtlichen Verankerung der Weimarer Republik hat einen „Machiavellian Moment“ hervorgebracht, der sich allerdings erst in der amerikanischen Emigration bei den Meinecke-Schülern Hans Baron und Felix Gilbert auswirkte. Die Arbeiten von Baron und Gilbert stellen eine wichtige Grundlage für die Diskussion des amerikanischen Republikanismus dar, die erst in den sechziger und siebziger Jahren ihre volle Blüte entfaltet hat. Aber nicht nur Meinecke und seine Schüler, oder noch aufseiten der italienischen politischen Philosophie Antonio Gramsci beriefen sich mit Vorliebe auf Machiavell: Beim Spiritus rector der ersten Kritischen Theorie, Max Horkheimer, gehört Machiavell – wie merkwürdig sich das auch anhören mag – neben Spinoza und Hobbes zu den Verfechtern der aufstrebenden bürgerlichen politischen Philosophie. Wenn vom republikanischen Selbstverständnis gesprochen wird, denkt man freilich sofort an Rousseau. Ausgehend von der Weimarer Republik, lässt sich das „Problem Rousseau“ bis in die Bundesrepublik weiterverfolgen. Bei Ralf Dahrendorf, Carlo Schmid oder Iring Fetscher bilden Rousseau und Tocqueville ein Gegensatzpaar. Obwohl diese drei politischen Philosophen sehr verschiedene Stellungen im politischen Spektrum besetzen, kommen sie in der Verurteilung von Rousseau überein. Indem sie Rousseau zu ihrer bevorzugten Zielscheibe machen, instrumentalisieren die deutschen Intellektuellen ihn weitgehend als Vektor von aktuellen demokratischen Alternativen. So Claus Offe, der seine Kritik der 1960er Jahre an der repräsentativen Demokratie zu einer Kritik an der Mehrheitsregel weiterentwickelt. Dass dadurch ein Zerrbild des französischen Republikanismus verbreitet wird, ist zwar ein bedenklicher Nebeneffekt, aber der Kern des Problems ist, dass sowohl Offes partizipative Demokratie als auch Habermas’ deliberativer Prozeduralismus republikanische („französische“) Momente in sich aufnehmen und das Demokratieverständnis da15

Einleitung

durch radikalisieren, aber dass sie sich weiterhin weigern, einen wie auch immer fiktiven (und das heißt auch rein verfassungsrechtlichen) Begründungsakt der Souveränität anzunehmen. Dem allgemeinen Willen Rousseaus werfen sie vor, dass er immer schon konstituiert ist und insofern einen dezisionistischen Charakter besitzt, und sie setzen ihm das Konzept der „politischen Entscheidungsbildung“ entgegen. In einer Geschichte der Ideengeschichtsschreibung geht es nicht um die Authentizität des herangezogenen Werks, sondern um die diskursiven Strategien, die der rezipierende Autor – bewusst oder nicht – damit verfolgt. Überdies unterliegen die ideengeschichtlichen Quellen im modernen Paradigma, das sich im 20. Jahrhundert durchsetzt, einer grundsätzlichen Erfahrung der Diskontinuität, ja sogar eines Zivilisationsbruchs. Ihre Relevanz für die Gegenwart wird entweder im Nachweis der historischen Bedingtheit auch des gegenwärtigen politischen Denkens bzw. in ihrem Fortdauern in gegenwärtigen Konzepten, oder auch als Fundus von selbst nicht verbindlichen Gedanken für normative Theoriebildung verstanden. Der Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen, genaugenommen die Marginalisierung ihrer Verbindlichkeit, ist im modernen Paradigma, Teil der politiktheoretischen Reflexion. Nimmt man die Abkehr von absoluten, überzeitlichen Wahrheiten und die Annahme der Abhängigkeit allen Denkens vom konkreten historischen, gesellschaftlichen Kontext ernst, dann ist auch die Rezeption selbst historisch bedingt. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive muss man im Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen soweit als möglich die theoretischen Manöver durchschauen, also zumindest zunächst und soweit das wiederum möglich ist, selbst nicht Teil der Ideenpolitik werden, sondern zunächst auf die theoretische Analyse (und nicht Bewertung) gegenwärtiger Praxis unter Rückgriff auf das theoretische Potenzial der ideengeschichtlichen Quellen zielen. Hierfür kann die Wirkungsästhetik nach Iser fruchtbar gemacht werden, die allerdings – insofern sie sich auf literarische Texte bezieht – für die Ideengeschichte adaptiert werden muss. In diesem Verständnis ist die Ideengeschichte dann zu verstehen als Bergung und Rekontextualisierung von Unbestimmtheitsstellen. Anachronistische Schlüsse finden immer dann statt, wenn der politische Ideenhistoriker mehr oder minder offen vergangenes politisches Denken nicht lediglich für das akademische Archiv aufbereitet, sondern es aktualisiert. Die Sprache der politischen Ideengeschichte als Disziplin ist daher von Regeln bestimmt, die legitime von illegitimen Anachronismen unterscheiden. Anhand exemplarischer Analysen von Reinhart Kosellecks Pro16

Einleitung

jekt der Begriffsgeschichte, Hannah Arendts ideengeschichtlichem Verfahren des „Perlentauchens“ und Jacques Rancières explizit anachronistischem Schreiben versucht Rieke Trimcev, das Potential einer solchen an der Verflechtung von Zeitebenen orientierten Analyse herauszustellen. Die Anschlussfähigkeit historisch spezifischer Debatten zum Zwecke der begrifflichen und inhaltlichen Bestimmung zeitgenössischer Probleme sowie die Fortsetzung dieser Debatten im veränderten ideen- und zeitgeschichtlichen Kontext setzt die Anwendung der Komplementärkategorien von Diskontinuität und Kontinuität als Methodik der ideengeschichtlichen Rekonstruktion intellektueller Konstellationen voraus. Der Band hat eine klar ausgewogene Struktur: Der mittlere Teil, der den „Lehren von Weimar“ gewidmet ist, widmet sich der Exemplifizierung dieser diskursstrategischen Auffassung der Ideengeschichtschreibung und insbesondere der politischen Ideengeschichtschreibung. Er bildet die Achse des Bandes. Er ist umrahmt durch einen ersten methodischen Teil und einen gleich umfangreichen dritten Teil, der sich die Frage stellt, inwiefern die neuen Prämissen der Ideengeschichtsschreibung mit den vorgegebenen Rahmen brechen und insbesondere durch die Einführung des republikanischen Konzepts nicht nur einen zusätzlichen konkurrierenden Gesichtspunkt ins Spiel bringen, sondern vor allem ein anderes Paradigma der Ideengeschichtsschreibung. Im ersten Teil breitet Ellen Thümmler das gegenwärtige Feld ideengeschichtlicher Forschung aus, von der intellectual history bis zur Ideenpolitik. Sie diskutiert u.a. das Verständnis der Geschichtlichkeit in den verschiedenen Ansätzen und überlegt, inwiefern es zu Kongruenzen zwischen den verschiedenen Forschungsansätzen kommen kann. Frauke Höntzsch widmet sich der Thematisierung von Kontinuität im 20. Jahrhundert, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Konstruktion von Diskontinuität, beispielsweise mittels des Begriffs des „Zivilisationsbruches“. Die hierbei näher dargestellten Autoren sind Karl Mannheim, Max Horkheimer und Hannah Arendt, um im Anschluss an letztere ein Plädoyer für eine spezifisch politikwissenschaftliche Ideengeschichte zu halten. Vom Spezialproblem der Anachronismen in der Ideengeschichte ausgehend beschäftigt sich Rieke Trimcev, wie schon erwähnt, mit der Frage, ob es sich dabei nur um Fehler der historischen Analyse, oder aber um „produktive Erkenntnisfehler“ handelt, und zwar produktiv in dem Sinne, dass sie eine ideologische Aneignung von Geschichte als politische „Erfahrung“ praktizieren und damit den Verständnishorizont erweitern. Benjamin Pinhas arbeitet die Nähe von Politikwissenschaft und zeitgeschichtlicher Geschichtswis17

Einleitung

senschaft in der frühen Bundesrepublik heraus und diskutiert dabei den ideenpolitischen Umgang mit der Geschichte hinsichtlich der Frage, was aus ihr politisch gelernt werden soll. Im zweiten Teil fragt zunächst François Prolongeau nach dem Verhältnis von Tradition und Vergangenheit bei Hannah Arendt, Eugen Rosenstock-Huessy, Martin Buber und Franz Rosenzweig. Wie werden sie angeeignet? Durch Erinnern, Eingedenken oder Wiederaneignung? Hier steht also unter besonderer Berücksichtigung des Alten Testaments ein Vorgang der Rezeption im Vordergrund, bei dem die Diskursstrategien noch viel weiter ausholen und, wenn man will, „anachronistischer“ verfahren, um entscheidende politische und zivilisatorische Optionen zu verfechten. In diesem Sinn untersucht Gérard Raulet in seinem ersten Beitrag das Verständnis von Ideengeschichte bei Max Horkheimer anhand seiner SpinozaAuslegung, die kennzeichnenderweise im Kontext konkurrierender Spinoza-Interpretationen, namentlich beim jungen Leo Strauss, entfaltet wird. Ganz im Sinne dieser Konkurrenz der Paradigmata in der Ideengeschichtsschreibung geht dann Alfons Söllner anhand der breiten Rousseau-Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Frage nach, ob die „Dialektik der Aufklärung“ die einzige Möglichkeit einer kritischen Lektüre der Aufklärung war, oder sich nicht mögliche Alternativen abgezeichnet haben. Dazu diskutiert Söllner Autoren vom Neukantianismus über die „Inkubationszeit“ der Kritischen Theorie bis zu Ernst Cassirer und Leo Strauss. Eine anders gelagerte, aber artverwandte Konkurrenz der Rezeptions-Strategien analysiert Manfred Gangl, der die Interpretationen von Thomas Hobbes als entweder liberalen oder (proto-)totalitären Theoretiker untersucht. Carl Schmitts ideenpolitische Verwendung der Ideengeschichte als „agonale Ideengeschichte“ untersucht Reinhard Mehring und fächert dabei den vielschichtigen Umgang Schmitts mit der Ideengeschichte auf, bezüglich seines Umgangs mit der Geistesgeschichte, der politischen Theologie oder der Frage, ob er in der Tradition eines ideengeschichtlichen Klassikers wie etwa Hobbes steht. Bruno Quélennec arbeitet seinerseits den ideengeschichtlichen Topos des „Thymos“ heraus und untersucht dessen „Zirkulation“ von der Weimarer Republik über die USA, dorthin transportiert von Leo Strauss, und zurück in die Bundesrepublik bei Autoren wie Peter Sloterdijk. Dieser Topos wird als Baustein einer antiliberalen „Gegenideengeschichte“ entschlüsselt. Dies weist auf extreme Alternativen hin, die man nicht aus dem Blick verlieren darf. Auf dem Weg dorthin müssen freilich noch viele theoretisch-ideologische Momente erforscht werden, die sich mit Referenzen auf Spinoza, Hobbes, Rousseau etc. zu 18

Einleitung

Diskursstrategien zusammenballen. Machiavell durfte nicht fehlen. Christian Roques benutzt zunächst die Machiavelli-Rezeption bei Hans Freyer als Material zur allgemeinen Erörterung einer rezeptionstheoretischen These im Anschluss an Michael Stolleis: Die ideengeschichtliche Wirksamkeit beruht nicht auf den Intentionen der rezipierten Autoren, sondern auf deren Interpretation durch den Rezipienten. Daher untersucht Roques auch nicht den bloßen Umstand einer Machiavelli-Rezeption bei Hans Freyer, sondern verfolgt die „Indienstnahme“ Machiavellis für die ideenpolitischen Interessen Freyers in dessen Werk bis zum Ende der 1930er Jahre. Die 1930er Jahre erweisen sich als einen fast unerschöpflichen Fundus an derartigen Auslegungsstrategien. Daniel Meyer zeigt die diskursiven Strategien Martin Heideggers auf im Umgang mit Aristoteles. Neben den karrieristischen Motiven, zu Aristoteles arbeiten zu wollen, um seine philosophischen Fähigkeiten anhand einer angeblich neuartigen Interpretation unter Beweis zu stellen, verfolgt Heidegger damit zugleich ein strategisches Manöver, das seine kulturpessimistische Argumentation mittels des Rückgriffs auf einen vormodernen Vordenker der Philosophie stützen soll. Die Stellung des Nationalsozialismus in der Ideengeschichte, die ihm Helmuth Plessner und Hannah Arendt zuweisen, untersucht Wolfgang Bialas. Plessner macht ähnlich wie Lukács die Geistesgeschichte mitverantwortlich für den Nationalsozialismus, Arendt verweigert ihm überhaupt die Möglichkeit einer Ideengeschichte. Dass in den Diskursstrategien grundlegende politische Alternativen auf dem Spiel stehen, zeigen nun auch die Auseinandersetzungen über und um Rousseau von der Weimarer Republik an bis heute. In seinem zweiten Beitrag verfolgt Gérard Raulet das Frankreich-Bild in der Weimarer Republik, u.a. bei Ernst Robert Curtius und Ernst Cassirer, und zwar anhand ihrer Rousseau-Rezeption. Die Rousseau-Rezeption in der frühen Bundesrepublik verfolgt Daniel Schulz in seinem ersten Beitrag. Von Eric Voegelin bis Jürgen Habermas und Johannes Agnoli erfolgt diese Rezeption auch unter der leitenden Fragestellung, ob man einen rein formalen oder eher einen materiellen Begriff der Demokratie anstrebt. Martin Oppelt behandelt in diesem Sinn „Rezeptionsblockaden“ in der Ideengeschichte am Beispiel der fehlenden oder marginalen Rezeption Rousseaus im nordamerikanischen Kommunitarismus (insbesondere bei Charles Taylor und Benjamin Barber). Im dritten Teil diskutiert Bruno Quélennec die Deutungskämpfe um den Liberalismus in den USA in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und ar19

Einleitung

beitet zwei gegenläufige Stränge heraus: einerseits die Strauss-Schule und ihre konservativ motivierte Rückwendung zu den Verfassungsvätern ausgangs des 18. Jahrhunderts, andererseits die amerikanischen Vertreter der Cambridge-School, die in Reaktion auf die Straussians den ideengeschichtlichen Rückbezug nutzen, um mit dem Republikanismus eine Variante des Liberalismus, keine Alternative zu ihm zu konstruieren. Diese ideenpolitischen Motive stellen zugleich den Hintergrund dar für den Methodenstreit in der Ideengeschichte, in welchem beide Lager Gegenpositionen markieren. Die Ideengeschichte der Menschenrechte verfolgt Marcus Llanque in einem zeitlichen Bogen, der von Georg Jellinek ausgangs des 19. Jahrhunderts bis zu Hannah Arendt in der Mitte des 20. Jahrhunderts reicht. Herausgestellt werden dabei die diskursiven Zäsuren und ihr Einfluss auf die ideenpolitischen Positionen zwischen einem naturrechtlichen und einem politischen Verständnis der Menschenrechte. In seinem zweiten Beitrag verfolgt Daniel Schulz die Anfänge der ideengeschichtlichen Erforschung des Republikanismus, die noch in der Weimarer Republik liegen, bei Hans Baron, Felix Gilbert und Hedwig Hintze. Der den Band beschließende Entwurf einer „republikanischen Ideengeschichte“ von Gérard Raulet greift zugleich wesentliche theoretisch-methodische Grundprobleme auf, mit welchen sich der Band insgesamt beschäftigt. *** Der vorliegende Sammelband entstand aus einem Forschungsvorhaben der Groupe de recherche sur la culture de Weimar (Fondation Maison des sciences de l’homme und Université Paris-Sorbonne, UMR 8138 SIRICE) und des Lehrstuhls für politische Theorie der Universität Augsburg. Das Projekt geht auf eine langjährige deutsch-französische Kooperation zurück. Ursprünglich in Zusammenarbeit mit der Universität Chemnitz (Prof. Dr. Alfons Söllner) konzipiert, wurde es nach dessen Emeritierung auf deutscher Seite von Prof. Dr. Marcus Llanque (Augsburg) federführend übernommen. Es wurde finanziell unterstützt durch das PFR-Programm (Programme de formation recherche) des Centre interdisciplinaire d’étude et de recherche sur l’Allemagne (CIERA) und durch das Bayerisch-Französische Hochschulzentrum. Der Förderung sei hier nachdrücklich Dank gesagt. Gérard Raulet, Marcus Llanque

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I. Probleme einer reflexiven Geschichte der Geschichte

Zur Diskussion um Ideengeschichte und Intellectual History. Eine Spurensuche nach dem Wert ihrer Historisierung Ellen Thümmler

Einleitung Ein Blick auf aktuelle Neuerscheinungen verrät: Das Forschungsfeld der (politischen) Ideengeschichte ist gut bestellt. Galt das „Nebenfach mit Schlüsselfunktion“1 – lokalisiert zwischen Politikwissenschaft, Geschichte, Soziologie, Philosophie, aber auch den Sprach- und Kulturwissenschaften – lange Zeit als beinahe brachliegend, wird nun seine Blüte und ein reicher Ertrag konstatiert. Sprechen die einen von einer „unübersichtlich[en], aber überraschend vielgestaltig[en]“ Lage der Ideengeschichte, begründen andere die Vielfalt mit den interdisziplinären Zwischenräumen, welche sie besetze.2 Anlässlich der „Wiederkehr des tot geglaubten Faches“ werden freilich Lücken bei seiner Erschließung oder „Desiderate“ der Forschung sichtbar.3 Beide Eindrücke sind vornehmlich in Überblickswerken zu Traditionen und Pfaden der Ideengeschichtsschreibung festgehalten. Stärkt dies die These, eine praktische Operationalisierung theoretischer Reflexionen über Begriff und Konzept der Ideengeschichte stehe vielfach noch aus, lässt sich zunächst ein fortdauerndes Interesse an ihrer Programmatik festhalten. Das Eingeständnis einer hinlänglich „blühenden“ Forschungslandschaft ruht auf wiederholten Selbstverständigungen

1 Gérard Raulet: „‚Histoire des idées‘. Überlegungen zur Identität eines Nebenfachs mit Schlüsselfunktion“, Deutsch als Fremdsprache, 32/2006, S. 52-76. Für eine bessere Lesbarkeit wird in den folgenden Zeilen das generische Maskulinum verwandt. 2 Andreas Mahler / Martin Mulsow, „Einleitung: Die Vielfalt der Ideengeschichte“, in: dies. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Ideengeschichte, Stuttgart: Reclam, 2014, S. 9-50, 30; Barbara Stollberg-Rilinger, „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Ideengeschichte. Basistexte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2010, S. 7-42, 9. 3 Martin Mulsow, „Neue Perspektiven der Ideengeschichte“, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Neue Perspektiven der Ideengeschichte, Innsbruck: Innsbruck University Press, 2015, S. 25-35, 25.

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über Gestalt und Wandel der Ideengeschichte.4 Sie eignen sich als analytischer Schlüssel: Entdecken die einen dahinter ihre „longue durée“ als historische Erzählung – von Ideen, klassischen Texten und Begriffen – über die Dezennien, verweisen andere auf Magnituden der fachlichen Entwicklung, die einer Untersuchung harren, um die Grenzen des Forschungsfeldes und das handwerkliche Rüstzeug seiner Beackerung festzuhalten.5 Das Bedürfnis nach historischen Reflexionen innerhalb des Faches trägt zu einer Kanonbildung wie zu Annäherungen an eine gemeinsame Methodik bei. Konzepte und ihre Debatten erscheinen als einheitsstiftende Momente der Ideengeschichtsschreibung.6 Jene Motive resultieren auch daraus, im Begriff der Ideengeschichte unterschiedliche und weitläufige Bestimmungen zu umkreisen, deren Auffächern erst eine genaue Betrachtung gestatte. Gemeinhin werden unter Ideen „Gegenstände des Denkens, Glaubens, Wissens, Meinens“ gefasst, seien dies Theorien oder „Glaubensvorstellungen, Weltbilder, Wertüberzeugungen, kollektives Alltagswissen“, die in Texten festgehalten sind.7 Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft ankert die Ideengeschichte in einer geistes- oder philosophiegeschichtlichen Überlieferung – einer „Rankean history“ oder in einer Tradition nach Friedrich Meinecke –, die am historischen Verstehen arbeitete.8 Zu Vordenkern einer History of Ideas wurden Arthur O. Lovejoy und das 1940 gegründete Journal of the 4 Vgl. D. Timothy Goering (Hrsg.), Ideengeschichte heute. Traditionen und Perspektiven, Bielefeld: transcript, 2017; Darrin M. McMahon / Samuel Moyn (Hrsg.), Rethinking Modern European Intellectual History, Oxford: Oxford University Press, 2014; Ellen Thümmler, „Deutungsvielfalt und neue Textlichkeit. Zur Diskussion um die (politische) Ideengeschichte“, in: Alexander Gallus (Hrsg.), Politikwissenschaftliche Passagen. Deutsche Streifzüge zur Erkundung eines Faches, Baden-Baden: Nomos Verlag, 2016, S. 25-44; Samuel Salzborn, Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext. Baden-Baden: Nomos, 2015. 5 Vgl. David Armitage: „What’s the Big Idea? Intellectual History and the Longue Durée“, in: History of European Ideas, 38/2012, H. 3, S. 493-507; Donald R. Kelley: „What is happening to the History of Ideas?“, Journal of the History of Ideas, 51/1990, H. 1, S. 3-25; ders. (Hrsg.), The Descent of Ideas. The History of Intellectual History, Aldershot: Ashgate Publishing Limited, 2002. 6 Vgl. M. Mulsow, „Neue Perspektiven der Ideengeschichte“, S. 25f.; Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. 2. Auf., München: C.H. Beck, 2010, S. 16. 7 B. Stollberg-Rilinger, Ideengeschichte, S. 8. Dazu gehören immer mehr nicht-textliche Quellen (Bilder, Überlieferungen, Töne, Gegenstände, Malereien). 8 Vgl. Peter Burke, „Overture. The Hew History: Its Past and its Future“, in: ders. (Hrsg.), New Perspectives on Historical Writing, 2. Auf., Cambridge: Press, 2001,

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History of Ideas.9 Lovejoy nahm Ideen als Denkströmungen wahr, sie glichen Grundannahmen, Ordnungsentwürfen oder Mustern, aber auch (unbewussten) Motiven oder Intentionen im Denken größerer Kollektive, deren Entstehen und Verbreitung er zum Gegenstand erklärte.10 Demgegenüber verstand Robin G. Collingwood eine History of Political Thought als Untersuchung jeder Handlungen und Äußerungen historischer Gestalten, er prägte die Sprache und die Intentionen der intellektuellen Stichwortgeber im politischen Denken, welche die Kritik an der Inkohärenz wie der fehlenden zeitlichen Bezüge einer History of Ideas aufnehmen konnte.11 Seit Ende der 1950er Jahre hat sich besonders in den angelsächsischen Ländern die Intellectual History als Forschungszugang durchgesetzt, um den historischen Zugriff auf das Denken zu stärken: Sie formte eine Geschichte von Denkern, Ideen und Konzepten, die nicht als abgeschlossene Einheiten betrachtet werden, sondern in einen variablen lebensweltlichen, sprachlichen, sozialen, kulturellen und politischen Kontext eingebettet sind. Dabei geht es um die Verknüpfung zwischen einem interpretatorischen Gestus des Betrachters und den Intentionen des Denkers, dessen Texte einer sozialen Handlung gleichen. Anhand jener Praktiken und Be-

S. 1-24; aufgefächert in: D. Goering, Ideengeschichte heute; Harald Bluhm, „Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Eine Einführung“, in: ders. / Jürgen Gebhardt (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden: Nomos, 2006, S. 9-29; Jürgen Gebhardt, „Politische Ideengeschichte im Zeichen des Methodenstreites – Eine kritische Bestandsaufnahme“, ebd., S. 243-264; Wolfgang J. Mommsen: „Gegenwärtige Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik“, Geschichte und Gesellschaft, 7/1981, H. 2, S. 149-188; Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (= Werke, Band 5). Hrsg. von Hans Herzfeld, München: Oldenbourg, 1962; Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922). Kritische Gesamtausgabe, Band 16,2, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf und Matthias Schloßberger, Berlin: de Gruyter, 2008. 9 Vgl. Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993; ders., „Reflections on the History of Ideas“, Journal of the History of Ideas, 1/1940, S. 3-23; ders., „The Historiography of Ideas“, Proceedings of the American Philosophical Society, 78/1938, S. 529-543; Warren Breckman, „Konzeption und Geschichte des ‚Journal of the History of Ideas‘“, Zeitschrift für Ideengeschichte, 1/2007, H. 1, S. 106-113. 10 Vgl. A. Lovejoy, Die große Kette der Wesen, S. 11-36. 11 Vgl. Robin G. Collingwood, Philosophie der Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer, 1955; John Dunn: „The Identity of the History of Ideas“, Philosophy, 43/1968, H. 164, S. 85-104; Henning Ottmann: „In eigener Sache: Politisches Denken“, Jahrbuch Politisches Denken, Stuttgart/Weimar: Metzler, 1996, S. 1-7.

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dingungen, welche die Entwicklung von Ideen und Wissen beeinflussen, werden Austauschprozesse zwischen Intellektuellen sichtbar. Erspähen die einen in jener Intellectual History einen Oberbegriff oder eine Mischform älterer Traditionen, betonen andere die Intellektuellen als soziale Figuren, Träger und Vermittler von gedanklichen Transferprozessen oder Netzwerken.12 Die französische Histoire des idées speist sich aus philosophie- und geistesgeschichtlichen Quellen, bezog aber bereits ab den 1930er Jahren durch die Historiker rund um die Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale die sozialen und ökonomischen Hintergründe ein, um später strukturalistische Analysen anzustrengen.13 Schließlich veränderte sich das Verhältnis von Theorie und Praxis, wenn nicht Intentionen der Autoren oder ein Ideenwandel untersucht wurden, sondern sie gemeinschaftliche Prozesse und unterbewusste Strukturen oder Überlieferungen leiteten. Als Teil sozial- und kulturgeschichtlicher Erkundigungen interessieren kollektive Mentalitäten, Traditionen, Mythen und Emotionen, die individuelles Denken und Urteilen beeinflussen. Dahinter verbergen sich jedoch nicht nur variable Gegenstände und materiale Muster oder Traditionen der Ideengeschichte und Intellectual History, sie unterscheiden sich gleicher-

12 Zu begrifflichen Abgrenzungen vgl. Richard Whatmore, What is Intellectual History?. Cambridge: Polity Press, 2016; Dominick LaCapra, „Tropisms of Intellectual History“, in: ders., History and its Limits. Human, Animal, Violence, Ithaca/London: Cornell University Press, 2009, S. 190-223; Donald R. Kelley, The Descent of Ideas. The History of Intellectual History. Aldershot: Ashgate Publishing Limited, 2002; Peter Gordon, What is Intellectual History? A Frankly Partisan Introduction to a frequently misunderstood field. Revised, unter: http://projects.iq.ha rvard.edu/files/history/files/what_is_intell_history_pgordon_mar2012.pdf (28. Februar 2018); Riccardo Bavaj, Intellectual History. Version 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 13.9.2010, unter: http://docupedia.de/zg/Intellectual_History (27. Februar 2018); Annabel Brett, „What is Intellectual History Now?“, in: David Cannadine (Hrsg.), What is History Now?, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan, 2002; Stefan Collini: „What is Intellectual History?“, History Today, 35/1985, unter: http://www.historytoday.com/stefan-collini/what-intellectual-histo ry (27. Februar 2018). 13 Vgl. Peter Schöttler, Die „Annales“-Historiker und die deutsche Geschichtswissenschaft. Tübingen: Mohr Siebeck, 2015; André Burguière, The Annales School. An Intellectual History. Ithaca/London: Cornell University Press, 2009. Der Titel lautet heute: Annales. Histoire, Sciences sociales.

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maßen hinsichtlich ihrer universitären Herkunft.14 Während History of Ideas und Intellectual History in den angelsächsischen Ländern eher in den historischen Wissenschaften beheimatet waren, in Frankreich bei den Literatur- und Sprachwissenschaftlern angebunden sind, wurden die Lehrstühle für Ideengeschichte in der Bundesrepublik Deutschland zumeist an politikwissenschaftlichen Instituten eingerichtet.15 Auch dort war mit der Ideengeschichte in den letzten Jahrzehnten meist ein „interpretierendes Weltverstehen“ anhand von Begriffen, Motiven und argumentativen Mustern verbunden; sie liefere eine „Textgrundlage für das politische Selbstverständis unserer Gesellschaft“.16 Sie galt als Archiv, das Texte bereitstelle, sei Deuter von Analogien und Trends sowie Fundus für eine kritische Geschichtsschreibung im Blick auf sich selbst.17 Seit den 1970er Jahren wurde die Ideengeschichte gegenüber einer stärker sozialwissenschaftlichen Forschung in der Politikwissenschaft marginalisiert, verlor – innerhalb der oft gebräuchlichen Nomination „Politische Theorie und Ideengeschichte“ – neben einer systematischen und normativen politischen Theorie an Bedeutung. Sie erschien eher als Propädeutikum, übernahm eine „dienende“ Funktion und legte „praktisches Handlungs- und Orientierungswissen“ offen.18 Andere betonen, sie sei „Innovationszentrum“ für die Politikwissenschaft, indem sie als Archiv und als

14 Vgl. Stefan Collini: „,Discipline History‘ and ,Intellectual History‘. Reflections on the Historiography of the Social Sciences in Britain and France“, Revue des Synthèse, 6/1988, H. 3-4, S. 387-399, 395-398. 15 Einen Überblick über europäische und amerikanische Traditionen geben: Dario Castiglione / Ian Hampsher-Monk (Hrsg.), The History of Political Thought in National Context, Cambridge: Cambridge University Press, 2001; Richard Whatmore / Brian Young (Hrsg.), Palgrave Advances in Intellectual History, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2006; Herfried Münkler, „Politische Ideengeschichte“, in: ders. (Hrsg.), Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2003, S. 103-131. 16 Walter Reese-Schäfer, Klassiker der Ideengeschichte. Von Platon bis Marx. 2. Auf., München: Oldenbourg, 2011, S. 6.; einen Überblick geben auch die Beiträge in Hubertus Buchstein / Gerhard Göhler (Hrsg.), Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2007. 17 Vgl. W. Reese-Schäfer, Klassiker der Ideengeschichte, S. 210f. 18 B. Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 9f.; zu den Problematisierungen vgl. exemplarisch die Beiträge in Udo Bermbach (Hrsg.), Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teildisziplin der Politischen Wissenschaft, (= Sonderheft 15 der Politischen Vierteljahresschrift), Opladen: Westdeutscher Verlag, 1984.

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Laboratorium fungiere.19 In einem „Laboratorium“ als Experimentierraum, in welchem mit dem Material der Ideengeschichte hantiert wird, werde auch das Archiv gepflegt und erhalten.20 Insofern gleiche die (politische) Ideengeschichte einem „Gewebe politischer Diskurse“.21 Ein solcher Gedanke trennt stärker zwischen der Ideengeschichte als „Kontinuum politischer Theorie, die über Jahrhunderte hinweg erarbeitet und tradiert wurde“, und einer „wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit diesem Kontinuum beschäftigt“.22 Politische Ideengeschichte als „Arsenal“ verknüpft einzelne Stränge des Archivbestandes, um sie für das politische Denken nutzbar zu machen. Die Wortmeldungen eines „challenge und response“ – in Reaktion auf zeitgenössische Herausforderungen der Demokratie – führen dies praxisorientiert weiter, um „Potenziale für eine kritische Reflexion gegenwärtiger gesellschaftlicher Praxis“ 23 auszuschöpfen. 1. Eine Geschichte der Ideengeschichte anhand konzeptioneller Kontroversen Jene nur kursorisch gezeichneten Lokalisierungen lassen sich – über Kontinente und nationale Traditionen hinweg – als Material einer reflexiven Verständigung über Ideengeschichte und Intellectual History einhegen.

19 Zur Debatte: H. Bluhm, Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert; H. Münkler, Politische Ideengeschichte, S. 103, 128. Die Funktion der Ideengeschichte als „Lagerhaus der Probleme und Problemlösungen“ stärkte bereits Klaus von Beyme, in: Politische Ideengeschichte. Probleme eines interdisziplinären Forschungsbereiches (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Bd. 367/377), Tübingen: Mohr Siebeck, 1969, S. 50. Sie diene zugleich der methodischen Schulung und übernehme eine kritische Funktion. 20 H. Münkler, Politische Ideengeschichte, S. 103f. 21 Marcus Llanque, „Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse“, in: ders., Politische Ideengeschichte – ein Gewebe politischer Diskurse, München: Oldenbourg, 2008, S. 1-11; ders. / Herfried Münkler (Hrsg.), Politische Theorie und Ideengeschichte. Lehr- und Textbuch, Berlin: Akademie Verlag, 2007, S. 7-11, S. 8f. 22 M. Llanque, „Einleitung: Ideengeschichte als Gewebe politischer Diskurse“, S. 1. 23 Herfried Münkler / Grit Straßenberger, Politische Theorie und Ideengeschichte. Eine Einführung. München: C.H. Beck, 2016, S. 11-22, 18, 20; Herfried Münkler / Vincent Rzepka, „Die Hegung der Öffentlichkeit. Der Challenge-and-ResponseAnsatz und die Genese des Liberalismus aus der Krise des Republikanismus“, in: Reinalter (Hrsg.), Neue Perspektiven der Ideengeschichte, S. 49-74.

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Ihre Historisierung erlaubt eine Annäherung an die Geschichte der Ideengeschichtsschreibung gerade für das 20. Jahrhundert. Die folgenden Zeilen umkreisen diese These: Sie erkunden einen historisierenden Forschungszugang zu Ideengeschichte und Intellectual History als akademische Disziplinen, dessen Gestalt hier allerdings nur schemenhaft schraffiert werden kann. Die zuletzt auflebenden Spurensuchen zu Ideengeschichte und Intellectual History tragen zu einer Geschichte der Ideengeschichtsschreibung bei.24 Methodische Selbstverständigungen, zentrale Publikationen, Debattenbeiträge und Kritiken formen Orte und Kämpfe um Deutungsmacht. Werden ihre Konzepte bisher entlang einzelner Vordenker, Schulen, in Paradigmen und „turns“ strukturiert oder als Auf und Ab von Krisenerzählungen festgehalten, um sie für weiterführende programmatische Denkübungen zu nutzen, bildet eine wissenschaftshistorische Untersuchung einen Erfahrungswandel ab.25 Dies schließt an die Überlegung an, das Stichwort einer „Ideenpolitik“ auf die Debatten innerhalb der Ideengeschichtsschreibung anzuwenden, um Deutungskämpfe, den Transport gedanklicher Einheitungen und die Interventionen, die mit ihr verbunden sind, zu veranschaulichen.26 Das interdisziplinär bestellte Feld von Intellectual History und Ideengeschichte lässt sich als Spielraum umkämpfter Stellungen mit unterschiedlichen Koalitionen und Mitteln greifen. Dabei geht es nicht um persönliche Differenzen, Hierarchien oder Empfehlungen einzelner Akteure und Vordenker, sondern um einen – textlich dokumentierten – Austausch über Konzepte der Ideengeschichte. Durch Kritik und Neuformulierung ihrer Begriffe, Zäsuren oder Fundamente (auch über Generationen hinweg) werden wissenschaftliche Werthaltungen wie die Kriterien ihrer Rationalität oder ihres Gesprächs sichtbar.

24 Vgl. James Livesey, „Intellectual History and the History of Science“, in: Richard Whatmore / Brian Young (Hrsg.), Palgrave Advances in Intellectual History, S. 130-146. 25 Vgl. P. Burke, „Overture“; Duncan Kelly, „The Politics of Intellectual History in Twentieth-Century Europe“, in: Richard Whatmore / Brian Young (Hrsg.), Palgrave Advances in Intellectual History, S. 210-230; Anthony Grafton: „The History of Ideas. Precept and Practice, 1950-2000 and Beyond“, Journal of the History of Ideas, 67/2006, H. 1, S. 1-32. 26 Die Stichwortgeber sind: Harald Bluhm / Karsten Fischer / Marcus Llanque, „Einleitung: Ideenpolitik in Geschichte und Gegenwart“, in: dies. (Hrsg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin: Akademie Verlag, 2011, S. IX-XIII.

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Deren Historisierung legt einen Kampf um Deutungshoheit offen – um gemeinsam geteilte Wissensbestände, Begriffe, Materialien, Epochenbestimmungen, Zugangsweisen und fachliche Grenzen in spezifischen Foren und Mediatoren.27 Dahinter verbergen sich wissenschaftlich-intellektuelle Praktiken; es geht um die „Grenzkämpfe“ einer interdisziplinären Disziplin. Die Gegenüberstellung von Methoden und Konzepten ist Teil einer Professionalisierung, ohne dies als Fortschrittsbewegung zu erzählen.28 Methodische Fragen kreisen um die Aneignung ihrer Ressourcen; sie offenbaren einerseits eine Vielfalt von Zugängen, teilen andererseits aber eine Übereinkunft in diesem Moment. Als Teil einer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert hat eine solche Untersuchung, die im Folgenden nur anhand eines exemplarischen Beispiels angedeutet werden kann, einen epistemologischen Wert: Geht es bei den behandelten Autoren und ihren Konzepten um die Produktion, Diskussion und Distribution von Argumenten, um Verweise und Autorisierungen, auch in Austauschbeziehungen zu anderen Fächern und über kontinentale Grenzen hinweg, wird ein Reflexionswissen sichtbar, welches die fachliche Kultur von Ideengeschichte und Intellectual History stabilisierte und veränderte.29 Dies verweist auf das Programm einer „Wissenschaftsinnenpolitik“ Mitchell G. Ashs: Wissenschaft entspreche einem „Ensemble von Ideen

27 Zur Bedeutung einer Kontroversen- und Streitgeschichte des Fachs vgl. Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. 2. Auf., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015; ders., „Kritik, Kontroverse, Debatte. Historiografiegeschichte als Streitgeschichte“, in: Jan Eckel / Thomas Etzemüller (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen: Wallstein, 2007, S. 255-283; Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Große Kracht, „Einleitung: Zeitgeschichte als Streitgeschichte“, in: dies. (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München: C.H. Beck, S. 9-19; dieses Programm wird auch in der Zeitschrift für Ideengeschichte verfolgt wird, um jedoch an den Vermittlungen und Verschränkungen anzusetzen. 28 Vgl. S. Collini, „Discipline History“ and „Intellectual History“, S. 398; Günther Lottes, „Stand und Perspektiven der ‚intellectual history‘“, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1996, S. 27-45, 42. 29 Vgl. Ralf Klausnitzer, „Koexistenz und Konkurrenz. Theoretische Umgangsformen mit Literatur im Widerstreit“, in: ders. / Carlos Spoerhase (Hrsg.), Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse, Bern u.a.: Peter Lang, 2007, S. 15-48, 16-18.

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bzw. Theorien, Institutionen und den in ihnen geführten Forschungspraktiken“.30 Er schließt an eine Gemeinschaft von Forschenden unter einen gemeinsam geteilten Denkstil bei Ludwik Fleck an, der verschiedene Variationen und Etappen durchläuft. Darin sind Verständigungsprozesse nach innen, Abwehrprozesse nach außen – verbunden mit Neujustierungen von geteilten Begriffen und Anschauungen – versteckt.31 Das Gefüge von Autoren und ihrer Handlungsorientierung, als Wissenschaftler in konzeptionellen Debatten exponiert, rückt in den Mittelpunkt. Darin wird ein Wandel von Gruppenpositionen anhand verschiedener Reize, Kenntnisse, Reaktionen und Konstellationen sichtbar, der einer Bedeutungsverschiebung gleichkommt.32 Kommt es dabei auf eine narrative Form innerhalb akademischer Foren und Formate an, werden Wissensansprüche, die Gültigkeit von Argumenten und die Angemessenheit konzeptioneller Positionen offenbar. Dahinter verbirgt sich eine Reflexionswissenschaft, welche die fachliche Entwicklung stabilisierte und den Austausch mit anderen Wissenskulturen stärkte. Für eine Historiographiegeschichte zählen die Streitgespräche um Ideengeschichte und Intellectual History wiederum zu den Kernproblemen des Fachs – als binnenwissenschaftliche Kontroversen mit zahlreichen Akteuren und Positionierungen umfassen sie „Prozesse der Entlehnung

30 Mitchell G. Ash, „Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?“, in: Rüdiger vom Bruch / Uta Gerhardt / Alexandra Pawliczek (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Franz Steiner, 2006, S. 19-37. 31 Vgl. Ludwik Fleck, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 75; Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Auf., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976, S. 189, 197-215; ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. von Lorenz Krüger, 3. Auf., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988, S. 17-60. 32 Vgl. T. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 37-50, 90; ders., Die Entstehung des Neuen. S. 17; zur Diskussion um das Paradigma vgl. S. 392-415; zum Begriff des Erfahrungswandels vgl. Reinhart Koselleck, „Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze“, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 27-77.

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und der Adaption von Erkenntnisverfahren und Wissensbeständen“.33 Die Historiographiegeschichte untersucht intellektuelle Prozesse zwischen historischen Beobachtern, um dies zu einer eigenen Erzählung zu formulieren, welche die komplexen Entstehungswege und -weisen historischer Erkenntnis einfängt.34 Die Spurensuche nach dem Wert einer Historisierung der Ideengeschichtsschreibung schürft insofern am „Bedingungsgefüge des Fachbetriebs“ oder der „geschichtswissenschaftlichen Selbstreflexion“.35 Es gilt, Wissenschaft als relationale Referenz zu verstehen, bei der anhand vielgestaltiger (auch institutioneller und praktischer) Vermittlungen und Verwicklungen erst die geteilten Gegenstände sichtbar werden. Eine Historie ideenhistorischer Konzepte (in Affirmation und Kritik) lässt sich zugleich als eigener Typus eines Wissenschaftstransfers über Kontinente hinweg – zwischen den deutschen, französischen und angelsächsischen Traditionen – charakterisieren.36 Ein solcher Blick auf Kontroversen, ihre Vermittler und Formate, hebt sich von der Entwicklung einzelner Schulen oder Konzepte ab, um Dispute zu ihrer Gestalt und ihrem Gehalt auf einer erweiterten Ebene zu bemerken. Nach einem knappen Seitenblick auf bisherige Ansätze einer Historisierung der Ideengeschichte im folgenden Abschnitt, umkreist das letzte Kapitel den Wert einer solchen Ermittlung am Beispiel der Debatte um verstehensorientierte Ansätze in der Ideengeschichtsschreibung zwischen Politikwissenschaft und Geschichte.

33 Jan Eckel / Thomas Etzemüller, „Vom Schreiben der Geschichte der Geschichtsschreibung. Einleitende Bemerkungen“, in: dies. (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, S. 7-26, 17; vgl. Horst Walter Blanke, „Typen und Funktionen der Historiographiegeschichtsschreibung. Eine Bilanz und ein Forschungsprogramm“, in: Wolfgang Küttler / Jörn Rüsen / Ernst Schulin (Hrsg.), Geschichtsdiskurs. Band 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a.M.: Fischer, 1993, S. 191-211; Dominick LaCapra / Steven L. Kaplan (Hrsg.), Geschichte denken. Neubestimmungen und Perspektiven moderner europäischer Geistesgeschichte, Frankfurt a.M.: Fischer, 1988. 34 Vgl. Thomas Etzemüller, „‚Ich sehe das, was Du nicht siehst‘. Wie entsteht historische Erkenntnis?“, in: Jan Eckel / ders. (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, S. 27-68, 36f. 35 J. Eckel / T. Etzemüller, Vom Schreiben der Geschichte der Geschichtsschreibung, S. 19. 36 Vgl. H. W. Blanke, Typen und Funktionen der Historiographiegeschichtsschreibung, S. 195-197.

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2. Bisherige Versuche einer Historisierung Obwohl kaum ein Überblickswerk zu Ideengeschichte und Intellectual History ohne den Verweis auf einzelne Vordenker oder Skizzen auskommt, ist der Wandel ihrer Manuskripte im 20. Jahrhundert bislang nicht systematisch und umfassend erforscht. Wenngleich der Historiker Donald A. Kelley 1990 dazu aufrief, die Ideengeschichte anhand von konzeptionellen Brücken, Brüchen, in Wellen oder auch Kontinuitäten zu analysieren, stehen wissenschaftsgeschichtliche Erkundungen zu den Streitgesprächen der Intellectual History aus.37 Eine Geschichte der Ideengeschichte kann als Auf und Ab von Krisendiagnosen oder von Niedergang und Wiedergeburt im 20. Jahrhundert schraffiert werden: Für die einen verbirgt sich dahinter eine „new history“, die einen langfristigen Trend markiere. Andere verweisen auf die besondere Bedeutung einer historischen Betrachtung politischer Ideen, die sich seit den 1960er Jahren entwickelte. Jenes Paradigma zeuge von einer Krise – a crisis in historical consciousness or historical method“.38 Die skizzierte Erweiterung der ideenhistorischen Untersuchungshorizonte zu einer Sozial- und Kulturgeschichte führte zu einer Fragmentierung des Fachs in Europa und Amerika – verstärkt durch unterschiedliche nationale Traditionen. Für einzelne Beobachter kreiert die Verknüpfung von politischer Theorie und Intellectual History ein tragfähiges Konzept, die nationalen Wegmarken des „historical turn“39 aufzugreifen und deren Zersplitterung mit materialorientierten Fragestellungen zu überwinden. So belege u. a. das bis heute anhaltende Interesse am Republikanismus – in Debatten um bürgerliche Freiheit und die Begründung der res publica – den Wert konkurrierender Untersuchungen seiner Quellen, die konzeptionelle Überlegungen einschlossen.40

37 Vgl. D. R. Kelley, What is happening to the History of Ideas, S. 13. 38 P. Burke, „Overture“, S. 2; vgl. Richard Tuck, „History of Political Thought“, in: Peter Burke (Hrsg.), New Perspectives in Historical Writing, S. 218-232, 220. 39 Richard Whatmore, „Intellectual History and the History of Political Thought“, in: ders. / Brian Young (Hrsg.), Palgrave Advances in Intellectual History, S. 109-129, 111. 40 Vgl. Peter Laslett (Hrsg.), John Locke’s Two Treatises of Government: A Critical Edition with an Introduction and Apparatus Criticus, Cambridge: Cambridge University Press, 1960; John G. A. Pocock, The Machiavellian moment. Florentine political thought and the Atlantic Republican tradition. 2. Auf., Princeton/ New Jersey: Princeton University Press, 2003; Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought. 2 Bände, Cambridge: Cambridge University Press,

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Etablierte Studien operieren mit einzelnen Akteuren oder konzeptionellen „Schulen“. Zu deren bekanntesten zählt die Cambridge School der Intellectual History – gemeinhin werden Quentin Skinner, John G. A. Pocock, John Dunn, Richard Tuck und James Tully genannt. Sie trugen zu einer kontextorientierten und sprachanalytischen Intellectual History im europäischen und amerikanischen Sprachraum bei.41 Mit ihnen wird eine „Revolution“42 innerhalb der Ideengeschichtsschreibung verbunden, die zu Bestandsaufnahmen von „ideas in context“ oder den „textual contexts“ über das Dezennium anregte.43 Entgegen den Einwürfen Lovejoys gelinge die Interpretation eines Textes nur einem historischen

1993/1994; Annabel Brett / James Tully (Hrsg.), Rethinking the Foundations of Modern Political Thought, Cambridge: Cambridge University Press, 2006; James Tully, Politische Philosophie als kritische Praxis. Frankfurt a.M.: Campus, 2009, S. 17-45; Daniel Schulz, Die Krise des Republikanismus. Baden-Baden: Nomos, 2015; Thorsten Thiel / Christian Volk (Hrsg.), Die Aktualität des Republikanismus, Baden-Baden: Nomos, 2016. 41 Nur ausgewählt: Quentin Skinner, Visionen des Politischen, hrsg. von Marion Heinz und Martin Ruehl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009; John G. A. Pocock, Political Thought and History. Essays on Theory and Method. Cambridge: Cambridge University Press, 2009; ders., „The concept of language and the métier d’historien: some considerations on practice“, in: Anthony Pagden (Hrsg.), The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press, 1990, S. 19-38; ders., „The History of Political Thought: A Methodological Enquiry“, in: Peter Laslett / W. G. Runciman (Hrsg.), Philosophy, Politics and Society. Second series, Oxford: Basil Blackwell, 1962, S. 183-202; Olaf Asbach: „Von der Geschichte politischer Ideen zur ‚History of Political Discourse‘? Skinner, Pocock und die ‚Cambridge School‘“, Zeitschrift für Politikwissenschaft, 12/2012, H. 2, S. 637-667; Martin Mulsow / Andreas Mahler (Hrsg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin: Suhrkamp, 2010; R. Tuck, History of Political Thought; Eckhart Hellmuth / Christoph von Ehrenstein (Hrsg.): „Intellectual History made in Britain. Die Cambridge School und ihre Kritiker“, Geschichte und Gesellschaft, 27/2001, H. 1, S. 149-172; James Tully (Hrsg.), Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Princeton/New Jersey: Princeton University Press, 1988; Mark Bevir, „The role of contexts in understanding an explanation“, in: Hans-Erich Bödeler (Hrsg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 161-208. 42 Axel Honneth, „Geschichtsschreibung als Befreiung. Quentin Skinners Revolutionierung der Ideengeschichte“, in: ders., Vivisektionen eines Zeitalters. Porträts zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin: Suhrkamp, 2014, S. 263-280, 266. 43 Vgl. Duncan Kelly, „The Politics of Intellectual History in Twentieth-Century Europe“; ders., „Contextual and Non-Contextual Histories of Political Thought“, in: Jack Hayward / Brian Barry / Archie Brown (Hrsg.), The British Study of Politics in the Twentieth Century, Oxford: Oxford University Press, 1999, S. 37-62. Brian

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Beobachter, der den Horizont seines Autors als Teil eines Gesprächszusammenhangs erkenne. In Anlehnung an sprachphilosophische Einwürfe John R. Searles und John Austins erschienen die Äußerungen des Autors und seine Texte als sprachliche und soziale Handlungen, deren Form, Konventionen und Regeln gleichermaßen erarbeitet werden können. Mit dem Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn, der von Paradigmenwechseln innerhalb einzelner Wissenschaftsfelder sprach, wird die Geschichte der Ideengeschichte demgegenüber in „turns“ strukturiert, die methodisch-konzeptionelle Umschwünge offenbaren.44 Erkennen die einen dahinter jenen langen Prozess eines „linguistic change“, nicht mehr die Gestalt der Ideen, sondern ihre sprachliche Form und die Intention ihrer Autoren zu untersuchen, bestimmen die anderen die Intellectual History durch sozial- und kulturgeschichtliche Einflüsse. Unter einen „social“, „contextual“ oder „cultural turn“ lassen sich „radically different concepts of concept, particularly since the 1970s“45 fassen. Sie untermauern das Eingeständnis, eine immer breitere Forschungslandschaft zu durchschreiten. Allerdings verweigern solche Einhegungen in wissenschaftsgeschichtliche „turns“ mitunter, die Restriktionen in den Abgrenzungen oder vermittelnde Deutungen unter den Ideenhistorikern genauer zu erfassen. Die Wurzeln des „social turn“ wurden bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei den Historikern der Annales-Schule, Marc Bloch und Lucian Febvre, in Frankreich lokalisiert.46 Mit Verweis auf die Soziologie Émile Durkheims insistierten sie darauf, dass es sich bei (politischen) Ideen um sprachliche Äußerungen ihrer Vermittler handele, die innerhalb einer rekonstruierbaren sozialen Situation getätigt wurden. Die historische

Cowan, „intellectual, social and cultural history: ideas in context“, in: Richard Whatmore / Brian Young (Hrsg.), Palgrave Advances in Intellectual History, S. 171-188; D. R. Kelley, The Descent of Ideas; D. LaCapra, „Tropisms of Intellectual History“. 44 Vgl. T. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen; ders., Die Entstehung des Neuen; dazu zählen ein social, cultural, linguistic, practical, experimental, discursive, relativistic, representational, body oder pictorial turn. 45 Anthony Pagden, „Introduction“, in: ders. (Hrsg.), The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press, 1990, S. 1-17, 2f.; B. Cowan, „intellectual, social and cultural history“, S. 171. 46 B. Cowan, „intellectual, social and cultural history“, S. 176; P. Schöttler, Die ‚Annales‘-Historiker und die deutsche Geschichtswissenschaft; André Burguière, The Annales School.

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Beschäftigung mit jenen geistigen Konstrukten gleiche einer Bewegung hin zu den sozialen Beweggründen, den Motiven und Zwängen ihrer Autoren und Vermittler. Eine „social history of ideas“ gewann durch den amerikanischen Historiker Robert Darnton weiter Gestalt, der eine Brücke zu den mentalitäts- und populärkulturellen Arbeiten des französischen politischen Denkens schlug.47 Das Konzept der „Sozialgeschichte“ als Analyse der sozialen und ökonomischen Bedingungen des Denkens und seiner Autoren (bis hin zu Alltagswelten) bestimmte die Forschungsdebatten zwischen Europa und Amerika seit den 1960er Jahren: Nun standen nicht mehr Ideenströme oder Texte im Mittelpunkt, auch reichte die Ermittlung der sprachlichen oder intellektuellen Kontexte nicht aus, vielmehr galt es, die sozialen, ökonomischen und gesellschaftliche Strukturen, welche den Rahmen für verschiedene Akteure und ihre Handlungsmöglichkeiten boten, zu analysieren. Gerade französische Historiker verwiesen auf Mentalitäten und soziale Prägungen als Werkstoffe, auch um die Verbindungen zwischen Geschichtswissenschaft und anthropologischen wie ethnologischen Forschungen zu prüfen.48 Mit dem Werkzeug Michel Foucaults hoben sprachphilosophisch operierende Forscher hervor, es sei unmöglich, einen Text und die Intention seines Autors zu verstehen.49 Insofern könne auch keine Geschichte der

47 Robert Darnton, „Intellectual and Cultural History“, in: Michael Kammen (Hrsg.), The Past before us. Contemporary Historical Writing in the United States, Ithaca/ London: Cornell University Press, 1980, S. 327-354.1980; Peter Gay, „The Social History of Ideas. Ernst Cassirer and after“, in: Kurt H. Wolff / Barrington Moore, Jr. (Hrsg.), The Critical Spirit. Essays in Spirit of Herbert Marcuse, Boston: Beacon Press, 1967, S. 106-120.; zur deutschen Tradition: Thomas Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976; Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 5 Bände, München: C.H. Beck, 1987-2008; ders. (Hrsg.), Erweiterung der Sozialgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996; ders., Moderne deutsche Sozialgeschichte. Nachdruck, Königstein/Ts.: Athenäum, 1981; Werner Conze / M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart: Klett-Cotta, 1983. 48 Vgl. Roger Chartier, „Geistesgeschichte oder histoire des mentalités“, in: D. LaCapra / S. L. Kaplan (Hrsg.), Geschichte denken, S. 11-44.; Ulrich Raulff (Hrsg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin: Klaus Wagenbach, 1987. 49 Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981, S. 13-47; ders., Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1971; Jacques Derrida, Grammatologie. 6. Auf., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996.

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Ideen als rekonstruierende Bewegung formuliert werden. Sie gleiche eher Diskursen und Aussagensystemen: einem Zerlegen in „Einheiten, Mengen, Serien, Beziehungen in dem dokumentarischen Gewebe selbst“, um diese Elemente ähnlich einer archäologischen Schöpfung als Diskontinuitäten und in Relationen zu bergen. Indem Texte dokumentarisch in einzelne Segmente eines sprachlichen Gewebes zerfallen, lassen sich allein Aussagensysteme gewinnen. Der damit verbundene „general discursive shift“ in der Ideengeschichtsschreibung unterstrich die Verbindung von Ideen und ihrer sprachlichen Verfasstheit – in einer Suche nach den Bedingungen der Texte und die Kontexte des Schreibens.50 Die Untersuchung von Normen, Überlieferungen oder Netzwerken von Ideen und ihren intellektuellen Stichwortgebern läutete den „cultural turn“ ein: Innerhalb dieses Paradigmas wurden Autoren und Texte zu kulturell determinierten Materialien, die eine schreibende und vermittelnde Praxis vergegenständlichten. Eine „cultural history“ untersuchte erneut die nicht-textuellen Kontexte. Dies griff das Unbehagen – besonders innerhalb amerikanischer Debatten – an der nunmehr „klassischen“ Sozialgeschichte auf, um die Intellectual History eher in eine Historie von Begriffen oder von politischen Sprachen zu überführen.51 Nun standen Kontexte und die Sprachen der Autoren, ihre Diskurse sowie der ästhetische und linguistische Charakter ihrer narrativen Struktur im Vordergrund. Zwar gab es Versuche, die Intellectual History in die kulturgeschichtliche Forschung zu inkorporieren, diese wurden jedoch hauptsächlich im deutschen Sprachraum unternommen.52

50 Geoff Eley, „Is all the World a Text? From Social History to the History of Society two Decades later“, in: Gabrielle M. Spiegel (Hrsg.), Practicing History. New Directions in Historical Writing after the Linguistic Turn, London/New York: Routledge, 2005, S. 35-61, 36; Martin Jay, „The Textual Approach to Intellectual History“, in: ders., Force Fields. Between Intellectual History and Cultural Critique, London/New York: Routledge, 1993, S. 158-166. 51 Vgl. B. Cowan, „intellectual, social and cultural history“, S. 180; Willibald Steinmetz, „Neuere Paradigmen historischer Forschung. Von der Geschichte der Gesellschaft zur ‚Neuen Kulturgeschichte‘“, in: Andreas Wirsching (Hrsg.), Neueste Zeit, 2. Auf., München: Oldenbourg, S. 233-252. 52 Vgl. J. A. W. Gunn, „After Sabine, After Lovejoy: The Languages of Political Thought“, in: D. R. Woolf (Hrsg.), Intellectual History: New Perspectives (= Journal of History and Politics VI, 1988/1989), Lewinston/Quennston/Lampeter: Edwin Mellen Press, 1989, S. 1-46; Nancy J. Christie, „From Intellectual to Cultural History: The Comparative Catalyst“, ebd., S. 79-100; D. Kelly, „The Politics of Intellectual History in Twentieth-Century Europe“. S. 217-222.

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3. Ein Fallbeispiel: Zur Debatte um das historische Verstehen Die Hochzeit sozial- und kulturgeschichtlicher Forschungen in den 1970er Jahren ließ einzelne Betrachter von einer Krise oder Unsicherheit der Ideengeschichte und Intellectual History sprechen; sie müsse mit einer Diskussion um Wesen und Ziele der Disziplin überwunden werden. Kritiker warnten vor einer Vereinnahmung der Ideengeschichte und Intellectual History durch die Sozialgeschichte, die ihren transdisziplinären Charakter, die Textlichkeit ihres Materials und die Herausforderung ihres „Verstehens“ vernachlässige. Ihr Widerspruch lässt sich zu einer eigenen Erzählung innerhalb einer Geschichte der Ideengeschichtsschreibung formen, welche in konkreten Foren einen kontroversen Charakter annahm. Exemplarisch soll dies an einem Wiederaufleben des historischen Verstehens anhand der Debatte um den britisch-amerikanischen Politikwissenschaftler Mark Bevir gezeigt werden, an der sich europäische und amerikanische Ideenhistoriker gleichermaßen beteiligten. Angesichts des Umfangs kann es sich jedoch nur um einen kursorischen Ausschnitt handeln. Zum Hintergrund: In der Auseinandersetzung mit der Sozial- und Kulturgeschichte betonten deren Kritiker seit den 1980er Jahren, Intellectual History sei „reconstruction of the past“ und zugleich „dialogue or conversation with the past“, wobei im Rahmen dieses Dialogs Begriffe, Denkmuster und sprachliche Konzepte herausgearbeitet werden.53 Sie glich einer Spurensuche nach den Grenzen und Bedingungen historischen Verstehens. Besonders den sprachanalytischen Zugängen fehle die Verbindung von Autor, Gesellschaft und Text.54 Berühmt ist David Harlans Diskussion einer kontextualisierenden und sprachanalytischen Intellectual History Skinners und Pococks.55 Er wandte sich gegen eine Analyse von Sprechakten eines Textes, da Autor und Material auf eigene Traditionen

53 Vgl. Dominick LaCapra, Rethinking Intellectual History. Texts, Contexts, Langage. Ithaca/London: Cornell University Press, 1983, S. 24-35, 62-66. 54 Einen Überblick geben: Dominick LaCapra, „Geistesgeschichte und Interpretation“, in: ders. / Kaplan (Hrsg.), Geschichte denken, S. 45-86, 45-78; ders., Tropisms of Intellectual History; O. Asbach, Von der Geschichte politischer Ideen zur ‚History of Political Discourse‘. 55 Er votierte dafür, die Texte vergleichend in andere (auch zeitgenössische) Kontexte zu überführen: „reconstructing the mentalité of a particular epoch, its central ideas and values, its modes of perception, its systems of discourse, its formal structures of thought, the way in which it produced and disseminated meaning, and the procedures it used for translating meaning from one discourse to

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bauen, die nicht ergründet werden können. Es gelte, das Verstehen von Texten wiederzubeleben. Früh warnte der amerikanische Historiker Dominick LaCapra davor, die interdisziplinären Grenzen und Brücken einer geistesgeschichtlich geprägten Intellectual History zu vernachlässigen. Er erkannte im textlichen Format des Materials, in der Bedeutung des Diskurses, in geistesgeschichtlichen Traditionen und in hermeneutischen Verfahren jene Stellschrauben, deren Bewegung neue Konzepte des Lesens und der Interpretation hervorbrachten.56 Die De- und Rekonstruktion von Texten reiche nicht aus, vielmehr erlaube gerade die Re-Lektüre klassischer Texte ein historisches „Verstehen“, da neben dem dokumentarischen Charakter ein Dialog mit dem Autor und seinen Intentionen möglich sei.57 Sie reklamierten eine Rückkehr zu hermeneutischen Traditionen und einer „dialogic relation to history“ im Sinne eines historischen „Verstehens“.58 Auch innerhalb der französischen Literatur- und Ideengeschichte versuchten einzelne Beobachter, die archäologische Methode Foucaults für hermeneutische Perspektiven fruchtbar zu machen. Hinterfragt die Diskursanalyse zentrale Kategorien der Ideengeschichte (den Autor, das Werk und seine Einheit, Kontext und Zeit), um sie als diskursive Elemente für eine Epoche zu fassen, obliegt es ihr, diese für deren systematische Abgren-

another“ (David Harlan: „Intellectual History and the Return of Literature“, American Historical Review, 94/1989, H. 3, S. 581-609, 587-604, 603). 56 Vgl. LaCapra, Geistesgeschichte und Interpretation, S. 46f.; ders., Tropisms of Intellectual History; A. Grafton, The History of Ideas; Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987, S. 343-386; mit einer Wiederenteckung Arthur Lovejoys John Patrick Diggins: „Arthur O. Lovejoy and the Challenge of Intellectual History“, Journal of the History of Ideas, 67/2006, H. 1, S. 181-208. 57 Geoff Eley unterschied innerhalb der englischsprachigen Forschungen zur Sozialgeschichte zwei Richtungen: die britischen Postmarxisten in der Tradition Louis Althussers sowie die nordamerikanischen, eher literaturtheoretisch argumentierenden Dekonstruktivisten. Beide Ansätze verloren in seinen Augen die intellektuellen Beweggründe des Denkens und Schreibens wie eine allgemeinere Tendenz gegenüber kleinteiligen anthropologischen Studien aus den Augen, vgl. G. Eley, „Is all the World a Text?“. 58 LaCapra, „Tropisms of Intellectual History“, S. 192; vgl. Paul Ricoeur, Der Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze (1960-1969), hrsg. von Daniel Creutz und Hans-Helmuth Gander, Freiburg/München: Karl Alber, 2010; Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 2. Auf., Tübingen: Mohr, 1965.

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zung und Unterscheidung zu umkreisen, um weiterhin an einer historischen Erzählung zu arbeiten.59 Obgleich es sich bisher um zeitübergreifende und mehrgeteilte Einwürfe, weniger um eine tatsächliche Kontroverse handelte, legten sie Grundsteine für die Diskussion um einen „weak intentionalism“ als konstruktive Verbindung von Philosophie und Geschichte in einer History of Ideas. Er wurde von Mark Bevir um die Jahrtausendwende formuliert.60 Schien es nach Foucault und Hayden White unmöglich, die Distanz zwischen Autor, Text und Leser zu überwinden, allein mit einer literarisch-ästhetischen Rekonstruktion zu arbeiten, um Repräsentationen und Narrative zu ermitteln, forderte Bevir epistemologische Untersuchungen, die sich historisierenden Perspektiven öffne.61 Dabei enthielt jene „theory of meaning“ mehrere Ebenen: die Aneignung eines textlich verfassten Materials, mittels eines Lesens, welches die Beweggründe des Autors mit jenen des Lesers verknüpfte. Bevir wandte sich dagegen, das Verstehen mit einer kontextualisierenden Annäherung an die Intentionen des Autors zu verwechseln, vielmehr können die Probleme der Texte in das Vokabular des Lesers übertra-

59 Mit Verweis auf andere Arbeiten vgl. exemplarisch G. Raulet, „Histoire des idées“, S. 9-19. 60 Vgl. Daniel I. O’Neill: „Revisiting the Middle Way: The Logic of the History of Ideas after More Than a Decade“, Journal of the History of Ideas, 73/2012, H. 4, S. 583-592; Mark Bevir: „Mind and Method in the History of Ideas“, History and Theory, 36/1997, H. 2, S. 167-189; ders., The Logic of the History of Ideas. Cambridge: Cambridge University Press, 1999; ders., The role of contexts in understanding an explanation; ders., „How to be an Intentionalist“, History and Theory, 41/2002, H. 2, S. 209-217; ders., „Introduction: Historical Understanding and the Human Sciences“, Journal of the Philosophy of History, 1/2007, S. 259-270; ders., „Why Historical Distance is not a Problem“, History and Theory, 50/2007, H. 4, S. 24-37; ders., „Historicism and Critique“, Philosophy of the Social Sciences, 45/2015 H. 2, S. 227-245; ders., „What is Radical Historicism?“, Philosophy of the Social Sciences, 45/2015, H. 2, S. 258-265. 61 Vgl. M. Bevir, The Logic of the History of Ideas, S. 54, 67; ders., The role of contexts in understanding an explanation, S. 171; 176 f; mit Verweis auf John G. Gunnell: „Interpretation and the History of Political Theory. Apology and Epistemology“, American Political Science Review, 76/1982, H. 2, S. 317-327; ders., Political Theory. Tradition and Interpretation. Cambridge: Winthrop Publishers, 1979; Bevir lehnte sich dabei an Wilhelm Dilthey, Max Weber und Robin Collingwood an. Vgl. Hayden White, Tropics of Diccourse. Essays in Cultural Criticism. 5. Auflage, London: John Hopkins University Press, 1992; ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M.: Fischer, 1990.

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gen werden; sie gleichen übergreifenden Gegenständen oder Fragestellungen.62 Die Aufgabe des Ideenhistorikers bestehe darin, eine Beziehung zwischen verschiedenen Texten, Problemfeldern und Konzepten (auch im Sinne einer Geneaologie) herzustellen; dabei komme es gerade auf sein individuelles Streben, seine Vorannahmen und Lesarten an.63 Nur im Rahmen eines interpretierenden Verstehens sei es möglich, den Kontext und die sprachliche Struktur dieser Äußerungen und Überzeugungen herauszuarbeiten. Darin wird zugleich sein kritischer Auftrag offenbar.64 Rezensenten und Kritiker Bevirs wiederholten wiederum die Argumente gegen verstehensorientierte Zugänge der Ideengeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert. Das historische Verstehen könne nicht allein über die Lektüre von Texten bewerkstelligt werden. Sie begründen die Position des Lesers wie die Intention des Autors nur ungenügend, sie folgen darüber hinaus einem individualisierenden und rationalitätsorientierten Ansatz, der gemeinschaftliche Bezüge oder Zwänge sowie die sprachliche Prägung vernachlässige.65 Andere erkannten gerade anhand seines Vorstoßes eine praktikable Überwindung eines strukturalistischen oder poststrukturalistischen „Idealismus“ sprach- und kulturgeschichtlicher Konzepte, welche die Position des Autors und die textlichen Inhalte gegenüber linguistischer Formen wie kultureller Prägungen vergesse.66 Ein neu inspiriertes Konzept des historischen Verstehens erreiche demgegenüber eine neue Stufe 62 Dies stellte er besonders Skinner und Pocock gegenüber, vgl. Mark Bevir: „The Errors of Linguistic Contextualism“, History and Theory, 31/1992, H. 3, S. 276-298, 297; ders., „Are there Perennial Problems in Political Theory?“, Political Studies, XLII/1994, S. 662-675, 673. 63 Bevir sprach in diesem Zusammenhang von einem „weak intentionalism“ oder „postfoundational intentionalism“, Bevir, „How to be an Intentionalist“, S. 210; ders., „Mind and Method in the History of Ideas“, S. 188. 64 Peter E. Gordon, „Contextualism and Criticism in the History of Ideas“, in: D. M. McMahon / S. Moyn (Hrsg.), Rethinking Modern European Intellectual History, S. 32-55. 65 Vgl. Mark Bevir / Kari Palonen / Siep Stuurman / F. R. Ankersmit / Allan Megill: „Round Table: The Logic of the History of Ideas“, Rethinking History. The Journal of Theory and Practice, 4/2000, H. 3, S. 295-350; Vivienne Brown: „Historical Interpretation, Intentionalism and Philosophy of Mind“, Journal of the Philosophy of History, 1/2007, S. 25-62; Dies., „On Some Problems with Weak Intentionalism for Intellectual History“, History and Theory, 41/2002, H. 2, S. 198-208. 66 Vgl. Andreas Reckwitz’ Anmerkungen in: Mark Bevir / Marck Erickson / Austin Harrington / Andreas Reckwitz: „Constructing the past: review symposium on Bevir’s The Logic of the History of Ideas“, History of the Human Sciences, 15/2002, H. 2, S. 99-133, 118; P. Ricoeur, Der Konflikt der Interpretationen.

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mentaler und textlicher Strukturen, auch um einen kulturellen Wandel abzubilden. Dies legitimiere die historisch arbeitenden Wissenschaften neu, schließlich ist in ihr ein erweitertes Bewusstsein des eigenen Standpunkts eingeschlossen. Hermeneutische Ansätze folgen den Signalen eines „verstehenden Nachvollziehens“.67 Sie reichen bis zu den Stichwortgebern der Ideengeschichte und Intellectual History zurück. Dies schließt die Skepsis vor spezialisierten Logiken strukturalistischer und poststrukturalistischer Literaturtheorien ein, die insbesondere zwischen den USA, Großbritannien und Frankreich verhandelt wurden. Einigen Beobachtern erschien die Intellectual History als Mittelweg, die darin neue Ermittlungen wage.68 Obgleich es sich nur um ein Stakkato an Einwürfen handelt, wird innerhalb des Gesprächs um Bevirs verstehensorientierten Ansatz ein vielgestaltiges und mehrgeteiltes Problemfeld der Ideengeschichtsschreibung sichtbar: Anhand der Rezensionen und Eindrücke zu seinen Standpunkten, welche Wissenschaftler verschiedener Fächer – Historiker, Soziologen, Politikwissenschaftler und Philosophen – versammelten, lassen sich neben der Kritik Rückverweise auf Vordenker eines hermeneutischen Verstehens erkennen. Sie debattieren das Verhältnis von Lektüre und Re-Lektüre, von Beobachter, Autor und Text sowie der Zeitlichkeit des Zugangs. Darin sind Quellenbestände und die Grenzen ihrer Aneignung eingeschlossen. Mit dem Auftrag, zeitgenössische Fragestellungen in eine historische Betrachtung einzubeziehen oder dies anhand der zeitlichen Kontexte jedes Werkes abzuweisen, sind eine Kanonisierung des Fundus und Wortgefechte um Klassiker des (politischen) Denkens verbunden. Dahinter verbergen sich programmatische Positionen und Abgrenzungen, welche historisierend für einen Erfahrungswandel zur Ideengeschichtsschreibung sichtbar gemacht werden können. Anders als in den letzten Zeilen gilt es dabei, noch stärker die Re-Lektüren und Verweise zu kennzeichnen. Gleichwohl kann anhand der bisherigen Notate die These wiederholt werden: Wird in den Forschungsfeldern der Ideengeschichte und Intellectual History die Geschichtlichkeit ihrer Gegenstände erörtert, kann dies auf den Zuschnitt und die Grenzpfähle jener Fluren selbst übertragen werden.

67 Daniel Morat, „Braucht man für das Verstehen eine Theorie? Bekenntnisse eines Neohermeneutikers“, in: Jens Hacke / Matthias Pohlig (Hrsg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis historischen Forschens, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 41-52. 68 Vgl. D. O’Neill, „Revisiting the Middle Way“.

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Diskontinuität als Paradigma. Ideengeschichte im Zeitalter der Kontingenz Frauke Höntzsch

Das 20. Jahrhundert ist geprägt von epochalen Umbrüchen und der grundstürzenden Infragestellung alles Gewesenen – von gesellschaftlicher, politischer und moralischer Diskontinuität. Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts bestätigen und verstärken damit die bereits im 19. Jahrhundert zunehmend sich durchsetzende Annahme der (historischen) Heterogenität und (historischen) Relativität jeglicher Wertvorstellungen. Diese Heterogenität findet jedoch keine Entsprechung in einer (gegenüber früheren Epochen) gesteigerten Heterogenität politiktheoretischer Positionen oder in einer Heterogenität des Umgangs mit ideengeschichtlichen Quellen. Vielmehr ist über alle Brüche hinweg ein gemeinsamer Grundton der politischen Ideengeschichte im 20. Jahrhundert feststellbar: Es lässt sich – so die These des Beitrags – eine im doppelten Sinne ideengeschichtliche Kontinuität beobachten, die aus der geteilten Erfahrung der Diskontinuität erwächst und die sich theoretisch als Erkenntniskritik sowie im Umgang mit der Ideengeschichte in Form der Historisierung der Quellen niederschlägt. Dies ist nicht nur bei deutschen Denkern zu beobachten, kommt jedoch aufgrund der Rolle Deutschlands im 20. Jahrhundert hier besonders deutlich zum Ausdruck. Die These der für die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts paradigmatischen Diskontinuität soll anhand von drei Positionen verdeutlicht werden: Karl Mannheims (1893-1947) Wissenssoziologie, der frühen kritischen Theorie Max Horkheimers (1895-1973) und der postmodernen politischen Theorie Hannah Arendts (1906-1975). Von Mannheim über Horkheimer zu Arendt lässt sich eine Entwicklung nachzeichnen hinsichtlich der Konsequenz, mit der sich die geteilte Erfahrung der Diskontinuität in ihrem Denken niederschlägt. Zwar gehören alle drei Autoren einer Generation an, aber aufgrund des Umstands, dass Mannheim bereits 1947 verstarb und dass er seine hier interessierenden wissenssoziologischen Über-

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legungen vor der Emigration 1933 verfasste1, grenzt sich sein Denken hinsichtlich der Radikalität des theoretischen Umgangs mit der Diskontinuität von demjenigen Horkheimers und Arendts ab. Als Grundlage des Denkens der Diskontinuität kann meines Erachtens die Herausbildung der empirischen Geschichtswissenschaft verstanden werden, die im 19. Jahrhundert vorübergehend zur Leitwissenschaft avanciert.2 Der Historismus markiert dabei den Übergang hin zum Paradigma der Diskontinuität, insofern er zwar methodisch noch dem Exaktheitsanspruch der Naturwissenschaften verpflichtet ist (und dadurch Kontinuität zu wahren sucht), zugleich aber „eine tiefgreifende Veränderung des okzidentalen Weltbildes“ bewirkt: „Denn die Einsicht in die geschichtliche Gewordenheit und die nur relative Geltung aller Kulturerscheinungen stellte jeden Absolutheitsanspruch, der in der Gegenwart erhoben wurde, prinzipiell in Frage. Die geschichtswissenschaftliche Erkenntnis stellte neben die Wertekonzepte der Gegenwart die Wertekonzepte der Vergangenheit. Indem sie aber dieses tat, offenbarte sie die nur zeitlich begrenzte Geltung von Werten überhaupt.“3

Während der Historismus als Forschungsprogramm in die Krise geriet, war doch die Erkenntnis der Gewordenheit und damit Kontingenz aller sozialer Erscheinungen nicht mehr rückgängig zu machen. Die von Mannheim konstatierte „Seinsgebundenheit allen Denkens und Erkennens“4 bringt den neuen Ausgangspunkt des Denkens bereits deutlich zum Ausdruck, doch finden sich hier noch Restbestände des vergangenen naturwissenschaftlich geprägten Denkens. In dem Versuch der Rettung der Kontinuität gerade durch die in Methode gegossene Diskontinuität zeigt sich die Differenz Mannheims zu Autoren, die die Erfahrung des Totalitarismus und des Grauens des Nationalsozialismus und damit das Ungenügen alter Denkmuster, in ihr Denken integrieren. Am Anfang steht nun die Frage,

1 Vgl. David Kettler / Volker Meja / Nico Stehr: „Karl Mannheim und die Entmutigung der Intelligenz“, in: Zeitschrift für Soziologie, 19/2, 1990, S. 117-130; Kettler / Meja / Stehr halten fest: „Die Kluft zwischen den deutschen und englischen Phasen in Mannheims Werk zeigt, daß für Mannheims soziologisches Werk Biographie zum Schicksal wurde.“ (ebd., S. 117) 2 Vgl. Anette Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1992, S. 12. 3 Ebd., S. 14f. 4 Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens [1925], hrsg. von David Kettler / Voker Meja / Nico Stehr, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984, S. 47.

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wie es Horkheimer und Adorno in der Vorrede zu Dialektik der Aufklärung formulieren, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“.5 Oder mit Arendt gesprochen: „Erst die totalitäre Herrschaft als ein Ereignis, das in seiner Beispiellosigkeit mit den überkommenen Kategorien politischen Denkens nicht begriffen [...] [werden kann], hat die in der Überlieferung so lange gesicherte Kontinuität abendländischer Geschichte wirklich durchbrochen. Dieser Traditionsbruch ist heute eine vollendete Tatsache.“6

Die Erfahrung des „Zivilisationsbruchs“ führt zu einer Steigerung dessen, was bei Mannheim angelegt ist, in Form eines radikaleren erkenntnistheoretischen Niederschlags der Erfahrung der geschichtlichen Diskontinuität. Während Horkheimer in der Folge die Annahme einer auf ein sinnhaftes Ziel zulaufenden Geschichte verwirft, steht sein Denken doch in Kontinuität mit dem historischen Materialismus und dessen Anspruch aus dem Studium der Geschichte Gesetzmäßigkeiten zu extrahieren, wohingegen der Bruch bei Arendt theorieextern begründet ist und keinerlei (ideengeschichtliche oder theoretische) Kontinuität mehr zulässt. Die Unterschiede und Übergänge zwischen den genannten Autoren mit Blick auf die Erfahrung der Diskontinuität sowie die These, dass die Kontinuität gerade in der Diskontinuität als Ausgangspunkt des politischen Denkens liegt, soll an drei für das neue Denken meines Erachtens zentralen, miteinander zusammenhängenden Topoi belegt werden: erstens der Abkehr von letzten Wahrheiten und daraus abgeleitet zweitens der Infragestellung der Erkennbarkeit des Wesens des Menschen sowie drittens der Absage an die Sinnhaftigkeit der Geschichte. Aus letzterem ergibt sich zugleich die Kontinuität des Umgangs mit den ideengeschichtlichen Quellen. Denn die Erfahrung der Diskontinuität und die daraus resultierende Erkenntniskritik führen nicht nur zu einer Kontinuität zwischen den unterschiedlichen ideengeschichtlichen Positionen des 20. Jahrhunderts, sie prägen zugleich auch deren Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen. Das Aufkommen der Ideengeschichte als Disziplin selbst lässt sich als Reaktion auf die durch den Historismus behauptete Werterelativität und die damit verbundene Erfahrung der Diskontinuität

5 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer, 1988, S. 1. 6 Hannah Arendt, „Tradition und Neuzeit“, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München/Zürich: Piper, 2013, S. 35.

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verstehen. Mit der zunehmenden erkenntnistheoretischen Radikalität der Erfahrung der Diskontinuität und hier besonders des Zivilisationsbruchs wird die Annahme überzeitlicher Ideen jedoch zunehmend kritisiert und werden die ideengeschichtlichen Quellen historisiert und (zumindest dem Anspruch nach) nur noch als Ausdruck einer bestimmten Zeit bzw. Gesellschaft oder Kultur verstanden.7 Auch hier lässt sich eine Entwicklung von Mannheim über Horkheimer zu Arendt beobachten. Während Mannheim in dem Versuch, Kontinuitäten ausfindig zu machen, Meineckes Ansatz nur ergänzen bzw. methodisch ausdifferenzieren will, dienen Horkheimer die ideengeschichtlichen Quellen als Beweis der Richtigkeit seiner eigenen politik-theoretischen Position. Arendt schließlich kann – auch hier konsequenter als die zuvor genannten – als Vordenkerin einer genuin politikwissenschaftlichen Ideengeschichte verstanden werden, insofern sie, von jeglicher verbindlicher historischen Kontinuität absehend, Methode und normative Theorie klar voneinander trennt. 1. Karl Mannheim: Kontinuität durch in Methode gegossene Diskontinuität In Karl Mannheims Einordnung der Bedeutung des Historismus für seine Theorie wird deutlich, dass er sich der Umbruchsituation bewusst ist, wenn er den Historismus in seiner Wirkung explizit in Parallelität zum Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit versteht: „Der Historismus ist also kein Einfall, er ist keine Mode, er ist nicht einmal eine Strömung, er ist das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlichkulturelle Wirklichkeit betrachten. Er ist nicht ausgeklügelt, er ist kein Programm, er ist der organisch gewordene Boden, die Weltanschauung selbst, die sich herausbildete, nachdem das religiös gebundene Weltbild des Mittelalters sich zersetzte und nachdem das aus ihm säkularisierte Weltbild der Aufklä-

7 Besonders prominent etwa im Ansatz der Cambridge School (vgl. u.a. Quentin Skinner, „Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte“, in: Martin Muslow / Andreas Mahler (Hrsg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010, S. 21-87); für das gleichwohl in jeder politischen Ideengeschichte enhaltene „philosophisches Moment“ vgl. Frauke Höntzsch, „Philosophische Perspektiven auf die Ideengeschichte“, in: Samuel Salzborn (Hrsg.), Handbuch Politische Ideengeschichte, Stuttgart: Metzler, 2018.

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rung mit dem Grundgedanken einer überzeitlichen Vernunft sich selbst aufgehoben hatte.“8

Die Entstehung der Soziologie beschreibt Mannheim vor diesem Hintergrund als Reaktion auf die Krise der Moderne; es ist, laut Mannheim, „kein Zufall, daß das Problem der sozialen und aktivistischen Verwurzelung des Denkens in unserer Generation entstanden ist“.9 Mannheim spricht vor dem Hintergrund der Weimarer Politik von einer „für unsere Zeit charakteristischen geistigen Aufgestörtheit“10, von einer „Situation, in der die Pluralität der Denkstile sichtbar und die Existenz von kollektiv-unbewußten Motiven erkennbar geworden ist“11, es ist schließlich die „Zuspitzung der geistigen Krise, zu der es schließlich kam“12, die Mannheim durch die Begriffe Ideologie und Utopie zu kennzeichnen versucht und die durch die Zerstörung „des Vertrauens des Menschen in das menschliche Denken überhaupt“13 gekennzeichnet ist. Die Diskontinuität, die Heterogenität wird hier nicht nur als beherrschendes Moment der Zeit wahrgenommen, sondern wird als Basis der Wissenssoziologie zugleich methodisch übersetzt, wenn „aus der bloßen Ideologielehre die Wissenssoziologie entsteht“, die „den Mut hat [...] auch den eigenen Standort als ideologisch zu sehen“.14 Aber wenn auch die „Seinsgebundenheit“, die Abhängigkeit allen Denkens vom jeweiligen historischen und sozialen Standort zum Ausdruck bringt, so gibt Mannheim darüber, anders als die durch die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus geprägten Denker, die Hoffnung auf eine Überwindung der Krise nicht auf: „Weil dieses Buch sich einer Krisensituation des Denkens bewußt ist, an den Aussichten der Lösbarkeit aber nicht zweifelt, bringt es zunächst noch keine vorzeitigen Lösungen.“15 Entsprechend argumentiert er zwar vom „Standort des Historis-

8 Karl Mannheim, „Historismus“ [1924], in: ders., Wissenssoziologie, eingeleitet und hrsg. von Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied: Luchterhand, 1964, S. 246-307, hier: S. 247. 9 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie [1929], mit einer Einleitung von Jürgen Kaube. Frankfurt a.M.: Klostermann, 6. Auf., 2015, S. 7. 10 Ebd., S. 30. 11 Ebd., S. 38. 12 Ebd., S. 36. 13 Ebd., S. 37. 14 Ebd., S. 70. 15 Ebd., S. 51 (Hervorh. d. Verf.).

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mus“16 aus, wehrt sich aber gegen den Vorwurf des Relativismus17 und spricht stattdessen von Relationalismus.18 Meines Erachtens versucht Mannheim so die theoretische Kontinuität durch die in Methode gegossene Diskontinuität zu retten; er geht zwar von der Seinsgebundenheit aus, das bedeutet aber nicht die völlige Absage an die Existenz absoluter Wahrheit, an die Erkennbarkeit des Wesens des Menschen und die Sinnhaftigkeit der Geschichte, die gerade durch die Methode der Wissenssoziologie gerettet werden sollen.19 Mannheim weist absolute Wahrheitsansprüche (nicht die Existenz absoluter Wahrheit) aufgrund der Unmöglichkeit absoluter Erkenntnis vom jeweiligen Standort aus zurück und grenzt seinen Vernunft- und Wahrheitsbegriff als dynamisch von einem statischen Begriff ab: „Wenn man behauptet, dass das Absolute selbst werdend ist und nur standortsgebunden, von bestimmten Standorten aus, die aus ihm selbst erwachsen, prinzipiell nur perspektivistisch und in Kategorien, die mit dem Werden der Inhalte mit affiziert werden, erfassbar ist, so hat man keinen Relativismus verkündet. [...] Dieses letzte, werdende Substrat hat in seinem Progreß seine Wahrheit, und die Perspektivität, da sie sich im Elemente der Wahrheit konstituiert, ist nicht willkürlich, sondern umkreist von bewegten Standorten aus ein bewegtes Objekt.“20

Das heißt alles Denken ist standortgebunden, aber die Wahrheit wirkt durch es hindurch und ist, wenn auch erst am Ende der Geschichte, wenn alle Perspektiven berücksichtigt wären, potentiell offenzulegen.21 Für

16 Karl Mannheim, „Das Problem der Soziologie des Wissens“ [1925], in: ders., Wissenssoziologie, S. 308-387, hier: S. 333. 17 Vgl. dazu u.a. Brian Longhurst, Karl Mannheim and the Contemporary Sociology of Knowledge. London: Macmillian Press, 1989, S. 75ff. 18 Für eine detaillierte Analyse von Mannheims Verständnis des Relationalismus vgl. Thomas Jung, Die Seinsgebundenheit des Denkens. Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie. Bielefeld: transcript, 2007, S. 93-110. 19 Für eine umfassende Analyse der metaphysischen und geschichtsphilosophischen Implikationen von Mannheims Wissenssoziologie vgl. Arnhelm Neusüss, Utopisches Bewußtsein und freischwebende Intelli-genz. Zur Wissenssoziologie Karl Mannheims. Meisenheim/Glan: Hain, 1968. 20 K. Mannheim, „Historismus“, S. 303. 21 Vgl. Gregory Baum, Truth beyond relativism. Karl Mannheim’s sociology of knowledge. Milwaukee, Wisc.: Marquette University Press, 1977, S. 38ff.; für eine detaillierte Darstellung von Mannheims Wahrheitskonzeption vgl. Th. Jung, Die Seinsgebundenheit des Denkens, S. 75-93; für den Widerspruch zwischen Mannheims Ablehnung einer präexistenten Wahrheit-an-sich und seiner „Utopie einer sich letztlich geschichtlich herstellbaren Totalwahrheit“ vgl. ebd., S. 84.

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Mannheim weist gerade die Erkenntnis der Partikularität und parteiliche Gebundenheit allen politisch-weltanschaulichen Wissens den Ausweg, da „zugleich mit derselben Evidenz zu erkennen ist, daß in ihm stets ein Ganzes wird und daß die parteilichen Aspekte jeweils sich ergänzende Teileinsichten in dieses Ganze sind“.22 Als Träger einer solchen Synthese der Teileinsichten macht Mannheim dabei (an Alfred Weber anschließend) die „sozial freischwebende Intelligenz“23 aus. Entsprechend stellt Mannheim sogar in Aussicht, dass sich das Wesen des Menschen indirekt, durch seine Spuren, die es in der Geschichte zurücklässt, charakterisieren lässt – wenn auch, wie die Wahrheit, nur über den Umweg der Diskontinuität: „Man wird zwar zugeben, daß das Menschsein mehr ist als irgendein besonderes Stadium des geschichtlichen und sozialen Seins, daß jenes ekstatische Außerhalb irgendwie existiert [...], aber man wird deshalb in der Geschichte selbst nicht nur ein allein durch seine Negativität Charakterisierbares sehen, sondern einen Schauplatz, an dem sich auch ein wesentliches Werden abspielt. Dieses Werden des Wesen ‚Mensch‘ vollzieht sich auch und wird erfassbar im Wandel der Normen, der Gestaltungen und der Werke, im Wandel der Institutionen und Kollektivwollungen, im Wandel der Ansatzpunkte und Standorte, von denen aus das jeweilige historische und soziale Subjekt sich selbst und seine Geschichte sieht.“24

Die Lesart, dass Mannheim gewissermaßen versucht, die Diskontinuität methodisch zu fassen, um die Kontinuität zu retten, wird unterstützt durch den Umstand, dass Mannheim die Exaktheit der naturwissenschaftlichen Methode zum Vorbild nimmt: So verspricht er sich von der Wissenssoziologie „so viele Möglichkeiten der Präzision, daß es einmal möglich werden kann, sie mit den Methoden der Naturwissenschaft zu vergleichen“.25 Dem entspricht die Annahme der Sinnhaftigkeit des geschichtlichen Prozesses:

22 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 129 (Hervorh. im Original); vgl. dazu auch Kurt Lenk, Marx in der Wissenssoziologie. Studien zur Rezeption der Marxschen Ideologiekritik. Neuwied/Berlin: Luchterhand, 1972; Lenk versteht Mannheims Wissenssoziologie „als eine Variante in der Spätphase des Historismus, der, nach Troeltschs Programm, ‚Geschichte durch Geschichte‘ zu überwinden trachtet“ (S. 76). 23 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 135ff. (Hervorh. im Original). 24 Ebd., S. 81. 25 Ebd., S. 45.

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„Die metaphysische Voraussetzung, die hier gemacht wird – und daß eine solche hierbei vorhanden ist, wollen wir hervorheben –, besteht darin, daß der Gesamtprozeß, aus dem die Denkstandorte emporwachsen, ein sinnvoller ist. Daß kein Durcheinander der Denkstandorte und Denkgehalte vorhanden ist, beruht darauf, daß sie alle Teile eines über sie hinausgehenden sinnvollen Werdens sind.“26

Diesem Geschichtsbild folgend knüpft Mannheim, mit Blick auf den Umgang mit der Ideengeschichte, gewissermaßen an die Begründer der Disziplin an. Während Arthur Oncken Lovejoy und Friedrich Meinecke die Leistung der neuen Disziplin – in Abgrenzung zur klassischen Dogmengeschichte – zwar im Einbezug des historischen Kontextes sehen, haben doch die Ideen gerade die Funktion, eine historische Kontinuität zu beweisen. Das heißt in der Vielfalt der historisch geprägten Lehrmeinungen soll gerade das Gemeinsame, die zugrundeliegenden Ideen, nachgewiesen bzw. gefunden werden.27 Mannheim folgt dem, was die Suche nach der Kontinuität betrifft, geht aber hinsichtlich der Methode darüber hinaus: „Die Ideengeschichte [...] kann aber ihre Krönung und volle Sinnerfüllung nur erreichen, wenn sie nicht mehr dabei stehen bleibt, nur den Wandel der Denkinhalte zu erforschen, sondern jene, oft latenten, systematischen Zentren heraushebt, in denen Gedanken ursprünglich auftraten und aus denen sie später herausgehoben wurden, um in neuen systematischen Zusammenhängen weiterzuleben. Also nur, wenn die Ideengeschichte durch eine historische Strukturanalyse der dynamisch sich ablösenden Systematisierungszentren ergänzt wird, kann sie dem ihr vorschwebenden Plan, die Denkgeschichte in einen systematisch überblickbaren Wandel aufzulösen, Genüge leisten.“28

Anders gesagt: Ideengeschichtliche Kontinuität ist nur durch eine konsequente(re) methodische Übersetzung der Diskontinuität erreichbar. Mannheim vollzieht hier gewissermaßen ein theoretisches Manöver: Insofern die Methode die theoretische Kontinuität wahrt, steht hier der Umgang mit der Ideengeschichte im Dienste der Theorie, die sie beweist.

26 K. Mannheim, „Das Problem der Soziologie des Wissens“, S. 368. 27 Vgl. dazu: Oncken Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of a History of an Idea. Cambridge/London: Harvard University Press, 1936; Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hrsg. und eingeleitet von Walther Hofer, München: Oldenbourg, 1957. 28 K. Mannheim, „Das Problem der Soziologie des Wissens“, S. 373 (Hervorh. im Original).

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2. Horkheimer: Historische Diskontinuität und theoretische Kontinuität Für den Unterschied zu Mannheims Position ist Horkheimers Rezension von Ideologie und Utopie erhellend.29 Hier wird auch deutlich, dass Horkheimer schon theorieintern, im Geiste des historischen Materialismus, eine Position einnimmt, die durch den Traditionsbruch „nur“ verstärkt wird bzw. eine realgeschichtliche Fundierung erhält – anders als Arendt, die Ideologie und Utopie ebenfalls rezensiert hat30, aber deren Kritik abweichend von ihrer späteren Position, eher eine Verteidigung der Philosophie darstellt, wenn Arendt Mannheim auch eine gelungene Zeitdiagnose attestiert. Die unterschiedlichen Rezensionen durch Arendt und Horkheimer untermauern so die These, dass bei Horkheimer theoretisch (im materialistischen Denken) schon angelegt ist, was durch die politische Entwicklung bestätigt und verstärkt wird, wohingegen Arendts Denken erst aus dem der Theorie externen Zivilisationsbruch erwächst. Horkheimer wirft Mannheim vor, die Wissenssoziologie verfolge eine „philosophische Endabsicht“31; er spricht dabei eben die zentralen Topoi an, die den Umbruch zum durch die Diskontinuität geprägten Denken signalisieren; er kritisiert das Festhalten an einer ewigen Wahrheit32, die Annahme der Erkennbarkeit des Menschenwesens 33 und die Annahme einer der Gesellschaft äußeren Urheberin der Geschichte34 und zwar kritisiert er sie als mit Mannheims eigenem totalen Ideologiebegriff in keiner Weise zu vereinbaren35 – er wirft ihm also gewissermaßen mangelnde methodische und in der Folge theoretische Konsequenz vor.

29 Max Horkheimer, „Ein neuer Ideologiebegriff?“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932, Frankfurt a.M.: Fischer, 1987; vgl. für die Kritik der Kritischen Theorie an Karl Mannheims Wissenssoziologie Eckart Huke-Didier, Die Wissenssoziologie Karl Mannheims in der Interpretation durch die Kritische Theorie. Kritik einer Kritik. Frankfurt a.M.: Lang, 1985. 30 Vgl. Hannah Arendt: „Philosophie und Soziologie. Rezension“, Die Gesellschaft, 1930, S. 163-176. 31 M. Horkheimer, „Ein neuer Ideologiebegriff?“, S. 276. 32 Vgl. ebd., S. 283: „(D)ie Wissenssoziologie kennzeichnet – wie jede Metaphysik – alle Denkstandorte sub specie aeternitatis, nur daß sie die ewige Wahrheit noch nicht in Besitz genommen zu haben behauptet, sondern sich erst auf dem Wege zu ihrer Eroberung fühlt.“ 33 Vgl. ebd., S. 277f. 34 Vgl. ebd., S. 281. 35 Vgl. ebd.

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Entsprechend Horkheimers Kritik an Mannheim, ist für Horkheimer die Vorstellung einer ewigen die erkennenden Subjekte überdauernden Wahrheit unvorstellbar36: „Es gibt kein ewiges Rätsel der Welt, kein Weltgeheimnis, das ein für allemal zu ergründen die Mission des Denkens wäre.“37 Gegenüber den großen Ideen der Zivilisation, so Horkheimer sollte die Philosophie eine doppelte Haltung einnehmen. Erstens sollte sie „ihren Anspruch verneinen, als höchste und unendliche Wahrheit betrachtet zu werden. Immer, wenn ein metaphysisches System jene Zeugnisse als absolute oder ewige Prinzipien darstellt, enthüllt es ihre historische Relativität.“ Daraus leitet sich zweitens die Aufgabe der Philosophie ab: „Es sollte zugestanden werden, daß die grundlegenden kulturellen Ideen einen Wahrheitsgehalt haben, und Philosophie sollte sie an dem gesellschaftlichen Hintergrund messen, dem sie entstammen. Sie bekämpft den Bruch zwischen den Ideen und der Wirklichkeit.“38 Das heißt, dass die Wahrheit, insofern sie aus der jeweiligen Praxis zu gewinnen ist, nur bzw. zumindest historische Geltung beanspruchen kann: „Nur an der überirdischen, unveränderlichen Existenz gemessen erscheint die menschliche Wahrheit von einer schlechteren Qualität. Soweit sie jedoch notwendig unabgeschlossen und insofern ‚relativ‘ bleibt, ist sie zugleich absolut; denn die spätere Korrektur bedeutet nicht, daß ein früher Wahres früher unwahr gewesen wäre.“39

Entsprechend lässt sich für Horkheimer auch das Wesen des Menschen nicht ein für allemal fixieren, sondern auch die Menschen sind Abbilder ihrer historischen und sozialen Situation und umgekehrt: „Die Gesellschaft hat ihre eigenen Gesetze, ohne deren Erforschung die Menschen ebensowenig zu begreifen sind wie die Gesellschaft ohne die Individuen

36 Für eine hervorragende Darstellung von Horkheimers frühen Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretisch-en Fragen und die Genese seiner Kritischer Theorie aus der Erkenntniskritik bzw. seine Entwicklung von der „transzendentalen zur historisch-materialen Phänomenologie“ vgl. Olaf Asbach, Von der Erkenntniskritik zur Kritischen Theorie der Gesellschaft. Eine Untersuchung zur Vor- und Entstehungsgeschichte der Kritischen Theorie Max Horkheimers (1920-1927). Opladen: Leske und Budrich, 1997. 37 Max Horkheimer, „Zum Problem der Wahrheit“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften 1931-1936, Frankfurt a.M.: Fischer, 1988, S. 275-325, hier: S. 294. 38 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt a.M.: Fischer, 1967, S. 201. 39 M. Horkheimer, „Zum Problem der Wahrheit“, S. 296.

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und diese wieder ohne die außermenschliche Natur.“40 Auch Menschenbilder können „wahr“ immer nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Gesellschaft sein; so stellt Horkheimer beispielsweise mit Blick auf Hobbes fest, dessen Annahmen über den Menschen entbehrten keineswegs der Realität: „Doch er [der von Hobbes beschriebene Mensch, F.H.] ist nicht fest und unaufhebbar. In der Geschichte entstanden, wird er auch in ihr verschwinden.“41 Was bei Horkheimer in der Nachfolge von Marx schon angelegt ist, die Rückbindung aller Theorie an die Praxis und damit die Infragestellung letzter Wahrheiten, erfährt insbesondere durch die Absage an die Sinnhaftigkeit von Geschichte eine Radikalisierung. Vor dem Hintergrund der eigenen Zeit bezeichnet Horkheimer die Konstruktion der Weltgeschichte mit Kategorien wie Freiheit und Gerechtigkeit als eine „Art Schrulle“: „[D]as Gute, das in Wahrheit dem Leiden ausgeliefert bleibt, wird als Kraft verkleidet, die den Gang der Geschichte bestimmt und am Ende triumphiert. [...] So tragen Christentum, Idealismus und Materialismus, die an sich auch Wahrheiten enthalten, doch auch ihre Schuld an den Schurkereien, die in ihrem Namen verübt worden sind.“42

In dem 1967 gehaltenen Vortrag zur „Kritische Theorie gestern und heute“ erklärt Horkheimer, die kritische Theorie sei Marx zu einem früheren Zeitpunkt zwar noch insofern gefolgt, als sie ihre Hoffnung auf die Revolution setzte: „Jedoch, wir waren uns klar, und das ist ein entscheidendes Moment in der Kritischen Theorie von damals und von heute, wir waren uns klar, daß man diese richtige Gesellschaft nicht im vorhinein bestimmen kann. Man konnte sagen, was an der gegenwärtigen Gesellschaft das Schlechte ist, aber man konnte nicht sagen, was das Gute sein wird, sondern nur daran arbeiten, daß das Schlechte schließlich verschwinden würde.“43

Trotz der Absage an die Bestimmung eines fixen telos der Geschichte, bleibt bei Horkheimer jedoch der Anspruch der Einsicht in eine der Ge-

40 Max Horkheimer, „Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932, S. 177-268, hier: S. 204. 41 Ebd., S. 262. 42 M. Horkheimer / Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 236. 43 Max Horkheimer, „Kritische Theorie gestern und heute“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8: Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973, S. 336-353, hier: S. 339.

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schichte innewohnende Gesetzmäßigkeit bestehen. Im Vorwort zur Erstausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung hält Horkheimer programmatisch fest, die Sozialforschung erstrebe „Erkenntnis des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs und setzt daher voraus, daß unter der chaotischen Oberfläche der Ereignisse eine dem Begriff zugängliche Struktur wirkender Mächte zu erkennen sei. Geschichte gilt in der Sozialforschung nicht als die Erscheinung bloßer Willkür, sondern als von Gesetzen beherrschte Dynamik, ihre Erkenntnis ist daher Wissenschaft.“44

Mit Blick auf die Offenlegung historischer Wahrheiten, die als Grundlage des Handelns hin zu einer besseren Zukunft dienen sollen, ist die (historische) Dialektik das Mittel der Wahl als „Inbegriff der Methoden und Gesetze, die das Denken befolgt, um die Wirklichkeit so genau wie möglich nachzubilden, und die mit den Formprinzipien der wirklichen Verläufe soweit wie möglich übereinstimmen“.45 Solche „allgemeinste Bewegungsgesetze des Denkens, die aus seiner bisherigen Geschichte abstrahiert sind und den Inhalt der allgemeinen dialektischen Logik bilden“ sind „relativ konstant und damit auch [...] äußerst leer“, während die „dialektischen Darstellungsformen eines bestimmten Gegenstandesgebiets“ mit der „Änderung seiner Grundlagen auch ihre Gültigkeit als Formen der Theorie“ verlieren.46 Auch bei Horkheimer garantiert die Methode gewissermaßen die Kontinuität, während die Diskontinuität im geschichtlich sich wandelnden Gegenstand liegt, dessen Berücksichtigung die Vorstellung eines absolut Wahren nicht länger zulässt. Die „doppelte Reflexion der historischen Praxis“47 ermöglicht zwar, anders als bei Mannheim, keine Einsicht in ein Absolutes, das sich aus der Synthese gleichwertiger historisch bedingter Teileinsichten ergibt, wohl aber die Einsicht in eine je historisch gültige Wahrheit, die gerade die Annahme gleichwertiger bedingter Teileinsichten ausschließt. Anders gesagt: Horkheimer erhebt einen historisch gültigen Wahrheitsanspruch, wenn auch keinen Anspruch auf die Offenlegung absoluter, a-historischer Wahrheit.

44 Max Horheimer, „Vorwort“, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1/1932, I-IV, hier: S. I (Hervorh. d. Verf.). 45 M. Horkheimer, „Zum Problem der Wahrheit“, S. 310. 46 Ebd., S. 311. 47 O. Asbach, Von der Erkenntniskritik zur Kritischen Theorie der Gesellschaft, S. 229ff.

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Die Zeitgebundenheit, auch des eigenen Standpunktes, liegt in der geschichtlich vermittelten Beziehung von Begriff und Gegenstand48, die daraus folgende Unabgeschlossenheit der materialistischen Dialektik49, erhebt jedoch durchaus den Anspruch, „daß ihre Erkenntnisse in dem Gesamtzusammenhang, auf den ihre Urteile und Begriffe bezogen sind, nicht bloß für einzelne Individuen und Gruppen, sondern schlechthin gelten, das heißt, daß die entgegengesetzte Theorie falsch ist“.50 Entsprechend ist Horkheimer der Ansicht, Geschichte müsse gemacht werden; nicht die Geschichte besorge die Korrektur und weitere Bestimmung der Wahrheit und damit der Notwenigkeit, vielmehr hänge „von der kompromisslosen Anwendung der als wahr erkannten Einsicht [...] zum großen Teil Richtung und Ausgang der geschichtlichen Kämpfe ab“.51 So bleibt durch die Bestimmung einer wenn auch nur historisch gültigen Wahrheit, die als Grundlage des Handelns dient, ein über die je historische Praxis hinausweisender Zielpunkt implizit – die befreite Existenz –, selbst wenn diese in ihrer Ausgestaltung wiederum als geschichtlich revidierbar zu denken ist: „Soweit wir daran mitwirken, eine Welt einzurichten, in der alle Menschen menschenwürdig leben können, geschieht es auf Grund des bloßen Glaubens an unsere Verantwortung dafür und in keinem Sternenreiche der Ideen vermögen wir zu lesen, daß unser Handeln einen ewigen Wert besitze oder einer ewigen Wirklichkeit gerecht sei.“52

48 Vgl. ebd., S. 297. 49 Vgl. ebd., S. 291; vgl. dazu auch ebd. S. 292: „Der Materialismus behauptet dagegen, daß die objektive Realität nicht mit dem Denken des Menschen identisch ist und niemals in ihm aufgehen kann.“ 50 Ebd., S. 297; vgl. dazu auch ebd., S. 295: „Soweit die in Wahrnehmung und Schlüssen, methodischer Forschung und historischen Ereignissen, alltäglicher Arbeit und politischem Kampf gewonnenen Erfahrungen den verfügbaren Erkenntnismitteln standhalten, sind sie die Wahrheit.“. 51 M. Horkheimer, „Zum Problem der Wahrheit“, S. 296. 52 Max Horkheimer, „Phänomenologische Wertphilosophie und Kants praktische Philosophie: Ethik als Harmonisierung der Gegenwart oder Gestaltung der Zukunft“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11: Nachgelassene Schriften, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 138-144, hier: S. 143; vgl. auch ebd., S. 144: „Weit entfernt davon, daß die absolute Wertwelt sich weite, werden diejenigen, denen daran gelegen ist, der irdischen den Charakter des Jammertals zu nehmen, d.h. sie real zu verbessern, auch noch auf den letzten Rest metaphysischen Trostes verzichten müssen [...]. Sie setzen alles dabei aufs Spiel.“

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In Horkheimers materialistischem Denken findet sich ein immanenter Widerspruch, weniger weil er die eigene Position nicht konsequent als historisch denkt, sondern aufgrund des dem historischen Materialismus inhärenten Anspruchs objektiver Erkenntnis materialer Gesetzmäßigkeiten, die – wenngleich nur historisch gültig – eine wenn auch potentiell vorläufige Zielbestimmung politischen Handelns möglich machen. Ein solcher Zielpunkt läuft, auch wenn er keinen überzeitlichen Wahrheitsanspruch enthält, als angestrebter und damit potentiell zu erreichender Zielpunkt der Annahme der Kontingenz entgegen, weil es einen nicht-kontingenten Maßstab der Kritik bzw. Verbesserung geben muss, den Horkheimer in der historischen Dialektik zu sehen scheint. Für Horkheimer gilt so gleichermaßen, was Thorsten Bonacker mit Blick auf Adorno festgehalten hat: „Während die kritische Theorie also die Unabgeschlossenheit von Erkenntnis systematisch aus den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis schöpft, versteht sie sie genealogisch als Unabsehbarkeit einer kontingenten Zukunft, in der die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die zugleich die Bedingungen der Unmöglichkeit gelingender Erkenntnis sind, theoretisch auch verschwinden könnten. Denn das genealogisch-historische Verständnis von Kontingenz, das Kontingenz an historisch kontingente Erfahrungskontexte zurückbindet, muß die Möglichkeit eines zukünftigen Verschwindens von Kontingenz mitdenken und benötigt dafür wie gesehen einen metakontextuellen und nichtkontingenten Standpunkt, der die Möglichkeit von Versöhnung als Selbstaufhebung der Antinomie von Erkenntnis antizipiert.“53

Die in der hier dargestellten Entwicklungslinie (weniger offensichtlich, aber nach wie vor) fehlende Konsequenz der Kontingenz der Erkenntnis lässt sich meines Erachtens aus der theoretischen Kontinuität Horkheimers Denkens mit dem historischen Materialismus erklären; während das Problem in der Konzeption von Marx und Engels nur offener zu Tage tritt, lässt sich die im historisch-materialistischen Verständnis der Wechselwirkung von Theorie und Praxis angelegte Zielsetzung durch die Absage an die Annahme der Zielgerichtetheit einer quasi von selbst zur Vollendung gelangenden Geschichte allein nicht tilgen. Ganz in diesem Sinne sieht auch Lyotard im Marxismus der kritischen Theorie eine narrative Legitimierung am Werke,

53 Thorsten Bonacker, Die normative Kraft der Kontingenz. Nichtessentialistische Gesellschaftskritik nach Weber und Adorno. Frankfurt a.M./New York: Campus, 2000, S. 177.

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„indem er annimmt, dass der Sozialismus nichts anderes als die Konstitution des autonomen Subjekts sei und daher die ganze Berechtigung der Wissenschaft darin besteht, dem empirischen Subjekt (dem Proletariat) die Mittel für seine Emanzipation von der Entfremdung und Repression zu geben: Das war, kurz gefasst, die Position der Frankfurter Schule“.54

Man kann also zusammenfassend festhalten, dass die historische Diskontinuität für Horkheimer zwar zu einer radikaleren Infragestellung traditioneller Denkmuster als noch bei Mannheim führt, insofern er weder beansprucht eine überzeitliche Wahrheit, noch das Wesen des Menschen erkennen zu können, die angenommene Kontingenz der Erkenntnis und damit Offenheit aller zukünftigen Entwicklung jedoch infolge der theoretischen Kontinuität mit dem historischen Materialismus durch die Annahme der Möglichkeit der Erkenntnis der jeweils historisch gültigen Wahrheit mittels der dialektischen Methode und das darin implizite Ziel einer befreiten Existenz konterkariert wird. Das Gesagte spiegelt sich auch im Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen. Horkheimer hat in seiner posthum herausgegebenen „Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie“ aus dem Jahr 1927 konstatiert, dass mit dem Zusammenbruch der letzten großen idealistischen Konstruktion von Hegel der Glaube an die Selbstständigkeit und Unbedingtheit der Philosophie im Sinne der großen Philosophen vernichtet worden sei.55 Stattdessen wisse man heute, so Horkheimer weiter, „daß die in der Historie aufgetretenen philosophischen Anschauungen und Systeme erklärbar sind aus der wirklichen Geschichte der Menschheit, und daß die Prätention jedes einzelnen von ihnen auf ewigen Bestand, auf absolute Gültigkeit, die selbst der Geschichte nicht unterworfen sein soll, hinfällig ist“.56 Die wissenschaftliche Aufgabe, liegt laut Horkheimer darin, „auf Grund einer genauen Forschung der Geschichte der gesellschaftlichen Lebensprozesses, also von den untersten Stufen aus, darzustellen, wie die herrschenden philosophischen Anschauungen aus diesem Prozesse [...] hervorgegangen sind. Ihre Genesis, ihre Bedingtheit und Abhängigkeit ist zu erforschen“.57 1927 bezeichnet Horkheimer das beschriebene noch

54 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Passagen Verlag, 2012 (7. Auf.), S. 97. 55 Vgl. Max Horkheimer, „Vorlesung über die Geschichte der neueren Philososphie“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9: Nachgelassene Schriften 1914-1931, Frankfurt a.M.: Fischer, 1987, S. 17. 56 Ebd., S. 17f. 57 Ebd., S. 18.

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als Zukunftsaufgabe, völlig klar ist für ihn aber, dass es keine Rückkehr zur Ideengeschichte als Dogmengeschichte geben könne.58 Indem Horkheimer auf die Abhängigkeit der historischen Quellen von den wirklichen Gegebenheiten verweist, was er dann in seinen späteren Überlegungen an den Quellen nachzuweisen versucht, wird die Gesellschaftskritik als Theorieprogramm und der historische Materialismus als Methode bestätigt. Auch Horkheimers Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen lässt sich so als theoretisches Manöver bezeichnen. Auch hier bestätigt der Umgang mit der Ideengeschichte das Theorieprogramm, insofern der historisch bedingte Wahrheitsanspruch methodisch begründet ist: Wie man den vergangenen Ideen keine absolute Gültigkeit zusprechen kann, so sind auch gegenwärtige Konzepte auf ihre gesellschaftlichen Grundlagen zurückzuführen, die (zeitlich bedingte) Wahrheit liegt in der dialektischen Methode. Das Quellenstudium (nicht die Quellen) hat damit selbst einen normativen Impetus oder anders ist selbst Teil der Theorie bzw. reproduziert sie. 3. Arendt: Historische und theoretische Diskontinuität Arendts Antwort auf bzw. Umgang mit der Diskontinuität fällt radikaler aus als noch bei Mannheim und auch als bei Horkheimer, denn ihre politische Theorie erklärt sich erst aus dem Traditionsbruch.59 Während der Diskontinuität bei Mannheim wie Horkheimer eine theorieinterne Rolle zukommt, ist sie der Theorie bei Arendt äußerlich – und Arendt stellt hier meines Erachtens in den Reihen der Diskontinuitätsdenker eine Ausnahme dar. Besonders deutlich wird das in ihren späten Überlegungen über das Denken, deren Bedeutung für ihre politische Theorie meines Erachtens in der Forschung oftmals unterschätzt wird. Die im Vergleich zum restlichen Werk eher spärliche Beschäftigung mit dem Spätwerk, das die Vita activa gewissermaßen ergänzend die vita contemplativa zum Thema hat60 und 58 Vgl. ebd. 59 Für Arendts Verständnis des Traditionsbruchs vgl. Antonia Gruneberg, „Hannah Arendt, Martin Heidegger und Karl Jaspers, Denken im Schatten des Traditionsbruchs“, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Hannah Arendt: Verborgene Tradition. Unzeitgemäße Tradition? (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 16), Berlin: Akademie Verlag, 2007, S. 101-119. 60 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken, Das Wollen. München/ Zürich: Piper, 1998, S. 16f.

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damit ein vermeintlich klassisch philosophischen Gegenstand behandelt, rekurriert überwiegend auf den dritten (auf Vorlesungsmanuskripten beruhenden) Teil zum Urteilen als zentral für die Verbindung zu Arendts politischer Theorie61, wohingegen mir gerade Arendts Überlegungen zum Denken zentral für das Verständnis ihre eminent postmodernen oder auch postessentialistische Denkweise62 zu sein scheinen. Arendt hält ihre Überlegungen zum Denken gewissermaßen zusammenfassend als „Grundannahme dieser Untersuchung“ fest: „Ich bin eindeutig denen beigetreten, die jetzt schon einige Zeit versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien, wie wir sie seit den Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demontieren. Eine solche Demontage ist nur möglich, wenn man davon ausgeht, daß der Faden der Tradition gerissen ist und wir ihn nicht erneuern können.“63

In diesem Sinne verstehe ich Arendts 1973 gegenüber Hans Jonas geäußerte Erklärung „I have now done my bit in politics, no more of that; from now on and for what is left I will deal with transpolitical things“, entgegen Jonas Kommentar „which means: philosophy“64, gerade als Hinweis auf die in den Überlegungen zum Denken explizierte Überwindung der klassi-

61 Vgl. u.a. Marco Estrada Saavedra, Die deliberative Rationalität des Politischen. Eine Interpretation der Urteilslehre Hannah Arendts. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2002; Frank Hermenau, Urteilskraft als politisches Vermögen. Zu Hannah Arendts Theorie der Urteilskraft. Lüneburg: zu Klampen, 1999; Waltraud Meints, Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. Bielefeld: transcript Verlag, 2011; einen größeren Raum nehmen Arendts Überlegungen zum Denken u.a. bei Elisabeth YoungBruehl: „Reflections on Hannah Arendt’s The Life of the Mind“, Political Theory, 10/2, 1982, S. 277-305 und Dag Javier Opstaele, Politik, Geist und Kritik. Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1999. 62 Vgl. für eine postmoderne Einordnung von Arendts Denken u.a. Dana R. Villa, Arendt and Heidegger. The Fate of the Political. Princeton: University Press, 1996; Heinz Paetzold, „Die Bedeutung von Kants Dritter Kritik für die politische Philosophie der ‚Postmoderne‘. Zu Arendts Lektüre der ‚Kritik der Urteilskraft‘“, in: Ursula Franke (Hrsg.), Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute, Studien zur Aktualität von Kants „Kritik der Urteilskraft“, Hamburg: Meiner, 2000, S. 189-208; dagegen argumentiert u.a. Seyla Benhabib, Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, S. 301ff. 63 H. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 207. 64 Hans Jonas: „Acting, Knowing, Thinking. Gleanings from Hannah Arendt’s Philosophical Work“, Social Research, 44/1, 1977, S. 25-43, hier: S. 27.

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schen Philosophie. Sie verneint in der Konsequenz dessen die Existenz absoluter Wahrheit und damit des Wesens des Menschen sowie jegliche geschichtliche Sinnhaftigkeit. Mit dem Ende der Metaphysik, so Arendt, sei auch die grundlegende Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem ans Ende gekommen.65 Mit anderen Worten „ist Sein und Erscheinung dasselbe“66: „Es gibt in dieser Welt nichts und niemanden, dessen bloßes Sein nicht einen Zuschauer voraussetzte. Mit anderen Worten, kein Seiendes, sofern es erscheint, existiert für sich allein; jedes Seiende soll von jemandem wahrgenommen werden. Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“67

Insofern Lebewesen, Menschen wie Tiere, Wahrnehmende und Wahrgenommene zugleich sind, sind sie „nicht bloß in der Welt, sie sind von dieser Welt“.68 Selbst wenn sich die Menschen denkend aus der Welt, wie sie erscheint, zurückziehen, sind sie doch nie nur Zuschauer, Gott gleich, sondern bleiben von dieser Welt.69 Die Tätigkeit des Denkens verweist in sich auf die Menschen im Plural70 und ist zum Erscheinen bestimmt: „[S]o haben denkende Wesen, die immer noch in die Erscheinungswelt gehören, auch nachdem sie sich geistig von ihr zurückgezogen haben, einen Drang, zu sprechen und so zu offenbaren, was anderenfalls überhaupt nicht in der erscheinenden Welt enthalten wäre.“71 Die Gegenstände des Denkens, die nicht mit der Sinneswahrnehmung gegeben sind, und des dem Denken entsprechenden Vermögens, der Vernunft, sind laut Arendt „unerkennbar, aber für den Menschen von größtem existentiellen Interesse“: „Die Vernunft ist nicht auf der Suche nach der Wahrheit, sondern nach Sinn. Und Wahrheit und Sinn sind nicht dasselbe. Der Grundirrtum, dem alle speziellen metaphysischen Trugschlüsse nachgeordnet sind, besteht darin, den Sinn nach der Art der Wahrheit aufzufassen.“72 Denkend suchen wir nach Sinn, nicht nach Wahrheit, weil wir keine von der Welt unabhängige Stellung einnehmen können. Arendt verneint (anders als Mannheim und Hork65 66 67 68 69 70

Vgl. H. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 20. Ebd., S. 29 (Hervorh. im Original). Ebd. (Hervorh. im Original). Ebd., S. 30 (Hervorh. im Original). Vgl. ebd., S. 32. Vgl. Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München/Zürich: Piper, 2007, S. 93f. 71 H. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 103 (Hervorh. im Original). 72 Ebd., S. 25 (Hervorh. im Original).

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heimer) jeglichen, a-historischen wie historisch bedingten, Wahrheitsanspruch, indem sie der Suche nach Wahrheit (mit Blick auf die Gegenstände des Denkens) prinzipiell eine Absage erteilt. Diese Verabschiedung der Zwei-Welten-Lehre führt, insofern sie den Zusammenfall von Erkenntnissubjekt und -objekt impliziert, dazu, dass Arendt das Problem das Wesen des Menschen zu erkennen als „unlösbar“ bezeichnet, würde es doch bedeuten, dass „wir wirklich über unseren eigenen Schatten springen“.73 Die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist begrenzt, sofern Menschen historisch und räumlich begrenzte Wesen bzw. „stets bedingte Wesen“ sind: „Die Welt, in der die Vita activa sich bewegt, besteht im wesentlichen aus Dingen, die Gebilde von Menschenhand sind; und diese Dinge, die ohne den Menschen nie entstanden wären, sind wiederum Bedingung menschlicher Existenz. Die Menschen leben also nicht nur unter den Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen wie die bedingenden Dinge der Natur.“74

Arendt formuliert ausdrücklich keine essentialistische Anthropologie und konstatiert, „um Missverständnisse zu vermeiden: die Rede von der Bedingtheit der Menschen und Aussagen über die ‚Natur‘ des Menschen sind nicht dasselbe“.75 Dass Arendt die Annahme der Sinnhaftigkeit der Geschichte in Anbetracht des konstatierten Traditionsbruchs ablehnt, folgt fast zwangsläufig. Entsprechend ist ihr Blick auf die Geschichte ein völlig anderer als der Mannheims oder Horkheimers; während diese noch im wahrgenommenen Chaos Gesetzmäßigkeiten zu finden hoffen, ist Arendts Verständnis der Geschichte ein fragmentarisches, das die Diskontinuität betont. Dabei hat 73 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper, 2002, S. 20. 74 Ebd., S. 18f. 75 Ebd., S. 19. Zwar formuliert Arendt meines Erachtens mit ihrem Konzept der Person eine Essenz des Menschseins (nicht des Menschen), jedoch gewissermaßen eine „antiessentialistische Essenz“, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie eine Festlegung verunmöglicht, weil sie die Kontingenz der individuellen Konkretisierung immer schon impliziert (vgl. dazu Frauke Höntzsch, „Der Mensch als non-person. Hannah Arendts anthropologische Kritik der Menschenrechte“, in: Stephanie Catani / Stephanie Waldow (Hrsg.), Non-Persons. Grenzen des Humanen und des Humanitären in Literatur, Kultur und Medien, München: Fink Verlag, 2019).

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die Situation nach dem Wegfall von Metaphysik und Philosophie in Arendts Augen etwas Befreiendes: „Wir können, unbelastet und ungeleitet von jeder Tradition, die Vergangenheit mit neuen Augen sehen und damit an einen ungeheuren Schatz unbearbeiteter Erfahrungen herankommen, ohne an irgendwelche Behandlungsvorschriften gebunden zu sein.“ Für ihre spezifische Position kennzeichnend ist dabei die damit verbundene Warnung vor der Gefahr, aufgrund „einer wachsenden Unfähigkeit [...], sich im Reich des Unsichtbaren zu bewegen“ mit unseren Traditionen auch die Vergangenheit zu verlieren.76 Arendt bewegt sich mit ihren Überlegungen genau dort, unterzieht aber den Bereich des nicht Sichtbaren, Greifbaren einer Neubewertung hinsichtlich Status und Ziel des Denkens. Das Denken selbst ist dabei von der Infragestellung alles Gewesenen nicht betroffen: „So stark auch unsere Denkweisen in dieser Krise betroffen sein mögen, unsere Denkfähigkeit steht nicht zur Diskussion; wir sind, was wir immer gewesen sind – denkende Wesen.“77 Vor diesem Hintergrund versteht Arendt keine der Doktrinen der überlieferten großen Denker als „etwas Willkürliches, und keine läßt sich als bloßer Unsinn abtun“, ihre metaphysischen Trugschlüsse liefern vielmehr „die einzigen Hinweise darauf, was Denken denen bedeutet, die es betreiben“78. Doch die ideengeschichtlichen Quellen besitzen an sich keine Autorität, weil die Vergangenheit sich nicht mehr als Tradition darstellt: „Die Demontage hat ihre eigene Methode, auf die ich hier nur am Rande eingegangen bin. Man hat dann immer noch die Vergangenheit, aber eine zerstückelte Vergangenheit, die ihre Bewertungsgewißheit verloren hat.“79 So basiert bei Arendts auch der Umgang mit den Quellen auf dem theorieexternen Status der Diskontinuität, so dass die Diskontinuität zwar Arendts methodisches Vorgehen bedingt, Arendt die Diskontinuität aber nicht methodisch vereinnahmt, wie Mannheim und Horkheimer dies auf je unterschiedliche Weise tun – beide letztlich mit dem Ziel Kontinuität herzustellen. Arendt hat ihre „Methode“ nur an zwei kurzen Stellen skizziert80: in ihrem Aufsatz über Walter Benjamin und am Ende ihrer Überlegungen zum Denken im Anschluss an die eingangs zitierte Grundannahme über

76 77 78 79 80

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H. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 22. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 208. Arendt selbst verwendet den Begriff „Methode“, wohl aufgrund des kursorischen Charakters ihrer „methodischen“ Ausführungen, nur in Anführungszeichen.

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das Ende der Metaphysik. Ausführlicher ist die Stelle im Aufsatz über Walter Benjamin in dem Abschnitt, der den Titel „Perlentaucher“ trägt: „Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht er in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dies Denken leistet, ist die Überzeugung, das zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, dass aber der Verwesungsprozess gleichzeitig ein Kristallisationsprozess ist; dass in der ‚Meereshut‘ [...] neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt.“81

Zwar ist auch Arendts Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen ein normativer, allerdings erst in einem zweiten Schritt, wenn sie die Korallen als Teil ihrer normativen politischen Theorie nutzt. Dass Arendt nicht so sehr als Ideengeschichtlerin wahrgenommen wird und sich auch selbst nicht als solche bezeichnet, liegt wohl auch daran, dass die Ideengeschichte bei Arendt immer „nur“ ein Zwischenschritt ist und deshalb hat sie vermutlich auch ihre Methode nicht völlig expliziert. Doch Arendt beschreitet in meinen Augen gewissermaßen einen dritten Weg, zwischen einer kontextualisierenden Ideengeschichte und einer überzeitlichen Ideengeschichte, insofern sie die Bruchstücke zwar zeitlos als Antwort auf die Frage nach dem Sinn, aber zugleich zeitgebunden in ihrem konkreten Inhalt versteht. Arendt hält in „Vom Leben des Geistes“, im Unterkapitel „Wo wir sind, wenn wir denken?“ fest: „Ich halte es für wahrscheinlich, daß das merkwürdige Überleben großer Werke, ihre relative Dauerhaftigkeit über Jahrtausende hinweg, dem zu verdanken ist, daß sie auf dem schmalen, kaum erkennbaren Pfad von Nicht-Zeit geboren wurden, den das Denken ihrer Schöpfer zwischen einer unendlichen Vergangenheit und einer unendlichen Zukunft dadurch geschlagen hatte, daß es Vergangenheit und Zukunft als gerichtet, gewissermaßen gezielt auf sie selbst anerkannte – als ihre Vorgänger und Nachfolger, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft –, wodurch sie eine Gegenwart für sich selbst schufen, eine Art zeitlose Zeit, in der die Menschen zeitlose Werke schaffen können, um mit ihnen ihre eigne Endlichkeit zu transzendieren.“82

81 Hannah Arendt, „Walter Benjamin“, in: dies., Menschen in finsteren Zeiten, München/Zürich: Piper, 2012, S. 195-258, hier: S. 258. 82 H. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 206.

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Arendt geht nicht von überzeitlichen Ideen aus, sie setzt Zeitlosigkeit erklärtermaßen nicht mit Ewigkeit gleich; die Zeitlosigkeit entspringt vielmehr, so Arendt aus dem Zusammenprall von Vergangenheit und Zukunft, während die Ewigkeit ein Grenzbegriff ist, der sich nicht denken lässt, weil er den Zusammenbruch aller zeitlichen Dimensionen bedeutet. In dieser Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, befindet wir uns, wenn wir denken, d.h. wenn wir ihnen so weit entrückt sind, „daß wir gut dazu sind, ihren Sinn zu finden, die Stellung des ‚Schiedsrichters‘ einzunehmen, des Richters und Beurteilers der vielfältigen, nie endenden Geschäfte der menschlichen Existenz in der Welt, eine Stellung, die nie zu einer endgültigen Lösung dieser Rätsel verhilft, die aber immer neue Antworten auf die Frage bereit hat, um was es bei alledem wohl gehe“.83

Zwar findet sich also auch bei Arendt etwas, das in der Diskontinuität Kontinuität garantiert, aber dies, das Denken als solches, zeichnet sich dadurch aus, dass es auf ein „unbestimmtes Ende“84 hinzielt: „Und wenn ich es auch nicht für das ‚Land der Wahrheit‘ halte, so ist es doch gewiß der einzige Bereich, in welchem sich das Ganze des eigenen Lebens und sein Sinn [...], wo dieses ungreifbare Ganze sich als reine Kontinuität des Ich-bin offenbaren kann, als fortdauernde Gegenwart inmitten der ständig sich wandelnden Flüchtigkeit der Welt.“85

Die fortdauernde Gegenwart spricht den Bruchstücken keinen Wert an sich zu, aber doch eine Selbstständigkeit, nicht aufgrund des jeweiligen Inhalts des Gedachten, die zeitlosen Gedanken haben an sich keinen (auch keinen historischen) Wahrheitsgehalt, sie sind zeitlos als Antworten auf die immer selbe Frage nach dem Sinn und als solche bilden sie „einen ungeheuren Schatz unbearbeiteter Erfahrungen“. Inwiefern diese Erfahrungen über ihren eigenen historischen Horizont hinaus Aussagekraft besitzen, diese Antwort bleibt Arendt gleichwohl schuldig, wenngleich in ihrem eigenen Denken völlig klar wird, dass sie ihnen einen solche Aussagekraft zuschreibt, wenn sie diese für ihre eigene Theoriebildung nutzt. So hält sie beispielsweise mit Blick auf den Begriff der Vita activa fest: „Wenn daher meine Aneignung des Begriffs Vita activa in offenkundigem Widerspruch zur Tradition steht, so nicht weil ich die Gültigkeit der Erfahrungen, die zu der Unterscheidung zwischen einer Vita activa und einer Vita contemplativa führten, bezweifele; woran ich zweifele, ist vielmehr lediglich die

83 Ebd., S. 205. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 207.

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hierarchische Ordnung, die dieser Unterscheidung von Anfang an anhaftete.“86

Arendt übernimmt das Konzept, ohne die historische Bewertung – die Rechtfertigung für die Übernahme des Bruchstücks bleibt aber mit dem Verweis auf die ‚Gültigkeit der Erfahrungen‘ mindestens ungenau. Fazit: Politikwissenschaftliche Ideengeschichte in Anschluss an Arendt Die hier vorgestellten Denker der Diskontinuität lesen die ideengeschichtlichen Quellen primär als Ausdruck einer spezifischen Zeit, Gesellschaft, Kultur. Gemeinsam ist allen Ansätzen nicht nur die Historisierung, sondern vor allem die damit einhergehende abgesprochene Verbindlichkeit oder Autorität politischer Konzepte Kraft ihrer Tradition. Zwei Dinge lassen sich meines Erachtens für eine zeitgenössische Ideengeschichte aus dem Dargelegten ableiten. Erstens: Wenn man die Abkehr von überzeitlichen Wahrheiten und die Abhängigkeit allen Denkens vom konkreten historischen Kontext ernst nimmt, dann ist es meines Erachtens fraglich, ob es überhaupt möglich ist, einen ideengeschichtlichen Text als Zeugnis seiner Zeit zu lesen. Vielmehr ist dann auch die jeweilige Rezeption selbst historisch bedingt und kann sich nicht von dem je gegenwärtigen Kontext lösen. Daraus folgt zweitens – eingedenk der je auf ihre eigene Weise problematische Verquickung von Methode und Theorie bei Mannheim und Horkheimer –, dass Ideengeschichte, will sie nicht immer schon zugleich normative Theorie sein, soweit als möglich von theoretischen Manövern absehen muss, d.h. die ideengeschichtliche Methode muss die Diskontinuität voraussetzen, darf sie aber nicht zum Zwecke der Herstellung theoretischer Kontinuität vereinnahmen, sprich selbst methodisch fassen. Vor diesem Hintergrund scheint einzig Arendts Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen anschlussfähig für eine zunächst politikwissenschaftlich (nicht politisch) interessierte Ideengeschichte. Denn nur Arendt trennt, indem sie die Ideengeschichte als Steinbruch selbst nicht verbindlicher Gedanken für ihre eigene normative Theoriebildung nutzt, methodisches Vorgehen und normative Theoriebildung voneinander. Nimmt man die Absage an jeglichen Wahrheitsanspruch ideengeschichtlicher Quellen ernst und versucht eine Antwort auf die im Rahmen von Arendt nur skizzenhaften methodischen Überlegungen offene Frage nach dem Status der kristallisierten Formen zu finden, scheint es sinnvoll, die Ideengeschichte als Bergung und Rekontextualisierung der in einem Text enthaltenen Un-

86 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 26 (Hervorh. d. Verf.).

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bestimmtheitsstellen zu verstehen.87 Das Wolfgang Isers Wirkungsästhetik entliehene Konzept der Unbestimmtheit hat den Vorteil, dass es die bei Arendt unklar bleibende Frage nach der Aussagekraft der Korallen für den je gegenwärtigen Kontext klären kann, insofern es die Möglichkeit eröffnet, die Korallen nach wie vor als kontextgebunden, aber aufgrund ihrer Abstraktheit nicht an einen spezifischen bzw. den ursprünglichen Kontext gebunden zu verstehen. Die Wirkungsästhetik wird zu den rezeptionstheoretischen Ansätzen gezählt, die die Ansicht eint, dass sich der Sinn eines Textes nicht durch die Bedingungen seiner Entstehung oder die Intention des Autors, sondern im Akt des Lesens erhellt. Während die Rezeptionsästhetik im engeren Sinn, wie sie sich vor allem im anglophonen Bereich findet, den Fokus auf die Rezeption durch die Leser legt, liegt der Schwerpunkt in Isers Wirkungsästhetik auf der Wirkung des Textes auf den Leser. Iser selbst grenzt ab: „Eine Wirkungstheorie ist im Text verankert – eine Rezeptionstheorie in den historischen Urteilen der Leser.“88 Der Text hat laut Iser keine statische, endgültige Bedeutung (und damit auch keinen „richtigen“ Sinn), seine Bedeutung ist vielmehr abhängig von der Sinnzuschreibung durch den Leser. Der Text lässt dabei nicht beliebige Deutungen zu, die Aktualisierung der vom Text vorgegebenen Struktur ist aber vom konkreten Leser abhängig. „Textstruktur und Aktstruktur“, „die sich zueinander wie Intention und Erfüllung verhalten“, sind im Konzept des „impliziten Lesers“ zusammengeschlossen.89 Laut Iser wird die Leserrolle des Textes „historisch und individuell unterschiedlich realisiert [...], je nach den lebensweltlichen Dispositionen sowie dem Vorverständnis, das der einzelne Leser in die Lektüre einbringt“.90 Das bedeutet keine Willkür, die unterschiedlichen Rezeptionen ergeben sich vielmehr daraus, „daß das Rollenangebot eines Textes immer nur selektiv realisiert wird. Die Leserrolle enthält einen Realisierungsfächer, der im konkreten Fall eine bestimmte und folglich nur eine ‚episodische Aktualisierung‘ erfährt“.91 So erfüllt der impli-

87 Vgl. Frauke Höntzsch, „Für eine politikwissenschaftliche Ideengeschichte“, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Neue Perspektiven der Ideengschichte, Innsbruck: university press, 2015, S. 75-89. 88 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink Verlag, 1984 (2. Auf.), S. 8. 89 Ebd., S. 63. 90 Ebd., S. 65. 91 Ebd.

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zite Leser eine wichtige Funktion für die Beurteilung der Textverarbeitung, „denn jede einzelne Konkretisation vollzieht sich immer vor dem Hintergrund der im Text parat gehaltenen Wirkungsstrukturen“.92 Der hier deutlich werdende kommunikative Charakter, den Iser literarischen Texten zuschreibt, manifestiert sich vor allem in seinem Konzept der „Unbestimmtheit“. Der Unbestimmtheitsbetrag stellt laut Iser „das wichtigste Umschaltelement zwischen Text und Leser“ dar: „Als Umschaltstelle funktioniert Unbestimmtheit insofern, als sie die Vorstellungen des Lesers zum Mitvollzug der im Text angelegten Intention aktiviert.“93 Denn der Unbestimmtheitsbetrag ermöglicht überhaupt erst „den Auslegungsspielraum und die verschiedenartige Adaptierbarkeit des Textes“.94 Die Unbestimmtheit literarischer Texte erwächst laut Iser aus ihrer Fiktionalität: Der literarische Text „unterscheidet sich einerseits von anderen Textarten dadurch, daß er weder bestimmte reale Gegenstände expliziert noch solche hervorbringt, und er unterscheidet sich andererseits von den realen Erfahrungen des Lesers dadurch, daß er Einstellungen anbietet und Perspektiven eröffnet, in denen ein durch Erfahrung gekannte Welt anders erscheint. So läßt sich der literarische Text weder mit den realen Gegenständen der ‚Lebenswelt‘ noch mit den Erfahrungen der Leser vollkommen verrechnen“.95

Diese mangelnde Deckung erzeugt ein gewisses Maß an Unbestimmtheit, die die Adaption für die eigene Position möglich macht. Auf einer zweite Ebene wird Unbestimmtheit durch die formalen Bedingungen des Textes erzeugt, die hier nicht weiter von Interesse sind, weil sie durch literarische Techniken entstehen, die für die Ideengeschichte wenn überhaupt nur ausnahmsweise adaptierbar sind, wogegen die von Iser im engeren Sinne als „Unbestimmtheitsstellen“ bezeichneten Unbestimmtheitsbeträgen eines Textes, anschlussfähig scheinen.96 Für die Ideengeschichte ist folglich zwar nicht die Art und Weise der Erzeugung von Unbestimmtheit im fiktionalen Text, wohl aber das Konzept der Unbestimmtheit selbst und das darin vorausgesetzte Konzept des impliziten Lesers adaptierbar. Die Anschlussfähigkeit der ideengeschicht-

92 Ebd. 93 Wolfgang Iser, „Die Appellstruktur der Texte“, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, München: Fink Verlag, 1975, S. 228-252, hier: S. 248. 94 Ebd., S. 236. 95 Ebd., S. 233. 96 W. Iser, Akt des Lesens, S. 284.

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liche Quellen liegt – so lässt sich das m. E. adaptieren – in der Unbestimmtheit, die sich durch den von der konkreten historischen Praxis abstrahierenden Charakter der Überlegungen ergibt, denn auch hier trifft zu, was Iser über den fiktionalen Text sagt: „Ein Text ist hier nicht als Dokument für etwas verstanden, das es – in welcher Form auch immer – gibt, sondern als eine Umformulierung bereits formulierter Realität, durch die etwas in die Welt kommt, was vorher nicht in ihr war.“97 Das politik-theoretische Potenzial ideengeschichtlicher Texte liegt so verstanden in der durch Abstraktion von der Wirklichkeit entstehenden Unbestimmtheitsstellen, die des Bezuges zu einer historischen Realität, einer Konkretisierung oder anders einer Kontextualisierung bedürfen. Diese manifestiert sich in der politikwissenschaftlich motivierten ideengeschichtlichen Arbeit als Rekontextualisierung, wohingegen die Kontextualisierung entweder im Quelltext selbst erfolgt oder aber durch den historischen Kontext vorgeben ist. Insofern sich die Unbestimmtheit ideengeschichtlicher Quellen aus ihrer Abstraktion von konkreten politischen Problemkonstellationen ergibt und an einen (egal ob den ursprünglichen oder den je gegenwärtigen) konkreten Kontext gebunden bleibt, müssen die abstrakten Grundsätze in der (vollzogenen oder nur impliziten) Rekontextualisierung mit dem je konkreten Kontext zur Deckung gebracht werden. Texte der politischen Ideengeschichte unterscheiden sich von anderen historischen Texten also dadurch, dass sie nicht einfach Aussagen über ihre je eigene politische Gegenwart tätigen, sondern, von dieser abstrahierend, allgemeine Grundsätze für bestimmte Konstellationen formulieren und insofern unbestimmt sind. Die Unbestimmtheitsstellen lassen sich dabei nicht ohne Kontext denken, sind aber aufgrund ihrer Abstraktheit nicht an ihren ursprünglichen Kontext gebunden, sondern lassen sich für andere Kontexte rekontextualisieren. Das heißt die Unbestimmtheitsstellen (oder mit Arendt: die Korallen) sind nicht kontextlos, weil ihre Bergung immer schon ihre Rekontextualisierbarkeit für einen spezifischen Kontext impliziert. Die Unbestimmtheitsstellen abstrahieren vom ursprünglichen Kontext, d.h. sie sind in Arendts Verständnis zeitlos, sind aber nicht entkontextualisierbar, d.h. sie enthalten an sich keine Wahrheit, können aber – rekontextualisiert für die je gegenwärtigen Praxis – dieser Sinn verleihen.

97 Ebd., S. 8.

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Produktive Erkenntnisfehler. Anachronismen in der politischen Ideengeschichte1 Rieke Trimҫev

Kann eine Geschichte der politischen Ideengeschichte mehr sein als eine Erzählung über die Abfolge von Schulen, methodischen Paradigmen, oder Rezeptionspfaden? Muss sie sogar mehr sein, wenn sie in der adjektivischen Charakterisierung der Ideengeschichte als einer „politischen“ auch die Praxisdimension politischen Denkens thematisieren möchte? Sollen beide Fragen positiv beantwortet werden, braucht eine solche politische Ideengeschichte zweiten Grades einen systematischen Zugangspunkt, der unterschiedliche methodische Paradigmen miteinander vergleichbar macht, dabei aber auch den politisch-praktischen Moment der politischen Ideengeschichte in den Vergleich mit einbezieht. Der Vorschlag meines Beitrages lautet, dass das Konzept des Anachronismus eine solche Perspektive eröffnet. Eine reflexive Geschichte der politischen Ideengeschichte lässt sich somit nicht nur als die Geschichte von Denkern, Denkschulen oder Texten schreiben, sondern auch als die Geschichte der Konstitutionsbedingung und Typen legitimer Anachronismen.2 Mein Beitrag geht in drei Schritten vor: Zunächst werde ich den Begriff des Anachronismus und seinen Problemcharakter in der ideengeschichtlichen Methodendebatte erläutern. Im zweiten Schritt werde ich dann am Beispiel von Reinhart Koselleck, Hannah Arendt und Jacques Rancière drei unterschiedliche Fälle von Regeln für plausible Anachronismen herausarbeiten. Ein vergleichender dritter Teil fragt schließlich, wie man „harmlose“ von „effektiven“ Anachronismen unterscheiden kann.

1 Für ihre Kommentare bedanke ich mich bei den Teilnehmenden des Workshops „Histoire de lʼhistoire des idées politiques” am 10.1.2015 in Paris sowie bei Friedemann Pestel. 2 Für die Wissenschaftsgeschichte wurde bereits ein ähnlicher Vorschlag unterbreitet von Nick Jardine: „Uses and Abuses of Anachronism in the History of the Sciences”, History of Science, 38/2000, S. 251-270.

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1. Verboten oder unvermeidbar? Anachronismen Anachronismen sind Verwechslungen von Zeitebenen.3 Es lassen sich zwei Richtungen solcher Verwechslungen unterscheiden. Eine erste Spielart des Anachronismus projiziert gegenwärtige Kategorien in eine Vergangenheit, die diese Kategorien nicht kannte oder gar kennen konnte. Quentin Skinner hat das als den „Mythos der Prolepsis“ kritisiert; so sei es beispielsweise eine „historische Absurdität“, Platon oder Rousseau einen Totalitarismusvorwurf zu machen, da ihre Zeit diese spezifische Regimeform noch gar nicht kannte.4 In einer zweiten Sorte von Anachronismen werden zeitlich frühere Kategorien auf eine historisch spätere Zeitebene angewendet. Ein Beispiel wäre hier Dolf Sternbergers begriffspolitischer Versuch, die Verbindung von „Bürgerstaat“ und „Parteienstaat“ in der Bundesrepublik in Aristotelischer Semantik als „neue Politie“ zu beschreiben.5 Carlos Spoerhase hat beide Formen von Anachronismen zu folgender Formel zusammengefasst: „In komplexen Darstellungen eines historischen Zusammenhanges Z, für den der Zeitindex t wesentlich ist, finden sich einzelne Elemente E, die für einen anderen, zeitlich späteren Zusammenhang Zt+n oder zeitlich früheren Zusammenhang Zt-n in der Weise charakteristisch sind, dass sie (nach einem als gegeben angenommenen Wissen) für Zt noch nicht oder nicht mehr angesetzt werden können.“6

Es wird rasch deutlich: Anachronismen stehen stets unter dem Verdacht des Erkenntnisfehlers. Die Auseinandersetzung mit und die Adaption von kontextualisierenden Ansätzen aus der Geschichtswissenschaft in der politischen Ideengeschichte, wie zum Beispiel in der Cambridge School oder 3 So charakterisiert Spoerhase den Anachronismus wie folgt: „Wo die seriöse historiographische Forschung nämlich darauf abzielt, eine Mischung von verschiedenen ‚Zeiten‘ zu vermeiden und die Betrachtung der Vergangenheit strikt von gegenwärtigen kognitiven Beständen zu trennen, begeht der anachronistisch verfahrende Historiograph den Fehler, verschiedene ‚Zeitebenen‘ zu mischen und die Vergangenheit nicht ‚aus ihr selbst heraus‘, sondern ausgehend vom (verzerrenden) Blickpunkt der Gegenwart zu verstehen.“ (Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin: Walter de Gruyter, 2007, S. 149). 4 Quentin Skinner, „Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte“, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009, S. 21-63. 5 Dolf Sternberger: „Die neue Politie. Vorschläge zu einer Revision der Lehre vom Verfassungsstaat“, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 33/1984, S. 1-40, hier S. 22. 6 C. Spoerhase, Autorschaft und Interpretation, S. 184.

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Produktive Erkenntnisfehler

der Historischen Semantik, hat der politischen Ideengeschichte in dieser Hinsicht eine besondere Strenge auferlegt. So produktiv die Methodendiskussion war und sosehr sie zu einem professionellen Selbstverständnis der politischen Ideengeschichte beigetragen hat, so hat die kritische Hinterfragung vorschneller anachronistischer Schlüsse allerdings auch weniger erfreuliche Nebenwirkungen gezeitigt. Dies wird besonders deutlich in Richard Rortys vielzitierter Diskussion von analytischen und historischen Interpretationsansätzen, die in weiten Teilen eine Auseinandersetzung mit Quentin Skinner darstellt. Rorty schlägt Skinner versöhnlich einen Methodenpluralismus vor, der in mancher Hinsicht auch dem Selbstverständnis des Faches in der heutigen Zeit entspricht: Aus der Alternative von „historischer Rekonstruktion“ und „rationaler Rekonstruktion“, die Theoretiker der Vergangenheit zu Gesprächspartnern über gegenwärtige Probleme mache, „ergibt sich aber gar kein Dilemma. Wir sollten beides tun, aber jeweils separat“.7 Solange rationale Rekonstruktionen „im vollen Bewußtsein des Anachronismus ausgeführt werden“8 und sich jeglicher Aussage darüber enthalten, was die Autoren der Vergangenheit wirklich meinten und meinen konnten, ist ihr anachronistisches Vorgehen legitim – und gleichzeitig offensichtlich von allen methodischen Ansprüchen an eine historische Interpretation befreit. In historischen Interpretationen selbst dagegen wird dann jeglicher anachronistische Schluss zum interpretatorischen Fauxpas, und die Gegenwartsrelevanz von Ideengeschichte auf ein Medium von Kontingenzbewusstsein beschränkt.9 Aus den so gebildeten Nischen der historisch-philosophischen Arbeitsteilung heraus werden Anachronismen endgültig zu Erkenntnisfehlern. Hatte nicht schon Montesquieu bemerkt: „Transporter dans des siècles reculés toutes les idées du siècle où l’on vit, c’est des sources de l’erreur celle qui est la plus féconde“10?

7 Richard Rorty, „Vier Formen des Schreibens von Philosophiegeschichte“, in: Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 355-394, hier S. 355. Zur Kritik eines solchen „friedvollen – aber falschen – Nebeneinander[s]“ und einem Plädoyer für einen Methodenpluralismus, der vielmehr die Spannung unterschiedlicher Interpretationsansätze bewusst bearbeitet, siehe jüngst Martin Beckstein / Ralph Weber: „Methodenpluralismus in der Politischen Ideengeschichte“, Zeitschrift für Politik, 1/2018, S. 3-21, hier S. 20. 8 Ebd., S. 361. 9 Ebd., S. 384. 10 Montesquieu, De l’Esprit des Lois [1748], Band II, Paris: Flammarion, 1979, S. 327.

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Die oxymorische Kennzeichnung dieses Fehlers als einen „fruchtbaren“ bringt allerdings das durchaus zwiespältige Verhältnis der politischen Ideengeschichte zum Anachronismus zum Ausdruck. Denn Anachronismen sind auch der sensible Moment jedes ideengeschichtlichen Erkenntnisprozesses. Sie finden immer dann statt, wenn politische Ideenhistoriker vergangenes politisches Denken nicht lediglich für das akademische „Archiv“ aufbereiten, sondern es in der Gegenwart re-kontextualisieren und damit aktualisieren. Dieser Übergang von „Archiv“ zu „Arsenal“11 oder von „Archiv“ zu „Laboratorium“12 geschieht nicht immer bewusst oder gar kontrolliert, und nicht immer gleichermaßen militant. Doch selbst der im historischen Handwerk beflissenste und strengste Ideenhistoriker, der bescheiden das eigene Erkenntnisinteresse hinter das seiner Vorgänger zurückstellt, muss mit Hans-Georg Gadamer eingestehen: „Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“13 Frauke Höntzsch hat diese Verlegenheit in jüngerer Zeit zu einem überzeugenden Plädoyer für eine dezidiert politikwissenschaftliche Ideengeschichte umformuliert, deren disziplinäres Alleinstellungsmerkmal ihr zufolge die „Bergung und Rekontextualisierung“ von sogenannten „Unbestimmtheitsstellen“ in historischen Texten sei, die diese dadurch für eine „theoretische Reflexion politischer Praxis“ fruchtbar mache.14 Auf diesem Wege verhelfe gerade die Ideengeschichte einer im Heute verhafteten Politikwissenschaft zu einem fundierten Möglichkeitssinn: „[D]ie Ideengeschichte zeigt Denkmöglichkeiten auf, die über die bloße Analyse des Seins hinausgehen, ohne zwangsläufig normativen Charakter anzunehmen […].“15 Doch auch der vielleicht sehr viel ehrlichere Begriff der Re-Kontextualisierung birgt selbst noch eine große Projektionsfläche für unterschiedliche und widerstreitende methodisch strikte oder stärker auf eine kreative Intuition

11 Marcus Llanque, Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse. München/Wien: Oldenbourg, 2008, S. 2. 12 Herfried Münkler, „Politische Ideengeschichte“, in: ders. (Hrsg.), Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, Hamburg: Rowohlt, 2003, S. 103-131, hier S. 103. 13 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck, 2010 [1960], S. 311. 14 Frauke Höntzsch, „Für eine politikwissenschaftliche Ideengeschichte“, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Neue Perspektiven der Ideengeschichte, Innsbruck: Innsbruck University Press, 2015, S. 75-89, hier S. 86. 15 Ebd., S. 82.

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vertrauende Interpretationsverfahren. Er verlagert damit den Konflikt zwischen stärker analytischen und stärker kontextualisierenden Interpretationsweisen auf ein produktiveres Terrain, legt ihn aber nicht bei. Der umstrittenere Begriff des Anachronismus dagegen nimmt genau diese Spannung in den Blick.16 Mein Vorschlag lautet daher, die Sprache der Disziplin „politische Ideengeschichte“ als von historisch veränderbaren Regeln bestimmt zu verstehen, die legitime von illegitimen Anachronismen in der reaktualisierenden Interpretation von historischen Reflexionen über Politik unterscheiden. Um in dem von Herfried Münkler bemühten architektonischen Bildfeld zu bleiben: Die „zahlreiche[n] Gänge“ und „viele[n] Türen“ zwischen Archiv und Laboratorium, die das Gebäude einer „intensiv betrieben[en]“ Ideengeschichte auszeichnen17, sind nicht für alle Generationen und Gruppen von Bewohnern gleichermaßen nutzbar oder gar sichtbar. Es gibt stets Auseinandersetzungen um verbotene Türen, marode Flure und etwaige Geheimgänge. 2. Plausibilitätsregeln – drei Beispiele Unter welchen Bedingungen halten wir die Transposition einer vergangenen Bedeutung in die Gegenwart für plausibel? Ich werde im Folgenden drei Beispiele analysieren: Reinhart Koselleck, Hannah Arendt und Jacques Rancière. Diese drei Namen verbinden wir intuitiv mit drei typischen Haltungen gegenüber anachronistischen Interpretationen. Der Historiker Koselleck steht auf der Seite kontextualisierender Zugänge und damit für ein intellektuelles Projekt, das Anachronismen zu vermeiden sucht. Der Name Hannah Arendt dagegen wird oft mit einem politischen Denken verbunden, das grundlegend auf anachronistischen Interpretationsweisen zu beruhen scheint. Die häufigen Anachronismen im Werk des politischen Theoretikers Jacques Rancière hingegen lesen sich häufig eher als strategische Illustrationen. Meine Analyse sucht in allen drei so unterschiedlichen

16 Mit ähnlicher Stoßrichtung hat auch Maike Weißpflug gefordert, „dass eine kritische Ideengeschichte am Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit ansetzt“. Siehe Maike Weißpflug, „Tigersprung ins Vergangene. Aktualisierung und Kritik als Problem der politischen Ideengeschichte“, in: Andreas Busen / Alexander Weiß (Hrsg.), Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens, Baden-Baden: Nomos, 2013, S. 237-253, hier S. 251. 17 H. Münkler, „Politische Ideengeschichte“, S. 103.

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intellektuellen Projekten exemplarische Momente anachronistischer Schlüsse auf und fragt dann nach Auskünften über ihre Plausibilisierung. Zu Beginn jedes Abschnittes werde ich zunächst zeigen, inwiefern die Anachronismuskategorie für den jeweiligen Autor überhaupt sinnvoll zu verwenden ist. Denn der Anachronismusbegriff, so eine weitere Prämisse, eignet sich nicht uneingeschränkt als Zugang zu einer reflexiven Geschichte der politischen Ideengeschichte, sondern nur im Kontext eines Zeitbewusstseins, für das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft niemals problemlos aufeinander bezogen werden können18: „Geschichte kann vom Standpunkt der Gegenwart geschrieben werden, ohne dem Anachronismus anheimzufallen, wenn vorausgesetzt werden kann, dass die Vergangenheit genau denjenigen gesetzesartigen Regularitäten gehorcht, die auch die Gegenwart bestimmen.“19

Dieser Bemerkung von Spoerhase ist auch mit Blick auf die Ideen-Geschichte zuzustimmen. 2.1. Reinhart Koselleck Beginnen möchte ich mit einem in die Ideengeschichte wirkenden Ansatz, der auf den ersten Blick über jeden Anachronismusverdacht in besonderer Weise erhaben scheint: die Begriffsgeschichte, die zum contextual turn in der politischen Ideengeschichte20 entscheidend beigetragen hat. Aus Sicht der politischen Ideengeschichte formuliert die Begriffsgeschichte als Methode Regeln, wie die Bedeutung politischer und sozialer Begriffe konse-

18 Begriffsgeschichtlich wird das Konzept des Anachronismus tatsächlich auch ab dem späten 16. Jahrhundert relevant, zunächst als „Irrtümer gegen die Chronologie“ und dann zudem in dem hier interessierenden Sinne als „Unzeitgemäßheit“, siehe Wilhelm Schmidt-Biggemann, „Geschichte, Ereignis, Erzählung. Über Schwierigkeiten und Besonderheiten von Geschichtsphilosophie“, in: Andreas Speer (Hrsg.), Anachronismen, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 25-50, hier S. 28. 19 C. Spoerhase, Autorschaft und Interpretation, S. 149. 20 Eine Zusammenfassung findet sich zuletzt bei Elias Jose Palti (2014): „The ‚Theoretical Revolution‘ in Intellectual History. From the History of Political Ideas to the History of Political Languages“, History & Theory, 3/2014, S. 387-405.

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quent in ihrem historischen Kontext verstanden werden kann.21 Es geht gar um „semantologische Kontrolle für unseren gegenwärtigen Sprachgebrauch“, mittels der „ungewollte oder eigenmächtige Übertragungen gegenwärtiger Sinngehalte in vergangene Wortbedeutungen“ kritisiert werden können.22 Inwiefern ist es im Rahmen des dem begriffsgeschichtlichen Projekt zugrunde liegenden Zeitverständnisses sinnvoll, die Anachronismuskategorie zu verwenden? Die Berechtigung hierfür erwächst aus einer der ganz zentralen Thesen Reinhart Kosellecks zum modernen Zeitbewusstsein. In der Moderne, so die bekannte Formel des Bielefelder Historikers, treten „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ auseinander: „Alle politischsozialen Begriffe geraten in eine zeitliche Spannung, die Vergangenheit und Zukunft auf neue Weise einander zuordnet. Anders ausgedrückt: Die Erwartungen werden nicht mehr zur Gänze aus der bisherigen Erfahrung abgeleitet.“23 Während die in ihnen vermittelten Erwartungen viele moderne politische Begriffe auch heute „unmittelbar verständlich“24 erscheinen lassen, wird ihr Erfahrungsbezug immer schwerer zugänglich, was anachronistischen Bedeutungsübertragungen Vorschub leistet. Allerdings dient die Begriffsgeschichte nicht nur der methodischen Kontrolle von illegitimen Anachronismen; sie ist, wie Ernst Müller und Falko Schmieder in ihrer fulminanten Historisierung unterschiedlicher begriffsgeschichtlicher Ansätze deutlich machen, „keineswegs eine neutrale Methode“.25 Vielmehr vollzieht sie selbst eine „Horizontverschmelzung“, in der vergangene Bedeutungen in die Gegenwart getragen werden. Auch Müller und Schmieder konstatieren: „Die Geschichte der modernen (Be-

21 Zur Begriffsgeschichte als Methode der Politischen Ideengeschichtsschreibung siehe zum Beispiel Martin Beckstein / Ralph Weber, Politische Ideengeschichte. Interpretationsansätze in der Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 205-232. 22 Reinhart Koselleck, „Einleitung“, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischesozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart: Klett-Cotta, 1992, S. XIII–XVIII, hier S. XIX. 23 Reinhart Koselleck, „Die Verzeitlichung der Begriffe. Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels“, in: Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010, S. 77-85, hier S. 81 [Hervorhebungen im Original]. 24 R. Koselleck, „Einleitung“, S. XV. 25 Ernst Müller / Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 21.

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griffs-) Geschichtsschreibung ist damit immer auch als Geschichte der Entgeschichtlichung zu schreiben.“26 Anachronismen als Medium solcher Prozesse der Entgeschichtlichung treten in demjenigen Moment auf, in dem der Untersuchungsgegenstand auf die Theorie der Begriffsgeschichte zurückwirkt. Wenn der Gegenstand des begriffsgeschichtlichen Projekts Kosellecks die „Entstehung der modernen Welt“27 war, so wird die Methode, die sich an diesem Gegenstand ausformt, schließlich zu einer „modernen“ Methode, wenn auch einer modernitätsskeptischen. Damit soll hier auf den Umstand hingewiesen werden, dass ihre analytischen Instrumente sich in einer Weise schärfen, die sie für ihr Objekt angemessen und ‚passend‘ macht.28 Besonders deutlich wird ein solcher Prozess in der philosophischen Ausformulierung der der Begriffsgeschichte zugrunde liegenden Prämissen in Kosellecks Arbeiten zur Historik. In den Geschichtlichen Grundbegriffen hatte Koselleck die sogenannte Sattel- oder Schwellenzeit von 1750 bis 1850 unter anderem durch eine „Politisierung“ charakterisiert. Damit ist gemeint, dass politisch-soziale Begriffe infolge der Ausweitung ihrer Trägerschichten („Demokratisierung“) und ihrer zunehmenden Abstraktheit („Ideologisierbarkeit“) immer stärker als flexible „Selbst- und Fremdbezeichnungen“ und damit zu einer konfliktiven Positionsbestimmung dienen.29 Diese „Politisierung“ wird innerhalb Kosellecks Reflexion über die vorsprachlichen Bedingungen möglicher Geschichte, die, wie Niklas Olsen gezeigt hat, in ihren gedanklichen Grundzügen bereits auf die frühen 1950er Jahren zurückgeht30, zu dem Gegensatzpaar von „Freund und Feind“ verallgemeinert. Koselleck bemerkt zu seinem Rekurs auf dieses „Oppositionspaar“ Carl Schmitts, dass es seine „zeitspezifischen Valeurs“ aus dem Kontext der späten Weimarer Republik erhalten habe, so dass Der Begriff des Politischen zu Kosellecks eigener Zeit bereits als ein „historische[r] Text“ zu lesen sei31; dennoch argumentiert er:

26 Ebd., S. 23. 27 R. Koselleck, „Einleitung“, S. XIV. 28 Vgl. ähnlich E. Müller / F. Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik, S. 286. 29 R. Koselleck, „Einleitung“, S. XVIII. 30 Niklas Olsen, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck. New York/Oxford: Berghahn Books, 2012, S. 63-69. 31 Alle Zitate aus Reinhart Koselleck, „Historik und Hermeneutik“, in: Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 97-118, hier S. 103.

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„Aber unbeschadet der politisch-ideologischen Spitze dieser Termini und ihrer weltanschaulichen Verwendbarkeit müssen wir uns klar darüber sein, daß das Oppositionspaar von Freund und Feind ganz formal Endlichkeiten thematisiert, die hinter allen Geschichten menschlicher Selbstorganisation auftauchen.“32

In einem etwas späteren Aufsatz dann geht dieses menschliche Konflikte und Grenzziehungen thematisierende Oppositionspaar dann in dem hier zitierten Text noch als rein räumlich aufgefasster Gegensatz von „Innen und Außen“ auf.33 Wenn Koselleck auch Kategorien von Carl Schmitt aufnimmt34, gebraucht er sie allerdings mit einer ganz anderen normativen Pointe: „[…] Koselleck was hoping for a mode of political order that respects human finality – and in which categories such as friend and enemy, and master and slave are filled out not in excessively asymmetrical fashions that generate exclusion, but in ways that aim at political recognition and plurality.“35

Was zunächst ein Merkmal der Sattelzeit schien, wird durch die Heuristik der „Politisierung“ erst methodologisch, und in einem weiteren Schritt geschichtstheoretisch verallgemeinert, so dass der anfängliche Zeitindex langsam verblasst. Diese Entzeitlichung gelingt, indem im „Labor“ politischen Denkens eine mit einem ganz eigenen Zeitindex versehene Kategorie, die Schmitt’sche Freund-Feind-Unterscheidung, mit einer anderen begriffspolitischen Valenz versehen wird – also dank eines anachronistischen Vorgehens. Dass eine solche Übertragung zwischen dem stets situierten Verstehen des Historikers und dem von ihm studierten vergangenen Verstehen fortwährend erfolgt, ist Koselleck sehr bewusst. Was sind ihre Plausibilitätsbedingungen? Schon ab den 1950er Jahren kritisiert Koselleck seine eigene Disziplin dort, wo sie beansprucht, lediglich ein der Gegenwart entho-

32 Ebd. 33 Reinhart Koselleck, „Sprachwandel und Ereignisgeschichte“ [1989], in: Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 32-55, hier S. 34. 34 Ebd., S. 65; vgl. ebenfalls E. Müller / F. Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik, S. 324. 35 N. Olsen, History in the Plural, S. 69. Auch Reinhard Mehring zeigt ausführlich auf, dass die Wirkung von Schmitt auf Koselleck „weniger Abhängigkeiten als Absatzbewegungen und Gegenkonzepte“ hervorbringt, vgl. Reinhard Mehring, „Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt“, in: Hans Joas / Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin: Suhrkamp, 2011, S. 138-168, hier S. 165.

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bener getreuer Spiegel historischer Wirklichkeiten sein zu wollen.36 Koselleck dagegen „wollte sich gegenüber der zeitgenössischen Situation positionieren, und es sieht so aus, als hätte er in Begriffsgeschichte eine Methode gefunden, die es ihm ermöglicht“.37 In seinem Aufsatz „Standortbindung und Zeitlichkeit“ rationalisiert Koselleck eine solche Interaktion von Vergangenheits- und Gegenwartshorizonten, indem er die Perspektivität des Historikers selbst historisiert. Anhand von Johann Martin Chladenius entwickelt er zunächst den Gedanken, dass geschichtliche Erkenntnis durch die Standortgebundenheit des Historikers nicht erschwert, sondern gerade erst ermöglicht wird.38 Das vorrevolutionäre Fortschrittsdenken ließ zudem denkbar werden, „daß sich mit der wachsenden zeitlichen Distanz [zwischen dem Historiker und seinem Objekt, R.T.] die Erkenntnischancen nicht verringern, sondern steigern“.39 Hier entsteht das typisch moderne Geschichtsbewusstsein, das dem Historiker abfordert, seinen erkenntnisproduktiven Standort zu reflektieren, „da er sich in und mit der geschichtlichen Bewegung verändert“.40 An diese dem Zeitalter der Aufklärung entstammenden Reflexionen knüpft Koselleck an: Auch im zwanzigsten Jahrhundert sei die überzeugendste Antwort auf das Dilemma der Objektivität geschichtlicher Erkenntnis, die Spannung zwischen Quelle und der eigenen Perspektive für geschichtstheoretische Reflexionen produktiv zu machen. Diese Anknüpfung an das 18. Jahrhundert erfolgt explizit über die Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts hinweg: „Damit greife ich auf Erfahrungen und Ergebnisse zurück, die vor dem Historismus gesammelt worden sind, auf Erkenntnisse der Aufklärung und des Idealismus […].“41 Die Erfahrung der wachsenden Beschleunigung von Ge-

36 N. Olsen, History in the Plural, S. 58-63. Olsen stellt dar, dass Koselleck dem Historismus vorwirft, die der eigenen historischen Arbeit implizite Zeitvorstellung nicht mit zu reflektieren, und dadurch eine politisch problematische Fortschrittsvorstellung zu befördern, siehe besonders S. 61. 37 „wanted to position himself toward the contemporary situation, and in conceptual history he had seemingly found a method that would enable him to do so“ (N. Olsen, History in the Plural, S. 63). 38 Reinhart Koselleck, „Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt [1977]“, in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, S. 176-210, hier S. 187. 39 Ebd., S. 191. 40 Ebd., S. 195. 41 Ebd., S. 214.

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schichte wird in der Erfahrung der historiographischen Kontinuität aufgehoben.42 Die Plausibilitätsbedingung für anachronistische Schlüsse lautet also, dass sie reflektiert und in ihrer Problemhaftigkeit geschichtstheoretisch mobilisiert werden43, also in den Dienst einer Historik gestellt werden. In anderen Worten, Anachronismen sind legitim, wenn der Historiker so lang wie möglich Widerstand leistet, um sich dann als Philosoph der Versuchung geschlagen zu geben. 2.2. Hannah Arendt Die Schriften von Hannah Arendt operieren, wie in der Sekundärliteratur immer wieder bemerkt wurde, auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Der Historikerin steht die „Perlentaucherin“ gegenüber.44 Schreibt Arendt im Genre der historischen Analyse, so ist ihre Arbeit immer der These des „Traditionsbruchs“ gewidmet. Philosophiegeschichtlich lokalisiert Arendt diesen Bruch in der existenzphilosophischen Linie Kants45, wissenschaftsgeschichtlich in der Frühen Neuzeit46 und politikgeschichtlich im Genozid an den europäischen Juden47. Keine Tradition, so ist bei Arendt immer wieder zu lesen, verpflichtet uns noch den Bedeutungswelten der Vergan42 Dies wiederum legitimiert Koselleck durch seinen Erfahrungsbegriff, der selbst anachronistische Züge trägt. So stellt er in seinen begriffsgeschichtlichen Analysen zwar für die Neuzeit eine „analytische Trennung des sinnlichen Wahrnehmens, des Sehens und Hörens von der bewußten Leistung des Erkundens und Erforschens“ fest, will aber diese „umfassende Einheit“ eines die passive oder „rezeptive Erfahrung der Wirklichkeit“ und deren aktive theoretische Reflexion bezeichnenden Erfahrungsbegriffes „retten“; siehe Reinhart Koselleck, „Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze“ [1988], in: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 27-77, hier S. 29. 43 … und die Quellen dabei ein „Vetorecht“ behalten, siehe R. Koselleck, „Standortbindung und Zeitlichkeit“, S. 206. 44 Vgl. auch Eno Trimҫev: „Flying Spark of Fire. Thinking (and) Action in Hannah Arendt“, Redescriptions, 2/2017, S. 182-199, hier S. 184. 45 Hannah Arendt, „Was ist Existenz-Philosophie?“, in: Sechs Essays, Heidelberg: Schneider, 1948, S. 48-80, hier S. 49. 46 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper, 2001 [1967], S. 329ff. 47 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München: Piper, 2003 [1955], S. 947.

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genheit.48 Dennoch begibt sich Arendt immer wieder, und zwar mit sehr reicher Ausbeute, in vergangene Bedeutungswelten. Der Anachronismusbegriff lässt sich also sehr passend auf das Arendt’sche Denken anwenden: Denn wie der anachronistische Schluss trotz der Abgeschlossenheit eines Phänomens dieses in der Gegenwart lokalisiert, so holt Arendts Denken immer wieder Begriffe und Denkfiguren, die doch eigentlich unter den Trümmern des Traditionsbruches verschüttet sind, in die Gegenwart. Ein gutes Beispiel dafür ist die Figur des Zuschauers in Arendts später Urteilstheorie. Diese Metapher schlägt einen Bogen über ihre agonal-theatrale Handlungstheorie zurück zu einer von Arendts ersten Veröffentlichungen, einer gemeinsam mit Günther Stern verfassten Rezension der „Duineser Elegien“ von Rainer Maria Rilke. Arendt liest die Elegien, kurz gesagt, als eine Klage über Transzendenzverlust und Weltentfremdung, die die Dichtung in den Dienst einer „Rettung“49 der vergänglichen Welterscheinungen stellt. Diese sollen durch „Preisung“ in ein „stärkeres Sein“ hinübergerettet werden, allerdings nicht mehr in eine andere Welt, sondern in die „oberen Weltschichten“.50 Bei Rilke, so Arendt, wird „die schroffe Alternative von Diesseits und Jenseits durch die Pluralität der Seinsebenen neutralisiert“.51 Mit der Zuschauerfigur liefert Arendt am Ende ihres Schaffens eine strukturähnliche Antwort auf die spezifisch politiktheoretisch nuancierte Weltentfremdungsdiagnose, die sie besonders in ihrer Vita activa entfaltet hatte. Dort hatte Arendt Politik als die Einrichtung von fragilen „Erscheinungsräumen“ dargestellt, die aus der menschlichen Lust entstehen, sich vor anderen auszuzeichnen.52 Doch welche Form von Verbindlichkeit kann dieser auf Pluralität gegründeten Politik entsprechen? Als Bedingung setzt Arendt auf den Begriff der politischen Urteilskraft, und zu ihrer Kon-

48 Sie leiht dafür gern eine Zeile des Dichters René Char, der schrieb: „Notre héritage n’est précédé d’aucun testament.“ (Hannah Arendt, „The Gap between Past and Future“, in: Between Past and Future: Exercises in Political Thought, London: Penguin, 1993 [1961], S. 3-15, hier S. 3) 49 Hannah Arendt / Günther Stern, „Rilkes ‚Duineser Elegien‘ [1930]“, in: Ulrich Fülleborn / Manfred Engel (Hrsg.), Rilkes ‚Duineser Elegien. Forschungsberichte Band 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010, S. 45-65, hier S. 50. 50 Ebd., S. 52, S. 50, S. 55f. 51 Ebd., S. 56. 52 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 213ff.

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zeptualisierung greift sie auf die Figur des Zuschauers zurück.53 Dabei folgt sie keiner der bekannten metapherngeschichtlichen Pfade54, sondern mobilisiert die Figur des Zuschauers in recht idiosynkratischer Weise. Deutlich wird dies in ihrer anachronistischen Verschmelzung der Zuschauerbegriffe von Pythagoras und Kant.55 Das Theaterbild, das Arendts später Zuschauermetapher zugrunde liegt, ist das Amphitheater der griechischen Antike mit seinen erhöhten Sitzreihen. Genau dieses Bild erlaubt es ihr, die Frage der Art der Distanz zu thematisieren, die der urteilende Zuschauer von den Weltgeschehnissen gewinnt. Arendt ruft es besonders in einer Pythagoras zugesprochenen Fabel immer wieder auf: „Das Leben […] ist wie ein Festspiel; zu einem solchen kommen manche als Wettkämpfer, andere, um ihrem Gewerbe nachzugehen, doch die besten kommen als Zuschauer (theatai), und genauso ist es im Leben: die kleinen Naturen jagen dem Ruhm (doxa) oder dem Gewinn nach, die Philosophen aber der Wahrheit.“56

Dass der Zuschauer in dieser Parabel eigentlich eine Metapher für die gottgleiche Überlegenheit philosophischer Kontemplation darstellt, räumt Arendt zwar ein.57 Insofern das aber Arendts Fragehorizont verfehlt, nimmt sie sich die Freiheit, die von der Parabel angebotene Denkfigur selbst auszudeuten, und schreibt der Aussage von Pythagoras eine geradezu konträre Bedeutung zu. Für Arendt versinnbildlicht der Pythagoreische Zuschauer nicht den der Welt entrückten Standpunkt der Kontemplation,

53 Eine ausführlichere Analyse erscheint in Rieke Trimçev, Politik als Spiel. Zur Geschichte einer Kontingenzmetapher im politischen Denken des 20. Jahrhunderts. Baden-Baden: Nomos, im Erscheinen. 54 Vgl. Ralf Konersmann, „Welttheater als Daseinsmetapher“, in: Der Schleier des Timanthes: Perspektiven der historischen Semantik, Berlin: Parerga, 2006, S. 100-185; Rieke Trimçev: „D’une figure de l’inauthentique vers une figure du possible. Aspects d’une histoire de la métaphore théâtrale, de Lyotard à Rancière“, Tumultes, 42/2014, S. 11-29. 55 Ich blende hier die Figur des „blinden Dichters“ Homer aus, die für Arendts Zuschauerbegriff ebenfalls konstitutiv ist, und die in ihrem Zusammenspiel mit kantischen Kategorien bereits hervorragend analysiert wurde von Grit Straßenberger, Über Das Narrative in der politischen Theorie. Berlin: Akademie Verlag, 2005, S. 81-91. 56 Zitiert nach Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. München/Zürich: Piper, 1998, S. 98. 57 Ebd., S. 131.

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sondern „die Zuschauer gehören zur Welt“.58 Mit Pythagoras bringt Arendt zum Ausdruck, dass die politische Urteilskraft sinnlich und emotional an die Sphäre des Handelns zurückgebunden bleibt, kognitiv aber zu ihr auf Distanz zu gehen vermag. Noch deutlicher wird Arendts anachronistisches Interpretationsverhalten in einem zweiten Punkt: „Außerdem […] gehören die Zuschauer des Pythagoras zu einem Publikum und sind damit etwas ganz anderes als der Philosoph, der seinen bios theōrētikos damit beginnt, daß er aus der Gesellschaft seiner Mitmenschen und ihrer ungewissen Meinungen, ihrer doxai, heraustritt […].“59

Die Zuschauer sind in der Vielzahl und beobachten ihre Reaktionen auf das Geschaute gegenseitig; die politische Urteilskraft beheimatet die Pluralität vieler Perspektiven. Hier verbindet Arendt in einem Atemzug den modernisierten Pythagoras mit Kants Zuschauerbegriff und seinem Konzept der „erweiterten Denkungsart“ und dem sensus communis, die sie aber freilich radikal uminterpretiert.60 Diese unterschiedlichen ideengeschichtlichen Bruchstücke werden durch das Bild des Zuschauers zusammengehalten. Wie rechtfertigen sich bei Arendt solche anachronistischen Schlüsse? Ein Anhaltspunkt findet sich in der Metapher des „Perlentauchers“, einem Bild, das Arendt am Beispiel der Schriften ihres Freundes Walter Benjamin näher auslegte. Anhand einer Passage aus dem ihm gewidmeten Essay wird deutlich, unter welchen Bedingungen das Perlentauchen für Arendt ein zwar in strengem Sinne ahistorisches, aber dennoch legitimes ideengeschichtliches Erkenntnisverfahren darstellt: „Das Denken, genährt aus dem Heute, arbeitet mit den ‚Denkbruchstücken‘, die es der Vergangenheit entreißen und um sich versammeln kann. Dem Perlentaucher gleich, der sich auf den Grund des Meeres begibt, nicht um den Meeresboden auszuschachten und ans Tageslicht zu fördern, sondern um in der Tiefe das Reich und Seltsame, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten, taucht [es] [sic!] in die Tiefen der Vergangenheit, aber nicht um sie so, wie sie war, zu beleben und zur Erneuerung abgelebter Zeiten beizutragen. Was dies Denken leistet, ist die Überzeugung, daß zwar das Lebendige dem Ruin der Zeit verfällt, daß aber der Verwesungsprozeß gleichzeitig ein Kristallisationsprozeß ist; das in der

58 Ebd., S. 98; auf S. 102 spricht Arendt noch klarer von „der gewöhnlichen Welt“. 59 Ebd., S. 99. 60 Ebd.; dann ähnlich in Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. München/Zürich: Piper, S. 85.

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‚Meereshut‘ – dem selbst nicht-historischen Element, dem alles geschichtlich Gewordene verfallen soll – neue kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern und nur auf den Perlentaucher warten, der sie an den Tag bringt: als ‚Denkbruchstücke‘, als Fragmente oder auch als die immerwährenden ‚Urphänomene‘.“61

In dieser Passage fällt zunächst ganz im Allgemeinen auf, dass Arendt den ideengeschichtlichen Erkenntnisprozess, den wir uns gewöhnlich auf der horizontalen Zeitachse vorstellen, in die Vertikale verlegt: „auf den Grund des Meeres“. Mit der Figur des Meeres greift sie dabei auf eine typische Kontingenzmetapher zurück.62 Der Ideenhistoriker als Perlentaucher also begibt sich in die Tiefen der Kontingenzerfahrung, die aus dem oben angesprochenen Traditionsbruch entsteht. Dieser zeigt sich dabei als endgültig: Das Band zwischen Erfahrung und Wortzeichen, das den aufgesuchten Texten zu Grunde liegt, ist nicht mehr zugänglich, es ist im „Ruin der Zeit“ bis zur Unkenntlichkeit „verwest“. Was von diesen Zeichen gewordenen Erfahrungen dennoch verbleibt, ist allein „das Seltsame“, ein „exotische[r] Charakter“, wie Arendt an anderer Stelle schreibt.63 Seltsam aber erscheint das, was zwar genuin fremd ist, aber doch eine Ahnung von Bedeutung verleiht. Genau dies ist der Ausgangspunkt des anachronistischen Schlusses. Er ist vollständig „genährt aus dem Heute“, angetrieben von einer philosophischen Neugierde, die aber, und das ist die Eigenheit der Situation nach dem Traditionsbruch, eigentümlich verstummt ist. Der Taucher taucht mit einer Richtung, die ihm seine Neugierde für das Seltsame gibt; aber er ist gleichzeitig zur Sprache unfähig, unfähig, dieses Richtung-Gebende seiner Bewegung schon in Worte fassen zu können. Das Tauchen ist eine ganz stumme Tätigkeit. Es gibt also eine im Heute noch stumme, noch nicht artikulierbare Intuition, die auf den Meeresboden treibt. Arendt ist der im Perlentauchen enthaltene Anachronismus sehr bewusst: Die vergangenen Ideen werden völlig entkontextualisiert, der Perlentaucher muss die Idee „von allem reinigen, was an ih[r] typisch ist“.64

61 Hannah Arendt, „Walter Benjamin“, in: Menschen in finsteren Zeiten, München: Piper, 1989, S. 185-242, hier S. 242. 62 Zur Metapher des Meeres siehe Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2012 [1979]; Michael Makropoulos, „Meer“, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007, S. 236-248. 63 H. Arendt, „Walter Benjamin“, S. 231. 64 Ebd., S. 236.

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Das durchaus Problematische in diesem Vorgang kommt in der Gewaltsemantik zum Ausdruck, die Arendt dem Taucher zuschreibt: Die vergangenen Ideen werden von ihm „herausgebrochen“, „entrissen“. Diese Destruktion wird durch „die tödliche Stoßkraft neuer Gedanken“ vollzogen. Im Erneuern des Traditionsbruches, im aktiven Brechen, kommt die noch stumme gegenwärtige Intuition zu sich selbst und erkennt die „neuen Formen und Gedanken“, die der Tauchbewegung anfänglich die Richtung gaben. Wir lernen aber auch noch über eine weitere ‚Regel‘ des Perlentauchens in diesem Zitat: Der anachronistische Schluss, mit dem die exotischen, aber dem Verstehen im Heute den Spiegel reichenden Kristalle aus dem Wasser der Kontingenz gehoben werden, darf und kann keine vollkommene Narration mehr motivieren. Die Präsentation dieser Kristalle ist nur als das möglich, was sie sind: als „Bruchstücke“, als „Fragment“. Der anachronistische Schluss ist also bei Arendt als bewusste Annahme des Traditionsbruches möglich, der dem in ihm ja eben nicht verschütteten, aber durchaus stumm gewordenen menschlichen Verstehen-Wollen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis schafft. Der Ideenhistoriker muss aber Verfahren finden, um in der Darstellung diese Verfremdung des ursprünglichen Ideengehaltes transparent zu halten. Der Anachronismus ist nur so lange legitim, wie er nicht Tradition stiftet, sondern etwas Neues in die Welt der Gedanken bringt. 2.3. Jacques Rancière Wie Arendt hat auch Jacques Rancière keine Berührungsangst, wenn es um anachronistische Lesarten ideengeschichtlicher Texte geht. Bekannt ist sein eigenwilliger Kommentar der Aristotelischen Bestimmung des Menschen als zoon politikon zu Beginn seines politiktheoretisch am weitesten rezipierten Buches La Mésentente.65 Mir soll hier aber ein anderes Beispiel als Ausgangspunkt dienen, nämlich Rancières Stilisierung von Friedrich Schillers Briefen Über die Ästhetische Erziehung des Menschen zur „Urszene“66 einer Politik der Ästhetik.

65 Jacques Rancière, La Mésentente. Politique et philosophie. Paris: Galilée, 1995, S. 19-21. 66 Jacques Rancière: „The Aesthetic Revolution and its Outcomes“, New Left Review, 14/2002, S. 133-151, hier S. 135.

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Nachdem Rancière die Briefe durch Zufall in einem Antiquariat in die Hände gefallen waren67, sei ihre Lektüre „plötzlich zusammengefallen mit dem, was ich vom Arbeiterarchiv gelernt hatte, um eine Veränderung der Formen sinnlicher Erfahrung zu denken“.68 So entdeckt Rancière in Schillers Diktum „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“69 eine alternative Beschreibung dessen, was er selbst als „ästhetisches Regime der Kunst“ gekennzeichnet hatte: Eine Kunst, die sich weder den normativen Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens jenseits der Kunst unterwirft, noch diesem Leben gegenüber Autonomie seiner Normen beansprucht, sondern die gerade dank ihrer Autonomie emanzipierende Effekte im gesellschaftlichen Leben zeitigt.70 Schillers „Spieltrieb“ mit der ihm eigenen Erfahrung von Freiheit bringt genau jene Veränderung der „Aufteilung des Sinnlichen“ hervor, die für Rancière das genuin ästhetische Moment allen politischen Handelns ausmachen. Er scheut sich nicht, Schillers Briefe vollkommen in seiner eigenen Sprache aufgehen zu lassen.71 Ist diese anachronistische Schreibweise mehr als eine Strategie der Illustration? Dass diese Frage positiv beantwortet werden muss, zeigt ein trotz aller Popularität von Rancières Politiktheorie selten beachteter Aufsatz, der sein seit den Nuit des Prolétaires72 praktiziertes anachronistisches Schreiben explizit und militant verteidigt.73 Dass der Gegenstand dieses Aufsatzes das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zum Phänomen des Anachronismus ist, erübrigt auch, die Relevanz jener Kategorie für Rancière gesondert zu rekonstruieren.

67 Jacques Rancière, La méthode de l’égalité. Entretien avec Laurent Jeanpierre et Dork Zabunyan. Paris: Bayard, 2012, S. 137. 68 „venue tout d’un coup coïncider avec ce que j’avais appris de l’archive ouvrière pour penser une transformation des formes de l’expérience sensible“ (ebd., S. 91f.). 69 Friedrich Schiller, Über die Ästhetische Erziehung des Menschen [1795]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009, S. 64. 70 Jacques Rancière, Le partage du sensible. Esthétique et politique. Paris: La fabrique, 2000. 71 J. Rancière, „The Aesthetic Revolution and its Outcomes“. 72 Jacques Rancière, La nuit des prolétaires. Archives du rêve ouvrier. Paris: Fayard, 1981. 73 Jacques Rancière: „Le concept d’anachronisme et la vérité de l’historien“, L’Inactuel, 6/1996, S. 53-68.

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Rancières Überlegungen zum Anachronismus sind wesentlich durch Gedankenfiguren geprägt, die aus anderen Schriften gut vertraut sind. Die Ernennung des Anachronismus zur Todsünde der historischen Arbeit stellt für Rancière eine Variation der Hypothese der Ungleichheit dar, die er vor allem im Schlussteil der Leçon d’Althusser und dann in Le philosophe et ses pauvres scharf kritisiert hatte.74 Die Forderung, dass vergangene Worte und Taten nur in Referenz zu jeweils zeitgenössischen Kontexten zu interpretieren seien, unterstelle nämlich, dass historische Akteure den Vorgaben ihrer Zeit auf Gedeih und Verderb unterworfen seien. Dieses Ähnlichkeitsgebot sei das Kriterium für die Wissenschaftlichkeit der historischen Aussage: „[P]our que l’histoire soit science, c’est-à-dire pour que quelque chose de l’éternité lui advienne, il faut que son temps ressemble à l’éternité, autant qu’il est possible. Et comment un temps ressemble-t-il à l’éternité? En ce qu’il est un pur présent. Pour que le temps soit racheté, il faut qu’il soit un pur présent, un principe de co-présence des sujets historiques. Il faut que les sujets historiques ‚ressemblent‘ à leur temps, c’est-à-dire à leur principe de coprésence.“75

Dieser Wahrheitsanspruch sei aber erkauft um den Preis der Unterscheidung zwischen den historischen Akteuren als „être[s] fait du temps“ und den Historikern, die über die Zeit verfügten.76 Das Anachronismusverbot vollziehe so eine hierarchische „Aufteilung des Sinnlichen“, wenn man das Zeitempfinden hier als Teil der sinnlichen Welt begreift.77 Die Forderung nach anachronistischem Vorgehen erwächst bei Rancière nicht lediglich aus dem Widerstand gegen einen solchen Herrschaftsmoment im akademischen Wirken. Es erwächst auch aus der Annahme, dass der Historiker mit dem Anachronismusverbot einem Selbstwiderspruch erliege: „Le concept d’anachronisme est anti-historique parce qu’il occulte les conditions mêmes de toute historicité. Il y a de l’histoire pour autant que les hommes ne ‚ressemblent‘ pas à leur temps […].“78 Anachronismen sind also bei Rancière zunächst nicht lediglich ein Phänomen der Geschichtsschreibung; das Unzeitgemäße ist vielmehr ein Phänomen der Ge-

74 Jacques Rancière, La leçon d’Althusser. Paris: Gallimard, 1974; Jacques Rancière, Le philosophe et ses pauvres. Paris: Flammarion, 2007 [1983]. 75 J. Rancière, „Le concept d’anachronisme“, S. 60. 76 Ebd., S. 62. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 66.

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schichte selbst. Die erste Form von legitimen Anachronismen im Werk von Rancière ist also die Darstellung und Anerkennung tatsächlicher Vermischungen von „lignes de temporalité“ (Linien der Zeitlichkeit), die die Geschichte haben fortschreiten lassen. Diese Überlegungen rechtfertigen aber auch einen zweiten Typus legitimer Anachronismen: Eine Geschichtsschreibung, die sich in den Dienst solcher durch Brüche mit dem eigenen Kontext fortschrittlicher Geschichte stellt, die die Erzählung der Emanzipation79 also bewusst verteidigen will, muss selbst anachronistisch verfahren. Um diesen Gedanken zu erläutern, werde ich im Folgenden über den Anachronismus-Essay hinausgehen und Rancières breiteres Werk in den Blick nehmen. Rancières gesamtes politisches Denken lässt sich auf eine Grundfigur zurückführen, die bei ihm den griechischen Namen der aisthesis erhalten hat. Diese Grundfigur findet sich nicht nur auf der Inhaltsseite seines Denkens, sondern auch in seiner Denkmethode. Sie kennzeichnet eine Begegnungsform zwischen einem Subjekt und seiner Umwelt, in der die sinnlichen Formen der Wahrnehmung nicht von den sinnlichen Formen der Darstellung gesteuert werden.80 Eine solche Situation entsteht immer dann, wenn ein materielles „Ding“ in den sinnlichen Vermittlungsprozess zwischengeschaltet ist.81 Da es als materielles Phänomen anders ist als die sinnlichen Phänomene, führt es den Zufall ein. Die Unterscheidung von Sinnesphänomenen und Dingphänomenen ist den Phänomenen dabei nicht als solche inhärent, sondern liegt in unserer Fähigkeit beschlossen, Symbolphänomene in ihrer Materialität aufzunehmen. Rancière hat in seiner eigenen Schreibpraxis stets versucht, solche in seinem Sinne ästhetischen Prozesse zu vollziehen. Das bedeutet: Er hat versucht, den von ihm gemeinten Sinn auf eine Weise zu vermitteln, die zwar die Aufmerksamkeit der Leser zu erzwingen mag, aber ihren Intellekt nicht steuern kann. Diese Unterscheidung zwischen einem auf den Willen und den Intellekt eines Gegenübers ausgeübten Zwang hatte Ran-

79 Jean-Franҫois Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris: Éditions de Minuit, 1979, S. 54, gegen den sich Rancière richtet. 80 J. Rancière, Le partage du sensible, S. 31ff. 81 Rancière beruft sich dafür unter anderem auf einen Gedanken Joseph Jacotots: „Une chose matérielle, d’abord, est ‚le seul pont de communication entre deux esprits‘. Le pont est passage, mais aussi distance maintenue.“ (Jacques Rancière, Le maître ignorant. Cinq leçons sur l’émancipation intellectuelle. Paris : Fayard, 1987, S. 56)

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cière in seinem Buch Le maître ignorant als konstitutiv für Emanzipationsprozesse herausgestellt.82 Es ging darum, seine Vermittlung durch Symboldinge zu leiten, die den Leser zum eigenwilligen Verstehen zwingen. So antwortete Rancière, nach den „Maximen“ seines Schreibens gefragt: „La double maxime serait: premièrement, ‚l’état des choses n’est pas nécessaire‘, on peut remplacer la description en termes de nécessité par une description en termes de possibles; deuxièmement, cette description ne dit pas ce qu’il faut faire mais elle vous dit seulement: à partir de là, c’est à vous de savoir ce que vous voulez.“83

Es mussten dazu stets „dritte Dinge“ gefunden werden, die in den Prozess des Schreibens eingeflochten wurden. Rancière hat diese Methode selbst als „rapprochement sauvage“84 bezeichnet. So hätten ihn beispielsweise in der Ausarbeitung der Nuit des prolétaires unter anderem bestimmte Opernwerke beeinflusst, die mit den beschriebenen Diskursen der Arbeiterbewegung nicht mehr als in dem zufälligen Zusammenhang standen, in den sie ihre zeitgleiche Rezeption durch den Autor Rancière gestellt habe.85 Der zweite Typus legitimer Anachronismen in der Geschichts- und Ideengeschichtsschreibung sind für Rancière also solche, die das Produkt des Zufalls sind, und die das Zufallsprinzip in der Zukunft weiter einfordern. 3. „Effektive“ und „harmlose“ Anachronismen Vergleicht man nun Koselleck, Arendt und Rancière, so lässt sich zunächst eine Gemeinsamkeit feststellen: Ihre anachronistischen Schlüsse sind effektiv geworden, und die von ihnen vermittelten Bedeutungen gehören zu jenem Raum erst einmal sinnvoller Deutungsmuster, um deren Akzeptabilität dann gestritten werden kann. Arendts antike Anleihen oder Rancières Re-Inszenierung von Joseph Jacotot sind deshalb so umstritten, weil wir nicht umhinkönnen, ihnen eine gewisse Macht über unser Verstehen zuzugestehen, selbst wenn wir sie für politisch oder wissenschaftlich problematisch halten. Wie gelingt dies? Ich möchte abschließend eine Antwort

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Ebd., S. 26. Jacques Rancière, La méthode de l’égalité, S. 162. Ebd., S. 60. Ebd.

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auf diese Frage versuchen, indem ich Kosellecks, Arendts und Rancières Anachronismen miteinander vergleiche. Koselleck, Arendt und Rancière ziehen an unterschiedlichen Stellen ihrer Werke anachronistische Schlüsse, die sie auf je eigene Weise plausibilisieren. Der vergleichende Blick macht deutlich, dass diese Plausibilisierungen allerdings nicht aus sich selbst heraus schlüssig sein können. Vielmehr werden sie erst in ihren sehr unterschiedlichen ideologischen Impulsen verständlich.86 Politisch gewendet ruft Kosellecks geschichtstheoretische Plausibilisierung möglichst kontrollierter Anachronismen konservative Gedankenfiguren auf. Dabei ist der konservative Moment kein, wie von Kritikern vermutet, Antimodernismus.87 Eine konservative Präferenz zeigt sich vielmehr in dem Bestreben, durch die Explizierung der „Bedingungen möglicher Geschichte“ angesichts des erhöhten modernen Erfahrungswandels bedrohliche Formen des Wandels von sicheren Formen des Wandels zu unterscheiden, die diese Bedingungen auf Dauer stellen.88 Arendts Plausibilisierung anachronistischer Interpretationen drückt das Erfordernis aus, politiktheoretische Reflexion aus zeitgenössischen Erfahrungen hinaus zu entwickeln, das in ihnen enthaltende Neue aber durch die „Sinnspeicher“ vergangener politischer Narrative zu artikulieren und so auf ein Dauer verbürgendes Fundament zu stellen. Republikanische Denkfiguren stehen hier im Hintergrund. Rancières Anachronismen schließlich versuchen sich an einem methodischen Egalitarismus, der durch seine inhaltliche Priorisierung des Demokratieprinzips gerechtfertigt wird. Ideologische Denkgewohnheiten sind also das, was anachronistische Schlüsse zunächst plausibel macht. Allerdings sind sie ebenso gut auch das, was diese Plausibilität rasch zu einer recht vorhersehbaren Angelegenheit werden lässt. Wenn der Ertrag einer Re-Kontextualisierung etwa ist, dass Platon, Hobbes & Co. einen „fresh account“ der im eigenen Selbstverständnis bereits recht haltbaren liberaldemokratischen Prinzipien liefern, bleiben sie verhältnismäßig harmlos. Auch wenn solche Interpretationen als Fehler gegen die Chronologie wahrgenommen werden mögen,

86 Ich verwende den Begriff „Ideologie“ in einer nicht-pejorativen Bedeutung. Mein Verständnis ist geprägt von Michael Freeden, Ideologies and Political Theory: A Conceptual Approach. Oxford: Oxford University Press, 1996. 87 Vgl. N. Olsen, History in the Plural, S. 80-87. 88 Zum konservativen Motiv eines „safe change“ siehe M. Freeden, Ideologies and Political Theory, S. 332.

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provozieren sie eher Schulterzucken als Widerstand. Dass der Fall für Koselleck, Arendt und Rancière anders gelagert ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass keiner und keine in ihre ideologische Schublade passen will. Wie lässt sich also das Verhältnis der drei so unterschiedlichen Arten von Anachronismen zu den sie plausibilisierenden Ideologien bestimmen? Ideologien stellen politische Sprachen unter einen Abstraktionsdruck; dieser macht sie flexibel für unterschiedliche Erfahrungskontexte und ihre Veränderungen, befördert aber auch semantische Lücken in einer ideologischen Sprache. In den drei exemplarischen Analysen im vorherigen Teil dienen anachronistische Schlüsse nicht nur dazu, bestimmte Erfahrungen – der Politisierung, des Traditionsbruches, der Emanzipation – innerhalb politischer Ideologien artikulierbar zu machen. Koselleck, Arendt und Rancière antworten dabei zugleich auf die Frage, was eigentlich „Erfahrungen“ sind: Koselleck, indem er die Bedingungen möglicher Geschichten angibt; Arendt, indem sie den Zusammenhang von Sprachzeichen, sinnlicher Wahrnehmung und menschlichem Verstehen befragt; und Rancière, indem er das Zusammenspiel von Darstellungs- und Wahrnehmungsformen untersucht. Auf diese Weise setzen sie ideologische Sprachen einem doppelten Druck aus: dem Druck einer Rückbindung an eine als verändert wahrgenommenen Wirklichkeit auf der einen, und dem Druck des Konsistenzgebotes theoretischer Reflexion auf der anderen Seite. Was als potenzieller Erkenntnisfehler begann, erweist sich so als Medium der Rationalisierung. 4. Schlussbemerkungen Verschiedene Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler haben vorgeschlagen, dass sich der ihrer Disziplin eigene Umgang mit der Ideengeschichte von philosophischen oder historischen Interpretationsweisen durch eine bewusste Bearbeitung der Spannung von vergangenem Verstehen und gegenwärtigem Verstehen auszeichnet. Dabei wird meist mitgedacht, dass politische Ideengeschichte einen wie auch immer gearteten Möglichkeitssinn oder, problemlösender gesprochen, einen Innovationswert für die Jetztzeit mitbringen kann. Das ist sowohl in der Metapher des „Laboratoriums“ impliziert, in dem neue Ideen entstehen können, als auch in der Metapher des „Arsenals“, in dem politische Ideen offensichtlich keine abgewetzten Instrumente sein können, sondern eine scharfe Kante besitzen, mit der man im Heute etwas erkämpfen und verändern kann. 90

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Diese zu Recht eingeforderte Produktivität der politikwissenschaftlichen Interpretation ideengeschichtlicher Texte wird dann rasch als etwas verstanden, was entweder der experimentierenden Kreativität des Interpreten oder aber seinem Mut und seinem Willen entspringt. Die eigentliche Frage, ob der „Erkenntnisfehler“ einer bewussten Synchronisierung von Vergangenheit und Gegenwart nun ein „produktiver“ ist oder nicht, bemisst sich nicht an der divinatorischen Kreativität des Interpreten, und genauso wenig an einer methodischen Regelbeflissenheit in der Re-Kontextualisierung allein. Die Antwort auf diese der politischen oder politikwissenschaftlichen Ideengeschichte eigenen Verlegenheit liegt in der Frage beschieden, ob sie das Potential von politischen Ideologien ausschöpfen, nicht lediglich Abkürzungen des Denkens zu sein, sondern solche Abkürzungen, die auch die Pfade der Rationalisierung nicht ausschließen. So unmöglich es ist, Kosellecks, Arendts und Rancières Handhabung des Unzeitgemäßen gleichzeitig für zustimmungsfähig zu befinden, so ist es doch möglich, sie für gleichermaßen plausiblere Anachronismen als andere zu halten, indem sie alle einen ideologisch vermittelten Innovationswert besitzen. Eine hier ansetzende Geschichte der politischen Ideengeschichte könnte ein spannendes Narrativ hervorbringen, das selbst mehr als ein Fall fürs „Archiv“ ist.

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Geschichtsschreibung und Politikwissenschaft: ein problematisches Verhältnis Benjamin Pinhas

Nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte die „Ursachenforschung“1 des Nationalsozialismus nicht nur die Historikerzunft, sondern auch Politikwissenschaftler, Philosophen und Soziologen. Langsam setzte sich unter den westdeutschen Historikern die Einsicht durch, dass der traditionelle Historismus nicht länger den geistigen und methodischen Rahmen für die Erforschung der „deutschen Katastrophe“ bieten konnte. Deshalb wurde die Kooperation mit anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen als ein Mittel zur Erneuerung der deutschen Geschichtswissenschaft und zur Überwindung des Historismus aufgefasst. Im Vergleich zur deutschen historiografischen Tradition, wie sich diese seit der Entstehung des Historismus im frühen 19. Jahrhundert bis zu Meineckes Ideengeschichte entwickelt hatte, war die Politikwissenschaft in der frühen Bundesrepublik noch eine junge Disziplin, die eine erste Blütezeit in der Weimarer Republik erlebt hatte. Eine entscheidende Rolle hatte dabei die 1920 gegründete Deutsche Hochschule für Politik gespielt, deren Vorbildfunktion als Schule der Demokratie in neueren Forschungen allerdings relativiert worden ist.2 Schon in der Endphase der Weimarer Republik bemühten sich mehrere junge demokratisch gesinnte Intellektuelle, über die Fachgrenzen hinaus die Ursachen für die Ausschaltung der parlamentarischen Demokratie durch Brünings Präsidialkabinett an den Tag zu bringen. Sowohl die Meinecke-Schüler Hans Rosenberg und Eckart Kehr als auch der Jurist

1 Horst Möller, „Die Weimarer Republik in der zeitgeschichtlichen Perspektive der Bundesrepublik Deutschland während der fünfziger und frühen sechziger Jahre: Demokratische Tradition und NS-Ursachenforschung“, in: Ernst Schulin (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1965), München: Oldenbourg, 1989, S. 157-180. 2 Steven D. Korenblat, „A School for the Republic? Cosmopolitans and Their Enemies at the Deutsche Hochschule für Politik, 1920-1933“, in: Manfred Gangl (Hrsg.), Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2008 (= Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik, Bd. 11), S. 97-138.

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Ernst Fraenkel betrachteten in ihren in der theoretischen Zeitschrift der SPD Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik veröffentlichten Beiträgen die Behauptung des monarchischen Prinzips und das Fortbestehen der bürokratisch-obrigkeitsstaatlichen Tradition als den Kern der verfassungsrechtlich-politischen Sonderentwicklung Deutschlands.3 In bewusster Absetzung gegen die nationalkonservative Verherrlichung der konstitutionellen Monarchie der Bismarckzeit suchten sie, die vermeintliche Überparteilichkeit des Beamtenstaates ohne parlamentarische Kontrolle als eine gefährliche Illusion zu entlarven. Im Gegenzug wurde – insbesondere bei Ernst Fraenkel – der gesellschaftliche Pluralismus als unentbehrliche Voraussetzung für die moderne Demokratie aufgewertet. Die nationalsozialistische Machtübernahme zwang die drei verheißungsvollen Intellektuellen zur Flucht ins Exil: Schon im Sommer 1933 verließ Hans Rosenberg, der noch wenige Tage vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler seine Antrittsvorlesung an der Universität zu Köln gehalten hatte, Deutschland.4 Nach einem zweijährigen Aufenthalt in England ließ er sich 1935 in den USA nieder. Eckart Kehr verstarb im Frühjahr 1933 in den Vereinigten Staaten, wo er sich schon vor der NS-

3 Die große Mehrheit von Fraenkels Artikeln über die Verfassungskrise der Weimarer Republik erschien in der Zeitschrift Die Gesellschaft. Diese Studien liegen nun im ersten Band der von Hubertus Buchstein herausgegebenen gesammelten Schriften Fraenkels bei Nomos vor. Ernst Fraenkel, „Abschied von Weimar?“ [zuerst erschienen in: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, 9/1932, S. 109-124], in: Ernst Fraenkel, Recht und Politik in der Weimarer Republik, Gesammelte Schriften 1, Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 481-495; E. Fraenkel: „Um die Verfassung“, Die Gesellschaft, 9/1932, S. 297-312; Ebd., S. 496-509; E. Fraenkel: „Verfassungsreform und Sozialdemokratie“, Die Gesellschaft, 8/1932, S. 109-124; Ebd., S. 516-529. Die folgenden Artikel von Eckart Kehr wurden auch in der Zeitschrift Die Gesellschaft zwischen 1928 und 1932 veröffentlicht: „Zur Genesis der preußischen Bürokratie und des Rechtsstaats“, „Zur Genesis der Königlich Preußischen Reserveoffiziers“, „Das soziale System der Reaktion unter dem Ministerium Puttkamer“, „Klassenkämpfe und Rüstungspolitik im kaiserlichen Deutschland“, „Soziale und finanzielle Grundlagen der Tirpitzschen Flottenpropaganda“, „Deutsch-englisches Bündnisproblem der Jahrhundertwende“. Man beziehe sich auf das „Verzeichnis der ersten Druckorte“, in: Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Berlin: W. de Gruyter, 1965, S. VIII. 4 Ewald Grothe: „Hans Rosenberg und die Geschichte des deutschen Liberalismus. Seine unveröffentlichte Antrittsvorlesung vom Januar 1933“, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 62/2014, S. 109-138.

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Geschichtsschreibung und Politikwissenschaft

Machtübernahme als Stipendiat der Rockefeller Foundation aufhielt. Ernst Fraenkel verließ Deutschland im Jahr 1938 kurz vor der Reichskristallnacht. Die demokratisch gesinnten Meinecke-Schüler können aber nicht als repräsentativ für die politische Orientierung der gesamten Historikerzunft der Weimarer Zeit angesehen werden. Lange bevor das Ausmaß der „völkischen Ideologisierung“5 der deutschen Geschichtswissenschaft während der Weimarer Republik und der NS-Zeit neu bewertet wurde und ab den neunziger Jahren in den Mittelpunkt von heftigen Kontroversen rückte, waren sich die meisten Kommentatoren der deutschen Geschichtsschreibung darüber einig, dass die nationalkonservative Ausrichtung der Weimarer Historikerzunft die Voraussetzung für die breite Akzeptanz der NSDiktatur durch die deutschen Historiker gewesen war.6 Hans-Ulrich Wehler hat mehrmals auf die massive Emigration der deutschen Politik- und Sozialwissenschaftler hingewiesen, um den kritischen Charakter dieser Disziplinen hervorzuheben. Die Hervorhebung des aufklärerischen Charakters der Politik- und Sozialwissenschaften stand im Mittelpunkt von Wehlers Polemik gegen den Historismus: Diese systematische Gegenüberstellung diente dazu, die deutsche Geschichtswissenschaft von der Entstehung des Historismus bis ins 20. Jahrhundert hinein als eine unkritische „Legitimationswissenschaft“ anzuprangern, welche die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung als „historisch gewachsen“ rechtfertigte.7 Einer solchen Historismuskritik lagen aber folgende Voraussetzungen zugrunde: Erstens wurde der Späthistorismus der Weimarer Geschichtswissenschaft mit nationalkonservativer Apologetik gleichgesetzt;

5 Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993. 6 Horst Möller, „From Weimar to Bonn: The Arts and the Humanities in Exile and Return, 1933-1980“, in: Herbert A. Strauss / Werner Röder (Hrsg.), International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945, Volume II, Part 1: A – K. The Arts, Sciences and Literature, München: K. G. Saur, 1983, S. LX: „The majority of the best of German historians were not National-Socialists. However, their concepts of history coincided, in part, with those promoted by N.S. historians, and found common areas of agreement with them.“. 7 Hans-Ulrich Wehler, „Geschichte und Soziologie“, in: ders., Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973, S. 12; Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft, 1918-1945, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997.

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zweitens wurde die Sozialwissenschaft als eine fortschrittlich-aufklärerische Oppositionswissenschaft interpretiert.8 Das Verhältnis der westdeutschen Historiker der Nachkriegszeit zur Politik- und Sozialwissenschaft wurde von der Kritik am Individualitätsprinzip und am Wertrelativismus, die als die problematischsten Aspekte des Historismus betrachtet wurden, maßgeblich geprägt. Gerade weil die neue Generation der westdeutschen Historiker der Nachkriegszeit das historistische Individualitätsprinzip zu überwinden suchte, wandte sie sich zunächst den vergleichenden Methoden der Politikwissenschaft zu. Bevor die Kooperationsversuche zwischen geschichtswissenschaftlicher Forschung und Politikwissenschaft analysiert werden, soll zuerst das Verhältnis der westdeutschen Historiker zum Historismus in der Frühphase der Bundesrepublik kurz skizziert werden. In seiner bahnbrechenden Studie „Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945“ hat der Historiker Ernst Schulin die These verfochten, dass ein „politisch-moralisch gezähmte[r] Historismus“ die frühe bundesrepublikanische Geschichtsschreibung charakterisiert hat.9 Schulin bezeichnet damit die Gleichzeitigkeit von gegensätzlichen Tendenzen im geschichtstheoretischen Diskurs der westdeutschen Historiker: Diese hielten an den grundsätzlichen Erkenntnisprinzipien und Paradigmen des Historismus fest (Individualitätsprinzip, Primat der Außenpolitik, etc.). Zugleich trat aber eine explizite Distanzierung von den politischen Denkmustern der historistischen Tradition (in erster Linie von dem Machtstaatsdenken) ein, denen die Verantwortung für die geistesgeschichtliche Sonderentwicklung Deutschlands zugeschoben wurde. Ein Beispiel für die kritische Neubewertung des Historismus ist der Vortrag, den Gerhard Ritter im September 1949 anlässlich der Neugründung des Verbandes der Historiker Deutschlands hielt. Als erster Vorsitzender des

8 H.-U. Wehler, „Geschichte und Soziologie“, S. 13: „In Deutschland bildet später die Machtübernahme der Nationalsozialisten einen Prüfstein, der besser als viele wissenschaftsgeschichtlichen Studien zeigt, wie sich die Geister schieden: Nahezu alle Soziologen von Rang und Namen emigrierten, nahezu alle Historiker von Rang und Namen passten sich bereitwillig an, da sie mit einem Großteil der NS-Ideologie ohnehin keine Differenzen hatten, auf weiten Strecken herrschte vielmehr Kongruenz.“ 9 Ernst Schulin, „Zur Restauration und langsamen Weiterentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945“, in: E. Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, S. 139.

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neu gegründeten Verbandes distanziert sich Ritter in seiner Rede über die „gegenwärtige Lage und die Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft“ eindeutig von mehreren Grundprinzipien des Historismus.10 Mit seiner scharfen Kritik an der Ethisierung der Machtpolitik – und sogar des Krieges – durch die Rankesche Lehre von den „sittlichen Energien“11 tritt der konservative Historiker in die Fußstapfen des „Vernunftrepublikaners“ Friedrich Meinecke, der sich schon in seinem 1924 veröffentlichten Werk Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte besonders intensiv mit den ethischen Folgen der Hegelschen Identitätsphilosophie und des deutschen Historismus auseinandergesetzt hatte. Neben Gerhard Ritters Eröffnungsvortrag, in dem dieser die problematischsten Aspekte des Historismus kritisiert, können auch Ludwig Dehios Studien über die Geschichte des europäischen Staatensystems als beispielhaft für den „politisch-moralisch gezähmten Historismus“ der westdeutschen Geschichtswissenschaft der frühen Nachkriegszeit angeführt werden. Der Herausgeber der Historischen Zeitschrift knüpft in seinem 1948 erschienenen Buch Gleichgewicht oder Hegemonie, einem Interpretationsversuch der gesamten neueren europäischen Geschichte vom 16. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches, eindeutig an die Geschichtsauffassung Rankes an, wie dieser sie in seiner berühmten Abhandlung über die großen Mächte dargelegt hatte.12 Die Bemühung um eine politisch-moralische Zähmung des Historismus schlägt sich in Dehios zwiespältigem Verhältnis zur historistischen Weltanschauung nieder: Zwar bewegt sich seine Argumentation ohne jeden Zweifel auf dem Boden des Historismus, denn die Machtpolitik und die Expansionsbestrebungen der Staaten werden als die eigentlichen Triebkräfte des Geschichtsprozesses betrachtet; zugleich durchzieht die Kritik am Machtstaatsdenken Dehios Werk. Deshalb kritisiert er den kleindeutschen Machtstaat unter preußischer Führung von 1871, den er als das Ergebnis der Bismarck’schen Gewaltpolitik betrachtet. Eindeutig wendet sich Dehio von der traditionellen Verherrlichung der

10 Gerhard Ritter: „Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 20. Deutschen Historikertages in München am 12. September 1949“, Historische Zeitschrift, 170/1950, S. 1-22. 11 Ebd., S. 3. 12 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Krefeld: Scherpe-Verlag, 1948; Leopold von Ranke, Die großen Mächte. Politisches Gespräch. Mit einem Nachwort von Theodor Schieder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1955.

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Bismarck’schen Machtpolitik ab, die für ihn den Auftakt zu einem europaweiten Kulturverfall gebildet habe.13 Der neu konfigurierte Historismus der fünfziger Jahre signalisierte Kooperationsbereitschaft mit der Politikwissenschaft und schloss also keineswegs methodische Innovation aus. Mehrere westdeutsche Historiker, die in der Weimarer Republik als Vertreter einer konservativen Geschichtsauffassung aufgetreten waren oder die sich durch ihre nationalistischen Stellungnahmen ausgezeichnet hatten, erkannten nun die Unzulänglichkeiten des historistischen Individualitätsprinzips und sprachen sich für eine engere Zusammenarbeit zwischen der Geschichtswissenschaft und der „Wissenschaft von der Politik“ aus. Nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil und seiner Berufung als Professor für neuere Geschichte an der Universität Tübingen wurde Hans Rothfels ab 1953 für die Publikation der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte zuständig, die er gemeinsam mit dem ebenso an der Universität Tübingen tätigen Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg jahrelang herausgab. Die Gründung dieser Zeitschrift zeigt, dass sich unter Historikern ein breiter Konsens abzeichnete, um die Zeitgeschichte als eine fachübergreifende Disziplin zu verstehen, bei der methodische Innovation betrieben werden könnte. Die wachsende Öffnung der westdeutschen Geschichtswissenschaft gegenüber politikwissenschaftlichen Methoden und Fragestellungen kann nicht nur durch die Gründung der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte illustriert werden. Auch neu gegründete akademische Institutionen förderten die interdisziplinäre Erforschung der neuesten deutschen Geschichte und des Nationalsozialismus. Das Institut für Politische Wissenschaft und die 1959 in Otto-Suhr-Institut umbenannte Deutsche Hochschule für Politik an der Freien Universität Berlin haben zur Institutionalisierung dieser disziplinären Kooperation entscheidend beigetragen. In diesem Kontext ist die Rolle des in Berlin tätigen Politikwissenschaftlers Ernst Fraenkel wieder hervorzuheben. Der Politikwissenschaftler, der ab 1953 den Lehrstuhl für Theorie und vergleichende Geschichte der Herrschaftssysteme an der Freien Universität Berlin innehatte, übte einen erheblichen Einfluss auf mindestens zwei der wichtigsten Vertreter der westdeutschen Zeit- und Sozialgeschichte aus, nämlich Karl Dietrich Bracher und Gerhard Albert Ritter. Der sozialdemokratische Jurist entwickelte sich im amerikanischen Exil zum Spezialisten des amerikanischen Regierungs- und Verfassungs-

13 L. Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, S. 193.

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systems, das er als Stipendiat des American Committee for the Guidance of Professional Personnel an der Universität Chicago studierte.14 Der thematischen Akzentverschiebung kam eine grundsätzliche ideologische Neuorientierung hinzu: Fraenkel wandte sich von den marxistischen Erklärungsmustern ab, an die er noch in den dreißiger Jahren anknüpfte. In Anlehnung an die marxistischen Faschismustheorien betrachtete er damals den Nationalsozialismus als den radikalen Ausdruck einer staatsmonopolkapitalistischen Logik.15 Auch die politische Funktion des Pluralismusbegriffs veränderte sich: In der Weimarer Republik bemühte er sich, den Handlungsspielraum der Gewerkschaften und die Errungenschaften des kollektiven Arbeitsrechts gegen die autoritäre Gesellschaftsauffassung des Faschismus und dessen Anspruch auf Überwindung der Klassengegensätze durch „Verstaatlichung der Gewerkschaften“ zu verteidigen.16 Die pluralistische Theorie der Demokratie, die Fraenkel in der Nachkriegszeit verfocht, war in erster Linie gegen die marxistischen Volksdemokratien gerichtet. Trotz dieser Akzentverschiebung liegt aber seiner Auffassung von der Demokratie dieselbe Voraussetzung zugrunde: Der demokratische Charakter einer Gesellschaft liegt gerade darin, dass der Allgemeinwille nicht a priori vorgegeben wird, sondern dass er als ein Kompromiss zwischen konkurrierenden gesellschaftlichen Interessen verhandelt wird. Zur Unterstützung seiner antitotalitären Theorie der pluralistischen Demokratie entwickelte Fraenkel eine geschichtsorientierte Argumentation, deren Einfluss auf die jüngere Historikergeneration hier untersucht werden soll. In seinen wegweisenden und viel zitierten Artikeln über die „Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus“ und „Die repräsentative und die ple-

14 Simone Ladwig-Winters, „Ernst Fraenkel als Stipendiat des American Committee in Chicago“, in: Hubertus Buchstein / Gerhard Göhler (Hrsg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden: Nomos, 2000, S. 43-61. 15 Ernst Fraenkel, „Anstatt einer Vorrede“, in: E. Fraenkel, Reformismus und Pluralismus. Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Autobiographie, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1973, S. 25f.: „Wie aus den Materialien dieses Buches ersichtlich ist, war meine Einstellung zum Marxismus in den vergangenen fünf Jahrzehnten nicht einheitlich – sie reflektiert meine gesamtpolitische Entwicklung. […] In den fünf Jahren, die ich im nationalsozialistischen Deutschland verbrachte, habe ich nicht stets der Versuchung widerstanden, mich unkritisch einer monoman anti-monopolkapitalistischen Theorie des Anti-Faschismus zu verschreiben.“ 16 E. Fraenkel, „Die Carta del Lavoro“, in: ders., Recht und Politik in der Weimarer Republik, S. 239.

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biszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“17 arbeitet der Politikwissenschaftler an einem ideengeschichtlichen Interpretationsversuch der verfassungspolitischen Sonderentwicklung Deutschlands vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Auflösung der Weimarer Republik. In geistesgeschichtlicher Perspektive legt er den Nachdruck auf die Rezeption politischer Ideen und auf die ideologischen Ursprünge politischer Traditionen.18 Für Fraenkel besteht das Hauptproblem darin, dass das britische Verfassungssystem idealisiert, aber im Grunde verkannt wurde. Gerade die Verkennung der politischen Funktion der parlamentarischen Repräsentation in England habe die Einführung eines funktionsfähigen Repräsentativsystems in die deutschsprachige Staatenwelt des 19. Jahrhunderts erheblich erschwert und habe noch nach dem Ersten Weltkrieg eine schwerwiegende Vorbelastung für die Weimarer Republik dargestellt. Fraenkels Interpretation der ideologischen Ursprünge des Nationalsozialismus stimmt mit dem antitotalitären Diskurs der fünfziger Jahre überein: Genauso wie die meisten westdeutschen Historiker der frühen Nachkriegszeit (sei es Gerhard Ritter, Hans Rothfels oder Theodor Schieder) wird die Französische Revolution für mitschuldig an der Entstehung einer antipluralistischen Auffassung der Demokratie erklärt, an die die modernen totalitären Regimes angeknüpft hätten.19 Rousseau habe die theoretische Grundlegung für eine solche Auffassung der Demokratie gesetzt. Deshalb verwirft

17 E. Fraenkel, „Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus“, „Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“, in: ders., Demokratie und Pluralismus. Gesammelte Schriften 5, Baden-Baden: Nomos, 2007, S. 53-73, S. 165-207. 18 Alfons Söllner, „Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik“, in: A. Söllner, Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden: Nomos, 2006, S. 208: „Sehr viel wichtiger aber als die institutionellen Strukturen des politischen Systems wird für Fraenkel regelmäßig das, was er mit wechselnden Begriffen als dessen ‚psychologische Grundlagen‘, als ‚politische Traditionen‘, als die ‚das gesamte Gemeinschaftsleben durchziehende Grundhaltung‘, mit einem Wort: als den ‚Geist‘ des politisch-kulturellen Lebens bezeichnet.“ 19 E. Fraenkel, „Deutschland und die westlichen Demokratien“, in: ders., Demokratie und Pluralismus, S. 84: „Unter Verzicht auf ständestaatliche Dekorationen strebte das nationalsozialistische Deutschland danach, durch Gleichschaltung und Ausschaltung aller Zwischeninstanzen und durch das Verbot der Bildung autonomer Gruppen in einer heteronomen Gesellschaft einen homogenen Gesamtwillen zu begründen. Es steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit in der These, die Nationalsozialisten seien die Jakobiner des 20. Jahrhunderts gewesen.“

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der Berliner Politikwissenschaftler die politische Theorie Rousseaus, der er Burkes Begriff von der „virtuellen Repräsentation“ vorzieht. Fraenkel definiert das Parlament als den Ort des Ausgleichs zwischen widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen. Aus diesem Grund erhebt er Burke zum wegweisenden Theoretiker des politischen Pluralismus: Der englische Polemiker habe als erster die These vertreten, dass der Abgeordnete einer repräsentativen Versammlung sich nicht zum Vertreter eines a priori vorgegebenen Gesamtwillens aufwerfen soll. Im Gegenteil soll sich der Abgeordnete dessen bewusst sein, dass er soziale und ökonomische Sonderinteressen verteidigt. Für Fraenkel besteht der wichtigste Vorteil von Burkes Theorie der parlamentarischen Repräsentation darin, dass sie die politische Autonomie und den Handlungsspielraum des Abgeordneten sicherstellt, während die Auffassung von der Demokratie, die sich auf Rousseaus Lehre vom Gesellschaftsvertrag bezieht, notwendig zur Beschränkung der parlamentarischen Handlungsfreiheit durch das imperative Mandat führen solle.20 Fraenkels Theorie der pluralistischen Demokratie stützt sich also auf die geschichtsorientierte Analyse politischer Traditionen. Diese methodische Orientierung schlägt sich auch in der Lehrtätigkeit des Berliner Professors nieder. 1951 nahm er eine Lehrtätigkeit an der seit 1949 wieder eröffneten Deutschen Hochschule für Politik auf, wo er Lehrveranstaltungen über die jüngste Geschichte des „Fern-Ost-Problems“21 und über den Koreakonflikt in völkerrechtlicher Sicht gab. Fraenkel hatte sich nämlich von 1946 bis zu seiner Niederlassung in Westberlin als „juristischer Berater der US-amerikanischen Besatzungsbehörden und der Marshall-Plan-Kommission in Südkorea“22 betätigt. Beinahe gleichzeitig las Fraenkel als „Lehrbeauftragter für Geschichte“ vor allem über die Geschichte des amerikanischen Verfassungssystems und des britischen Parlamentarismus vor. Im Frühjahr 1953 wurde Fraenkel zum Professor für Wissenschaft von der Politik, insbesondere für Theorie und vergleichende Geschichte der politischen Herrschaftssysteme berufen. Die große Mehrheit von Fraenkels

20 E. Fraenkel, „Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“, S. 170f. 21 Ernst Fraenkel, „Geschichte des Fern-Ost-Problems seit 1895“, in: Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Freien Universität Berlin, Wintersemester 1951/52. 22 Michael Heinatz, „Ernst Fraenkel“, in: Jessica Hoffmann / Helena Seidel / Nils Baratella (Hrsg.), Geschichte der Freien Universität Berlin. Ereignisse - Orte - Personen, Berlin: Frank & Timme, 2008, S. 183.

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Lehrveranstaltungen war der vergleichenden Analyse der amerikanischen und britischen Verfassungs- und Regierungssysteme gewidmet. Übrigens hat er in mehreren Denkschriften die „historische Fundierung des Studiums der Wissenschaft von der Politik“ für „schlechthin entscheidend“ erklärt.23 Daraus lässt sich erklären, dass Fraenkel einen bedeutenden Einfluss auf die Historikergeneration, die in den fünfziger Jahren an der Freien Universität studierte, ausgeübt hat. Eines der ersten Werke, in dem sein intellektueller Einfluss festgestellt werden konnte, war Karl Dietrich Brachers wegweisende Studie über Die Auflösung der Weimarer Republik, die 1955 in der Reihe der „Schriften des Instituts für Politische Wissenschaft“ der Freien Universität erschien. Wenige Monate vor der Veröffentlichung hatte Fraenkel ein Gutachten über Brachers Habilitationsschrift verfasst. Bracher hatte im Jahr 1951 sein Habilitationsprojekt über die Weimarer Republik noch kurz vor Fraenkels Niederlassung in Westberlin unternommen. Obwohl der Professor für neuere Geschichte Hans Herzfeld der offizielle wissenschaftliche Betreuer Brachers war, hat der Zeithistoriker Fraenkels wichtige Rolle mehrmals hervorgehoben, der „Teile der Niederschrift“ las und „dankenswerte Kritik und Anregung“ vermittelte.24 Bracher knüpft an Fraenkels Theorie der pluralistischen Demokratie an und verteidigt die Idee, dass das demokratische System ohne Pluralismus nicht fortbestehen kann.25 Die bürokratisch-überparteilichen oder die präsidialplebiszitären Alternativen zur pluralistischen Demokratie und zum parla-

23 Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv, Nachlass Fraenkel 353: Memorandum vom 23. Januar 1954: „Im Verlauf der vergangenen Jahre habe ich unablässig zum Ausdruck gebracht, daß ich die historische Fundierung des Studiums der Wissenschaft von der Politik für schlechthin entscheidend, die bisher an der DHfP [Deutsche Hochschule für Politik] angewandten Methoden des Geschichtsunterrichts für radikal verfehlt angesehen habe. Es ist meine feste Überzeugung, daß der Erfolg der DHfP davon abhängt, daß mit den seither verwandten Methoden der historischen Wissensübertragung unnachsichtig aufgeräumt wird und damit begonnen wird, ein geschichtliches Studium an der DHfP einzuführen.“ 24 Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. 2. verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart: Ring-Verlag, 1957, S. XXIII; Karl Dietrich Bracher, „Zwischen Zeitgeschichte und Politikwissenschaft. Erinnerung an Ernst Fraenkel“, in: H. Buchstein / G. Göhler (Hrsg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus, S. 115-123. 25 K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 22: „Doch bleibt festzustellen, daß jede freie, dem Staatsabsolutismus feindliche Demokratie pluralistischen Charakter besitzt – eben indem sie den individuellen und gruppenmäßigen Interessenkräften freie Entfaltungsmöglichkeiten gewährt. Ihre wichtige Aufgabe

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mentarischen System stellen mindestens einen Rückfall in den vordemokratischen Obrigkeitsstaat dar oder sie öffnen sogar den Weg in die Diktatur, was Bracher am Beispiel der Endphase der Weimarer Republik darlegt. In seinem im November 1954 verfassten Gutachten stimmt Fraenkel der Hauptthese Brachers ohne Vorbehalt zu: Für den Politikwissenschaftler wie für den Zeithistoriker konnten weder die Einrichtung der Präsidialkabinette noch die Ausschaltung des Parlamentarismus die Staatsmacht stärken und den Aufstieg der totalitären Parteien eindämmen; ganz im Gegenteil spitzten sich die Krise der politischen Führung sowie der demokratischen Regierungsparteien und das Problem des Machtverfalls dramatisch zu. Der Weimarer Staat geriet unter die Kontrolle eines verselbständigten bürokratischen Apparats und wurde zugleich dem wachsenden Druck von konkurrierenden Interessengruppen ausgesetzt. Aus diesen Gründen würdigt Fraenkel in „seiner gutachtlichen Äußerung“ die Habilitationsschrift des Zeithistorikers als eine der bahnbrechendsten Produktionen der neueren deutschen Politikwissenschaft.26

ist dann allerdings, die auseinanderstrebenden Kräfte durch den Schutz der demokratischen Spielregeln und Integrationsprinzipien, die auch im Kampf um die Macht und um die Durchsetzung der eigenen politischen Konzeptionen von allen anerkannt werden müssen, von neuem aufeinander hinzuweisen: die Existenz des Staates wird damit nicht auf einer unversöhnlichen Freund-Feind-Spannung, sondern auf einem konstruktiven Kompromiß der gesellschaftlichen Interessen begründet.“ 26 Bundesarchiv Koblenz Nachlass 1274/79: Gutachtliche Äußerung zu Carl Dietrich Brachers ‚Der Verfall der Weimarer Republik‘, 8. November 1954: „Das Zentralproblem der Arbeit Dr. Brachers ist der Prozeß des Machtverlusts und des anschließenden Machtvakuums in der Ära Brüning-Papen-Schleicher. Bereits diese originelle Fragestellung legt Zeugnis von dem Bestreben des Verfassers ab, die letzte Phase der Weimarer Republik in Kategorien zu deuten, die das besondere Anliegen der Wissenschaft von der Politik sind. Um dieser Aufgabe Herr zu werden, unternimmt es der Verfasser, die mit größter Sorgfalt untersuchten Einzelvorgänge von dem theoretischen Gesichtspunkt aus zu beleuchten, inwieweit das Spannungsverhältnis zwischen staatlichen Machtträgern, Parteien, Interessenverbänden, emotional bestimmten Massenbewegungen und Kliquen dazu beigetragen hat, daß das staatliche und gesellschaftliche Gefüge Deutschlands einer Selbstauflösung entgegengegangen ist. Für die Wissenschaft von der Politik dürften die detaillierten Untersuchungen über die Überwucherungen des politischen durch das bürokratisch-ökonomische Denken und Handeln Brünings von bleibendem Werte sein. […] Wenn man davon ausgeht, daß das Phänomen der Macht das Zentralproblem der Wissenschaft von der Politik ist, erscheint es angebracht, die vorliegende Arbeit wegen ihres tiefen Verständnisses der Ursachen und Erscheinungsformen

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Auch Gerhard A. Ritter wurde zugleich als Politikwissenschaftler und Zeithistoriker an der Freien Universität Berlin tätig. Ritter promovierte unter Herzfelds wissenschaftlicher Leitung über die Arbeiterbewegung der wilhelminischen Ära; ein weiterer Forschungsschwerpunkt war aber die Geschichte des britischen Verfassungssystems.27 Bereits in den fünfziger Jahren veranstaltete Fraenkel zusammen mit Ritter, der damals der Assistent Hans Herzfelds am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität war, gemeinsame Seminare über die Geschichte der amerikanischen und britischen Regierungssysteme. 1962 wurde Ritter mit Fraenkels entschlossener Unterstützung zum Professor für Wissenschaft von der Politik mit besonderer Berücksichtigung der „geschichtlichen Grundlagen der Politik“ am Otto-Suhr-Institut berufen. Die beiden Professoren haben nicht nur ihre methodische Orientierung, nämlich die vergleichende Verfassungsgeschichte, gemeinsam; ihre Arbeiten beruhen auf denselben ideologischen Grundsätzen. Ohne Zweifel kann Ritter als der Historiker der Nachkriegsjahre angesehen werden, der Fraenkels Pluralismustheorie am konsequentesten verfochten hat. In den politikwissenschaftlichen Arbeiten der beiden Professoren nimmt die Verteidigung der pluralistischen Demokratie meistens einen polemischen Charakter an: In den fünfziger Jahren prangerte Fraenkel den antipluralistischen Kern der modernen totalitären Regime an; ungefähr fünfzehn Jahre später berufen sich sowohl Fraenkel wie Ritter, der nun einen Lehrstuhl für neuere Geschichte an der Universität Münster innehatte, auf den Pluralismusbegriff, um die politischen Ideen der neomarxistischen Linken scharf zu kritisieren.28 Zweifellos betrachtete der Berliner Politikwissenschaftler, der in den sechziger Jahren die Leitung des John-F.-Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien an der Freien Universität übernahm, den vielseitigen Zeithistoriker als denjenigen, der seinem theoretischen und methodischen Ansatz eine nachhaltige Resonanz im bundesdeutschen akademischen Feld zu verschaffen vermochte. Kurz vor seiner Emeritierung bemühte sich Fraenkel, den damals des Prozesses einer Machtschrumpfung und eines Machtschwundes als eine der wichtigsten Publikationen der neueren deutschen Politologie anzusprechen.“ 27 Gerhard A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890-1900. Berlin: Colloquium Verlag, 1959. 28 Gerhard A. Ritter, „Der Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechtsund Linksradikalen“, in: G. A. Ritter, Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus. Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976, S. 259-291.

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in Münster tätigen Zeithistoriker dazu zu bewegen, den Lehrstuhl für Theorie und vergleichende Geschichte der Herrschaftssysteme am OttoSuhr-Institut anzunehmen. Im Kontext der von Fraenkel als gefährlich und bedrohend wahrgenommenen studentischen Protestbewegung hatte er vor, „diese[n] so bedeutungsvolle[n] Lehrstuhl“ einem liberaldemokratischen Verteidiger der pluralistischen Theorie und Kritiker des Neomarxismus anzubieten.29 Allerdings lehnte Ritter das Angebot ab. Die Antrittsvorlesung, die Ritter anlässlich seiner Berufung als Professor für Wissenschaft von der Politik am Otto-Suhr-Institut vortrug, erforschte in vergleichender Perspektive die Entwicklung des britischen Parlamentarismus nach dem Ersten Weltkrieg und das Verfassungssystem der Weimarer Republik.30 Genauso wie Fraenkel verficht er die These, dass die historischen Gründe für die „Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus“ in der Verkennung der wirklichen Verfassungsmechanismen des politischen Systems Englands lägen. Im Gegensatz zum britischen Parlamentarismus, der sich nach dem Ersten Weltkrieg als ein anpassungsfähiges System bewähren konnte, wurde das Weimarer Verfassungssystem von Strukturdefekten belastet, die nicht überwunden werden konnten. Ritter untersucht aber nicht nur institutionelle Faktoren, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen Sozialstruktur, Verfassungssystem und Parteienlandschaft. Ritter schreibt dem britischen Parteiensystem eine viel größere Anpassungs- und Integrationsfähigkeit als dem deutschen zu: Die Labour löste die liberale Partei als fortschrittliche Massenpartei ab und die konservative Partei vermochte die rechtsradikalen Strömungen (den extremen Imperialismus und Nationalismus) in das bestehende politische System einzubinden. Die Umwandlung der alten elitären politischen Gruppierungen in demokratische Volksparteien ging aber seit Ende des 19. Jahrhunderts mit der tiefgreifenden Umstrukturierung des Parlaments einher. Die Fraktionsdisziplin wurde zum Organisationsprinzip der parlamentarischen Arbeit; auch die Exekutive und die Befugnisse des Premierministers wurden erheblich verstärkt. Die Entstehung von modernen Massenparteien und die Verstärkung der Exekutive haben zur Stabilisierung des politischen Systems entscheidend beigetragen. Gerade wegen der Disziplinierung der parlamentarischen Arbeit konnte sich das Parlament als das effi-

29 Freie Universität Berlin, Nachlass Fraenkel NL270: Brief von Ernst Fraenkel an Gerhard A. Ritter vom 2. Januar 1968. 30 Gerhard A. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich. Tübingen: J. C. B. Mohr, 1962.

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zienteste Mittel zur Auslese der politischen Führung, zur Integration der Massen und zur Legitimation der Exekutive durchsetzen. Ritter knüpft an Max Webers Auffassung des Parlamentarismus an, indem er die Auslese der politischen Führer als „die vielleicht wesentlichste Aufgabe des Parlaments“ definiert.31 Für Fraenkel genauso wie für Ritter kann ein parlamentarisches System erst als funktionsfähig angesehen werden, wenn es die Aufgabe der Auslese der politischen Führung effizient erfüllt. Dem funktions- und integrationsfähigen britischen Parlamentarismus stellt Ritter das krisengeschüttelte Weimarer System gegenüber: Wiederum stimmt Ritter mit dem Theoretiker des Neopluralismus darin überein, dass die wirkliche Funktion der parlamentarischen Repräsentation von den Gründungsvätern der Weimarer Republik missverstanden worden ist. Das Parlament sollte die moderne Gesellschaft in ihrer sozialen, wirtschaftlichen und regionalen Vielfalt vertreten. Gerade die Hervorhebung der repräsentativen Aufgabe des Parlaments hätte zur Vernachlässigung anderer wesentlicher institutioneller Funktionen geführt.32 Die tiefen sozialen, politischen, ideologischen, konfessionellen und regionalen Spaltungen spiegelten sich in der Zersplitterung der Weimarer Parteienlandschaft wider. Die Integrationsfähigkeit der Parteien war also von vorneherein schwach, denn die von ihnen vertretenen Interessen waren voneinander abgekapselt. Die Schwäche des Parteiensystems wirkte sich auf das gesamte politische System aus: Im Gegensatz zum britischen Premierminister, der dank der Fraktionsdisziplin meistens mit einer geschlossenen parlamentarischen Mehrheit rechnen konnte, stützten sich die Reichsregierungen auf labile Parteienkoalitionen. Die politischen Parteien trugen nicht aktiv zur Gestaltung des Regierungsprogramms bei und distanzierten sich sogar von dem Kabinett, das sie formell unterstützten. Es fehlten die notwendigen Bedingungen für einen funktionsfähigen Parlamentarismus in der Weimarer Republik: Während in Großbritannien die enge Beziehung zwischen dem Premierminister und der Mehrheitspartei, der er entstammte, die ministerielle Stabilität und eine effiziente Führerauslese gewährleistete, kennzeichnete sich der Weimarer Parlamentarismus durch die politische Isolierung des Reichskanzlers. In der Distanz der politischen Parteien gegenüber der Exekutive sieht Ritter nicht nur das Fortbestehen von politischen Gewohnheiten, die bis in

31 Ebd., S. 30f.: „Die vielleicht wesentlichste Aufgabe des Parlaments ist die Auslese der politischen Führer. Die Bewährung als Parlamentarier ist in Großbritannien entscheidend für den politischen Aufstieg.“ 32 Ebd., S. 34f.

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das Zeitalter der konstitutionellen Monarchie zurückreichen, sondern auch das Zeichen dafür, dass die politischen Parteien die Selbstbehauptung eines machtvollen Regierungschefs nach dem englischen Vorbild unbedingt verhindern wollten.33 Deswegen betrachtet er das mangelnde Verantwortungsbewusstsein der politischen Regierungsparteien als eine der schwerwiegendsten Vorbelastungen der Weimarer Demokratie. Sowohl Fraenkel wie auch Ritter sind sich darüber einig, dass wesentliche Strukturdefekte die Entstehung eines integrationsfähigen Parteiensystems und eines effizienten Parlaments während der Weimarer Republik verhindert haben. Für beide Politikwissenschaftler lag eines der grundsätzlichen Probleme darin, dass die deutschen Parteien sich an politischen Modellen orientierten, die den Herausforderungen der modernen Gesellschaft nicht gewachsen waren. Als Interessenparteien waren sie auf die Vertretung enger sozialmoralischer Milieus (wie es auch der Soziologe M. Rainer Lepsius formuliert hat)34 beschränkt; als Weltanschauungsparteien waren sie der Gefahr der ideologischen Versteifung und der Kompromisslosigkeit ausgesetzt. Genauso wie Fraenkel und Bracher behauptet Ritter, dass die Einrichtung der Präsidialkabinette die Regimekrise erheblich verschärft hat. Die Schlussbemerkungen der Antrittsvorlesung erinnern sehr stark an die Argumente, die Fraenkel schon in den frühen dreißiger Jahren gegen Carl Schmitts Verteidigung des Präsidialregimes und des plebiszitär legitimierten Reichspräsidenten als „Hüter der Verfassung“ vorgebracht hatte. Die Vorstellung, dass eine sich auf die plebiszitäre Legitimität des Reichspräsidenten stützende Regierung eine überparteiliche Politik führen könnte, verwirft er als illusionär und unzeitgemäß. Fraenkels Theorie der pluralistischen Demokratie konnte die Zeithistoriker beeinflussen, solange der Antitotalitarismus als konsensbildende Ideologie in der politischen und akademischen Kultur der Bundesrepublik fungierte. Für die Verfechter der Pluralismustheorie war jede Auffassung von Demokratie, die auf dem Postulat der „Identität von Regierenden und Regierten“ beruhte, mit „totalitärer Demokratie“ (so die viel benutzte Formulierung von Jacob Talmon) gleichzusetzen. Deshalb wurde Carl Schmitts Kritik am liberalen Parlamentarismus in die Nähe von Rousseaus

33 Ebd., S. 48. 34 M. Rainer Lepsius, „Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft“, in: R. M. Lepsius, Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993, S. 25-50.

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politischer Theorie gerückt.35 Der „totalitären Demokratie“ wurde der britische Parlamentarismus als „Ort der Interessenvertretung und des Interessenausgleichs“36 gegenübergestellt und Edmund Burke wurde zum wichtigsten Gegenspieler Rousseaus erhoben. Durch die Vermittlung von Gerhard A. Ritter gewannen diese Vorstellungen eine breite Resonanz unter den westdeutschen Historikern. Unter Ritters wissenschaftlicher Leitung promovierten mehrere Historiker, die ab Ende der sechziger Jahre zur Erneuerung der westdeutschen Sozialgeschichte und zur Behauptung einer „kritischen“ Geschichtsschreibung wesentlich beisteuerten. Das Problem der Organisation und Vertretung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen stand im Mittelpunkt von Fraenkels Politikwissenschaft. Mit diesem Thema setzten sich auch mehrere Historiker auseinander, die unter Ritters wissenschaftlicher Leitung arbeiteten. Sie suchten auf folgende leitende Fragen zu antworten: Wie konnten wirtschaftliche Interessengruppen den politischen Entscheidungsprozess im nichtparlamentarischen System der konstitutionellen Monarchie beeinflussen? Welche Rolle kam in dieser institutionellen Konfiguration den politischen Parteien zu? Zu den Historikern, die bei Ritter promovierten und die sich mit diesen Fragestellungen befassten, zählten Hartmut Kaelble, der in seiner Promotionsarbeit die Organisation und den politischen Einfluss des Centralverbands Deutscher Industrieller analysierte, und auch Hans-Jürgen Puhle, der die Entstehung des Bundes der Landwirte untersuchte und die „agrarische Interessenpolitik“ als Bestandteil der politischen Strategie der Deutschkonservativen Partei hervorhob.37 In den ausgehenden sechziger Jahren wechselten aber die jüngeren westdeutschen Historiker ihre theoretischen Referenzen: Anstelle der Theorie des Neopluralismus trat Habermas’ Auffassung von der

35 G. A. Ritter, „Der Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechts- und Linksradikalen“, S. 279: „Rousseaus Auffassung von Demokratie beruht, wie der in seiner Kritik am modernen Parlamentarismus unmittelbar an ihn anknüpfende rechte Kritiker der Weimarer Verfassung und spätere Staatsrechtslehrer des Nationalsozialismus Carl Schmitt betont hat, auf der ‚Identität von Regierenden und Regierten‘.“ 36 Ebd., S. 287. 37 Hartmut Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft. Centralverband Deutscher Industrieller 1895-1914. Berlin: W. de Gruyter, 1967; Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich 1893-1914. Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der DeutschKonservativen Partei. Hannover: Verlag für Literatur und Zeitgeschichte, 1967.

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bürgerlichen Öffentlichkeit in den Vordergrund.38 Die Historiker interpretierten nun die Bismarckzeit und die wilhelminische Ära als das Zeitalter, während dessen die räsonierende bürgerliche Öffentlichkeit durch akklamatorische Manipulationstechniken abgelöst wurde. Parallel zu dieser tiefgreifenden Umwandlung entstand im Kontext der 1873 ausgebrochenen wirtschaftlichen Depression der moderne Interventionsstaat, der sein Wirkungsfeld beträchtlich erweiterte. Der Rückgriff auf Habermas’ Konzepte und Interpretationen (nicht nur seine bahnbrechende Studie über die bürgerliche Öffentlichkeit, sondern auch seine Typologie der Krisen in Legitimationskrisen im Spätkapitalismus wurden von den Historikern rezipiert) trat im Kontext der politischen Polarisierung der historiografischen Debatte ein. Die jüngere Historikergeneration knüpfte an Habermas’ Kategorien an, um die kritische These von der Kontinuität der deutschen Geschichte von Bismarcks manipuliertem Sozialimperialismus bis zur nationalsozialistischen Verknüpfung von innenpolitischem Terror und nationaler Prestigepolitik zu verteidigen. Schon in seinem Beitrag zu der ersten, im Jahr 1963 erschienenen Festschrift für Ernst Fraenkel behauptete Karl Dietrich Bracher, dass der „Sozialimperialismus“ als der wichtigste Faktor der Kontinuität deutscher Politik vom Kaiserreich bis ins Dritte Reich betrachtet werden soll.39 In den siebziger Jahren rückte das Problem des Verfalls der räsonierenden Öffentlichkeit und deren Ablösung durch Manipulationstechniken in den Vordergrund der historiografischen Debatte in der Bundesrepublik. Seit seiner Habilitationsarbeit über Bismarcks Imperialismus in den ausgehenden sechziger Jahren war Hans-Ulrich Wehler zum entschlossensten Verfechter der These geworden, dass der Sozialimperia-

38 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied: Luchterhand, 1962. 39 Karl Dietrich Bracher, „Kritische Betrachtungen über den Primat der Außenpolitik“, in: Gerhard A. Ritter / Gilbert Ziebura (Hrsg.), Faktoren der politischen Entscheidung. Festgabe für Ernst Fraenkel zum 65. Geburtstag, Berlin: W. de Gruyter, 1963, S. 136f.: „Man hat es hier in der Tat mit einem zentralen Element der expansionistischen Herrschaftspolitik des Nationalsozialismus zu tun. Wir verstehen unter Sozialimperialismus den politisch und zugleich ökonomisch begründeten Manipulationsvorgang, durch den mit Hilfe einer intensiven psychologischen Propaganda die sozialen Emanzipations- und Bewegungskräfte innerhalb des Staates auf die äußere Expansion und die Steigerung des nationalideologischen Prestigegefühls abgelenkt werden; dadurch können innere Mängel überdeckt, Widerstand und Bewegungsbedürfnis gegen das innere Zwangssystem kompensiert und zum Werkzeug äußerer Machtpolitik verkehrt werden.“

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lismus die wichtigste Herrschaftstechnik der deutschen politischen Elite seit Bismarck gewesen sei.40 1972 veröffentlichte Hans-Jürgen Puhle einen Vortrag über die politischen Folgen der Agrarkrise.41 In Übereinstimmung mit der von Wehler verfochtenen kritischen Interpretation der innenpolitischen Entwicklung des Kaiserreiches behauptet Puhle, dass die Gründung der außerparlamentarischen Interessengruppen und Agitationsverbände (vor allem des Bundes der Landwirte) als Ausdruck der Manipulationsfähigkeit der traditionellen preußischen Herrschaftselite gedeutet werden soll.42 Der normative Rahmen der neueren westdeutschen Sozialgeschichte und die politischen Voraussetzungen der kritischen Geschichtsschreibung wurden in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre immer stärker in Frage gestellt. Fraenkel hatte sich darum bemüht, die Ursachen für die Fehlentwicklung des deutschen Parlamentarismus an den Tag zu bringen. Als Vertreter der vergleichenden Verfassungsgeschichte konnte er mehrere bedeutende Historiker der Bundesrepublik mit der Praxis des Vergleichs vertraut machen. Die Hervorhebung der verfassungsgeschichtlichen und ideologischen Ursachen für die politische Fehlentwicklung Deutschlands schloss in sich einen normativen Aspekt: Das britische Verfassungssystem, dessen parlamentarischer und pluralistischer Charakter die Bildung einer effizienten Exekutive mit einem machtvollen Premierminister an ihrer Spitze nicht ausschloss, wurde zum Vorbild der modernen Demokratie erhoben. Gerade diese normativen Voraussetzungen kritisierten die beiden britischen Historiker David Blackbourn und Geoff Eley in ihrer Streitschrift

40 Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1969; Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs, 1871-1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1970; Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich, 1871-1918, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973. 41 Hans-Jürgen Puhle, Von der Agrarkrise zum Präfaschismus. Thesen zum Stellenwert der agrarischen Interessenverbände in der deutschen Politik am Ende des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Franz Steiner, 1972. 42 Ebd., S. 38f.: „Was dem Bund an Geld und direkten [sic] Einfluß seiner Führer auf die Regierung und den [sic] Gang der wirtschaftspolitischen Entscheidungen zunächst fehlte, ersetzte er durch Einheitlichkeit ohne Richtungskämpfe und Flügelbildung, eine mittels populärer und perfekt an den Mann gebrachter ideologischer Verschleierungsmechanismen manipulierte akklamative Massenbasis im Lande, hochentwickelte Agitationsformen in breit gestreuter Presse und Versammlungen und eine schlagkräftige Organisation der Wahlkämpfe und des parlamentarischen Hilfsdienstes.“

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über die „Mythen deutscher Geschichtsschreibung“.43 Die von ihnen ausgelöste Polemik führte zu einem Umdenken der Kriterien, anhand derer eine Gesellschaft als erfolgreiche bürgerliche Gesellschaft und ein politisches System als eine funktionsfähige Demokratie bewertet werden können. Auch der geographische Rahmen des historischen Vergleichs wurde beachtlich erweitert: Nicht mehr nur mit den angelsächsischen Demokratien, sondern mit den mittel- und osteuropäischen Gesellschaften wurde nun die institutionelle und soziale Entwicklung der deutschsprachigen Staaten seit dem frühen 19. Jahrhundert verglichen.44 Die bürgerliche Gesellschaft wurde nicht mehr als ein einheitliches Muster betrachtet; im Gegenteil wurde die Pluralität der europäischen bürgerlichen Gesellschaften neu entdeckt. Auf diese Weise kam es zur Re-historisierung und Pluralisierung der Kategorie der „bürgerlichen Gesellschaft“, welche die Wichtigkeit der nationalen Kultur als Vorbedingung für die politische Entwicklung hervorhob.45 Abschließend kann festgestellt werden, dass sowohl Politikwissenschaftler als auch Historiker das Modell der Integrationswissenschaft für sich beansprucht haben. Bereits in den fünfziger Jahren definierte Ernst Fraenkel die Politikwissenschaft als eine fachübergreifende Integrationswissenschaft. Auch die Historiker, die den endgültigen Bruch mit der Tradition des deutschen Historismus anstrebten, erklärten einige Jahre später die „historische Sozialwissenschaft“ zu einer interdisziplinären Integrationswissenschaft mit kritisch-emanzipatorischem Anspruch. Aber gerade die normativen und ideologischen Voraussetzungen, welche dieser methodischen Erneuerung zugrunde lagen, wurden am Ausgang der siebziger

43 David Blackbourn / Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte Revolution von 1848. Frankfurt a.M.: Ullstein, 1980; David Blackbourn / Geoff Eley, The Peculiarities of German History: Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-century Germany. Oxford: Oxford University Press, 1984. 44 Jürgen Kocka, „Das europäische Muster und der deutsche Fall“, in: J. Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Band I: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995, S. 9-75; Peter Lundgreen (Hrsg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Sonderforschungsbereichs (1986-1997), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000. 45 Reinhart Koselleck / Ulrike Spree / Willibald Steinmetz, „Drei bürgerliche Welten? Zur vergleichenden Semantik der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, England und Frankreich“, in: Hans-Jürgen Puhle (Hrsg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991, S. 14-58.

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Benjamin Pinhas

Jahre immer stärker in Frage gestellt. Auf diese Weise konnte die Verwestlichung des deutschen Geschichtsbildes, an der Politikwissenschaftler und Historiker seit den fünfziger Jahren mitgewirkt hatten, historisiert und neu bewertet werden.

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II. Lehren von Weimar. Diskursstrategien

Das Alte Testament als Kategorie des (theologisch-) politischen Denkens im 20. Jahrhundert François Prolongeau

Im Vorwort ihrer berühmten Aufsatzsammlung Between Past und Future, die erstmals 1961 veröffentlicht wurde, zitiert Hannah Arendt einen Spruch des französischen Dichters René Char an: „Notre héritage n’est précédé d’aucun testament.“1 Dieser Aphorismus ist Teil des Gedichtbandes Feuillets d’Hypnos (1946), den René Char zur Zeit seines Engagements im französischen Widerstand schrieb. Sein Sinn lässt sich, wie es bei dem ganzen Gedichtband der Fall ist, nur schwer entziffern. Arendt, der es um alles andere als Theologie ging, führt den Satz auf die Bedeutung des Zusammenbruchs Frankreichs für die Generation von René Char zurück, die „wie durch die Macht der Leere, durch die Politik aufgesogen worden sind“2, und bringt ihn in Verbindung mit dem Thema des „verlorenen Schatzes“ der modernen Revolutionen. Der Name dieses Schatzes war in Amerika 1776 „public happiness“ und in Frankreich 1789 „public freedom“, ist uns aber heute unverständlich geworden: „However that may be, it is the namelessness of the lost treasure to which the poet alludes when he says that our inheritance was left us by no testament. The testament, telling the heir what will rightfully be his, wills past possessions for a future. Without testament or, to resolve the metaphor, without tradition which selects and names, [...] there seems to be no willed continuity in time and hence, humanly speaking, neither past nor future, only sempiternal change of the world and the biological cycle of living creatures in it.“3

Wie aus diesem Zitat ersichtlich ist, deutet Arendt das Wort „Testament“ bei René Char als „Tradition“, doch verweist sie auch auf die juristische Bedeutung des Wortes und verleiht dem Begriff auch eine geschichtsphilosophische Bedeutung, indem sie das „Testament“ als Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Zukunft darstellt. Obwohl sie behauptet,

1 Hannah Arendt, Between Past and Future, Six exercises in political thought. New York: The Viking Press, 1961, S. 3. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 5.

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den Satz von Char als poetischen Ausdruck des Verlusts der Tradition entziffert zu haben, scheint der Ausdruck sie besonders angesprochen zu haben, da sie ihn auch dem letzten Kapitel ihres Buchs On revolution („The revolutionary tradition and its lost treasure“) voranstellt.4 Der Schatz wurde verloren und sein Name vergessen. Dieser Schwund der Tradition im modernen Zeitalter wird die Kernthese des berühmten Aufsatzes „What is authority?“ ausmachen. Testament heißt bei Arendt also Tradition, wirkt als Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, und hat zugleich sehr viel mit der Vergangenheit zu tun. Bald führt sie in der Tat ein Zitat von Tocqueville ein, das sie als „Variation“ desjenigen von Char präsentiert: „Le passé n’éclairant plus l’avenir, l’esprit marche dans les ténèbres.“5 Es folgt die Analyse einer Parabel von Franz Kafka, die sehr stark an das Bild des Engels der Geschichte bei Benjamin erinnert. Worauf wir hier aufmerksam machen möchten, ist die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Testament“: Bei Arendt und im Allgemeinen besitzt er eine zugleich juristische und theologische Bedeutung, und weist in beiden Fällen auf etwas Vergangenes hin, das für ein Kommendes von Bedeutung ist. Im deutschen Idealismus wurde das Alte Testament zu einem fast metaphysischen Begriff, jedenfalls spielt es in Schellings Philosophie der Weltalter, die eine besondere Resonanz in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) findet, eine wichtige Rolle. In einem theologischen Kontext ist die Rede von einem Alten und einem Neuen Testament. Diese während der ersten Jahrhunderte der christlichen Ära entstandene Begrifflichkeit sollte dazu dienen, einen Bruch zwischen der neuen christlichen Religion und der alten jüdischen Tradition zu verhindern. Testament verweist im religiösen Kontext auf den Bund Gottes zuerst mit dem Volk Israel (AT), dann über Jesus Christus mit der ganzen Menschheit (NT). Die christliche Kirche hat beide Testamente beibehalten, doch ist sie erst durch einen langwierigen und eigentlich nie ganz beendeten Kampf gegen die Gegner dieser Auffassung zu dieser Lösung gekommen. Der größte Gegner der Beibehaltung des Alten Testaments in der christlichen

4 Hannah Arendt, On Revolution. New York : The Viking Press, 1963, S. 215. 5 H. Arendt, Between Past and Future, S. 596.

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Das Alte Testament als Kategorie des (theologisch-) politischen Denkens

Kirche war Marcion aus Sinope, der zwischen dem ersten und dem zweiten Jahrhundert der christlichen Ära lebte und viele Nachfolger hatte.6 Im Folgenden wird auf einige Parallelen zwischen Arendts Auffassung des Vergessens der Tradition im Zeitalter der Moderne und dem Briefwechsel zwischen Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy aus dem Jahr 1916 hingewiesen. 1. Infragestellung der Tradition und Gefährdung der Vergangenheit: Arendt, Rosenstock Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) sowie Franz Rosenzweig (1886-1929) waren assimilierte deutsche Juden. Der eine war in seiner Jugend zum Protestantismus übergetreten, der andere war im Begriff es zu tun, bevor er sich schließlich entschließ, Jude zu bleiben. In einer Julinacht des Jahres 1913 haben die beiden ein theologisches Gespräch geführt, das für Rosenzweig entscheidend geblieben ist, obwohl es seinem Freund nicht gelungen ist, ihn zum Christentum zu bekehren. Dieses theologische Gespräch wurde im Laufe des Jahres 1916 in einem berühmt gewordenen Briefwechsel fortgeführt.7 In diesem Briefwechsel geht es um den Platz des Judentums in der modernen Welt, den Begriff der jüdischen „Verstocktheit“ und Franz Rosenzweigs eigene Stellung dem Judentum gegenüber. Im Laufe der Diskussion, wird die Frage aufgeworfen, worin die Bedeutung des Alten Testaments für das Christentum im XX. Jahrhundert eigentlich bestehe. Franz Rosenzweig, der sich mitten im Ersten Weltkrieg mit Tertullian beschäftigte, ruft in Erinnerung, was das Alte Testament für die frühe Kirche, die gegen die marcionitische Häresie zu kämpfen hatte, bedeutete: „Die Verstockung der Juden ist also in der Festhaltung des Alten Testaments im Kanon und der Konstruktion der Kirche auf dieses doppelte ‚Blatt Papier‘ (AT und NT) wirklich die andere [...] Hälfte des christlichen Dogmas […].“8

6 Über den Marcionismus als Ideologie, siehe z.B. Alain Besançon, „Gnose, idéologie, marcionisme“, in: Trois tentations dans l’Église, Paris: Perrin, 2002, S. 75f. 7 Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk – Gesammelte Schriften, Briefe und Tagebücher, Band 1: 1900-1918, Den Haag: Martinus Nijhoff, 1979, S. 218f. 8 Ebd., S. 250.

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Rosenstock, der als überzeugter Christ sich vor der Häresie nicht scheute, verteidigte aber bald die These eines Verschwindens des Alten Testaments im modernen Zeitalter: „So steht heute neben Christentum und Judentum der Imperialismus der Nationen als etwas Drittes, von Rom Stammendes. Alle wollen Kaisertümer sein.“9 Und ferner: „Heut hat das Christentum ein neues Altes Testament statt Ihres alten: Nämlich sein heut lebendiges Altes Testament ist – die Kirchengeschichte, der Heiligen Passional, der Festkalender. […] Heut ist etwa die abendländische Welt, ist Europa (durch 1789 und 1914) so weit, dass es das Alte Testament, Griechen, Römer, Juden und Perser vergessen darf, weil es Engländer, Päpste, Deutsche, usw. gibt. Und was schlimmer ist, mein armer ben Juda, es wird sein Altes Testament vergessen. ‚Das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.‘“10

Das Zitat, das aus dem 2. Brief des Paulus an die Korinther stammt (2 Kor, 5,17) und sich dort auf das Neuwerden der Kreatur in Christus bezog, will hier einen Bruch im Verhältnis des modernen Christen und des Menschen überhaupt mit der Vergangenheit deutlich machen. Dieser Bruch setzt kennzeichnenderweise nach Rosenzweig 1789 an, also mit der französischen Revolution und dem Zustandekommen des modernen Nationalismus. Die längst vergangenen Geschichten, die im Alten Testament erzählt werden, können vergessen werden, u. a., weil die moderne Geschichte da ist, um sie zu ersetzen. Dieser Bruch im Geschichtsbewusstsein des modernen Menschen wird bei Rosenstock, wie bei Hannah Arendt, von der französischen Revolution dargestellt. In einem Aufsatz zur Tradition des politischen Denkens11, in dessen Hintergrund René Chars Satz auch zu stehen scheint, obwohl er nicht zitiert wird, spricht Hannah Arendt von einem Ende der Tradition. Die Tradition hätte sich in das Schweigen zurückgezogen. Die Vergangenheit, als Gedenken dessen was die Menschen zusammenhält, würde Gefahr laufen, vergessen zu werden. Diese Fähigkeit, sich an das Vergangene zu erinnern, wäre uns wie ein Erbe überliefert worden. Doch wäre uns mit der modernen Ära, diese Fähigkeit abhanden gekommen. Die Geschichte hätte keinen Anfang noch kein Ende mehr, sondern die Vergangenheit sowie die Zukunft würden bis in die Unendlichkeit laufen.

9 Ebd., S. 298. 10 Ebd. 11 Hannah Arendt, The Promise of Politics. New York: Schocken Books, 2005, S. 43.

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Diese „doppelte Perspektive auf die Unendlichkeit“12 würde den biblischen Mythos der Schöpfung beseitigen, und darüber hinaus überhaupt die Frage, ob die historische Zeit einen Anfang hat, überflüssig machen. Aus dieser Tatsache würde sich die Möglichkeit einer irdischen Unsterblichkeit für die Menschen ableiten lassen. Diese Idee wird in anderen Texten von Arendt wiederaufgenommen, wie auch die Idee, dass der moderne Fortschrittsglaube den Glauben an die Heiligkeit der Gründung zur Zeit Roms ersetzt hat. In der Tat geht der Aufsatz „What is authority?“ in der Sammlung Between past and future von der Idee einer römischen Triade von Autorität, Tradition und Religion aus. Arendt zufolge, wäre durch die moderne Infragestellung der Religion und der Tradition die Autorität aus der modernen Welt verschwunden. Obwohl Tradition und Vergangenheit nicht gleich zu setzen wären, hätte das Verschwinden der Tradition die ganze Dimension der Vergangenheit gefährdet. Die Autorität war in der Vergangenheit fundiert. Durch ihre Infragestellung habe die Welt ihr Fundament verloren. Der Begriff der Tradition ist, so Arendt, römischer Herkunft. Im Mittelpunkt der römischen Politik stand die Heiligkeit der Gründung Roms. Deshalb waren die „römischsten“ aller Gottheiten Janus, der Gott des Anfangs, und Minerva, die Göttin des Erinnerns. Re-ligare hieß ursprünglich die Ewigkeit gründen, und „religiös sein“ mit der Vergangenheit verbunden sein.13 Alle Autorität ging von der Gründung Roms und also von dem heiligen Anfang der römischen Geschichte aus. Die römische Triade ging in der abendländischen Zivilisation auf, die ja auf die römische gegründet ist, und das geistliche und politische Erbe des antiken Roms wurde der katholischen Kirche überantwortet.14 Doch sei im modernen Zeitalter diese römische Erfahrung der Gründung vollkommen vergessen worden. Obwohl der Begriff der Gründung für die modernen Revolutionen (was auch Gegenstand von Arendts Buch On Revolution ist) und für den großen Erneuerer der politischen Philosophie Machiavelli von zentraler Bedeutung war, konnten weder Robespierre noch Machiavelli an die römische Erfahrung anknüpfen. Denn sie begriffen beide, dem modernen Verständnis entsprechend, die Gründung als „Herstellung“ (making):

12 Ebd., S. 44. 13 H. Arendt, Between Past and Future, S. 121. 14 Ebd., S. 125.

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„Like the Romans, Machiavelli and Robespierre felt founding was the central political action, the one great deed that established the public-political realm and made politics possible; but unlike the Romans, to whom this was an event of the past, they felt that for this supreme ‘end’ all ‘means’, and chiefly the means of violence, were justified. They understood the act of founding entirely in the image of making [...].“15

Diese Idee der Herstellung, die die römische Idee der Gründung in der Moderne ersetzt, meint Arendt auch im vorher erwähnten Aufsatz zur Tradition des politischen Denkens, wenn sie sagt, dass man mit der industriellen Revolution auf die Idee gekommen sei, man könne „die Zukunft herstellen“ und die Gesellschaft „bauen und verbessern“.16 2. Rosenzweig und Buber gegen die „Neomarcioniten“ Wenn diese Idee einer möglichen „Herstellung“ der Zukunft, einer Gestaltung des zu Kommenden ohne Rücksicht auf das längst Gewesene, vielleicht schon im 16. und im 17. Jahrhundert aufgetaucht war, als man, Arendt zufolge, danach strebte, „die Vergangenheit loszuwerden“17, wurde aber im XX. Jahrhundert dem Anschein nach intensiver auf sie zurückgegriffen – namentlich im Rahmen dessen, was Buber und Rosenzweig als „Neomarcionismus“ bezeichnet haben, d.h. eine neue Erscheinungsform der alten Häresie, dem Zeitgeist der Zwischenkriegszeit angepasst. Wenn der Ausdruck „Neomarcionismus“ in erster Linie eine theologische Denkrichtung bezeichnet, die ihren Ausgangspunkt im Werk Adolf von Harnacks (1851-1930) hat (vor allem in dessen Buch Marcion – das Evangelium des fremden Gottes, 1921), ist diese Denkrichtung auch für das politische Denken von Bedeutung, unter anderem weil ein wichtiger Vertreter der marxistischen Philosophie im XX. Jahrhundert, nämlich Ernst Bloch (1885-1977), von ihr beeinflusst wurde. Ein Kerngedanke des Marcionismus, und mit ihm der antiken Gnosis, war die Existenz von zwei verschiedenen Gottheiten: dem Schöpfergott, der eine üble Welt schuf, und dem Erretter d.h. dem Gott der Erlösung. In ersterem sah Marcion auch den Gott der Juden und des Alten Testaments (der nicht gut, sondern nur gerecht war) und in letzterem den Gott der ab-

15 H. Arendt, Between past and future, S. 140. 16 H. Arendt, The Promise of Politics, S. 40. 17 Ebd.

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soluten Liebe des Neuen Testaments. Deshalb plädierte er auch für ein Aufgeben des Alten Testaments zugunsten einer kleinen Auswahl von Büchern des Neuen Testaments. Diese Auffassung eines bösen Gottes der Vergangenheit und eines guten Gottes der Zukunft prägt, wie aus dem folgenden Zitat zu ersehen ist, schon das geschichtsphilosophische Denken Blochs in seinem Erstlingswerk Geist der Utopie aus dem Jahr 1918: „Gerade indem Marcion, ein großer Mann, den Gott als Geschichte konzipierte, steht dieses sich Abheben, diese Antithese zwischen dem Demiurgen und der bisher unbekannten, durch den Christus offenbarten höchsten Gottheit, – steht dieser scheinbare metaphysische Antisemitismus der messianischen Geistigkeit näher als die ganze spätere, auch das Alte Testament versteinernde Heilsökonomik, die die Abfolge der Offenbarungen zur bloßen pädagogischen Maßnahme abschwächte und so den eigentlich theogonischen Prozeß vom Himmel selber fernhielt.“18

Diese Gegenüberstellung von zwei Gottheiten ist im späteren Werk Blochs wiederzufinden, so in Atheismus im Christentum (1968). Ein Kapitel des Werks trägt den Titel „Konträre Prinzipien in der Bibel: Schöpfung und Apokalypse“. Kennzeichnenderweise stellt ihm Bloch zwei Zitate voran, das eine aus dem ersten Kapitel der Genesis („Und siehe, es war sehr gut“19), das andere aus der Offenbarung Johannis („Siehe, ich mache alles neu“20). Der Gott, der sich mit seiner unvollkommenen Schöpfung zufriedengegeben hat, kann in Blochs Augen nicht derselbe sein, wie derjenige, der auf revolutionäre Weise verspricht, „alles neu zu machen“ – ein Ausdruck, der an Arendts „die Zukunft herstellen“ nicht wenig erinnert. Obwohl er als ausschließlicher Apostel der Zukunft erscheint, wird bei Bloch nicht wie bei Marcion das ganze Alte Testament beseitigt, sondern es gibt in diesem, nach Blochs Auffassung, auch positiv zu bewertende Motive und Ideen. So bekämpft er vor allem den Schöpfergott als Gott der Vergangenheit, aber er erblickt im Exodusgott schon ein Bild des fremden Gottes Marcions (und Harnacks…), wie aus dieser Passage aus dem Prinzip Hoffnung (1959) hervorgeht: „Marcion stellt so den stärksten Begriff Anti-Jahwe dar, zugunsten Christi als des totalen Novum oder Paradoxes in Jahwes Welt. Indem Marcion freilich

18 Ernst Bloch, Geist der Utopie. München und Leipzig: Verlag von Duncker und Humblot, 1918, S. 330. 19 1 Mose, 1, 31. 20 Off., 21, 5.

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die Brücke zum Alten Testament abbricht, steht er selbst auf dieser Brücke, zusammen mit den Ophiten. Anders gesagt: Marcion kommt nicht nur von Paulus, er kommt ebenso von Moses her, der wahre oder fremde Gott dämmert im Exodusgott, zwischen Ägypten und Kanaan. Allerdings dämmert er mitnichten im Weltschöpfer, in dieser opulenten Vergangenheits-Mythologie.“21

Wenn Bloch Marcions Aufgeben des Alten Testaments als dem Buch des Weltschöpfers und einer „Vergangenheits-Mythologie“ wenig kritisch gegenüberzustehen scheint, so bedient er sich aber gern des Namens Gottes, der Mose im Dornbusch offenbart wurde, nämlich „eyhe ascher eyhe“, den Buber und Rosenzweig in ihrer Verdeutschung der Bibel als „Ich werde dasein als der ich dasein werde“ wiedergegeben haben. Dies entspricht Blochs Auffassung Gottes als Gott der Zukunft. Man findet allerdings in der Offenbarung Johannis eine andere Bezeichnung Gottes, die der Herr selber gibt, die in Schellings Philosophie der Offenbarung (1842)22 erwähnt wird und ein gutes Bild vom Schelling’schen System der Zeiten gibt: „ὁ Θεός, ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος“, zu Deutsch: „Der Gott der ist, und der war und der kommen wird.“ Obwohl Rosenzweig und Bloch sich beide von Schelling haben inspirieren lassen, scheint jeder von ihnen beim romantischen Philosophen nur das gefunden zu haben, was er suchte. Vielleicht hängt dies auch mit den verschiedenen Perioden Schellings zusammen, in denen er mit der Zeit verschiedentlich umging. Die Tatsache, dass Schellings Projekt einer Philosophie der „Weltalter“23 sich auf das erste Buch, das die Vergangenheit behandelt, beschränkte, scheint (so Jean-François Courtine24) die Vergangenheit zu privilegieren. Dagegen betonte er in seiner Identitätsphilosophie die Wichtigkeit der Zukunft. „Das in der Zeit eigentlich Zeitliche ist die Zukunft“ schrieb er in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie25.

21 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, S. 1499f. 22 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977. 23 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. VIII, Stuttgart und Augsburg: Cotta’scher Verlag, 1861. 24 Jean-François Courtine, Extase de la raison. Essais sur Schelling. Paris: Galilée, 1990. 25 Zitiert nach Courtine, ebd., S. 243.

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Worauf wir hier aufmerksam machen wollen, ist der Umstand, dass Rosenzweig im Schelling’schen System der „Weltalter“ das perfekte philosophische Gegenstück zu Rosenstocks These eines Verschwindens des Alten Testaments in der modernen Ära gefunden hat. In der Tat kann Rosenzweig zufolge, der sich in seinem Hauptwerk Der Stern der Erlösung26 sehr stark an Schelling anlehnt, das Alte Testament bis ans Ende der Zeit nicht verschwinden, weil das Alte Testament, das das lebendige jüdische Volk in seinem Leib verkörpert, seinem Begriff der immerwährenden Vorwelt nahe kommt, anders gesagt dem Schelling’schen Grund, der Vergangenheit, auf die die Gegenwart erst folgen kann, ohne sie beseitigen zu können. Philosophisch heißt bei Rosenzweig „Altes Testament“ etwas Vergangenes, das als Vergangenes aufrechterhalten bleibt. Oder wie es bei Schelling heißt: „Die vergangene Zeit ist keine aufgehobene Zeit; das Vergangene kann freilich nicht als ein Gegenwärtiges, wohl aber muß es als ein Vergangenes mit dem Gegenwärtigen zumal seyn [...].“27 Wie er es in einem Brief an Rosenstock schrieb, könnte, so Rosenzweig, das Alte Testament also nicht verschwinden „solange diese 1789 angehobene johanneische Epoche des Christentums dauern wird“28, das heißt bis die Welt erlöst sein wird. Rosenzweigs Triade von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung wurde von Martin Buber (1878-1965) wiederaufgenommen und mehrfach gegen das, was er als „marcionitische Gefahr“ empfand verwendet. In der Konzeptualisierung seines religiösen Sozialismus, der aus einem anderen Standpunkt von der Bloch’schen Utopie gar nicht so weit entfernt erscheinen könnte, wusste Buber aber immer, in Erinnerung an seinen Freund Rosenzweig, der Schöpfung sowie der Erlösung einen Platz einzuräumen. In seiner Rede „Die heimliche Frage“ behauptet er nämlich Folgendes: „[...] die Liebe zum Schöpfer und die Liebe zur seiner Schöpfung, sind letztlich eins. Um diese Einheit zu verwirklichen, muß der Mensch freilich die erschaffene Welt aus Gottes Händen annehmen, und zwar nicht, um sie zu besitzen, sondern um an dem noch unvollendeten Werk der Schöpfung liebend

26 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988. 27 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, Bd. VIII, Stuttgart und Augsburg: Cotta’scher Verlag, 1861, S. 243. 28 Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk, in: Gesammelte Schriften, Briefe und Tagebücher (1. Band: 1900-1918), Den Haag: Martinus Nijhoff, 1979, S. 303.

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teilzuhaben. Die Schöpfung ist unvollendet, denn der Unfriede herrscht in ihr, und der Friede kann nur von den Geschöpfen herkommen.“29

In seinem umfangreichsten Buch zum Chassidismus, Die chassidische Botschaft (1952), kommt Buber anlässlich seiner Darstellung der „gnostischen Gottesauffassung“ des falschen Messias aus dem 18. Jahrhundert, Jacob Frank, auf die chassidische Thora-Konzeption zurück. Diese Passage macht seine eigene Einstellung zur Schöpfung und zur Rolle des Menschen darin noch deutlicher: „Die chassidische Thora-Konzeption ist eine Ausgestaltung des überlieferten Glaubens, dass Gott die von ihm geschaffene Welt durch den Menschen erobern will. Er will sie wahrhaft zu seiner Welt, zu seinem Reich machen, aber durch menschliches Tun. Die Absicht der göttlichen Offenbarung ist, den Menschen zu bilden, der an der Erlösung der Schöpfung wirkt. Damit ist nicht ein einmaliges, messianisches Handeln gemeint, sondern ein Tun des Alltags, das die messianische Vollendung vorbereitet [...].“30

Interessant zu erwähnen ist auch die Art und Weise, wie er die Gnosis in Verbindung mit der Auflehnung gegen das Alte Testament bringt: „Die Herkunft aller Gnosis ist [..] die zur Verzweiflung an der Welt gesteigerte Urfrage, wie der in jedem Lebens- und Geschichtsablauf als unüberwindlich erfahrene Widerspruch, die ätzende Essenz des Daseins in der Welt, mit dem Sein Gottes zu vereinbaren sei. Diese Steigerung der Frage ist eine nachalttestamentliche; jede echte Gnosis entsteht in einem vom Alten Testament angerührten Kulturbereich, fast jede als eine, unmittelbar oder mittelbar ausdrückliche, Auflehnung gegen es.“31

3. Erinnerung, Eingedenken, Wiederaneignung des Vergangenen durch Übersetzen Im demselben Werk zum Chassidismus, in dem Buber, wie in seinen anderen Werken zum Thema, wenn man Gershom Scholem glauben darf, eine sehr persönliche Interpretation der mystischen Bewegung aus dem 18. Jahrhundert bietet, gibt der Autor folgendes Bild der Einstellung des Chassidismus zur Überlieferung – also wohl auch seiner eigenen:

29 Martin Buber, Der Jude und sein Judentum. Gerlingen: Verlag Lambert Schneider, 1993, S. 169. 30 Martin Buber, Schriften zum Chassidismus. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider, 1963, S. 776. 31 Ebd., S. 844f.

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„Worauf es ankommt, ist die Wiederverknüpfung mit dem Gewesenen und der Umschwung in einem; der Wiedereintritt in die Überlieferung, aber eine Überlieferung, die umgestaltet worden ist. Das ist es, was sich hier, im Chassidismus, begab. Die von ihm gestiftete erneuerte Beziehung zur Wirklichkeit mischt er aus den fortsprudelnden Quellen, den offenbarten und den verborgenen; aber was er da holte, ist in seinen Händen neu geworden.“32

Buber zufolge könnte also die Überlieferung neu werden, anstatt zu verschwinden, und es komme darauf an, an das Gewesene wiederanzuknüpfen. Man soll aber bedenken, dass Buber in erster Linie ein Theologe und ein religiöser Schriftsteller war und nicht wie Hannah Arendt ein politischer Philosoph. Dieser Glaube an die Fähigkeit der Menschen, an eine längst vergangene, wenn nicht gar Mythos gewordenen Geschichte wiederanzuknüpfen, ist vielleicht eher religiöser, wohl aber nicht politischer Natur. Erwähnenswert ist in diesem Kontext die Unterscheidung, die Buber zwischen religiösen und politischen Bewegungen macht: „Bewegungen, die eine Erneuerung der Gesellschaft anstreben, meinen damit zumeist, dass der vorgefundenen Ordnung die Axt an die Wurzel zu legen sei; sie setzen dem Gewordenen, das sie verwerfen, ein von Grund aus andersartiges Erzeugnis des wollenden Gedankens gegenüber. Nicht so die religiösen Bewegungen, die auf eine Erneuerung der Seele ausgehn.“33

Wie ist nun das „Wiederanknüpfen an das Gewesene“ möglich? Vielleicht indem man dem Vergangenen anders zuhören lernt, das uns Heutigen noch viel zu sagen hätte... In ihrem Aufsatz „What is authority?“ schrieb Hannah Arendt, anscheinend von Walter Benjamin inspiriert: „With the loss of tradition we have lost the thread which safely guided us through the vast realms of the past, but this thread was also the chain fettering each successive generation to a predetermined aspect of the past. It could be that only now will the past open up to us with unexpected freshness and tell us things no one has yet had ears to hear.“34

Auf das Alte Testament bezogen lautet die Frage: Wie könnte es den Menschen der Gegenwart etwas sagen, was zu hören bisher niemand Ohren gehabt hat anders als durch eine neue Übersetzung? Solche Gedankengänge haben Buber und Rosenzweig wahrscheinlich vorgeschwebt, als sie in den

32 Ebd., S. 787. 33 Ebd., S. 803. 34 H. Arendt, Between Past and Future, S. 2.

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1920er Jahren gemeinsam unternommen haben, das Alte Testament bzw. die hebräische Bibel neu zu übersetzen. In ihrem Bestreben, den überlieferten Text neu erscheinen zu lassen, und – wie man hinzufügen darf – ganz im Sinne der Benjamin’schen Übersetzungstheorie die deutsche Sprache der hebräischen anzunähern, haben sie ein Werk geschaffen, das durch seine Eigenart sowohl kräftig als auch befremdlich wirkt. Hinter Arendts vorhin erwähnter Auffassung der Vergangenheit als Gedenken dessen, was die Menschen zusammenhält, in ihrem Aufsatz zur Tradition des politischen Denkens, kann man mehrere Einflüsse vermuten. Unter anderem Augustinus’ Theorie der memoria und Walter Benjamins Begriff des Eingedenkens, aber vielleicht auch der alte Imperativ des „Zakhor!“ („Erinnere dich!“) der jüdischen Tradition, der bei Benjamin auch ein Echo findet. Allem Anschein zum Trotz, muss „Wiederverknüpfung mit dem Gewesenen“ sich gar nicht unbedingt mir reaktionärem Denken reimen. Sondern die traditionsbedingte Tatsache, dass die Juden ihrem Alten Testament, der Torah, durch die ganze Geschichte hindurch verhaftet geblieben sind, hängt mit dem jüdischen Messianismus zusammen, wie Walter Benjamin es in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte ausgedrückt hat: „Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“35

Für den Ideenhistoriker lohnt es sich, sich nicht nur mit politischen Texten und Ideen zu befassen, um den Lauf der Ideengeschichte zu begreifen. Der Rückgriff mehrerer Denker des XX. Jahrhunderts auf den begrifflichen Komplex „Altes Testament“, um die gegenwärtige politische Lage und die Geschichte überhaupt zu denken, zeigt vielmehr, dass auch der Bezug auf theologische Kategorien mit der Geschichtsschreibung des politischen Denkens aufs Engste verbunden ist. Eine politische Analyse der theologischen Begrifflichkeit berührt ja die Frage der Beziehungen zwischen Ju-

35 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I.2: Abhandlungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, S. 704.

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dentum und Christentum – eine Frage, die von je das politische Denken beschäftigt hat und weiterhin beschäftigen wird.

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Max Horkheimers Spinoza-Interpretation und der Spinoza-Streit im frühen 20. Jahrhundert Gérard Raulet

Die Bedeutung von Max Horkheimers Vorlesungen über die Geschichte der modernen Philosophie aus dem Jahr 1927 ist allenfalls erst im Zusammenhang mit seinen frühen Schriften und mit seiner späten Rückkehr zu einer vom Judentum geprägten Weltanschauung begreifbar. Denn in der mittleren, der produktivsten Phase seiner gedanklichen Entwicklung und seiner organisatorischen Tätigkeit an der Spitze des Instituts für Sozialforschung scheint das Verhältnis zum Judentum in keinerlei Weise eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Nichtsdestoweniger wird die Radikalität der programmatischen Schriften der „Kritischen Theorie“ gerade vor dem Hintergrund, wenn nicht gar auf der Grundlage der geradezu bilderstürmerischen Abrechnung mit der politischen Theologie verständlich, die seine frühen Interpretationen von Spinoza und von Hobbes charakterisieren. Somit greift er in einen Kontext ein, aus dem die ganze politische Theorie des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Darunter verstehe ich die lebhafte Auseinandersetzung mit der politischen Theologie, die sich von der Vormundschaft des Historismus und des Neukantianismus emanzipierte, die zum Teil eine jüdische Renaissance inspirierte und an der sich um 1920 herum die Geister trennten. Zu ihr gehören in erster Linie die Schriften von Leo Strauss und von Carl Schmitt, darüber hinaus im weiteren Sinn alle geschichtsphilosophischen Ansätze von Denkern jüdischer Herkunft, die sich aber nicht auf das Judentum festlegen lassen wollten und, was einige von ihnen betrifft, zugleich vehement das gescheiterte Assimilationsversprechen des Reichs zugunsten des marxistischen Engagements austauschten: zum Beispiel Ernst Bloch oder Walter Benjamin. Wie Leo Strauss 1965 im Vorwort zur englischen Übersetzung seines Buchs über Spinozas Religionskritik autobiographisch berichtete: „The author was a young Jew born and raised in

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Germany who found himself in the grip of the theologico-political predicament.“1 Zugleich – und darin besteht die Pointe meines Arguments – bilden die Auseinandersetzungen mit Hobbes, Spinoza und der politischen Theologie Stellungnahmen zur Gründungsgeschichte des okzidentalen Liberalismus. Es ist, als ob in den letzten Jahrzehnten des Wilhelminischen Reichs und unmittelbar nach der deutschen Revolution ein Bündel von Problematiken auf Entscheidung gedrängt hätten (und das haben sie sicherlich): Die Enttäuschung der assimilierten Juden nährte zugleich den Zweifel am Reich und das Schwelen einer jüdischen Renaissance; als Alternative zur versagenden Legitimität des Reichs drohte diese, eine politische Theologie wieder in den Sattel zu heben, die viel radikalere Formen als der Kompromiss des Reichs annehmen würde. Sie wird sich im Zionismus ausdrücken; an dieser Bewegung hat der junge Leo Strauss sehr engagiert teilgenommen.2 Die konkurrierenden konfessionell geprägten Gegenoffensiven, die freilich nicht sehr zahlreich gewesen sind, können als Reaktion darauf interpretiert werden – nicht als Reaktion auf die jüdische Bewegung, die zahlenmäßig unbedeutend war, sondern auf den Legitimitätsverlust. Das gilt für Carl Schmitts eigensinnige und eher marginale Stellungnahme, deren Schlagkraft sich erst später auswirken wird. Wenn aber der bisherige Rahmen der Legitimität – konkret gesprochen: der Damm des „Sonderwegs“ des Reichs nicht mehr hält, dann spitzt sich in der Tat die Alternative zu dem Gegensatz einer Renaissance der politischen Theologie und dem genuinen Liberalismus zu. Ich vertrete also die Ansicht, dass dies die eigentliche konkrete Situation ist, zu der die ganze Übergangsgeneration der Jahrzehnte, die in die Weimarer Republik mündeten, Stellung nehmen musste. Daraus folgt, dass alle diese Autoren sich eigentlich erst durch ihre Stellung zur Idee des Liberalismus und zu deren politischer Umsetzung unterscheiden lassen. Denn auf den ersten Blick ist Horkheimers Beitrag zur 1 Spinoza’s Critique of Religion, Translated by E. M. Sinclair. New York: Schocken Books, 1965, S. 1-31, Zitat S. 1 (dt. Original: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat. Berlin: Akademie Verlag, 1930). 2 Vgl. die Dissertation von Bruno Quélennec, Retour dans la caverne. Philosophie, politique et religion chez le jeune Leo Strauss (Rückkehr in die Höhle. Philosophie, Politik und Religion bei dem frühen Leo Strauss), Diss. Paris-Sorbonne/EuropaUniversität Frankfurt/O. 2016. Buchpublikation: Paris: Hermann, 2018. .

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Spinoza-Rezeption mit jenen von Schmitt oder Strauss durchaus kongruent: Spinoza ist mit Hobbes der Begründer des liberalen bürgerlichen Denkens. Aber in welchem Sinn? Wie bei Schmitt, bei Strauss und nicht zuletzt bei Benjamin im „Theologisch-politischen Fragment“ geht es in erster Linie um den Bruch mit der theologischen Begründung des Politischen. Darüber hinaus betont Horkheimer freilich den konservativen Charakter von Spinozas politischen Vorstellungen, in denen der Staat nur ein einigermaßen verbessertes Patriziat ist. Hierin stimmt er mit Franz Neumann überein, der zehn Jahre später in seinem Essai „Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft“3 ebenfalls den Januscharakter der spinozistischen Staatsauffassung hervorhebt: Auf der einen Seite markiert die Begründung des Naturrechts im Tractatus theologicopoliticus einen Wendepunkt für die Selbstbehauptung einer bürgerlichen Weltanschauung, auf der anderen Seite befürwortet Spinoza tatsächlich einen starken Staat, der den Individuen keine wirkliche Freiheit gewährt. Der Konservativismus und der Liberalismus erscheinen als die zwei Seiten derselben Medaille und das Naturrecht erweist sich bestenfalls nur als Legitimation der furchtbaren individuellen Konkurrenz, die sich hinter der starren Fassade des Staates abspielt. Wenn dem so ist, dann hat sich die Emanzipation vom theologisch-politischen Rahmen eigentlich nicht gelohnt. So gelesen stellt Spinoza keinen Einzelfall mehr dar, er reiht sich in die Linie aller anderen Denker der beginnenden politischen Moderne ein: Mit Machiavelli teilt er die Auffassung der Herrschaft als ständigem Kampf um eine Machtstellung, mit Hobbes die Auffassung des Kriegs aller gegen alle. Was ihn unterscheidet, erklärt sich allenfalls lediglich durch die besonderen politischen und sozialen Verhältnisse, die damals in den Niederlanden herrschten. Das genau ist die Linie, entlang deren Horkheimer seine Interpretation von Spinoza entwickelt: „Dies ist die eine große Gemeinsamkeit, die Hobbes mit Spinoza und mit Machiavelli und diesen wiederum mit Staatsdenkern wie Fichte und Hegel verbindet, daß der Staat, die Gesetze, die Ordnung an sich verabsolutiert werden, ohne daß begriffen wird, daß die Funktion des Staates mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Konstellation sich verändert und man daher über den Staat nie in bloß formalem Sinn spekulieren kann, sondern immer fragen

3 Zeitschrift für Sozialforschung VI/1937.

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muß, welchen Inhalt, welche Funktion der Staat hat, oder mit anderen Worten: wessen Staat er ist.“4

Der entscheidende Punkt für die Lektüre, die ich vorschlage, ist nun der Umstand, dass Horkheimer somit die Alternative des Kulturellen und des Politischen, an der die Interpretationen von Strauss und Schmitt sich scheiden, überschreitet. Er setzt sich zugleich über den Gegensatz von Liberalismus und Konservativismus hinweg und eröffnet eine neue Front: das Soziale, womit die Erklärung der historischen Prozesse durch die sozialen Verhältnisse einhergeht. 1. Der Widerstreit von Politik und Kultur bei Schmitt und bei Strauss Es will mir zugleich auch scheinen, dass somit mit der Dramatisierung der „Moderne“ gebrochen wird. Strauss und Schmitt verstehen nämlich ihre Modelle als Antworten auf eine als „Krise“ aufgefasste politische Moderne. In seinen „Anmerkungen“ von 1932 über Schmitts Begriff des Politischen5 gesteht Strauss Carl Schmitt zu, dass „das Verständnis des Politischen […] eine grundsätzliche Kritik zum mindesten des herrschenden Kulturbegriffs [impliziert]“6, d.h. der Anerkennung autonomer Sphären: der Autonomie des Ästhetischen, der Moral, der Wissenschaft, der Wirtschaft. Strauss setzt mit Spinoza an7, beschäftigt sich dann mit Hobbes8 und macht schließlich kennzeichnenderweise aus Machiavelli den eigentlichen Urheber dieser Krise.9 Bei Carl Schmitt verhält es sich hingegen so, dass Hobbes und Spinoza zwei entgegengesetzte aber komplementäre Pole 4 Max Horkheimer, Vorlesungen zur Einführung in die Geschichte der neueren Philosophie, in: Gesammelte Schriften [GS], Bd. 9, Frankfurt a.M.: Fischer, 1987, S. 215. 5 „Anmerkungen“ zu Carl Schmitt Der Begriff des Politischen, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 67/6 (August-September 1932), S. 732-749. Abgedruckt in Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Stuttgart: Metzler, 1988, S. 97-128. 6 Ebd., S. 103. 7 Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-Politischem Traktat. Berlin: Akademie-Verlag, 1930. 8 1933-34 entstand das unvollendete Manuskript über Hobbes’ Religionskritik (Hobbes’s Critique of Religion: A Contribution to Understanding the Enlightenment, dann The Political Philosophy of Hobbes, Oxford: At the Clarendon Press, 1936. 9 Thoughts on Machiavelli, Glencoe, Ill.: The Free Press, 1958.

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verkörpern: Ersterer (Hobbes) ist der Denker einer Neubegründung der Souveränität, Letzterer (Spinoza) habe den Keim ihrer grundsätzlichen Auflösung gelegt. Insofern ist der Leviathan keineswegs nur eine Metapher, vielmehr habe Hobbes das moderne mechanische Paradigma des Staatsdenkens mit der religiösen Tradition verbinden wollen, um die ursprüngliche Einheitsidee des Staates trotz des eingetretenen Traditionsbruchs mit der Religion und der Kirche zu retten. In seiner Deutung gibt sich der Staat die Mittel zu dieser Ablösung, indem er zunächst die Herrschaftsmittel der Kirche, in erster Linie deren mythischen Diskurs, zu seinen eigenen macht. In Wirklichkeit ist der Staat eine neutrale technische Maschine, die sich zur Gemeinschaft indifferent verhält. Um seine Einheit neu zu begründen, muss er den Verlust des organischen Bandes, der ihn in der Gemeinschaft verankerte, durch eine andere Autoritätsquelle ausgleichen. Im Gegensatz zu den liberalen Interpretationen von Hobbes, die von einer im Individuum wurzelnden Anthropologie ausgehen und für welche die Individuen den gesellschaftlichen Vertrag zum Zwecke der Selbsterhaltung schließen, betont Schmitt die autoritäre Natur des Staats: Die einmal etablierte Staatsgewalt übt eine uneingeschränkte Herrschaft über die Bürger aus. In seinen Augen leidet der wirklich neutrale Staat, d.h. derjenige, für den die öffentliche und die private Sphäre völlig getrennt sind und der in den Raum der individuellen Freiheiten, insbesondere der Denk- und Religionsfreiheit nicht eingreift, an einer konstitutiven Schwäche und ist dem Scheitern geweiht. Die Kritik an der Schwäche des liberalen Staats geht auf die Politische Theologie von 1922 zurück. In seinem drei Jahre vorher veröffentlichten Buch Politische Romantik (1919) stellte Schmitt zwischen dem romantischen „Pantheismus“ und Spinoza einen Vergleich an und sah in Letzterem eine „erste Reaktion gegen den Rationalismus“. Dieses Argument, das freilich zu den für dieses Buch typischen Übertreibungen zählt, hängt mit der Kritik der modernen Subjektivität und des Liberalismus als einem Wertrelativismus zusammen. Spinoza ist nach Carl Schmitt der Theoretiker dieser konstitutiven Schwäche des politischen Rationalismus: Versucht er doch in seinem Theologich-politischen Traktat nachzuweisen, dass der Souverän, um seine Autorität aufrechtzuerhalten, den Bürgern die Denkfreiheit gewähren muss. „Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des ‚Leviathan‘ fiel der Blick des ersten liberalen Juden auf die kaum sichtbare Bruchstelle [d.h. auf den ‚Vorbehalt der inneren, privaten Gedanken- und Glaubensfreiheit‘ – G.R.]. Er er-

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kannte in ihr sofort die große Einbruchstelle des modernen Liberalismus, von der aus das ganze, von Hobbes aufgestellte und gemeinte Verhältnis von Äußerlich und Innerlich, Öffentlich und Privat, in sein Gegenteil verkehrt werden konnte.“10

Für Schmitt stülpt Spinoza die Grundlage des Staates um und schafft sie somit ab: „Der jüdische Philosoph dagegen kommt von außen an eine Staatsreligion heran und bringt daher auch den Vorbehalt von außen mit. Bei Hobbes standen der öffentliche Friede und das Recht der souveränen Gewalt im Vordergrund; die individuelle Gedankenfreiheit blieb nur als letzter hintergründiger Vorbehalt offen. Jetzt wird umgekehrt die individuelle Gedankenfreiheit der formgebende Grundsatz und die Notwendigkeiten des öffentlichen Friedens sowie das Recht der souveränen Staatsgewalt verwandeln sich in bloße Vorbehalte. Eine kleine umschaltende Gedankenbewegung aus der jüdischen Existenz heraus, und in einfachster Folgerichtigkeit hat sich im Laufe von wenigen Jahren die entscheidende Wendung im Schicksal des Leviathan vollzogen.“11

Spinoza verkörpert also den jüdischen Geist, der sich in den liberalen Staat eingeschlichen und ihn von innen her untergraben hat – den „Todeskeim, der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat“12, indem er die Enklave der individuellen Innerlichkeit dermaßen erweitert hat, dass er sie „zu dem allgemeinen Grundsatz der Freiheit des Denkens, des Fühlens und der Meinungsäußerung“ gemacht hat.13 Obwohl die Hobbes-Interpretationen von Schmitt und Strauss anscheinend diametral entgegengesetzt sind, erweisen sie sich bei genauerem Hinsehen als übereinstimmend. Für Schmitt hat Hobbes die staatszerstörende Trennung von Religion und Politik bekämpft und ihre ursprüngliche Einheit neubegründet, während Strauss ihn umgekehrt als den modernen Denker ansieht, der neben Spinoza durch die Befreiung der Politik von der Theologie die Sache des Liberalismus am meisten gefördert hat. Gerade ihr Urteil über Spinoza zeigt aber, dass Carl Schmitt und Leo Strauss von derselben Diagnose ausgehen: Für beide ist der Relativismus und Individualismus der Feind. Beide urteilen aus diesem Grund ebenso negativ über

10 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938). Stuttgart: Klett-Cotta, 1982, S. 86). 11 Ebd., S. 88f. 12 Ebd., S. 86. 13 Ebd., S. 87.

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Spinoza: Er ist derjenige, der die Autonomie der subjektiven Innerlichkeit proklamiert hat. Schmitt unterlässt es nicht, am Ende des ersten, einführenden Kapitels seines Leviathan auf die Stelle in Strauss’ Spinoza-Buch von 1930 hinzuweisen, wo dieser „die weitgehende Abhängigkeit Spinozas von Hobbes unterstrichen“ und gerade bemerkt hat, „daß Hobbes die Juden als die eigentlichen Urheber der aufrührerischen, staatszerstörenden Unterscheidung von Religion und Politik ansieht“.14 In Persecution and the Art of Writing (1952) wird Strauss an dieses Urteil wieder anknüpfen und die Meinung vertreten, dass Spinozas Historismus seine Verteidigung der Vernunft unterhöhlt hat. Daraus folgt, dass auch für Strauss ein autoritäres, oder zumindest konservatives Verständnis des Liberalismus schließlich die Oberhand erhält. Strauss’ Schüler Heinrich Meier interpretiert dessen Unternehmen ganz in diesem Sinn: Es sei ein Versuch gewesen, die Philosophie in Sicherheit zu bringen: „Wenn man das Praktisch-Werden der Philosophie zureichend verstehen will, muss man die politische Entscheidung zugunsten des weltlichen Souveräns erkennen, die der modernen Wendung zugrunde lag, und wenn man verstehen will, was die Gründerväter der modernen Philosophie dazu bewog, das Bündnis mit der staatlichen Autorität zu suchen, muss man den Feind berücksichtigen, dem sie sich gegenübersahen.“15

Dieses Bündnis war der Preis, den die moderne Philosophie zu zahlen hatte, damit die libertas philosophandi nicht wieder „zu einem Instrument im Dienst des Glaubens“16 werde. Auch Strauss kehrt schließlich zu einem konservativen Verständnis des Liberalismus zurück, der wahrscheinlich diesem tief in den Knochen steckt. 2. Horkheimers Auffassung der politischen Ideengeschichte Horkheimer bricht mit diesen byzantinischen Kontroversen über den vermeintlichen emanzipatorischen Charakter des Liberalismus. In seinen Augen lassen sie den sozialen und politischen Kern des Problems vergessen. Grundsätzlich zeichnet Horkheimers Ansatz die wenig später erörterte Methodik der Kritischen Theorie vor, die darin besteht, sich die politische

14 Ebd., S. 21. 15 Heinrich Meier, Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die Intention des Philosophen. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1996, S. 26. 16 Ebd., S. 24.

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Ideengeschichte kritisch anzueignen und in eine Sozialphilosophie einzuschreiben. Die Bedeutung von Horkheimers Einführungsvorlesung für die politische Philosophie leuchtet freilich nicht auf den ersten Blick ein. Nichtsdestotrotz spiegeln diese akademischen Vorlesungen, die den ganzen 9. Band der Gesammelten Schriften in Anspruch nehmen, einen Generationsbruch wider, und zwar einen entschiedenen Bruch sowohl mit dem Kontext des Historismus und der Krise des Historismus als auch mit den Formen politischer Radikalisierung, die daraus entsprossen. 1927 hielt der kürzlich (1925) habilitierte und noch ganz junge Privatdozent Horkheimer – er war 32 Jahre alt – seine erste Vorlesung. Im Vorwort zollt er seinem Lehrer Hans Cornelius die schuldige Anerkennung, aber bei genauerem Hinsehen schlägt die Absicht der Vorlesung eine ganz andere Richtung ein als die treue Fortsetzung der etablierten philosophischen Tradition. Hier profiliert sich vielmehr schon in der Rechtfertigung des sozialphilosophischen Ansatzes und in den Reflexionen über den Nutzen der Philosophiegeschichte der künftige Spiritus rector des Instituts für Sozialforschung, das Horkheimer vier Jahre später aus der Taufe heben wird. Horkheimers Vorwort entwirft auf ca. 10 Seiten zugleich eine Bestandsaufnahme und eine Methodik. Das Verhältnis zum dominierenden Neukantianismus wird durch einen Seitenhieb abgefertigt, der Cornelius kaum verschont: Wenn nämlich das Vertrauen auf die Lehren der gegenwärtigen Meister nicht mehr genügt, dann scheine es geboten, auf ältere zurückzugreifen. Von den gegenwärtigen Meisterdenkern werden sogar Nikolai Hartmann, Rudolf Eucken und Paul Natorp beim Namen genannt. Im Anschluss an die Historismusdebatte argumentiert Horkheimer weiter, dass das Ungenügen der zeitgenössischen Philosophie freilich kein ausreichender Grund sei, um die Hinwendung zur Philosophiegeschichte zu rechtfertigen. Wenn nämlich Lehren der Vergangenheit denen der Gegenwart überlegen sein können, dann sehe es so aus, als ob es in der Philosophie keinen eigentlichen Fortschritt gäbe. Mehr noch: diese scheint dann dem Relativismus anheimgegeben. „Was muß das für eine Wissenschaft sein, so möchte man fragen, und so wird mancher von Ihnen wohl schon gefragt haben, in der der Bau der Ewigkeit mit den Zeiten ebenso wohl abnehmen wie wachsen kann.“ (GS 9, S. 14) Einige Zeilen weiter registriert Horkheimer das Ende der großen Systeme und in erster Linie des Hegelianismus: „Mit dem Zusammenbruch des letzten großen philosophischen Systems, des Systems von Hegel, der behauptet hat, daß die Philosophie Selbsterkenntnis

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des Absoluten und ihre Geschichte der selbständige Prozeß des Geistes auf dem Wege zur vollendeten Wahrheit sei – mit dem Zusammenbruch dieser letzten großen idealistischen Konstruktion ist der Glaube an die Selbständigkeit und Unbedingtheit der Philosophie im Sinne der großen Philosophen vernichtet worden.“ (GS 9, S. 17)17

In der Beschreibung der philosophischen Landschaft, wie sie die Horkheimer’sche Standortbestimmung darstellt, erkennt man unschwer die Koordinaten aller späteren Texte der Periode 1926-1940. Das Vorwort eröffnet nämlich eine doppelte Front: gegen die Metaphysik und gegen den Positivismus (in den wohl auch Hans Cornelius einbegriffen wird). Horkheimer warnt die Studenten vor dem Autoritätsdiskurs der Erkenntnistheorien, auch vor der fortschrittlichsten (etwa dem Neukantianismus), die sich, wenn man genauer hinsieht, als überlebte Vorurteile aus den Anfängen der positiven Wissenschaften erweisen: „Wo man von Erkenntnissen spricht und dabei von der positiven Wissenschaft als einer andersartigen oder schlechteren oder unphilosophischen Bemühung um Erkenntnis redet, da werden Sie fast ausschließlich Dogmen aus den Anfängen der positiven Wissenschaft vorfinden, die sich der Kontrolle durch die fortschrittlichsten wissenschaftlichen Erkenntnispositionen entziehen wollen.“ (GS 9, S. 16)

Die angemessene Antwort darauf ist die einer kritischen Theorie, die zugleich eine Geschichtsphilosophie und eine kritische Philosophiegeschichte wäre. Denn die einzige Erkenntnistheorie, die ihren Titel verdient, ist diejenige, die im „wirklichen Lebensprozess der Menschheit“ verankert ist: „Der wirkliche Lebensprozess der Menschheit, also die Art, wie die Menschen ihr Leben gewinnen und erhalten, ebenso die Formen des Verkehrs, die durch die jeweilige Art dieses wirklichen Lebensprozesses unmittelbar bedingt sind, müssen wir als das Ursprüngliche, als die eigentliche Geschichte ansehen und keineswegs die Ideen, die sich die Menschen von diesem ihrem wirklichen Sein jeweils gemacht haben.“ (GS 9, S. 17)

17 Vgl. auch GS 9, S. 20: „Während zu Hegels Zeiten die Geschichte der Philosophie als höchstes und sinnvollstes Studium galt, weil sie ja nichts anderes war, als der Prozeß der Selbsterkenntnis des unendlichen Geistes […], erklärt man heute, die Geschichte der Philosophie habe ganz und gar nichts von einer fortschreitenden Entwicklung an sich, vielmehr sei es eher umgekehrt […]. Nicht nur im Altertum, sondern auch am Anfange der Neuzeit finde man weit größere Philosophen als später […].“

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Insofern kann Philosophiegeschichte nicht in einer Erzählung bestehen, welche die „Lehren der berühmten Philosophen seit der Renaissance bis zu Kant oder Hegel“ (GS 9, S. 19) Revue passieren ließe, sondern sie soll „auf Grund einer genauen Erforschung der Geschichte des gesellschaftlichen Lebensprozesses, also von den untersten Stufen aus, dar[…]stellen, wie die herrschenden philosophischen Anschauungen aus diesem Prozesse – vielleicht aus jeweils weit zurückliegenden Phasen – hervorgegangen sind“ (GS 9, S. 18). Diese Methodik einer „Sozialphilosophie der Philosophiegeschichte“ wird abschließend in unmissverständlicher Anlehnung an Marx’ Kritik der politischen Ökonomie in der fast dogmatischen These zusammengefasst: „Man erkennt, daß die Produktion der Ideen, der Vorstellungen juristischer, politischer, moralischer, religiöser, metaphysischer Art Ausfluß des materiellen Verkehrs der wirklichen Menschen und in ihr reales Verhalten verflochten ist.“ (GS 9, S. 22)

Dabei ist, nachdem eine bloße „Herzählung der Lehren“ ausdrücklich verworfen wurde, die Reihenfolge, in der sie behandelt werden, nicht belanglos. Locke und die Aufklärung werden als eine logische Folge behandelt. Dann kehrt Horkheimer zu Berkeley und Hume zurück. Er wendet auf sie das Deutungsschema des „Positivismus“ an, das er am Ende des Abschnitts über die Aufklärung („Differenz von Aufklärung und Positivismus“, GS 9, S. 399f.) erörtert hat. Dieses Schema verdient es, einen Augenblick genauer betrachtet zu werden. Man weiß ja, dass der Vorwurf des Positivismus in der Kritischen Theorie, sowohl in ihrer kämpferischen Behauptungsphase als auch später – und bis heute –, zu einer fast schlagwortartigen Losung geworden ist, die ihren Höhepunkt am Anfang der 1960er Jahre im sog. „Positivismusstreit“ zwischen den Vertretern der nunmehr etablierten Kritischen Theorie und denjenigen des „kritischen Rationalismus“ von Karl Popper erreicht hat. Wir können ihn hier gleichsam in seiner Geburtsphase beobachten. Anscheinend ist Horkheimer um einen differenzierten Gebrauch des Positivismusbegriffs bemüht. Im eigentlichen Sinn des Wortes sollte – so meint er – die Bezeichnung „Positivismus“ nur auf jene Theorien bezogen werden, die sich bei Comte, bei Stuart Mill oder bei von ihnen ausgehenden Denkern mit „Fachfragen“, also einzelnen Erkenntnisbereichen, beschäftigen.18 So verstanden hat sie eine durchaus sachliche, ja positive Be-

18 Vgl. GS 9, S. 400.

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deutung. Sie erscheint ihm als unangebracht, wenn sie auf Vertreter der Aufklärung oder der Lumières zielt, die metaphysische Erklärungen verwerfen und die Erkenntnis „auf die wissenschaftliche Erforschung gesetzmäßiger Beziehungen in der psychischen oder physischen Natur“ (GS 9, S. 400) eingeschränkt wissen wollen. Durch dieses Plädoyer für einen möglichst strengen Gebrauch der ideengeschichtlichen Bezeichnungen soll man sich freilich nicht irreführen lassen. Wenn es Anfang der 1960er Jahre noch in Kraft gewesen wäre, hätte es zweifelsohne überflüssige Kontroversen erspart. Dass man es aber in Klammern setzte, entsprach selbstverständlich einer bewussten Strategie des „Klassenkampfs in der Theorie“ – wie Althusser gesagt hätte – und verlieh der Auseinandersetzung fast den Charakter eines Kampfes der Weltanschauungen. Was nun Horkheimer schon um 1930 herum bekämpft, ist gerade der unfruchtbare Gegensatz des „Positivismus“ und der Rückkehr zu metaphysischen Konzepten. Es geht ihm in erster Linie darum, seinen methodischen Vorschlag gegen das geltend zu machen, was er 1937 in seinem programmatischen Aufsatz als die Aporie der „traditionellen Theorie“ darlegen wird. Wenn man also diese Frontlinien klar erfasst, dann wird man gewahr, dass sich in den Vorlesungen des Jahres 1927 schon die Losungen abzeichnen, die den Arbeiten des Instituts für Sozialforschung zugrundeliegen werden, nachdem Max Horkheimer zu dessen Direktor 1931 ernannt wurde – in erster Linie natürlich die Abneigung gegen den Historismus und das Bekenntnis zu einer Sozialphilosophie, die ihren marxistischen Ursprung nicht verbergen kann. Denn der junge Horkheimer führt sich sehr „materialistisch“ auf. Im programmatischen Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ (1937) zögert er nicht zu schreiben, dass mit der zunehmenden Vernichtung des Individuums die Theorie „gleichsam vulgärmaterialistischer“19 ansetzen muss. Eine Geste, die er sich beim jungen Marx leiht. Es gibt sogar eine Art von „Beweis durch den Pudding“ (Engels): Was eigentlich zählt, ist dass die Theorien „Waffen im wirklichen Kampfe“ werden (GS 9, S. 399).

19 Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt a.M.: Insel, 1970, S. 52.

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3. Horkheimers Spinoza Diese bewusst „grobschlächtige“ Herangehensweise bewirkt interessante Interpretationseffekte, vor allem in Bezug auf das, was uns hier in erster Linie angeht, nämlich Spinoza. Von vorne herein schlägt sie eine theologisch-politische Deutung aus. Spinoza ist geradezu das Gegenteil eines Theologen: Er ist ein bürgerlicher Ideologe. Vom Theologisch-politischen Traktat bietet Max Horkheimer eine streng „marxistische“ Lektüre an (wiewohl er das nicht so direkt ausdrückt). Unmissverständlich ist der Bezug auf die Grundsätze des Historischen Materialismus und auf die Auffassung der Verhältnisse zwischen Basis und Überbau. Was nämlich die Kritische Theorie von der traditionellen Theorie bzw. von der „bürgerlichen Philosophie“, wie Horkheimer sie 1937 auch nennt, unterscheidet, „besteht in der Konstruktion der geschichtlichen Gegenwart“20, d.h. darin, dass sie den materiellen und ideologischen Zusammenhang der von ihr behandelten Epochen rekonstruiert und dabei insbesondere den „Einfluß der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Struktur der Theorie berücksichtigt“.21 Wenn also Horkheimer in seiner Vorlesung der traditionellen Revue der großen Philosophen ihren Tribut zollt, dann präzisiert er sofort, schon in dem Kapitel über Machiavelli, dass dieser nur eine exemplarische Gestalt ist: „Wenn von Machiavelli als einzelner Persönlichkeit, die für jene Zeit kennzeichnend ist, zuerst die Rede war, so geschah dies, um das Bild der Epoche etwas bestimmter hervorzurufen, als es durch die allgemeinen Bemerkungen möglich war. Die Lehre des Machiavelli ist durchaus keine Einzelerscheinung geblieben.“ (GS 9, S. 37)

Indem sie immer das Ganze der historischen Wirklichkeit ins Auge fasst und zugleich ihrer Rekonstruktion von vorne herein die Hypothese, wenn auch nicht gleich die These, des Untergangs des bürgerlichen Individuums zugrundelegt, widmet sich die Horkheimer’sche Kritische Theorie dem Studium der Verhältnisse zwischen dem Individuum und dem Staat. In diesem Sinn besteht der Unterschied zwischen Machiavelli und Hobbes in dem Umstand, dass Ersterer seine ganze politische Theorie auf „den ewig gleichen Trieben und Leidenschaften“22 aufbaut. Hobbes’ Modernität hat, damit verglichen, gerade darin bestanden, das Individuum als solches an20 Ebd., S. 31. 21 Ebd., S. 53. 22 Die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930), in: GS 2, S. 199.

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zuerkennen und parallel dazu den Übergang zu einer Physik der zwischenmenschlichen Beziehungen zu vollziehen.23 Die grundlegende These der Vorlesungen, die man 1930 in Die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie wiederfindet, ist die folgende: Die ganze Geschichte des abendländischen Denkens ist von der Selbstbehauptung des Liberalismus getragen, und zwar in jener archetypischen doppelten Form, die man des Öfteren zu vergessen vortäuscht, nämlich als unlösliche Verbindung der ökonomischen Handlungsfreiheit mit der Stiftung eines starken Staats – „irgendeiner starken Herrschaftsgewalt“.24 Horkheimer sagt sogar, dass Hobbes die „Form des Staates“ gleichgültig war und dass er sie für „relativ nebensächlich“ gegenüber der Existenz einer faktischen Herrschaftsgewalt hielt.25 „Als Philosoph war er Diener der starken, jeweils am Ruder befindlichen Regierung, deren Macht zu festigen ihm höchste Pflicht und Aufgabe schien.“26 In dieser Hinsicht stellt Machiavelli die erste, Hobbes die zweite Etappe dar und Spinoza reiht sich in diese teleologische Entwicklung ein, die Horkheimer bis ins 19. Jahrhundert und bis zu den inneren Widersprüchen der „bürgerlichen Philosophie“ zu verlängern nicht zögert, da ja Fichte und Hegel, jeder auf eigene Weise, beide Machiavellis Erben sind: „Fichte, der bürgerliche Freiheit und Gesinnung forderte, schrieb eine Verteidigungsschrift für Machiavelli, und Hegel, in dessen Philosophie das im vormärzlichen Deutschland überall in seiner wirtschaftlichen und politischen Entfaltung gehemmte Bürgertum seinen deutlichen ideellen Ausdruck fand, stimmt nicht bloß sachlich in vielen Gedanken mit Machiavelli überein, sondern hat ihn auch selbst aufs höchste geschätzt.“27

Wie er es für alle anderen Autoren seines Corpus der politischen Ideengeschichte tut, führt Horkheimer den Vergleich zwischen Hobbes und Spinoza systematisch durch, vor allem im Hinblick auf die restlose Unterwerfung unter die Autorität des Staats: „Es spricht aus Spinoza ebenso wie aus Hobbes das absolute Vertrauen in die freie und von aller jenseitigen Autorität entbundene selbständige Vernunft.“ (GS 9, S. 211) Politisch haben nach ihm Spinoza und Hobbes grundsätzlich dieselbe Position vertreten: Die Religion kann zwar nützlich sein, damit die Menschen ein ethisch

23 24 25 26 27

Vgl. ebd., S. 210ff. Ebd., S. 206. Ebd. Ebd., S. 206f. Ebd., S. 205.

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anständiges Leben führen, aber im Endeffekt ist es das Wohl des Staates, das über das Maß der religiösen Freiheit entscheidet: „Und dies ist nun die politische Absicht des Traktats, eine reinliche Scheidung zwischen Theologie und Politik, zwischen Kirche und Staat durchzuführen. In der Lösung ist Spinoza ganz der Schüler des Hobbes. Er hat zwar nicht im Theologisch-politischen Traktat selbst, sondern in demjenigen über den Staat, im Tractatus politicus, die Konsequenz gezogen, daß der Staat sogar den äußeren Kult bestimmen solle.“ (S. 211f.)

Das Hauptmotiv ist, dass Spinoza nach Horkheimer das theokratische Verhältnis zwischen Religion und Staat umkehrt: Erst durch den Staat übt Gott selbst seine Herrschaft über die Menschen aus; ohne die Männer, die den Staat führen, ist er ohnmächtig; also ist die Religion selbst dem Staat faktisch unterworfen und soll ihm untergeordnet werden. Weil das Wohl des Staates der oberste Wert ist, sollen sogar alle religiösen Gebote der Interpretation durch die Staatsoberhäupter unterzogen werden. Horkheimer zitiert diesbezüglich eine sehr lange Passage aus dem Theologisch-politischen Traktat, die sich über drei Seiten hinzieht und aus welcher ich hier nur folgende Theoreme entnehme: „daß Gott kein besonderes Reich unter den Menschen hat, es sei denn vermittels derer, die die Regierung innehaben […], so hat folglich auch niemand das Recht, einem anderen Hülfe zu leisten, wenn es einem dritten, und am allerwenigsten, wenn es dem ganzen Staate Schaden bringt. […] Das alles zeigt ganz offenbar, daß die Religion sich immer nach dem Interesse des Staates gerichtet hat.“ (GS 9, S. 212-214)

Allerdings gelte dieser Vorrang des Staatsinteresses nur in den Grenzen der Staatserhaltung. Er solle der Toleranz weichen in allen Angelegenheiten, die den Staat nicht unmittelbar in Frage stellen. Denn Religion und Philosophie sind private Angelegenheiten. Ein Gleichgewicht, das sich freilich nur solange aufrechterhalten lässt, wie diejenigen, die die Staatsgewalt innehaben, auch die vorherrschenden sozialen und politischen Interessen vertreten, so dass die Denk- und Handlungsfreiheit sowieso ihrem eigenen Interesse entspricht. Mit dieser Bemerkung führt Horkheimer den Standpunkt der „Sozialphilosophie“ wieder ein. Man soll ja immer fragen, welchen Interessen der Staat dient – „wessen Staat er ist“ (GS 9, S. 215). Was Hobbes’ Zuneigung zur Monarchie von Spinozas Befürwortung des Parlamentarismus (eines Parlaments, in dem freilich die Patrizier dominieren) unterscheidet, hängt von der unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Entwicklung des englischen und des holländischen Gemeinwesens ab. „Hobbes ist der Sohn eines Landes, in dem zu seinen Lebzeiten die

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Grundlagen zu einer ungehemmten Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft gelegt wurden.“28 In seinen Vorlesungen von 1927 erarbeitet also Max Horkheimer die Grundgedanken aller seiner sozialphilosophischen Essais der folgenden Jahre – von den Anfängen der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930) bis hin zu „Vernunft und Selbsterhaltung“ (1942). Schon aus den Vorlesungen geht die dialektische Bilanz hervor, dass die „bürgerliche Philosophie“ zugleich positive und negative Effekte gezeitigt hat. Alle Aufsätze der dreißiger Jahre widmen sich der Gewichtung dieser Dialektik der bürgerlichen Aufklärung. Erst die Dialektik der Aufklärung wird einen Bruch, oder vielmehr eine Umkehrung vollziehen. In den Anfängen der bürgerlichen Geschichtsphilosophie ist von einer Infragestellung des „modernen“ Charakters des liberalen Konservativismus nirgendwo die Rede. Dennoch enthält die Einführung der sozialen Bedingtheit des Politischen kritischen Zündstoff. Horkheimer weist darauf hin, dass Hobbes sich nicht an den Grundsatz des theologischen Naturrechts hält, nach welchem alle Menschen, egal ob Herren oder Sklaven, als Gottes Kinder ebenbürtig sind, sondern die grundsätzliche Willensfreiheit mit einer Rücksicht auf die eigentlichen Handlungsbedingungen in der „gesellschaftlichen Situation“ substituiert.29 Die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie radikalisieren somit die Interpretation des Hobbes-Kapitels von 1927 und geben sogar der Hobbes’schen Auffassung der Souveränität eine radikal demokratische Wendung. Auch die Spinoza-Interpretation weist eine ähnliche Akzentverschiebung auf. Indem er in seinen Vorlesungen betont, dass es bei Spinoza „auf die Politik, einzig auf die Politik“ ankommt (GS 9, S. 206), tritt Horkheimer in unmittelbare Konkurrenz sowohl mit den damaligen liberalen Interpretationen wie auch mit Carl Schmitt. Umso merkwürdiger ist das totale Fehlen irgendeines Anklangs an diese. Denn man hat es unmissverständlicher Weise mit einer ausgeprägten Gegenoffensive zu tun: „Was Spinoza in der Tat im Theologisch-politischen Traktat erweisen wollte, war, daß die Religion sich nirgends die Herrschaft über die Vernunft anmaßen dürfe. [...] Der Traktat ist also eine durchaus naturrechtliche Schrift, in der die Abgrenzung von Religion und Weltlichkeit vorgenommen wird in der Absicht, der letzteren das unbedingte Übergewicht in allen entscheidenden Fragen zu sichern.“ (GS 9, 206f.)

28 Ebd. 29 Ebd., S. 213.

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Eine antitheokratische Gegenoffensive, die umso interessanter ist, als sie mit derjenigen übereinstimmt, die Walter Benjamin in seinem frühen „Theologisch-politischen Fragment“ (wie Adorno es nachträglich ganz triftig genannt hat) entwickelt hat.30 Somit schreibt Horkheimer Spinoza in eine Tradition wieder ein, die zur Bibelkritik des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus zu David Friedrich Strauß hinführt.31 „Die Erkenntnis des Menschen und nicht das Wort der Bibel entscheidet über die Wahrheit.“ (ebd., S. 210) Indem so der Bogen zwischen Spinoza und dem Junghegelianismus geschlossen wird, wird Spinoza zugleich als Vorläufer einer anderen liberalen Tradition gerettet.

30 Vgl. hierzu Gérard Raulet, Le caractère destructeur. Esthétique, théologie et politique chez Walter Benjamin. Paris: Aubier, 1997, S. 187-194. Siehe auch „Eine geheime Verabredung. Über Walter Benjamins Umgang mit Theologie“, in: Modern Language Notes, Baltimore: The Johns Hopkins University Press, vol. 127, no. 3, April 2012, S. 625-644. 31 Vgl. die Seiten 208-210.

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Eine „andere“ Dialektik der Aufklärung? Rousseau-Lektüren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Alfons Söllner

Ziel dieses Beitrags ist weder eine vollständige Auflistung der RousseauRezeption im 20. Jahrhundert, die nur ein chaotisches Sammelsurium ergeben könnte, noch das rein philologische Referat verschiedener Rousseau-Lektüren, vielmehr soll nach der Bedeutung der Rousseau-Rezeption für die längerfristige Veränderung des historischen Bewusstseins im 20. Jahrhundert gefragt werden. Dabei gehe ich davon aus, dass nicht nur in der professionellen Ideengeschichtsschreibung, sondern auch in den angrenzenden Disziplinen und Wissensgebieten ein signifikantes Material greifbar wird, um Ausmaß und Richtung der Veränderung des historischen Horizontes vermessen zu können. Ich werde mich auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrieren, d.h. auf die Jahre zwischen 1914 und 1945/50 und mich von dem Gedanken leiten lassen, dass das von Europa und speziell von Deutschland ausgehende Katastrophengeschehen so etwas wie einen Denkzwang hervorgerufen hat, der „das Politische“ als solches, genauer: das totalitäre Potenzial der Politik immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt hat. Diese pejorative Politisierungstendenz, wie man es nennen könnte, bewirkte mehr als eine Neuakzentuierung von Philosophie und Wissenschaft, sie war geradezu selber die Negation der hintergründigen Gewissheiten, von denen das ausgehende 19. Jahrhundert geprägt war. Wenn es ein singuläres Werk gibt, in dem dieser Gedanke Gestalt angenommen und wirkmächtig geworden ist, dann ist es die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gemeinsam verfasste Dialektik der Aufklärung, die hier als der geistesgeschichtlicher Abschluss einer ganzen Epoche verstanden wird. Diese Fragmentensammlung, die im amerikanischen Exil entstand und 1947 im Schattenreich des geschlagenen Europas veröffentlicht wurde, war einerseits eine gleichsam rückwärts gewandte Programmschrift, eine schmerzliche Selbstnegation der ursprünglichen Hoffnungen des Horkheimer-Kreises, andererseits aber auch so etwas wie ein

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archäologischer Text, in dem die Prämissen der europäischen Aufklärung in einem ganz allgemeinen Sinn zur Disposition gestellt wurden. Die Frage ist sicherlich spekulativ und dennoch aufschlussreich: Wie hält es die Dialektik der Aufklärung, deren geschichtsphilosophische Generalthese zu bekannt ist, um hier wiederholt zu werden1, eigentlich mit ihrer historischen Vorlage? Oder: Hätte die Gleichsetzung von instrumenteller Vernunft und totalitärer Herrschaft bzw. die Identifizierung von Mythos und Aufklärung nicht durch ein differenziertes Verständnis der historischen Aufklärung gebrochen werden müssen – statt, wie geschehen, mit dem Mut der Verzweiflung zur wuchtigen Weltgeschichte des Verfalls generalisiert zu werden? Und wenn schon Aufklärung: Weshalb begnügte sich der mit Siebenmeilenstiefeln zurückgelegte Gang durch die europäische Ideengeschichte mit der bösen Provokation, die in der Engführung von Kants moralischem Rigorismus und de Sades Ästhetik der Grausamkeit steckte? Noch spekulativer gefragt, weil Rousseau in der Dialektik der Aufklärung gar nicht erwähnt wird: Wie hätte sich die Dialektik der Aufklärung verändert, wenn Rousseaus Geschichtsphilosophie ernst genommen worden wäre, die bekanntlich selber eine Kritik des Fortschrittsglaubens enthielt? Blickt man von der Rhetorik des Untergangs, wie sie aus der Dialektik der Aufklärung spricht, zurück auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, so dominiert dort noch ein positiveres Bild von der Aufklärung. Den Test darauf macht das erste Kapitel mit der Frage, wie im Kontext des sog. Neukantianismus mit der Aufklärung und speziell mit Rousseau umgegangen wurde. Das zweite Kapitel behandelt die Inkubationsphase der Kritischen Theorie, deren Nähe zum Neukantianismus bislang nicht beachtet wurde, und lässt erkennen, dass sich das Rousseau-Bild wie das der Aufklärung bereits deutlich eintrübt – beider vollständige „Entsorgung“, wie man es nennen könnte, ist dann erst das Werk der 1940er Jahre, zu der das dritte Kapitel einen Kontrapunkt setzen möchte: Es muss schon erstaunen, dass ausgerechnet die von Leo Strauss in Szene gesetzte Antikisierung des politischen Philosophierens wieder eine neue und positive Lektüre von Rousseau ermöglichte. Es bedeutet sicherlich ein Risiko, wenn man Rousseau sozusagen als Sonde benützt, um sich in einem so diffusen wie dynamischen Feld wie 1 Die Literatur zur „Dialektik der Aufklärung“ ist Legion, z.B. Manfred Gangl / Gérard Raulet (Hrsg.), Jenseits instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1998.

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der politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts zu orientieren. Auf der andern Seite ist es gerade die Widersprüchlichkeit und damit die Interpretationsbedürftigkeit seines Werkes, die seine Rezeption oft so dicht und gleichzeitig überraschend macht, dass sich interessante Schlussfolgerungen auf die Transformation des historischen Horizontes ergeben. Ein gewisses Korrektiv wird sich daraus ergeben, dass mit Neukantianismus, Kritischer Theorie und der Renaissance der politischen Philosophie drei Generationen von mehr oder weniger schulförmigen Wissensformationen aufgerufen werden, deren Abfolge von einiger Signifikanz für die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts ist. Und sofern Rousseau nicht nur für sich selbst steht, sondern als Repräsentant – oder umgekehrt als Dissident – des 18. Jahrhunderts gesehen wird, zeigt sich eine Achse, um die sich die historische Horizontverschiebung gleichsam dreht. 1. Rousseau-Lektüren des Neukantianismus Orientiert man sich an den Reanimierungsversuchen, die ein so dröges Geschäft wie die akademische Philosophiegeschichte immer noch am Leben erhält, dann erweist sich der sog. Neukantianismus als ein ausgesprochenes Stiefkind des aktuellen Geschichtsbewusstseins. Dabei war diese Denkrichtung bei aller Verschiedenheit ihrer Leitfiguren und der Fraktionierung ihrer jeweiligen Anhängerschaft ohne Zweifel die führende „Schulphilosophie“ des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie nahm über zwei bis drei Generationen hinweg eine hegemoniale Stellung in der deutschen akademischen Philosophie ein und dominierte damit die philosophischen Fakultäten sowie – nicht zu vergessen – die humanistischen Gymnasien. Sie löste die überragende Stellung Hegels in der Mitte des Jahrhunderts ab, die sich in den feindlichen Brüdern des Links- und Rechtshegelianismus noch fortgesetzt hatte. Als sichtbarer Markstein für diesen Umbruch wird in der Regel Otto Liebmanns Buch Kant und die Epigonen zitiert, das zuerst 1865 erschien und in dem jedes der gegenwartskritischen Kapitel refrainartig in den Schlachtruf ausklang: „Zurück zu Kant!“2 Bekannt ist auch, dass dieses Programm rasch vorwärts wirkte und sich in zwei verschiedene Schulzu-

2 Otto Liebmann, Kant und die Epigonen, Stuttgart: Schober, 1865, Berlin: Reuther & Reichard, 1912.

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sammenhänge ausdifferenzierte: in die sog. Marburger Schule mit Paul Natorp und Hermann Cohen einerseits, in die Heidelberger Schule mit Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert andererseits. Für beide Richtungen war typisch, dass sie ihre Fragestellungen von der Erkenntnis- auf die Wissenschaftstheorie verlagerten, dafür aber auf Kants drei Kritiken zurückgriffen und damit enormen Einfluss bis hinein in den Ersten Weltkrieg nahmen.3 Nicht zu vergessen und für unsere Fragestellung von Bedeutung ist jedoch, dass diese Wirkung von Anfang an durch anspruchsvolle und weit ausgreifende philosophiegeschichtliche Studien untermauert war, sie reichte über den engeren Schulzusammenhang hinaus und behielt bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein einen diffusen Magneteffekt auf das selbstbewusste Milieu der „German mandarins“ (Fritz Ringer). Sie waren entweder in demonstrativer Form auf Kant hin geschrieben oder verblieben – was für die aktuelle Ausdifferenzierung der Wissenschaften noch mehr bedeutete – unter den Auspizien des Kantischen Kritizismus. Orientiert man sich in diesem genuin historiographischen Diskursfeld, so zeigt sich durchgehend eine erstaunlich breite und lebhafte Auseinandersetzung mit Rousseau und mit der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, die freilich immer im Windschatten der Kantlektüre verbleibt. Das erste Beispiel dafür ist zugleich die bekannteste philosophiegeschichtliche Leistung des Neukantianismus insgesamt: Wilhelm Windelbands (1848-1915) zweibändige Geschichte der neueren Philosophie war zuerst im Jahr 1878 erschienen und blieb mit vielen Auflagen bis tief in das 20. Jahrhundert hinein präsent.4 Dieses voluminöse Werk entwirft einen kühnen Bogen von der nachmittelalterlichen Philosophie bis in die Gegenwart, unterteilt ihre Entwicklung souverän in die Phase vor und die Phase nach Kant und liefert aus diesem Schwung heraus ein sehr differenziertes Kapitel über die französische Aufklärungsepoche, das – vorbildgebend für viele spätere, auch quer dazu liegende Philosophiehistoriker – mit einer ausführlichen Rousseau-Interpretation endet.5 Damit ist eine ebenso klare wie generelle Perspektive vorgegeben: Zwar ist durchaus eine gewis-

3 Zum größeren Zusammenhang vgl. Ernst Wolfgang Orth / Helmut Holzhey (Hrsg.), Neukantianismus – Perspektiven und Probleme. Studien zum Neukantianismus, Band 1, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994. 4 Wilhelm Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, Erster Band, 5. durchgesehene Auflage, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1911. 5 Ebd., § 46: Jean Jacques Rousseau, S. 435-447.

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se Streubreite in der Interpretation nicht ausgeschlossen, die auch verschiedenen politischen Tendenzen Raum lassen kann, aber wichtig wird Rousseau vor allem dadurch, dass er – positiv oder negativ – Kant vorbereitet! Bei Windelband, den man den Ahnherrn der neukantianischen Geschichtsschreibung nennen kann, liest sich das so, wobei die hier vorgelegte thesenhafte Zusammenfassung nicht vergessen machen darf, dass sich Windelband nicht nur ausführlich, sondern auch textnah mit Rousseau auseinandersetzt: So sehr Rousseau in erkenntnistheoretischer Hinsicht als Vertreter des Aufklärungsdenkens anzusehen ist, bleibt seine Argumentationsweise philosophisch doch eher diffus und metaphorisch, woraus gefolgert wird, dass er hauptsächlich als Person interessant ist. Das bedeutet nicht, dass Rousseau kein erkennbares politisches Profil besitzt, dieses ist vielmehr umgekehrt von großer Eindeutigkeit, ja sogar scharf geschnitten sowohl mit Bezug auf die politische Situation seiner Zeit als auch auf die allgemeine, die größere Perspektive: Nicht nur hat er den „Bruch mit der Geschichte“6 vorweggenommen, vielmehr steht er für eine konkrete zeitgeschichtliche Wirkung: „Rousseau ist der Philosoph der Revolution.“7 Daraus folgt auf der einen Seite eine grundsätzliche Opposition gegenüber dem Ancien Regime oder positiv formuliert: „Rousseaus Staatsideal ist absolut republikanisch und demokratisch“8, auf der anderen Seite vollendet er mit dieser politischen Tendenz nur, was Windelband den „wesentlichen Fehler der Philosophie der Aufklärungszeit (nennt): ihre unhistorische Denkungsart.“9 Während Wilhelm Windelband ganz den Typus des seriösen, d.h. letztlich apolitischen deutschen Philosophieprofessors verkörperte, wurde der etwas jüngere Karl Vorländer (1860-1928) bis in die 1920er Jahre hinein einer der populärsten Vertreter des Neukantianismus. Das hatte sowohl mit dem Interesse, aus dem akademischen Elfenbeinturm auszubrechen, als auch mit einer gar nicht verheimlichten politischen Tendenz zu tun: Vorländers Hauptinteresse bestand darin, die Kantische Moralphilosophie als historische und logische Grundlage des Sozialismus zu erweisen, weshalb er auch der „rote Neukantianer“ genannt wurde. Seine Rousseau-Lektüre bleibt gewissermaßen in diesen Rahmen eingespannt, aber sie zeigt doch

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Ebd., S. 446. Ebd., S. 446 und S. 437. Ebd., S. 443. Ebd., S. 446.

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einige überraschende Akzente, wie schon seine einbändige Geschichte der Philosophie – Antike, Mittelalter, Neuzeit von 1903 zeigt, die ansonsten eher den Charakter eines historischen Lexikons hat.10 In den einschlägigen Kapiteln fühlt sich Vorländer der Rousseau-Lektüre von Windelband verpflichtet, spitzt dessen Interpretation jedoch von vorne herein zu, indem einerseits der konventionelle Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand stark gemacht, andererseits daraus Schlußfolgerungen für die Politikauffassung gezogen werden. Am Anfang steht eine schroffe These: „Rousseau ist kein Aufklärer, sondern ein Gegner der Aufklärung.“11 Nicht nur die Erziehungslehre, wie sie im Émile romanhaft vorgeführt wird, letztlich auf einer „Natur- und Gefühlsreligion“, vielmehr mache Rousseau ganz generell das Sentiment gegen die Vernunft stark. Für die Staatskonzeption, die durchaus als wichtig empfunden wird, hat dies die problematische Folge, dass auch sie nur auf dem Gefühl gegründet sei, wenngleich auf dem fortschrittlichen von „Freiheit und Gleichheit“.12 Diese ambivalente Einschätzung rührt auch daher, dass bei Vorländer die denkgeschichtliche Perspektive von Rousseau zu Kant zurück und die von Kant und Marx in den Vordergrund tritt: damit erscheint Rousseaus Denken als rückständig und wird durch die historische Entwicklung gleichsam überholt. Wie es „nicht angebracht ist, ihn als Vorläufer des modernen Sozialismus zu betrachten“, so gibt es bei Rousseau ein generelles „Schwanken zwischen Individualismus und Staatsallmacht“, und auch die Einführung der Idee der „Zivilreligion“, die manche als Auflösung dieser Indifferenz ansehen möchten, lässt Vorländer nicht gelten; es bleibt dabei, „dass Rousseaus Freiheitsstaat im letzten Grund doch despotisch ist“.13 Die Frage nach der Wirkungsgeschichte Rousseaus wird in den 1920er Jahren dringlicher: In dem Buch „Von Machiavelli bis Lenin“ geht es Vorländer von vorne herein und ausschließlich um den Zusammenhang „Rousseau und die französische Revolution“14: Das bedeutet die Unterwerfung der beiden Ströme, der „vernunftmäßigen und der gefühlsmäßigen“ unter eine politische Perspektive. Solange die Ebene des politischen Denkens nicht verlassen wird, sieht Vorländer den Contrat Social jetzt auf

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Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie, Leipzig: Meiner, 1903, § 26 und § 27. Ebd., § 26,1. Ebd., § 26,3. Ebd. Karl Vorländer, Von Machiavelli bis Lenin. Neuzeitliche Staats- und Gesellschaftstheorien, Leipzig: Quelle & Meyer, 1926, S. 120-141.

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eine demokratische Zielsetzung festgelegt, aber wieder stößt sich Vorländer an der prominenten Stellung der Religion in Rousseaus Staatskonstruktion. Die abschließende Frage: „Ist Rousseau zu den Individualisten oder den Sozialisten zu zählen?“ (128) wird, weil Rousseau sich nicht eindeutig für die Abschaffung des Privateigentums positioniert hat, so entschieden: „Der Individualismus trägt, trotz alles gegenteiligen Anscheins, den Sieg davon.“ Das aber ändert nichts an der primären Wirkungsgeschichte: „[...] seine politische Hauptwirkung war doch – die französische Revolution [...]. Das aber bedeutete Revolution.“15 Und so zieht Vorländer eine direkte Linie zu Siéyès, Saint-Just und Condorcet, d.h. den Theoretikern des dritten Standes, nicht ohne abschließend auf radikalere, die kommunistische Fraktion, auf Morelly, Mably und Babeuf zu verweisen, wobei offen bleibt, ob auch zu ihnen ein direktes Kontinuum vorliegt oder nicht. Trotzdem denkt man bei dieser Schlusspointe natürlich sofort an die genealogische Festlegung Rousseaus auf eine totalitäre Zukunft, wie sie nach 1945 vor allem durch Jacob Talmon prominent geworden ist. Man kann sich darüber streiten, ob der noch einmal deutlich jüngere Siegfried Marck (1889-1957) tatsächlich noch in den Kontext des Neukantianismus gehört, eine direkte Verbindung gibt es immerhin über seinen Breslauer Lehrer Richard Hönigswald. Er ist aber für unser Thema unbedingt einschlägig, weil er 1922 in den Kant-Studien, die lange Zeit so etwas wie die „Hauszeitschrift“ des Neukantianismus waren, einen Aufsatz über die „Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie“ publizierte.16 Diese Schrift ist deswegen besonders signifikant, weil sie eine späte, aber geradezu kristallin-rein aus dem Kantischen Kritizismus deduzierte Rousseau-Lektüre vorlegt. Sie beginnt typisch mit der Unterscheidung der kritischen von der dogmatischen Intention, nimmt die dazu passende Trennung der Geltungs- von der Genesisfrage vor und behauptet den unbedingten Vorrang des „methodologischen Ansatzpunktes zur Konstituierung des Gesellschaftsbegriffs“.17 Daraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen, von denen die wichtigsten die folgenden sind: Marck sieht bei Rousseau eine scharfe Unterordnung des Naturzustandes unter die „apriorische Vernunftidee“ gegeben, aus der zuallererst eine anspruchsvolle Konzeption des Naturrechts ent-

15 Ebd., S. 128 und S. 130. 16 Siegfried Marck, „Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie“, Kant-Studien, 27/1922, S. 165-178. 17 Ebd., S. 166.

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springen kann. Daraus folgt mit systemimmanenter Notwendigkeit: „Der Rousseausche Freiheitsbegriff liegt in der Richtung des Kantischen Autonomiegedankens...“18 Nicht weniger rigoros, d.h. durch die Inszenierung eines „vertragstheoretischen Monismus“19 wird dann der Gesellschaftsvertrags in Richtung der „reinen und allgemeingültigen Idee des Staates“20 gelesen, der einerseits eine reine Rechtsordnung, andererseits aber Geschlossenheit und Unteilbarkeit etabliert (volonté générale). Daraus schließlich ergibt sich „die reine regulative Idee der Souveränität“21, die aber nicht im Sinne des tradierten Rechtspositivismus zu verstehen ist, der, wie Marck meint, auf logischen Fehlschlüssen beruhte: Alles positive Recht entspringt zwar aus der Staatssouveränität, aber diese untersteht noch einmal der apriorischen Konstruktion der Volkssouveränität, wobei jedoch – und das ist ein neuer Zungenschlag – Rousseaus bekannte Ablehnung des Repräsentationsgedankens dazu genutzt wird, die republikanische Staatsidee noch einmal von der demokratischen Regierungsform zu unterscheiden. Die Argumentation Marcks ist so anspruchsvoll wie abstrakt und endet in der Diskussion der Frage, ob und wie das Mehrheitsprinzip (als die Normalform der demokratischen Willensbildung in modernen Flächenstaaten) mit der Kantianischen Rousseau-Lektüre in Einklang zu bringen ist: Gerade die Unterscheidung der volonté générale von der volonté de tous diene bei Rousseau dazu, resümiert Marck, den empirischen vom „wahren“ Volkswillen zu unterscheiden und damit einen „Majoritätsdespotismus“ zu verhindern. Daher sei jede Abstimmung so etwas wie ein „staatsrechtliches Experiment“, das unter dem Vorbehalt des „Gemeinwohls“ stehe, das seinerseits nur ein kritisches Prinzip oder eine Fiktion sei und daher keine empirischen Aussagen über den „Wahrheitsgehalt“ der jeweiligen Mehrheitsentscheidung erlaube. Dieser Gedankengang ist offensichtlich – wir befinden uns in der krisenhaften Anfangsphase der Weimarer Republik – ein Versuch, Rousseau für die politische Gegenwart nützlich zu machen, gleichzeitig aber vollführt er eine seltsame Gedankenpirouette, mittels derer sich der neukantianisch Staats- und Rechtsdenker

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Ebd., S. 167 und 168. Ebd., S. 169. Ebd., S. 171. Ebd., S. 169-172.

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aus den politischen Kämpfen der Gegenwart auch wieder herausziehen kann.22 2. Rousseau in der Inkubationszeit der Frankfurter Schule Dass die später so genannte Frankfurter Schule seit Anfang der 1930er Jahre ihre charakteristische Gestalt erhielt und dass diese Formierungsphase an die Leitung des Instituts für Sozialforschung durch Max Horkheimer gebunden war, ist bekannt.23 Ebenso ist zur Genüge erforscht worden, wie die fachliche Ausdifferenzierung der kritischen Gesellschaftstheorie im Einzelnen vor sich ging: So lag der Schwerpunkt sowohl der Theoriebildung wie der empirischen Forschung zunächst auf der Sozialpsychologie, die jedoch kontinuierlich begleitet war von ideengeschichtlichen und ideologiekritischen Studien zur Mentalitätsentwicklung der bürgerlichen Epoche. Für diesen zweiten Schwerpunkt wird man in erster Linie die großen Aufsätze von Max Horkheimer, aber auch die philosophiegeschichtlichen Studien von Herbert Marcuse nennen, also Studien wie „Egoismus und Freiheitsbewegung“ (1936) oder den ideengeschichtlichen Teil zu „Autorität und Familie“ (ebenfalls 1936).24 Deutlich anders stellen sich die Relationen dar, wenn man sich in die Zeit begibt, die der Formierungsphase der Kritischen Theorie vorausgeht und die man als ihre Inkubationszeit bezeichnen könnte. Das bedeutet vor allem, die akademische Ausbildung der Männer in den Blick zu nehmen, die sich später unter dem Programm der marxistischen Gesellschaftstheorie zusammenfanden. Dabei tritt ein „anderer“ Ursprungskontext in den Vordergrund, der bisher wenig beachtet wurde, und dies ist mit überraschender Eindeutigkeit nicht der Marxismus, der bekanntlich kaum Eingang gefunden hatte in die deutschen Universitäten, sondern eben der Neukantianismus, der auch in der Weimarer Republik noch in weiten Teilen der philosophischen Fakultäten vorherrschte. Nicht minder überra-

22 Ebd., S. 177f. 23 Vgl. zuletzt John Abromeit, Max Horkheimer and the Foundations of the Frankfurt School, Cambridge: University Press, 2011. 24 Max Horkheimer, „Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters“, Zeitschrift für Sozialforschung, 5/1936, S. 161-234; Herbert Marcuse, Studie über Autorität und Familie (1936), in: ders., Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S. 85-185.

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schend aber ist die Tatsache, dass es trotz der primär philosophischen Ausrichtung der neukantianischen Professoren durchaus ein lebhaftes Interesse sowohl an Fragen der empirischen Forschung wie an Fragen der Wertbindung von Wissenschaft gegeben hat, worunter durchaus auch ihre politischen Implikationen fallen konnten. Beispielhaft sei hier nur auf die Frankfurter Universität, und dort auf Hans Cornelius, den akademischen Lehrer von Max Horkheimer, verwiesen: Bei ihm findet sich sowohl die Hochschätzung der empirischen Forschung einschließlich der modernen Naturwissenschaften und deren Öffnung zu einer interdisziplinären Praxis als auch die positive Bezugnahme auf die Psychologie, hier die Gestaltpsychologie, die als lebender Beweis dafür genommen wird, dass die kantische Dichotomie zwischen Naturerkenntnis und Willensfreiheit und damit die transzendentale Erkenntnislehre insgesamt nicht das letzte Wort ist. Cornelius verstand sich als Kantianer und als Kant-Kritiker, d.h. er laborierte bereits auf seine Weise an der Überwindung der reinen, solipsistischen Transzendentalphilosophie und strebte eine „organische“ Seelenlehre an, die die Fixierung auf die Willensfreiheit aufgegeben hatte und empirische Zwecksetzungen in der Moralphilosophie anerkannte.25 War damit bereits ein Zwischenschritt zu einer materialistischen, d.h. nicht nur erkenntnistheoretischen Begründung der Gesellschaftslehre zumindest angedeutet, so erweist sich beim jungen Max Horkheimer – und analog dazu bei Leo Löwenthal – die Auseinandersetzung mit der französischen Aufklärung im Allgemeinen und mit Rousseau im Besonderen als Promotor, um die Beschränkungen des Kantischen Kritizismus hinter sich zu lassen. Kant wurde zwar nach wie vor als der Schlusspunkt der Aufklärung in Deutschland gesehen, aber folgenreicher erschien der Blick zurück, d.h. auf das Aufklärungsdenken als Gesamtprozess, was vor allem bedeutete, das französische 18. Jahrhundert, und hier noch einmal seine radikalste Fraktion, die materialistischen Denker in den Vordergrund zu rücken. Ins Zentrum traten jetzt die psychologischen und soziologischen, d.h. die interessensgebundenen, sozusagen die „schmutzigen“ Grundlagen des menschlichen Erkenntnisstrebens, was vorausweist auf die spätere Praxis der Ideologiekritik, d.h. auf ein Erkenntnisinstrument, das sich nicht nur gegen die theologische Bevormundung des Menschen, sondern gegen Bevormundung überhaupt richten konnte.

25 Vgl. ebd., S. 65-79.

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Die Wege und Umwege dieser Entwicklung, die nichts weniger als eine exponierte Bildungsgeschichte war, lassen sich exemplarisch studieren an der Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie, die Max Horkheimer, damals noch Privatdozent, im Sommersemester 1927 an der Universität Frankfurt gehalten hat.26 Dieses nachgelassene Textkorpus stellt zunächst einen höchst bemerkenswerten Kontrast zu Horkheimers Qualifikationsschriften, zur Dissertation von 1922 und der Habilitationsschrift von 1925 dar: Während der nicht mehr ganz junge Doktorand sich dort geradezu pedantisch oder jedenfalls rein immanent an Spezialproblemen der Kantischen Erkenntnislehre abarbeitet, ein schulphilosophisches Exerzitium, das in einer Eloge an seinen neukantianschen Lehrer Cornelius kulminiert, ist Horkheimer in der Vorlesung, wenn man so will, bereits ganz in seinem Element: In der Einleitung zur Vorlesung wird einerseits postuliert, dass jegliche Denkentwicklung nicht rein geistesgeschichtlich, sondern in ihrer Bedingtheit von der „Geschichte des gesellschaftlichen Lebensprozesses“ zu erforschen sei, und andererseits wehrt er sich entschieden gegen die romantische Verklärung der Denkepochen, die der Renaissance und der Aufklärung vorausgingen.27 Und tatsächlich ist es vor allem das „böse achtzehnte Jahrhundert“, dem auf dem historischen Weg von Machiavelli über Hobbes, Spinoza und Locke nicht nur die relativ größte Aufmerksamkeit geschenkt wird, vielmehr wird die Aufklärungsepoche sowohl mit einer reichen Binnengliederung vorgeführt als auch in einer eindeutigen und kräftigen Interpretationstendenz abgehandelt.28 In den Vordergrund treten dabei die folgenden Tendenzen: Horkheimer beharrt auf der Sonderstellung der französischen Aufklärung im Rahmen der europäischen Aufklärungsbewegung, die er vor allem mit ihrer direkten politischen Zielstellung begründet; sodann interessiert er sich am meisten für die sensualistischen und materialistischen Denker wie Helvetius und Holbach, hebt also die erkenntnistheoretisch radikalste Variante der französischen Aufklärung hervor, und zwar weil diese „nach der Zukunft hin mit den modernen soziologischen, historisch-materialistischen Theorien verwandt ist und in gewisser Weise deren Vorläufer war“.29

26 Max Horkheimer, „Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987. 27 Ebd., S. 18 und S. 21. 28 Ebd., S. 346-400. 29 Ebd., S. 346.

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Dies ist die voraussetzungsreiche Konstellation, in die Horkheimer seine Rousseau-Lektüre gleichsam einspannt. Wie stellt sich dessen Denken unter diesen Prämissen dar? – Diese Frage muss uns besonders interessieren. Wieder sind drei Akzentsetzungen hervorzuheben: Die in der Einleitung angekündigte Spitze gegen die Romantik gewinnt jetzt ihre ganze Schärfe, denn besonders Rousseau eignete sich zum Vehikel jener in Deutschland übermächtig gewordenen Wirkungsgeschichte, die behauptet, „Rousseau sei gar kein Aufklärer, sondern ein Gegner der Aufklärung gewesen“.30 Weiter hebt Horkheimer aus Rousseaus Gesamtwerk vor allem den Zweiten Diskurs heraus, der die berühmte These vom Ursprung der Ungleichheit aus der Erfindung des Eigentums aufstellt, und favorisiert ihn für eine alternative Wirkungsgeschichte; „denn auf keinen Philosophen konnte sich die Französische Revolution bei ihrer Parole ›Freiheit und Gleichheit‹ mit größerem Recht berufen als auf Rousseau“31; hier zeigt sich jedoch eine Kehrseite, die Horkheimer sowohl am Émile als auch am Contrat Social moniert: Sie besteht in einer falschen Abstraktionshaltung, durch die aus einer ursprünglich revolutionären Utopie eine weltfremde Abstraktion, ja die „offizielle Ideologie der Demokratie in der französischen Republik wurde“.32 Das Verdikt klingt denkbar scharf und zielt in erster Linie auf Rousseaus Verhältnisbestimmung von Staat und Gesellschaft: „Das Konstruieren des Staats auf einem fingierten Gesellschaftsvertrag anstelle der empirischen Untersuchung seines wirklichen Entstehens, das Verkünden einer abstrakten Freiheit, der ungeheure Fehler, dass Rousseau Gesellschaft und Staat nicht klar voneinander unterschieden hat“33, lautet eine prägnante Passage. Und dennoch wird derselbe Rousseau mit erkennbarer Sympathie referiert als ein – sicherlich ambivalenter Meilenstein – auf dem Weg zu einer Gesellschaftstheorie, die sich 1927 erst andeutet und ab 1932 ausgeführt wird, seitdem Horkheimer als Direktor des Instituts für Sozialforschung fungiert. Interessant aber ist auch, wie das Aufklärungskapitel endet: Das große Zukunftspotential der Aufklärung wird vor allem gegen den modernen Positivismus in Stellung gebracht, anders als dieser „war diese intellektuelle Bewegung, diese ‚Philosophie‘ gleichzeitig die schärfste Waffe im wirklichen Kampf, im Kampf um die neue, schrankenlos

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Ebd., S. 378. Ebd., S. 382. Ebd., S. 387. Ebd., S. 387.

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liberalistische Wirtschaftsordnung, die gegenüber allen vorhergehenden die fortschrittlichste Weise der Produktion darstellte, und an der in weitem Maße zuerst nicht nur das Bürgertum, sondern der weitaus größte Teil der Gesellschaft interessiert war“.34

Natürlich muss man sich davor hüten, die Texte aus der Inkubationszeit der Kritischen Theorie allzu finalistisch mißzuverstehen, d.h. nur als embryonale Vorformen späterer Entwicklungen zu lesen, vielmehr sind Horkheimers Vorlesungsentwürfe durchaus ein Entwurf sui generis, eine eigenständige Ideengeschichte, die eine eigentümliche Zwischenstellung einnimmt: Sie lässt einerseits den historischen Materialismus bereits als heuristische Hintergrundsorientierung erkennen, während die primäre Arbeit andererseits noch konventiell ist, d.h. an den tradierten Sinn des geistesgeschichtlichen Quellenstudiums anknüpft: Es geht um die Lektüre „alter“ Texte und gleichzeitig um die Neuvermessung eines bekannten, von den Historikern des Neukantianismus bereits abgeschrittenen Geländes. Ein zweiter, nicht weniger sprechender Beleg für diese entwicklungsfähige Zwischenstellung ist deswegen für uns einschlägig, weil er direkt auf Rousseau zugeht. Gemeint ist die Staatsexamensarbeit, die Leo Löwenthal 1926 für den Preußischen Schuldienst ablieferte: „Gewalt und Recht in der Rechtsphilosophie des Rousseau und der deutschen idealistischen Philosophie“35 – bereits der Titel lässt erkennen, welches Gewicht Rousseau zugemessen wird. Die Arbeit stammt aus der Zeit, in der Löwenthal zwar bereits Kontakt zum Kreis um Max Horkheimer aufnahm, aber noch keine Aussicht auf eine professionelle Zusammenarbeit bestand, weshalb er sich auf den Schuldienst orientierte. Man wird sicherlich den besonderen Zweck dieser Arbeit in Rechnung stellen müssen, auch die damit verbundenen disziplinarischen Zwänge. Umso mehr aber fällt auf, dass in ihr nicht nur sorgfältig, ja geradezu formallogisch argumentiert wird, sondern dass die offensichtlich politische Fragestellung auch politisch beantwortet wird – eine erstaunliche Freizügigkeit eines jungen jüdischen Mannes. Auf den ersten Blick zeigt Löwenthals Umgang mit dem Werk von Rousseau nicht nur Ähnlichkeiten, sondern geradezu eine gewisse Abhängigkeit von den neukantianischen Rousseau-Lektüren, wie besonders der Anmerkungsteil zeigt, der keine der aktuellen und weiter zurückliegenden

34 Ebd., S. 399. 35 Leo Löwenthal, „Gewalt und Recht in der Staats- und Rechtsphilosophie Rousseaus und der deutschen idealistischen Philosophie“, abgedruckt in ders., Schriften, Bd. 5, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987, S. 167-206.

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Publikationen auslässt. In offenem Konstrast dazu steht die Fragestellung selber, die Recht und Gewalt weniger nebeneinander platziert als vielmehr in eine zugespitzte, ja sogar dichotomische Fassung bringt. Das wird unübersehbar in den Schlussthesen der Arbeit, in denen ihr Ergebnis noch einmal zusammengefasst und mit einer scharfen Pointe versehen wird. Sie ist so knapp, dass sie hier zitiert werden kann: „a) Gewalt begründet nie Recht; rechtsbegründende Gewalt ist eine contradictio in adjecto; b) Recht allein kann Gewalt begründen; c) rechtlich begründete Gewalt ist erlaubt als Abwehr nichtrechtlich begründeter Gewalt und als Sanktion nichtgewaltlich begründeten Rechts; d) der Begriff des historischen positiven Rechts ist identisch mit dem Begriff nichtrechtlich begründeter Gewalt.“36

Ebenso interessant sind die methodischen und den Kontext der RousseauLektüre betreffenden Überlegungen Löwenthals, nicht nur weil sie ausführlicher als die inhaltliche Abhandlung sind, sondern vor allem weil sie eine geradezu sehnsüchtige Suche nach einer neuen wissenschaftlichen wie politischen Orientierung erkennen lassen – in nuce blitzt hier mancher Gedankengang bereits auf, der im späteren Horkheimer-Kreis dann Gestalt annehmen wird. Aber auffälliger sind Annahmen mehr konventioneller Art, so z.B. die Behauptung, dass die disparaten Fäden von Rousseaus Werk in einer Einheit zusammenlaufen, hinter der eine „einheitliche Persönlichkeit“ steht, die ihrerseits vor allem durch ihren „Erlebnisanteil“37 fasziniert. Auf denselben Punkt reflektiert auch die ideengeschichtliche Abgrenzung, die im Falle Löwenthals sogar eine doppelte ist: gegenüber der romantischen Vereinnahmung ohnehin, wie bei Horkheimer, aber eben auch gegenüber der idealistischen Glättung; beide seien nicht in der Lage, den intensiven Niederschlag der historischen Erfahrung in Rousseaus Denken zu würdigen. Dennoch geht Löwenthal nicht umstandslos d’accord mit Rousseaus „Auflösung“ der dilemmatischen Beziehung zwischen Gewalt und Recht, sondern er reicht das Problem so weiter wie es die geistesgeschichtliche Kontinuitätsannahme des Neukantianismus immer getan hat: vordergründig mit dem Blick auf Kant, der aber nur knapp abgehandelt wird, um dann die Staffette sozusagen noch einmal weiterzugeben, und zwar zunächst an die Philosophie Fichtes. Aber auch sie ist für Löwenthal nur das

36 Ebd., S. 189. 37 Evd., S. 176f.

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Durchgangsstadium auf einem Denkweg, der ziemlich abrupt und zugleich etwas rätselhaft bei Marx endet. Tatsächlich erhält man den Eindruck, als ob Löwenthal vor diesem Endpunkt etwas zurückschreckt, wobei hier offenbleiben muss, ob dies eher ein Zugeständnis an den ministeriellen Mitkorrektor in einem preußischen Staatsexamen war – oder aber eine Reminiszenz an seine persönliche Bildungsgeschichte, die sich erst vor kurzem von einer bestimmten Variante der jüdischen Orthodoxie gelöst hatte, und zwar auf eine etwas paradoxe Weise: Löwenthal hatte 1923 mit einer Dissertation promoviert, die als eine Verteidigungschrift für den Konservatismus Franz von Baaders gelesen werden konnte.38 Etwas rätselhaft jedenfalls liest sich die Schlussformulierung des materialen Teils von Löwenthals Examensarbeit: „Die Geschichte der Korrelation von ›Gewalt und Recht‹ von Rousseau bis Fichte ist zugleich die Geschichte der immer anwachsenden Aktualisierung der rechtsphilosophischen Probleme.“39 War vorher gesagt worden, dass der Argumentationsweg „zu einer immer näheren und intimeren Beschäftigung mit den gegebenen Realitäten führt“, so wird das Argumentationsziel jetzt eingeschränkt auf die „Ahnung von einem völlig gewaltlosen Zustand [...], in dem Sanktionen des Rechts, die ja nichts anderes sein können als Akte der Gewalt, auch nicht mehr existieren“.40 Eine gewisse Auflösung des Rätsels findet sich in der Einleitung der Arbeit vorweggenommen: Hier wird Walter Benjamins „Kritik der Gewalt“ aus dem Jahr 1921 – heute eine prominente, aber damals wenig beachtete geschichtstheologische Konstruktion – zwar zitiert, aber dann als selber „etwas gewalttätig“ abgetan. Offenbar stand Löwenthal in der Mitte der 1920er Jahre dem Gedankenkreis des jüdischen Messianismus noch näher als der großbürgerlich assimilierte Max Horkheimer, dessen intellektuelle Sympathien sich um dieselbe Zeit bereits der radikal-materialistischen, der atheistischen Fraktion der französischen Aufklärung zugewandt hatten. Es wäre interessant, von hier aus auf das vermittelnde Konzept der „religion civique“ zurückzureflektieren, das bekanntlich im Contrat Social eine wichtige Rolle spielt, aber von keinem von ihnen positiv aufgegriffen wird. Wenig später

38 Vgl dazu meinen Aufsatz: „Der junge Leo Löwenthal. Vom neoorthodoxen Judentum zur aufgeklärten Geschichtsphilosophie“, in: Ulrich Bielefeld u.a. (Hrsg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg: Hamburger Edition, 2012, S. 304-330. 39 L. Löwenthal, Gewalt und Recht, S. 204. 40 Ebd., S. 199 und S. 202.

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aber folgte auch Löwenthal der von Horkheimer ausgelegten Spur und schrieb eine größere Abhandlung über die Geschichtsauffassung des Helvetius, die sich von theologischen Überlegungen gänzlich abwandte.41 Es bedarf einiger Erläuterungen, wenn man von diesen einigermaßen sensitiven Beobachtungen direkt in die Turbulenzen des politischen Exils nach 1933 springt und den Gewerkschaftsjuristen Franz L. Neumann als dritten Gewährsmann für die Rousseau-Lektüre der frühen Frankfurter Schule hinzuzieht. Es bedeutet nämlich nicht nur, von einem angehenden Literaturwissenschaftler zu einem juristischen Praktiker überzugehen, dessen großes Politikprojekt gerade gescheitert war, sondern verweist auch darauf, wie sehr Hitlers Machtergreifung die politischen Lernprozesse aller davon Betroffenen beschleunigt und radikalisiert hat. Dennoch sind die Parallelen zwischen Löwenthals Rousseau-Interpretation und der Dissertation, die Neumann zwischen 1933 und 1936 an der London School of Economics schreibt, offensichtlich, sein Zugriff auf den „politischen Rousseau“ war nur noch viel direkter.42 Tatsächlich wird im Mittelteil von The Governance of the Rule of Law, nach einer schonungslosen Abrechnung mit dem gesamten Weimarer Staatsrecht, ziemlich abrupt ein apriorischer Gegensatz zwischen Recht und Gewalt bzw. zwischen individueller Freiheit und Staatssouveränität aufgemacht und als Sezierinstrument für eine in wildem Stakkato durchexerzierte Rechtsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft benützt. Aus der subtilen methodologischen Kombination von Rechtsphilosophie und Strafrecht, wie sie Neumann von seinem neukantianischen Lehrer Max Ernst Mayer gelernt hatte, aber auch aus der reformistischen Rechtssoziologie, wie er sie zusammen mit Hugo Sinzheimer praktiziert hatte, ist 1936 ein schroffer marxistischer Funktionalismus geworden, der gewiss daran mitgewirkt hat, dass Neumann von Horkheimer als Rechtsspezialist in das Forschungsteam am New Yorker Institute for Social Reseach aufgenommen wurde – nolens volens, wie man heute weiß; denn der interne Konflikt, der sich Anfang der 1940er in der Debatte um Staatskapitalismus versus Monopolkapitalismus entladen sollte, wurde durch die rasche Publikation des Behemoth, der ersten Gesamtdarstellung des Nationalsozia-

41 Leo Löwenthal, Helvetius, in: ders., Schriften 5, S. 7-98. 42 Franz L. Neumann, The Governance of the Rule of Law, ins Deutsche übersetzt als Die Herrschaft des Gesetzes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980.

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lismus in den USA, zumindest in der Außenwirkung zugunsten von Neumann entschieden.43 Man muss diesen Kontext zumindest andeuten, um zu verstehen, warum Rousseau seit Mitte der 1930er Jahre bei Neumann eine exponierte Stellung einnimmt. Während im Behemoth ökonomisch wie politisch eine hohe Kontinuität zwischen dem bürgerlichen Liberalkapitalismus und dem totalitären Monopolkapitalismus angenommen wird, schlägt Neumann in der ideengeschichtlichen Perspektive in gewisser Weise den umgekehrten Weg ein: Hier konstatiert er einen radikalen Bruch zwischen der NS-Ideologie und den politischen Ideen der Tradition, und zwar selbst den reaktionärsten unter ihnen, denen der französischen Gegenrevolution.44 Es ist vor allem diese ideengeschichtliche Konstellation, in dem die Beobachtung bedeutsam wird, dass Rousseau in der Ahnengalerie der politischen Denker ein herausgehobener Platz eingeräumt erhält: Seine Demokratietheorie ist für Neumann nämlich die einzige politische Theorie, in der die Vermittlung von Recht und Staatsgewalt wenigstens logisch vorstellbar ist, auch wenn die entscheidende Frage natürlich darin besteht, wie sich diese Vermittlung in der historisch-sozialen Wirklichkeit darstellt. Während Neumann in dieser zweiten Hinsicht angesichts der Faschisierung Europas keinerlei Illusionen mehr aufkommen lässt, eröffnet seine Rousseau-Lektüre und Interpretation einen gewissen Spalt Aufhellung am ideengeschichtlichen Horizont. Nur darauf kann uns es hier ankommen: auf das kleine Licht, das von Rousseau her, wenngleich aus der ideengeschichtlichen Ferne, in die große Dunkelheit der Gegenwart fällt. Neumanns Rousseau-Lektüre ist sicherlich nur thesenhaft und in gewisser Weise konstruiert, wie sein Gang durch die europäische Ideengeschichte insgesamt etwas Forciertes hat, aber gerade dadurch wird ihre Entschiedenheit deutlich. Sie wird nach Art einer logischen Disputation vorgetragen, die in drei Schritten verfährt: 1. Schritt – Analyse: Hier wird mit Bezug auf den Zweiten Discours konstatiert, dass die ursprüngliche Natur des Menschen durch die Gesellschaft überformt ist, aus der es kein „retour à la nature“ mehr geben kann; 2. Schritt – Synthese: Hier wird der zentrale

43 Vgl. dazu Helmut Dubiel / Alfons Söllner (Hrsg.), Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984. 44 Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1945, neu hrsg. von Alfons Söllner und Michael Wildt, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2018, bes. S. 531-540.

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Gedankengang des Contrat Social nachvollzogen, wonach es keinen anderen legitimen Weg zur Staatssouveränität geben kann als den über einen Vertrag der Freien und Gleichen – die einzig rationale Vermittlung läuft über das demokratische Prinzip der Volkssouveränität; 3. Schritt – Kritik: Hier verweist Neumann auf das Janusgesicht dieser „Problemlösung“: Sie ist fiktiv, insofern sie weder logisch noch institutionell hinreichende Barrieren gegen einen drohenden Staatsabsolutismus errichtet; aber sie kann auch real werden in dem Maße, wie soziale und ökonomische Gleichheit in der Gesellschaft durchgesetzt wird – explizit rückt auch Neumann Rousseau in die Perspektive der marxistischen Geschichtsphilosophie.45 Eine andere Variante dieses Problemaufrisses findet sich in Neumanns Aufsatz über die „Typen des Naturrechts“, der 1939 in der vorletzten Nummer der Zeitschrift für Sozialforschung erscheint46: Wieder verfährt Neumann reichlich schematisch und gleichzeitig höchst ambitioniert, indem er den Begriff des Naturrechts durch die gesamte europäische Geschichte verfolgt und sich dafür an die eine Frage hält, ob sich die durchaus verschiedenen Annahmen von der menschlichen Natur mit der Vorstellung einer geordneten (bürgerlichen) Gesellschaft in Einklang bringen lassen. Und wieder ist seine Antwort einigermaßen grob, aber auch entschieden: Sie besagt, dass sämtliche Varianten des Naturrechtsdenkens, die absolutistische, die konservative, die liberale und die revolutionäre dazu logisch nicht in der Lage sind, von ihrer ideologischen Funktion in der Gesellschaft ganz zu schweigen – mit einer einzigen Ausnahme: dem Ideenkreis des demokratischen Naturrechts, als deren Prototyp abermals Rousseau auftritt: „Es gibt nur einen Typus von Naturrechtstheorien, der beide Fallen – Anarchismus und Willkürherrschaft – meidet [...]. Rousseau hat die Auflösung des Problems gefunden [...] die Herstellung des Allgemeinwillens durch die Willen aller, die Behauptung, dass alle individuellen Rechte trotz ihres Aufgehens im Allgemeinwillen bewahrt sind.“47

Freilich, was hier als Lösung eines für die bürgerliche Epoche perennierenden Problems aus dem Hut gezaubert wird, möchte man sagen, ent-

45 F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 149-164. 46 Franz L. Neumann, „Types of Natural Law“, Studies in Philosophy and Social Science, Vol. VIII, 3/1939, S. 338-361, ins Deutsche übersetzt als: „Typen des Naturrechts“, in: Franz L. Neumann, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954, Frankfurt a.M., 1978, S. 223-254. 47 Ebd., S. 233f.

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puppt sich bei genauerem Hinsehen als die Supposition jener minimalistischen Prämissen an Rechtsrationalität, die eher der liberalen als der demokratischen Tradition des Naturrechtsdenkens entsprungen sind. So ist es auch kein Zufall, dass in den wie angeklebt wirkenden Thesen am Schluss dieses Aufsatzes nur drei abstrakte Prinzipien übrigbleiben: der generelle Charakter des Gesetzes, das Verbot der rückwirkenden Gesetzesanwendung und eine unabhängige Justiz. Was hier als institutionelle Stützen des bürgerlichen Rechtsstaates angeführt und an früherer Stelle unter der „ethischen Funktion des Rechts“ ausgeführt wurde48, erschien angesichts des ausgebrochenen „Weltbürgerkriegs“ (Ernst Nolte) und erst recht mit der Vorbereitung des Holocaust ab den frühen 1940er Jahren nur mehr als eine verzweifelte Illusion. Gerade für den Juristen schien Rousseaus Lehre nicht mehr viel wert zu sein, und trotzdem galt es die Erinnerung an sie wachzuhalten. 3. Strauss liest Rousseau – eine Anleitung zur Heterodoxie Leo Strauss gilt heute als einer der prominentesten und profiliertesten politischen Denker des 20. Jahrhunderts. Er hat das Genre der politischen Ideengeschichte nach einer tiefen Krise wiederbelebt, und er hat ihr eine neue und scharf profilierte Gestalt verliehen, nicht zuletzt dadurch, dass er ihren Ursprung in die griechische Antike verlegte und damit die Grundlegung der neuzeitlichen Wissenschaft mit großer Entschiedenheit in die zweite Reihe verwies. Sein Projekt einer „new science of politics“ (Eric Voegelin) zeigt über die Brüche der Emigration hinweg eine erstaunliche Kontinuität und baut eine ganz eigenständige Brücke von Deutschland nach Amerika, die sich auch von vergleichbaren Karrieren, wie denen von Eric Voegelin oder Hannah Arendt, unterscheidet. Leo Strauss hatte Anfang der 1920er Jahre bei Ernst Cassirer in Hamburg promoviert, löste sich jedoch rasch von seinem Doktorvater. Seinen weiteren Weg wird man nur verstehen, wenn man sich in das Spannungsfeld zwischen Theologie, Philosophie und Politik begibt.49

48 F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 302f. 49 Vgl. Markus Kartheininger, Heterogenität. Politische Philosophie im Frühwerk von Leo Strauss, München: Fink, 2006 sowie meinen Aufsatz: „Religion und Politik beim jungen Leo Strauss“, in: Oliver Hidalgo / Holger Zapf / Philipp W.

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In der Weimarer Republik sympathisierte Strauss mit dem politischen Zionismus, aber bereits hier verwendete er seine ganze Energie darauf, den archimedischen Punkt zu suchen, der eine philosophische Begründung der Politik erlaubt. Interessant für uns ist, dass das historische Material, an dem er sich für dieses Ziel abarbeitet, ein exponierter Denker der Frühaufklärung ist, nämlich Baruch Spinoza. Die Metakritik von dessen Religionskritik führt ihn dann in den 30er Jahren mit bewundernswerter Konsequenz zu den jüdischen Klassikern des Mittelalters, zu Maimonides und den arabischen Falsafa, von wo er schließlich den Bogen in die griechische Antike zurückschlägt, zur klassischen Idee des Naturrechts. Hier entdeckt er das Fundament für alle weiteren Denkschritte: eine prima philosophia politica, wie sie in den Walgreen Lectures an der University of Chicago vorgetragen und 1953 unter dem Titel Natural Right and History publiziert wurde.50 Strauss hatte bereits 1947 in der Hauszeitschrift der New School of Social Research, an der er zu dieser Zeit noch lehrte, einen längeren Aufsatz zu Rousseau publiziert, der sich auf den Ersten Diskurs beschränkte.51 Ich werde mich hier aber ausschließlich auf das Rousseau-Kapitel von Natural Right and History52 konzentrieren, einmal um die Intensität der Leseweise vorzuführen, die zum Markenzeichen von Strauss geworden ist, zum andern aber, um den Überraschungseffekt zu verdeutlichen, den seine Rousseau-Lektüre parat hält. Dieses Kapitel ist das vorletzte im Gesamtaufriss von Natural Right and History und behandelt die Krise des modernen Naturrechts, Edmund Burke hat dann das letzte Wort in dieser tour de force durch diese abendländische Ideengeschichte. Die Darstellung geht werkgeschichtlich vor, beginnt also mit dem Ersten Diskurs, lässt keinen Werkteil außen vor, auch nicht den Émile und die Julie und endet mit den Rêveries, doch von Anfang an wird eine in sich geschlossene Gesamtargumentation angestrebt und auch erreicht. Dafür steht u.a. die bei Strauss übliche kumulati-

Hildmann (Hrsg.), Christentum und Islam als politische Religionen, Wiesbaden: Springer VS, 2017, S. 35-51. 50 Vgl. als Überblick Stephan Steiner, Weimar in Amerika. Leo Strauss’ politische Philosophie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013. 51 Leo Strauss: „On the Intention of Rousseau“, Social Research, 14/1947, S. 455-487. 52 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, ich zitiere nach der Suhrkamp-Ausgabe, Frankfurt a.M., 1989, S. 263-307.

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ve Zitierweise, aber auch der direkte Zugriff, der überall die klassischen Themen der politischen Philosophie durchschimmern lässt: die Bürgertugend, die Ordnung der Polis und ihre naturrechtlichen Grundlagen: „Kein moderner Denker hat den philosophischen Begriff der Polis besser als Rousseau verstanden.“53 Strauss’ Rousseau-Lektüre ist ganz und gar auf den Prämissen der prima philosophia aufgebaut: die antiken Fragen sind normativ vorausgesetzt, die weitere geschichtliche Entwicklung ist nur als Antwort auf sie zu versehen. Und klar ist auch, warum Rousseau in der Gesamtanlage von Naturrecht und Geschichte für den Scheitelpunkt der Krise steht, für die eigentliche „krisis“: Rousseau leidet an der modernen Gesellschaft und er möchte leidenschaftlich gerne zur antiken polis zurückkehren, kann es aber nach seinen eigenen Prämissen nicht; und so leitet er gleichsam negativ, aber in denkbar radikaler Form das Zeitalter des modernen Individualismus ein und eröffnet eine völlig neuen Weltsicht, die durch Naturnähe, Sensibilität und Introspektion besticht. Rousseau ist für Strauss nicht nur der vielseitigste, sondern der „menschlichste“ unter den politischen Philosophen der Neuzeit gewesen und geblieben, er hat mit hintergründiger Naivität die zentrale Frage gestellt, die unter modernen Bedingungen unlösbar ist und zwingend in die Richtung des antiken Naturrechts verweist. Strauss versteht Rousseau ganz aus sich selber und reiht ihn in dieser kompakten Originalität in die Galerie der großen Philosophen ein. Keine Spur von totalitarismustheoretischer Teleologie, wie wenig später bei Jacob Talmon, keine direkte Schuldzuweisung auch für die französische Revolution, wie ein langlebiger Topos der Rousseau-Lektüre bis hin zu Hannah Arendt lautet. Rousseau ist vielmehr ein Meilenstein der politischen Philosophiegeschichte, der die Weichen in die moderne Welt stellt: Auf der einen Seite steht er noch ganz in der Tradition des klassischen Naturrechts, er kennt die antike Welt und liebt sie, auf der anderen Seite gehört er in die moderne Philosophie und reagiert besonders auf Hobbes, den „Erfinder des Liberalismus“, den er zu Ende denkt und dabei das ganze Risiko der bürgerlichen Gesellschaft offenlegt: „Auf jeden Fall war seine Rückkehr zur Antike gleichzeitig ein Fortschritt der Moderne […]. Die glühenden Felsbrocken, mit welchen die Rousseausche Eruption das Abendland übersäht hatte, wurden, nachdem sie abgekühlt und

53 Ebd., S. 265, Anm. 2.

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behauen waren, für das imponierende Gebäude verwendet, welches die großen Denker des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts errichteten.“54

Diese Zwischenstellung führt zu überraschenden Neuinterpretationen in vielen Details, die ich hier nicht ausführen kann. Aber schon an Rousseaus Erstem Discours macht Strauss seinen methodischen Zugriff ganz deutlich, der in der Unterscheidung von exoterischem und esoterischem Wissen besteht: „Die Wissenschaft muss das Reservat einer kleinen Minderheit bleiben; sie muss dem gemeinen Mann gegenüber geheim gehalten werden […]. Somit wächst der Eindruck, dass Rousseau die klassische Idee der Philosophie als Gegensatz zur Aufklärung wiederherzustellen versuchte.“55 Dies ist die methodologisch verstandene Annahme, wie man Texte der politischen Ideengeschichte zu lesen hat, gleichzeitig eine Übernahme aus einem grundsätzlichen Aufsatz aus dem Jahr 1941.56 Was Strauss dort als seine Lektüremethode festgelegt hat, wird hier zum Vehikel, um die „sokratische Wissenschaft“ gegenüber der modernen „Metaphysik“ in Stellung zu bringen und die klassische Tugendlehre wiederherzustellen: „Sokratische Weisheit ist Selbsterkenntnis; sie ist Erkenntnis unserer Unwissenheit. […] Die sokratische Weisheit ist der Zweck und die Krone der theoretischen Wissenschaft.“57 Strauss’ Neulektüre von Rousseau betrifft sowohl seine Stellung zu den modernen Vertragstheoretikern wie Hobbes und Locke als auch die institutionellen Ordnungsvorstellungen, wie sie Rousseau in den reifen Schriften, im Contrat Social und im Enzyklopädieartikel zu „Économie Politique“ entwickelt. Sie alle fügen sich vor allem deswegen zu einem genialen, über 50 Seiten hinweg durchgehaltenen Entwurf, weil Rousseau, sein Werk wie seine Person, als der Angelpunkt erscheinen, um den sich die moderne Welt insgesamt dreht. Am besten kann man dies erläutern an den Reflexionen zum Problem der Freiheit, die sich über den ganzen zweiten Teil des Rousseau-Kapitels erstrecken und die offensichtliche und anregende Parallelen zur Leitfrage des vorliegenden Aufsatzes aufweisen: Kann man wirklich behaupten, dass sich in Strauss’ Rousseau-Lektüre so-

54 Ebd., S. 263. 55 Ebd., S. 272f. 56 Der Aufsatz „Persecution and the Art of Writing“ aus dem Jahr 1941 gilt als der maßgebliche Text zur Lektüremethode von Strauss und ist wiederabgedruckt im gleichnamigen Buch: Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, Glencoe, Ill.: Free Press, 1952. 57 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S. 274.

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wohl alternative Überlegungen zur „Dialektik der Aufklärung“ finden, als auch Vorbereitungen dafür getroffen werden, um eine „andere“ Version der dort aufgestellten geschichtsphilosophischen These auszuarbeiten? Tatsächlich erhält man diesen Eindruck, z.B. wenn Strauss schreibt, Rousseau müsse geradezu als der Urheber der „Philosophie der Freiheit“ betrachtet werden, und zwar weil nicht die Rationalität, sondern die Freiheit das Wesen des Menschen ausmache.58 Freiheit ist ein Recht und gleichzeitig ein „schöpferischer Akt“, oder, wie es wenig später Kant nennen wird, sie ist „wesentlich Eigengesetzgebung“. Für Strauss ist damit aber eine problematische Entwicklungslinie in Gang gesetzt: „Das schließliche Ergebnis dieses Versuchs war die Ersetzung der Tugend durch die Freiheit oder die Anschauung, dass nicht die Tugend den Menschen frei, sondern die Freiheit ihn tugendhaft macht.“59 Und hier rächt sich gewissermaßen der Rückgriff auf den angeblich unschuldigen Naturzustand. Wenn man in solchen Gedanken eine Parallele zur Dialektik der Aufklärung vermuten möchte, muss man freilich vorsichtig sein: Horkheimer und Adorno sprechen vom Rückfall der Gesellschaft in den Naturzustand: Die Entfesselung der Rationalität führt einen zweiten Naturzustand herbei, die als mythischer Bann erscheint. Was für sie jedoch als böser Endzustand erscheint, weil es eine Flucht aus der Gesellschaft, aus dem Fortschrittswahn nicht mehr gibt, ist bei Rousseau noch unschuldige Naivität: „Das neue Verständnis der sittlichen Freiheit“, schreibt Strauss, „nahm seinen Ursprung in der Vorstellung, dass das primäre sittliche Phänomen die Freiheit des Naturzustandes ist“.60 Diese Unschuldsvermutung, die Strauss für Rousseau geltend macht, reflektiert richtig auf den wenig fortgeschrittenen Zustand der Vergesellschaftung im 18. Jahrhundert, auch wenn Strauss sich für dergleichen Kontextfragen wenig interessiert. Der stärkste Beleg für Rousseaus geschichtsphilosophische Unschuld, gleichzeitig eine wirkliche historische Neuerung ist seine Mitleidsethik, die eigentliche keine Ethik, sondern eine Art von pantheistischer Grundausstattung des Naturmenschen ist. Strauss sieht ihre Bedeutung und Novität, interessiert sich aber kaum für ihre Herkunft, sondern nur für die theoretische Umkonstellierung des Übergangs vom Natur- zum Gesellschaftszustand, die einen gravierenden Unterschied

58 Ebd., S. 291. 59 Ebd., S. 294. 60 Ebd.

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zur antiken Bürgermoral einerseits, aber auch zu Hobbes und Locke markiert. Trotzdem beurteilt Strauss durchgehend positiv, was Rousseau als die wichtigsten Einrichtungen der bürgerlichen Ordnung herausarbeitet: So die Garantie des Eigentums, dessen gewaltsamen Ursprung er im Zweiten Diskurs so plastisch dargestellt hatte; so auch die Einschränkung der Freiheit durch die allgemeine Gesetzgebung, die für ihn kein Problem ist: „Um in der Gesellschaft so frei wie zuvor zu bleiben, muss der Mensch vollständig ‚kollektiviert’ oder ‚denaturiert’ werden.“61 Während die antike polis wirklich eine „geschlossene Gesellschaft“ war, bedarf die moderne individualistische Gesellschaft eines Substituts, und das ist die Gleichsetzung von Freiheit und positivem Gesetz: „Die freie Gesellschaft beruht auf der Absorption des Naturrechts durch das positive Gesetz. […] Der allgemeine Wille nimmt die Stellung des Naturgesetzes ein.“62 Dasselbe gilt – dies sei hier nur angemerkt – auch für andere Institutionen in Rousseaus Contrat Social, z.B. den Legislateur, den Strauss auch als „Führer“ oder „Menschen von überragender Einsicht“ bezeichnet und dessen Aufgabe in der Schließung der Lücke zwischen der volonté générale und der volonté de tous liegt: „Das Volk muss dazu erzogen werden, dass es weiß, was es will.“63 Strauss betont, dass die „Umwandlung des Naturmenschen in einen Bürger“ unter modernen Bedingungen ein Dauerproblem ist, das gelöst werden muss. Genau dazu dient auch die Einführung der „Zivilreligion“ im letzten Abschnitt des Contrat social: Sie soll sozusagen „richten“, was weder die allgemeine Volksgesetzgebung noch der charismatische Gesetzgeber zuverlässig erreichen können. Zwar ist sie ebenfalls nur ein Substitut, erreicht aber eben doch eine „tiefere Wurzel der bürgerlichen Gesellschaft als Berechnung und Eigennutz und demzufolge auch der Gesellschaftsvertrag“.64 Auf keinen Fall aber, das sieht Strauss ganz scharf, war mit dem Konzept der Zivilreligion eine einfache Rückkehr zum konventionellen Christentum gemeint – Rousseau „kriecht nicht zu Kreuze“, bekanntlich auch später nicht, als sowohl die Pariser Universität als auch der Bischof – und schließlich sogar der Genfer Magistrat, zu dem er sich flüchten wollte, den Contrat Social und den Émile verboten haben.

61 62 63 64

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Ebd., S. 298. Ebd., S. 298. Ebd., S. 300. Ebd., S. 303.

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All das und vieles mehr kann geschluckt werden und wird mit Appetit in den großen Rucksack gesteckt, den Strauss für seine Rousseaulektüre schon mitgebracht hat: In die Unterscheidung des esoterischen Wissens vom exoterischen Wissen. Man wird diese vor-, ja anti-aufklärerische Prämisse, die erklärtermaßen die Strauss’sche Lektüremethode darstellt, zum eigentlichen Hauptprüfstein seiner Rousseau-Interpretation erheben müssen – nicht nur weil keineswegs klar ist, was sie im Einzelnen bedeutet und wie sie am Text verfährt, sondern mehr noch, wenn man den Vergleich mit der Dialektik der Aufklärung wirklich und textnah zur Durchführung bringen möchte. Mit heftigen Widersprüchen ist da zu rechnen: Eine krasse, weil dem Geist des 18. Jahrhunderts offen zuwiderlaufende Formulierung ist z.B.: „Die freie Gesellschaft steht und fällt mit einer spezifischen Verdunkelung, gegen die die Philosophie mit Notwendigkeit revoltiert. Das von der politischen Philosophie gestellte Problem muss vergessen werden, wenn die Lösung, zu der die politische Philosophie hinführt, funktionieren soll.“65

Kann man und soll man solch ein methodologisches Bekenntnis im Ernst auf einen Denker der historischen Aufklärung loslassen? Und wenn man es tut, was sind die Konsequenzen? Strauss jedenfalls war in den 1940er Jahren keineswegs von Skrupeln oder Resignation angegriffen, als er sich dem Denken von Rousseau stellte! Der Beweis dafür ist das Pathos, in dem das Rousseau-Kapitel endet: Strauss’ Gesamturteil ist weder verdammend noch teleologisch abwertend, z.B. mit dem Blick auf Rousseaus Einfluss auf die französische Revolution und deren Umschlag in die „terreur“, vielmehr hält er eine erstaunliche Eloge auf die Stellung der Familie bei Rousseau und seine Hochschätzung der heterosexuellen Liebe, die geradezu als die eigentliche Erfüllung der Freiheitsphilosophie erscheint: „Liebe ist mit Zwang und gar mit selbstauferlegtem Zwang schlechthin unvereinbar; sie ist entweder frei oder sie ist nicht.“66 Eine ähnliche Aufwertung erfährt das Lob der Einsamkeit, die bekanntlich für Rousseau selber schmerzlich zum Schicksal wurde, und zwar auf der ganzen Linie seiner kurzen, aber rasanten Karriere als öffentlicher Intellektueller – zuerst im „freiwilligen Exil“ von Montmorency, dann in den Jahren der Flucht durch halb Europa, am Ende als „philosophischer Narr“, der in Paris nur mehr geduldet war.

65 Ebd., S. 300. 66 Ebd., S. 303.

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So ist es gleichermaßen überraschend wie konsequent, dass für Strauss selber philosophische Kontemplation, künstlerischer Ausdruck und Naturbegeisterung zu jenem intensiven „Daseinsgefühl“ zu verschmelzen scheinen, aus dessen genialer Verkörperung die ungeheure Wirkungsgeschichte Rousseaus, der seit 250 Jahren anhaltende „Rousseauismus“ alleine zu erklären ist: „Rousseau sprach in glühenden Worten vom Zauber und Entzücken der einsamen Kontemplation.“67 Aber das bedeutete in der größeren historischen Perspektive weit mehr: „Die höchste Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft ist somit die Tatsache, dass diese Gesellschaft einem bestimmten Typ von Einzelperson erlaubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus dieser Gesellschaft, d.h. durch ein Leben an ihrem Rande, zu genießen.“68 Dieser Freiheitgrad ist geradezu anarchistisch, ist der Künstler bzw. der kontemplative Philosoph doch nicht nur ein „Bürger mit schlechtem Gewissen“ (aus der Sicht der Tugendmoral), sondern beansprucht umgekehrt oft, wie Rousseau selber, „das Gewissen der Gesellschaft“ zu spielen – mit der „Konsequenz, dass das Individuum eine derartig große Freiheit von der Gesellschaft beansprucht, dass sie jedes bestimmten menschlichen Inhalts entbehrt.“ Dieses „letzte Heiligtum des Individuums als Individuum, unerlöst und ungerechtfertigt“, lässt sich Strauss offenbar nur von Rousseau als eine Unvermeidlichkeit der modernen Gesellschaft präsentieren, auch wenn er vor der mangelnden „Unterscheidung zwischen Freiheit und Zügellosigkeit“69 schließlich erschrickt. Es scheint, als ob der große Dogmatiker der antiken polis, der konservative Kritiker der Freizügigkeit gar nicht anders kann als seinen modernen Antipoden zu lieben. 4. Ernst Cassirers Rousseau – eine Forschungsfrage Überblickt man die vielfältigen Publikationen, die von Max Horkheimer und seinen Mitarbeitern nach 1933 vorgelegt wurden, so zeigt sich, dass die strikte Orientierung am Programm des historischen Materialismus durchaus Platz ließe für genuin ideengeschichtliche Forschung. Durchforstet man deren Ergebnisse jedoch mit der uns interessierenden Frage, nämlich welche Rolle Rousseau zukam und wie sein Werk gelesen wurde, so 67 Ebd., S. 304. 68 Ebd., S. 305. 69 Ebd., S. 306f.

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stößt man auf einen negativen Befund: Entweder wird Rousseau nur mehr beiläufig erwähnt und, wie im Fall von Horkheimers Studie „Egoismus und Freiheitsbewegung“, zum Promotor eines falschen Freiheitspathos deklariert, das im Rigorismus und Asketismus von Robesspierre endet, oder sein Name taucht überhaupt nicht mehr auf, wie in Herbert Marcuses ideengeschichtlicher Abhandlung des Autoritätsproblems, die mit Luther beginnt und über Kant bis zu Georges Sorel geführt wird. Man erhält den Eindruck, dass die Stimme Rousseaus, die zum Freiheitsbegriff als dem Widerpart des autoritären Charakters durchaus etwas zu sagen gehabt hätte, der Ideologiekritik zum Opfer gefallen ist: Der leidenschaftliche Rufer nach der Befreiung des Menschen ist als „bürgerlicher Ideologe“ gleichsam entsorgt worden. Was wurde bei dieser „Entsorgung“ liegen gelassen, und wie hoch waren ihre Kosten? Ein gutes Untersuchungsfeld für die Diskussion dieser Frage ist das Verhältnis des Horkheimer-Zirkels zum Philosophen Ernst Cassirer, der seit Anfang des Jahrhunderts einer der produktivsten Professoren in Deutschland war und als Jude 1933 ebenfalls ins Exil gezwungen wurde. Auch Cassirer entstammte bekanntlich dem Neukantianismus, löste sich aber zunehmend von diesem Milieu und ging mit seiner voluminösen Philosophie der symbolischen Formen ganz eigene Wege. 1929 exponierte er sich, mittlerweile Rektor an der Universität Hamburg, nicht nur als Verteidiger des Weimarer Republikanismus, sondern auch als Kontrahent Heideggers auf den Davoser Hochschulkursen, die unter dem Motto „Wie ist Freiheit möglich?“ standen. Mit diesen öffentlichkeitsträchtigen Auftritten war aus dem ursprünglichen Erkenntnistheoretiker nicht nur ein philosophisch inspirierter Kulturhistoriker geworden, sondern ein politischer Denker, der sich als Republikaner verstand.70 Cassirer publizierte im Jahr 1932 und noch einmal 1939 je einen gewichtigen Aufsatz zu Rousseau, die vermutlich zum Besten gehören, was im 20. Jahrhundert über diesen Autor geschrieben wurde.71 Während der erste von ihnen das „Faszinosum Rousseau“ in seiner ganzen Wider-

70 Als biographischer Überblick vgl. z.B. Thomas Meyer, Ernst Cassirer, Hamburg: Ellert & Richter, 2006. 71 Ernst Cassirer, „Das Problem Jean Jacques Rousseau“, Archiv der Geschichte der Philosophie, Band XLI, 1932, wiederabgedruckt in: Ernst Cassirer / Jean Starobinski / Robert Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt a.M.: Fischer, 1989, S. 7-78; ders., „Kant und Rousseau“ (1939), wiederabgedruckt in: ders., Rousseau, Kant, Goethe, Hamburg: Meiner, 1991, S. 3-61.

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sprüchlichkeit herausstellt und doch den einheitlichen philosophischen Kern von Rousseaus Schaffen betont, untersucht der zweite Rousseaus Beziehung zu Kant mit einem höchst konstruktiven Resultat, ohne jedoch in die erkenntnistheoretischen Abstraktionen zu verfallen, wie sie für den früheren Neukantianismus typisch gewesen waren. Zu welcher Syntheseleistung die Philosophie der symbolischen Formen jedoch in der Lage war, erwies sich nirgendwo besser als in Cassirers Philosophie der Aufklärung aus demselben Jahr 1932, die weit mehr bot als trockene Philosophiegeschichte. Was Cassirer hier vorlegte und sofort große Aufmerksamkeit im krisengeschüttelten Europa erregte, war ein vollständiges Panorama der Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts, das besonderen Nachdruck auf seine gesellschafts- und politiktheoretischen Ideen legte.72 Sieht man sich jedoch an, wie dieses Buch 1935 in der Zeitschrift für Sozialforschung rezensiert wird73, so erfährt man daraus mehr über das destruktive, wenn nicht bösartige Konkurrenzverhältnis, in das sich das mittlerweile voll entfaltete Forschungsprogramm der Kritischen Theorie zu anderen Denkrichtungen in der Emigration begeben hatte. Nicht nur dass Cassirers Buch in eine Reihe ausgerechnet mit Alfred Bäumlers KantBuch gestellt wird, vielmehr wird seine angebliche Nichtbeachtung der materialistischen Tendenzen der Aufklärung als Rückfall in die romantische Verfälschung und insgesamt als Beleg für den „unhistorischen Charakter seiner Gesamtkonzeption“ bewertet. Eine stärkere Verzerrung einer durch und durch aus den historischen Quellen (einschließlich der materialistischen und atheistischen Denker) gearbeiteten Darstellung kann man sich kaum vorstellen. Sollte sich die Vermutung bestätigen, dass der als „Hans Müller“ zeichnende Referent niemand anders war als der philosophiehistorische Spezialist am Institut für Sozialforschung, nämlich Herbert Marcuse, so wird auch verständlicher, wieso dieser in seiner Problemgeschichte des Verhältnisses von Autorität und Freiheit gerade dabei war, Rousseau und die französische Aufklärung souverän zu überspringen. Blickt man von dieser Episode aus der Mitte der 1930er Jahre hinüber in das kommende Jahrzehnt, das auch Cassirer nach einem Umweg über Schweden in den USA ankommen sah, so könnte es aufschlussreich sein, den folgenden Vergleich anzustellen, in dessen Zentrum zwei verschiedene Auffassungen 72 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen: Mohr, 1932. 73 Hans Müller, Rez. Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung, Zeitschrift für Sozialforschung, 4/1935, S. 274-277.

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Eine „andere“ Dialektik der Aufklärung?

des Verhältnisses von Rationalität und Irrationalität, von Mythos und Vernunft stehen müssten: Während der vermutlich beste Kenner der historischen Aufklärung in seinem posthumen The Myth of the State (1946)74 einen universalhistorischen Bogen aufspannt, aber an der europäischen Ideengeschichte nicht ganz zu verzweifeln scheint, wird diese in Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung in Bausch und Bogen verworfen. Auch Cassirer greift auf den Mythos zurück, um den Nationalsozialismus zu verstehen und historisch einzuordnen, aber die rationalen Elemente, die in der Tradition des politischen Denkens aufbewahrt scheinen, werden nicht völlig in eine Universalgeschichte irrationaler Herrschaft eingeschmolzen, sondern scheinen – Cassirer ist 1945, kurz vor Kriegsende verstorben – immer noch anknüpfungsfähig. Hier könnte man die Frage anschließen: Wenn die Verstrickung von Mythos und Vernunft keine totale ist, wenn mit der „Dialektik der Aufklärung“ keine restlose Verfallsgeschichte gemeint ist, was bedeutet das für den Umgang mit der historischen Aufklärung? Die Aufklärung war im Selbstverständnis wie über weite Strecken ihrer Wirkungsgeschichte hinweg so gut wie identisch mit dem Fortschrittsglauben und dessen Inkarnation in den Errungenschaften der modernen Wissenschaft und Technik. Erst die politischen und menschlichen Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts haben dieses am Fortschrittsmodell orientierte Weltbild nachhaltig erschüttert und das Vertrauen in die Kontinuität der humanistischen Aufklärungsideen untergraben. Es begann eine angestrengte und verzweifelte Sinnsuche, in deren Verlauf die politische Ideengeschichte vollkommen neu vermessen wurde. Die wichtigsten Denker, die sich dem radikalen „Kulturbruch“ (Dan Diner) gestellt haben, gehörten nicht zufällig der Generation der politischen Emigranten aus HitlerDeutschland an.75 Für sie wurde die „Dialektik der Aufklärung“ zu einer epochalen Erfahrungslage, auch wenn einige es anders genannt haben. Die Gegenwartsdiagnose war einer so radikalen Erschütterung ausgesetzt, dass noch ihre geistesgeschichtliche Untermauerung brüchig wurde. Der vorliegende Aufsatz ist natürlich vom historischen Material her beschränkt, aber er hat immerhin ergeben, dass innerhalb wie zwischen den drei herausgegriffenen Denkrichtungen ebenso viele Abgrenzungen wie Überschneidungen am Werk waren. Dementsprechend lassen die jeweili74 Ernst Cassirer, The Myth of the State, New Haven: Yale University Press, 1946. 75 Vgl. dazu mein Buch: Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden: Nomos, 2006.

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gen Rousseau-Lektüren an Vieldeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Dennoch ist an vielen im Überblick zu erkennen, dass sie bestimmte Reaktionsweisen auf die Verdüsterung der zeitgeschichtlichen Erfahrungslage darstellen. Leo Strauss erscheint dabei als eine kuriose Ausnahme und lässt gerade dadurch besonders deutlich erkennen, dass die Erkenntnisinteressen des jeweiligen Autors bzw. des Kontextes, in den er gehört, eine eigensinnige Vermittlerrolle spielen. Das muss das zeitdiagnostische Potential der jeweiligen Lektüren und Interpretationen aber nicht schmälern. Verlängert man diese nämlich auf methodische Alternativen der Ideengeschichtsschreibung hin, so könnten gerade dadurch die ideellen Kräfte greifbarer werden, die an der Neuvermessung des historischen Horizontes mitgewirkt haben. Wenn man der Dialektik der Aufklärung ernsthaft den kritischen Prozess machen möchte, wofür hier nur Andeutungen gegeben wurden, so wird man in die Beweisaufnahme auch die Alternativen aufnehmen müssen, vor denen die Ideengeschichtsschreibung in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu stehen kam. Von ihnen wurden hier drei mehr oder weniger gründlich in Augenschein genommen: 1. die historistischen, d.h. traditionsverbürgenden oder -schaffenden Kontinuitätskonstruktionen, die aus den philosophiehistorischen Studien des Neukantianismus herüberwirken, wobei zu klären wäre, in welcher Weise Ernst Cassirers späte Studien über sie hinausgehen; 2. deren kritische Brechung durch eine soziologische oder politikwissenschaftliche Ideologienlehre, die sowohl von der Wissenssoziologie wie vom Horkheimer-Kreis praktiziert wurde, aber politisch in verschiedene Richtungen ging – wurde sie in den 1940er Jahren etwa „fallengelassen“? 3. Gegen beide in sich heterogene Denkschulen war der geistesgeschichtliche „Tigersprung“ (Walter Benjamin) gerichtet, der über die Moderne hinwegsetzte und Rettung im politischen Denken der Antike suchte – so könnte man die ideenhistorischen Entwürfe von Leo Strauss, Hannah Arendt und Eric Voegelin metaphorisch beschreiben.

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Thomas Hobbes – totalitärer oder liberaler Denker? Zur Hobbes-Diskussion der dreißiger Jahre Manfred Gangl

1. Wer vom Internationalen Hobbes-Kongress 1938 in Kiel, der von der Hobbes-Gesellschaft zum Gedächtnis des 350. Geburtstages von Hobbes organisiert wurde1, eine Debatte über Hobbes erwartet hätte, musste enttäuscht werden. Es war lediglich ein Festakt, in dem die verschiedenen zugesandten Grußworte verlesen wurden, der Rektor der Universität Kiel, Paul Ritterbusch2 eine Begrüßungsrede und der Vorsitzende der HobbesGesellschaft, Baron Cay von Brockdorff die einzige inhaltliche Rede zu Hobbes hielt, in der er von einer neuen Phase der Hobbes-Forschung sprach, repräsentiert von Paul Ritterbusch und Carl Schmitt (der aber selbst nicht anwesend war, sondern sich mit einem Grußwort begnügte), die die vorhergehende, durch die textkritischen Arbeiten von Ferdinand Tönnies geprägte Phase abgelöst habe.3 Mit dem Hinweis auf Tönnies, der 1933 von seinem Lehramt enthoben worden und 1936 gestorben war, wurde nahezu mutig eine freundschaftliche und persönliche Schuld abgegol-

1 Zu den Details: Tomaž Mastnak, „Hobbes in Kiel, 1938: From Ferdinand Tönnies to Carl Schmitt“, History of European Ideas, vol. 41, 7/2015, S. 966-991, bes. S. 976ff. 2 Bekannt geworden durch die spätere sogenannte Ritterbusch-Aktion, dem groß angelegten Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften, an der auch Carl Schmitt teilnahm. Vgl. dazu Frank-Rutger Hausmann, ‚Deutsche Geisteswissenschaft‘ im Zweiten Weltkrieg: Die ‚Aktion Ritterbusch‘ (1940-1945), Dresden/München: Dresden University Press, 1998; zur Person S. 33-50, zur Beteiligung Schmitts S. 44f. 3 Cay von Brockdorff, Zum Gedächtnis des 350. Geburtstages von Hobbes. Veröffentlichungen der Hobbes-Gesellschaft, Bd. IX, Kiel: Lipsius & Tischer, 1938, S. 10. Cay von Brockdorff hatte 1929 mit Ferdinand Tönnies die deutsche Hobbes-Gesellschaft gegründet und war ab 1936 deren Präsident.

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ten4, – mit dem Hinweis auf Ritterbusch und Schmitt jedoch eine Gemeinsamkeit suggeriert, die nur mühsam eine Rivalität zu verdecken in der Lage war.5 Geht man nun umgekehrt von Carl Schmitts Hobbes-Studie aus dem Jahre 19386 aus, der u.a. auch ein Vortrag zugrunde lag, den Schmitt am 29. April 1938 nach dem Hobbes-Kongress in der Hobbes-Gesellschaft unter dem Vorsitz von Baron Cay von Brockdorff in Kiel gehalten hatte, so wird dort mehrmals zustimmend auf ein Buch von Paul Ritterbusch, Der totale Staat bei Thomas Hobbes, Kiel 1938 verwiesen7, das aber wohl nie erschienen ist, und auf dessen Rede in Kiel, die den Titel „Die Totalität des Staates bei Hobbes“ getragen hatte. Die Hobbes-Diskussion der dreißiger Jahre schien so auf den ersten Blick gesehen gar nicht stattgefunden zu haben. Es schien nur die politisch-polemische Diskussion um die Bedeutung des Leviathan durch Carl Schmitt auf der einen Seite, und die quasi schon abgeschlossene textkritische Hobbes-Forschung von Ferdinand Tönnies8 auf der anderen Seite zu geben. Dieser Eindruck entstand z.T. durch Carl Schmitt selbst, der in seiner frühen ideengeschichtlichen Abhandlung zum Souveränitätsgedanken,

4 Vgl. Cay von Brockdorff, „Persönliches von Ferdinand Tönnies“, in: Reine und angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem achtzigstem Geburtstage, Leipzig: Hans Buske, 1936, S. 363-376. 5 Vgl. z.B. Ritterbusch, „Die rechtswissenschaftliche Aufgabe unserer Zeit und die juristische Fakultät“, in: Schriften des NS.-Reichswahrerbundes in Österreich, Heft 10, Wien: Deutscher Rechtsverlag, 1938, S. 15-25. Dort (ebd., S. 20) die Zurückweisung des (Schmittschen) Dezisionismus: „[D]enn dieser war von jeher durch einen chaotischen Begriff des Daseins bedingt, nicht aber durch seinen Begriff als Ganzheit und Gemeinschaft“ und die Festlegung der Rechtswissenschaft auf das, „was Carl Schmitt als Ordnungs- und Gestaltungsdenken bezeichnet hat“. 6 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols (1938), mit einem Anh. sowie einem Nachw. des Hrsg., 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta, 1995. 7 Vgl. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 34f.: „Die Darstellung von Paul Ritterbusch […] vermittelt […] ein klares Bild der Staatslehre des Hobbes.“ und „Der pluralistische ‚Naturzustand‘ kann, wie Paul Ritterbusch treffend sagt, mit den analytischen Begriffen dieses Rationalismus nicht in einen völlig anders gearteten Zustand der Einheit und des Friedens überführt werden.“ (ebd., S. 51f.) 8 Besonders Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre, Faksimilie-Neudruck der 3., vermehrten Aufl. Stuttgart 1925, eingel. u. hrsg. v. Karl-Heinz Ilting, Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1971, auf den sich im Folgenden alle Kontrahenten beziehen sollten.

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Thomas Hobbes – totalitärer oder liberaler Denker?

Die Diktatur, Anfang der zwanziger Jahre dort Hobbes bereits behandelt hatte9 und seine spätere Auseinandersetzung mit Leo Strauss10 und seine Beschäftigung mit der kontroversen Hobbes-Diskussion in den dreißiger Jahren11 zwar inhaltlich in sein Hobbes-Buch von 1938 einfließen ließ, den Diskussionszusammenhang jedoch lediglich in eine kurze Passage und in eine einzige Anmerkung wieder auseinanderriss12 und damit verschwinden ließ. Dem ist die riesige Literatur zu Schmitt allgemein weithin gefolgt.13 Geht man jedoch den knappen Verweisen in Schmitts HobbesBuch und auch in von Brockdorffs Rede auf dem Hobbes-Kongress 1938

9 Vgl. Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1921), 3. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot, 1964, S. 22f. u. S. 30-32. 10 Insbesondere die Ausführungen zu Hobbes in Leo Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat (1930), in: ders., Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, Gesammelte Schriften Bd. 1, hrsg. v. Wiebke und Heinrich Meier, Stuttgart / Weimar: Metzler, 1996, S. 1-330 [geschrieben 1925-1928] und in Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“ (1932), in: Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Mit Leo Strauss’ Aufsatz über den „Begriff des Politischen“ und drei unveröffentlichten Briefen an Carl Schmitt aus den Jahren 1932/33, Stuttgart: Metzler, 1988, S. 97-125 (aufgenommen in: Leo Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, Gesammelte Schriften Bd. 3, hrsg. v. Wiebke und Heinrich Meier, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2001, S. 217-238). Vgl. zum letzteren bes. Heinrich Meier, Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“, S. 9-96. 11 Vgl. Carl Schmitt, „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. XXX (1936/37), H. 4 [August 1937], S. 622-632. 12 Im Hobbes-Buch erwähnt Schmitt Schelskys Artikel „Die Totalität des Staates bei Hobbes“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. XXXI (1937/38), H. 2 [Januar 1938], S. 176-193, der sich ja ebenfalls auf Vialatoux und Capitant bezogen hatte und direkt gegen Schmitt gerichtet war, im 1. Kap. gegen Ende (Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 22f.). Vialatoux und die Rezension von Capitant werden davon unabhängig erst später im 6. Kap. in einer langen Anmerkung genannt (ebd., S. 111-113), und zwar etwas gekürzt und nahezu wörtlich aus seinem Hobbes-Artikel übernommen, vgl. Carl Schmitt, „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“(1937), S. 623-624. Neu hinzugekommen ist der Verweis auf „den jüdischen Gelehrten“ Leo Strauss, Die Religionskritik Spinozas (1930) und die darin enthaltenen Bemerkungen zu Hobbes, vgl. ebd., S. 20f. 13 Ausnahmen bilden etwa: Helmut Rumpf, Carl Schmitt und Thomas Hobbes. Ideelle Beziehungen und aktuelle Bedeutung, mit einer Abhandlung über: Die Früh-

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Manfred Gangl

in Kiel genauer nach und zieht den dort erwähnten kurzen Artikel Schmitts „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“ im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie aus dem Jahre 1937 (der gleichsam die Vorstudie zum Hobbes-Buch ist) direkt hinzu14, so lassen sich mühelos der Beginn, der Verlauf und die Themen der Hobbes-Diskussion rekonstruieren. Sie hat ihren Ursprung interessanterweise in Frankreich und der Beitrag Schmitts ist im Grunde genommen zunächst der Kommentar zu dieser Debatte. Denn gleich zu Beginn seines Artikels referiert Schmitt kurz die Positionen der beiden französischen Kontrahenten: Josef Vialatoux mit seinem Buch zu Hobbes15, in der Hobbes’ Staatskonzeption als die Theorie des totalitären Staates dargestellt wird und René Capitant, der in seiner Rezension dazu16 dieser These energisch widerspricht:

schriften Carl Schmitts. Berlin: Duncker & Humblot, 1972, S. 91-95 (aber auch hier wird zuerst die Hobbes-Interpretation von Schmitt abgehandelt und danach gesondert die Beiträge von Vialatoux, Capitant und Schelsky); Hubertus Rottleuthner, „Leviathan oder Behemoth? Zur Hobbes-Rezeption im Nationalsozialismus – und ihrer Neuauflage“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie [ARSP] Jg. LXIX, 1983, H. 2, S. 247-265; bes. S. 248-252; Volker Neumann, „‚Esoterische Verhüllungen‘. Carl Schmitt verrätselt Thomas Hobbes“, in: Thomas Lau / Volker Reinhardt / Rüdiger Voigt (Hrsg.), Der sterbliche Gott. Thomas Hobbes’ Lehre von der Allmacht des Leviathan im Spiegel der Zeit, Baden-Baden: Nomos, 2017, S. 211-236 (hier wiederum wird Schelsky nur knapp gestreift). 14 Vgl. Cay von Brockdorff, Zum Gedächtnis des 350. Geburtstages von Hobbes, S. 10. Dort (ebd., S. 11) dann auch der Hinweis auf die gegenüber der deutschen Position völlig verschiedenen Auffassungen von Vialatoux und Capitant. 15 Joseph Vialatoux, La cité de Hobbes. Théorie de l’état totalitaire; essai sur la conception naturaliste de la civilisation, Paris: Gabalda / Lyon: Chronique sociale de France, 1935. Neuauflage unter dem Titel: Joseph Vialatoux, La cité totalitaire de Hobbes. Théorie naturaliste de la civilisation. Essai sur la signification de l’existence historique du totalitarisme, éd. augmentée d’une préface nouvelle, Lyon: Chronique sociale de France, 1952. [Préface: S. V-XVI]. 16 René Capitant, „Hobbes et l’État totalitaire“, Archives de Philosophie de droit et de Sociologie juridique, Sixième année, 1936, n° 1-2, S. 46-75. [Rezension zu: Joseph Vialatoux, La cité de Hobbes. Théorie de l’état totalitaire; essai sur la conception naturaliste de la civilisation, Paris: Gabalda / Lyon: Chronique sociale de France, 1935], aufgenommen in: René Capitant, Écrits d’entre-deux-guerres (1928-1940), Textes réunis et présentés par Olivier Beaud, Paris: Éditions Panthéon Assas, 2004, S. 231-257. Erweiterte Fassung von René Capitant, „Hobbes et le Troisième Reich“, in: L’Allemagne contemporaine, 20 avril 1936, S. 55-57, aufgenommen in: René Capitant, Face au Nazisme. Écrits 1933-1938,

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Thomas Hobbes – totalitärer oder liberaler Denker?

„Vor kurzem hat J. Vialatoux, der durch zahlreiche wirtschafts- und gesellschaftsphilosophische Schriften bekannte Professor an der Institution des Chartreux in Lyon, eine Abhandlung über Hobbes veröffentlicht, in der er ihn als den Philosophen des heutigen Totalismus hinstellt und schließlich unterschiedslos zum Kirchenvater des Bolschewismus, Faschismus, Nationalsozialismus und der Deutschen Christen erhebt. Vieles macht dem französischen Katholiken seine Sache leicht; von der Seite Hobbes her das berühmte Bild des alles verschlingenden Leviathan, Wendungen wie deus mortalis und homo homini deus, dazu die staatsabsolutistische These, daß jede Religion außer der jeweils vom Staat vorgeschriebenen oder erlaubten Aberglaube sei. Von der anderen Seite kommt die summarische Vieldeutigkeit des Schlagworts ‚total‘ hinzu, das unendlich viel Verschiedenes bedeuten kann: mancherlei Arten einer weitgehenden Inanspruchnahme oder einer weitgehenden Vernichtung der individuellen Freiheit, aber auch manche, im Grunde nur relativen Änderungen der überkommenen Abgrenzungen des Spielraums bürgerlicher Freiheit, Zentralisierungen, Wandlungen des überlieferten verfassungsrechtlichen Begriffs der ‚Gewaltenteilung‘, Aufhebungen früherer Trennungen und Unterscheidungen, Totalität als Ziel und Totalität als Mittel usw. […] Gegenüber Vialatoux hat der ausgezeichnete französische Staatsrechtslehrer R. Capitant in seinem Aufsatz ‚Hobbes et l’Etat totalitaire‘ auf den individualistischen Charakter der Staatskonstruktion des Hobbes hingewiesen und die starken freiheitlichen Vorbehalte herausgearbeitet, die bei einem von Individuen geschlossenen Vertrag unausrottbar sind und die auch F. Tönnies17 nachdrücklich betont hat. Von der individuellen Freiheit gilt eben auch: tandem usque recurrent. R. Capitant ist als liberal-demokratischer Franzose selbstverständlich ein Gegner der ‚idéologie totalitaire qui fleurit de nos jours‘. Doch betont er mit Recht, daß die von Hobbes geforderte staatliche Kontrolle aller wissenschaftlichen Ansichten nur als ein Teil der polizeilichen Sicherheit und Ordnung, nicht aber als wirkliche ‚Staatsreligion‘ gedacht ist. Hobbes ist in der Tat ‚profondément individualiste et rationaliste‘. […] Aber auch R. Capitant gibt zu, daß die Verwendung des berühmten Bildes von dem monströsen Fabelwesen ‚Leviathan‘ Hobbes als einen ‚mystischen Totalisten‘ erscheinen lassen kann.“18

Textes réunis par Olivier Beaud, Postface de Philippe Burrin, Strasbourg: Presses Universitaires de Strasbourg, 2004, S. 135-140. 17 Schmitt verweist hier auf F. Tönnies, Thomas Hobbes, S. 257 und scheint sich auf Stellen wie diese zu beziehen: „Selbst Hobbes hält es nicht für die Pflicht eines Untertanen, auf seinen Vater oder Bruder zu schießen, wenn der König es befiehlt; ausdrücklich lehrt er, daß hier die natürliche Freiheit in ihr Recht wieder eintrete, die niemand aufgeben habe außer um seines Schutzes und (wie hier impliziert wird) um des Schutzes der Seinen willen.“ (ebd., S. 257) 18 C. Schmitt, „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“ (1937), S. 623f. Als Anmerkung stark gekürzt übernommen in: C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 111f.

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Hier direkt anschließend nimmt Schmitt dann die berühmte Unterscheidung der drei Bilder des ‚Leviathan‘ vor: das mythische Bild / die souveräne Person durch Repräsentation / der Staat als eine (von der souveränrepräsentativen Person beseelte) Maschine – eine Unterscheidung, die bereits hier eingeführt, dann aber besonders im Hobbes-Buch eingehend ausgeführt wird. Vialatoux bleibt für Schmitt auch später in seinen Nachkriegsschriften das Paradebeispiel einer vorschnellen und irrtümlichen Aktualisierung von Hobbes als Vordenker des Totalitarismus.19 2. Vialatoux hatte, wie er im Vorwort zur Ausgabe 1935 schreibt, den ersten beiden Teilen seines Buches zur Entstehung des modernen Naturalismus und zum System von Hobbes, die er lange zuvor konzipiert hatte, unter dem Eindruck der zeitgeschichtlichen Entstehung der totalitären Staaten, einen dritten Teil angehängt, in dem er nachweisen wollte, wohin das theoretische Denken Hobbes’ in der geschichtlichen Folge notwendig geführt habe. Bereits im Naturalismus als solchem liege die Tendenz zum Totalitarismus: „Totalitärer Individualismus oder Krieg aller gegen alle; totalitärer Nationalismus oder Krieg zwischen den Nationen; totalitärer Kommunismus oder Aufsaugen der Menschheit in einen allmächtigen Staat: das sind die einzigen logischen Resultate des Naturalismus.“20

19 Vgl. C. Schmitt, „Die vollendete Reformation. Zu neuen Leviathan-Interpretationen“ (1965), in: C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 137-178; S. 141: „Der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts hat zu manchen vorschnellen Aktualisierungen geführt, die aus dem Leviathan des Thomas Hobbes eine Art Manifest dieses Totalitarismus gemacht haben.“ Und dann direkt auf Vialatoux bezogen: „Wer den modernen Scientismus für die Ursache des modernen Totalitarismus hält und daraufhin Hobbes als den intellektuellen Urheber des totalen Staates beklagt, tut ihm Unrecht. Das gilt vor allem für das Buch von J. Vialatoux“ (ebd., S. 170f.). Unter dem „Eindruck des modernen Totalitarismus […] wurde Hobbes für die Schrecken und Greuel des Totalitarismus verantwortlich gemacht.“ (ebd., S. 178) 20 Vialatoux, La cité totalitaire de Hobbes, S. 184 (meine Übersetzung). Vgl. a. Dominique Estragnat, „Naturalisme et politique. Joseph Vialatoux face à Hobbes“, in: Emmanuel Gabellieri / Paul Moreau (Hrsg.), Humanisme et philosophie citoyenne. Jean Lacroix, Joseph Vialatoux, Paris: Lethiellieux – Desclée de Brouwer, 2010, S. 229-254, bes. S. 251.

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Im Vorwort von 1952 finden sich dann auch Klarstellungen zur Rezension von Capitant. Es wird die Unterstellung Capitants zurückgewiesen, wonach der Interpretation von Vialatoux zufolge das Werk von Hobbes ideengeschichtlich die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts beeinflusst hätte und der Leviathan der Vorläufer dieser Regime sei.21 Demgegenüber heißt es: Hobbes sei kein ‚Vorläufer‘ unserer konkreten totalitären Regime. Aber er ist, was davon sehr wohl zu unterscheiden sei, der abstrakte Theoretiker des staatlichen Totalitarismus.22 Was die totalitären Ideologien am meisten charakterisiere, so habe René Capitant 1936 unter dem Eindruck des Hitlerregimes geschrieben, sei, dass sie auf einem „organizistischen, vitalistischen und mystischem“ Postulat beruhen, das atomistischindividualistische Sein verleugnen und direkter Ausfluss der „Gefühlskräfte der Seele“, der „dunklen Kräfte des Instinkts“, des „irrationalen Glaubens“, der „kollektiven Seele des Volkes“ seien. Zwischen diesem Vitalismus und dem rationalistischen Individualismus von Hobbes gebe es keine Gemeinsamkeit, dieser könne von daher nicht der ‚Vorläufer‘ von jenem sein. Die reine und kalte rationale Welt – so hieß es bei Capitant – in die uns die staatliche Ordnung von Hobbes führe, stehe im völligen Kontrast zu der mystischen und fanatischen Welt der zeitgenössischen Diktaturen.23 Das träfe völlig zu, gesteht Vialatoux Capitant zu, nur sei ein Mythos der Totalität eben keine Theorie der Totalität, wie sie bei Hobbes als erstem in reiner Form vorliege. René Capitant, der von 1930 bis 1939 Verfassungsrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Straßburg lehrte, hatte Schmitts Hüter der Verfassung von 1931 positiv besprochen und die starke Stellung des Reichspräsidenten auch für die krisengeschüttelte Dritte Republik Frankreichs empfohlen.24 Carl Schmitt betont 1936 in seinem „Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen“25, dass „das Ver-

21 22 23 24

Vgl, ebd., S. VI [Préface von 1952]. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. VII. Vgl. René Capitant, „Le rôle politique du président du Reich“, Politique, mars 1932, S. 216-229; aufgenommen in: Capitant, Écrits constitutionnels, Préface de Marcel Waline, Paris: Éd. du CNRS, 1982, S. 435-445; [ebenfalls in: Capitant, Écrits d’entre-deux-guerres (1928-1940), Textes réunis et présentés par Olivier Beaud, Paris: Éditions Panthéon Assas, 2004, S. 393-403]. 25 Vgl. Schmitt, „Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen“ (1936), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Berlin: Duncker & Humblot, 1988, S. 214-229.

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fassungsrecht des nationalsozialistischen Deutschen Reiches […] die gesamte, aus dem gewaltenteilenden Gesetzesbegriff entstehende Problematik der gesetzgeberischen Ermächtigungen hinter sich gelassen“ hat und damit zugleich „der entscheidende Schritt zur Aufhebung von Legislative und Exekutive getan“ 26 sei. Nicht nur im nationalsozialistischen Staat, sondern auch im Rahmen eines grundsätzlich liberalen Konstitutionalismus, ließe sich von der Überwindung der Trennung von Legislative und Exekutive sprechen. Als Kronzeugen führt Schmitt hier Capitant an: „René Capitant, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das parlamentarische System Frankreichs durch vernünftige Reformen zu retten, erklärt in seiner Schrift über die Reform des Parlamentarismus27 Montesquieus überlieferte Trennung von Legislative und Regierung mit aller Entschiedenheit für geschichtlich überwunden und grundsätzlich falsch (‚une idée fausse‘); er sagt mit Recht, daß die sog. décrets-lois wirkliche Gesetze sind; er sieht gerade in weiten Ermächtigungsgesetzen die Rettung des Parlaments und des Parlamentarismus. Gesetzgebung ist für ihn heute wesentlich Regierungssache.“ 28

In seinem Hobbes-Artikel von 1937 und seinem Hobbes-Buch von 1938 macht sich Schmitt nun die Kritik Capitants an Vialatoux völlig zu Eigen.29 Capitant bedankte sich seinerseits für die Zusendung des Hobbes26 Ebd., S. 227. 27 Schmitt verweist hier in einer Fußnote auf René Capitant, La réforme du parlementarisme, Paris: Sirey, 1934 [Broschüre, 34 Seiten], aufgenommen in: ders., Écrits d’entre-deux-guerres (1928-1940), S. 325-342. Folgendes Zitat: ebd., S. 333. 28 Schmitt, „Überblick über die Entwicklung der gesetzgeberischen Ermächtigungen“ (1936), S. 227f. Vgl. zum Verhältnis Capitants zu Schmitt und ihren unterschiedlichen Konzeptionen sehr detailliert Olivier Beaud, „René Capitant, juriste républicain. Étude de sa relation paradoxale avec Carl Schmitt à l’époque du nazisme“, in: La république. Mélanges en honneur de Pierre Avril, Paris: Montchrestien, LGDJ, 2001, S. 41-66. 29 „Für Ihrer Wertung von Hobbes sich annähernd halte ich die präzise Formulierung von René Capitant: ‚La Pensée de Hobbes est profondément individualiste, et par conséquence, en opposition complète avec l’organicisme de l’Etat totalitaire allemand.‘“ (Brief von Ernst Jünger vom 24.2.1976 an Carl Schmitt, in: Ernst Jünger – Carl Schmitt, Briefe 1930-1983, hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart: Klett-Cotta, 1999, S. 416-417; S. 416f.) [In seiner Anm. hierzu verweist der Herausgeber, dass sich in Schmitts Nachlass u.a. Capitants Aufsatz „Hobbes et l’État totalitaire“ aus dem Jahre 1936 und René Capitant, „L’État national-socialiste“ (1934), Sonderdruck Comité alsacien d’études et d’informations. Office d’informations allemandes, Bulletin mensuel jaune, 15e année, n° 3“, abgedruckt bei: Piet Thommissen (Hrsg.), Schmittiana I, Brüssel: Wiley-VCH, 1989, S. 120-130 (Teile in „L’idéologie national-socialiste“ von 1935

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Thomas Hobbes – totalitärer oder liberaler Denker?

Buches von Schmitt und würdigte geflissentlich den Reichtum und die Tiefe des Werkes.30 3. Schmitts Hobbes-Interpretation läuft darauf hinaus, dass das Bild vom alles verschlingenden Leviathan das Bild des Staates vom sterblichen Gott, dem großen Menschen, dem großen Tier und der großen Maschine überlagert hätte. Wenn Kritiker und Apologeten in Hobbes den totalitären Staat entdeckten, so seien sie eben diesem Trugbild erlegen: „Es wäre doch eine sonderbare Staatsphilosophie, wenn ihr ganzer Gedankengang nur darauf hinausliefe, daß die armen menschlichen Individuen sich aus der totalen Angst des Naturzustandes in die ebenso totale Angst einer Moloch- oder Golemherrschaft flüchteten.“31

Das unglücklich gewählte „Bild vom Leviathan [...] malt [...] nicht einen Feind, denn es stellt den frieden- und sicherheitbringenden Gott dar. Es ist auch kein politischer Freund-Mythus, dazu ist es wohl zu schauerlich und abschreckend“.32 Es sei vielmehr das Bild der Repräsentation einer absoluten souveränen Macht, die streng genommen durch die individualistische Vertragskonzeption gar nicht zustande komme. Denn der Konsens aller mit allen wäre eher Gesellschaftsvertrag und noch nicht Herrschaftsvertrag. Das Wesentliche in Hobbes’ Vertragskonstruktion sieht Schmitt infolgedessen weniger in einer durch den Gewaltverzicht aller zugunsten des Souveräns erfolgten Herrschaftsübertragung, sondern eher in der Konstituierung des repräsentativ-souveränen Organs selbst, „d.h. der Vertrag schafft eine absolute Repräsentation, die jeder Einzelne gegen sich geltend machen lassen muß und aus der der Staat als Einheit [H. v.

übernommen) befinden, vgl. ebd., S. 822.] In seinem Artikel „L’État national-socialiste“ (1934) geht Capitant auch auf die Differenzen zwischen Schmitt und Koellreutter zum Verhältnis der NSDAP zum Staat ein. 30 Am 28.7.1938 beglückwünschte Capitant Schmitt zum ‚Leviathan‘ und bewunderte „la richesse et la pénétration“ seiner Abhandlung. Anm. des Herausgebers in: Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg., m. e. Vorw. u. mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin: Duncker & Humblot, 1995, S. 148. 31 C. Schmitt, „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“ (1937), S. 627. 32 Ebd., S. 625.

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mir, M.G.] entsteht. Demnach würde nicht ein Unterwerfungsvertrag der Einzelnen den Staat begründen, sondern die Unterwerfung Aller unter die souveräne Einheit, die vorher nicht vorhanden war und erst mit der Repräsentation entsteht“.33

Es wird in dieser Sichtweise eine Identität von Herrscher und Beherrschten beschworen, wonach sich jeder Herrschaftsunterworfene so verhält, „als ob die Handlungen des Souveräns seine eigenen wären“34, was folglich jedes Widerstandsrecht ausschließe: „Daher gibt es auch im Staat kein privates Gewissen, dem man mehr gehorchen müßte als dem staatlichen Gesetz; jedem muß das staatliche Gesetz höchste Gewissenspflicht sein.“35 Versuchte Schmitt 1921 in Die Diktatur Hobbes noch im totalitären Sinne zu interpretieren, so ändert sich nun seine Rezeptionsstrategie dahingehend, dass die Schwierigkeit, das private Gewissen zu überwinden, bei Hobbes selbst verortet wird.36 Nun hat trotz aller positiven Würdigung die Hobbes’sche Staatskonstruktion in den Augen Schmitts dennoch ein entscheidendes Manko: Denn letztlich ist der Staat bei Hobbes „als Ganzes, mit Leib und Seele, ein homo artificialis und als solcher Maschine“.37 Es ist dieses von Menschen selbst geschaffene Werk des als technischer Apparat verstandenen modernen Staates, dessen Bild mit der technisch-industriellen Entwicklung folgerichtig auch obsiege. Die souverän-repräsentative Person „ist nur ein zeitgeschichtlich gebundener Ausdruck der barocken Repräsentationsidee des 17. Jahrhunderts, des Absolutismus, nicht

33 C. Schmitt, Die Diktatur, S. 23, Anm. 1. Die hierin enthaltenen Ausführungen zu Hobbes hat Schmitt weitgehend in seinen späteren Hobbes-Artikel von 1937 übernommen. Leo Strauss spricht von der „Koinzidenz des Sozialvertrags mit dem Unterwerfungsvertrag“ bei Hobbes (L. Strauss, „Einige Anmerkungen über die politische Wissenschaft des Hobbes. Anlässlich des Buches von Z. Lubienski, ‚Die Grundlagen des ethisch-politischen Systems von Hobbes‘“ [1933], in: ders., Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, S. 247). 34 Ebd. 35 Ebd., S. 22. 36 Es gehört zu den dreisten Rechtfertigungsstrategien Schmitts nach dem Kriege, denselben privaten Gewissensvorbehalt, der bei Hobbes der Totalisierung des Staates entgegenstehe und im Nationalsozialismus überwunden werden sollte, nun als Beweis für seine antitotalitäre Einstellung und Distanz zum Nationalsozialismus auszugeben, vgl. Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln: Greven, 1950, S. 21. 37 C. Schmitt, „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“ (1937), S. 629.

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eines ‚Totalismus‘“.38 Der eigentliche Machtapparat sei der moderne, zentralisierte Staat, dessen sich die Herrscherperson zwar bediene, dem sie letztlich aber selbst ausgeliefert bleibe: „Ein Mechanismus ist keiner Totalität fähig. Ebensowenig kann die reine Diesseitigkeit des individuellen physischen Daseins zu einer sinnvollen Totalität gelangen.“39 Der Hobbes’sche Staat war demnach nun für Schmitt nicht total genug.40 Erst die Aufhebung der „individuelle[n] Gedankenfreiheit […] als letzter, hintergründiger Vorbehalt“41 könne der Bestimmung des Totalen gerecht werden. Erst der nationalsozialistische Staat, in dem die Volksverbundenheit „jede, auch die abstrakteste menschliche Äußerung und die subtilste geistige Betätigung bis in ihr letztes Atom hinein von innen he-

38 Ebd. In seinen späteren Aufzeichnungen zu Hobbes heißt es sprachlich verschärft, aber in der Sache unverändert: „Hobbes ist der eigentliche Philosoph des Barock: die Herausstellung einer Fassade […]; Trennung von Herrschaft und Macht […]. Der Leviathan selbst ist eine Fassade, die Herrschaftsfassade vor der Macht […].“ (C. Schmitt, Glossarium, Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, S. 39) Oder in seiner Sammelrezension zu neueren Arbeiten zu Hobbes: „War es nicht heller Wahnsinn, den guten Eindruck einer friedensstiftenden politischen Einheit durch eine solche allegorische Drapierung zu verwirren?“ (C. Schmitt, „Die vollendete Reformation. Zu neuen Leviathan-Interpretationen.“ [1965], S. 143) 39 Ebd., S. 631. 40 Otto Koellreutter, Schmitts interner Rivale, macht in seiner Rezension zu Schmitts Hobbes-Buch, in der er sich auch auf Schelskys Artikel und Vialatoux bezieht, darauf aufmerksam, dass der Begriff des totalen Staates wie auch der Bezug auf Hobbes unergiebig seien: „Die in dem Begriff des totalen Staates liegende Überschätzung des Staates und seiner Herausstellung als Selbstzweck muss aber für das nat.-soz. Denken zur Ablehnung des ‚totalen Staates‘ als Staatstypus führen.“ – „So wie Carl Schmitt den Leviathan versteht, hat uns die Staatslehre von Hobbes für unsere politische Welt nichts zu bieten.“ (O Koellreutter, „Leviathan und totaler Staat“, Reichsverwaltungsblatt, Bd. 59, Nr. 38, September 1938, S. 803-807; S. 804/807) Vgl. Martin Jänicke: „Die ‚abgründige Wissenschaft‘ vom Leviathan. Zur Hobbes-Deutung Carl Schmitts im Dritten Reich“, Zeitschrift für Politik, 16/1969, H. 3, S. 401-415; S. 403: „Aber bereits Anfang 1934 setzte eine parteioffizielle Kritik dieses Begriffs ein, die einmal auf eine Betonung der eigenen Besonderheit gegenüber dem italienischen Faschismus hinauslief, zum anderen aber in einer Abwehr der im Totalitarismus-Begriff implizierten etatistischen und damit gleichsam ‚parteifeindlichen‘ Position bestand.“ Zur Rivalität und zum Konflikt zwischen Koellreutter und Schmitt ab 1934 vgl. Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt: Theorist for the Reich, Princeton: Princeton University Press, 1983, S. 222f. u. 248f., der gleichwohl vorgibt (ebd., S. 245f.), Schmitts Beschäftigung mit Hobbes sei gegen den nationalsozialistischen Totalitarismus gerichtet. 41 C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 88.

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raus“42 bestimme, war denn auch für Schmitt die Einlösung der theoretischen Bestimmung: „Das Politische ist das Totale“43 und die historische Realisierung dieses totalen Staates, der „in seinem Inneren keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen“44 lasse. Die absolute Herrschergewalt sei daher bei Hobbes absolut nur in der ihr eigenen Sphäre der Öffentlichkeit und müsse vor dem Inneren der Individuen halt machen, habe keinen Zugriff mehr auf die Gedanken, Gefühle und Seelenzustände der Menschen: „Eine öffentliche Macht und Gewalt mag noch so restlos und nachdrücklich anerkannt und noch so loyal respektiert werden, als eine nur öffentliche und nur äußerliche Macht ist sie hohl und von innen bereits entseelt.“45

In seiner geistesgeschichtlichen Deutung vom Zerfall der staatlichen Einheit sieht Carl Schmitt die erste Einbruchsstelle der bei Hobbes dargestellten souveränen und geschlossenen Einheit des modernen Staates bei Hobbes selbst. In dessen Unterscheidung von innerem Glauben und äußerem Bekenntnis seien bereits alle Unterscheidungen enthalten, die sich historisch dann auch im Weiteren bis zum liberalen Rechts- und Verfassungsstaat folgerichtig ergeben hätten.46 Denn wenn der Leviathan auch die Macht über Wunder und Bekenntnis hat, so hat er sie doch nur als äußere Macht der öffentlichen Vernunft: „Ob etwas als ein Wunder anzusehen ist, entscheidet demnach der Staat, als die öffentliche Vernunft, die ‚public reason‘, im Gegensatz zur ‚private reason‘ des Staatsunterworfenen.“47 Gegenüber dem, was als Höhepunkt der souveränen Macht erscheinen könnte, macht Hobbes jedoch damit zugleich „seinen unausrott-

42 C. Schmitt, „Die deutschen Intellektuellen“, Westdeutscher Beobachter, Jg. 9, Nr. 126 vom 31.5.1933 zit. n. Hasso Hofman, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied/Berlin: Luchterhand, 1964, S. 183. 43 Vgl. mit weiteren Verweisen meinen Artikel: „‚Das Politische ist das Totale‘. Carl Schmitts Bestimmung des Politischen“, in: Manfred Gangl (Hrsg.), Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während Weimarer Republik, Frankfurt a.M.: Lang, 2008, S. 37-56. 44 C. Schmitt, „Starker Staat und gesunde Wirtschaft“ (1932), in: ders., Staat, Großraum, Nomos, S. 74 u. wörtlich übernommen in ders., „Die Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland“ (1933), in: ders., Positionen und Begriffe, S. 186. 45 C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 94. 46 Vgl. ebd., S. 85. 47 Ebd., S. 84.

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baren individualistischen Vorbehalt“48 geltend, „läßt es aber dem Einzelnen, kraft der allgemeinen Gedankenfreiheit […] unbenommen, bei sich selbst, gemäß seiner privaten Vernunft, innerlich zu glauben oder nicht zu glauben“.49 Damit wurde bereits bei Hobbes „der Vorbehalt der inneren, privaten Gedanken- und Glaubensfreiheit in das politische System aufgenommen […]. Er wurde zum Todeskeim, der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat“.50 4. Der junge Helmut Schelsky geht in seinem Artikel, der sich als Entgegnung auf den kurz zuvor in der gleichen Zeitschrift veröffentlichten Artikel von Carl Schmitt51 versteht, einleitend auf die französische Diskussion ein: „So hat jetzt das französische und das von diesem beeinflusste Staatsdenken Hobbes in den Mittelpunkt einer Diskussion über den Begriff der Totalität des Staates gestellt.“52 Er referiert kurz die Position von Vialatoux und die Kritik daran von Capitant, „der darin im Grunde nichts anderes tut, als das traditionelle Hobbesbild aufrechtzuerhalten“53 und dem sich Carl Schmitt angeschlossen habe. Im Grunde genommen aber „treffen sich zum Schluß alle diese Deutungen jenseits der Frage, ob Hobbes zum totalitären Staatsdenken zu rechnen ist oder nicht, in der Ansicht, daß die Grundlagen seines Staatsdenkens Rationalismus, Mechanismus und Individualismus wären. – Auf dieser Grundlage aber kann niemals der Begriff des totalen Staates konzipiert werden, wenigstens nicht insofern er irgendeinen Primat des Politischen ausdrücken soll, womit also die Gegner der Deutung Hobbes’ als eines totalitären Staatsdenkers recht hätten und jede weitere Erörterung unnötig wäre. Wenn wir hier trotzdem die These aufgreifen, daß man von einer Totalität des Staates bei Hobbes sprechen kann, so geschieht dies im Gegensatz zu all den genannten Deutungen“.54

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Ebd. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. C. Schmitt, „Der Staat als Mechanismus bei Hobbes und Descartes“ (1937), a.a.O. H. Schelsky, „Die Totalität des Staates bei Hobbes“ (1938), S. 176. Ebd., S. 177. Ebd.

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Die ganzen weiteren Ausführungen dienen diesem Ziel. Zunächst gebe es eine Allgemeinheit des Denkens, wie es der Rationalismus unterstellt, bei Hobbes gar nicht: „Letzthin ist alles Denken bei Hobbes auf die konkrete Erlebnissituation oder auf die darin zu tuende menschliche Handlung bezogen.“55 Ferner handle es sich bei Hobbes nicht um einen irgendwie gearteten Mechanismus, sondern um Politik: „Wenn man nun die Politik als Lehre von den menschlichen Handlungen anspricht, so ergibt sich sofort die Parallelität von Politik und Physik, wie Vialatoux betont, aber in einem völlig seiner Ansicht entgegengesetzten Sinne: nicht die Physik ist das ursprüngliche Erklärungsfeld, sondern die Politik als Lehre vom Handeln.“56

Schließlich heißt es zum Individualismus: Der Mensch erscheine bei Hobbes zwar als soziales Wesen, dieses sei jedoch nicht wie bei Aristoteles in die ‚erste‘ Natur des Menschen gelegt, sondern als Auftrag, „seine Natur zu gewinnen durch die Tat […]. Des Menschen ‚erste Natur‘ ist sein Untergang, seine wahre Natur und Bestimmung ist die ‚politische‘, die ‚künstliche‘, ist die Tat. Er ist darauf angewiesen, sich durch Herrschaft, durch Befehlen, staatlichen Frieden und politische Zucht zu geben. Deutlicher kann kaum der Primat des Politischen bereits im Bilde des Menschen entwickelt werden“.57

Daher sei der Mensch auch von Natur aus „weder gut noch böse, sondern mächtig: Macht ist seine Natur“58, so wie im Leviathan das Denken in den Dienst dieses Machtbegehrens gestellt sei: „Denn die Gedanken sind für das Begehren gleichsam die Pfadfinder und Spione, die draußen nach Weg und Mittel suchen, die zu den ersehnten Dingen führen“59 oder wenn es im De Homine heißt: „Denn aus dem Bündnis von Geist und Körper folgt, daß der Ursprung des Vollziehens einer Tat zwar vom Trieb, seine Beratung aber von der Vernunft abhängt.“60 Auf die Staatslehre bezogen bedeute dies, dass in der staatlichen Souveränität Macht und Vernunft ineinander aufgehen: „Wie Körper und Geist in der menschlichen Macht des Tuns, so gewinnen jetzt diese Macht und die ganzen sittlichen und naturrechtlichen Bestimmun-

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Ebd., S. 179. Ebd., S. 181. Ebd., S. 181. Ebd., S. 186. Zit. n. ebd., S. 186. Zit. n. ebd., S. 189.

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gen der Vernunft im Staatlichen ihren Beziehungspunkt, ihre Wirklichkeit. Hier ist die Einheit aller Wirklichkeiten und Vorwirklichkeiten erreicht, hier ist jenes Allmächtige erfaßt, für dessen Einheit es keine Denkbestimmungen mehr gibt, will man es nicht wieder mit den Wesensmerkmalen seiner eigenen Kreatur, des Menschen, beschreiben, die doch erst aus seiner Wirklichkeit Gehalt und Wahrheit empfangen. So stehen wir hier vor der letzten Wirklichkeit, auf die alles zugeht, die alles verschlingt, vor dem ‚großen Leviathan‘.“61

Wo selbst Carl Schmitt vor dem Bild dieses „Leviathans“ zurückschreckt und den Gebrauch bei Hobbes abzuschwächen sucht – es sei „ein aus gutem englischen Humor geborener, halbironischer, literarischer Einfall“62 –, weil er es letztlich als einen „Fehlschlag“ ansieht, konzentriert Schelsky seine ganze Argumentation darauf und es wird für ihn zum Sinnbild des von ihm befürworteten totalitären Staates. Der Grund, weshalb Hobbes dennoch als Urbild des Rationalisten und Naturrechtlers angesehen werden konnte, liegt nach Schelsky darin, dass man bislang völlig übersehen habe, „daß er seine Bücher über den Bürger zugleich für den Bürger geschrieben hat. […] Ihm, dem Bürger dient keine Lehre von der Macht, denn er hat und trägt sie nicht, er ist für Hobbes der verstehende, nicht der vollziehende Teil im Staate, ihn kann man und muß man allein bei der Vernunft packen, um ihn mit dem Staate zu identifizieren“.63

Daher der Akzent auf Vernunft und Vernunftrecht und die Betonung auf das Verhältnis von Schutz und Gehorsam, das auch Carl Schmitt hervorhob: „Hier liegt der Grund, warum im Vordergrund seiner Schriften die Naturrechtslehre steht: dem Bürger mußte er jene ‚Relation von Schutz und Gehorsam‘ vor Augen stellen, ihm war nur vom Ziele des Friedens her der Staat einsichtig und bejahbar, die Seite der Zucht, die für Hobbes die Kehrseite des Friedens ist, war für die Herrschenden.“64

In seinem damals nicht publizierten Hobbes-Buch hieß es 1941 im Vorwort: „Entstanden ist es [das vorliegende Buch] aus einer Auseinandersetzung mit Carl Schmitt über die deutsche Hobbes-Auffassung in ihrem

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Zit. n. ebd., S. 190. C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), S. 31. H. Schelsky, „Die Totalität des Staates bei Hobbes“ (1938), S. 192. Ebd., S. 193.

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Gegensatz zur westeuropäischen“65, wobei er auf den Aufsatz von Schmitt und seine eigene Entgegnung im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie sowie auf Schmitts Hobbes-Buch von 1938 verweist. Dies wird ebenso und sehr ausführlich im neuen Vorwort zur Erstveröffentlichung 1981 betont, wonach seine Habilitationsschrift „erstens durch eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt über seine Hobbesauffassung“ entstanden sei, wobei er es als „eine[n] der vielen Glücksfälle“ seines Lebens bezeichnet, „daß ich mich als junger Wissenschaftler an ihm [Schmitt] messen durfte“.66 Als zweiten Grund führt er auch hier die Anregung und Förderung durch Hans Freyer an. Obwohl er auch später immer wieder darauf insistierte, dass die Anregung zur Auseinandersetzung mit Hobbes von Freyer und nicht von Gehlen ausging67, bei dem er damals [1938-1940] Assistent war, so war es doch Gehlen, der Schmitt nicht nur zum Vortrag über Hobbes nach Leipzig eingeladen hatte, der dann in sein Hobbes-Buch einfloss68, sondern dessen philosophische Anthropologie für Schelskys Arbeit so bestimmend wurde, dass Schelsky gerade diesen Tatbestand als Begründung für die Veröffentlichung nach 40 Jahren anführt.69 Inhaltlich legt Schelsky seiner Hobbes-Interpretation die philosophische Anthropologie zugrunde, wie sie Gehlen in seinem Hauptwerk Der Mensch 1940 entwickelt hatte70 (auf welches Schelsky auch explizit ver-

65 Helmut Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre. Berlin: Duncker & Humblot, 1981, Vorwort 1980, S. 13. Die 1941 abgeschlossene Habilitationsschrift wurde dann wegen Papiermangels nicht gedruckt. 66 Ebd., S. 5. 67 Vgl. seinen polemischen Artikel: Helmut Schelsky, „Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann. Erinnerungen an Hans Freyer, Helmuth Plessner und andere“, in: ders., Rückblicke eines ‚Anti-Soziologen‘, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1981, S. 134-159; S. 147. 68 Im Vorwort zu seinem Hobbes-Buch weist Carl Schmitt darauf hin, dass es zum einen auf einen Vortrag zurückgehe, den er am 21. Januar 1938 in der von Arnold Gehlen geleiteten Philosophischen Gesellschaft in Leipzig gehalten hatte. Es spricht alles für die Vermutung, dass Schelsky diese Gelegenheit wahrnahm, seine Auseinandersetzung mit Schmitt fortzusetzen. Zum anderen lag ihm ein Vortrag zugrunde, den Schmitt am 29. April 1938 in der Hobbes-Gesellschaft unter dem Vorsitz von Baron Cay von Brockdorff in Kiel gehalten hatte. Vgl. C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 5. 69 H. Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Vorwort 1980, S. 8. 70 Auch Gehlen beschwört jeweils „die gebieterische Gewalt der Zuchtformen, der Sitten, Moralen und Strafen, der Herrschafts- und Führungsordnungen, die Gewalt des Leviathan, von dem geschrieben steht: ‚Meinst du, die Gesellschaften werden

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weist71), und kombiniert sie nicht nur mit dem Gesichtspunkt einer politischen Adressiertheit, die er an Freyers Machiavelli-Interpretation gewonnen habe72, sondern insbesondere mit Freyers voluntaristischer Handlungstheorie.73 So meint er zum einen „die spezifisch menschliche ‚Umweltentlastetheit‘ und die ihr entsprechende innere Verfügbarkeit der Antriebskräfte“74 – die bei Gehlen ausgeführte anthropologische These, dass der Mensch im Unterschied zum Tier in seinen Handlungen nicht instinktiv auf seine geschlossene Umwelt reagiere, sondern besonders mittels der Sprache befähigt sei, „seine Handlungen in seiner Gewalt zu behalten und sie zielend auf eine ihm gegenständliche Welt anzusetzen in der Lage ist“75, also triebentlastet und umweltoffen agiert. Zum anderen skizziert er einleitend vier Menschenbilder, das optimistische, das pessimistische, das intellektualistische und schließlich das aktivistische Menschenbild, aus dem, auch ohne dass Freyer explizit genannt wird, unschwer dessen aktivistische Handlungstheorie zu erkennen ist. Hobbes wird vor diesem Hintergrund als aktivistischer Denker interpretiert, bei dem die Frage nach

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ihn zerschneiden, daß er unter die Kaufleute zerteilt wird?‘ (Hiob 40,30)“ (Arnold Gehlen, „Ein Bild vom Menschen“ [1941], in: ders., Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, GA 4, hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1983, S. 50-62; S. 62) Das gleiche Bild hatte Carl Schmitt bemüht, um die Gefährdung der staatlichen Einheit durch die politischen Parteien während der Weimarer Republik zu beschwören, denn wenn „der ‚irdische Staat‘ von seinem Throne stürzt […], dann schlachten die Parteien den mächtigen Leviathan und schneiden aus seinem Leibe jede ihr Stück Fleisch heraus“ (Carl Schmitt, „Staatsethik und pluralistischer Staat“ [1930], in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, 1923-1939, Berlin: Duncker & Humblot, 1988, unveränd. Nachdr., Hamburg: Hanseatische Verlags-Anstalt, 1940, S. 131) und dann in seinem Thomas-Hobbes-Buch von 1938 ausführlich analysiert. Vgl. H. Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Vorwort 1980, S. 50. Vgl. ebd., S. 8. Wie nach Freyer (Machiavelli, Leipzig 1938, Neuauflage Weinheim: VCH, 1986) Machiavelli seinen Fürst an die Fürsten adressiert habe, habe Hobbes seinen Bürger und Leviathan an den Bürger adressiert (Vierter Teil, A: „Die Gerichtetheit der Lehre an den Bürger“, S. 321-333). Vgl. bes. die Darstellung des aktivistischen Menschenbildes (ebd., S. 33ff.). Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft aus dem Jahre 1930 gipfelte in dem (letzten) Satz: „Wahres Wollen fundiert wahre Erkenntnis“ (Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, 2. Auf., unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. von 1930, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, S. 307). H. Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, S. 50. Ebd., S. 50f.

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dem Wesen des Menschen von der Frage nach dem richtigen Handeln nicht zu trennen ist, bei dem Anthropologie und Ethik, Naturwissenschaft und Politik eine Einheit bilden. Die Auseinandersetzung mit Carl Schmitt ist in seinem Hobbes-Buch indirekter als in seinem Hobbes-Artikel – Schmitt wird nun weniger abgrenzend als vielmehr konstruktiv für seine eigene Hobbes-Deutung herangezogen. Dennoch finden sich verstreut direkte Zurückweisungen der Schmitt’schen Hobbes-Interpretation. Die wichtigste – weil sie die zentrale These des Schmitt-Buches trifft – dürfte wohl die Zurückweisung der Schmitt’schen Auffassung sein, „daß die souveräne Herrschaft des Hobbes’schen neutralen, technischen Befehlsstabes an der ‚Trennung von Innen und Außen‘ zerbreche“76, wie es die folgende Stelle aus dem Hobbes-Buch von Schmitt, das Schelsky hieran anschließend zitiert, nahezulegen scheint: „Eine öffentliche Macht und Gewalt mag noch so restlos und nachdrücklich anerkannt und noch so loyal respektiert werden, als eine nur öffentliche und nur äußerliche Macht ist sie hohl und von innen bereits entseelt.“77 Schelsky gesteht zu, dass dieser Vorwurf seine Berechtigung habe, dass Hobbes der Macht keine geschichtlich-konkreten Ziele weise, die Macht, mit der sich der Bürger identifizieren solle, rein formal bleibe – ein Staat ohne Staatsidee. Er erklärt sich dies unter anderem mit der Tatsache, dass Hobbes sich mit seiner Lehre „an ein im Gewissen vom Staat gelöstes Bürgertum wandte, dessen Gewissen er dem Staat zurückgewinnen wollte“.78 Daraus aber eine „Revolte der Innerlichkeit gegenüber der Äußerlichkeit“79 abzuleiten, sei völlig verfehlt: „Diese Position beschreibt Carl Schmitt; aber es heißt die Dinge auf den Kopf stellen, will man Hobbes den Vorwurf machen, er habe in der Rechtfertigung der Herrschaft durch die Macht den Gegensatz von äußerlicher Macht und privater Gesinnung aufgerissen und durch seine Auffassung des Staates als eines neutral-technischen Machtapparates seien die pluralistischen Gewalten freigesetzt worden.“80

76 Ebd., S. 411. 77 C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 94. Mit Zitatfehler bei Schelsky: statt „öffentliche Macht“ heißt es bei ihm „offensichtliche Macht“. 78 Ebd., S. 412. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 412f.

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Hobbes sei es umgekehrt gerade darum gegangen, „in der Wiederherstellung der Einheit von Macht und Gewissen die Wiederbegründung der echten Herrschaft zu erreichen“.81 Dass er damit die reale historische Entwicklung der Machtzunahme der pluralistischen Gewalten und die damit verbundene Entpolitisierung der Innerlichkeit nicht aufhalten konnte, könne seiner Lehre nicht als Vorwurf gemacht werden. Noch am deutlichsten – und auch auf den Anlass seiner eigenen Untersuchung verweisend – sind die Schlusspassagen seines Buches. Die Wirkung von Hobbes sei vorrangig durch seine Gegner geprägt: „Die Nachwelt hat […] stets wieder den Kampf und die Kritik der pluralistischen Gewalten gegen ihn geboten oder sie hat einzelne Teile seiner Lehre in ihre Systeme umgedeutet, so daß der Anschein entstand, als sei Hobbes einer der Begründer des demokratischen Parlamentarismus, des Liberalismus, Individualismus usw. So ist diese Lehre von den widersprechenden Kräften bekämpft und aufgenommen worden; es ist daher ein leichtes, das Fehlschlagen dieser Lehre zu begründen, indem man innere Widersprüche dieser Lehre an ihren Wirkungen aufweist, wie es Carl Schmitt in seiner Schrift über den ‚Leviathan‘ tut.“82

Interessant ist der explizite Verweis auf Leo Strauss, The Political Philosophy of Hobbes. Its basis and its genesis, Oxford 1936.83 Dieser „jüdische Gelehrte“, wie es im Einklang mit der offiziellen NS-Sprachregelung hieß, habe ganz richtig „durch Nachprüfung früherer Handschriften Hobbes’ und durch wichtige Stilanalysen und Vergleiche mit antiken Schriftstellern, besonders Aristoteles“ die These erhärtet, dass die Hobbes’sche politische Lehre früher und unabhängig von den naturwissenschaftlichen Theorien seiner Zeit formuliert worden sei. Doch vermag für Schelsky „die positive These dieser Schrift, die Hobbes zu einem Moralisten […], zu einem bloßen ‚Betrachter von Menschen und Sitten‘, macht und seine Zuwendung zur mathematischen Naturwissenschaft nur als einen seine ursprüngliche Gedanken verfälschenden wissenschaftlichen Überbau aufgefaßt wissen will, ebenfalls nicht stichhaltig zu sein“.84

81 Ebd., S. 413. 82 Ebd., S. 442. 83 Ebd., S. 217f. Vgl. jetzt: L. Strauss, „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis (1935/1965)“, in: ders., Hobbes’ politische Wissenschaft, S. 3-192. 1964 erstmals auf Deutsch veröffentlichte Studie, die im Exil in den Jahren 1934/35 in England ausgearbeitet und 1936 in englischer Übersetzung erschienen war. 84 Ebd., S. 218.

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Auf keinen Fall dürfe die Einheitlichkeit seines Denkens aufgegeben werden: „Vor allem aber darf der berechtigte Einwand, daß Hobbes’ Denken nicht von der Naturwissenschaft seiner Zeit ausgeht, nicht dazu führen, eine begründbare und berechtigte Einheit beider zur leugnen. Zwar liegen die Grundlagen seiner Philosophie nicht in der Naturwissenschaft, aber ihre Ergebnisse führen zu ihr.“85

Daher setzt er gegen Strauss und dessen Auffassung, „daß Hobbes eine seinen eigenen Ansichten gemäße Methode wissenschaftlicher oder philosophischer Verbindlichkeit nicht erreicht habe“, bewusst seine eigene Auffassung entgegen, die in „jenen einheitlichen und eigentümlichen Grundlagen des Hobbes’schen Denkens die Verbindlichkeit einer philosophischen Anthropologie erblickt, die zum mindestens im De Homine zu neuen und weittragenden Grundbegriffen und Methoden vorgestoßen ist“.86 Im Weiteren erläutert er am anthropologischen Begriff der Handlung, dass die praktische Beherrschung der Naturkräfte der begrifflichen Erfassung und theoretischen Ausformulierung vorangegangen sei. Die kritische Anknüpfung an Strauss stand auch nicht umsonst im dritten Teil seines Buches „Der handelnde Mensch“ und im Unterabschnitt „Die Einheit der Handlung“. 5. Leo Strauss hat sich in den 30er Jahren intensiv und von Schmitt gefördert (Gutachten für sein Rockefeller-Stipendium in Paris und dann in London) mit Thomas Hobbes beschäftigt.87 Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe 1965/1968 zur Religionspolitik Spinozas aus dem Jahre 193088 behauptet Strauss, dass seine Besprechung von Schmitts Begriff des Politischen von 1932 Ausdruck eines „Orientierungswandels“ gewesen sei, eine Rückkehr zur vormodernen Philosophie, an deren Unmöglichkeit er in der

85 Ebd. 86 Ebd. 87 Siehe detailliert Heinrich Meier in seinem Vorwort zu: L. Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, S. VII-XXXVIII, bes. S. IX. 88 Vgl. L. Strauss, Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft (1930), a.a.O.

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Studie über die Religionskritik Spinozas noch als einer „durch ein mächtiges Vorurteil sanktionierte[n] Prämisse“ festgehalten habe: „Ich begann mich deshalb zu fragen, ob die Selbstzerstörung der Vernunft nicht das unvermeidliche Ergebnis des modernen Rationalismus im Unterschied zum vormodernen Rationalismus, insbesondere zum jüdisch-mittelalterlichen Rationalismus und seinem klassischen (Aristotelischen und Platonischen) Fundament war.“89

Im Vorwort 1964 zu „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis (1935/1965)“90 schreibt Strauss von den Anregungen zu seiner Beschäftigung mit Hobbes und erwähnt unter anderem, dass Carl Schmitt in seinem Aufsatz ‚Zum Begriff des Politischen‘ von 1927 behauptet habe, „daß Hobbes ‚weitaus der größte und vielleicht der einzige wahrhaft systematische politische Denker‘ sei. Schmitts Urteil über die Größe und Bedeutung von Hobbes, das meinem damaligen Gefühl oder Geschmack entsprach, verstärkte begreiflicherweise mein Interesse für Hobbes“.91 Auf seine eigene Rezension zu Schmitts ‚Zum Begriff des Politischen‘ verweist er denn auch in folgendem Zusammenhang: „Hobbes ‚schätzt‘ die Schrecken des Naturstands nur darum, weil allein auf dem Bewußtsein dieser Schrecken eine wahre und dauernde Gesellschaft beruhen kann. Die bürgerliche Existenz, die diese Schrecken nicht mehr erfährt, hat Bestand nur solange sie sich ihrer erinnert. Durch diese Einsicht unterscheidet sich Hobbes von denjenigen seiner Gegner, die grundsätzlich seine bürgerlichen Wertschätzungen teilen, aber seine Auffassung des Naturstands verwerfen.“92

In der hier anschließenden Fußnote verweist er darauf, dass er dies in seiner Rezension ausführlicher dargelegt habe. Es dürfte sich um folgende Stellen handeln: „[Hobbes] setzt in einer illiberalen Welt wider die – sit venia verbo – illiberale Natur des Menschen die Grundlegung des Liberalismus durch, während die Späteren, unwissend über ihre Voraussetzungen und Ziele, auf die in Gottes Schöpfung und Vorsehung begründete ursprüngliche Güte der menschlichen Natur vertrauen oder auf Grund naturwissenschaftlicher Neutralität Hoffnung auf eine Verbesserung der Natur hegen, zu denen die Erfahrung des Menschen

89 Ebd., S. 54. Vgl. dazu Jeffrey Andrew Barash, „Leo Strauss et la question du relativisme“, Cité, 2001/4, n° 8, Paris: Presses universitaires de France, S. 153-176. 90 L. Strauss, „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis (1935/1965)“, S. 3-192. 91 Ebd., S. 7. 92 Ebd., S. 140f.

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über sich selbst kein Recht gibt. Hobbes versucht, angesichts des Naturstandes den Naturstand zu überwinden, in den Grenzen, in denen er sich überwinden läßt, während die Späteren sich einen Naturstand erträumen oder auf Grund einer vermeintlich tieferen Einsicht in die Geschichte und damit in das Wesen des Menschen den Naturstand vergessen.“93

Demgegenüber heißt es zu Schmitt: „Schmitt geht wider den Liberalismus auf dessen Urheber, auf Hobbes, zurück, um in Hobbes’ ausdrücklicher Negation des Naturstandes die Wurzel des Liberalismus zu treffen. Während Hobbes in einer illiberalen Welt die Grundlegung des Liberalismus vollzieht, unternimmt Schmitt in einer liberalen Welt die Kritik des Liberalismus.“94

In der Anmerkung dazu bemerkt er: Obwohl Schmitt von Hobbes als politischem Denker spricht, trifft eher das Gegenteil zu – „In Wahrheit ist er der antipolitische Denker (‚politisch‘ in Schmitts Sinn verstanden).“95 Schmitts antiliberale Kritik bewege sich noch im Horizont des Liberalismus96: „Die von Schmitt eingeleitete Kritik am Liberalismus kann daher nur dann zur Vollendung kommen, wenn es gelingt, einen Horizont jenseits des Liberalismus zu gewinnen.“97 Die Polemik gegen den Liberalismus diene nur als Vorbereitungsaktion dafür, „ein freies Schußfeld zu bekommen“ für die eigentliche Auseinandersetzung, „für den Entscheidungskampf zwischen dem ‚Geist der Technizität‘, dem ‚Massenglauben eines antireligiösen Diesseits-Aktivismus‘ und – dem entgegengesetzten Geist und Glauben, der wie es scheint, noch keinen Namen hat“.98 Im Grunde genommen gehe es auch nicht um den Liberalismus: „Es kommt Schmitt also zuletzt nicht auf den Kampf gegen den Liberalismus an. Eben deshalb ist die Bejahung des Politischen als solchen nicht sein letztes Wort. Sein letztes Wort ist die ‚Ordnung der menschlichen Dinge‘ [Schmitt].“99

93 L. Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“ (1932), S. 225. 94 Ebd. 95 Ebd., Anm. 1. 96 Vgl. dazu meinen Beitrag „In den Fängen des Liberalismus. Carl Schmitt und sein Begriff des Politischen“, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.), Freund-Feind-Denken. Carl Schmitts Begriff des Politischen, Stuttgart: Steiner Verlag, 2011, S. 79-107. 97 L. Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“ (1932), S. 238. 98 Ebd., S. 237. 99 Ebd. Strauss antizipierte damit die Wendung Schmitts zum „konkreten Ordnungsund Gestaltungsdenken“ (C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftli-

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In einem Brief an Gerhard Krüger, dem er die Schmitt-Rezension zuschickt, präzisiert er dies genauer: „Ich glaube, daß es nur einen Gegensatz gibt, den zwischen ‚Links‘ und ‚Rechts‘, zwischen ‚Freiheit‘ und ‚Autorität‘, […] zwischen utopistische[m] Schwindel und Nüchernheit.“100 In dieser Überzeugung lässt er sich auch nach 1933 nicht erschüttern: „Daraus, dass das rechts-gewordene Deutschland uns [als Juden] nicht toleriert, folgt schlechterdings nichts gegen rechte Prinzipien. Im Gegenteil: nur von den rechten Prinzipien aus, von den fascistischen, autoritären, imperialen Prinzipien aus lässt sich mit Anstand, ohne den lächerlichen und jämmerlichen Appell an die droits impresciptibles de l’homme, gegen das meskine Unwesen protestieren.“ 101

Daher gebe es „keinen Grund zu Kreuze zu kriechen, auch nicht zum Kreuz des Liberalismus.“102 Der Nationalsozialismus scheint gegenüber dem Faschismus in den Augen von Strauss dem Sog der Säkularisierung der modernen Welt nicht entrinnen zu können: „Der Nationalsozialismus ist nur das letzte Wort der ‚Säkularisierung‘, d.h. des Glaubens an die sich von selbst herstellende Harmonie oder an das Recht der Leidenschaft und des Gefühls oder an die Volkssouveränität.“103 Für Strauss ist die Gehorsamspflicht des Bürgers bei Hobbes von vornherein eingeschränkt. „Berechtigtermaßen kann der Staat vom einzelnen nur einen bedingten Gehorsam verlangen, nämlich einen Gehorsam, der mit der Rettung oder Erhaltung des Lebens dieses einzelnen nicht in Widerspruch steht; denn die Sicherung des Lebens ist der letzte Grund des Staates.“104 So findet die unbedingte Gehorsamspflicht des einzelnen gegenüber dem Staat am Einsatz seines Lebens ihre Grenze: „Das Recht auf Sicherung des nackten Lebens, in dem das Naturrecht des Hobbes beschlossen ist, hat vollständig den Charakter eines unveräußerlichen Menschenrechts, d.h. eines dem Staat vorangehenden, seinen Zweck und seine Grenzen bestimmenden Anspruchs der einzelnen; Hobbes’ Begründung

chen Denkens, 2. unveränd. Ausg. der 1934 in der Hanseatischen Verlags-Anstalt erschienen ersten Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1993, S. 48). 100 Brief vom 19. Aug. 1932, in: L. Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, S. 399. 101 Brief vom 19. Mai 1933 an Karl Löwith, ebd., S. 624-625; S. 625. 102 Ebd. 103 Brief an Jacob Klein vom 23 Juni 1934, ebd., S. 515-518; S. 517. 104 L. Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“ (1932), S. 224.

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des naturrechtlichen Anspruchs auf die Sicherung des nackten Lebens legt den Fortgang zu dem ganzen System der Menschenrechte im Sinne des Liberalismus nahe, gesetzt, daß sie ihn nicht sogar erforderlich macht.“105

Nicht zuletzt daher ist für Strauss Hobbes „der Begründer des Liberalismus“.106 Genau dies findet sich dann bei Schmitt 1938 scharf ausformuliert. 6. Auch Franz Neumanns Hobbes-Interpretation damals107 geht genau in diese Richtung. Auch für ihn ist Hobbes der Begründer des Liberalismus. Er kritisiert ja gerade die gängige Auffassung, nach der bei Hobbes „Gehorsamspflicht gegenüber Staatsgesetzen über allen Gewissenspflichten“108 stehe, zielt damit aber bezeichnenderweise auf die Schmitt’sche Interpretation in Die Diktatur von 1921, wo ausgeführt worden war, daß die politische Einheit Staat und Individuum gleichermaßen umfasse und bereits der kategoriale Unterschied zwischen Staat und Individuum obsolet sei und wo es hieß: „Daher gibt es auch im Staat kein privates Gewissen, dem man mehr gehorchen müßte als dem staatlichen Gesetz; jedem muß das staatliche Gesetz höchste Gewissenspflicht sein.“109 „Die übliche Interpretation behauptet, daß es bei Hobbes kein Recht außerhalb des Staates gibt, daß der Staat der alleinige Schöpfer des Rechts ist, daß er allein darüber entscheidet, was gut und schlecht ist, daß er selbst nichts Schlechtes tun kann, daß die Gehorsamspflicht gegenüber Staatsgesetzen über allen Gewissenspflichten steht [hier Verweis auf Schmitt] – in einem Wort: daß jede Form von Naturrecht fehlt.“110

Die Gegenthese Neumanns lautet: „Es gibt bei Hobbes, trotz der auf den ersten Blick gegebenen Unvereinbarkeit von positivem und natürlichem Gesetz und trotz der direkten Ableitung

105 Ebd., S. 224f. 106 Ebd., S. 224. 107 Vgl. Franz L. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes. Eine Untersuchung zum Verhältnis von politischer Theorie und Rechtssystem in der Konkurrenzgesellschaft (1936), übersetzt und mit einem Nachwort von Alfons Söllner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980 (darin: 2. Teil, V. Hobbes, S. 128-136). 108 Ebd., S. 128f. 109 C. Schmitt, Die Diktatur, S. 22. 110 F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 128f.

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des Rechts vom Staat, ein Naturrecht. Es dient zur Begrenzung der absoluten Souveränität des Staates, es entsteht aus der Annahme, daß der Staat selber naturrechtlich legitimiert ist.“111

Zum Beleg dafür, dass bei Hobbes in der Behandlung der Begrenzung der Souveränität „die Forderung des unbedingten Gehorsams direkt zusammenstößt mit der Forderung nach einem Widerstandsrecht“112 verweist Neumann auf das Buch von Zbigniew Lubienski113, bei dem diese Ambivalenzen herausgearbeitet worden seien. Strauss hat das Buch von Lubienski eingehend besprochen.114 Strauss nimmt die Widersprüche der modernen gegenüber der traditionellen Tendenz bei Hobbes, deren letztere von Lubienski lediglich als von Hobbes nicht vollständig überwundene Reste der von ihm grundsätzlich bekämpften aristotelisch-scholastischen Wissenschaftstradition interpretiert werden, zum Anlass, die Hobbes’sche Politik „unmittelbar mit der Platonischen Politik“115 zu konfrontieren. Schelsky kritisiert, dass Lubienski die Hobbes’sche Lehre zu einer ethischen Pflichtenlehre reduziere. Obwohl die Pflicht des Bürgers im Mittelpunkt seiner Lehre stehe, sei es „verfehlt, sie als eine auf dem Pflichtbegriff aufbauende Ethik zu deuten; eine solche Auffassung verfälscht die Fülle der anthropologischen Einsichten und das politische Wollen der Staatslehre durch die Zurückführung auf einen ethischen Begriff und macht diese aus der Erkenntnis des menschlichen Wesens geborene Lehre zu einer Moralwissenschaft von den ‚Pflichten und ihren Funktionen‘ [hier Verweis auf Lubienski]. Es ist nur folgerichtig, daß eine

111 Ebd., S. 129. Bei Tönnies, auf dessen Monographie zu Hobbes Neumann auch pauschal verweist, heißt es z.B. eindeutig: „Selbst Hobbes hält es nicht für die Pflicht eines Untertanen, auf seinen Vater oder Bruder zu schießen, wenn der König es befiehlt; ausdrücklich lehrt er, daß hier die natürliche Freiheit in ihr Recht wieder eintrete, die niemand aufgeben habe außer um seines Schutzes und (wie hier impliziert wird) um des Schutzes der Seinen willen.“ (F. Tönnies, Thomas Hobbes, S. 257) 112 F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 131. Vgl. demgegenüber bei C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 71: „Im absoluten Staat des Hobbes ist ein Widerstandsrecht als ‚Recht‘ auf einer Ebene mit dem staatlichen Recht in jeder Hinsicht, faktisch wie rechtlich, widersinnig und eine Absurdität.“ 113 Z. Lubienski, Die Grundlagen des ethisch-politischen Systems von Hobbes, München: Ernst Reinhardt, 1932. 114 L. Strauss, „Einige Anmerkungen über die politische Wissenschaft des Hobbes“, a.a.O. 115 Ebd., S. 260.

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solche ‚ethische‘ Deutung Hobbes’ Lehre in der Verkündigung der Idee des ewigen Friedens und des Pazifismus gipfeln läßt“.116

Franz Borkenau wiederum kritisiert das Buch von Lubienski als „eine verzuckerte Interpretation des Gedankenkreises, der mit seinem ‚homo homini lupus‘ als erster das Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung konsequent aussprach“.117 Für Neumann war „das Hauptanliegen von Hobbes […] offensichtlich nicht die Rechtfertigung der absoluten Monarchie […] Was er wollte, war die Konstitution der staatlichen Autonomie als solcher, und zwar unabhängig von der Bewegung der sozialen Kräfte und den darin liegenden Konflikten“.118 Ihm kam es „auf die Stabilisierung der Staatssouveränität als solcher an [..], und nicht auf die eines ihrer Organe“.119 Letztlich sei „Hobbes […] zum Theoretiker des einen Grundelements des bürgerlichen Staates, des machtstaatlichen Elements, also zum Protagonisten der absoluten Souveränität geworden“.120 Auch bei Horkheimer121 heißt es, dass

116 H. Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, S. 422f. 117 Franz Borkenau, Besprechung von Zbigniew Lubienski, Die Grundlagen des ethisch-politischen Systems von Hobbes, Zeitschrift für Sozialforschung, 1/1932, H. 3, S. 419-420; S. 420. 118 F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 133. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 136. Auch in späteren Texten hält Neumann an dieser Position fest: „Trotz ihres absolutistischen Charakters jedoch ist Hobbes’ Theorie in ihrem Kern demokratisch“ und „Hobbes gesteht den Individuen noch beträchtliche Reste an natürlichen Rechten zu.“ (Franz L. Neumann, „Typen des Naturrechts“ [1940, ursprüngl. auf Englisch: „Types of Natural Law“, in: Studies in Philosophy and Social Science, Jg. 8, New York 1939-1940, S. 338-361], in: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954, hrsg. v. Alfons Söllner, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978, S. 223-254; S. 243 u. S. 232) 121 Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930): in: ders., Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie / Hegel und das Problem der Metaphysik / Montaigne und die Funktion der Skepsis, mit einer Einleitung von Alfred Schmidt, Frankfurt a.M.: Fischer, 1971: 2. Naturrecht und Ideologie (zu Hobbes), S. 31-57 (aufgenommen in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932, hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a.M.: Fischer, 1987, S. 179-268).Vgl. dazu auch das entsprechende Hobbes-Kapitel in der seinerzeit unveröffentlichten Vorlesung im Sommersemester 1927, das als Grundlage diente: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 9: Nachgelassene Schriften 1914-1931, Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie, hrsg. v. Alfred Schmidt, Frankfurt a.M.: Fischer, 1987, S. 103-132.

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Hobbes jederzeit „die Form des Staates als relativ nebensächlich gegenüber der faktischen Existenz irgendeiner starken Herrschaftsgewalt angesehen“122 hat: „Als Philosoph war er Diener der starken, jeweils am Ruder befindlichen Regierung, deren Macht zu festigen ihm höchste Pflicht und Aufgabe schien.“123 Analog auch Schelsky: „Seine politische Lehre tritt daher nicht eigentlich für die Monarchie ein, sondern für die volle Souveränität der Herrschenden, wer sie auch immer seien.“124 7. Ferdinand Tönnies hatte in der Neuauflage seiner Hobbes-Studie125, auf die sich Schmitt, Schelsky, Strauss, Neumann, Horkheimer und andere beziehen, in den letzten Kapiteln „Die Sittenlehre und das Naturrecht“ und „Die Staatslehre“ im Vergleich zu den früheren Auflagen verstärkt auf die politische Lehre von Hobbes Wert gelegt. Hobbes wird als der Theoretiker des Rechtsstaats und Begründer des politischen Liberalismus, aber auch als Theoretiker des modernen, souveränen Staates gedeutet: „Seine Gedankenwelt (ist) ein System des Liberalismus, in dem Sinne, wie ihn auch der aufgeklärte Absolutismus […] des 18. Jahrhunderts vertritt.“126 Neumann rechnet es als das Verdienst von Tönnies an, dass selbst die von der traditionellen liberalen Theorie geteilte Ansicht, dass „die Begründung des Depotismus […] sein einziges Ziel“ sei, nun durch seine Arbeiten „ganz und gar veraltet“127 sei. Nach Tönnies sei es „ein Mißverständnis, wenn man meint, daß er [Hobbes] praktisch das Eindringen des Gesetzes in alle Gebiete des Privatlebens das Wort reden wollte. Die freiheitliche Tendenz 122 123 124 125 126

M. Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, S. 32. Ebd., S. 33. H. Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, S. 427f. Vgl. F. Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre, a.a.O.. F. Tönnies, Thomas Hobbes, S. 222. Auch für Strauss widerspricht „sein Eintreten für den Absolutismus […] nicht etwa seinem Liberalismus“, so wie sich auch viele historische Beispiele finden ließen, „dass der Liberalismus, jedesmal wenn er sich durchsetzen muss oder er bedroht ist, auf seine absolutistischen Anfänge zurückgreift“ (L. Strauss, „Einige Anmerkungen über die politische Wissenschaft des Hobbes“, S. 244f.). Das erinnert stark an die These die Marcuse im gleichen Jahr im Hinblick auf den Nationalsozialismus und C. Schmitt formuliert hat, cf. Herbert Marcuse: „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“, Zeitschrift für Sozialforschung, 3/1934, H. 2, S. 161-195. 127 F. Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S. 128.

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seiner Politik richtet sich […] wesentlich gegen die Kirche und ihre Gerichtsbarkeit“.128 Sie richte sich vornehmlich gegen den Klerus, der bestrebt sei „die Macht des Gesetzes, das nur Regel von Handlungen ist, auf die Gedanken und Gewissen der Menschen auszudehnen, durch Prüfung und Inquisition ihrer Meinungen“.129 Für Tönnies ist Hobbes der ideale Repräsentant des „Rationalismus der Aufklärung“.130 Der Mensch wird bei Hobbes, das unterstreicht Tönnies besonders, von allen sozialen Bindungen gelöst, als isoliertes Individuum dem Staat gegenübergestellt. Damit wird von Hobbes begrifflich die reale „Auflösung aller gemeinschaftlichen Verhältnisse und Verbände in Individuen“131 antizipiert. Der Staat inkorporiere durch das allgemeine öffentliche Recht alle gemeinschaftlichen Sphären, „indem er alle korporativen Bildungen, die nicht ausgesprochen privatrechtlichen Charakter haben, zerstört, unterdrückt, oder von sich abhängig macht“132, indem „außer Individuum und Staat keine selbständigen Rechtssubjekte gedacht werden“.133 Tönnies hat bekanntlich parallel und in der Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes seine berühmte Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft entwickelt.134

128 129 130 131 132 133 134

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Ebd., S. 257. Ebd., S. 258. F. Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre, S. 190. Ebd., S. 206. Ebd., S. 267. Ebd., S. 257. Das ist auch Vialatoux nicht entgangen: In der Neuauflage von La cité totalitaire de Hobbes weist er ausdrücklich darauf hin, dass das Modell der Gesellschaft bei Tönnies Hobbes entlehnt sei, vgl. J. Vialatoux, La cité totalitaire de Hobbes, Vorwort 1952; S. VII.

Der Apologet als Mineur. Carl Schmitts agonale Ideengeschichte1 Reinhard Mehring

Schmitt konzipierte seine Positionen und Begriffe als thetische Antworten auf eine gegebene Lage, die er für die Zwischenkriegszeit durch die Stichworte „Versailles“, „Genf“ und „Weimar“ kennzeichnete. Alle spezifisch politischen Begriffe verstand er dabei grundsätzlich als „polemische“ Begriffe. Daraus folgte eine Absage an ein historistisches Objektivitätsideal und ein Bekenntnis zur Tendenzgeschichtsschreibung: zu einer politischpolemischen Form der Ideengeschichtsschreibung, die hier im dekonstruktiven Verfahren elementar charakterisiert wird. 1. Ideengeschichte und Geistesgeschichte Das Wort „Ideengeschichte“ hat einen idealistischen Klang. Die ältere Form der Ideengeschichtsschreibung, von der Schmitt sich abstieß, entstand nach Hegel im Historismus des 19. Jahrhunderts. Leopold von Ranke skizzierte seine Ideenlehre 1836 in seinem politischen Lehrgespräch über Die großen Mächte. Dort unterschied er zwischen den „Formen“ und dem „Geist“ einer Verfassung; er meinte, dass die Formen nur „ein zwei-

1 Der – hier erneut überarbeitete – Text wurde für das Kolloquium von Prof. Dr. Gérard Raulet geschrieben und am 17. Dezember 2012 an der Pariser Universität Sorbonne vorgetragen. Am 8. Januar 2013 wurde er im Kolloquium von Prof. Dr. Karsten Fischer an der LMU-München präsentiert. Er erschien zunächst in kürzerer Fassung und brasilianischer Übersetzung: „A apologeta como minor. A história das ideias agonais de Carl Schmitt“, in: Roberto Bueno (Hrsg.), Carl Schmitt hoje. Politica, direito e teologia, Sao Paulo: Editora Max Limonad, 2015, S. 651-664; später erweitert in: Reinhard Mehring, Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk, Wirkung, Aktualität. Freiburg: Alber, 2017, S. 27-43; in weiteren Publikationen habe ich einige der hier angesprochenen Aspekte näher ausgeführt: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. München: Beck, 2009; Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt. Tübingen: Mohr Siebeck, 2014; vgl. auch Verf., Carl Schmitt zur Einführung. Hamburg: Junius, 5. Auf. 2017.

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tes, untergeordnetes Element“ sind; ursprünglich sei „das Ideen eigentümliche geistige Dasein des individuellen Staates, sein Prinzip“.2 Durch diesen „Geist“ habe jeder Staat sein individuelles „Leben“. Ranke findet diese „moralische Energie“ vor allem in den großen europäischen Nationen verkörpert, die zur Nationalstaatsbildung tendieren und ihre Potentiale mehr oder weniger kongruent realisieren: „Individualitäten, eine der andern analog, – aber wesentlich abhängig voneinander. […] geistige Wesenheiten, originale Schöpfungen des Menschengeistes, – man darf sagen, Gedanken Gottes.“3 Rankes Lehrgespräch verteidigte das „monarchische Prinzip“ gegen demokratische Konsequenzen. Auch seine kontemplative Emphase war hier ein Stück Politik: Orientierung an der restaurierten Allianz der großen europäischen Monarchien nach 1815. Ranke zählt zu den Begründern der Historischen Schule und modernen Historiographie. Für die weitere Entwicklung wurde Wilhelm Dilthey besonders prägend. Grob gesagt vermittelte er Ranke und Schleiermacher mit Hegel und spannte die protestantische „Unmittelbarkeit“ des Individuums zu Gott in eine starke Meistererzählung vom Gang der „Geistesgeschichte“ ein. Seine Metaphysikgeschichte war politisch grundiert. Dilthey meinte, dass die Entdeckung und Entwicklung des „organischen Systems“ der Geisteswissenschaften im Rahmen der preußischen Geschichte erfolgte, und betrachtete den Aufbruch Preußens, seinen riskanten Aufstieg zur europäischen Großmacht, als den Erfahrungsboden, der mit den preußischen Reformen und der Berliner Universität den deutschen Idealismus und Historismus des „organischen Systems“ ermöglichte. Seine großangelegte politische Geistesgeschichte und Weltanschauungslehre war an der Berliner Universität ein philosophisches Pendant zu Heinrich von Treitschkes Nationalgeschichte. Die Projekte einer „borussischen“ Nationalgeschichte von der deutschen Sendung Preußens und der philosophischen Geistesgeschichte Diltheys gehören zusammen. Der Historismus wird aber oft einseitig nur als rein fachhistorisches Projekt betrachtet.4 Die metaphysikgeschichtlichen Motive von Diltheys Geistesgeschichte gingen in Heideggers „Seinsge-

2 Leopold von Ranke, Die großen Mächte. Politisches Gespräch, hrsg. von Theodor Schieder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1955, S. 54. 3 Ebd., S. 61. 4 Klassische Darstellungen: Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Tübingen: Mohr, 1922; ders., Der Historismus und seine Überwindung. Berlin: Heise, 1924; Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Tübingen:

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schichte“ unter.5 In der Zwischenkriegszeit wurde deshalb insbesondere der Berliner Historiker Friedrich Meinecke zum letzten Erben und Apologeten des Historismus, der das Erbe des Historismus gegen die nationalsozialistische Tendenzgeschichtsschreibung stellte. Diese Geschichte des Historismus wirkte über den Epochenbruch der Zwischenkriegszeit hinaus. In der Historiographie des Historismus siegte Meinecke über Dilthey und Troeltsch; die initialen philosophischen Motive wurden seither kaum noch vernommen. Damit wurde der Historismus auf ein geschichtswissenschaftliches Projekt verengt und in die Geschichtswissenschaft abgeschoben. Der Historismus vertrat anfänglich aber keinen engen geschichtswissenschaftlichen Positivismus: Er war eine „Weltanschauung“ mit starken religiösen, politischen und philosophischen Motiven. Man sollte also nicht nur an Goethe und Ranke, Treitschke und Meinecke denken, sondern auch an Hegel und Dilthey, Ernst Troeltsch, Eduard Spranger und Werner Jaeger, um zu sehen, wovon Schmitt sich abstieß. 2. Schmitts ideenpolitische Auffassung der Begriffe Schmitt hielt sich nicht lange mit methodologischen Vorüberlegungen auf, sondern erläuterte seine Methodik in der Anwendung. Seine erste größere ideengeschichtliche Monographie brachte die politische Romantik auf eine „metaphysische Formel“ und definierte die „Struktur des romantischen Geistes“ als „subjektivierten Okkasionalismus“.6 Schmitt nahm die politische Romantik als „geistige Bewegung metaphysisch und moralisch ernst“7 und kritisierte sie als aktuelle Tendenz. Seit seiner Dissertation Über Schuld und Schuldarten unterschied er scharf zwischen einem bloß „terminologischen“ und einem „systematischen“ Vorgehen. Für einen Autor seines Rangs schrieb er überraschend viele Rezensionen. Am Beginn der Weimarer Republik verstrickte er sich dabei in hitzige Rezensionsfeh-

Mohr, 2. Auf. 1930; Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus. München/Berlin: Oldenbourg, 1936. 5 Dazu Martin Heidegger, „Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung“, in: ders., Vorträge, Teil I: 1915-1932, Heidegger-Gesamtausgabe, Bd. 80.1, Frankfurt a.M.: Klostermann, 2016, S. 103-157. 6 Carl Schmitt, Politische Romantik. München/Leipzig: Duncker & Humblot, 2. Auf.1925, S. 23. 7 Ebd., S. 7.

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den. Seine Klinge forderte stets scharfe Begrifflichkeiten und genaue politische Kontextualisierung ein. Mit der Rezeption seiner Schriften war er nie zufrieden. So machte er die „Meinecke-Clique“ und „Spann-Bande“ für die angeblich mangelnde Beachtung seiner Politischen Romantik verantwortlich und publizierte 1926 einen scharfen Verriss von Meineckes Idee der Staatsraison, den er „mit einem höflichen Brief“ persönlich übersandte.8 Dieser Meinecke-Verriss ist ein Muster seiner begrifflichen Forderungen. Schmitt nahm ihn deshalb auch in seine Sammlung Positionen und Begriffe auf. Schmitt bemängelt hier zunächst, dass Meineckes „Mosaik der tausend Nuancen“ „jedem Versuch einer Kritik“ zuvorkomme.9 Jede begriffliche Festlegung sei sorgfältig vermieden. Der „Verzicht auf den Begriff“ bedeute aber nicht nur einen „Verzicht auf jede Spannung dialektischer Entwicklung“, sondern auch „auf eine strenge Architektur überhaupt“. Deshalb zerfalle die Studie in eine „Reihe von Essays und Portraits“. Schmitt führt aus, wie ein „moralischer Dualismus“ an die Stelle der alten Idee der Staatsraison tritt; er abstrahiert ein Spektrum polarer Begriffe, deren organisierende moralische „Grundanschauung“ Meinecke nicht präzise formuliert habe. Dessen „geistige Eigenart“ sei durch das „Bild von der Pendelschwingung“10 annähernd erfasst: Meinecke pendele zwischen seinen Begriffen hin und her. Schmitt charakterisiert ihn damit als „liberalen“ Romantiker. Die begrifflichen Defizite macht er vor allem an der Rede vom „Tragischen“ fest. Schmitt schreibt dazu: „‚Tragisch‘ ist keine Kategorie, die, wenn man einmal ein moralisches Gebot ernst nimmt, die letzte Antwort auf einen Konflikt geben könnte. Das Wort ist höchstens ein Ausdruck der inneren Problematik dieses moralischen Gebotes selbst, eine Umschreibung tiefen Bedauerns und der Erschütterung, die aus der historischen Einsicht in die Ohnmacht des Gebotes oder in die Unvermeidlichkeit der Durchbrechung entsteht, aber es kann nicht der überzeugende Schluss eines Werkes sein, in welchem das Problem der Staatsräson von der moralischen Seite gestellt wird. Ein solches Wort bedeutet, dass das Buch kein letztes Wort hat. Eine nur historische Schilderung braucht allerdings

8 Carl Schmitt, „Zu Friedrich Meineckes ‚Idee der Staatsräson‘“ (1926), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Hamburg: Hanseatische Verl.-Anstalt, 1940, S. 45-52; Meineckes überraschend freundliche Antwort vom 25. September 1926 ist abgedruckt in: Friedrich Meinecke, Neue Briefe und Dokumente, hrsg. von Gisela Bock u. Gerhard A. Ritter, München: Oldenbourg, 2012, 287, vgl. S. 319f. 9 C. Schmitt, „Zu Friedrich Meineckes ‚Idee der Staatsräson‘“, S. 45. 10 Ebd., S. 49.

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auch kein letztes Wort zu haben. Anders aber ein Werk, das nun einmal den Standpunkt des Moralgebotes anerkannt hat.“11

Wer ein „allgemeines Moralgesetz“ akzeptiert, kann keine „Durchbrechung“ billigen, sondern muss moralische Defizite und Verfehlungen einklagen. Meinecke schlage zwar eine moralistische Tonart an, führe sie aber nicht konsequent durch. Dass er von „Tragik“ statt von Verfehlung spricht, hält Schmitt für moralisch inkonsequent und politisch symptomatisch. Schmitt deutet eine alternative Auffassung der Staatsräson an, akzeptiert einen Unterschied zwischen der „alten“, absolutistischen Staatsräson und der Gegenwart und will die „neue“ Staatsräson vom „Gegensatz von normalen und abnormen Fällen“12 und der „Annahme der abnormen Situation“13 her aufgefasst wissen. Von dieser Souveränitätslehre her ergebe sich eine spezifisch politische Betrachtungsweise, die zu einer wahrhaft historischen gehöre. In der Meinecke-Rezension spielt Schmitt also seine Souveränitätslehre gegen die Romantik aus. Er betrachtet Meineckes „Moralismus“ und „Dualismus“ als Hemmnis, zu einer politischen Sicht der Geschichte durchzudringen. Seine Kritik ist systematisch treffend: Die geläufige Unterscheidung „moralischer“ und „politischer“ Betrachtungsweisen scheint wirklich nur sinnvoll, wenn Moral und Politik nicht als symmetrische Gegenbegriffe, sondern als Begriffe unterschiedlicher Ordnung betrachtet werden. Moral bezieht sich auf die Wertung von Verhalten als gut oder böse, Politik dagegen auf die strategische Durchsetzung moralischer Überzeugungen. Politik ist nicht an sich gut oder böse. Nicht Politik überhaupt, sondern nur eine bestimmte Politik lässt sich moralisch qualifizieren. Moralische Betrachtungsweisen können deshalb nicht an die Stelle politischer treten. Wichtiger ist hier aber die überraschende These, dass Meineckes unpolitischer Dualismus zu einer unhistorischen Betrachtungsweise führte. Schmitt schreibt dazu am Ende seiner Besprechung: „Wenn er [Meinecke] trotzdem versuchte, die Idee der Staatsräson auch noch im 19. und sogar noch im 20. Jahrhundert als Mittelpunkt seiner Darstellung beizubehalten, so war ihm das nur möglich, weil er den Begriff zu einer ganz allgemeinen Vorstellung von Machtstreben, Machtpolitik und dergleichen erweiterte und ihn einem ebenso allgemeinen Moralgebot gegenüberstellte. Höchst auffällig, ja widerspruchsvoll. Denn nicht nur das Spezifische des Be-

11 Ebd., S. 50f. 12 Ebd., S. 46. 13 Ebd., S. 47.

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griffes geht verloren – das hat den Verfasser ex professo niemals interessiert –, sondern gerade das, was der Historiker gegenüber dem generellen Moralismus früherer Jahrhunderte sonst immer betont und was die Überlegenheit der neueren deutschen Geschichtsschreibung ausmacht. So rächt sich der verachtete Begriff. Wenn wir ins Allgemeine gehen und von den historischen Besonderheiten absehen, dann ist nämlich die ‚gereinigte‘ oder ‚wahrhaft weise‘ Staatsräson schließlich nichts anderes, als die ‚gute‘ Staatsräson, die schon im 16. und 17. Jahrhundert einer schlechten, cattiva ragione di stato entgegengesetzt wurde.“14

Schmitt führt also in seiner Meinecke-Besprechung an einem Hauptvertreter der alten, noch mit Ranke verbundenen Ideengeschichtsschreibung seine Forderung nach einer historisch-politisch „konkreten“ Betrachtungsweise für sein Thema, die Staatsräson bzw. Souveränität, vor. Er verbindet den Nachweis von Meineckes unhistorischer Befangenheit in Moralismen mit einem Anspruch auf scharfe Begrifflichkeiten und historisch-politische Kontextualisierung und schreibt seine programmatische Kritik in der Gewissheit, über eine überlegene Methodik zu verfügen. Schmitts Methodik ist formelhaft bekannt: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“15 „Jeder politische Begriff ist ein polemischer Begriff.“16 Schmitt spricht von einer „Soziologie von Begriffen“, die das „metaphysische Bild“ einer Epoche suche. Er bietet dafür eine synchrone und eine diachrone Lesart an: In synchroner Lesart spricht er von „Strukturidentität“: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form einer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet. Die Feststellung einer solchen Identität ist die Soziologie des Souveränitätsbegriffes.“17 In diachroner Lesart spricht Schmitt von einem Prozess der „Neutralisierungen und Entpolitisierungen“. Er legt die Entwicklungsdynamik dieses Prozesses politisch aus und betrachtet die Dynamik der „Neutralisierung“ als notwendig scheiternden Versuch, den Frieden stabiler Deutungen durch Flucht in vermeintlich „unpolitische“ Sachgebiete zu erreichen. Eine dauerhafte Stabilität kollektiver „Lebens- und Weltanschauungen“ (Dilthey) gibt es nach Schmitt

14 Ebd., S. 52. 15 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 3. Auf. Berlin: Duncker & Humblot, 1979, S. 49. 16 Carl Schmitt, Hugo Preuss. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre. Tübingen: Mohr, 1930, S. 5. 17 C. Schmitt, Politische Theologie, S. 59f.

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nicht. Weil alle Orientierungssysteme bestimmte Träger haben, sind sie umkämpft und instabil. Jede Politik der Wahrheit entzündet Konflikte. Schmitt spricht von politischer Theologie, Geistesgeschichte und Metaphysik ziemlich lax und undifferenziert. Zwar deutet er eine Eigenart metaphysikgeschichtlicher Betrachtung in der Schrift über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus an. Das Verhältnis von politischer Geschichte und Metaphysikgeschichte bleibt aber unklar. Von der synchronen und systematischen Variante her gelesen besagt Schmitts „Politische Theologie“ etwa Folgendes: Zentrale oder „prägnante“ juristische Begriffe haben weltanschauliche oder metaphysische Hintergrundannahmen. So ist der neuzeitliche Souveränitätsbegriff nur im Horizont der vorherrschenden Metaphysik begründet und verständlich. Politische und juristische Begriffe haben einen metaphysischen Index und sind philosophisch lesbar, weil die politischen Formen, die solche Begriffe reflektieren, nur innerhalb einer (weltanschaulich) im Ganzen gedeuteten Welt „prägnant“, sinnvoll und stabil sind. Weil Schmitt eine solche hermeneutische These oder „Weltanschauungslehre“, wenn auch sehr allgemein und undifferenziert, vertritt, hält er einen utopischen Standpunkt jenseits aller Weltanschauungen für unmöglich. Er beansprucht deshalb auch keine weltanschaulich neutrale Beobachterposition, sondern positioniert sich innerhalb des analytisch sondierten Terrains. Schon seine an Hobbes exemplifizierte These vom Zusammenhang von Personalismus und Dezisionismus konnte ihn davon überzeugen, dass die rechtsphilosophische Option für den Dezisionismus ein personalistisches Weltbild impliziert. Die „begriffssoziologische“ Beobachtung politischer Theologie drängte ihn zu einer politisch-theologischen Parteinahme, wie der Gedankengang der Programmschrift von 1922 deutlich zeigt. In machtanalytischer Lesart betrachtet Schmitt den politischen Diskurs im Zusammenhang der Absichten seiner Träger. In diesem Rahmen betont er die polemische Profilierung von Bedeutungen. In metaphysik- oder geistesgeschichtlicher Lesart fragt er verstehend-soziologisch nach dem „Glauben“, den solche Diskurse bei ihren Trägern finden. Er scheint der Auffassung zu sein, dass sich Bedeutungen im polemischen Gebrauch durch freund-feindliche Gegensätze derart profilieren, dass sie bestimmte Bedeutungen fixieren, die sich als handlungsleitende normative Überzeugungen pragmatisch bewähren. „Prägnante“ „metaphysische“ Begriffe im Sinne Schmitts wären demnach politisch fixierte Begriffe, mit denen sich ihre Träger moralisch identifizieren.

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Schmitt verbindet die Frage nach der Fügsamkeit, nach dem „Glauben“, den „Prinzipien“ und „Begriffen“ mit deren politischer Funktion, Ordnung zu schaffen, indem sie Freund und Feind unterscheiden. Nur diejenigen Begriffe scheinen ihm glaubwürdig, die relative Ordnung schaffen. Solche pragmatischen Ordnungs- bzw. Pazifizierungsleistungen von Begriffen sind aber nur von relativer Dauer. Indem Begriffe Freund und Feind polarisieren, profilieren sie mit der Ordnung zugleich deren Gegner; sie schärfen die „Kritik“ und tragen so den Keim der Zerstörung in sich. Schmitts diverse Rekonstruktionen der Weimarer Verfassung führen diese Ambivalenz der Begriffe, ihre Assoziations- und Dissoziationskraft, eindringlich vor. In der Geistesgeschichtlichen Lage ebenso wie in der Verfassungslehre, im Hüter der Verfassung und, besonders deutlich, in Legalität und Legitimität rekonstruiert Schmitt die Weimarer Verfassung idealtypisch unter Hinweis auf tödliche Inkonsequenzen und Sollbruchstellen im Gefüge. Der begriffliche Anspruch dieser Schriften ist allenthalben greifbar: Schmitt entwickelt den „Begriff der Verfassung“, den „Begriff des Politischen“, „Prinzipien des Parlamentarismus“, einen Idealtypus vom Weimarer „Gesetzgebungsstaat“ und stellt die Frage nach dem „Hüter“ der Verfassung. Später verweist er auf Bismarcks Bitte um „Indemnität“ oder auf die Gewährung der Glaubensfreiheit als „Todeskeim“ und Bruchstelle von Staat und Verfassung. Er spielt nicht eigentlich Verfassungswirklichkeit gegen Verfassungsrecht aus, sondern zeigt vielmehr, dass politische Bewegungen Widersprüche und Inkonsequenzen entfalten, die im Verfassungsgefüge angelegt sind. Mit Max Weber gesprochen, weist er darauf hin, dass Idealtypen als Handlungsmodelle normativ-praktische Effekte zeitigen. Das gilt auch für die juristische Kritik: Auch deren systematische Rekonstruktionen sind ein Politikum. Prägnante begriffliche Analysen formulieren demnach als rationale Rekonstruktionen politischer Formen normative Orientierungen von Akteuren und können deshalb auch einen prognostischen Gehalt haben. Diese Pfad- oder Weichenstellung prägnanter politischer Analysen und Begrifflichkeiten meint Schmitt mit seiner Rede von „Begriffs-Realismus“. Die politische Betrachtung der Diskurse, der Sinn für die Bedeutung einer Herrschaft über die politische Semantik, zeigt sich im Werk durchgängig. „Der Sieger schreibt die Geschichte“18, schreibt Schmitt seinen Lesern ins Stammbuch, um sie daran zu erinnern, dass auch der Besiegte

18 Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Köln: Greven, 1950, S. 25.

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im Kampf gegen die „geistige Unterwerfung“ bisweilen siegreich sein kann. Entpuppt er vor 1933 Versailles als Machtbedingung von Weimar und Genf, so geht er seit 1933 bei der „geistigen Eroberung“ des Vokabulars in die nationalsozialistische Offensive. Immer wieder schärft er die Bedeutung dieses ideenpolitischen Kampfes um Positionen und Begriffe ein. Bald nimmt er die ideenpolitische Auseinandersetzung um „Grundworte“, wie „Rechtsstaat“ und „Recht“, auch etymologisch auf. Im selben Maße, wie er die Träger seiner Politik schwinden sieht, verlegt er seine politischen Absichten auf die hermeneutische Bewahrung ihrer Verständnisvoraussetzungen. Formelhaft proklamiert er – in Nomos-Nahme-Name – einen „Zusammenhang von Nahme und Name“, wonach Recht mit der Durchsetzung echter Namen und Begriffe verknüpft sei. Ins Glossarium notiert er die Devise: „Begreife den Machthaber, der nach Dir greift; setze seinen Griffen keine Gegengriffe gleichen Niveaus entgegen; erprobe lieber an seinen Bewegungen Deine Kraft zu Begriffen. Auch nach Deinen Begriffen wird er greifen. Doch laß ihn nur greifen. Er wird sich in die Pfoten schneiden.“19

3. Geistesgeschichte als „Politische Theologie“ In einer kleinen Rezension forderte Schmitt 1925 starke historiographische Linienführungen: „Ob man eine Geschichte politischer Ideen in der Form einer Galerie von ‚Persönlichkeiten‘ oder als eine begriffliche, dogmen- oder ideengeschichtliche Entwicklung darstellen soll, ist heute wohl keine Frage mehr. Die Methode der Portraitierung erscheint uns heute als ziemlich veraltet und Residuum eines vergangenen Liberalismus.“20 Das zielte auch gegen den Historismus. Schmitt lobte die Hegelianer für ihren „Glauben“ an eine „dialektische Entwicklung der Begriffe“, las die Entwicklungsdynamik aber politisch. Jederzeit betonte er den strategischen, politischen und präsentistisch auf bestimmte Lagen und Bedürfnisse der Gegenwart zugeschnittenen Umgang mit der Geschichte. Programmatisch sprach er das nach 1933 besonders prägnant in einem kurzen Aufsatz über

19 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Berlin: Duncker & Humblot, 2015, S. 109. 20 Carl Schmitt, Rezension von Charles Vaughan, Studies in the history of political philosophy before and after Rousseau, London 1925, Deutsche Literaturzeitung, 1925, S. 2086-2090, hier: 2088.

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„neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte“ aus.21 Seine Broschüre Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches vom Frühjahr 1934 realisierte dieses tendenzhistorische Programm. Der Berliner Kollege Fritz Hartung22 verteidigte damals dagegen die historistischen Standards. So gibt es wenigstens zwei führende Berliner Vertreter des Historismus, mit denen Schmitt in den 20er und 30er Jahren in Kontroversen geriet: Friedrich Meinecke und Fritz Hartung. Stets betrachtete Schmitt die intellektuelle Auseinandersetzung als eine Form des Kampfes. Programmatisch vertrat er eine politische Ideengeschichtsschreibung, die die Geschichte in starken Linien deutete und offensive Geschichtspolitik betrieb. Alle politischen Begriffe sind polemische Begriffe, meinte er. Alle politischen Positionen müssen in agonalen, freund-feindlichen Konstellationen gelesen werden. So sind seine ideengeschichtlichen Statements bewusst so perspektivisch und pointiert formuliert, dass sie sich eigentlich erst im agonalen Kontext in ihrem „konkreten“ Sinn angemessen verstehen lassen. Deshalb ist Schmitt auch ein Pionier der Diskursanalyse. Seine ideengeschichtlichen Interventionen sollten in ihrem perspektivischen Feld, ihrem Adressaten, ihrer Rhetorik und Wirkung gelesen werden. Schmitt wollte nicht entkontextualisierend als „Klassiker“ gelesen werden und keine transhistorischen Botschaften vermitteln. Dabei verstand er sich primär als Jurist. Seine Verfassungslehre bezeichnete er aber als eine „Politische Theologie“. Er las bestimmte Herausforderungen irgendwie „theologisch“ und antwortete politisch. Schmitt adressierte sein Werk präsentistisch an die Mitwelt. Die „Ideengeschichte“ als solche interessierte ihn nicht. Wenn er aber von „geistesgeschichtlicher Lage“ und „Politischer Theologie“ sprach, klingen noch Hintergrundmotive des Berliner Historismus an. Der Titel der Geistesgeschichte war ja durch die Dilthey- und die Meinecke-Schule besetzt. Eine theologische Lesart muss zwar nicht

21 Carl Schmitt, „Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte“, 1936 (PB 229-234); dazu vgl. Ewald Grothe: „Verfassungsgeschichte als ‚politische Wissenschaft‘. Carl Schmitt ‚über die neuen Aufgaben‘ und die Deutung der deutschen Verfassungsgeschichte im Nationalsozialismus“, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 29/2007, S. 66-87. 22 Fritz Hartung: „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches“, Historische Zeitschrift, 151/1935, S. 528-544; dazu vgl. Hans-Christof Kraus: „Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Hartung über den preußisch-deutschen Konstitutionalismus (1934/35)“, Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 45/1999, S. 275-310.

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religiös gebunden sein; Schmitt vertrat mit seiner „Theologie“ aber auch religiöse Ansprüche. Dabei trennte er kaum zwischen den Geltungsansprüchen von Philosophie und Theologie: Beide las er als konfessionellen Diskurs. Vor allem suchte er mit der „Theologie“ den Schritt aus der neutralen Beobachtung in die konfessionelle Teilnahme, aus der Theorie in die Praxis. Diltheys metaphysikgeschichtlicher Horizont ist dabei nicht gänzlich verlassen. So klingt Diltheys Unterscheidung zwischen einem „organischen“ und einem „natürlichen“ System der Geistesgeschichte in der durchgängigen Unterscheidung zwischen einem „organischen“ und einem positivistisch-„normativistischen“ Staatsdenken an. Schmitt steht dem „organischen“ Staatsdenken buchstäblich zwar immer wieder vorbehaltlich gegenüber; andererseits zog er die „organische“ Staatslehre aber der neueren Traditionslinie des „normativistischen“ und „positivistischen“ Staatsrechtsdenkens eindeutig vor. Während Dilthey einen Übergang vom „natürlichen System“ der Aufklärung zum „organischen System“ des preußisch-deutschen Idealismus und Historismus konstatierte, ging Schmitt von einer Hegemonie des positivistisch-normativistischen Staatsrechtsdenkens aus und argumentierte für dessen Überwindung durch Rückgang auf die ältere Traditionslinie. Hobbes, Hegel und Lorenz von Stein wurden ihm dabei zu strategischen Argumenten im Kampf gegen den positivistischen und normativistischen Zug zur Emanzipation des Rechtsdenkens aus allen metajuristischen Bezügen und Perspektiven. Systematisch vertrat er aber weder Hobbes noch Hegel; sein geschichtliches Denken schloss die Restauration irgendeiner Klassik eigentlich aus. 4. Schmitts ideengeschichtliche Studien Schmitts erste größere geistesgeschichtliche Monographie, die Studie zur Politischen Romantik, klärte den Anti-Individualismus geistesgeschichtlich. Mit dieser Studie positionierte Schmitt sich am Beginn der Weimarer Republik zur katholischen Publizistik seiner Zeit. Innerhalb dieser Publizistik distanzierte er sich vom Mainstream des katholischen Naturrechts. Er neigte starken Trennungen von Religion, Moral und Recht zu, lehnte alle dogmatischen und neuscholastischen Synthesen ab, die sich einem Primat Roms oder der Zentrumspartei zuordnen ließen, und rezipierte die religiös vagabundierende Publizistik im breiten Strom des existentialisierenden Christentums nach Kierkegaard, dem französischen Renouveau ca213

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tholique und der Action française. Nach der Romantikkritik arbeitete er die neuzeitlichen Staats- und Souveränitätstheorien von Machiavelli bis Rousseau durch. Seine Monographie Die Diktatur zielte auf den begriffsgeschichtlichen Befund eines Übergangs von der „kommissarischen“ zur „souveränen“ Diktatur. Erstmals beschrieb Schmitt hier die verfassungsgeschichtliche Wendung zum Exekutivstaat, die für sein weiteres Verfassungsdenken leitend bleibt. Schon 1921 ist seine politische Ideengeschichte der Neuzeit deshalb auch in den Grundlinien entwickelt. Hier vor allem wollte er die Standards einer verfassungsgeschichtlich akzentuierten Ideengeschichtsschreibung prägnant erfüllen. Danach griff er nur noch selektiv zu. Schon in seiner Münchner und Bonner Zeit lehrte Schmitt zwar die neuzeitlichen Klassiker politischer Theorie. Niemals aber machte er sich die umfassende Beschreibung der politischen Ideengeschichte zur vordringlichen Aufgabe. Romantikkritik und Etatismus führten Schmitt am Beginn der Weimarer Republik in die Reihen der Gegenrevolution. Seine frühe Skizze zur Entwicklung der gegenrevolutionären Staatstheorie – „von der Legitimität zur Diktatur“ – ergänzte er dabei durch autobiographisch grundierte Aufsätze zu Donoso Cortès. Sein schlankes Buch Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes von 1938, ist dann alles andere als eine umfassende Hobbes-Darstellung vom „Leben und Werk“ oder eine eingehende Analyse des „kontraktualistischen Arguments“ oder der naturrechtlichen Philosophie. Die Philosophie von Hobbes kommt in diesem Hobbes-Buch kaum vor. Stattdessen erörtert Schmitt, laut Untertitel, den „Sinn und Fehlschlag“ des politischen Leviathan-Symbols. In antisemitischer Zuspitzung entwickelt Schmitt hier die pointierte These, dass der genuine „Sinn“ des Leviathan-Symbols, die Konstruktion politischer Totalität, durch die liberale Rezeptions- und Auslegungsgeschichte gleichsam pervertiert worden sei. Hobbes sei es nicht wirklich gelungen, seinen mythopolitischen Ansatz in die rationale Konstruktion des Verfassungsstaats zu integrieren; Spinoza habe die „große Einbruchstelle“ erkannt und zum Angelpunkt der Zähmung des Leviathan gemacht, die eine jüdische „Front“ dann strategisch konsequent aufriss. Als „Sinn“ des Symbols rekonstruiert Schmitt einerseits die biblische Herkunft und religiöse Bedeutung und andererseits den aktuellen mythopolitischen Einsatz des „Symbols“ als propagandistisches Mittel zur Rekonstruktion eines „totalen Staates“. Kein Rechtsstaat hat die Macht über die Gewissen, meint Schmitt: Mit der Legalität formiert sich der moralische Gewissensvorbehalt. Diese neuzeitliche Trennung von Moral und Recht will Schmitt mit den Mitteln des politischen 214

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Mythos und propagandistischen Einsatz des Leviathan-Symbols kassieren: Das Schreckbild vom Leviathan soll die Bürger in der Furcht vor einem „totalen Staat“ halten. Diesen propagandistischen Mehrwert des Mythos, im Leviathan-Symbol kondensiert, gelte es für den Nationalsozialismus zu nutzen.23 Schmitts polemische Verzerrungen müssen hier nicht ausgeführt werden. Es kann genügen, dass das Leviathan-Buch von 1938, Schmitts einzige klassikerzentrierte Monographie, das Zentrum von Hobbes’ Selbstverständnis, von Hobbes’ Philosophie, auffällig und ostentativ ignoriert und stattdessen eine mythopolitische Aktualisierung vorschlägt, die Schmitt durch eine äußerst problematische und nur andeutend ausgearbeitete religionsgeschichtliche Lesart stützt. Das konfessionelle Szenario vom weltgeschichtlichen Kampf zwischen Judentum und Christentum und das antisemitische Zerr- und Schreckbild vom „jüdischen Geist“ müssen nicht hier ausbuchstabiert werden, um Schmitts Absage an jeden ideengeschichtlichen Historismus und Objektivismus und seinen politisch-polemischen Umgang mit der „Geistesgeschichte“ zu sehen. 5. Dekonstruktives Verfahren Schon in seiner Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen zitierte Schmitt – nach Harnacks Sohm-Kritik – die Wendung Goethes, eine Idee trete „immer als fremder Gast in die Erscheinung“.24 Später entwickelte er daraus gewichtige Überlegungen zum exzentrischen oder „voraussetzungslosen Vollstrecker“: 1948 schrieb er in sein Glossarium: „Die Idee bemächtigt sich eines Individuums und tritt dadurch immer als fremder Gast in die Erscheinung. Der fremde Gast war Adolf [Hitler]. Er war fremd bis zur Karikatur.“25 In vielen Varianten thematisierte und problematisierte Schmitt die Relation zwischen „Idee“ und „Wirklichkeit“. Bei Goethe hieß es wörtlich: „Eine jede Idee tritt als ein 23 Dazu jetzt Horst Bredekamp, Der Behemoth. Metamorphosen des Anti-Leviathan. Berlin: Duncker & Humblot, 2016; dazu meine Besprechung in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 68/2016, S. 109-114. 24 Carl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914). Berlin: Duncker & Humblot, 2004, S. 76f. 25 C. Schmitt, Glossarium, S. 114; zu Schmitts Hitler-Bild vgl. Verf., „Friedrich Schillers ‚Demetrius‘. Ein später Baustein zu Carl Schmitts Hitler-Bild“, in: ders., Kriegstechniker des Begriffs, S. 111-136.

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fremder Gast in die Erscheinung, und wie sie sich zu realisieren beginnt, ist sie kaum von Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden.“26 Goethe meinte aber auch: „Jede große Idee, sobald sie in die Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch; daher die Vorteile, die sie hervorbringt, sich nur allzu bald in Nachteile verwandeln. Man kann deshalb eine jede Institution verteidigen und rühmen, wenn man an ihre Anfänge erinnert und darzutun weiß, dass alles, was von ihr im Anfange gegolten, auch jetzt noch gelte.“27

Eine solche konservative Strategie positiver Rückbindung an Anfänge suchte Schmitt nicht. Er erzählte negative Perversionsgeschichten vom Abfall oder der Entfremdung von ursprünglichen Konzepten. Die Verfallslogik der politischen Ideen und „Systeme“ beschrieb er dabei in dekonstruktiver Absicht. Schmitt vertrat einen starken Historismus, Systematizismus, Idealismus und Personalismus der Geistesgeschichtsschreibung. Seine Personalisierung der Geistesgeschichte und Zuschreibung aller politischen Ideen und Formen an Autoren und nomothetische Gründer ist dabei sachlich nicht zwingend: Autoren sind keine Originalgenies und vertreten oft nur mehr oder weniger geläufige Vorstellungen. Die Wirkungsgeschichte eines Autors hängt von einer ganzen Reihe kontingenter Faktoren ab. Schmitt personalisierte die Geistesgeschichte aber nicht zuletzt strategisch. Einerseits war er wirklich der Auffassung, dass es starke Autoren der Geistes- und Verfassungsgeschichte gab, die geschichtsmächtige Positionen und Begriffe formulierten; andererseits schätzte er die Personalisierung als ein einfaches rhetorisches Mittel im Kampf. Die personalisierende Zuspitzung ermöglichte ihm freund-feindliche Profilierungen, Demagogie und Propaganda. Spätestens seit der Politischen Romantik finden sich bei Schmitt starke Personalisierungen: 1919 demontierte er die Romantik exemplarisch am Beispiel Adam Müllers. Er erweiterte das Personal seiner Geistesgeschichte dann immer mehr und arbeitete die „Stadien“ und Etappen der Verfallsgeschichte rekonstruktiv immer deutlicher aus. Schmitt entwickelte einen antibürgerlichen, antiliberalen und elitären Gegenkanon und baute Autoren gezielt als Gegner auf. So setzte er Lorenz von Stein und Bruno

26 Johann Wolfgang v. Goethe, „Maximen und Reflexionen“, in: Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, München: dtv, 1981, Bd. XII, S. 439. 27 J. W. v. Goethe, „Maximen und Reflexionen“, S. 381f.

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Bauer28 als Hegelianer um 1848 gegen Karl Marx; Donoso Cortès repräsentierte ihm ein bestimmtes Stadium katholischer Gegenrevolution und Opposition gegen die Dominanz des Hegelianismus im Vormärz. Den Rechtspositivismus konfrontierte er mit dem „Ernstfall“ des Ausnahmezustands. Anschütz’ Kapitulationserklärung machte er dabei an dem Satz fest: „Das Staatsrecht hört hier auf.“ Kelsens „Relativismus“ betrachtete er als eine betrügerische Kulisse des „jüdischen Geistes“. Schmitt dekonstruierte Hitler in privaten Aufzeichnungen, bei dessen exzentrischer Herkunft und Biographie ansetzend, als einen „falschen Demetrius“ und las Thomas Mann von Wälsungenblut her.29 Seine letzten dekonstruktiven Minen zündete er im Spätwerk mit seinen Vereinnahmungen von Walter Benjamin30 und Hugo Ball gegen die paradigmatische Rezeption der marxistischen politischen Ökonomie in der neuen Linken. Seine letzte Monographie Politische Theologie II richtete sich gegen alte Weggefährten und Freunde: gegen die Theologen Erik Peterson und Hans Barion. Weitere dekonstruktive Angelpunkte ließen sich finden. Dabei verlegte Schmitt die freundfeindlichen Gegensätze gelegentlich auch in einem Autor selbst. So spielte er den mythopolitischen Hobbes gegen den Philosophen aus. Ähnlich sah er die Fronten des Links- und Rechtshegelianismus in einem „Doppelgesicht“ Hegels inauguriert. Mit seiner nationalsozialistischen Entscheidung wechselte Schmitt 1933 von der Dekonstruktion in die Apologie über. Parallel findet sich ein Bemühen, missliebige „Einbruchstellen“ zu verdecken. Das apologetische Bemühen markiert aber nun seinerseits verräterische Angelpunkte der Dekonstruktion. So schlagen Schmitts Apologien leicht in Dekonstruktionen um: Der Apologet wird zum Mineur wider Willen. Die Personalisierung der Fronten ist ein Stück politisch-theologischer Entlarvung und Aufklärung. Schmitts Schlüsselerfahrung ist hier das Verhältnis von Versailles und Genf: Den Genfer Völkerbund betrachtete er als eine rechtliche Verklärung und Legitimierung des Status quo von Ver-

28 Dazu Verf., „Autor vor allem der ‚Judenfrage‘ von 1843. Carl Schmitts Bruno Bauer“, in: Klaus-Michael Kodalle / Tilman Reitz (Hrsg.), Bruno Bauer. Ein ‚Partisan des Weltgeistes‘?, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010, S. 335-350. 29 Dazu Verf., „Der ‚Gross-Verwerter‘: Carl Schmitts Geburtstagsmappe für Thomas Mann“, in: Das „Problem der Humanität“. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn: Mentis, 2003, S. 119-130. 30 Dazu Verf., „Geist ist das Vermögen, Diktatur auszuüben. Carl Schmitts Marginalien zu Walter Benjamin“, in: Kriegstechniker des Begriffs, S. 137-162.

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sailles. Schon 1925 fand er dafür die prägnante Formulierung, dass dem „Unrecht der Fremdherrschaft“ mit der Legitimitätsfassade des Völkerbundes der „Betrug der Anonymität“31 hinzugefügt wurde. Fortan wollte Schmitt die Machthaber hinter den Diskursen namhaft machen und die Souveräne oder Herren des Diskurses deutlich benennen. Schmitt kritisierte die Verwechselung von Macht mit Recht, Legalität mit Legitimität. Seine Suche nach Urhebern kaprizierte sich im Zuge antisemitischer Radikalisierung dabei verstärkt auf ein verschwörungstheoretisches Szenario der Frontlinien und „Masken“ des „jüdischen Geistes“. Seine politisch-theologische Konstruktion und Profilierung der Geistesgeschichte muss heute von dieser antisemitischen Paranoia befreit und auf sachliche Studien zur religiösen und konfessionspolitischen Grundierung intellektueller Diskurse und Debatten zurückgeführt werden. Dann lässt sich der Diskurspartisan als ein Pionier dekonstruktiver Verfahren schätzen. Sein Verfahren ließe sich mit dem weiten Feld des neueren Dekonstruktivismus vergleichen. Es mangelt in der Literatur auch nicht an solchen Brückenschlägen und Crossovers zwischen dem Rechts- und dem Linksintellektualismus Weimars, der Prämoderne und Postmoderne, Schmitt und Benjamin, Derrida oder Foucault. Sie sind oft anregend und fruchtbar. Dabei war Schmitt aber ein dekonstruktiver Systemdenker. Er forderte nicht nur scharfe Begrifflichkeiten, sondern auch konsequente Systemkonstruktionen. Liberalismus und Demokratie waren ihm keine bloßen Stichworte, sondern ganze Verfassungsgefüge und Systemansprüche. Die Arbeit am Begriff zielte auf die Dekonstruktion des Systems. Ein System steht und fällt mit der Konsequenz seiner Realisation. Dieser starke Konnex von Idee, Begriff und System ist heute selten. Schmitt glaubte zwar niemals wirklich an die Chance stabiler Systeme. Als Jurist wollte er diesen idealistischen Anspruch aber doch nicht ganz aufgeben. Erst nach 1945 warf er mit der Epoche der Staatlichkeit auch sein juristisches Systemdenken ab. Gerade als Systemdenker war er Dekonstrukteur. Schon das unterscheidet ihn wohl vom neueren Dekonstruktivismus.

31 Carl Schmitt, „Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik“ (1925), wiederabgedruckt in Carl Schmitt, Frieden oder Pazifismus?, Berlin: Duncker & Humblot, 2005, S. 36.

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Zusammenfassende Thesen 1. Schmitt lehnte die positivistische, objektivistische und antiquarische, liberale und relativistische Doxographie des Historismus ab. Er intendierte keine umfassenden Beschreibungen vom „Leben und Werk“ irgendeines „Klassikers“. 2. Schmitt verstand sich primär nicht als Ideenhistoriker. Er betrachtete die Ideen aber idealistisch als geschichtsmächtige Weichensteller und betrieb Ideengeschichte als Teil seiner Verfassungspolitik. 3. Schmitt kehrte unter anderen politisch-theologischen Vorzeichen zur älteren „Geistesgeschichte“ nach Hegel und Dilthey zurück. Anders als die nationalliberale Geistesgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts vertrat er seinen Nationalismus antiliberal. Eine klare Trennung von Philosophie und Theologie findet sich bei ihm nicht. 4. Schmitt rezipierte ideengeschichtliche Autoren nicht als transhistorische „Klassiker“ in systematischer Absicht. Schon deshalb ist er auch nicht – als „Hobbesianer“ oder „Hegelianer“ o.ä. – durch einen Referenzautor charakterisierbar. 5. Schmitts selektiver Umgang mit „Klassikern“ ist autobiographisch und politisch-theologisch grundiert. Die autobiographischen Identifikationen (mit Donoso Cortés, Thomas Hobbes, Bruno Bauer, Tocqueville, Savigny, Raoul Salan, Eusebius u.a.) betreffen primär keine Doktrin, sondern eine politisch-theologische Frontlinie und Konstellation. 6. Schmitts perspektivischer Umgang mit „Klassikern“ muss deshalb verfassungsgeschichtlich und politisch-theologisch „konkret“ aus dem jeweiligen Kontext verstanden und rekonstruiert werden. 7. Schmitts starke Personalisierung der Geistesgeschichte hat sachliche und strategische Gründe. 8. Schmitt formulierte einen geistesgeschichtlichen Gegenkanon. 9. Schmitt identifizierte die politisch-theologischen Frontlinien in nomothetischen Autoren. 10. Schmitt suchte bei den feindlichen Autoren gezielt nach dekonstruktiven Angelpunkten und Einbruchstellen. 11. Der starke Konnex von Idee, Begriff und System und der dekonstruktivistische Systemanspruch unterscheiden ihn vom neueren postmodernen Dekonstruktivismus.

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Thymos und heroische Männlichkeit, von Leo Strauss bis zur AfD. Zur Ideengeschichte eines antiliberalen und antifeministischen Motivs1 Bruno Quélennec

Spätestens seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ Anfang der 2010er Jahren konnten rechtsextreme Bewegungen wieder ihre Themen in der deutschen Öffentlichkeit durchsetzen. Der zunehmend hemmungslose Ausdruck des rassistischen Ressentiments wurde dadurch erleichtert, dass Vertreter des politischen Establishments – wie etwa das SPD-Mitglied Thilo Sarrazin – die politische Agenda der Neuen Rechten übernahmen.2 Darauf folgten der bundesweite Erfolg rechter Bewegungen à la PEGIDA sowie der Aufstieg der populistisch-reaktionären Partei Alternative für Deutschland (AfD): Heute sitzt diese Partei im Bundestag als erste politische Fraktion rechts der CSU in der Geschichte der BRD. In einem im April 2016 für The New York Review of Books geschriebenen Artikel zeigte sich der an der Princeton University lehrende Politologe Jan-Werner Müller über die politischen Verhältnisse in Deutschland besorgt und fragte nach der ideologischen Grundlage dieser rechten Formationen. Bei seiner Lektüre der Reden und Interviews des AfD-Intellektuellen Marc Jongen stieß er auf den der antiken Philosophie entlehnten Begriff des Thymos: „Jongen has not only warned about the danger of Germany’s ,cultural self-annihilationʻ; he has also argued that, because of the cold war and the security umbrella provided by the US, Germans have been forgetful about the importance of the military, the police, warrior virtues — and, more generally, what the ancient Greeks called thymos (variously translated as spiritedness, pride, righteous indignation, a sense of what is one’s own, or rage), in contrast to eros and logos, love and reason. Germany, Jongen says, is currently ,undersuppliedʻ with thymos. Only the Japanese have even less of it – presumably

1 Für sprachliche Korrekturen und wertvolle Hinweise bedanke ich mich bei Rainer Alisch. 2 Siehe dazu Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart: Klett-Cotta, 2017, S. 23f.

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because they also lived through postwar pacifism. According to Jongen, Japan can afford such a shortage, because its inhabitants are not confronted with the ,strong naturesʻ of immigrants. It follows that the angry demonstrators [von PEGIDA, B.Q.] are doing a damn good thing by helping to fire up thymos in German society.“3

Folgt man dem AfD-Abgeordneten Jongen, sei PEGIDA keine rassistische, sondern eine „thymotische“ Bewegung. Sie würde von Tugenden und Affekten zeugen, die in Folge der langen Besatzung durch die Siegermächte in Deutschland vergessen worden wären: Tapferkeit, Zorn, Beherztheit, Stolz, Selbstbehauptungswille usw. PEGIDA würde die Öffentlichkeit daran erinnern, dass trotz des Endes des kalten Kriegs die Rückeroberung der vollen Souveränität in der Innen- und Außenpolitik ausgeblieben sei. Deutschland, auch wenn es die Leadership der EU übernommen habe, bleibe nämlich an multilaterale Verhandlungen und Abkommen gebunden und sei nicht „Herr im eigenen Haus“, auch in den Migrationsfragen nicht. Der „Widerstand“ der „Wutbürger“ gegen die Flüchtlinge, die Deutschland „überschwemmen“ würden, sei also eine nachvollziehbare Reaktion gegen diese miserable Lage und gegen „eine arrogante Politik des Staates“, der den „Bürgern etwas von oben“ aufdrücke.4 Marc Jongen ist selbstverständlich kein Anarchist, und auch kein rechter Libertarian à la Robert Nozick. Vielmehr möchte er die repressiven Apparate des Staates stärken. Wenn die Merkel-Regierung aber ihre sicherheits- und kulturpolitischen Aufgaben nicht mehr erfüllen wolle, könne er gut nachvollziehen, dass die deutschen Staatsbürger diese Mission selbst übernehmen. Thymos steht hier für diese „autoritäre Revolte“ (Volker Weiss) der Neuen Rechten und ihrer Bewegungen. Aber woher kommt der Begriff und wie konnte er zu einem wichtigen Diskurselement im Feld der rechten Ideologie werden?

3 Jan-Werner Müller: „Behind the new German Right“, The New York Review of Books, 14.4.2016, http://www.nybooks.com/daily/2016/04/14/behind-new-germanright-afd/. Siehe auch Jürgen Meier: „Intellektueller Faschismus. Der AfD-Intellektuelle Marc Jongen will die ‚Thymosspannung‘ der Deutschen erhöhen, um sie wehrhaft gegen die Fremden zu machen, Junge Welt, 24.3.2017, S. 12f. http://www. stattweb.de/files/civil/Doku20170324jm.pdf. 4 Siehe dazu „,Man macht sich zum Knecht‘. Ein Gespräch mit dem Karlsruher Sloterdijk-Schüler über das deutsche Volk, den drohenden Verlust kultureller Identität und die Einwanderungspolitik der Regierung“, Die Zeit, 9.6.2016, https://www.z eit.de/2016/23/marc-jongen-afd-karlsruhe-philosophie-asylpolitik/.

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Im Folgenden möchte ich mich mit der Geschichte der Zirkulation, Verwendung und Funktionen dieses altgriechischen Begriffs in der politischen Philosophie und Ideengeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts auseinandersetzen.5 Dabei handelt sich um eine ziemlich verschachtelte Rezeptionsgeschichte. Jan-Werner Müller merkt in dem oben zitierten Artikel an, dass Marc Jongen Schüler und Assistent des prominenten Philosophen Peter Sloterdijk ist, bei dem er an der staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe promoviert hat.6 Er hätte auch noch hinzufügen können, dass der Thymos-Begriff in den letzten Texten seines Meisters ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. In Zorn und Zeit (2006) erklärt Sloterdijk seinerseits, dass er dieses Motiv in verschiedenen Schriften des „jüdischen Philosophen“ Leo Strauss und seiner amerikanischen Schüler – der Straussians – entdeckt habe7: Bei denen wird Thymos allerdings oft als „Beherztheit“ (Spiritedness) oder als „Männlichkeit“ (Manliness) übersetzt. Eine wichtige Inspirationsquelle wäre vor allem The End of History and the Last Man (1992) von Francis Fukuyama gewesen, der im dritten Teil seines Bestsellers eine Ideengeschichte des Thymos vorlegte, wobei er wiederum Thymos mit dem Kojèveschen „Verlangen nach Anerkennung“ gleichsetzte. Schließlich ist es festzuhalten, dass Strauss und die Straussians ihren jeweiligen Thymos-Begriff an der Interpretation von Platon und Aristoteles gewannen. Mit der Rekonstruktion einer solchen Rezeptionsgeschichte soll keine bruchlose Kontinuität zwischen Leo Straussʼ politischer Philosophie und dem Programm der AfD suggeriert werden. Hier soll vielmehr sowohl auf die Aktualisierungen und Umdeutungen, als auch auf die historisch-politischen Kontexte, in denen der Thymos-Begriff bei den jeweiligen Autoren eingesetzt wird, insistiert werden. Nichtsdestotrotz werde ich auch eine gewisse Kontinuität in der Liberalismus-Kritik der verschiedenen Autoren nachweisen können: Alle hier vorgestellten Intellektuellen attackieren nämlich die „verweichlichenden“ Tendenzen des Liberalismus, in dem der 5 Siehe auch zu diesem Thema: David Hancock: „Thymotic Politics: Sloterdijk, Strauss, and Neoconservatism“, Symplokē, 1-2/2015, S. 269-289. 6 Die Dissertation wurde im Jahre 2009 verteidigt und mit Summa cum laude benotet. Sie trägt den Titel: Nichtvergessenheit. Tradition und Wahrheit im transhistorischen Äon. Umrisse einer hermetischen Gegenwartsdeutung im Anschluss an zentrale Motive bei Leopold Ziegler und Peter Sloterdijk. Interessanterweise war Sloterdijk zugleich Begutachter und Gegenstand der Doktorarbeit. 7 Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, S. 40.

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Thymos – meistens mit aristokratischen, kriegerischen und „männlichen“ Tugenden verbunden – allzu „unemployed“ (Harvey Mansfield) bleiben müsse. Eine solche Rezeptionsgeschichte ist in vielfacher Hinsicht interessant. Erstens illustriert sie, wie und unter welchen Bedingungen ein philosophisches Motiv sich in der politischen Sprache der Zeit verankern kann. Vor allem ist es aber ein interessanter Fall für eine politische Geschichte der politischen Ideengeschichte. Dass die politische Ideengeschichte eine politische Dimension haben kann, klingt nahezu banal. Dass Leo Strauss und die Straussians, Francis Fukuyama oder Peter Sloterdijk Ideengeschichte nicht um ihrer selbst willen treiben, sondern um etwas über ihre politische Gegenwart zu sagen und in ihr zu intervenieren, scheint auch selbstverständlich zu sein. Interessanter ist aber der strategische Wert der Ideengeschichte bei diesen Autoren. Denn das von Strauss, Fukuyama oder Sloterdijk konstruierte Thymos-Narrativ ist eine antiliberale „Gegenideengeschichte“. Amos Funkenstein schreibt in Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, dass Gegengeschichten „eine polemische Funktion“ erfüllen: „Ihre Methode besteht darin, die bewährtesten Quellen des Gegners systematisch entgegen ihrer Intention zu verwenden, ‚die Geschichte gegen den Strich zu bürsten‘. Sie wollen das Selbstbild, die Identität des Gegners verzerren, indem sie seine Erinnerung angreifen.“8 Es handelt sich um eine gute Beschreibung des Modus operandi der Gegenideengeschichten der hier diskutierten Autoren. In ihrer Erzählung steht Thymos eben für das, was die liberale politische Philosophie – von Hobbes und Locke bis zu den Föderalisten – im Namen einer (oft weiblich kodierten) „bürgerlichen“ Moral unterdrückt hätte. Ihre Gegenideengeschichten haben also die Funktion, diese „Kastration“ wieder in Erinnerung zu rufen, um die liberale Moderne neu zu bewerten und die heroische Männlichkeit wieder geltend zu machen. Im ersten Abschnitt werde ich mich kurz mit dem Begriff des Thymos bei Platon befassen, bevor ich seine Rezeption bei Leo Strauss analysiere. Auch wenn das Wort selbst bei ihm nicht im Vordergrund steht, ist die Sache durchaus zentral. Insofern kann man bei ihm die philosophische Grundlage und das Narrativ finden, auf welchen die späteren Gegenideen-

8 Amos Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995, S. 39. Zum Begriff der Gegengeschichte, siehe auch David Biale, Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History. Cambridge: Cambridge University Press, 1979.

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geschichten seiner Schüler beruhen werden. Vom zweiten bis zum fünften Abschnitt werde ich mich immer wieder mit den Hobbes-Interpretationen von Strauss und den Straussians auseinandersetzen. Im Zentrum des Interesses wird die spezifische Art und Weise stehen, wie die Straussians sich die Liberalismus-Kritik ihrer Lehrer für ihre eigene neokonservative Agenda aneignen. Im vierten Abschnitt soll dabei die strategische Funktion des Thymos in The End of History von Fukuyama erläutert werden, während die antifeministische Deutung des Begriffs bei Harvey Mansfield im fünften beleuchtet werden soll. Schließlich werde ich mich mit der neoliberalen Interpretation des Begriffs bei Sloterdijk befassen, bevor ich in der Schlussbetrachtung auf seine populistisch-reaktionäre Verwendung bei Jongen nochmals zu sprechen komme. 1. Thymos bei Platon Thymos ist ein Begriff der antiken Trieblehre, den man – mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen – prominent bei Homer, Platon und Aristoteles findet.9 Bei Homer ist er der halb-körperliche, halb-psychische Ort der Emotionen, eine Art Gefäß oder Sammelbecken für einströmende Energien. In der Ilias kann der zornige Achilleus als der thymotische Charakter schlechthin betrachtet werden. Thymos wird hier mit Attributen und Tugenden einer aristokratischen Krieger-Moral verbunden: Er wird als der Teil der Seele dargestellt, der mit Stolz, Scham oder Zorn auf Ehrenverletzung reagiert. Der Begriff wird in den Schriften Platons übernommen, bzw. umgeformt und rationalisiert. In den Büchern II und IV des Staates gewinnt er im Kontext der Erziehung der Wächter im idealen Staat an Bedeutung. Im Gespräch mit Adeimantos und Glaukon über die Gerechtigkeit konstruiert Sokrates bekanntlich eine Homologie zwischen dem Staat und der menschlichen Seele. Wie der ideale Staat sei die Seele in drei Teile gegliedert, wobei jeder Teil spezifische Tugenden entwickele: Für die Handwerker die Besonnenheit, für die Wächter die Besonnenheit und die Tapferkeit, für die Philosophenherrscher die Besonnenheit, die Tapferkeit und

9 Siehe dazu vor allem Barbara Koziak, Retrieving Political Emotion. Thumos, Aristotle, and Gender. University Park: The Pennsylvania State University Press, 2000 und Angela Hobbs, Plato and the Hero. Courage, Manliness and the Impersonal Good. Cambridge: Cambridge University Press, 2000.

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die Weisheit. Die Gerechtigkeit im ganzen Staat wie im Menschen hänge davon ab, dass die verschiedenen „Teile“ harmonisch miteinander artikuliert werden.10 Sokrates unterscheidet bei dieser Dreiteilung nicht nur zwischen Vernunft (logismos) und Begierde (epithymia), sondern führt zwischen dem oberen und dem unteren Seelenteil eine dritte, vermittelnde Instanz ein, die eine Art interne und externe Kontrolle über die Begierde ausübt, am besten im Auftrag der Vernunft: den Thymos.11 Der Thymos rebelliert gegen das, was er als unangemessen und ungerecht empfindet, wobei der Zorn nach außen wie nach innen gerichtet sein kann. Der thymotische Zorn manifestiert sich also nicht nur gegen die Anderen, sondern kann auch die eigenen Schwächen missbilligen. Dafür müssen aber der Thymos bzw. die Wächter wohl erzogen werden: Sokrates schlägt dementsprechend ein strenges körperliches, poetisches und musikalisches Erziehungsprogramm vor, um diesen potentiell zerstörerischen Trieb zu zähmen. Die Kultivierung des Thymos sei zwar ein notwendiges Mittel, um den Staat vor inneren und äußeren Feinden zu verteidigen. Jedoch könne eine unvernünftige Thymos-Regulierung dazu führen, dass die Wächter sich gegen den Staat und ihre Gesetze wenden. Der „gute“ Wächter wird daher von Platon mit einem „edlen Hund“ verglichen: er soll „von Natur gegen Hausgenossen und Bekannte so sanft wie nur möglich [sein], gegen Unbekannte [Feinde] aber ganz das Gegenteil“.12 Bei Platon wie bei Homer wird der Thymos also mit aristokratisch-kriegerischen Tugenden assoziiert und eher männlich kodiert.13 Im Gegensatz zu Homer warnt aber Platon explizit davor, den thymotischen Energien im Staat freien Lauf zu lassen.14

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Platon, Der Staat, Buch IV, 433b. Ebd., Buch IV, 441a. Platon, Der Staat, Buch II, 375e. Thymos wird im platonischen Staat, und vor allem im Buch IV, oft mit andreia in Verbindung gebracht (andreia bedeutet zugleich „Männlichkeit“ und „Tapferkeit“). Die Frage, ob Thymos bei Platon nur „Männersache“ ist, bleibt jedoch in der Forschung umstritten. Siehe dazu Angela Hobbs, Plato and the Hero; Barbara Koziac, Retrieving Emotion, S. 67 und Christina Tarnopolsky: „The Bipolar Longings of Thumos: A Feminist Rereading of Platoʼs Republic“, Symposium, 2/2007, S. 297-314. 14 Platon, Der Staat, Buch IV, 545c-550c. Siehe dazu Angela Hobbs, Plato and the Hero, S. 27 und Martha Nussbaum, „Democratic Unvistas“ (1987), in: Martha

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Leo Strauss (1899-1973) schreibt in einem ganz anderen historisch-politischen Kontext als dem von Platon und Aristoteles, aber man findet bei ihm eine ähnliche Bewertung des Thymos. Auch wenn das Wort selbst bei ihm keine große Rolle spielt und nur in seinen späteren Interpretationen von Platon erwähnt wird15, wird die Sache, also das, was seine amerikanischen Schüler später als Thymos, Spiritedness oder Manliness bezeichnen werden, in den Texten der 1930er Jahren bereits behandelt, vor allem in der Hobbes-Interpretation, die er mit und gegen Carl Schmitt entwickelt. Im Hobbes-Buch (1935/1936) findet man – so die hier vertretene These – das Grundnarrativ, auf dem die späteren Gegenideengeschichten seiner direkten oder indirekten Schüler aufbauen werden. 2. Der junge Leo Strauss, Carl Schmitt und die kastrierte Moderne In Hobbesʼ politische Wissenschaft in ihrer Genesis (1935/1936) erzählt der junge Strauss, wie die ganze moderne politische Philosophie auf die radikale Verdrängung der aristokratischen Moral durch eine neue bürgerliche Moral gegründet worden sei. Um diese These zu beweisen, greift er auf die Hobbessche Anthropologie zurück. Der englische Philosoph hebe zwei „höchst gewisse Postulate der menschlichen Natur“ hervor: das Postulat der „natürlichen Begierde“ und das Postulat der „natürlichen Vernunft“. Die „natürliche Begierde“ werde mit dem „Streben nach Ehre und Ehrenstellungen, nach Vorrang vor den anderen Menschen und nach Anerkennung dieses Vorrangs durch die anderen Menschen“ bzw. mit der „Eitelkeit“ identifiziert.16 Die „Eitelkeit“ sei für Hobbes die Quelle aller „Leidenschaften“, aller „Verrücktheit“, aller Unruhen, und führe notwendig zum „Krieg aller gegen alle“: Der Mensch sei also von Natur aus böse. Die „Eitelkeit“ sei nur durch die „natürliche Vernunft“ zu bekämpfen. Sie beruhe ihrerseits auf dem Prinzip der Selbsterhaltung. Dieses Prinzip

Nussbaum, Philosophical Interventions. Reviews 1986-2011. Oxford: Oxford University Press, 2012, S. 43f. 15 Siehe vor allem Leo Strauss, The City and Man. Chicago: The University of Chicago Press, 1964, S. 50-138. 16 Leo Strauss, „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis“, in: Leo Strauss, Gesammelte Schriften. Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe, Band 3 (= GS III), Stuttgart: J.B. Metzler, 2001, S. 24.

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sei bei Hobbes das „erste Gut“. Die „natürliche Vernunft“ werde also ausschließlich von der „Furcht vor dem Tod“ gelenkt. Diese Furcht ermögliche Selbsterkenntnis. Sie sei folglich „die Wurzel alles Rechts und damit aller Moral“. Für Strauss organisiert sich das ganze politische Denken von Hobbes um den moralischen Gegensatz von Eitelkeit und Furcht. Während „Eitelkeit“ die Quelle des Krieges, des Unrechts und des Irrtums sei, könne Furcht vor dem qualvollen Tod Frieden, Recht und Erkenntnis stiften.17 Politisch bedeutet dies, dass der Staat die „Eitelkeit“ durch eine Politik der Angst bekämpft. Deshalb heiße der ideale Staat von Hobbes „Leviathan“. In der Bibel (Hiob 41, 26) sei diese Figur eben der „König der Stolzen“. Als Konsequenz dieser Überprivilegierung des Selbsterhaltungsprinzips werden aber alle Adelstugenden bei Hobbes radikal entwertet.18 Auch wenn der englische Philosoph privat den Adel geschätzt hat, habe er die aristokratischen Werte in seinem System verwerfen müssen.19 „Stolz“, „Ehre“, „Ehrgeiz“, „Heroismus“, „Tapferkeit“ und „Hochsinnigkeit“ wurden von Hobbes auf das Eitelkeitsprinzip zurückgeführt und daher nicht als Tugenden anerkannt. Sie seien bei ihm vielmehr böse, zu zähmende Leidenschaften. An ihre Stelle trete „die viel farblosere ‚justa sui aestimatioʻ“, die sich von den Adelstugenden dadurch unterscheidet, dass „sie nicht wesentlich Überlegenheitsbewusstsein ist“.20 Die „Welt“ von Hobbes sei also – so die Schlussfolgerung von Strauss, der damit die Grundthese von Ferdinand Tönnies übernimmt21 – die Welt der Bourgeoisie, der er eine philosophische Rechtfertigung gebe.22 Seine Philosophie ziele auf sozialen Frieden ab und betrachte „privates Eigentum und privaten Gewinn“, „Handel und Industrie“, „Arbeit und Sparsamkeit“ als „uner-

17 Ebd., S. 19f. 18 „Nicht den Stolz, noch weniger allerdings den Gehorsam erkennt Hobbes als die gerechte Gesinnung an, sondern die Furcht vor dem Tod: was der Mensch aus Furcht vor dem Tod, im Bewußtsein seiner Schwäche gegenüber den anderen Menschen tut, was er tut, indem er ehrlich, um seine Ehre unbekümmert, sich und anderen seine Todesfurcht und Schwäche gesteht, ist von Grund auf gerecht.“ (ebd., S. 38) 19 Ebd., S. 133. 20 Ebd., S. 74. 21 Siehe Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Hozboog, 1971. 22 L. Strauss, „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis“, S. 138. Siehe auch ebd., S. 145.

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lässliche Bedingung für alles friedliche Zusammenleben“.23 Es gäbe bei ihm nur materialistische, „sinnliche“ Güter; selbst die Wissenschaft sei nur dazu da, den menschlichen Wohlstand zu mehren. Krieg sei für Hobbes „kein sicherer Weg zu Wohlstand“ und dürfe daher „nur zur Verteidigung geführt werden“.24 Die Staatsgewalt stelle sich im Hobbesschen Leviathan ausschließlich in den Dienst der Bürger. Nicht mehr die Politik, sondern die Wirtschaft, um das viel zitierte Wort Walther Rathenaus aufzugreifen, werde hier zum „Schicksal“. Mit Hobbes eröffnet sich für Strauss das von Carl Schmitt denunzierte liberale Zeitalter der „Entpolitisierung“. Für Strauss findet also bei dem englischen Philosophen eine entscheidende „Umwertung aller Werte“ statt, die den Bruch zwischen antiker und moderner Philosophie markiert und die Geburt des Liberalismus ankündigt.25 Hobbes führe die „Klugheitsmoral“ in die politische Philosophie ein, d.h. eine Moral, die sich nicht in der Einhaltung moralischer

23 Ebd., S. 138f. 24 Ebd., S. 139f. 25 Dass die von Strauss herausgearbeiteten Gegensätze (Bürgertum vs. Aristokratie, Primat des Ökonomischen vs. Primat des Politischen, Furcht vs. Eitelkeit, Links vs. Rechts, usw.) geschlechtlich bestimmt sind, ist unübersehbar: „Der Eitelkeit [männlich, B.Q.] […] entspricht das natürliche Glücksideal des Menschen: der Traum von Triumph, von Eroberung, von Herrschaft über alle Menschen und damit über alle Dinge; der Furcht [weiblich, B.Q.] […] ist gemäß die Gesinnung der Verteidigung, des bescheidenen Lebens, der Arbeit in Reih’ und Glied. Auf den so verstandenen Gegensatz, der niemals wieder so rein, so tief und so aufrichtig entwickelt worden ist wie von Hobbes, muss man zurückgehen, wenn man das Ideal des Liberalismus sowohl wie des Sozialismus [weiblich, B.Q.] aus seinem Grund verstehen will. Denn jeder Kampf gegen das Politische [männlich, B.Q.] im Namen des Ökonomischen [weiblich, B.Q.] setzt die vorgängige Entwertung des Politischen voraus. Diese Entwertung vollzieht sich so, dass das Politische verhüllt oder offen als die Domäne der Eitelkeit, des Prestiges, des Geltungswillens [männlich, B.Q.], dem Ökonomischen als der Welt vernünftiger, sachlicher, bescheidener Arbeit [weiblich, B.Q.] entgegengesetzt wird.“ (Leo Strauss, „Einige Anmerkungen über die politische Wissenschaft des Hobbes“ (1933), in: Leo Strauss, GS III, S. 259) Zu diesen geschlechtlichen Polarisierungen und ihrer politischen Resonanz in der deutschen Philosophie, Politik- und Sozialwissenschaft der Zwischenkriegszeit, siehe die Beiträge von Susanne Lettow (Susanne Lettow, „‚Der Mensch‘ der Philosophischen Anthropologie. Männlichkeit und kulturelle Hegemonie zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus“, in: Claudia Lenz, Hrsg., Männlichkeiten – Gemeinschaften – Nationen: historische Studien zur Geschlechterordnung des Nationalen, Opladen: Leske + Budrich, 2003, S. 23-43) und von Teresa Orozco (Teresa Orozco: „‚Brüder im Geiste‘. Zur Politik der Männlichkeit bei Carl Schmitt“, Zeitschrift für Frauenforschung, Sonderheft 2/1999, S. 43-58).

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Prinzipien verwirkliche, sondern in den Vorteilen und Profiten, die aus deren Einhaltung resultieren. Die Norm, die Hobbes begründet, sei keine „Norm im strengen Sinne“, kein „Gesetz“, sondern „ein Recht, ein Anspruch“ des Individuums. Dieses „Menschenrecht“, das auf dem Anspruch auf „Selbsterhaltung“ beruht, ist nach Strauss unveräußerlich. Die Konsequenzen dieser wichtigen philosophiehistorischen Wende hat Strauss in der Rezension zu Carl Schmitts Begriff des Politischen hervorgehoben: Gegen die Hobbes-Lektüre des deutschen Juristen, zeigt er, dass der von Hobbes begründete Staat unfähig ist, von „Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft“ zu verlangen. Denn „die Berechtigung dieses Anspruchs wird von Hobbes auf das Mindeste eingeschränkt: wer in der Schlacht aus Furcht für sein Leben die Reihen verläßt, handelt ,nur‘ unehrenhaft, aber nicht ungerecht (Lev. XXI). Berechtigter Weise kann der Staat vom einzelnen nur einen bedingten Gehorsam verlangen, nämlich einen Gehorsam, der mit der Rettung oder Erhaltung des Lebens dieses einzelnen nicht in Widerspruch steht; denn die Sicherung des Lebens ist der letzte Grund des Staates. Daher ist der Mensch zwar im Übrigen zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet, aber nicht zum Einsatz seines Lebens; ist doch der Tod das größte Übel. Hobbes schreckt nicht vor der Konsequenz zurück, den Tugendcharakter der Tapferkeit ausdrücklich zu leugnen“.26

Da sie den „Tugendcharakter der Tapferkeit“ leugnet, taugt die Hobbessche Konstruktion für Strauss nicht einmal dazu, die Stabilität der politischen Ordnung zu sichern. Daher könne seine Philosophie keineswegs die theoretische Grundlage für Schmitts autoritäres Projekt liefern. Vielmehr zeige der Rekurs auf Hobbes, dass der deutsche Jurist in den „Fängen des Liberalismus“ verbleibe. Seine „Bejahung des Politischen“ erweise sich mithin als „ein Liberalismus mit umgekehrtem Vorzeichen“.27 Inwieweit unterscheidet sich Strauss in seiner Kritik des Liberalismus von Schmitt? Versucht er in seiner Rezension zum Begriff des Politischen und im Hobbes-Buch, den Schmittschen Antiliberalismus zu radikalisieren oder zu kontern? Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass es eher um eine Art Korrektur ging.28 Der gemeinsame Nenner beider Autoren besteht in der Kritik an der Zerstörung der aristokratisch-kriegerischen Tugenden in der Moderne, sowohl im Liberalismus, als auch im Sozialis-

26 Ebd., S. 224; von mir hervorgehoben. 27 Leo Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“ (1932), GS III, S. 237. 28 Bruno Quélennec, Retour dans la caverne. Philosophie, politique et religion chez le jeune Leo Strauss. Paris: Hermann, 2018.

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mus.29 Für beide Denker führe nämlich das Projekt der Moderne seit der Aufklärung quasi unausweichlich zur Produktion des „letzten Menschen“ (Friedrich Nietzsche), also zu einer Welt ohne Politik und ohne Ernst, ohne Heroismus und ohne Männlichkeit. Dementsprechend möchte Strauss im Moment des Zusammenbruchs der Weimarer Republik die moderne Zivilisation nicht verteidigen, sondern vielmehr einen philosophischen „Horizont jenseits des Liberalismus“ gewinnen, um die „Ordnung der menschlichen Dinge“ wiederherstellen zu können.30 Diese Restauration soll für Strauss mit einer Aufwertung der aristokratisch-kriegerischen Moral einhergehen, die schon von Nietzsche ins Werk gesetzt worden sei.31 Auf einer Konferenz an der New School for Social Research, die im Jahre 1941 stattfand, konstatierte der seit 1938 in die USA emigrierte jüdische Philosoph, dass dieser nietzscheanische Impuls von den „deutschen Nihilisten“ und ihrer Intellektuellen (Carl Schmitt, Ernst Jünger, Martin Heidegger, usw.) in der Zwischenkriegszeit aufgenommen und weitergebracht worden sei. In diesem Kontext stellt Strauss den Zorn der „deutschen Nihilisten“ gegen den Liberalismus als eine Revolte dar, für die er durchaus Sympathie zeigt: „What they hated [die jungen Nihilisten, B.Q], was the very prospect of a world in which everyone would be happy and satisfied, in which everyone would have his little pleasure by day and his little pleasure by night [es handelt sich um ein Nietzsche-Zitat aus Also Sprach Zarathoustra, B.Q.], a world in which no great soul could breathe and no great heart could beat, a world without real, unmetaphoric, sacrifice. What to the communists appeared to be the fulfillment of the dream of mankind, appeared to those young Germans as the greatest debasement of humanity, as the coming of the end of humanity, as the arrival of the latest man... the only thing of which they were absolutely certain was that the present world and all the potentialities of the present

29 Bei Strauss werden Liberalismus und Sozialismus immer zusammen assoziiert: Letzterer wird nämlich systematisch als eine bloße „immanente Kritik“ und Radikalisierung des ersten dargestellt. Siehe zum Beispiel L. Strauss, „Einige Anmerkungen über die politische Wissenschaft des Hobbes“, S. 243f. 30 L. Strauss, „Anmerkungen zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen“, S. 238. 31 Die Genealogie der Moral führte Nietzsche – so Strauss in einem Brief an Karl Löwith – zu einer „Wiederentdeckung des ursprünglichen Ideals der Menschheit: des Männlichkeits(-Tapferkeits-)Ideals“. „[D]ie Verzerrungen und Übertreibungen, in denen N[ietzsche] bisweilen schwelgte [...], waren die Folge dessen, dass dieses Ideal verleugnet und vergessen worden war.“ (An Karl Löwith, 2.2.2933, in: L. Strauss, GS III, S. 620)

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world as such must be destroyed. Their yes was inarticulate – They were unable to say more than No!“32

In den 1950er Jahren wird Strauss erneut den „Nihilisten“ seine Stimme verleihen, diesmal gegen Kojèves Zukunftsvision eines „universellen und homogenen Staates“, dessen tatsächliche Verwirklichung für ihn mit der „Zerstörung der Menschheit“ gleichbedeutend wäre: „There will always be men (andres) who revolt against a state which is destructive of humanity or in which there is no longer a possibility of noble action and of great deeds. They may be forced into a mere negation of the universal and homogeneous state, into a negation not enlightened by any positive goal, into a nihilistic negation. While perhaps doomed to failure, that nihilistic negation may be the only action on behalf of man’s humanity, the only great and noble deed that is possible once the universal and homogeneous state has become inevitable. […] Warriors and workers of all countries, unite, while there is still time, to prevent the coming of ‚the realm of freedom‘. Defend with might and main, if it needs to be defended, the ‚realm of necessity‘.“33

In diesen zwei Textstellen suggeriert Leo Strauss, dass der „deutsche Nihilismus“ eine zugleich naturwüchsige und legitime Reaktion gegen die von Liberalismus und Kommunismus in Gang gebrachte „Zerstörung der Menschheit“ sei. Der Umschlag des Liberalismus in den Totalitarismus ist also für ihn im Liberalismus selbst angelegt. Die radikale Negation der aristokratisch-kriegerischen Moral führe quasi notwendig zu ihrer nihilistischen Rückkehr in der Form des Faschismus. Obwohl Strauss die Liberalismuskritik von Schmitt und den „deutschen Nihilisten“ weitgehend teilt und ihre Attacke gegen den Kommunismus und die Vision eines „État universel et homogène“ als legitim anerkennt, distanziert er sich jedoch vom real-existierenden Faschismus.34 Gegen den

32 Leo Strauss: „On German Nihilism“ (1941), Interpretation, 3/1999, S. 360. 33 Leo Strauss, On Tyranny. Revised and Expanded Edition. Including the StraussKojève Correspondence. Chicago: University of Chicago Press, 2000, S. 209. 34 Das war aber im Jahre 1933 noch nicht der Fall. Siehe den berühmten Brief an Karl Löwith: „Daraus, dass das rechts-gewordene Deutschland uns nicht toleriert, folgt schlechterdings nichts gegen die rechten Prinzipien. Im Gegenteil: nur von den rechten Prinzipien aus, von den fascistischen, autoritären, imperialen Prinzipien aus lässt sich mit Abstand, ohne den lächerlichen und jämmerlichen Appell an die droits imprescriptibles de l’homme, gegen das meskine Unwesen [die Nationalsozialisten, B.Q.] protestieren. [...] Es gibt keinen Grund zu Kreuze zu kriechen, auch nicht zum Kreuz des Liberalismus, solange noch irgendwo in der Welt ein Funke des römischen Gedankens glimmt.“ (Brief von Strauss an Löwith, 19.5.1933, in: L. Strauss, GS III, S. 625)

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Liberalismus und seine antiliberale Kehrseite schlägt er ab den 1930er Jahren einen dritten Weg vor, indem er seine nietzscheanische Liberalismuskritik in einen platonischen Horizont einschreibt.35 Im Gegensatz zu Hobbes würde Platon die „thymotischen“ Tugenden positiv bewerten. Jedoch sollten sie der Vernunft untergeordnet bleiben und nicht als die höchsten Tugenden betrachtet werden: „[H]öher als die Tapferkeit steht die Besonnenheit, höher noch als die Besonnenheit stehen Einsicht und Gerechtigkeit.“36 Ohne die anderen Tugenden könne nämlich die Tapferkeit nur Böses anrichten.37 Strauss aktualisiert also die platonische Lehre, um eine „gute“ autoritäre Ordnung zu denken. In seinem idealen Staat soll das „Politische“ (der „männliche“ Pol) über das „Ökonomische“ (der „weibliche“ Pol) herrschen, während der „Weise“ seinerseits über dem Politischen und dem Ökonomischen steht, um dafür zu sorgen, dass „jeder das Seinige verrichtet“.38 Wenn der „Weise“ nach dieser Auffassung „ruler of rulers“ ist39, besteht seine Aufgabe darin, die zukünftigen Staatsmänner so auszubilden, dass sie ihre „thymotischen“ Tugenden entwickeln, sie aber gleichzeitig unter der Kontrolle der Vernunft halten: es geht also darum, die „Gentlemen“ so zu erziehen, dass sie keine „Tyrannen“ wie Hitler oder Stalin werden. Ein alternatives Bild des autoritären Staates, in dem der Führer von dem Weisen gelenkt wird, wird hier im Medium des Kommentars von Platon entworfen. Nichtsdestotrotz ist dieses Projekt in den 1930er Jahren gegen den europäischen Faschismus konzipiert. Strauss nimmt zwar am Diskurs der deutschen Rechten teil und er entwirft in den ersten Jahren des Nationalsozialismus seine eigene Version eines „edlen Faschismus“ (Karl Löwith), bleibt jedoch als deutscher Jude (und als Zionist) von diesem rechtsextremen Diskurs strukturell ausgeschlossen, was ihn immer davor bewahrt hat, sich mit den „deutschen Nihilisten“ ganz zu identifizieren.

35 In den dreißiger Jahren schreibt Strauss in der Korrespondenz immer wieder, dass Nietzsche einer Korrektur durch Platon bedarf. Siehe zum Beispiel den Brief an Löwith vom 2.2.1933, in: L. Strauss, GS III, S. 620f. 36 L. Strauss, „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis“, S. 168. 37 Ebd., S. 167. 38 Platon, Der Staat, IV, 441a. Vgl. mit L. Strauss, „Hobbes’ politische Wissenschaft in ihrer Genesis“, S. 183. 39 Es geht hier um die Figur des Simonides in Xenophons Hiero. Siehe L. Strauss, On Tyranny, S. 86.

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Im Folgenden möchte ich mich mit den Aktualisierungen dieser antiliberalen Programmatik bei seinen amerikanischen Schülern auseinandersetzen. 3. Spiritedness bei den neokonservativen Straussians. Der Fall Allan Bloom Leo Strauss hat nach seiner Ankunft an der konservativen University of Chicago eine Schule gegründet40, die im Feld des amerikanischen Konstitutionalismus immer noch wichtig ist.41 Obwohl es Debatten um den Einfluss der Straussians bereits ab den 1960er Jahren gegeben hat, fanden die ersten anti-straussianischen politischen Kampagnen in den 1980er Jahren – nach dem Tod des Meisters – statt.42 Ein Teil der Straussians gelangte in der Reagan-Ära von der Akademie in die Politik, während andere an der Universität verblieben. Letztere aktualisierten die liberalismuskritische Diagnose ihres Lehrers in einem neuen politischen Kontext, indem sie sich deutlich gegen die New Left und die kulturelle Revolution der 1960er und 1970er Jahren positionierten. In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff des Thymos – oder des Spiritedness – eine zentrale Bedeutung, so zuerst bei Allan Bloom (1930-1992), der Bekannteste der Strauss-Schüler. In seiner Interpretation von Platons Staat aus dem Jahre 1968 diskutiert Bloom an mehreren Stellen das Problem der Spiritedness und hebt deren Zweischneidigkeit hervor. Daher spielt die Frage nach der Erziehung des Thymos bzw. der „Wächter“, d.h. ihrer Kontrolle durch die Philosophen in seiner Interpretation des platonischen Staates wie bei Strauss eine wichtige Rolle.43 Diese Kontrolle wird hier indirekt durch das Erlernen der „mode-

40 Siehe dazu Robert Devigne, Recasting Conservatism: Oakeshott, Strauss and the Response to Postmodernism. New Haven: Yale University Press, 1994; Harald Bluhm, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss. Berlin: Akademie Verlag, 2002, S. 301ff.; Jean-François Drolet, American Neoconservatism: The Politics and Culture of a Reactionary Idealism. New York: Columbia University Press, 2011; Stephan Steiner, Weimar in Amerika. Leo Strauss’ politische Philosophie. Tübingen: Mohr-Siebeck, 2013, S. 150ff. 41 Siehe meinen anderen Aufsatz in diesem Band. 42 Siehe zum Beispiel Myles Burnyet: „Sphynx without a secret“, The New York Review of Books, 9/1985, S. 30-36. 43 Allan Bloom, „Interpretative Essay“, in: Platon, The Republic, New York: Basic Books, 1991, S. 350f.

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ration“ ausgeübt. Wie Strauss, der in City and Man eine ähnliche Deutung vorgelegt hatte, möchte Bloom zeigen, dass der ideale Staat von Platon kein zu verwirklichendes politisches Programm artikuliert, sondern im Gegenteil eine radikale Kritik des „politischen Idealismus“ ist44: „The perfect city is revealed to be a perfect impossibility.“45 Für Bloom müsse also der Staat bei dem aufmerksamen Leser eine Art kathartischen Effekt auslösen, und dadurch seine „moralische Empörung“ gegenüber der Ungerechtigkeit in seinem Staat abmildern. Der Staat wird also als ein zutiefst konservatives Werk vorgestellt, das die Tugend der politischen „moderation“ verstärke. Platon demonstriere nämlich nicht nur, dass die Mittel zur Verwirklichung der Politeia unmoralisch sind, sondern auch, dass der ideale Staat selbst „despotisch“ und „unvernünftig“ sei. Die Einsicht in die Unmöglichkeit der Verwirklichung des perfekten Regimes „moderates the moral indignation a man might experience at the sight of lessthan-perfect-regimes. The extreme spirit of reform or revolution loses its ground if its end is questionable. It the infinite longing for justice on earth is merely a dream or a prayer, the shedding of blood in its name turns from idealism into criminality. […] The Republic serves to moderate the extreme passion for political justice by showing the limits of what can be demanded and expected of the city; and, at the same time, it shows the direction in which the immoderate desires can be meaningfully channeled“.46

Die „moralische Empörung“ des Bürgers gegenüber dem unvollkommenen Charakter des eigenen Staates wird zwar von Bloom als ein legitimer Ausdruck von Spiritedness anerkannt. Bloom warnt aber davor, dieser moralischen und politischen Entrüstung freien Lauf zu lassen: Sie sollte vielmehr von der Vernunft unter Kontrolle gehalten werden. Ohne diese Leitung, d.h. ohne die Einsicht in die „natürlichen“ Schranken des Menschen, könne sich nämlich die „moral indignation“ schnell in Schwärmerei und Tyrannei transformieren. Daher sind die „reformistischen“ oder „revolutionären“ Ausdrücke der Spiritedness für Bloom mit den von Platon bevorzugten Formen nicht zu verwechseln.

44 Ebd., S. 410. 45 Ebd., S. 409. 46 Ebd., S. 410.

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In dem viel später – im Jahre 1987 – erschienenen Buch The Closing of the American Mind47 werden diese an der Lektüre von Platon gewonnenen Einsichten einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. In der Tat kann dieser neokonservative Bestseller als die erste „Popularisierung“ der Strauss'schen Lehre betrachtet werden.48 Das ideengeschichtliche Grundnarrativ des Meisters wird hier implizit übernommen – Strauss wird im ganzen Buch nur ein einziges Mal erwähnt49 – und aktualisiert, d.h. auf die politische Debatte der Zeit angewendet. Im Kontext der konservativen Wende der Reagan-Ära polemisiert Bloom vor allem gegen die Studentenrevolte der 1960er und 1970er Jahre und die New Left. In diesem Zusammenhang nimmt er eine widersprüchliche Position ein. Einerseits verteidigt er den Liberalismus der amerikanischen Gründungsväter gegen den sogenannten „Nihilismus“ der Neuen Linken; andererseits möchte er aber zeigen, dass die Studentenrevolte selbst diesen Liberalismus bloß radikalisiert hätte.50 Bloom scheint also die neue Linke auf zwei Ebenen bekämpfen zu wollen. „Exoterisch“ attackiert er – ähnlich wie in seinem „Interpretative Essay“ – den utopischen Geist der 1960er Generation, um einen „nüchternen“ Liberalismus zu befördern. „Esoterisch“ scheint er sich aber eher nach einer Politik jenseits des Liberalismus zu sehnen, da er nicht müde wird, die philosophischen Fundamente des amerikanischen Liberalismus anzugreifen, von Thomas Hobbes und John Locke bis zu den Föderalisten.51 Dabei folgt die Verfallserzählung von Platon zu Hobbes dem

47 Für eine – sehr einfühlsame, dennoch informative – Präsentation des Buches und seiner Rezeption, siehe Till Kinzel, Platonische Kulturkritik in Amerika. Studien zu Allan Blooms „The Closing of the American Mind“. Berlin: Duncker und Humblot, 2002. 48 Ebd., S. 19. 49 Allan Bloom, The Closing of the American Mind. New York: Simon and Schuster Paperbacks, 2002, S. 167. 50 „The critical theory of late capitalism is at once late capitalism’s subtlest and crudest expression. Anti-bourgeois ire is the opiate of the Last Man.“ (ebd., S. 78) 51 „Americans are Lockeans: recognizing that work is necessary […], and will produce well-being. Following their natural inclinations moderately, not because they possess the virtue of moderation but because their passions are balanced and they recognize the reasonableness of that. Respecting the rights of others so that theirs will be respected; obeying the law because they made it in in their own interest. From the point of view of God or Heroes, all this is not very inspiring. But for the poor, the weak, the oppressed – the overwhelming majority of mankind – it is the promise of salvation. As Leo Strauss put it, the moderns ‚built on low but solid ground‘.“ (ebd., S. 167)

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Strauss'schen Szenario, nur in vereinfachter Form.52 Wie in dem „interpretative Essay“ scheint Bloom mit dieser Gegenideengeschichte mehrere Ziele zu verfolgen: Es geht erstens darum, Spiritedness als ein quasi-anthropologisches Faktum zu konstruieren, so dass seine Hobbessche „Verdrängung“ als Verbrechen gegen die Natur gelten kann. Zweitens schreibt der Philosoph die ideologischen Auseinandersetzungen um 1968 und deren Erbe in eine viel breitere philosophische Geschichte ein und liefert somit der konservativen Wende der Reagan-Ära eine „neoklassische“ Rechtfertigung. Drittens polemisiert er – wie in dem „Interpretative Essay“ – gegen die revolutionären (Bloom sagt: „monströsen“) Formen der Spiritedness, die er in der Studentenrevolte am Werk sah. In dem berühmten Kapitel über die Sixties geht er so weit, den politischen Diskurs der New Left mit dem der Nationalsozialisten – er erwähnt dabei die Rektoratsrede Heideggers – zu parallelisieren.53 Viertens hat diese Gegenerzählung die Funktion, eine Rückkehr zu einem humanistischen Bildungsprogramm zu befördern, dessen konterrevolutionäre Dimension von Bloom explizit gelobt wird: In dem Kapitel über die Sixties erzählt er stolz über eine Gruppe von Studenten, mit denen er den Staat las und die sich gegen die rebellischen Studenten der Cornell University gestellt hätten.54 Während der junge Strauss in seiner Kritik des Thymos (oder der Spiritedness) den „deutschen Nihilismus“ im Blick hatte, richtet sie sich bei Allan Bloom vor allem gegen das Erbe der Studenten-Rebellion an den amerikanischen Universitäten. Jedoch ist bei ihm diese Kritik ähnlich gelagert, denn auch ihr geht es darum, den Liberalismus und seine antiliberalen Opponenten (hier: die New Left) als die zwei Facetten derselben Medaille zu präsentieren, um einen Horizont „jenseits des Liberalismus“ zu öffnen. 4. Francis Fukuyama: eine liberal-demokratische Neuerfindung des Thymos? Man findet bei den Straussians eine Vielzahl von Variationen dieser standardisierten Verfallserzählung „von Platon bis zu Nietzsche über Hobbes

52 Ebd., S. 329f. 53 Ebd., S. 313f. 54 Ebd., S. 332f.

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und Locke“.55 Während die meisten gegenideengeschichtlichen Darstellungen der Straussians nur indirekt Bezüge zu den politischen Debatten der Zeit herstellen und fast ausschließlich im akademischen Rahmen diskutiert wurden, hat die Aktualisierung des Strauss'schen Narrativs in The End of History and The Last Man eine breite Rezeption erfahren.56 Dabei müssen die Unterschiede zwischen Francis Fukuyama (geb. 1952) und den Straussians in Betracht gezogen werden. Die Moderne-Diagnose von Fukuyama wird – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – in einem anderen politischen Kontext und aus einem anderen philosophischen Hintergrund formuliert, denn der Autor versteht sich viel eher in der intellektuellen Nachfolge von Alexandre Kojève als in der von Leo Strauss. Im Gegensatz zu Strauss und den Straussians, die jede Form von Geschichtsphilosophie zurückweisen, stellt sich für den amerikanischen Politikwissenschaftler die Geschichte als einen zusammenhängenden und zielgerichteten Prozeß dar, der alle Völker und Kulturen umfasst. Für ihn ist der Endpunkt dieses Prozesses jene Gesellschaftsform, die sich in den USA und West-Europa verwirklicht hat: die kapitalistische und liberale Demokratie. Wichtig für unseren Kontext sind hier die benannten Gründe der Universalisierung des kapitalistisch-demokratischen Regimes. Fukuyama identifiziert zwei Treibkräfte der Geschichte: eine materialistische und eine anthropologische. In einem ersten Schritt möchte er zeigen, dass die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften zur notwendigen Industrialisierung all jener Länder und Kulturen führt, die dieser Entwicklung ausgesetzt sind, und mit einer Vereinheitlichung ihrer Sozialstruktur einhergeht.57 Jedoch könne die politische Liberalisierung nicht durch eine rein ökonomische Modernisierung erklärt werden.58 Daher führt

55 Siehe zum Beispiel Catherine. H. Zuckert (Hrsg.), Understanding the Political Spirit: Philosophical Investigations from Socrates to Nietzsche. New Haven: Yale University Press, 1988. 56 Francis Fukuyama veröffentlichte im Sommer 1989 einen Artikel unter dem Titel „The End of History“ in der konservativen Zeitschrift The National Interest. Die zum Buch ausgearbeitete Fassung wurde im Jahre 1992 publiziert: Francis Fukuyama, The End of History and The Last Man. New York: The Free Press, 1992. Zu Fukuyama allgemein siehe Henk de Berg, Das Ende der Geschichte und der bürgerliche Rechtsstaat. Hegel – Kojève – Fukuyama. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 2007. 57 F. Fukuyama, The End of History, S. XIVf. 58 Ebd., S. XV.

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Fukuyama in einem zweiten Schritt ein anthropologisches Argument ein, das er „Hegel-Kojève“59 entnimmt. Die zweite Triebkraft der Geschichte wäre der „Kampf um Anerkennung“, den er in der Einleitung mit dem platonischen Begriff des Thymos kurzschließt.60 Die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht (oder deren Lesart durch Kojève) dient hier als Folie, um die nun zum Abschluss gekommene Weltgeschichte zu entschlüsseln: „By Hegels account, the desire to be recognized as a human being with dignity drove man at the beginning of history into a bloody battle to the death for prestige. The outcome of this battle was a division of human society into a class of masters, who were willing to risk their lives, and a class of slaves, who gave in to their natural fear of death. But the relationship of lordship and bondage […] failed ultimately to satisfy the desire for recognition of either the masters or the slaves. The slave, of course, was not acknowledged as a human being in any way whatsoever. But the recognition enjoyed by the master was deficient as well, because he was not recognized by other masters, but slaves whose humanity was as yet incomplete. Dissatisfaction with the flawed recognition available in aristocratic societies constituted a ‚contradiction‘ that engendered further stages of history. Hegel believed that the ‚contradiction‘ inherent in the relationship of lordship and bondage was finally overcome as a result of the French, and […] American Revolutions. These democratic revolutions abolished the distinction between master and slave by making the former slaves their own masters and by establishing the principles of popular sovereignty and the rule of law. The inherently unequal recognition of masters and slaves is replaced by universal and reciprocal recognition, where every citizen recognizes the dignity and humanity of every other citizen.“61

Der Rekurs auf „Hegel-Kojève“ scheint auf den ersten Blick andere politischen Konsequenzen mit sich zu bringen. Im Gegensatz zu Strauss und den Straussians hält Fukuyama am egalitären Versprechen der Moderne fest. Daher unterscheidet er zwischen der aristokratischen Megalothymia, d.h. dem Verlangen, als anderen Menschen überlegen anerkannt zu sein, und dem demokratischen Verlangen nach gleichberechtigter Anerkennung

59 Fukuyama sagt explizit, dass er sich nur für Kojèves Hegel und nicht für Hegel in „Reinform“ interessiert. Siehe ebd., S. 144. Vgl. Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel. Paris: Gallimard, 1947. Kojève hat bekanntlich eine sehr eigenwillige Hegel-Interpretation entwickelt. Die wichtigsten „Abweichungen“ von Hegel sind bekannt: Kojève entwickelt erstens eine dualistische Ontologie (Mensch/Natur), die die Naturphilosophie Hegels implizit verneint. Die sozial-politische und existentialistische Deutung der Herr-Knecht-Dialektik stellt eine weitere Besonderheit seiner Lektüre dar. 60 F. Fukuyama, The End of History, S. XVI. 61 Ebd., S. XVII.

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(Isothymia).62 Darüber hinaus sagt er explizit, dass Thymos nicht auf das eigene Selbst oder Kollektiv beschränkt sei, sondern auch Solidaritätsgefühle erzeugen könne. Er gibt sogar ein Beispiel an für einen Zorn, der sich auf Gruppen bezieht, „zu denen man selbst nicht gehört. Der gerechte Zorn der weißen Gegner der Sklaverei vor dem amerikanischen Bürgerkrieg oder die weltweite Empörung über das Apartheid-System in Südafrika sind Manifestationen des Thymos“. In diesen Fällen werde laut Fukuyama „der Zorn dadurch hervorgerufen, daß das Opfer des Rassismus nicht mit jener Wertschätzung behandelt wird, die ihm als menschlichem Wesen nach Ansicht der den Zorn verspürenden Person eigentlich zustünde“.63 Schließlich treten bei Fukuyama die männlichen und kriegerischen Konnotationen des Thymos in den Hintergrund, so sehr, dass man versucht ist, von einer authentischen liberal-demokratischen Umdeutung des Begriffs zu sprechen. Zwar möchte er die Dialektik zum „Stillstand“ bringen, da die wesentlichen politischen Fragen für ihn schon entschieden sind, aber er nimmt in seiner Rezeption von „Hegel-Kojève“ die Geschichte von emanzipatorischen Kämpfen „von unten“ auf, und bewertet sie positiv. Im letzten Teil („Der letzte Mensch“) kommt er jedoch zu ähnlichen politischen Schlussfolgerungen wie Strauss und die neokonservativen Straussians: Der posthistorische Liberalismus sei stark individualistisch, eher an Rechten als an Pflichten orientiert, und ziehe zudem oft einen allzu toleranten Werterelativismus nach sich. Die Stabilität der liberalen Demokratie hänge also von moralischen Voraussetzungen ab, die der liberale Staat und der Kapitalismus selbst nicht garantieren könnten: „In a situation in which all moralisms and religious fanaticisms are discouraged in the interest of tolerance, in an intellectual climate that weakens the possibility of belief in any one doctrine […], it should not be surprising that the strength of community life has declined in America. This decline has occurred not despite liberal principles, but because of them. This suggests that no fundamental strengthening of community life will be possible unless individuals give back certain of their rights to communities, and accept the return of certain historical forms of intolerance. Liberal democracies, in other words, are not self-sufficient: the community life on which they depend must ultimately come from another source different from liberalism itself. The men and women who made up American society at the time of the founding of the United States were not isolated, rational individuals calculating their selfinterest. Rather, they were for the most part members of religious communi-

62 Ebd., S. 181f. 63 Ebd., S. 171.

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ties held together by a common morale code and belief in God. The rational liberalism that they eventually came to embrace was not a projection of that pre-existing culture, but existed in some tension with it. ‚Self-interest rightly understood‘ came to be a broadly understandable principle that laid a low but solid ground for public virtue in the United States, in many cases a firmer ground than was possible thorough appeal to religious or pre-modern values alone. But in the long run those liberal principles had a corrosive effect on the values predating liberalism necessary to sustain strong communities, and thereby on a liberal society’s ability to be self-sustaining.“64

In Fukuyamas Diagnose der inneren Widersprüche des Liberalismus spielt Thymos eine zentrale Rolle: die liberale Gesellschaft brauche Thymos, um sich vor ihren Selbstzerstörungstendenzen zu schützen. Im dritten Teil des Buchs folgt seine Gegenideengeschichte dieser in Vergessenheit geratenen Dimension des menschlichen Lebens dem Strausschen Narrativ.65 Der einzige Unterschied zu den Straussians besteht vor allem darin, dass Hegel hier die Rolle eines „modernen“ Platons spielt, der die Opposition zwischen der „bürgerlichen“ Moral von Hobbes und der „aristokratischen“ Moral von Nietzsche aufhebt.66 Die Mängel der liberalen Tradition von Hobbes und Locke werden durch die „edlere“ Liberalismus-Version von Hegel oder Tocqueville konterkariert67, die sowohl auf Isothymia als auch auf Megalothymia beruhen soll. Fukuyama begrüßt einerseits das post-kommunistische „Ende der Geschichte“, bezweifelt andererseits, dass die liberal-demokratische Gesellschaft wirklich ohne den Thymos auskommen könne. Darüber hinaus sieht er Megalothymia in der menschlichen Natur begründet und plädiert dafür, dass auch sie innerhalb eines demokratischen Regimes ein „Ventil“ findet: „Nature […] will conspire to preserve a substantial degree of megalothymia even in our egalitarian, democratic world. For Nietzsche was absolutely correct in his belief that some degree of megalothymia is a necessary precondition for life itself. A civilization devoid of anyone who wanted to be recognized as better than others, and which did not affirm in some way the essential health and goodness of such a desire, would have little art or literature, music or intellectual life. It would be incompetently governed, for few people of quality would choose a life of public service. […] [M]ost critically, it

64 Ebd., S. 327. 65 Ebd., S. 143f. Fukuyama erkennt dementsprechend das Motiv des Thymos in der ganzen Geschichte der Philosophie wieder: bei Platon, Machiavelli, Hobbes, Rousseau, Hamilton, Nietzsche usw. (ebd., S. 162). 66 Ebd., S. 160f. 67 Ebd., S. 199f.

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would be unable to defend itself from civilizations that were infused with a greater spirit of megalothymia, whose citizens were ready to forsake comfort and safety and who were not afraid to risk their lives for the sake of dominion. Megalothymia is, as it always was, a morally ambiguous phenomenon […]. It is therefore not surprising that a contemporary liberal democracy like the United States permits considerable scope for those who desire to be recognized as greater than others. Democracy’s effort to banish megalothymia or convert it into isothymia has been incomplete at best. Indeed, democracy’s long-run health and stability can be seen to rest on the quality and number of outlets for megalothymia that are available to its citizens. These outlets not only tap the energy latent in thymos and turn it to productive uses, but also serve as grounding wires that bleed off excess energy that would otherwise tear the community apart.“68

5. Harvey Mansfield : die maskulinische Variante Wir haben gesehen: Fukuyama erfindet mit The End of History den Thymos neu, indem er dieses ursprünglich antiliberale Motiv mit dem Projekt der „liberalen Demokratie“ kompatibel macht. Er betont darüber hinaus, dass die liberale Demokratie sich notwendig auf irrationale und partikulare Formen der Anerkennung stützen müsse, um weiter bestehen zu können.69 Im Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion – und daher des Verschwindens des Hauptfeindes Amerikas – bedeutete es, dass die USA ihre „thymotischen“ Energien neu verteilen und ausrichten sollten, um den im Liberalismus selbst angelegten Selbstzerstörungstendenzen zu entfliehen.70 Die letzten Texte seines straussianischen Lehrers Harvey Mansfield (geb. 1932) verwenden ähnliche Argumente, nur dass sie im post-NineEleven-Kontext intervenieren und daher gegen die neuen Feinde des Westens gerichtet sind: den politischen Islam und… den Feminismus. In einem im Jahre 2006 veröffentlichten Pamphlet attackiert der an der Harvard University lehrende Straussian die sogenannte „gender-neutral society“ und plädiert dafür, dass Männlichkeit nicht „unemployed“ bleibe.71 Männlichkeit bedeute nämlich nicht nur „Aggressivität“, sondern auch 68 Ebd., S. 315. 69 Ebd., S. 334f. 70 Dabei scheut sich Fukuyama im letzten Kapitel nicht, mit Hegel die positive Funktion des Krieges für das Gemeinwesen in Erinnerung zu rufen (ebd., S. 329). 71 Für Mansfield können zwar Frauen auch „männlich“ sein (er erwähnt zum Beispiel Margaret Thatcher); es handelt sich aber für ihn um Ausnahmen (Harvey Mansfield, Manliness. New Haven: Yale University Press, 2006, S. 10f.).

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„Selbstbehauptung“ (self-assertivness). Als solche wäre sie – auch in ihren irrationalen Formen – gesellschaftlich notwendig, zumindest wenn sie „in check“ bleibe.72 In der Einleitung verweist Mansfield gleich auf den Begriff des Thymos73 und situiert seine gegenideengeschichtliche Studie nicht nur im Kontext eines ideologischen Kampfes gegen den Feminismus74, sondern auch des amerikanischen Kriegs gegen den „islamischen Faschismus“: „With the disaster of September 11, 2001, Americans were sharply reminded that it is sometimes necessary to fight, and that it is the business of government, fighting comes before caring. Women were reminded that men can come in handy. The heroes of that day were (apparently) exclusively male – as were the villains. Does this mean that the gender-neutral society is valid only in peace time?“75

Viel mehr als andere Strauss-Schüler aktiviert Mansfield die geschlechtlichen Resonanzen des Thymos-Begriffs. Für ihn werden mit der feministischen Infragestellung des Patriarchats die Grundlagen des Politischen, ja sogar der westlichen Zivilisation angegriffen. Trotz dieser sehr traditionellen Auffassung versucht er seinem Männlichkeitskonzept die Aura des Subversiven zu geben. Wie Strauss und die Straussians beginnt er seine Verfallserzählung mit dem Liberalismus von Hobbes, der bei ihm als einen proto-feministischen Denker vorgestellt wird: „We recall that Plato complained of Homer for making his hero Achilles too manly […]. Plato noticed that manly men dramatize their actions as if they were the center of the universe. Their assertiveness is necessary to the meaning in our tenuous lives, which would otherwise sink into significance or oblivion. Poets such as Homer celebrate a manly Achilles because they accept his boastful inflation of a petty quarrel, however unreasonable, as the only way to sustain human dignity. But Plato the philosopher discovered nature, an orderly cosmos that supplies meaning and dignity without poetic or heroic boasting. In the interest of justice, Plato corrected the overwrought contrast of heroic virtue contending with arbitrary gods and chaos […]. The manly men in Plato’s best city became tamed guardians of philosophy. Hobbes with his

72 Ansonsten könnte die Männlichkeit „nihilistisch“ werden (ebd., S. 82ff.). 73 Ebd., S. XI. 74 Die Studie ist vor allem gegen die Theoretikerinnen der „zweiten Welle“ des Feminismus gerichtet. Siehe zum Beispiel das fünfte Kapitel zum „weiblichen Nihilismus“ (ebd., S. 122ff.). 75 Ebd., S. 11. Dass der Feminismus die innere Front gegen den „islamischen Radikalismus“ und dessen „extreme Männlichkeit“ schwächt, suggeriert Mansfield S. 239.

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political science also opposes overambitious manliness, but he does it differently. He opposes manliness by having it support sovereignty, not philosophy […]. He believed that Plato failed to tame manliness. With his imagined dignity, Plato merely endorsed with reason and philosophy what Homer had magnified with poetry. So instead of taming manliness, Hobbes tries to quell it. […] All in all, Hobbes deserves the mantle no one yet awarded him of having created the sensitive male. For the sensitive male is one who follows Hobbes’s advice to lay down his right. Feminist commentators have not praised Hobbes for this foundational command […].“76

Wie die anderen Straussians betont auch Mansfield, dass es ihm nicht darum geht, die heroische Männlichkeit zu feiern, sondern nur darum, sie nicht „unemployed“ zu lassen. Der neokonservative Autor konstruiert in einem ersten Schritt einen Gegensatz zwischen zwei Extremen, also zwischen einer imaginierten radikalen „Verdrängung“ der Männlichkeit in der Moderne und einem „männlichen Nihilismus“, der im Nationalsozialismus oder im Islamismus kulminiere, um dann in einem zweiten Schritt seine Intervention als eine moderate Feminismus- („too little manliness“) und Männlichkeitskritik („too much manliness“) zu artikulieren. Tatsächlich handelt es sich aber um eine maskulinische Position, die sich nicht damit begnügt, traditionelle Geschlechterrollen zu naturalisieren, sondern sich dabei auch anschickt, aus der Perspektive der historisch „Besiegten“ zu argumentieren, als ob der Feminismus überall an der Macht wäre und die gesellschaftliche Emanzipation der Frauen schon verwirklicht worden wäre.77

76 Ebd, S. 171-173. Siehe auch die ähnliche Rückführung des Feminismus auf Hobbes bei A. Bloom, The Closing of the American Mind, S. 129. 77 Mansfield merkt an, dass es in verschiedenen Berufen nur einen geringen Anteil von Frauen gibt und, dass die Verteilung der Arbeit zwischen Mann und Frau im Haushalt zur Last der Frau geht. Aber diese Beispiele sind seiner Meinung nach ein zusätzlicher Beweis für eine quasi-natürliche Differenz zwischen den Geschlechtern: „Women still rather like housework, changing diapers, and manly men. The capacities and inclinations of the sexes do not differ exactly or universally, but they do seem to differ. These differences are, one could say, all the more impressive now that they are no longer supported, indeed now that they are denied or opposed, by society’s ruling conventions.“ (H. Mansfield, Manliness, S. 12)

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6. Peter Sloterdijk: Eine neoliberale Umdeutung In Deutschland rückte der Begriff des Thymos mit der Veröffentlichung von Peter Sloterdijks Buch Zorn und Zeit (2006) ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Feuilletons, vor allem nach der daran anschließenden Debatte, die von seinem FAZ-Artikel „Die Revolution der gebenden Hand“78 ausgelöst wurde. In diesem Text, in dem die Thesen von Zorn und Zeit in verkürzter und polemischer Form vorliegen, schlägt Sloterdijk einen „thymotischen“ Umbau des Nachkriegs-Wohlfahrtstaates vor. In einem ersten Schritt versucht er, das moderne Ressentiment gegen die Wohlhabenden auf einen Mythos zurückzuführen, der von JeanJacques Rousseau erfunden worden wäre. Im Second Discours stellte nämlich Rousseau die Gründung der „bürgerlichen Gesellschaft“ als eine nachträgliche Legitimation bzw. Legalisierung eines willkürlichen Gewaltakts dar.79 Somit erscheine das Eigentum schon als „Diebstahl“ und diese Charakterisierung führe automatisch zum „revolutionären Elan“: „Auf dem Grund jeder revolutionären Respektlosigkeit findet man die Überzeugung, dass das Früher-Dagewesensein der jetzigen ,rechtmäßigen‘ Besitzer letztlich nichts bedeutet. Von der Respektlosigkeit zur Enteignung ist es nur ein Schritt. Alle Avantgarden verkünden, man müsse mit der Aufteilung der Welt von vorn beginnen.“80 In dem Ökonomie-kritischen Diskurs der Moderne trete die Bourgeoisie als ein „kleptokratisches Kollektiv“ hervor, das sich das Produkt der Mehrarbeit der Lohnabhängigen aneigne: „ein Nehmen unter dem Vorwand des Gebens“. Sloterdijk betrachtet diese „kritische“ Darstellung der Verhältnisse als „falsch“ und setzt seine eigene Erklärung entgegen: Die Triebkraft der modernen Ökonomie ist nach ihm nicht das „Gegenspiel von Kapital und

78 Peter Sloterdijk: „Die Revolution der gebenden Hand“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.6.2009, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kapitalismus/die -zukunft-des-kapitalismus-8-die-revolution-der-gebenden-hand-1812362.html; Siehe dazu die Diskussionsbeiträge in Jan Rehmann / Thomas Wagner (Hrsg.), Angriff der Leistungsträger? Das Buch zur Sloterdijk-Debatte, Hamburg: Argument, 2010. 79 „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: ,Das gehört mir!‘, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, ist der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Jean-Jacques Rousseau von Peter Sloterdijk zitiert, in: Peter Sloterdijk: „Die Revolution der gebenden Hand“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.6.2009) 80 Ebd.

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Arbeit“, sondern die „antagonistische Liaison von Gläubigern und Schuldnern“, bzw. die von Kapitalisten und Arbeiterinnen geteilte „Sorge um die Rückzahlung von Krediten“. Daher erfülle die von der „linken“ Tradition rezipierte Erzählung von Rousseau vor allem eine politische Funktion: Sie sei lediglich dazu da, dem Wohlfahrtstaat – hier als „geldsaugendes Ungeheuer“ bezeichnet – ein menschliches Antlitz zu geben. Die ideologische Unterwerfung sei so tief verinnerlicht, – so Sloterdijk – dass diese „Kleptokratie des Staates“ heute sogar von den Reichen akzeptiert werde: „Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne dass die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen. Dies ist ein politisches Dressurergebnis, das jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid hätte erblassen lassen.“81

Man hat es hier mit einer Art von neoliberaler Ideologiekritik zu tun: Bei Sloterdijk wird nämlich jede Form von Umverteilungspolitik von oben nach unten als „umgekehrte“ Ausbeutung verstanden. Dementsprechend plädiert er am Ende des Artikels für eine Revolution „von oben“: eine „Revolution der gebenden Hand“. Im Klartext heißt es, dass Sloterdijk zur „Abschaffung der Zwangssteuern“ und zur Privatisierung der Wohlfahrt durch den Ausbau eines Charity-Systems aufruft: „Diese thymotische Umwälzung hätte zu zeigen, dass in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.“82 In Zorn und Zeit (2006) hatte er diese Idee einer „Thymotisierung des Kapitalismus“ schon entwickelt83, damals in expliziter Anlehnung an Nietzsche, Strauss und seine „überwiegend zu Unrecht von den politischen Neokonservativen der USA vereinnahmten“ Schüler.84 Tatsächlich

81 82 83 84

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Ebd. Ebd. Siehe zum Beispiel: P. Sloterdijk, Zorn und Zeit, S. 54f. „Der Leser muß wenig Scharfsinn aufwenden, um zu erkennen, daß manche Themen und Motive des vorliegenden Versuchs aus einem imaginären Dialog mit Francis Fukuyamas Buch […] entspringen. Ich mache kein Geheimnis aus meiner Ansicht, diese Publikation gehöre – trotz ihrer leicht zu entdeckenden kritikwürdigen Aspekte – zu den wenigen Arbeiten der zeitgenössischen politischen Philosophie, die an den Nerv der Epoche rühren.“ (ebd., S. 62) Da Fukuyama ein indirekter Strauss-Schüler ist (er hat bei Allan Bloom und Harvey Mansfield studiert), der sich in den 1990er Jahren zum Neokonservatismus explizit bekannt hat, ist die hier vorgeschlagene scharfe Trennung zwischen Strauss und Straussians, einerseits, politischem Neokonservatismus, andererseits, nicht überzeugend.

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verortet Sloterdijk seine Untersuchung innerhalb des Posthistoire-Theorems und lässt sich die Koordinaten von Fukuyama geben. Die Geschichte sei zu Ende: Zur liberalen Demokratie und zum Kapitalismus gebe es keine Alternative mehr nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Herausforderung der „neuen sozialen Frage“ und des islamischen Terrorismus ändere an dieser Posthistoire-Diagnose nichts. Während er einerseits zur „Revolution der gebenden Hand“ und zur antifiskalischen Revolte aufruft, hat er andererseits keine Therapievorschläge zur Bewältigung der vom Kapitalismus produzierten Armut anzubieten, sondern nur Beruhigungsmittel: die „Zähmung der spekulativen Geldwirtschaft […] und die zügige Implantation eigentumswirtschaftlicher Strukturen in den Entwicklungsländern“ sollen nämlich dafür sorgen, dass eine „relative Beruhigung“ bewirkt wird.85 Und auch wenn er einen Zusammenhang zwischen Globalisierung, wachsender sozialer Ungleichheit und dem Aufstieg des Islamismus sieht86, versteht er ihn als einen quasi natürlichen Kollateralschaden des globalisierten Kapitalismus. Sloterdijk stellt einerseits die Ausschließungsmechanismen des kapitalistischen „Weltinnenraums“ „im Gestus radikaler Illusionslosigkeit“ dar, erhöht diese aber andererseits zu einer „Schicksalsmacht“.87 In diesem Kontext plädiert er in Zorn und Zeit für ein neokoloniales Projekt der „Zivilisierung“, das die „Neutralisierung der völkermörderischen Potentiale in den von zornigen jungen Männern übervölkerten Staaten des Nahen und Mittleren Orients“ bewirken solle.88 Er scheint jedoch im Laufe der „Flüchtlingskrise“ seine Meinung geändert zu haben. In einem Interview für das Politik-Magazin Cicero im Jahre 2016 hat er nämlich gezeigt, wie es gelingen kann, eine „radikal-aristokratische“ Position in eine „populistisch-reaktionäre“ umzumünzen.89 Trotz seiner Versuche, sich von Marc Jongen und dessen Programm eines „kon-

85 Ebd., S. 70. 86 Ebd., S. 69. 87 Jan Rehmann / Thomas Wagner, „Sloterdijks Weg vom Zynismus-Kritiker zum Herrschaftszyniker“, in: Jan Rehmann / Thomas Wagner (Hrsg.), Angriff der Leistungsträger?, S. 33. 88 P. Sloterdijk, Zorn und Zeit, S. 71. 89 Innerhalb der Geschichte des modernen Konservatismus kann man laut Domenico Losurdo zwischen zwei miteinander konkurrierenden, durchaus widersprüchlichen Strängen unterscheiden: dem „populistisch-reaktionären“ und dem „radikal-aristokratischen“. „Diese beiden antidemokratischen Strömungen vom Ende des 19. Jahrhunderts haben viel gemeinsam: die sozialdarwinistische Auffassung, die positive Beurteilung der Eugenik, die Begeisterung für die koloniale Expansion,

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servativen Avantgardismus“ zu distanzieren90, rückte er nämlich durch Aussagen wie die folgende in die unmittelbare Nähe der Neuen Rechten: „Jetzt entscheidet der Flüchtling über den Ausnahmezustand. Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben. […] Zahllose Flüchtlinge nehmen die Schwachstelle des postmodernen und schein-postnationalen Staates genau wahr. Die postmodernisierte Gesellschaft träumt sich in einen Zustand ‚jenseits von Grenzschutz‘. Sie existiert in einem surrealen Modus von Grenzvergessenheit. Sie genießt ihr Dasein in einer Kultur der dünnwandigen Container. Wo früher starkwändige Grenzen waren, sind schmale Membranen entstanden. Die werden jetzt massiv überlaufen.“91

Anstatt sich gegen den Aufstieg des europäischen Rechtsextremismus klar zu positionieren, behauptet Sloterdijk mit der Neuen Rechten, dass „der Flüchtling“ zum eigentlichen Souverän in Deutschland geworden wäre, da er „über den Ausnahmezustand“ entscheiden würde. Von hier an bis zum Aufruf zum Einsatz „thymotischer“ Tugenden für das Abendland ist es nicht mehr weit. Schluss In diesem historischen Durchgang habe ich versucht, die Kontinuität und die Brüche in der strategischen Verwendung des Thymos-Motivs aufzuzeichnen, von Leo Strauss bis zur AfD. Was sofort ins Auge springt, sind die unterschiedlichen Diskursebenen und historisch-politischen Kontexte, in denen der Begriff verwendet wird. Meine Darstellung begann mit der

die Verurteilung der subversiven Intellektuellen als Krankheitserreger. Andererseits zeigt sich zwischen der radikal-aristokratischen und der populistisch-reaktionären Tendenz ein deutlicher Gegensatz. Während die erste weiterhin innerhalb eines jeden Landes eine unüberwindliche Barriere zwischen Elite und ‚barbarischen Sklavenstand‘ errichtet, versucht die zweite, die Volksklassen in subalterner Position in eine nationale Gemeinschaft zu integrieren, die vor allem in Abgrenzung zu den ‚Barbaren‘ außerhalb des Landes definiert wird.“ (Domenico Losurdo, Nietzsche. Der aristokratische Rebell. Band. 2, Berlin: Argument/InkriT, 2009, S. 764) 90 Peter Sloterdijk: „Europa hat es nicht nötig, populär zu werden“, Handelsblatt, 14.7.2016, https://www.handelsblatt.com/politik/international/peter-sloterdijk-ueb er-die-eu-und-populismus-europa-hat-es-nicht-noetig-populaer-zu-werden/138797 94.html. 91 Peter Sloterdijk: „‚Das kann nicht gut gehen‘. Peter Sloterdijk über Angela Merkel, die Flüchtlinge und das Regiment der Furcht“, Cicero, 2/2016, S. 21.

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Thymos und heroische Männlichkeit, von Leo Strauss bis zur AfD

philosophisch anspruchsvollen Moderne-Diagnose von Leo Strauss, die sich – ohne direkten politischen Bezug – im Medium der „reinen“ Philosophie in Form von Kommentaren zu kanonischen Autoren entfaltete. Sie endete mit dem essayistischen Schrifttum von Intellektuellen und Politikern, die sich unmittelbar in die Politik ihrer Zeit einmischen (Mansfield, Sloterdijk, Jongen). Wir haben gesehen: Das philosophische Narrativ von Leo Strauss, von „Platon“ zu „Nietzsche“ über „Hobbes“, wurde von den meisten Autoren übernommen, auch wenn der mehrdeutige Thymos-Begriff dabei immer unterschiedlich interpretiert wurde, je nach ideologischer Akzentsetzung. Bei dem jungen Leo Strauss wird das Narrativ in der Auseinandersetzung mit dem Antiliberalismus von Carl Schmitt entwickelt. Der deutsch-jüdische Philosoph ist sich mit der Zivilisationskritik des Staatsrechtlers einig, versucht aber zu zeigen, dass dessen Position keine wirkliche Alternative zum Liberalismus darstellt, das sie sich auf Hobbes’ politische Theorie gründen würde. Gerade Hobbes hätte die aristokratisch-kriegerischen Tugenden aus der Philosophie verbannt und somit die bürgerliche Moral auf theoretischer Ebene legitimiert. Der junge Strauss versteht in den 1930er Jahren diese Hobbessche „Umwertung der Werte“ als eine Art „Revolte der Sklaven“ in der Philosophie, die er rückgängig machen möchte. Gleichzeitig sieht er in dem Schmittschen „Nihilismus“ eine zwar verständliche, aber unkontrollierte Reaktion gegen die Moderne. Seine Rückkehr zu Platon hat die Funktion, diese Opposition zwischen Liberalismus und Faschismus aufzuheben. Die aristokratisch-kriegerischen Tugenden, die bei Strauss unzweideutig männlich kodiert sind, spielen also bei ihm eine ambivalente Rolle: sie werden zwar gegen die liberale Moderne aufgewertet, sind aber gleichzeitig einer elitären Vernunft untergeordnet. Nach der amerikanischen „Kulturrevolution“ der 1960er und 1970er Jahre diagnostizieren die neokonservativen Straussians die Selbstzerstörungstendenzen des amerikanischen Liberalismus, bzw. seine „kulturellen Widersprüche“ (Daniel Bell). Die „Thymotisierung“ des Liberalismus wird in diesem Zusammenhang als ein Gegengewicht zur Entertainmentund Konsumgesellschaft verstanden. Mit Allan Bloom, Harvey Mansfield aber auch Francis Fukuyama wird der Thymos zum politischen und männlichen Affekt schlechthin und avanciert – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – zum „Organ“ des Schutzes von Besitz, Familie, moralischen Werten und Vaterland. Er fungiert als ein Affekt, der in der Tradition des Liberalismus von Hobbes über Locke bis zu den Föderalisten in Verges249

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senheit geraten sei und dem wieder Aufmerksamkeit zukommen solle, um den Liberalismus sowohl gegen seine „alten“ und „neuen“ Feinde (den Kommunismus, die 1960er-Generation, den Feminismus, den politischen Islam, usw.), als auch gegen sich selbst effektiv verteidigen zu können. Indem Sloterdijk die bei Strauss und den Straussians immer stark anklingenden nietzscheanischen Resonanzen deutlich aktiviert und in den Dienst einer neoliberalen Ideologie stellt, ohne dabei die neokonservativen Konnotationen ganz beiseite zu schieben, hat er auf der Begriffsebene zwischen Neoliberalismus und Neokonservatismus eine Synthese hergestellt. Der Begriff der Isothymia, der bei Fukuyama zentral war und das normative Versprechen nach „gleicher Freiheit“ (Etienne Balibar) – wie verzerrt auch immer – noch enthielt, verschwindet bei Sloterdijk. In der populistisch-reaktionären Deutung von Marc Jongen, die von seinem Lehrer möglich gemacht wurde, wird die Ambivalenz des Thymos-Begriffs völlig beseitigt. Vor allem das rebellische Element wird hier gefeiert, als ob Jongen den deutschen „Wutbürger“ mit dem Schmittschen „Partisanen“ verwechseln würde.92 Zum Abschluss möchte ich vier Thesen zur strategischen Funktion des Thymos-Motivs im liberalismuskritischen Diskurs des 20. und 21. Jahrhunderts aufstellen, die als Ergebnisse dieser Untersuchung festgehalten werden können. 1. These zum Naturalisierungseffekt des Thymos-Motivs: Der Rekurs auf den Thymos-Begriff ermöglicht es, bestimmte, durch gesellschaftliche Konstruktionen vermittelte Affekte, moralische Dispositionen und Identitäten in ein anthropologisches Fundament einzubetten. Dieser Naturalisierungsdiskurs erlaubt, eine Art von Schicksalseffekt zu erzeugen. Gegen jedes fortschrittliche oder gar utopische politische Projekt kann auf die Vorstellung von der Grenze und Beschränktheit der menschlichen Natur verwiesen werden. Die Logik ist dabei immer dieselbe: Wer diese als „natürlich“ verstandenen Grenzen zu überschreiten oder zu verdrängen versucht – etwa im Namen der Idee einer klassenlosen Gesellschaft oder der Aufhebung traditioneller Geschlechterrollen –, muss mit einer barbarischen Rückkehr des Verdrängten rechnen: Tamen usque recurret.93

92 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin: Duncker und Humblot, 1963. 93 Es handelt sich um ein bei Strauss und den Straussians sehr beliebtes Horaz-Zitat: „Naturam expellas furca, tamen usque recurret“ („auch wenn du die Natur gewalt-

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2. These zur Delegitimierung der Rebellion „von unten“: Thymotische Affekte sind, wie wir es von Anfang an mit Platon gesehen haben, ambivalent: gleichzeitig ordnungsstabilisierend und ordnungsstürzend. Zorn, Rebellion, Tapferkeit werden zwar bei allen hier vorgestellten Autoren positiv bewertet, aber immer nur insofern als sie sich in die bestehende politische Ordnung integrieren, d.h. insofern als sie sich „von oben“, also – wenn man im platonischen Schema bleibt – von der „Vernunft“ her mobilisieren lassen. Der plebejische Zorn „von unten“, der zum Beispiel die materielle Gleichheit fordert, wird dabei als „materialistisch“, „utilitaristisch“, „erotisch“, „vulgär“ oder „bürgerlich“ delegitimiert. Rebellion wird in diese verschiedenen liberalismuskritischen Ökonomien der Affekte zwar aufgenommen; zugleich wird ihr der potentiell kritische Stachel jedoch wieder gezogen. 3. These zur ideologischen Funktion der „Gegenideengeschichte“: Wir haben gleichzeitig feststellen können, dass fast alle hier behandelten Autoren sich als subversive und kämpferische Denker inszenieren, die – der Leser mag sich die Augen reiben – den „Besiegten“ der Geschichte (Helden, Aristokraten, Patrioten, Leistungsträger oder „manly men“) eine Stimme verleihen wollen: Ihre politischen Gegenideengeschichten des Thymos sollen nämlich eine von der liberalen Moderne „unterdrückte“ Dimension des menschlichen Lebens in Erinnerung rufen. Das von Strauss elaborierte und von den Straussians weiterentwickelte Narrativ erlaubt außerdem, den eigenen ideologischen Kampf in eine viel breitere Geschichte einzubetten und sich auf eine lange Gegentradition zu stützen. 4. These zum Neutralisierungseffekt eines diskursiven „Re-imports“: Die Zirkulation des Thymos-Begriffs zu verfolgen – von Deutschland aus in die USA und zurück –, ist heute insofern von Bedeutung, als dies es ermöglicht, die politische Strategie der Neuen Rechten zu verstehen. Für rechte öffentliche Intellektuelle wie Marc Jongen ist es strategisch klüger, sich auf Sloterdijk, Fukuyama oder Strauss zu berufen als sich als Anhänger von Carl Schmitt oder anderer konservativ-revolutionärer Theoretiker zu outen. Bei Jongen und Sloterdijk wird die amerikanische Genese des Begriffs in den Vordergrund gestellt, um das eigene politische Projekt in eine liberal-konservative oder neokonservative Tradition einzubetten. Der Weimarer Entstehungskontext – also die Auseinandersetzung zwischen sam austreibst, kehrt sie doch zurück“). Siehe zum Beispiel Leo Strauss, Natural Right and History. Chicago: The University of Chicago Press, 1971, S. 202 oder F. Fukuyama, The End of History, S. 314f.

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Strauss und Schmitt – wird dagegen ausgeblendet, um die Kontinuität der Neuen Rechten mit ihren konservativ-revolutionären Vorfahren zu verschleiern.

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Machiavelli im Dienst der Gegenwart. Hans Freyers Machiavelli-Auslegung von 1938 Christian E. Roques

Im Hinblick auf die nationalsozialistische Vereinnahmung Friedrich Nietzsches, gegen die sich Fritz Stern in seiner klassischen Studie über den „Kulturpessimismus als Gefahr“ wehrt1, schreibt Michael Stolleis, dass eine solche Verteidigung zwar philosophisch vertretbar, aber für den Historiker nicht unbedingt maßgebend sei: „[Es] gab auch eine vulgäre, selektive und im Bürgertum sehr verbreitete Nietzsche-Rezeption, die sich auch mit dem ‚heroischen Nihilismus‘ der Konservativen Revolution amalgamieren ließ. Für die geschichtliche Wirksamkeit kommt es auf die Rezeption nicht auf die Intention des Autors an.“2 In anderen Worten bedeutet dies, dass Ideengeschichte, wenn man diesen Begriff in einem archäologischen, kulturhistorischen Sinne versteht und nicht sofort Meineckes idealistische Auffassung darauf projiziert, zuerst eine Rezeptionsgeschichte ist: eine Untersuchung der Art und Weisen, wie bestimmte Ideen, Konzepte und Autoren in verschiedenen und wechselnden historischen Kontexten gelesen, verstanden und kommuniziert werden. Mehr als für die ursprüngliche „Intention“ eines Autors bei der Entwicklung einer bestimmten Idee oder bei der Verfassung seines Textes interessiert sich der Historiker, so Stolleis, für die sich historisch folgenden „Kommunikationsgemeinschaften“ innerhalb derer allein „stabile Konventionen des Verständnisses“ möglich sind.3 Diese Idee legt den Rahmen fest, in dem es Sinn macht, von Ideengeschichte zu reden, muss aber in zwei Richtungen präzisiert werden. Einerseits kann, selbst wenn man nicht mehr mit Meinecke (oder Leo Strauss)

1 Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland [1963]. Stuttgart: Klett-Cotta, 2005. 2 Michael Stolleis: „Das Unverstehbare verstehen: Der Holocaust und die Rechtsgeschichte“, Politisches Denken. Jahrbuch, 2011, S. 143-156, hier 155. Hervorhebung von uns. 3 Michael Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt. Zur Entbehrlichkeit von „Begriff“ und „Tatsache“. Baden-Baden: Nomos, 1997, S. 12.

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an die Wirkung ewiger, unwandelbarer Ideen in der Geschichte glaubt, doch festgestellt werden, dass bestimmte Ideen, Paradigmen, Autoren oder Texte den historischen Moment ihrer Entstehung überleben und über lange Zeiten hinweg weiter Resonanz finden. Je nach neuer „Kommunikationsgemeinschaft“ finden sie mehr oder weniger Echo, bewirken mehr oder weniger Reaktionen, bleiben aber ein Objekt der Rezeption und können in bestimmten Momenten Konjunktur haben. Genau diese Idee vertrat Kurt Sontheimer, als er z. B. den Begriff „Gemeinschaft“ als eines der „magischen Worte“ der Weimarer Republik bezeichnete.4 In dieser Perspektive kann gezeigt werden, dass Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Art von „machiavellian moment“ erlebt hat, der sich in einem verstärkten Interesses für das Werk des großen Florentiners, in zahlreichen Neuauflagen seiner Schriften, in Monographien und in Artikeln niederschlug. In der hier vertretenen, historisierenden Logik ist dieses verstärkte Echo vor allem durch den historischen Kontext zu erklären und nicht (so sehr) durch die intrinsischen Qualitäten des machiavellischen Diskurses. Verlagert man andererseits das Interesse von der Interpretation eines ursprünglichen, „wahren“ Korpus auf die Rezeption, d.h. auf die Auslegung, Besetzung oder Vereinnahmung eines Denkers oder eines Paradigmas in einem gegebenen historischen Kontext, so wird ersichtlich, dass hier Machteffekte zum Tragen kommen. Wollte man Carl Schmitts politischtheoretisches Prinzip auf die Rezeption erweitern, könnte man behaupten, dass „jede historische Rezeption […] eine polemische Rezeption [ist]“.5 In diesem Sinn hält Michael Stolleis fest, dass die Auseinandersetzungen um die Verwendung von Wörtern und Konzepten immer „suchen bestimmte Standpunkte durchzusetzen, indem sie die Schlüsselworte okkupieren […]; denn die Besetzung eines Wortfeldes ist ein Stück Machtausübung“.6 Im Falle eines „Klassikers“ des politischen Denkens hat eine Vereinnahmung durch Interpretation, falls diese von der (akademischen) Öffentlich4 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933 [1968]. München: DTV, 1983, S. 251. 5 Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre. Tübingen: Mohr, 1930, S. 5: „Jeder politische Begriff ist ein polemischer Begriff. Er hat einen politischen Feind im Auge und wird in seinem geistigen Rang, seiner intellektuellen Kraft und seiner geschichtlichen Bedeutung durch seinen Feind bestimmt.“ 6 M. Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt, S. 26.

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keit akzeptiert wird, sofort legitimierende Effekte für den Interpretierenden, da ein „Klassiker“ sich eben dadurch auszeichnet, dass er als etablierte Machtposition anerkannt wird. Im Folgenden soll eine solche „Besetzung“ anhand der MachiavelliAuslegung Hans Freyers in den Jahren 1936-1938 untersucht werden. In einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive soll gezeigt werden, dass eine möglichst werkimmanente Lektüre von Freyers Machiavelli-Texte eine Intention offenbart, die im Widerspruch mit dem Großteil der Freyer-Literatur steht, die aber von den Zeitgenossen eindeutig verstanden wurde.7 Hans Freyer war einer der bekanntesten Soziologen der späten Weimarer Republik.8 Er war 1925 auf die erste exklusive Soziologieprofessur in Leipzig berufen worden (wenn auch als Kompromisslösung) und war dann, 1933, zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ernannt worden. Parallel zu seiner wissenschaftlich-theoretischen Arbeit hatte sich Freyer als einer der führenden Köpfe der konservativen Revolution profiliert9 und galt als der Jugendbewegung nahestehend.10 7 In einem Artikel über „Enttäuschung und Zweideutigkeit. Zur Geschichte rechter Sozialwissenschaftler im Dritten Reich“ (Geschichte und Gesellschaft, 12,3/1986, S. 289-316), der sich auf den Fall Freyer konzentriert, macht sich Jerry Z. Muller explizit über eine werkimmanente Art zu lesen lustig und unternimmt es, mit Verweis auf Leo Strauss’ „art of writing“ zu erklären, dass in totalitären Gesellschaften, eine esoterische Kunst des Lesens entfaltet werden muss. Dass Muller im Anschluss daran auf die Cambridge-School verweist, jene „anglo-amerikanischen Historiker“, die gezeigt haben „wie wichtig es ist, den ursprünglichen polemischen Kontext wiederherzustellen, wenn man die Bedeutung von Ausdrücken und Argumenten verstehen will, die von politischen Theoretikern der Vergangenheit benutzt wurden“ (S. 310), entbehrt nicht einer gewissen Ironie, entwickelt doch Quentin Skinner seine methodologischen Ansichten auch als explizite Absage an Strauss’ Esoterik (cf. Quentin Skinner, „Meaning and Understanding in the History of Ideas“, History and Theory, 8,1/1969, S. 3-53, siehe S. 20-22). Vor allem aber bleibt Muller einen überzeugenden Beweis für seine These schuldig (siehe weiter unten, Fußnote 54). 8 Vgl. Jerry Z. Muller, The Other God that Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism. Princeton: Princeton University Press, 1987; Iring Fetscher, „Hans Freyer: Von der Soziologie als Kulturwissenschaft zum Angebot an den Faschismus“, in: Karl Corino (Hrsg.), Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg: Hoffmann & Campe, 1980. Siehe auch Dirk Käsler, Soziologische Abenteuer. Earle Edward Eubanks besucht europäischen Soziologen im Sommer 1934. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1985. 9 Hans Freyer, Revolution von Rechts. Jena: Diederichs, 1931. 10 Vgl. Stefan Breuer, „Hans Freyer“ in: Barbara Stambolis (Hrsg.), Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert

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Wie Ralf Walkenhaus dies sehr diplomatisch formuliert, „[wird] Freyers Rolle im NS-Wissenschaftssystem […] sehr unterschiedlich bewertet“.11 Schwer zu bestreiten ist die Tatsache, dass Freyer als „Steigbügelhalter des Systems“ fungiert hat12 und somit vergleicht Walkenhaus zu Recht Freyers Situation mit der Carl Schmitts (er beschreibt ihn sogar als „de[n] Carl Schmitt der deutschen Soziologie“): die offene Unterstützung des Regimes durch Freyer – sowie die von ihm betriebene (oder zumindest mitgetragene) Gleichschaltungsarbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziologie13 – hatten die gleichen systemstabilisierenden und systemlegitimierenden Effekte wie Carl Schmitts Konversion zum Nationalsozialismus. Und wie Schmitt sieht sich Freyer nach und nach durch die junge Garde der nationalsozialistisch engagierten Wissenschaftler überholt und an den Rand gedrängt. In diesem Kontext einer voranschreitenden Marginalisierung (die mit der Annahme einer Gastprofessur Ende 1938 in Budapest offenbar wird) veröffentlicht Freyer zwischen 1936 und 1938 seine verschiedenen Schriften zu Machiavelli: 1936 einen Artikel über Fichtes Machiavelli-Schrift14, 1938 einen Artikel über „Machiavelli und die Lehre vom Handeln“15 sowie sein Machiavelli-Buch.16 Der Tenor der Sekundärliteratur zu Freyer interpretiert nun die Machiavelli-Texte als Ausdruck einer leisen aber entschiedenen Ablehnung des Hitlerregimes. So beschreibt Elfriede Üner den Fichte-Artikel als „Auseinandersetzung mit der damaligen politischen Wirklichkeit“ in dem Freyer

Jungk und vielen anderen, Göttingen: V&R unipress, 2013, S. 261-272; Christian E. Roques: „Gestern, morgen, nur nicht heute. Hans Freyers strategischer Umgang mit der ‚politischen Romantik‘ in der Weimarer Republik“, Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, 18/2017, S. 109-135. 11 Ralf Walkenhaus, „Die geistig-moralische Krise als Epochensignatur des Dritten Reiches. Die Machiavelli-Studien von Hans Freyer (1938) und René König (1940)“, in: Cornel Zwierlein / Annette Meyer / Sven Martin Speek (Hrsg.), Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit (= Historische Zeitschrift, Beiheifte, n° 51), München: Oldenbourg, 2010, S. 257-280, hier S. 261. 12 Walter Giere, Das politische Denken Hans Freyers in den Jahren der Zwischenkriegszeit (1918-1939), Diss. Freiburg i. Br., 1967, S. 200-204. 13 Carsten Klingemann, Soziologie im Dritten Reich. Baden-Baden: Nomos, 1996, S. 16-32.

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„den Schritt vom Ethischen zum Politischen Idealismus“ vollziehe, „und zwar zu einer Zeit, in der die philosophische Beschäftigung mit dem Idealismus nur abseits der Staatsideologie geschehen konnte und politisch verfemt war“.17 Die postulierte „Brisanz des Thema Idealismus“18 wäre somit direkter Ausdruck einer regime-kritischen Einstellung. Daher liest Üner das Machiavelli-Buch als Produkt des „geistigen Exils“, in das sich Freyer nach 1935 und dem „sogenannten ‚Röhm-Putsch‘“ begeben hatte: „Machiavellis Leben und Denken war für Hans Freyer ein Lehrstück zur Bewältigung seiner eigenen Situation.“19 In Henning Ottmanns allgemeiner Einführung in die Geschichte des politischen Denkens, kommt diese Exil- und Distanzthese als „Nebelwand“ wieder, „hinter der [Freyer] eine regimekritische Lehre zu verbergen such[t]“.20 Für ein Handbuch zur Geschichte der politischen Ideen scheint

14 Hans Freyer, „Über Fichtes Machiavelli-Aufsatz“, Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, 88/1936, übernommen in: Hans Freyer, Preußentum und Aufklärung und andere Studien zu Ethik und Politik, hrsg. v. Elfriede Üner, Weinheim: Acta humanoria/VCH, 1986, S. 131-150. 15 Hans Freyer: „Machiavelli und die Lehre vom Handeln“, Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie, 4,2/1938, übernommen in: H. Freyer, Preußentum und Aufklärung, S. 153-179. 16 Hans Freyer, Machiavelli [1938], hrsg. v. Elfriede Üner, Weinheim: Acta humanoria/VCH, 1986. 17 Elfriede Üner, „Über Hans Freyers Staatslehre und politische Ethik“, in: H. Freyer, Preußentum und Aufklärung, S. 183-212, hier S. 129. Das Interesse für den Idealismus (und speziell für Fichte) als Akt des Dissenses darzustellen, lässt sich angesichts der zeitgenössischen Arbeiten von regimefreundlichen Autoren wie Bruno Bauch und Arnold Gehlen zum gleichen Autor kaum aufrechterhalten. Vgl. Marion Heinz / Rainer Schäfer, „Die Fichte-Rezeption im Nationalsozialismus am Beispiel Bauchs und Gehlens“, in: Jürgen Stolzenberg / Olive-Pierre Rudolph (Hrsg.), Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert, Amsterdam/New York: Rodopi, 2010, S. 243-266, hier S. 246. 18 Elfriede Üner, „Normbilder des Standhaltens“, in: H. Freyer, Machiavelli, S. 107-138, hier S. 124. 19 E. Üner, „Normbilder“, S. 108. 20 Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit. Band 3: Neuzeit. Teilband 1: Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen. Stuttgart: J.B. Metzler, 2006, S. 52. Daher wird Freyers Text von Ottmann im gleichen Zug wie René Königs Buch erwähnt – obwohl auf der nächsten Seite doch explizit festgehalten wird, dass König sein Buch „als eine Art Anti-Freyer verstand“ (S. 53).

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Ottmanns Lektüre doch unhistorisch, wenn er durchscheinen lässt, dass sich Freyers Kritik am Hitlerregime an der Frage der Dauer artikuliert („Es war etwas anderes, ob man eine Ordnung gründete oder ob man einer Ordnung Dauer zu verleihen hatte“21). Dies ist insofern problematisch, als Freyers Analyse kritisch sein könnte, wenn er bereits 1938 den Zusammenbruch vorausgesehen hätte. Dafür fehlen aber die Anhaltspunkte. Es dürfte dann wahrscheinlicher erscheinen, dass Freyer den NS-Staat 1938 eben als dauerhaften Staat erlebt. Die Kritik erscheint dann, im Kontext, als Lob.22 Die Distanz-These wird auch 2010 noch von Ralf Walkenhaus vertreten: „Freyer greift zum politischen Gleichnis und eröffnet über die historische Figur Machiavelli gleichsam die ganze Interpretationstiefe historisierender Texte, um mit subtilen Mitteln Ausdruck der passiven Distanzierung vom ‚System‘ des Nationalsozialismus zu geben.“23 Die Gleichstellung von Exil und Distanz ist in Bezug auf Freyer problematisch: wenn er tatsächlich „wissenschaftspolitisch ‚kaltgestellt‘“ ist24, so ist es vorschnell daraus auf eine „innere Distanzierung zum Nationalsozialismus“25 zu schließen. Gerade Machiavelli ist für Freyer das Paradebeispiel verzweifelter Bemühung wieder in die Gunst der Herrschenden zu kommen. Des Weiteren liest Walkenhaus Freyers Machiavelli zusammen mit René Königs Buch26 als „Krisenanalysen“, die beide „eine Kritik am Dritten Reich als System“ ausdrücken.27 Doch durch diese problematische Gleichstellung zwischen dem nationalsozialistisch engagierten Freyer und dem bedrohten, ins Exil gezwungenen König28, lässt sich, einerseits, nicht schlüssig erklären, warum König sein Buch explizit als Widerlegung von Freyers Auffassungen verfasst, und andererseits wird die eigentliche In-

21 22 23 24 25 26

Ebd., S. 53. Wir kommen weiter unten im zweiten Teil darauf zurück. R. Walkenhaus, „Die geistig-moralische Krise“, S. 261. Ebd., S. 264. Ebd., S. 263. René König, Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende [1940]. München: Hanser, 1979. 27 R. Walkenhaus, „Die geistig-moralische Krise“, S. 260. 28 Walkenhaus (ebd., S. 269), geht sogar so weit, René Königs Situation mit der Carl Schmitts zu vergleichen, da beide in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps angegriffen wurden. Angesichts der sehr unterschiedlichen Einstellung und (im Falle Schmitts) Unterwerfung unter das NS-Regime, hat solch ein Vergleich schon fast etwas Verhöhnendes.

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tention Freyers im Kontext des Jahres 1938 verfehlt. Eine eingehendere Untersuchung der Argumentationslinie der „Regimekritik“ zeigt, dass sie auf einer oft eigenwilligen Zitatauswahl29 und einer manchmal problematischen, wenn nicht sogar offensichtlich apologetischen Argumentation beruht.30 Ziel dieses Artikels ist es den eigentlichen Inhalt von Freyers Machiavelli-Auslegung im Kontext der Jahre 1938-1940 neu aufzurollen. Es soll hier gezeigt werden, dass Freyers Machiavelli-Interpretation als historisch verkleidete Stellungnahme zum zeitgenössischen Geschehen gelesen werden darf, aber nicht als Kritik, sondern erstens, als ideenhistorische Legitimierung der nationalsozialistischen Machtergreifung und, zweitens, als Verteidigung der deutschen Großraumpolitik (unter Verzicht rassistischer oder völkischer Argumente). Einführend soll aber noch gezeigt werden, wie Freyers spezifische Analyse von Machiavellis Exilsituation den Bezug auf die Gegenwart nahelegt. Und den Abschluss bildet ein Überblick über die zeitgenössischen Rezensionen zu Freyers Texten. 1. Politische Theorie als Rückkehr aus dem Exil Ausgangspunkt von Freyers Argumentation in seiner Studie zu Machiavelli ist tatsächlich eine Überlegung zum Exilstatus des Florentiners in dem Moment, in dem er es unternimmt den Principe zu verfassen. Nachdem er, anhand des bekannten Briefes an Vettori vom 10. Dezember 1513, Machiavellis Leben in San Casciano beschrieben hat, erklärt Freyer, dass Machiavellis Leben von hier aus, „von der Mitte aus erzählt werden [muß]“31: Durch die ihm aufgezwungene Distanz und freie Zeit habe Machiavelli die Möglichkeit gehabt, seine Schriften zu verfassen. Dies sei

29 Wir werden weiter unten an den gegebenen Stellen darauf eingehen. 30 Sehr problematisch ist zum Beispiel das Vorgehen, dass darin besteht im Sammelband Preußentum und Aufklärung, der die gesamten Machiavelli- und Fichte-Texte sammelt, die Chronologie dahin zu verändern, dass die durchaus macht- und regimekritische aber unveröffentlichte Studie von 1944 über den Antimachiavell von Friedrich II. an die erste Stelle zu rücken, gefolgt von den anderen Texten in chronologischer Reihenfolge. Solch ein Spiel mit der Chronologie führt zu historischen Verfälschungseffekten – was das „Nachwort“, das Hermann Hellers und Hans Freyers Opposition gegen das Hitlerregime gleichsetzt, nur noch verstärkt (E. Üner, „Über Hans Freyers Staatslehre“, S. 200). 31 H. Freyer, Machiavelli, S. 1.

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übrigens die klassische Auffassung in der Sekundärliteratur zu Machiavelli. Diese sehe im Exil ein „Glück“, weil er so über seine historisch zweitrangige Situation als florentinischer Staatssekretär hinauswachsen könne: „[W]as äußerlich wie das Zerbrechen seiner Existenz aussieht, ist der Beginn des wahren, des weltgeschichtlichen Machiavelli.“32 Freyer verschiebt aber die Fragestellung, indem er darauf hinweist, dass Machiavellis Klagen über sein Exil nicht einfach ignoriert werden dürfen, denn „ein kluger Mann muß schließlich wissen, was er will und was ihm bekommt“.33 Der ständige Drang Machiavellis wieder ins aktive Leben zurückzukehren sei nicht nur Nostalgie und Opportunismus, sondern liege im Wesen der politischen Wissenschaft: „Wer diesen Begriff denken will, muß der politischen Welt angehören, und ihr angehören, heißt ihr mit Leib und Seele angehören, heißt nicht von ihr loswollen und nicht von ihr loskönnen. Rein theoretisch und vom Schreibtisch aus über Politik nachdenken, ist selbst dann ein Unternehmen von fragwürdigem Wert, wenn die politische Wissenschaft bereits in einer eigenen Tradition befestigt ist. Hier, wo es gilt, sie neu zu schaffen und gleichsam den Absprung zu ihr zu finden, ist die nächste Nähe zur Praxis nicht nur günstiger Umstand, sondern notwendige Bedingung. Der theoretische Begriff des Politischen kann nur Zug um Zug aus der existenziellen Erfahrung geschöpft werden.“34

Der Theoretiker der Politik kann also keinesfalls im politischen Abseits stehen und die politische Aktivität sozusagen von außen betrachten, sondern muss mit beiden Beinen in der Theorie und in der Praxis stehen. Richtige Theorie der Politik ist somit nur durch engste Teilnahme an der politischen Aktivität wirklich möglich. Wenn nun postuliert werden darf, dass Freyer hier mit Machiavelli auch sich selbst als politischen Theoretiker beschreibt, so bezieht er auch die Situation der politischen Theorie zu Machiavellis Zeiten, wo sie „neu zu schaffen und den Absprung zu ihr zu finden sei“, auf seine eigene Situation: als politischer Theoretiker in einer revolutionären Zeit konservativer Erneuerung.35 Der zitierte Passus zeigt, dass Freyer die Rückkehr in die Gunst des Herrschenden und somit die Rückkehr zur aktiven Beteiligung an der Macht als „notwendige Bedingung“ der theoretischen Arbeit darstellt. Exil und Distanz zur Macht entsprechen im Endeffekt einem Abster32 33 34 35

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Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9f. Ein Projekt an dem er von Revolution von Rechts (Jena: Diederichs, 1931) über Pallas Athene (Jena: Diederichs, 1935) bis hin zu seinem Machiavelli arbeitet.

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ben und rechtfertigen alle Bemühungen sich dem Machthaber wieder zu verdingen. Die „aktuelle“ Dimension von Freyers Auslegung wird von ihm übrigens als Erwartungshorizont aller „politischen Wissenschaft“36 thematisiert. Sie kommt aber auch durch den benutzten Wortschatz zum Ausdruck: So wenn Freyer das NS-Schlagwort der „völkischen Erneuerung“37 übernimmt oder den Staat als „konkrete Ordnung“ des „Lebensraumes“38 definiert. Ein ebenso zeitgenössisches Echo finden alle Ausdrücke, die das Adjektiv „total“ verwenden: „totaler Begriff der Verfassung“, „totale Mobilmachung“, „totaler Krieg“.39 2. Die Räuberbande legitimieren: virtù erzwingen? Hans Freyer unterscheidet nun vier verschiedene Schichten in Machiavellis politischer Theorie: eine erste Schicht der reinen, amoralischen „Technik des politischen Handels“, jene Regeln, die in einer gegebenen Situation die Mittel vorschreibt, die zum Erfolg führen; die Einführung des Konzeptes der „virtù“ offenbare aber eine zweite Dimension in Machiavellis Werk, die einer „Metaphysik und […] Geschichte der politischen Substanz“, die in einer dritten Schicht verdichtet wird zu einer „Lehre von der Struktur des politischen Kraftfeldes überhaupt“.40 Dieser Lehre wird aber in einem vierten und letzten Teil eine, fast ausschließlich auf dem Principe abgestützte, „Ethik der geschichtlichen Stunde“ hinzugefügt. In diesem letzten Teil rollt Freyer die Frage der virtù und ihrer Verteilung unter den Völkern erneut auf, aber konzentriert sich dieses Mal auf das Problem der politischen Tat in einer virtù-losen Zeit, das für ihn zentrale Thema des Principe am Übergang zwischen den 6. und dem 7. Kapitel41:

36 H. Freyer, Machiavelli, S. 74: „Denn die politische Wissenschaft hat ihr Zentrum nie dort, wo zeitabgelöste, generelle Wahrheiten gewonnen werden, sondern dort wo der substantielle Wille der Gegenwart in ihr Denken eingeht.“ 37 Ebd., S. 90. 38 Ebd., S. 64. 39 Ebd., S. 67, 68f., 69. 40 Ebd., S. 60. 41 Freyer (ebd., S. 75) verwirft in diesem Punkt die werkgenetischen Betrachtungen Meineckes und beruft sich auf die Arbeit von Marianne Weickert, die bei ihm promoviert hat, und die in ihrer Dissertation zu zeigen versucht habe, dass die Her-

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„An dieser Stelle geht das eigentliche Problem des Principe auf, hier liegt der Schlüssel zu seiner Deutung. Neue Fürstentümer werden entweder durch virtù oder durch fortuna erworben […] Es zeigt sich sehr bald, dass der virtù-Fall, wenn er auch unbedingt der höherwertige ist, hier in den Hintergrund gedrängt und rasch abgewickelt wird, während der fortuna-Fall in den Mittelpunkt rückt und zum Thema des ganzen Buches wird. Warum? Weil er der gegenwartsträchtige ist. […] Weil in der Not der Stunde nicht auf einen mythischen Staatsgründer gewartet werden kann.“42

In einer Rezeptionsperspektive ist es hier nebensächlich zu wissen, ob Freyers Interpretation auch wirklich der ursprünglichen Intention Machiavellis entspricht. Wichtig ist, dass Freyer den Principe in seinem Herzen als Traktat über die Machtergreifung und den Machterhalt eines Fürsten aus fortuna interpretiert. Die (vor allem in den Discorsi) dargestellte Metaphysik der virtù und die damit verbundene Fähigkeit zur Staatsgründung sei „das Größte“, das „Urphänomen der Politik“, aber „wenn man genau hinhört, klingt hier bereits ein leiser Unterton von Ironie mit, derart etwa: diese Männer sind die reinen Wunder, nur schade, dass es schon so lange her ist“.43 Der theoretische viel problematischere „Gegenfall“ rückt daher in den Fokus der Untersuchung: „Wenn wir sagen, Fürstenherrschaft könne außer durch virtù auch durch Glück erworben werden, so kehren wir das vorige Bild genau in sich um: wir setzen den aktiven Pol auf die Seite der Umwelt und der Gelegenheit. Wir nehmen an, das ewig wechselnde Auf und Ab der Lagen, das tolle Spiel des Zufalls, kurz fortuna, hätte über Nacht einen beliebigen Menschen, vielleicht einen Nichtsnutz, vielleicht einen Rowdy in die Höhe gespült und auf den Thron gesetzt. Warum sollte das nicht sein? Warum kommt ausgerechnet diese krumme Zahl mit dem großen Los heraus? Warum sollte also nicht einmal dieses krumme Individuum mit dem großen Los ‚Fürst‘ herauskommen? Heutzutage, wo das Glücksrad das Symbol des Lebens geworden ist und Fortuna der ungläubigen Menschheit als die Göttin schlechthin gilt, ist alles möglich, warum also nicht das.44

ausarbeitung der Figur Cesare Borgias im 7. Kapitel den Übergang markiert vom ursprünglichen Traktat über Fürstentümer (De principatibus) zum abschließenden Traktat über den Fürst (Il principe). 42 Ebd., S. 77. 43 Ebd. 44 Ralf Walkenhaus zitiert diesen ersten Abschnitt (mit den Begriffen „Nichtsnutz“ und „Rowdy“) als Beleg für Freyers „verklausulierte“ Kritik am nationalsozialistischen System (R. Walkenhaus, „Die geistig-moralische Krise“, S. 264). Es scheint aber, dass die nächsten zwei Abschnitte, die den „noch nicht interessanten“ Fall

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Insoweit ist der Fall noch nicht interessant. Das Glücksrad geht immer weiter. So ist tausend gegen eins zu wetten, daß der Mann ebenso schnell wieder herunterkommt, wie er hinaufgekommen ist. Und Fortuna hätte dann eine ihrer Possen gespielt: König für einen Tag. Hier aber setzt nun der Grenzfall ein, der aufregend wichtig ist. Wenn der Mann kein bloßer Glückspilz ist, sondern ein ganzer Kerl mit festen Fäusten und einem guten Kopf, zwar ohne virtù (das ist ja unsere Voraussetzung), doch hochgemut und anspruchsvoll in seinen Zielen […] wäre es dann nicht möglich, daß er den unverdienten Aufstieg nachträglich legitimierte oder jedenfalls das Wiederabrutschen verhinderte? Kann sich einer, der ohne virtù und durch fortuna nach oben gekommen ist, ohne virtù und ohne fortuna, vielmehr sogar gegen sie obenhalten?“45

Diese letzte Frage umschreibt auf genaueste das zentrale Problem, das Freyers Interesse an Machiavellis Principe nährt: die Idee eines Fürsten, der sich trotz fehlender virtù auf legitime Weise an der Macht etablieren und einen richtigen Staat gründen kann. Das Element der Dauer (als die Überwindung des Auf und Ab der fortuna) wird zum eigentlichen Kriterium dieser Legitimität. Im Zentrum dieser Problematik steht das von Machiavelli mehrmals benutzte Beispiel Cesare Borgias, aber Freyer behauptet, dass man in dieser Benutzung drei grundsätzliche verschiedene Stufen zu unterscheiden hat. Eingeführt werde Cesare Borgia als „Idealbild“ eines skrupellosen Technikers, „das Bild des Menschen, der, durch keine moralischen oder sonstigen Hemmungen belastet, einwandfrei richtig handelt und deswegen Erfolg hat“.46 Diese rein technische Dimension werde aber später ein erstes Mal „erhöht“47 zum Beispiel des „neuen Fürsten durch Glück“.48 In Machiavellis Metaphysik der virtù sei ein solcher Herrscher der eigentlich „moderne Mensch“49, in dem Sinne als er der historisch spezifischen Situation entspricht, die durch die „qualità dei tempi“ gegeben ist. Die virtù-lose Figur des Technikers wird somit zum Staatsgründer erhoben und somit über seinen ersten Status hinausgehoben:

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um die „aufregend wichtigen“ Frage einer möglichen (und behaupteten) Legitimierung des Rowdys erweitern, diese „kritische“ Dimension untergraben und mit der Fokussierung auf die Legitimierung einen ganz anderen Akzent setzen. H. Freyer, Machiavelli, S. 78. Wir unterstreichen. Ebd., S. 79f. Ebd., S. 80. Ebd. Ebd., S. 82. Bei Freyer in Anführungszeichen.

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„Der Staat als Ordnungsgebilde ist für Machiavelli ein Wert ersten Ranges. In ihm wird der Mensch erst zum moralischen Wesen, erst zum Menschen. Diesen Wert setzt Machiavelli hier als schweres Gewicht ein. Cesare Borgia legte einen einwandfreien Ordnungsstaat hin und bewies dadurch, daß er, wenn schon bloß durch Glück, doch nicht zu Unrecht auf den Thron gekommen war.“50

Diese erste Form von politischer Legitimität ohne virtù („durch Glück, doch nicht zu Unrecht“) ist aber nur eine Vorstufe zum eigentlichen Ziel. In dem Moment, in dem die Frage der Dauer des neu errichteten Staates zentral wird, erfährt die Cesare-Borgia-Figur in einem dritten Schritt ihre ultimative „Erhöhung“ zum „Principe“: „Il Principe ist neuer Fürst durch fortuna. Er steht also vor der Aufgabe, eine Zufallsmacht zur dauernden zu machen, einem Konjukturstaat nachträglich Fundamente zu geben. Auf einen neuen Romulus zu warten, wäre kindlich. Die Gegenwart braucht einen modernen Menschen, der sich an dieses Konstruktionsproblem herantraut. Und er steht zweitens vor der Aufgabe, in einer völlig verrotteten Welt, die ohne Treu und Glauben ist, Ordnung, Zucht und sogar geschichtliche Stoßkraft zu erwecken.“51

„Dauer“ und „geschichtliche Stoßkraft“ wurden vorher als typische Charakteristika von virtù dargestellt. Was Freyer hier in Machiavellis Denken liest, ist also die bereits oben erwogene Möglichkeit „fortuna zu bezwingen“ und durch politisches Handeln „virtù zu erwecken“.52 Dies wiederspricht im Prinzip der machiavellischen Metaphysik der virtù: „Virtù aber läßt sich nicht zwingen, sie kommt, sie geht, ist da oder nicht.“53 Und dies führt Freyer dazu seine eigene Auslegung scheinbar wieder in Frage zu stellen: „Ob man mit Mitteln einer Schreckensherrschaft ein politisches Volk formieren kann, läßt sich mit Fug und Recht bezweifeln.“54 Freyer spricht daher von einem solchen Szenario als einem „Verwandlungswunder“. Doch dieser Eindruck des Zweifels wird sofort wieder mit der Bemerkung aufgehoben, dass „hier nun an den viel reiche-

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Ebd., S. 114. Ebd., S. 84. Ebd., S. 88. Ebd. Dieser Satz wird von E. Üner („Normbilder“, S. 125) und Jerry Z. Muller („Enttäuschung und Zweideutigkeit“, S. 312) als Ausdruck eines Zweifels/einer Kritik Freyers am Dritten Reich interpretiert. Auch hier wiederspricht Freyers Argumentation in den darauf folgenden Zeilen einer solchen Interpretation.

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ren Gehalt der Machiavellischen Fürstenbildes“55 zu denken sei und dass man virtù vor allem an ihren Manifestationen in der Welt („Freiheitsliebe, politische Entschlußkraft, Wille zu großen Zielen im Volk“56) messen kann. Sind sie offensichtlich feststellbar – selbst wenn der Staatsgründer ein Rowdy war – darf man daher auf ihre Anwesenheit schließen. Die Frage ist also die, ob ein „Nichtsnutz“, ein „Rowdy“, „ein sittlich verworfene[r], gangsterhafte[r] politische[r] Abenteurer“57 sich zu einem Staatsmann oder -gründer transzendieren kann. Und diese Frage wird von Freyer eindeutig bejaht, da ein Volk zwar eine Dekadenz erleben, „im Mark aber gesund“ bleiben kann: „Es gibt, anders gesagt, eine zweite, vermittelte virtù; eine virtù nach der Verderbnis. Es gibt neben der elementaren virtù junger Völker die virtù ordinata reifer Völker, neben der virtù aus Natur die virtù aus Zucht. Es gibt im Leben der Völker Verjüngung, Erneuerung, Wiedergeburt. Man kann diese virtù natürlich durch keine Staatstechnik hervorbringen, aber man kann durch große, harte, geschichtliche Arbeit den Raum so bereiten, daß sie sich regt, wo sie noch da ist.“58

Dieses Bild einer verschütteten virtù, die verdeckt weiter existiert und durch den „Principe“ wieder freigesetzt wird, gipfelt am Ende der Überlegungen zur „Ethik der geschichtlichen Stunde“ in einer Bilanz, deren zeitgenössische Dimension durch die ersten Worte für jeden Leser eindeutig hervorgehoben wird: „Von einer solchen völkischen Erneuerung aus kann dann sogar der Zwingherr, der sie mit äußeren Mitteln in Gang setzte, über seine eigene Natur hinausgehoben werden. Kräfte, die aus dem Volk aufsteigen, können ihn beinahe zum echten Gründer eines neuen Staates machen. Cesare-Borgia-Naturen, die selbst durch und durch anrüchig sind, scheiden dann freilich aus. An ihnen ist nur die technische Seite der Gestalt Il principe abgelesen worden. […] Aber das Schlußstück des politischen Systems Machiavellis ist gewonnen, das Gegenbild zum mythischen Staatsgründer: die Gestalt des modernen Staatsmannes, der unter der Bedingung der Gegenwart ein politisches Volk formiert.“59

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H. Freyer, Machiavelli, S. 89. Ebd. Ebd., S. 63. Ebd., S. 90. Ebd. Henning Ottmann (Geschichte des politischen Denkens, S. 53) zitiert die Formulierung über die „Cesare-Borgia-Naturen“ als Beleg für Freyers NS-Kritik. Aber auch hier scheint ein solches verkürztes Zitat an Freyers eigentlicher Argumentationsspitze vorbeizugehen.

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Hier tritt noch einmal klar hervor, dass das strukturierende Element von Freyers Machiavelli-Interpretation die Problematik der Machtübernahme durch eine Figur ist, deren Legitimität zur Ausübung der Macht als bestenfalls problematisch erscheint und deren Erreichung der politischen Führung nicht durch politische Tugenden sondern durch die Anwendung einer politischen Technik erreicht wurde. Genau dies wird hier mit den „CesareBorgia-Naturen“ beschrieben. Aber was der aufmerksame Leser mittlerweile weiß, ist, dass der eigentlich interessante Fall für Freyer nicht der Cesare Borgias ist, sondern jener, in dem sich der anrüchige „Nichtsnutz“ zum Principe „erhöht“. Der Moment, in dem der reine Techniker der Macht zum „modernen Staatsmann“ wird, d.h. ein politischer Führer, der der „qualità dei tempi“ entsprechend zu Handeln und sich auf Dauer an der Macht zu erhalten weiß. Bemerkenswert ist, dass die „fortuna“, die den neuen Principe an die Macht hebt, hier umformuliert wird in „Kräfte, die aus dem Volk aufsteigen“, was 1938, von den Lesern mit hoher Wahrscheinlichkeit als Anspielung auf den Nationalsozialismus verstanden wurde. 3. Der tugendhafte Drang zum Reich Den zweiten Argumentationsstrang seiner Machiavelli-Auslegung formuliert Freyer bereits ab 1936 mit dem Rückgriff auf Fichte. Von vornherein sollte festgehalten werden, dass in Freyers Perspektive die Verbindung von Fichte und Machiavelli keine kritische Funktion erfüllt, sondern darauf abzielt, die Auseinandersetzung mit Machiavelli in eine starke deutsche Tradition zu stellen, ihn sozusagen als „deutsche[n] Denker zu legitimieren. Freyer behauptet diese Idee 1938 wörtlich, wenn er über die idealistische Rezeption Machiavellis schreibt, dass dieser „hier in ein Denken von sehr andersartiger und spezifisch deutscher Intention aufgenommen wird“.60 Eine solche „Germanisierung“ Machiavellis strukturiert die Rezeptionsgeschichte des Fichte-Textes in Deutschland: durch Meinecke in Weltbürgertum und Nationalstaat „wiederentdeckt“ und mit den Reden an die deutsche Nation in Zusammenhang gebracht, wird der Text 1917 unter dem Titel „Inwiefern Machiavellis Politik auch noch auf

60 H. Freyer, „Machiavelli und die Lehre vom Handeln“, S. 158.

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unsere Zeiten Anwendung habe“ wieder abgedruckt.61 Ein Jahr später gibt ihn Hans Schulz (mit einem Brief von Clausewitz62 an Fichte) erneut heraus63 und 1919 publiziert Albert Elkan eine Untersuchung über „Die Entdeckung Machiavellis in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts“, in der er sich für „jene deutschen Gelehrten [interessiert], die um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts […] sich das Feld der Politik eröffneten“, „getrieben von den ausbrechenden patriotischen Sorgen und Leidenschaften“: „Ihnen ist Machiavell Geburtshelfer gewesen, nicht der einzige, aber wohl einer der wichtigsten.“64 Die Auseinandersetzung Fichtes mit Machiavelli ist somit 1936 eine klar etablierte nationalpatriotische Tradition auf die Freyer zurückgreifen kann. Somit übernimmt er die Idee, der eigentliche Sinn des Textes sei ein Aufruf zur nationalistischen Mobilisierung und erstellt (wie Meinecke) einen engen Zusammenhang zwischen dem Machiavelli-Text Fichtes und den Reden an die deutsche Nation: Ist der erste Text eine „Anrede an den König“, so wendet Fichte sich ein Jahr später an das Volk. Für Freyer sind beide Texte Ausdruck einer Schlüsselentwicklung in Fichtes Denken, zu der er nur dank Machiavelli vorgestoßen sei: In den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters habe Fichte bereits den „imperialistischen Machtkampf der Staaten“ erkannt, aber letztere seien für ihn noch keine „geschichtlichen Subjekte von metaphysischem Rang“ gewesen, sondern nur „die wechselnden Träger des Fortschritts der Gattung“.65 Mit der Rezeption Machiavellis sehe Fichte nun die zentrale Rolle der Nationalstaaten, was seine Geschichtsphilosophie grundlegend verändert habe: „Wenn die Nationen als Hüterinnen ewiger Werte, als Gefäße göttlicher Ideen erkannt sind, so fällt auf die nationalen Staaten die volle Verantwortung für das Göttliche auf Erden. Das Absolute erscheint vielfältig: nicht mehr als die eine Entwicklung des Menschengeschlechts, sondern als Plural der National-

61 Johann G. Fichte, Inwiefern Machiavellis Politik auch noch auf unsere Zeiten Anwendung habe [1813], hrsg. v. Josef Hofmiller, Leipzig: Philipp Reclam jun, 1917. 62 Die Kontinuität von Machiavelli zu Clausewitz findet sich auch bei Freyer wieder, wenn dieser behauptet: „dass [die Kriegskunst] ein Teil der Politik und deren Fortsetzung mit andren Mitteln ist, hat Machiavelli sehr genau gewußt“ (H. Freyer, Machiavelli, S. 54). 63 Johann G. Fichte, Machiavell. Nebst einem Briefe Carls von Clausewitz an Fichte [1813], hrsg. v. Hans Schulz, Leipzig: Meiner, 1918. 64 Albert Elkan: „Die Entdeckung Machiavellis in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts“, Historische Zeitschrift, 119,3/1919, S. 427-458, hier S. 428. 65 H. Freyer, „Machiavelli und die Lehre vom Handeln“, S. 145.

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geister. Und dieses Plural ist unaufhebbar und nicht rationalisierbar. […] Die Weltgeschichte, die für Fichte bisher der Fortschritt einer Menschheit durch die Vernunft zur Freiheit gewesen war, wird zum Forum, vor dem die nationalen Machtstaaten um ihre Geltung ringen. Der Satz, dass jede Nation das ihr eigentümliche Gute soweit verbreiten will, als sie irgend kann, wird aus einem Empeirem zu einem Grundsatz der idealistischen Philosophie. Und der Satz, dass Staaten im Machtkampf miteinander stehen, wird aus einer Aussage über das Wie des geschichtlichen Verlaufs zu einer Aussage über den wesentlichen Inhalt der Geschichte.“66

Unter dem Einfluss des Florentiners gehe Fichte von einer Auffassung des Staates als reiner „Rechtsordnung“ zu einer Auffassung „als Geschehen, als Tat“ über: „Er begreift, dass die sittlichen Entschlüsse, auf die es in der Geschichte der Freiheit ankommt, nicht allgemeine moralische Ansprüche, sondern politische Entschlüsse sind. Er setzt in die Lücke seiner Geschichtsphilosophie die konkreten Staaten, vielmehr ihre verantwortlichen Regierungen ein. Dadurch kommen natürlich die Sachgesetze des politischen Handelns in die Ethik hinein, und das ist der Sinn der Rezeption Machiavellis. Der ethische Idealismus Fichtes wird im prägnanten Sinn des Wortes zum politischen Idealismus.“67

Mehr als Üners Hypothese, die hier in der „Dialektik von sittlichen Entschlüssen und politischen Entscheidungen im politischen Zusammenbruch“ die Weigerung des „Sich-Einfügen in die nationalsozialistische Diktatur“ sieht68, scheint sich hier mit der Beschreibung des Überganges vom ethischen zum politischen Idealismus die Idee eines Appels zur politischen Mobilisierung zu bestätigen, aus dem Freyer auch eine eindeutige Konsequenz ableitet: „Jetzt erst werden die Forderungen der Politik, gerade in ihrem Unterschied zu den Geboten der privaten Moral, zu strengen Pflichten. Im Verhältnis zu anderen Staaten ‚gibt es weder Gesetz noch Recht, außer dem Recht des Stärkeren, und dieses Verhältnis legt die göttlichen Majestätsrechte des Schicksals und der Weltregierung auf die Verantwortung des Fürsten […]‘.“69

Die Auseinandersetzung mit Fichte findet also ihre eigentliche Spitze in diesem doppelten Schluss: Auf zwischenstaatlicher, d.h. internationaler, Ebene gibt es nur das „Recht des Stärkeren“ und dem Fürst (Führer) fällt im staatlichen Leben eine absolut zentrale Rolle zu.

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Ebd., S. 146. Ebd., S. 149. E. Üner, „Über Hans Freyers Staatslehre“, S. 129. H. Freyer, „Machiavelli und die Lehre vom Handeln“, S. 150.

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Genau diese beiden Argumentationslinien nimmt Freyer 1938 sowohl in seinem Machiavelli-Buch wie in seinem Artikel über Machiavellis „Lehre vom Handeln“ wieder auf, da die Schlussfolgerungen des ersten Textes hier geradezu als Ausgangpunkt genommen werden, aber mit dem Unterschied, dass eine klare Trennung zwischen innerer Organisation des Staates und äußerer, zwischenstaatlicher Konkurrenz eingeführt wird: „Fichte sieht sehr deutlich, dass der Satz von der Bösartigkeit aller Menschen und vom Kriege aller gegen alle die grundlegende Voraussetzung der ‚Berechnungen‘ Machiavellis bildet. Im Inneren der Staaten, insbesondere im Verhältnis des Regenten zu seinen Bürgern gelte diese Voraussetzung heute nicht mehr, und insofern sei dieser ganze Teil der Lehren Machiavellis für unser Zeitalter erledigt. Keineswegs aber erledigt sei der zweite Teil, das Verhältnis zu anderen Staaten betreffend. […] Auf das Wort des andern, auf Treu und Glauben, auf völkerrechtliche Verträge sich zu verlassen, ist grundsätzlich falsch, solange man keine Garantie erzwingen, d.h. sich selbst als den Stärkeren erhalten hat. Denn zwischen den Staaten findet ‚kein gewisses und ausgemachtes Recht‘ statt […]. Wer diese Wahrheiten nicht anerkennt, ist entweder ein Wirrkopf oder ein Drückeberger.“70

Für Freyer ist Machiavellis „Lehre des Handelns“ auf den zwischenstaatlichen Verkehr und nicht auf die innere Organisation der Staaten zu beziehen. Die Brücke zwischen Machiavelli und dem Idealismus sei die Idee, dass „die Staaten wesentlich in der Geschichte und im Machtkampf mit ihresgleichen Stehen“71, und dass eine Wissenschaft der Politik somit nicht jene des Staatsgefüges sondern der Handlungsmöglichkeiten des Staates auf internationaler Ebene zu sein habe. Machiavellis eigentümlicher Gedanke sei, „dass das ganze Gefüge des Staates, insbesondere alle Verfassungsfragen im weitesten Sinne des Worts, unter dem Gesichtspunkt der außenpolitischen Handlungsfähigkeit gestellt werden. […] Die Verfassung wird von ihm ausgesprochen nicht als Binnenstruktur des politischen Körpers aufgefasst“.72

Die beste Organisation des Staates ist somit nicht ein Problem der Gewaltenteilung, sondern die Antwort auf die Frage, ob „in allen Lagen die Aktionsfähigkeit, die Schlagkraft des Staates gesichert sei“.73 Der Horizont des Staates wird somit die kriegerische Auseinandersetzung.

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Ebd., S. 157. Ebd., S. 160. Ebd., S. 177. Hervorhebung im Text. Ebd., S. 178.

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Dies führt bei Freyer zu zwei komplementären Argumentationssträngen: Einerseits wird der Imperialismus zum „natürlichen“ Trend eines jeden Staates und andererseits führt dies zu einem Lob auf die Kampffähigkeit des Staates und des Volkes. Den imperialistischen Gedanken will Freyer explizit bei Machiavelli verankert sehen, insbesondere in dessen Theorie der virtù. Und es ist von Bedeutung, dass das Kapitel, das dieser Lehre gewidmet ist („Metaphysik der politischen Substanz“) in der Rechtfertigung des Imperialismus gipfelt. Freyer entfaltet dort seine eigentliche Analyse: „Die größte und eigenste Leistung der virtù ist, daß sie nicht nur den unmittelbaren Lebensraum des Volkes ordnet, sondern erobernd über ihn hinausgreift und ein Reich schafft.“74 Die Tendenz zur Eroberung neuer Gebiete wird hier als auf Machiavelli abgestützt legitimiert und mündet in einer vom Wortschatz her frappierenden Definition der „beiden großen Funktionen des Staates: konkrete Ordnung zu sein – und Träger eines imperialistischen Willens zu werden“. Letzterer wird aber sofort als die grundlegendere Funktion hervorgehoben: „Wo im menschlichen Raum Energie so überhöht ist, dass sie gar nicht anders kann als sich imperialistisch entladen, dort ist der Begriff der virtù voll erfüllt; metaphysisch gesprochen: dort hat sich die ganze Menge der politischen Substanz, die es auf Erden überhaupt gibt, an einem Punkt zusammengezogen.“75

Imperialismus wird hier nicht nur als fundamentale Tendenz des Staates, sondern als eigentlicher Beweis gehandelt, dass ein gegebener Staat auch virtù hat. Mehr noch: Nur ein aggressiv expansionistischer Staat kann wirklich Träger von virtù sein. Daher meint Freyer im letzten Abschnitt behaupten zu können, dass Machiavellis „Herz denjenigen Staaten gehört, die erobernd ausgreifen und ein Weltreich um sich zusammenfügen“.76 Am Ende des zweiten Kapitels wird somit auch ersichtlich welche Form der „konkreten“ inneren Ordnung ein solcher Staat voraussetzt: die permanente Kriegsbereitschaft. „Im Zustand des Kampfes ist der Staat am meistens Staat. Der Krieg ist seine hochzeitliche Stunde. Daß das Volk hierzu bereitgestellt ist, ist also die Probe auf die virtù des Staates; und wie es bereitgestellt ist, ist das wesentliche Stück der politischen Verfassung. […] Nach der Katastrophe von Cannae

74 H. Freyer, Machiavelli, S. 64. 75 Ebd., S. 65. 76 Ebd.

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dachten die Römer nicht an Friedensangebote, Austausch der Gefangenen und dergleichen, sondern nur an Krieg […]. Dieser [römische] Staat war auf die totale Mobilmachung hin gebaut. Das ist virtù im organisierten Zustand, virtù in Form einer Dauerstruktur des politischen Körpers.“77

Interessant ist hier die Argumentation, die darauf hinausläuft aus der „Probe auf die virtù des Staates“ eine Probe auf die „Virtùhaftigkeit“ des Volkes zu machen. Die Wehr- und Opferbereitschaft wird im Artikel von 1938 als Grundlage von Machiavellis idealen, „totalen“ Begriff der Verfassung dargestellt: „Zur ‚Verfassung‘ eines Staates gehört alles, was ihn […] für seine geschichtlichen Aufgaben in Form bringen und in Form halten hilft – also auch der Geist des Volkes, das Maß seiner Bereitschaft sich für den Staat ins Zeug zu legen, in erster Linie das Maß seiner Bereitschaft für den kriegerischen Einsatz.“78

Und somit gipfelt der Text in einem Aufruf zur militärischen Mobilisierung des Volkes: „Auf die utopistische Frage nach der idealen Verfassung […] würde er die höchst unutopistische, aber vom Standpunkt einer Lehre vom politischen Handeln tief richtige Antwort gegeben haben: die ideale Verfassung ist das Volk in Waffen.“79

Wir haben also mit Hans Freyer einen akademisch nicht unbedeutenden Autor, der 1938 in seiner Machiavelli-Auslegung drei Elemente verbindet: die Rechtfertigung der Machtübernahme im Staat durch eine „rowdyhafte“ Persönlichkeit, die fast verbrecherhafte Züge trägt, die aber durch den Erfolg ihrer Staatserrichtung in der Dauer gerechtfertigt wird; die Behauptung, dass auf zwischenstaatlicher Ebene keine Rechtsverhältnisse gültig sind und somit allein das Gesetz des Stärkeren maßgebend ist, was im Endeffekt auf eine Rechtfertigung einer sehr aggressiven Außenpolitik hinausläuft; die Idee, dass ein Volk seine geschichtlichen Aufgaben in erster Linie durch seine Fähigkeit und Bereitschaft zur militärischen Mobilisierung beweist. Eine solche politische Stellungnahme ist im Sommer 1938 nicht wertneutral und kann schwerlich als subtile Kritik des NS-Regimes interpretiert werden. Somit scheint mir die Ansicht vertretbar, dass man Hans

77 Ebd., S. 68. 78 H. Freyer, „Machiavelli und die Lehre vom Handeln“, S. 179. 79 Ebd.

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Freyer weniger mit René König als mit Carl Schmitt vergleichen sollte: In beiden Fällen haben wir intellektuelle Persönlichkeiten, die Anfang der dreißiger Jahre am Rande des nationalsozialistischen Spektrums stehen und deren Unterstützung vom Regime begrüßt wird, die aber in der zweiten Hälfte der 30er Jahre abgedrängt werden und die im Moment ihrer Marginalisierung noch einmal versuchen, die Gunst der Obrigkeit zu erhalten, indem sie die expansive Außenpolitik theoretisch rechtfertigen: politikwissenschaftlich und theoretisch für Freyer mit seinem Machiavelli, völkerrechtlich für Schmitt mit seinen Texten zur Großraumordnung. 4. Freyers Machiavelli: 1938 gelesen In rezeptionsgeschichtlicher Perspektive ist im Endeffekt Freyers „Intention“ nur ein Teil des Problems, genauso wichtig ist die Art und Weise wie seine Auslegung von Machiavelli von seinen Zeitgenossen verstanden wird. Denn selbst wenn Freyer eine regimekritische Absicht nachzuweisen wäre, so bliebe jene doch effektlos, wenn sie von seinen Lesern nicht auch als solche verstanden würde… Ein Überblick der nicht sehr zahlreichen Rezensionen zu Freyers Buch zeigen jedoch, dass im Kontext des Jahres 1938, Freyers Textauslegung in seiner doppelten Legitimierung des bestehenden Staates verstanden wird. Ausgangspunkt ist allgemein die von allen gespürte Aktualität Machiavellis. So erklärt ein „Dr. Mallmann“ in einer Rezension für die Zeitschrift Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt im April 1939, dass die Auseinandersetzung mit Machiavelli und seiner Lehre „neu entfacht und auf eine Ebene jenseits aller Verfemungen und Ehrenrettungen erhoben [wird], durch die Wendung zur politischen Totalität, die sich heute vollzieht“. Und unter den zeitgenössischen Untersuchungen zu Machiavelli verdiene Hans Freyers „besondere Beachtung“.80 Auf vergleichbare Weise erklärt J. D. Schäfer in einer Rezension für die NSDAP Zeitung Westdeutscher Beobachter (Reichsgau Köln-Aachen), die dann in die Zeitschrift für Politik übernommen wurde, dass es „in einer Zeit, die wie die Unsere den Primat des Politischen verkündet hat, […] nicht wunder [nimmt], dass man sich mehr denn je mit dem Manne beschäftigt, der

80 Dr. Mallmann: „Machiavelli“, Geistige Arbeit der Zeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt, 4,8/1939, S. 7.

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‚das Politische‘ für das moderne europäische Denken entdeckte“. Und schließlich beginnt auch René König seine, unter dem Pseudonym Paul Kern, 1938 in Thomas Manns und Konrad Falkes Exilzeitschrift Maß und Wert veröffentlichte Rezension mit einer Erklärung zu Machiavellis Aktualität, die er in der gegenwärtigen Krise verankert: „So entstehen gerade in Zeiten in denen das Leben des Staates wie in einem unruhigen Fiebertraum ausschließlich in politischer Bewegung sich zu erschöpfen scheint, zahllose Deutungsversuche Machiavellis […].“81 Gleichzeitig sehen die Rezensenten, dass Freyers Machiavelli-Buch im zeitgenössischen Kontext zu lesen ist. So sieht Ankwicz von Kleehoven in der erwähnten Rezension für die Historische Zeitschrift in Freyers Buch eine „Apologie des Großen Florentiners“ und „den nach jeder Richtung hin geglückten Versuch […], sein Werk mit den Augen der Gegenwartsmenschen zu sehen und seine bahnbrechende Leistung für unsere heutige Zeit fruchtbar zu machen“.82 Und auch René König sieht im Zusammenhang mit der Gegenwart die zentrale Absicht Freyers: „Es fällt schwer, sich mit diesem wirklich bedeutenden und in seiner Konsequenz so aufrichtigen Buche auseinanderzusetzen, ohne das Buch selber von Grund aus neu zu schreiben. Es fällt doppelt schwer, weil überdies unterirdisch gleichsam Parallelen und Anklänge an die Gegenwart unserer Tage mitlaufen, die wohl so eindeutig sind, dass eine Auseinandersetzung mit Ihnen sich erübrigt.“83

Festzuhalten ist aber vor allem, dass die Rezensionen die beiden Grundstränge von Freyers Argumentation klar erfassen. In der Sammelrezension, die Herbert Marcuse 1938 in der Zeitschrift für Sozialforschung publiziert, und in der er genaugenommen nicht das Machiavelli-Buch, sondern den Fichte/Machiavelli-Aufsatz von 1936 rezensiert, unterstreicht er ganz eindeutig den „imperialistischen“ Kern von Freyers Auslegung: „Die einzelnen Völker und Staaten erscheinen nun nicht mehr als jeweilige Träger des allgemeinen Fortschritts der ganzen Menschheit; ihre nationale Besonderheit wird zu ihrem Wesen: nur im imperialistischen Machtkampf gegen andere Völker können sie ihre ‚göttliche Berufung‘ durchführen.“84

81 R. König, „Hans Freyer: Machiavelli“, S. 851. Wir unterstreichen. 82 Hans Ankwicz v. Kleehoven: „Machiavelli, Von Hans Freyer“, Historische Zeitschrift, 161,2/1940, S. 359. Wir unterstreichen. 83 R. König, „Hans Freyer: Machiavelli“, S. 851. Wie unterstreichen. 84 Herbert Marcuse: Zeitschrift für Sozialforschung, 7,3/1938, S. 404-406, hier S. 405.

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Und Ankwicz von Kleehoven zitiert als einziges längeres Zitat Freyers letzten Satz über die sich „imperialistisch entladen[de]“ virtù, die damit ihren „Begriff […] voll erfüllt“.85 Und genauso klar wird auch die zweite Spitze von Freyers Argumentation gesehen: die Rechtfertigung der durch fortuna an die Macht gekommenen „Räuberbande“. So beschreibt Werner A. Eicke, in der Neuen Rundschau, die Verwandlung der fortuna in virtù als den Höhepunkt von Freyers Analyse: „Der Held, den die augenblickliche Lage fordert, hat keine virtù, sondern er wird durch die günstige Konstellation der Dinge (fortuna) ans Licht gefördert. Er hat nun nicht mehr nur diese oder jene ‚unmoralischen‘ Handlungsregeln zu befolgen, sondern er muß selbst ‚unmoralische‘ Eigenschaften haben. […] ‚Machiavellismus‘ ist nötig, damit aus einem kranken Volk das gesunde neu entsteht.“86

Und in vergleichbarer Weise hebt Schäfer im Westdeutschen Beobachter Freyers Figur des „neuen Staatsmannes“ hervor: „Es gibt jetzt keine allgemeingütigen Rezepte des politischen Handelns mehr, sondern nur noch den Menschen, der den Sinn und die ‚Ethik der geschichtlichen Stunde‘ begriffen hat, und der sich seiner hohen staatspolitischen Mission voll bewusst ist. Dieser Mensch ist der ‚moderne‘ Staatsmann, der ‚Principe‘, der Italien einigen und befreien soll. Mit welchen Mitteln der jeweilige Täter sein Ziel erreicht, ist […] gleichgültig, bzw. jedem völlig freigestellt.“87

René König seinerseits weist darauf hin, dass Freyers Offenheit für die Idee legitimer Räuberbanden für die Leser von dessen Pallas Athene nicht unerwartet kommt: „Und daß für Freyer der Staat Cesare Borgias, auch ohne Verbrämung durch das ‚Verwandlungswunder‘, vorbildlich ist, beweist er durch seine an anderem Orte gemachten Aussagen über den räuberischen Ursprung aller Politik.“88 Und König weist des Weiteren darauf hin, dass in eben diesem Text von 1935, Freyer bereits grundlegende Elemente eingeführt hatte, die dann in seiner Machiavelli-Analyse eine zentrale Rolle spielen werden: die Verwandlung der Räuber in Staatsgründer,

85 H. Freyer, Machiavelli, S. 65. 86 Werner A. Eicke: „Machiavelli und das politische Ethos“, Die neue Rundschau, 50,6/1939, S. 608-611, hier S. 610. 87 J. D. Schäfer: „Machiavelli und der Machiavellismus“, Zeitschrift für Politik, 29,8/1939, S. 582-585, hier S. 584 [aus dem Westdeutschen Beobachter, 146/1939 übernommen]. 88 R. König, „Hans Freyer: Machiavelli“, S. 851.

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Machiavelli im Dienst der Gegenwart

die Dauer als Kriterium, die Verwandlung von aller Amoralität in politischen Willen.89 Die politische, machtstaatliche und legitimierende Funktion von Freyers Machiavelli-Buch hat kein Rezensent so tiefgründig empfunden und angegriffen wie der ins Exil gezwungene René König. Seine Empörung über die Indienstnahme Machiavellis durch einen Denker, der sich für ihn eindeutig in den Dienst des NS-Regimes gestellt hat, treibt König dazu, im Frühjahr 1941, innerhalb weniger Wochen ein eigenes Machiavelli-Buch aufs Papier zu werfen, das sich zu Großteil als ein „Gegenentwurf“ zu Freyers Text liest.90 Aber Königs Kritik beschränkt sich nicht auf Freyer, sondern erweitert sich auf „ein zutiefst unweises und auch unreifes, ästhetisch-freischwebendes Denken“, das er bei führenden „Überläufern“ zum Nationalsozialismus zu erkennen meint: „Solches ästhetisches Schweben, solch Fin de siècle- und Dekadenz-Immoralismus liegt jedoch einem großen Teil der deutschen Spekulation über den Staat zugrunde (Carl Schmitt), wo er sich paart mit dem schneidigen Rodomontieren blitzender Aperçus der spät erweckten Romantiker (Ernst Jünger).“91 Aber diese persönliche Auseinandersetzung ist am Ende nur zweitrangig. An erster Stelle geht es König 1940 darum, die Interpretation Machiavellis im Sinne der deutschen Groß- und Lebensraumpolitik zu widerlegen. Die tragenden Ideen seines Buches formuliert er bereits 1938: „Es erhebt sich nun die Frage, ob wir wirklich in diesem letzten Kapitel [des Principe] mehr als nur eine rhetorische Schlussfigur zu erblicken haben, wie sie der Renaissance-Humanismus gerne verwendet. Gerade damit aber werden wir fortgetrieben zu einer letzten Frage, welche Funktion im ganzen die rhetorische Phantasie und überhaupt die rhetorische Gestaltung im Denken Machiavellis ausübt. […] Sollte nun dies Formstreben sich nicht auch im Gehalt des Werkes widerspiegeln, so dass wir also sagen dürften, das Schwergewicht des Werkes liege letztlich im Ästhetischen, und damit gerade nicht im Politischen begründet? Es ist die eine Frage, die bei näherer Beleuchtung des Renaissance-Humanismus in erstaunlicher Weise an Relief gewinnen würde […].“

König reagiert also auf Freyers Indienstnahme Machiavellis mit einer Interpretation der radikalen Depolitisierung des Florentiners.

89 Hans Freyer, Pallas Athene. Ethik des politischen Volkes. Jena: Eugen Diederichs, 1935, S. 60. 90 So R. Walkenhaus, „Die geistig-moralische Krise“, S. 268 und E. Üner, „Über Hans Freyers Staatslehre“, S. 125. 91 R. König, „Hans Freyer: Machiavelli“, S. 852.

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Die Aktualität von Freyers Argumentationshorizont und die damit verbundene Dringlichkeit der Widerlegung steht König jedenfalls klar vor Augen, genau darum verfasst er seinen Text in aller Hast und genau darum schließt er seinen Text mit einem hoch symbolischen Verfassungsdatum: „Begonnen am 6. März 1940 Abgeschlossen am 6. Mai 1940 dem 413. Jahrestag des Sacco di Roma.“92

Im Nachwort für die Neuausgabe seines Machiavelli-Buches schreibt König 1979 dazu: „Für mich liefen dabei die beiden Ereignisse des Sacco di Roma und des zu erwartenden Kriegsausgangs in Europa in eins zusammen, was ich auch mit dem Datum unterstreichen wollte, das am Ende des Buches steht. Das war als Drohung gemeint und wurde auch als solches empfunden.“93

Daher wurde diese Antwort auf Freyers Rechtfertigung auch umgehend im nationalsozialistischen Deutschland verboten.

92 R. König, Niccolo Machiavelli, S. 347. 93 René König, „Über die Entstehung dieses Buches“, in: René König, Niccolo Machiavelli, S. 353-358, hier S. 356.

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C’est la faute à Rousseau. Die Rousseau-Rezeption und das deutsch-französische Verhältnis im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Gérard Raulet

„Je suis tombé par terre, C’est la faute à Voltaire, Le nez dans le ruisseau, C’est la faute...“

Mit dem letzten Reim dieses Refrains, den er nicht mehr ausatmen kann, fällt und stirbt der kleine Gassenjunge Gavroche, der emblematische Vertreter der rebellierenden „classes dangereuses“1 des Pariser Juni-Aufstands von 1832 – und nicht der 1848er Revolution, wie man häufig liest; aber das ist hier unwichtig. Es geht mir ja nicht um historische Genauigkeit, sondern um die symbolische Bedeutung des unausgesprochenen Namens Rousseau – um den Reim Gosse / Rousseau. Den Vertretern der französischen Rechten, egal welcher Tendenz, war Rousseau immer schon ein Dorn im Auge. Charles Maurras, der Theoretiker der Action Française, und Jacques Maritain, die Gallionsfigur des Reformkatholizismus, erblickten beide in seinem „Protestantismus“ und in seinem „Germanismus“ eine Gefahr. Es sei ja kein Zufall, wenn Rousseau in Deutschland sehr rasch ein positives Echo gefunden habe (was übrigens auch stimmt). Maurras: „Das am wenigsten zivilisierte Europa konnte es nicht verfehlen, in diesem Naturkind, aus dem die Pariser ihr Idol gemacht haben, sich wiederzuerkennen und sich zu lieben. Auf diese Weise wurde von einem Teil seines Publikums und zwar dem schwerfälligsten (dem deutschen) seine Predigt wortwörtlich genommen: […] was einst als Unwissenheit zu korrigierende Unfertigkeit, reparierbare Schwäche galt, das behauptete jetzt die Überlegenheit

1 Vgl. Louis Chevalier, Classes laborieuses et classes dangereuses. Paris: Plon, 1958.

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seiner barbarischen Frische und Neuheit gegenüber der ausgetrockneten Erschöpfung der gebildeten, kultivierten, ans Ziel gelangten Rasse.“2

Maurras ist kein isoliertes Beispiel. Paul Bourget, Maurice Barrès, Léon Daudet, der Nietzsche-Interpret Pierre Lasserre, u.a.m. versuchten nachzuweisen, der Geist des 18. Jahrhunderts sei „die verderbliche Frucht der […] germanischen, angeblich demokratisch-protestantischen Kulturinvasion mit der die französische Kultur aus ihren bewährten nationalen Bahnen gelockt worden sei“.3 Die Verurteilung Rousseaus richtet sich zugleich gegen Deutschland und gegen die französischen Republikaner. Das werden wir im Folgenden nicht vergessen dürfen. Umgekehrt mag es wundernehmen, dass gerade in Deutschland Rousseaus politisches Denken in konservativen Kreisen eine positive Rezeption erfuhr. Iring Fetscher, der zu den bedeutendsten Rousseau-Forschern auf deutschem Boden zählt, erinnert daran, dass konservative Denker wie Edgar Julius Jung und Carl Schmitt positiv an Rousseaus Begriff der volonté générale anknüpften, um sie „antiliberal und antidemokratisch gegen Institutionen der modernen Demokratie auszuspielen“.4 Gerade im Spiegel der deutsch-französischen Rezeption werden brennende Fragen klar: Während auf französischer Seite Rousseau zum Ahnherrn der „demokratischen Republik“ gemacht wird, kann er auf deutscher Seite für die Erneuerung der „demokratischen“ Grundlage einer Gemeinschaft einstehen, die ggfs., ja im besten Fall durch eine Monarchie verkörpert werden könnte. Man kennt das Denkschema: Es stammt von der politischen Romantik, insbesondere von Novalis in „Die Christenheit oder Europa“. „Echte Demokratie, d.h. die Herrschaft der nur metaphysisch zu begreifenden volonté générale, ist das höchste staatliche Ideal: es kann aus dem organischen Weltbild nicht weggedacht werden. In diesem Sinne ist Demokratie vollendeter Konservativismus. Wenn die Volksherrschaft allerdings als mechanisches Mehrheitssystem aufgefasst wird, dann beginnt eine Auslegung der Demokratie, welcher dieses Werk Kampf bis aufs Messer angesagt hat.“5

2 Zitiert nach Iring Fetscher, „Jean-Jacques Rousseau“, in: Jacques Leenhardt / Robert Picht (Hrsg.), Esprit – Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, München: Piper, 1989, S. 166. 3 Kurt Wais, Das antiphilosophische Weltbild des französischen Sturm und Drang 1760-1789. Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1934, S. 1. 4 I. Fetscher, „Jean-Jacques Rousseau“, S. 161. 5 Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen (1927). Berlin: Verlag Deutscher Rundschau, ²1930, S. 225.

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In diesem Spagat des politischen Denkens ist nur ein Aspekt des „Widerspruchs Rousseau“ erfasst, von dem es noch zahlreiche Variationen gibt. Rousseau ist ein besonders komplizierter Fall, weil er am Schnittpunkt mehrerer ideologisch-politischer Problematiken steht. Es geht erstens um innerfranzösische politische Scheidelinien, die zu entwirren wären, weil sie das republikanische Denken direkt angehen; es stellt sich nicht zuletzt die Frage, inwiefern es eine geheime Verbindung gibt zwischen einem linken und einem rechten Nationalrepublikanismus, wie dies ja dem französischen Republikanismus immer wieder entgegengehalten wird. Eine gewisse Plausibilität erhält dieser Vorwurf, insofern als Rousseau nicht nur von der linken Tradition für sich reklamiert werden kann, sondern weil die direkte Wahl des Präsidenten, wie sie die Verfassung der V. Republik durchgesetzt hat, über linke Gaullisten und Schmitt-Rezipienten wie den Verfassungsrechtler René Capitant in die Verfassung Eingang fand.6 Es geht dabei zweitens und im Hintergrund um die grundlegenden politischen – genauer: verfassungspolitischen Fragen, die ab dem 18. Jahrhundert eine deutliche Scheidelinie in den deutsch-französischen politischen Debatten bilden: ob demokratische Republik, oder republikanische Demokratie. Überdeterminiert wurde die Rousseau-Rezeption drittens durch Identitätsvorstellungen und Kämpfe um Identität, die wir rückblickend als exemplarische Prozesse der imagined communities betrachten müssen, in welche das „Jahrhundert der Nationalitäten“ mündete. Das Rousseau-Bild ist somit auch untrennbar von den Klischees, die schon immer zur Kennzeichnung der Deutschen und der Franzosen gedient haben.7 Zusammen mit diesen völkerpsychologischen Stereotypen spielt für das deutsch-französische Verhältnis – vor allem zwischen 1870 und 1914, und das heißt in der Phase der Etablierung der III. Republik – der Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus eine große Rolle. Die besiegte Nation Frankreich neigt dazu, zwischen der Überlegenheit Deutschlands und der „protestantischen Ethik“ einen Kausalzusammenhang zu sehen. Auf vielen Gebieten orientieren sich die französischen Republikaner, die zum Teil Pro-

6 Vgl. René Capitant, Écrits d’entre-deux-guerres (1928-1940), textes réunis et présentés par Olivier Beaud, Paris: Editions Panthéon-Assas, 2004. 7 Vgl. Frank-Rutger Hausmann: „Auch eine nationale Wissenschaft? Die deutsche Romanistik unter dem Nationalsozialismus. 1.Teil“, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 22/1998, H. 1/2, S. 26.

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testanten waren, am deutschen Beispiel.8 Dass Rousseau Protestant und im calvinistischen Genf aufgewachsen war, ist umgekehrt für die deutsche Rousseau-Rezeption nicht ohne Bedeutung gewesen.9 Ich werde im Folgenden diese Stränge, die das politische und ideengeschichtliche Feld umspannen, zusammenhalten müssen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir dabei nicht rein philologisch bzw. philologisch rein verfahren können, weil wir es mit diskursiven Strategien zu tun haben. Durch einen strategischen Bezug auf bestimmte Autoren versichert sich die politische Ideengeschichte ihrer Identität, wenn sie diese ideale Identität nicht schlicht konstruiert. Auch in der Ideengeschichte gibt es das Phänomen der imagined communities. Merkwürdigerweise sind es immer dieselben Autoren, die dazu dienen: Machiavelli, Hobbes, Spinoza, Rousseau. Natürlich bezieht man sich auch auf Kant, wie man auch ggfs. Hegel mobilisiert, aber ich neige zu der Ansicht, dass diese anderen, ebenso unumgänglichen Klassiker eine andere diskursive Funktion erfüllen und dass sie wenigstens nicht in demselben Maße und auf dieselbe Weise strategische Weichen und strategische Ecksteine im Selbstbehauptungsprozess der politischen Ideengeschichte darstellen. Rousseau gehört umso mehr zu den strategischen Eckpunkten der politischen Ideengeschichten, als er durch seine Person wie durch seine Schriften widersprüchliche Lektüren und Bewertungen erlaubte. „Was ist Rousseau seinen Zeitgenossen nicht alles gewesen“ (ich zitiere wieder Kurt Nowak): „ein Charakterschurke und ein Heiliger, ein geisteskranker Schwärmer und Weltweiser, ein gefährlicher Atheist und ein neuer Christus, ein plumper Campagnard und ein verdorbenes Produkt des französischen Geistes.“10 Die Rezeption hat daran anknüpfen können, um das Rousseaubild in die eine oder andere Richtung zu biegen.

8 Vgl. hierzu Gérard Raulet, Apologie de la citoyenneté. Paris: Editions du Cerf, 1999. 9 Vgl. Kurt Nowak, „Der umstrittene Bürger von Genf. Zur Wirkungsgeschichte Rousseaus im deutschen Protestantismus des 18. Jahrhunderts“, in: Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 132, Heft 4, S. 8f. Troeltsch und Imanuel Hirsch haben u.a. haben Rousseau in Enzyklopädieartikeln über die Geschichte des Protestantismus berücksichtigt. 10 K. Nowak, „Der umstrittene Bürger von Genf“, S. 6. Vgl. in demselben Sinn den Titel des Heftes VI/2 (Sommer 2012) der Zeitschrift für deutsche Ideengeschichte: „Idealist. Kanaille. Rousseau“.

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Das war völlig unberechtigt. Denn Rousseaus Schriften, in erster Linie die beiden „Discours“, folgten sowieso dem üblichen Pro et contra-Modell. Sie waren als Wettbewerbsleistungen konzipiert worden. Dass sie sofort anders verstanden wurden und zu den heftigsten Reaktionen Anlass gaben, auch auf deutscher Seite, wo sie rasch vernommen wurden, ist als das Zeichen eines tiefgreifenden kulturellen Wandels zu deuten. Mit dem traditionellen Spiel des Für und Wider war es eben aus, man forderte eine verbindliche ethische und sogar politische Stellungnahme. Insofern sind Rousseaus Diskurse vielleicht das sprechendste Beispiel des Übergangs zur modernen Episteme. Das rhetorische Verfahren des Paradoxons gerät an seine Grenzen: Der Schmerz über die Verstümmelung und Selbstpreisgabe des Menschen wird beim Wort genommen und bald deutet man auch den Contrat social als „verderblichen Irrthum“, der an der Revolution schuld ist. Das Urteil stammt von Eberhard, der zu den radikalsten Theologen der Aufklärung gehörte – den „Neologen“, die Lessing zu radikal fand –, in seinen „Briefen über Jean-Jacques Rousseaus moralischen und schriftstellerischen Charakter“ (1789). Kennzeichnend ist der Verweis auf den „Charakter“ als Ausrede für die Radikalität. Die Psychologisierung gehört nämlich auch zu den Merkmalen des epistemologischen Umbruchs: Die subjektive Innerlichkeit soll für den Wahrheitsanspruch bürgen. Eine letzte Vorbemerkung sei hier noch erlaubt: Erfreulich wäre es gewesen, einen „linken“ und einen „rechten“ Rousseau, oder zumindest zwischen linken und rechten Rousseau-Lektüren sauber scheiden zu können. Wie eingangs angedeutet ist dies nicht der Fall. Vielmehr steht Rousseau aus den genannten Gründen im Brennpunkt der diskursiven Strategien sowohl in den politischen Diskursen wie auch in den Diskursen der politischen Ideengeschichte. 1. Romantiker oder Rationalist? Ernst Robert Curtius, der seine Klischees gern in den Mund anderer, vornehmlich französischer Kritiker, legt und sie so durch den „Blick von außen“ für bestätigt halten will, schreibt 1930 in Die französische Kultur: „Noch heute ereifern sich in Frankreich manche Kritiker darüber, ob Rousseau, ob die Romantik, ob der Symbolismus gutgeheißen und als

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französisch angesprochen werden dürfe.“11 Rousseau wird im Buch nur an dieser Stelle genannt. Man darf sich wundern, dass im Gegensatz zu so vielen Literaturgeschichten und Frankreich-Büchern der Zwischenkriegszeit Rousseau in Curtius’ zentralem Kapitel „Die Literatur und das geistige Leben“ keine größere Rolle spielt – gehört er doch zu den „Literaten“, wie Thomas Mann sie nennt, d.h. zu den Schriftstellern, die die Literatur und das geistige Leben in den Dienst des politischen Kampfes gestellt haben. Aber gerade diese diskrete Präsenz hängt mit dem Tenor des Kapitels zusammen: Frankreich ist das Land der Klassik, eine französische Romantik ist so gut wie undenkbar. „Wenn die deutsche Literatur nach dem Metaphysischen neigt, so ist die französische eine Psychologenliteratur.“12 Also eine durch und durch rationalistische Literatur. In aller Regel sieht die Rousseau-Rezeption in ihm einen Rationalisten, ja einen Cartesianer. Mit dem Namen Descartes ist zugleich der Stein des Anstoßes genannt. Ernst Cassirer, der, wie noch zu zeigen ist, anderer Meinung war und andere Traditionslinien berücksichtigt – u.a., wie Carl Schmitt, den Einfluss von Malebranche –, musste umso mehr Kraft aufwenden, um diese in Deutschland fest etablierte Interpretation zu bekämpfen, als sie sich auf französische Quellen stützen konnte. So widmete er 1938 dem Essay von Georges Beaulavon „La philosophie de J.-J. Rousseau et l’esprit cartésien“, der in der Descartes-Nummer der Revue de Métaphysique et de Morale 1931 erschienen war, eine lange Besprechung. Aus Rousseaus Äußerung: „Les plus grandes idées de la divinité nous viennent par la raison seule“ [„Zu den höchsten Ideen der Gottheit gelangen wir nur mittels der Vernunft.“] glaubt nämlich Beaulavon schließen zu dürfen, dass „das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikard […] der Ausdruck eines ‚unerbittlichen Rationalismus‘ (d’un rationalisme intransigeant)“ ist.13 Durch den Individualismus des Emile, die Sentimentalität der Nouvelle Héloïse und die Religiosität des Vicaire savoyard solle man sich also nicht blenden und irreführen lassen. Der Kunsthistoriker und Frankreichkenner Otto Grautoff zitiert in seinem Buch Die Maske und das Gesicht Frankreichs (1923), auf welches ich weiter unten noch eingehen will, Bergson: „Der

11 Ernst Robert Curtius, Die französische Kultur (1930). Bern/München: Francke, 1975, S. 96. 12 Ebd. 13 Ernst Cassirer, „Die Philosophie im XVII. und XVIII. Jahrhundert“, in: Philosophie. Chronique annuelle publiée par l’Institut international de collaboration philosophique, Paris: Hermann, 1938, S. 78.

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mächtigste Einfluss, der seit Descartes auf den menschlichen Geist ausgeübt wurde, stammt zweifelsohne von Rousseau.“14 Das Heimtückische dieses Bezugs war für den damaligen gebildeten Leser sofort verständlich: Bergson selbst, den man zunächst für einen authentischen Lebensphilosophen gehalten hatte und der sich schließlich als ein Dualist erwies, zieht eine ununterbrochene Traditionslinie von Descartes zu Rousseau, indem er sie im selben Atemzug erwähnt. Wenn der „Abtrünnige“ Bergson es schon so sieht, dann muss also etwas dran sein: Man glaubt mit Denkern zu tun zu haben, die es mit dem Irrationalen aufnehmen, aber bei näherem Hinsehen sind es doch nur Dualisten und Antithetiker. Über Bergson schreibt Curtius: „Bergson selbst ist nicht oder nicht in erster Linie der dionysische Bejaher des Alllebens, nicht der Empörer gegen die Fesseln des Verstandes, als der er bei uns meist gesehen wird, sondern der vorsichtige Denker, der versucht, auf der Grundlage der Erfahrung und der Naturwissenschaft eine positive Metaphysik zu entwerfen.“15 Fast buchstäblich identisch schreibt der Philosoph Richard Müller-Freienfels in seinem Beitrag zum Handbuch der Frankreichkunde von Paul Hartig und Wilhelm Schellberg: „Aber auch der große Gegner der französischen Aufklärung, J.J. Rousseau, ist bei aller an sich unfranzösischen Verschwommenheit seines Denkens ein ausgesprochener Antithetiker. Der Dualismus, den er überall erblickt, ist der feindliche Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation. Wie er in sich selbst den schmerzlichen Zwiespalt zwischen der Wirklichkeit und seiner gefühlvollen Traumwelt empfand, so sah er in der Welt den Zwiespalt zwischen der verderbten Kultur und der reinen Natur, einen Gegensatz, den er in leidenschaftlicher Rhetorik weit überspitzte.“16

Derjenige, der diese These am entschiedensten vertreten hat, ist Viktor Klemperer: „Der Geist Descartes’ spricht aus dem Contrat social, wie er

14 „La plus puissante des influences qui se soient exercées sur l’esprit humain depuis Descartes est incontestablement Rousseau.“ (Otto Grautoff, Die Maske und das Gesicht Frankreichs. Stuttgart/Gotha: Verlag Friedrich Andreas Perthes, 1923, S. 5) 15 E. R. Curtius, Die französische Kultur, S. 78; zur Bergson-Rezeption s. Gérard Raulet, „Ein fruchtbares Mißverständnis. Zur Geschichte der Bergson-Rezeption in Deutschland“, in: Guillaume Plas / Gérard Raulet (Hrsg.), Konkurrenz der Paradigmata. Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie, Nordhausen: Verlag T. Bautz, 2011, S. 231-278 (= Philosophische Anthropologie – Themen und Positionen, Bd. 4, Erster Teilband). 16 Richard Müller-Freienfels, „Französische Philosophie und Wissenschaft“, in: Paul Hartig / Wilhelm Schellberg, Handbuch der Frankreichkunde, Zweiter Teil, Frankfurt a.M.: Diesterweg, 1930, S. 203.

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aus Corneilles Dramen spricht.“17 Klemperer spricht Rousseau jegliche Verwandtschaft mit der Romantik ab: „Nun weiß ich wohl: Keime der Romantik sind französisches Eigentum, mächtige Anregungen sind von Rousseau ausgegangen, und die jüngsten tiefsinnigen Untersuchungen von Schmitt-Dorotić weisen mit einiger Berechtigung auf Malebranche zurück. Aber die eigentliche Romantik ist doch etwas durchaus und vollkommen Germanisches, ist von Deutschland – in erster Linie durch Frau von Staël – nach Frankreich übertragen und in Frankreich entromantisiert worden. So paradox es klingen mag: ich leugne die französische Romantik als Romantik, französische Romantik bedeutet eine contradictio in adiecto. Denn was ist Romantik? Der dauernde Zustand der Entgrenzung, das schmerzhafte Streben ins Grenzenlose, die Sehnsucht, die keine Erfüllung findet.“18

Dieses Urteil, aus dem so viele Anklänge an Ernst Bertrams NietzscheBuch von 1918 und an dessen Darstellung des „deutschen Werdens“ tönen, hat Klemperer in seinen zahlreichen literarhistorischen Beiträgen zur französischen Literatur nur vielfach variiert. So heißt es 1930 im Abschnitt zur französischen Klassik der Sammlung Idealistische Literaturgeschichte: „Auch Rousseau ist kein Romantiker, nur eine Wurzel der Romantik ist in seinem Werk zu suchen.“19 Zunächst eine gemäßigte Beurteilung, die den Anteil Rousseaus an „der Romantik“ – d.h. der europäischen, dabei aber entweder der echten, deutschen, oder aber der französischen – nicht von vorn herein ausschließt. Etwa 20 Zeilen weiter rutscht aber das Argument stark aus und der Tenor von Klemperers These kommt zum Zuge: Gegenüber der auf Gefühl und Individualität (zugleich wohl aber auch Gemeinschaftsgefühl) beruhenden echten Romantik schlage die nur scheinbare französische Romantik in die unerbittlichste Auslieferung des Individuums an die Staatsordnung aus. „Wer aber Rousseau ganz allgemein als den Romantiker schlechthin auffasst, um seines Gefühlssturmes und seines Individualismus willen, der vergißt, dass auf die neue Héloïse und Emile der Contrat social; d.h. daß auf die Befreiung des Individuums seine Fesselung, seine Auslieferung an die Staatsord-

17 Viktor Klemperer, Idealistische Literaturgeschichte. Grundsätzliche und angewendete Studien. Bielefeld/ Leipzig: Velhagen & Klasing, 1929 (= Neuphilologische Handbibliothek für die westeuropäischen Kulturen und Sprachen, hrsg. von Professor Dr. Max Kuttner, Band 6/7), S. 42. 18 Viktor Klemperer, „Gang und Wesen französischer Literatur“, in: ders., Romanische Sonderart. Geistesgeschichtliche Studien, München: Max Hueber Verlag, 1926, S. 17. 19 Ebd., S. 41.

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nung folgt, und daß das Denken, das fanatisch überkonsequente Denken diese Ordnung diktiert. […] Für den französischen Teil in Rousseaus Wesen und für die französische Entwicklung ist kaum so wichtig, daß in der neuen Héloïse das Individuum herrscht, wie daß im Contrat social das Individuum, nachdem es sich gefunden hat, seine Herrschaft freiwillig an die allgemeine Vernunft, an das staatliche Gemeinwesen wieder abtritt.“20

Klemperer wurde nie müde, dieses Deutungsschema wiederaufzunehmen. Durch Feststellungen, die seiner These anscheinend widersprechen, lässt er sich nicht im mindesten verunsichern: Wenn bei Rousseau das Gefühl ab und zu die Oberhand erhält, solle man sich erinnern, dass in Frankreich die Vernunft leidenschaftliche Formen annehmen kann: „daß die Descartische Vernunft in ihrem ständigen Kampf mit den Gefühlen und Leidenschaften selber zum höchsten Gefühl und zur höchsten Leidenschaft wird. […] Der Deutsche sieht das Denken im Gegensatz zum Fühlen, er nennt es kalt und undichterisch; dem Franzosen gerät das Denken immer wieder durch die Erhitzung des Kampfes in Gefühlsglut und wird selber zum Gefühl.“21

Die Stichhaltigkeit dieses Arguments kann daran gemessen werden, dass es sich umstandslos umkehren lässt: Wo in der französischen Kultur das Gefühl die Beschränkungen zu sprengen scheint, solle man sich wiederum nicht verirren lassen, denn am Ende behauptet sich dann doch wieder der ewige französische Geist. „Gewiß, auch die französische Romantik entgrenzt, im Literarischen sogar sichtbarer als die deutsche, weil sie mit deutlicheren, körperhafteren ästhetischen Hemmungen zu ringen hat. Die französische Romantik bekämpft den klassischen Regelzwang, sie will freiere Bewegung, bunteres Leben, stärkere Betonung individueller Eigenart, sie betont auch den Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand und kämpft für das Gefühl. Aber wir haben gesehen, wie gefühlsheiß, wie fanatisch die französische Vernunft ist – und wir müssen immer wieder erkennen, wie vernünftig, wie kartesianisch klar das französische Gefühl ist. Die französische Romantik zerbricht die klassische Form und schafft sich selber kunstvolle Form, sie individualisiert und arbeitet doch den Menschen an sich heraus – von Corneille bis Hugo ist es nah, von Racine über Marivaux zu Musset nicht sonderlich weit –, sie ist schwärmerisch christlich, und doch schlägt die alte Staatsreligion wieder durch. Und überall ist Grenze, Ziel und Tat, und überall somit bei allem romantischen Äußeren im Innersten Nichtromantik.“22

20 Ebd., S. 41. u. 43. 21 Ebd., S. 44. 22 V. Klemperer, Romanische Sonderart, S. 18.

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„Fanatisch“: diese Bezeichnung darf nicht ohne Weiteres übergangen werden. Denn Klemperer hat das Adjektiv an anderer, exponierter Stelle, nämlich in der Schlusszusammenfassung seiner Einleitung zum Band über die romanischen Literaturen des großen Handbuchs der Literaturwissenschaft von Oskar Walzel wieder aufgenommen: „Rousseau löste die Fesseln des Instinkts, des Gefühls, er befreite den unberechenbaren, den unsozialen Teil des Menschen, das Individuum Mensch. Insofern schuf doch erst er […] die moderne Romantik, und insofern war die Romantik von Anbeginn etwas dem französischen Wesen so Widerstrebendes wie der Protestantismus. Aber im Contrat social tat Rousseau geradezu fanatische Buße für die individualistischen Sünden seiner Nouvelle Héloïse; hier lieferte er das von Montesquieu so leidenschaftlich geschonte Individuum an Händen und Füßen gefesselt dem Staat aus.“23

Für die scheinbaren Widersprüche und die bequeme Umkehrbarkeit seines Modells hat Klemperer eine sehr schöne dialektische Erklärung erfunden, die er zuerst in Romanische Sonderart erörtert und dann in allen seinen Schriften, u.a. in dem von ihm betreuten Band von Walzels Handbuch der Literaturwissenschaft, angewendet hat: den „Dreitakt von Satz, Gegensatz und Zusammenfindung“.24 Diesem Schema zufolge sind in den verschiedenen Epochen des französischen Geisteslebens und der französischen Literaturgeschichte immer dieselben zwei Grundkräfte und die ihnen entsprechenden Ausdrucksformen am Werk: einerseits Gefühl und Ausdruck – die Lyrik –, andererseits Denken und Beobachtung – die Prosa. Immer wieder geraten sie in Konflikt, bald sind jene Satz, diese Gegensatz, bald verhält es sich umgekehrt, aber immer führt deren Konflikt – in zunehmend gesteigerter und beschleunigter Form in der Moderne – zu einer Synthese, bei der das französische Wesen sich wieder behauptet. Die erste moderne Synthese habe zur Zeit Ludwigs XIV. stattgefunden – so dass das Klassische in der französischen Kultur für Synthese und Versöhnung bürge. Im 18. Jahrhundert habe sich diese „Dialektik“ durch das Spiel und Gegenspiel der rationalistischen Aufklärung und des Rokoko, des Rationalismus und des Spiels wiederholt. Bevor die Romantik – genauer die Rousseausche „Präromantik“ die Dämme durchbrach – stellte

23 Viktor Klemperer, „Einleitung“, in: ders. / Helmut Hatzfeld / Fritz Neubert, Die romanischen Literaturen von der Renaissance bis zur Französischen Revolution, Wildpark-Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion m.b.H., 1928, S. 30. 24 Vgl. V. Klemperer, Romanische Sonderart, S. 419f.

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das Rokoko ein Moment des vorläufigen Gleichgewichts dar.25 Im Endeffekt muss aber immer die Rückkehr in die Bahnen der Ordnung den Sieg davontragen. Ist doch die Ordnung das Schlüsselwort des französischen Geistes in seiner klassischen Ausprägung, und es ist Descartes, der als erster den doppelten Gestus der Auflösung und der „Zusammenfindung“ begründet hat: „Die Ordnung ist das Merkmal der klassischen Zeit. Einordnung in das absolute Staatsregiment, in die kirchliche Norm, in die Regeln Boileaus, in die straffste literarische Form. Die Descartesche Vernunft hat diese Welt der Ordnung und der Fesseln aufgebaut – die Descartesche Vernunft, zur vollen Erkenntnis ihrer Selbstherrlichkeit gelangt, hat diese Fesseln zerrissen. Auf das Jahrhundert der Ordnung folgt das Jahrhundert der Auflösung. […] uns aber gebührt es, auch diese Epoche als eine im Tiefsten wiederum Cartesianische, als ein siècle français anzusprechen.“26

Alles in allem müsse man also auf eine ununterbrochene Dominanz des klassischen Geistes in der französischen Literatur schließen, wie Klemperer es 1925 in „Die moderne französische Literatur und die deutsche Schule“ behauptet. Eduard Wechßlers Rousseau-Interpretation macht keine Ausnahme, wiewohl sie sich zunächst dadurch auszeichnet, dass sie den „Widerspruch Rousseau“ voll gelten lässt und die Authentizität von Rousseaus Gefühlsliteratur nicht leugnet. In seinem Frankreichbuch Esprit und Geist nennt er Rousseau häufig vertraulich „Jean-Jacques“.27 Bald führt er ihn als Beispiel für französisches, bald für deutsches „Wesen“ an. Französisch sei Rousseau, wenn er die Erziehung über die Natürlichkeit stelle und sage: „On façonne les plantes par la culture, et les hommes par l’éducation.“28 Gleichzeitig habe Rousseau dem deutschen Pietismus nahe gestanden.29 Mit Rousseau, Chateaubriand und Lamartine sei sogar der „große Rück-

25 V. Klemperer, „Einleitung“, in: Die romanischen Literaturen von der Renaissance bis zur Französischen Revolution, S. 29. 26 Ebd., S. 28. 27 Ich stütze mich im Folgenden auf die Dissertation von Susanne Dalstein-Paff: Eduard Wechßler (1869-1949), Romanist: Im Dienste der deutschen Nation / Eduard Wechssler (1869-1949), Romaniste: Au service de la nation allemande, Phil. Diss. Université Paul-Verlaine – Metz u. Universität Kassel 2006. 28 Eduard Wechßler, Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen. Bielefeld/Leipzig: Velhagen & Klasing, 1927, S. 61. 29 Ebd., S. 63.

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schlag“ gegen den Rationalismus des 17. Jahrhunderts geschehen.30 Allerdings sei Frankreich „die Heimat philosophischer Lehrer und Lehrgebäude, die den Menschen vornehmlich als Leib, und dessen Sinne als dessen wichtigste Werkzeuge auffaßten“.31 Deshalb seien Begriffe wie „sentiment“ und „sensation“, wie Wechßler sogar bei Rousseau festzustellen meint, fast austauschbare Begriffe. Im Anschluss an Karl Hillebrand stellt Wechßler zwei „Haltungen“ der Franzosen fest, nämlich die „rhetorisch-pathetische“, der er in chronologischer Reihenfolge von dem Römer Seneca ausgehend, Corneille, Bossuet, Rousseau, Chateaubriand und Victor Hugo zuschreibt, und die „witzigverspottende“, zu der er, ausgehend von den Griechen, u.a. Lukian, Rabelais, Montaigne, Molière, La Bruyère, Montesquieu, Voltaire, Béranger und Anatole France zählt.32 Die Franzosen seien die Erben der „Römer und späten Griechen“ bzw. der „hellenistischen Zeit“, der „deutsche Geist“ dagegen sei der Erbe des „echten“, „althellenischen“ Griechentums bzw. dem dionysischen Geist „tief innerlich verwandt“.33 Diese imagologischen Projektionen sind umso erstaunlicher, als nach dem Philosophen Hans Leisegang (1890-1951), der insbesondere für seine Arbeiten zur hellenistischen Philosophie und zur Gnosis bekannt wurde und dessen „Denkformen“ Wechßler stark beeinflussten34, dieser Rousseaus Werke sehr eingehend studiert hatte. In seinem Beitrag zur Wechßler-Festschrift von 1929 erzählt Leisegang von „einer Sitzung des von Professor Wechßler geleiteten romanischen Seminars der Universität Berlin“, „in der wir gemeinsam mit seinem Schülerkreise die Denkform Rousseaus aus der Profession de foi du vicaire savoyard herausarbeite-

30 Eduard Wechßler, „Über die Beziehung zwischen Weltanschauung und Kunstschaffen im Hinblick auf Molière und Victor Hugo“, Vortrag gehalten in der allgemeinen Sitzung der 51. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner in Posen am 5. Oktober 1911. Marburg 1911, S. 4. 31 E. Wechßler, Esprit und Geist, S. 274. 32 E. Wechßler, „Französische Geistesart und ihre Formen“, Sp. 1254f. 33 Ebd.; vgl. auch seine Schrift: „Sind die Franzosen die echten Erben althellenischen Geistes?“. 34 Dies wird von Pierre Bertaux bestätigt: „Je vais aussi parcourir les ‚Denkformen‘ de Leisegang avant d’aller voir Wechssler qui en est begeistert, ja begeistert.“ (Pierre Bertaux, Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927-1933. Paris: Publications de l’Institut d’allemand d’Asnières, 2001, S. 326)

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ten“.35 Die Stereotype sind die Kehrseite der vermeintlichen „verstehenden“ Philologie, zu der sich Wechßler wie die Mehrzahl der führenden Geisteswissenschaftler jener Generation bekannte. Im Vorwort zu den „Denkformen“ von 1928 schreibt Leisegang, das Buch sei „ganz dem Verstehen und dem Problem der Möglichkeit des Verstehens fremden Geistes überhaupt gewidmet“. 1996 spricht Michael Nerlich unter der Überschrift „Wechßler, oder Romanistik mit Pickelhaube“ von Wechßler als dem „eindrucksvollste[n] Beispiel“ für die „schizophrene Situation […], in der sich die Romanisten schon immer als Untertanen eines Frankreich- und republikfeindlichen Imperiums und Vertreter eines Faches befanden, das systematisch das moderne Frankreich negierte, gleichzeitig aber junge Menschen zu Französischlehrern ausbilden sollte“36 – das umreißt genau den Komplex von „Einfühlung“ und Vorurteil, der diese Generation von Romanisten charakterisiert. Wechßlers Urteil ist keineswegs isoliert. Als charakteristisch für diese Art der verstehenden Ideengeschichtsschreibung ist folgende Stelle aus Bernhard Groethuysens Philosophie der Französischen Revolution zu zitieren: „Diese beiden Lebensformen nehmen in Rousseaus Vorstellungsvermögen Gestalt an. Entweder zieht sich die Seele in sich selbst zurück und lebt ihr eigenes Leben in der Natur, oder sie geht auf im Leben eines Volkes, gibt sich völlig dem geistig-sittlichen Wesen hin, das die Gemeinschaft bildet. Beide Lösungen des inneren Konflikts, der ihn beherrscht, sind aus demselben Geist der Opposition entstanden.“37

Groethuysens „verstehende Psychologie“ knüpft hier an die psychologisierende Darstellung des Rousseauschen „Dualismus“ von Gefühl und Verstand an. Auch für Groethuysen ist das Individuum Rousseau ein zerrissenes Wesen: „angezogen von der geistigen und literarischen Tradition“ des französischen Geisteslebens und zugleich „abgestoßen vom gesellschaftlichen und politischen Leben der Franzosen“.38 Aber es ist trotzdem Groethuysens Verdienst, den Umgang mit Rousseau in eine Auseinander35 Hans Leisegang, „État de nature“, in: Festschrift für Eduard Wechßler zum 19. Oktober 1929, Jena/Leipzig: Gronau, 1929, S. 92-110, hier S. 92, Fußnote 1. 36 Michael Nerlich: „Romanistik: Von der wissenschaftlichen Kriegsmaschine gegen Frankreich zur komparatistischen Konsolidierung der Frankreichforschung“, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 20/1996, Heft 1/2, S. 418. 37 Bernhard Groethuysen, Philosophie der Französischen Revolution. Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand, 1971, S. 99. 38 Ebd., S. 102.

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setzung mit dem Grundwiderspruch seines Ansatzes konvertiert zu haben und sogar versucht zu haben, diesen in die allgemeine geistige Atmosphäre des 18. Jahrhunderts einzuschreiben. Denn es war, wie er es betont, das Jahrhundert als Ganzes, das Vernunft und Leidenschaft gerade nicht mehr als unversöhnliche Prinzipien betrachtete: Es strebte weniger danach, das „Entweder-oder“ zum Stillstand zu bringen als vielmehr in der Seele selbst die eigentliche Quelle auch der geistigen Kräfte zu entdecken. Politisch angewandt: Der Mensch trägt seinen Wert in sich selbst, die Gesellschaft gibt ihm nur die Werte, die er als Bürger hat. Wie wir noch sehen werden, ist diese Interpretation mit derjenigen von Cassirer eng verwandt. Und wenn dies wenigstens der Ertrag der „Einfühlung“ ist, dann darf man ihn nicht ohne weiteres vernachlässigen. Denn hier war bei Groethuysen, im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Autoren der Zwischenkriegszeit, die sich auf dieselbe Methode beriefen, der Widerspruch Rousseau weitgehend unabhängig von den deutsch-französischen Klischees umrissen. 2. Protest gegen die Tyrannei oder Feldzug gegen die Demokratie?39 Der Protest gegen die Tyrannei zieht sich als roter Faden und politisches Motiv durch die ganze Frankreich-Literatur und in gleichem Maße durch die ganze Rousseau-Rezeption der Zwischenkriegszeit hindurch. Die Kehrseite der Gefühlsergießungen sei die Tyrannei des Verstandes. Rousseaus widersprüchliche Persönlichkeit und die Widersprüchlichkeit seiner Produktion werden zum Symbol jener französischen Doppelzüngigkeit gemacht, wie sie Otto Grautoff in Die Maske und das Gesicht Frankreichs dargestellt hat.40 Es ist zugleich ein Protest gegen die Herabwürdigung, unter der Deutschland infolge des Versailler Vertrags gelitten hat, und der Ausdruck einer grundsätzlichen Unstimmigkeit mit der demokratisch-republikanischen Ideologie, die der französische Sieger für seine allgemeingültige Botschaft ausgibt. Auf deutscher Seite wird daraus ein höchst wirksamer ideologischer Kurzschluss präpariert, der einen großen umfassenden Bo-

39 Eine erste, längere Fassung dieses Beitrags ist in Politisches Denken, Jahrbuch 2012, S. 99-128 erschienen. Sie enthält andere Beispiele. Für den vorliegenden Sammelband wurde der hier beginnende Abschnitt beträchtlich gekürzt. 40 Otto Grautoff, Die Maske und das Gesicht Frankreichs. Stuttgart/Gotha: Verlag Friedrich Andreas Perthes, 1923.

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gen zieht nicht nur zwischen Ludwig XIV., Napoleon I. und dem Versailler-Vertrag, sondern zugleich auch zwischen Descartes und der französischen Klassik, den Lumières und darüber hinaus dem republikanischen Gedanken. Ein gutes Beispiel von diesem Kurzschluss bietet wiederum der Aufsatz von Klemperer „Gang und Wesen der französischen Kultur“, für den „der Patriotismus und Nationalismus des aufgeklärten Jahrhunderts […] um kein Atom geringer [ist] als der der ludovicischen Epoche“.41 Darüber hinaus soll nach Klemperer „der Stolz und Expansionsdrang der Franzosen“ nie gewaltiger gewesen sein als in der Revolutionszeit. Dieser Ausbruch gegen den französischen „Imperialismus“ war noch verständlich, weniger der Schluss, dass das französische politische Denken alles wohl erwogen insgesamt nichts anderes bewirke als eine Anleitung zum Gehorsam und zur sklavischen Unterordnung: „So kommen sie [die Franzosen] nun im 18. Jahrhundert dazu, das Königsideal durch das republikanische zu ersetzen. Aber sie werden damit nicht etwa im Individualsinn freiheitlicher, sie befreien sich keineswegs von einem despotischen Druck. Nein, sie bleiben gern und fügsam unter der gleichen Despotie, die der französischen Natur entspricht, unter der Tyrannei des Staatlichen, der jeder Einzelne sich beugt.“42

Kann Klemperers Feindseligkeit gegenüber Rousseau wirklich dadurch entschuldigt werden, dass er seine Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert zu Beginn der dreißiger Jahre begonnen und als Widerstand gegen das Nazi-Regime verstanden hat, wie man auf einer der deutschen Rousseau-Rezeption gewidmeten Website unter der Feder der französischen Romanistin Béatrice Durand lesen kann?43 Fest steht jedenfalls, dass Klemperer der republikanischen Staatsform einen „Individualsinn“ entgegensetzt, der implizit aber eindeutig eine Absage an die Republik und ein Bekenntnis zum angelsächsischen Liberalismus nach sich zieht. Insofern waren schon in der Zwischenkriegszeit – unter starkem politischem und ideologischem Druck – die Koordinaten vorhanden, die heute noch die politische Debatte beherrschen.

41 V. Klemperer, Romanische Sonderart, S. 14. 42 Ebd., S. 13. 43 Online-Wörterbuch zur Rousseau-Rezeption: rousseaustudies.free.fr.

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3. Cassirer: die neukantianische Rettung Man könnte die Dokumente des Rousseaubildes der Zwischenkriegszeit häufen. Weil es mir hier um Strategien geht, will ich mit einer Strategie schließen, die (fast) alle Klischees Lügen straft. Es macht die eigenartige Qualität von Cassirers ideengeschichtlichen Beiträgen aus, dass er oft auf den Punkt bringt, was man sonst unabhängig von ihm mühevoll erarbeiten muss. Cassirers Art der (politischen) Ideengeschichtsschreibung soll deshalb nicht nur gewürdigt werden, sondern ihr gebührt in einer Reflexion der diskursiven Strategien in der politischen Ideengeschichte eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Schon auf der ersten Seite seines Buchs Das Problem Jean Jacques Rousseau durchschaut er mezzo voce den strategischen Gebrauch, indem er darauf hinweist, dass „Rousseaus Lehre auch heute für uns keinen festen Bestand von Einzelsätzen [bildet]“, dass sie „keine feste und fertige Doktrin“, sondern „vielmehr eine stetig sich erneuernde Bewegung des Gedankens“ darstellt.44 In demselben Atemzug knüpft freilich Cassirer selbst – aber das gehört ja gerade zur Disziplin der Geistesgeschichte – an den Gegensatz an zwischen „Kraft und Leidenschaft“ und „einem Jahrhundert, das die Kultur der Form auf eine zuvor nie erreichte Höhe emporgehoben“45 hat. Er setzt also beim Widerspruch Rousseau wieder an. Dabei will er freilich das „Problem Rousseau“, wie er es in seinem Aufsatz im Archiv für Geschichte der Philosophie (1932) nennt, nicht nur als eine „persönliche, sondern eine sachliche Einheit“ verstanden wissen.46 Cassirer greift systematisch alle Facetten des Widerspruchs auf: die „traditionelle Ansicht, die in Rousseau nichts anderes als den Apostel des Individualismus und Irrationalismus sieht“ (ebd.), den Gegensatz des Sentimentalismus und des Rationalismus, die Interpretation, die in ihm „einen echten Sprößling des ‚Cartesischen Geistes‘“ sieht (ebd.) und nicht zuletzt die Frage, ob er der Begründer einer (wie auch immer republikanischen) demokratischen Tyrannei ist.

44 Ernst Cassirer, Das Problem Jean Jacques Rousseau. Reprint Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, S. 1. 45 Ebd. 46 Ernst Cassirer, „Die Philosophie im XVII. und XVIII. Jahrhundert“, in: Philosophie. Chronique annuelle publiée par l’Institut international de collaboration philosophique, S. 77.

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Den Kern des Missverständnisses bildet auch für ihn der Gegensatz des Sentimentalismus und des Rationalismus. Hierzu drückt er sich ganz eindeutig aus: „Die Alternative, daß wir Rousseau entweder ein ‚sentimentalmystisches‘ oder aber ein Cartesisches Glaubensbekenntnis zuschreiben müssen, erscheint mir in keiner Weise als zwingend.“47 Um diese falsche Alternative zu überwinden, geht er auf konstitutive Momente von Rousseaus Denken ein, insbesondere auf den Einfluss des Oratorianers Bernard Lamy, der ein Verehrer von Malebranche war. Daraus schließt er: „Hier fällt auch auf die Vorgeschichte der ‚Profession de foi‘ neues Licht. Die ‚rationalen‘ Elemente in Rousseaus Glaubensbekenntnis sind unverkennbar. Aber wir können sie, wie [Emile] Bréhier im einzelnen gezeigt hat48, nur verstehen, und ihnen ihre rechte geistesgeschichtliche Stelle anweisen, wenn wir sie, statt sie auf Descartes zurückzuführen, an Malebranches Méditations chrétiennes und an seine Entretiens sur la métaphysique anknüpfen.“49

Man solle sich also von der stereotypischen Entgegensetzung des Gefühls und der Ratio freimachen und einsehen, dass Rousseaus Begründung des „instinct divin“ sich gerade über diese falsche Alternative hinwegsetzt und sowohl den „Sentimentalismus“ wie den „Intellektualismus“ zurückweist. „Sein Weg“, schreibt Cassirer, „weist hier weit eher auf Kant voraus, als dass er auf Descartes zurückwiese. Der ‚göttliche Instinkt‘, als den er das moralische Gewissen beschreibt, ist für ihn von einer anderen Art und einem anderen Ursprung als alle Wahrheiten, die uns das reine Denken vermitteln kann“.50 Diesen Kern des Problems hatte Groethuysen geahnt, als er geltend zu machen versuchte, dass bei Rousseau das „Gefühl“ im Grunde etwas ganz anderes bedeutete als Sentimentalität. Groethuysen drückte diese These durch einen gewagten Kurzschluss zwischen „Gefühl“ und revolutionärem Bewusstsein aus: „Dieses Gefühl, bei Rousseau seinem ursprünglichen Wesen und einer ganz besonderen Empfindsamkeit entsprungen, wird in der Französischen Revolution als das Bewusstsein interpretiert, einer anderen gesellschaftlichen Klasse anzugehören, einem anderen Sittengesetz zu folgen, kurz als die Zugehörigkeit zum Volk.“51

47 Ebd., S. 79. 48 Vgl. Emile Bréhier: „Les lectures malebranchistes de Jean-Jacques Rousseau“, Revue Internationale de Philosophie, 1/1938, S. 98-120. 49 E. Cassirer, „Die Philosophie im XVII. und XVIII. Jahrhundert“, S. 80. 50 Ebd., S. 79. 51 B. Groethuysen, Philosophie der Französischen Revolution, S. 101.

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Die Wiederholung von „anderen“ weist darauf hin, dass hier ein dritter Weg angedeutet wird. Cassirers Ansatz zielt ebenfalls weniger darauf hin, die psychologische Dimension zu überwinden, als sie vielmehr zu integrieren und dadurch zu entpsychologisieren. In dieser Bemühung stehen der Dilthey-Schüler und der Ex-Marburger einander sehr nahe. Rousseaus Misanthropie wird nicht geleugnet, sondern als die Kehrseite seines „enthusiastischen Freundschaftsideals“ interpretiert.52 Zugleich wird auf quasi-husserlianische Weise eine epoche, eine phänomenologische Reduktion, durchgeführt, um den Kern von Rousseaus politischer Philosophie zu treffen. Cassirer zitiert aus dem Discours sur l’origine de l’inégalité den Satz: „Beginnen wir damit, alle Tatsachen auszuschalten…“53 Das kann kein Zufall sein, denn es geht darum, die Rousseausche Botschaft in demselben Maße zu transzendentalisieren, wie man sie entpsychologisiert. In demselben Atemzug wird sie auch enthistorisiert, ohne dass dadurch ihre historische Verankerung geleugnet würde: „Um den ‚homme naturel‘ vom ‚homme artificiel‘ zu unterscheiden, brauchen wir nicht in längst vergangene und verschollene Epochen zurückzugehen – noch brauchen wir hierfür die Reise um die Welt zu machen. Jeder trägt in sich selbst das eigentliche Urbild.“54 Dieser Ansatz entspricht völlig Kants Behandlung des Naturzustands – und des Gesellschaftsvertrags selbstverständlich auch – in seinen geschichtsphilosophischen Abhandlungen wie „Mutmaßlicher Anfang aller Menschengeschichte“. Hier wie überall in seinen Schriften bahnt sich Cassirer seine eigene Denklinie über die etablierten Fronten – den Neukantianismus, den Diltheyismus, den Historismus – hinaus.55 Vor allem aber, und das ist es ja, worum es uns hier zu tun ist, bezieht sich auch Cassirer auf Taine, um die Frage an der Wurzel zu fassen, die offensichtlich diese ganze Epoche der Rousseau-Rezeption beherrscht hat: Ob es nämlich „ein zu hartes Urteil [ist], wenn Taine in seinen ‚Origines de la France contemporaine‘ den ‚Contrat social‘ eine Verherrlichung der Tyrannei nennt“?56 Denn in dem Rousseauschen Konzept zerbricht tat-

52 53 54 55

E. Cassirer, Das Problem Jean Jacques Rousseau, S. 8. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Vgl. Gérard Raulet, Das Zwischenreich der symbolischen Formen. Ernst Cassirers Erkenntnistheorie, Ethik und Politik im Spannungsfeld von Historismus und Neukantianismus. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2005. 56 E. Cassirer, Das Problem Jean Jacques Rousseau, S. 15.

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sächlich jeder Sonder- und Einzelwille vor der Macht der „volonté générale“. Cassirer versucht zunächst, Rousseau gegen den Vorwurf der blinden Radikalität zu verteidigen: Rousseau habe „immer auf der Erhaltung der bestehenden Einrichtungen bestanden, indem er erklärte, daß ihre Zerstörung die Laster bestehen lassen und die Mittel zu ihrer Linderung und Milderung beseitigen würde; daß sie an Stelle der Korruption nur die zügellose Gewalt setzen würde“.57 Zugleich macht er einen unverkürzten Freiheitsbegriff geltend, und das heißt sowohl als naturrechtlichen Anspruch auf eine „wahrhafte menschliche Gemeinschaft“ und als rechtsstaatliche Forderung: als „Ausschluß aller Willkür“, als „Bindung an ein strenges und unverbrüchliches Gesetz, das das Individuum über sich selbst aufrichtet“.58 Die Nähe zu Hobbes wird nicht verschwiegen – ganz im Gegenteil59, aber gerade in dieser gefährlichen Nähe findet Cassirer sozusagen den archimedischen Punkt seiner Rettung. Da, wo die Naturrechtslehren darüber streiten, ob der Gesellschaftsvertrag auf einen geselligen Naturtrieb, oder bloß auf den Egoismus zurückzuführen sei, soll nach ihm Rousseau einen Ausweg gefunden haben durch die Unterscheidung zwischen einem passiven Egoismus, der innerhalb des Naturzustands vorhanden war, und jenem aktiven Egoismus, den wir nach dem Eintritt in den gesellschaftlichen Zustand als dessen Folge beobachten müssen.60 Für Rousseau stellt sich eigentlich „das Problem“ (und so soll man wahrscheinlich den Titel von Cassirers Essay richtig deuten) erst – ganz wie für Kant – auf der Ebene des gesellschaftlichen Zustands. Das heißt, dass wir es nicht mit einem Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaft zu tun haben, sondern viel eher mit einem Prioritätsstreit zwischen dem reinen geistigen Willen und dem sittlichen Willen – Hegel würde sagen: zwischen Moral und Sittlichkeit, dem subjektiven Naturrecht und seiner Verwirklichung. Diesbezüglich erweist sich Cassirer – bzw. Rousseau selbst, denn hier wird aus dem Discours sur l’économie zitiert, den Rousseau für die Enzyklopädie verfasste – geradezu als geborener Hegelianer: „Das Gesetz allein ist es, dem der Mensch die Gerechtigkeit und die Freiheit verdankt, dieses Organ des Willens aller ist es, das die natürliche Gleichheit unter den Menschen in der Ordnung des Rechts wiederher-

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Ebd., S. 16. Ebd. Vgl. ebd., S. 17. Ebd., S. 52.

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stellt.“61 Ja, „das Gesetz“ – und zwar nicht jenes göttliche Gesetz, das Antigonä dem Gesetz der Polis entgegensetzte – wird an dieser Stelle als „göttliche Stimme“ bezeichnet. Der Zweck des Staates besteht darin, „an Stelle der physischen Ungleichheit unter den Menschen, die unaufheblich ist, die rechtliche und moralische Gleichheit zu setzen“.62 Insofern bildet der Staat die Grundlage der moralischen Idee selbst. Dies hat nun zur Folge – und hier wird zugleich klar, wie Cassirer selbst den Gegensatz des Historismus und des Normativismus überwinden will –, dass Rousseau sich weder mit einer Vergleichung der Regierungsformen wie bei Montesquieu, noch mit dem Gedanken begnügen kann, dass man es lediglich mit „Fehler[n] der ‚Organisation‘, die es nach und nach zu bessern gilt“, zu tun habe.63 Rousseau sieht hier vielmehr einen Konstruktionsfehler. Das wird laut Cassirer durch seinen Umgang mit dem Theodizeeproblem bestätigt: Wenn wir weder Gott noch die menschliche Natur für das Übel verantwortlich machen können, dann darf dessen Wurzel auch nicht in dem einzelnen Menschen gesucht werden, sondern in der menschlichen Gesellschaft. Daraus folgt nun aber auch, dass der Mensch „zu seinem eigenen Retter und im ethischen Sinne zu seinem Schöpfer werden“ soll.64 Anklänge an den Dualismus des Rokoko und des Ernstes, wie sie bei Klemperer und seinen Schülern anzutreffen waren, lassen sich bei Cassirer selbst feststellen, wenn er im Hinblick auf diese gleichsam existenzialistische Situation Voltaires „spielerischen Pessimismus“ dem „tragischen Ernst“ von Rousseaus Optimismus entgegensetzt.65 Nicht zu unterschätzen ist aber an dieser Stelle auch der Schluss, dass auf diesem Weg „dieser angebliche ‚Irrationalist‘ in dem entschiedensten Vernunftglauben“ endet, also dass der Vernunftglaube durchaus heiße leidenschaftliche Formen annehmen kann – was Cassirer freilich nicht sagt, wohl aber als Anklang an die Diskurse seiner Zeitgenossen gelten lässt. Was die Zeitgenossen bei der Lektüre der Nouvelle Héloïse so stark ergriff, war die „elementare Sprache des Gefühls und der Leidenschaft“66, die sowohl die Dichtung als die Philosophie verlernt hatten. Aus dem Zeitabstand, mit dem wir auf Julie und St. Preux zurückblicken, erscheint uns

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Ebd., S. 19. Contrat social, I, 9; von Cassirer zitiert, ebd., S. 20. E. Cassirer, ebd., S. 29. Ebd., S. 31ff. Ebd., S. 36. Ebd., S. 38.

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aber immer mehr die Kehrseite der Rousseauschen Empfindsamkeit: „Immer wieder wird in ihr die reine Darstellung und der unmittelbare Gefühlsausdruck hintangehalten durch die lehrhafte Tendenz, unter der das Werk von Anfang an steht. Diese Tendenz wird zuletzt so stark, daß sie das Kunstwerk völlig erdrückt.“67 War für Curtius die französische Literatur selbst in ihren extremsten Gefühlsregungen doch immer eine „Psychologenliteratur“, so ist sie für Cassirer alles in allem durch eine didaktische Veranlagung beherrscht. Wie sehr er auch, trotz dieser lehrhaften Tendenz, „die elementare Gewalt des neuen Gefühls, das sich hier Bahn bricht“68, anerkennt, verfolgt aber Cassirer eine andere Absicht als die Mehrzahl der damaligen Interpreten: Er will geltend machen, dass das Rousseausche Gefühl, in seiner Reinheit erfasst, der Maßstab „der ‚Natürlichkeit‘, d.h. der intellektuellen Klarheit und Deutlichkeit“69 ist und dass es als solches eine ethische Grundlage bildet: „Rousseaus Ethik ist keine Gefühls-Ethik, sondern sie ist die entschiedenste Form der reinen Gesetzes-Ethik, die vor Kant ausgebildet worden ist.“70 Auf der Basis dieser Grundthese entwickelt Cassirer seine neukantianische Rousseau-Interpretation, die das Paradoxon vertritt, dass Rousseau der „begrenzten und einseitigen Verstandeskultur“ seines Zeitalters zwar „den Kult des Gefühls entgegengesetzt hat“, aber dass seine eigentliche ethische Leistung darin besteht, wie paradox dies auch klingen mag, „entgegen der herrschenden Meinung des Jahrhunderts, das Gefühl aus der Grundlegung der Ethik“ verwiesen zu haben. Rousseaus gefühlsmäßige Erfassung des ethischen Gesetzes habe nichts zu tun mit den „eudämonistischen“ Lehren des 18. Jahrhunderts: weder mit der Lehre von den Sympathiegefühlen, noch mit der Lehre vom ‚moral sentiment‘ bei Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Adam Smith, noch mit den sensualistischen Auffassungen, die im Kreis der Enzyklopädisten vorherrschten.71 Die zugleich ethische und politische Pointe seiner „Rettung Rousseaus“, wie ich sie nennen möchte, fasst Cassirer in dem Satz zusammen: „Die Grundsätze des ethischen Verhaltens und die Prinzipien der echten Politik lassen sich nicht erklügeln und errechnen; noch lassen sie sich rein logisch demonstrieren. Sie besitzen ihre eigene Art der ‚Unmittelbarkeit‘ – aber diese

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Ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 39. Ebd., S. 48. Ebd., S. 50f.

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Unmittelbarkeit ist nicht mehr die des Gefühls, sondern die der Vernunft. […] Sie sind Wahrheiten, die sich nicht anders denn intuitiv erfassen lassen; aber eben diese Intuition ist es, die Niemandem versagt ist, weil sie die Grundkraft und das Wesen des Menschen selbst ausmacht.“72

Man ist berechtigt, diese neukantianische Lektüre, die selbstverständlich auch eine strategische Lektüre ist, dennoch als einen Versuch zu interpretieren, aus den festgefahrenen Stereotypen auszubrechen. Sie ist insofern integraler Teil von Cassirers Engagement im Medium der politischen Ideengeschichte73 und musste aus diesem Grund hier den Kontrapunkt bilden zu anderen Diskursstrategien, deren Auswirkungen und deren Ertrag im besten Fall als dubios zu bezeichnen sind.

72 Ebd., S. 57. 73 Vgl. G. Raulet, Das Zwischenreich der symbolischen Formen, bes. S. 129-158.

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Materie oder Form? Rousseau und Kant in der bundesrepublikanischen Demokratietheorie Daniel Schulz

1. Einleitung Mit ihrer mehr als sechs Jahrzehnte währenden Geschichte ist die Bundesrepublik Deutschland inzwischen selbst zum Gegenstand der ideengeschichtlichen Untersuchung geworden.1 Was aber bislang kaum in den Blick genommen wurde, ist die Rolle der Ideengeschichte selbst bei der Neugründung und der Verstetigung der demokratischen Ordnung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei legt doch der ideengeschichtliche Referenzraum der bundesrepublikanischen Theoriediskurse grundlegende Konfliktlinien offen, welche die Selbstverständigung über die Legitimität demokratischer Ordnung in der Bundesrepublik durchzogen haben und auch heute noch von Bedeutung sind. Im Folgenden soll daher anhand der Rezeption von Rousseau und Kant exemplarisch aufgezeigt werden, wie die demokratietheoretische Diskussion sich aus dem ideenhistorischen Archiv bedient hat und in ihr argumentatives Arsenal überführte.2 Während die Gründergeneration der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft den Kampf gegen den einflussreichen Carl Schmitt auch über die ideengeschichtliche Bande gegen Rousseau spielt, so wird in der nachfolgenden Generation im Umfeld der kritischen Theorie die Unterscheidung zwischen bloß formaler und echter, materialer Demokratie zu einer Leitdifferenz, in der auch die ideengeschichtlichen Konflikte um die Frage politischer Repräsentation eine bedeutende Rolle spielen. Erst mit der Annäherung der kritischen Demokratietheorie von Jürgen Habermas an den demokratischen Verfassungsstaat wird dieser Konflikt überwunden. Die Hin-

1 Jens Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung. Hamburg: Hamburger Edition, 2009. 2 Dazu Marcus Llanque / Herfried Münkler (Hrsg.), Politische Theorie und Ideengeschichte. Lehr- und Textbuch, Berlin: Akademie Verlag, 2007.

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wendung zum Kantischen Rechts- und Repräsentationsbegriff und die Kritik der Rousseauschen Idee der Volkssouveränität stellen wesentliche Merkmale der deliberativen Demokratietheorie dar, wohingegen die grundsätzliche Kritik am demokratischen Verfassungsstaat und seiner Ordnungssynthese von Recht und Politik zunehmend in den Hintergrund tritt. 2. Die Rousseau-Kritik in der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft Die demokratietheoretische Auseinandersetzung der frühen Bundesrepublik stand nicht nur im Zeichen der Abkehr von Weimar. Vielmehr ging es auch darum, die tiefer liegenden Wurzeln eines fehlgeleiteten Demokratieverständnisses offen zu legen, die weit in die ideengeschichtlichen Traditionszusammenhänge zurückführten.3 So stellte Ernst Fraenkel in seinen Aufsätzen „Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“ (1958) und „Deutschland und die westlichen Demokratien“ (1960)4 die Pluralismus- und die Parlamentskritik von Carl Schmitt in eine direkte Kontinuitätslinie zum französischen Republikanismus und insbesondere zu Rousseau.5 Gegen Schmitt hatte Fraenkel versucht, aus der historischen Entwicklung des modernen Parlamentarismus ein realistisches Verständnis zu gewinnen, das die von Schmitt evozierten Spannungen zwischen parlamentarischem Ideal und politischer Wirklichkeit nicht als Pathologien diagnostiziert, sondern vielmehr als Ausdruck und Garanten einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft versteht. Fraenkel stellte dabei gegen die tief verwurzelten Vorstellungen einer apriorischen, substanziellen Gemeinwohlvorstellungen die institutionelle Prozesshaftigkeit der politischen Willensbildung, die in

3 Die nachfolgenden Ausführungen finden sich erweitert in Daniel Schulz, Die Krise des Republikanismus. Baden-Baden: Nomos, 2015, Kap. 5. 4 Ernst Fraenkel, „Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, S. 153-203; ders., „Deutschland und die westlichen Demokratien“, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 48-67. 5 „Der Apostel des Anti-Pluralismus ist Jean Jacques Rousseau. [...] [Schmitts] Antipluralismus ist echter Jean Jacques Rousseau.“ (Ernst Fraenkel, „Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie“, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 297-325, hier S. 307)

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einem heterogenen, lediglich von einem Grundkonsens integrierten Gemeinwesen allein das Gemeinwohl – wenngleich nur a posteriori – hervorbringen kann. Diese liberale und prozedurale Entmystifizierung der volonté générale legitimiert dabei ausdrücklich die im Rousseauschen Paradigma so geschmähte Repräsentation von Partikularinteressen, die auch Schmitt als Widerspruch zum demokratietheoretischen Idealbild dargestellt hatte.6 Fraenkel dagegen rehabilitiert die Artikulation gesellschaftlicher Interessen ebenso wie deren politische Repräsentation – und damit auch den Interessenkonflikt und die notwendigen Aushandlungs- und Kompromissbildungsprozesse der politischen Willens- und Entscheidungsfindung. In seinem Einleitungsreferat zum Kongress der politischen Bildung in Bonn fasst er 1966 diese Position zusammen und stellt zugleich seine ideenpolitischen Referenzpunkte klar: „Das Wort ‚pluralistisch‘ hat in Deutschland einen schlechten Klang, seitdem Carl Schmitt in der pluralistischen Struktur der Weimarer Republik eine der Ursachen ihres Verfalls erblickt hat. Pluralismus ist ein echt politischer Begriff, weil er ein polemischer Begriff ist. In der Gegenwart steht der Begriff des Pluralismus im polemischen Gegensatz zum Totalitarismus. Stets aber stellte eine pluralistische Demokratie das Gegenteil einer Demokratie Rousseauscher Observanz dar. [...] Eine politische Bildung, die sich nicht in einer phrasenhaften Bejahung oder Verdammung des Pluralismus verlieren will, muss an Tocqueville anknüpfen.“7

Die herausragende Bedeutung Tocquevilles für die liberale Demokratietheorie unterstrich Fraenkel auch schon in seinem Aufsatz „Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie“ (1964): „Die Rehabilitierung der Demokratie ist in Europa an den Namen Alexis de Tocqueville geknüpft. Der europäische demokratische Pluralismus geht nicht auf politische Theorien zurück, die ihn als Ideal erfanden; er beruht vielmehr auf politischen Beobachtungen, die ihn als Realität entdeckten. Seine Geburtsstunde fällt mit der in den Jahren 1835 und 1840 erfolgten Veröffentlichung des großen Buches zusammen, in dem Tocqueville aufzeigte, dass be-

6 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Berlin: Dunker & Humblot, 1926; ders., Verfassungslehre. 7. Auf., Berlin: Dunker & Humblot 1989 [1928]. 7 Ernst Fraenkel, „Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie“, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 261-276, hier S. 274.

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reits damals ‚La démocratie en Amérique‘ eine pluralistische Demokratie gewesen ist. Obwohl Wilhelm Dilthey Tocqueville als den größten abendländischen Denker seit Aristoteles und Machiavelli bezeichnet hat, ist er in der deutschen Staats- und Politikwissenschaft nur relativ wenig beachtet worden. Auch die vor etwa drei Jahrzehnten einsetzende Tocqueville Renaissance ist fast spurlos an Deutschland vorbeigegangen.“8

Für Fraenkel bedeutet die Rezeption Tocquevilles daher ein ideengeschichtliches Antidot gegen die demokratietheoretische Dominanz von Einheitsbegriffen wie Volk, Nation oder Staat, die sich in unterschiedlicher Weise gegen die Offenheit einer (sozial-)liberal-demokratischen Bürgergesellschaft zu stellen schienen.9 Ganz ähnlich stellt sich die Rezeptionsachse bei Ralf Dahrendorf in seiner für die Liberalisierung der bundesrepublikanischen Selbstbeschreibung so wichtigen Studie Gesellschaft und Demokratie in Deutschland dar.10 Das Rousseausche Verständnis eines direkten und unmittelbaren einheitlichen Volkswillens erscheint als Quelle illiberaler Demokratievorstellungen. Während in der deutschen Ideengeschichte Rousseau von Hegel als „Mitstreiter illiberalen Denkens begrüßt“ wurde und diese Allianz eine fatale Langzeitwirkung für das Missverständnis moderner demokratischer Ordnung bewirkte, welches noch im Godesberger Programm der Sozialdemokratie widerhallt11, so bildet der Name Alexis de Tocquevilles nicht nur den buchstäblichen Auftakt des Werkes12, sondern Dahrendorf schließt mit seiner Suche nach einer „sozial begründeten Verfassung der Frei-

8 E. Fraenkel, Pluralismus als Strukturelement, S. 322f. 9 Der Topos der „offenen Gesellschaft“ wurde bereits 1945 im Namen eines anti-totalitären, radikal-individualistischen Liberalismus popularisiert: Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., Tübingen: Mohr, 2003 [1945]. Fraenkels Pluralismus setzt dagegen sehr viel mehr an den sozialen Gruppen an – ganz in der Tradition Tocquevilles, der die Frage nach den sozialen „Ligaturen“ (Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt. Essay zur Politik der Freiheit. Stuttgart: DVA, 1994, S. 41), nach den sozialintegrativen Bindungen auch in der liberalen Gesellschaft stellte. 10 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München: dtv, 1965; zu diesem „Grundbuch des westdeutschen Identitätswandels“ s. Ulrich Herbert, „Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze“, in: ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen: Wallstein, 2002, S. 7-49, hier S. 30. 11 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie, S. 211. u. 218. 12 Ebd., S. 7.

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heit“13 auch unmittelbar an dessen Fragestellung nach den Möglichkeitsbedingungen liberaler Demokratie an.14 Seine durchaus normativ geleitete Analyse ist also, ebenso wenig wie Fraenkel, an einer philosophisch-apriorisch deduzierten Idee der Demokratie an sich interessiert, sondern zeigt in der sozialgeschichtlichen Wirklichkeit die soziomoralischen Geltungsbedingungen auf, die eine dauerhaft stabile Demokratie erst möglich machen – ein Zusammenspiel von sozialer und politischer Verfassung also, die auch für Tocqueville die amerikanische Demokratie erst zu einer verstetigten Ordnung des Gemeinwesens gemacht hat. Wie Fraenkel kommt es Dahrendorf dabei insbesondere auf die Fähigkeit der Demokratie an, politischen Konflikten durch institutionelle Formen eine rational-pragmatische Gestalt zu verleihen und damit den Ort des Politischen vom radikalen Ausnahmezustand in den institutionellen Normalzustand der Republik zu verlagern. Vom Versuch einer liberalen Neugründung der demokratischen Ordnung durch eine ideengeschichtliche Revision zeugt auch Carlo Schmids Ausgabe der Reden Robespierres. Schmid zieht dabei die Linie des antiliberalen Rousseauismus zu den modernen Freiheitsbedrohungen durch autoritäre Staatlichkeit.15 Seine Einleitung der Reden Robespierres ist im Grunde eine ausführliche liberale Rousseau-Kritik: Die Französische Revolution wurde zunächst vom „humanitären Liberalismus“ eines Condorcet und Voltaire bestimmt, aber: „Es war die Lehre Rousseaus, in deren Zeichen – nach ihrem liberalen, ‚philosophischen‘ Anfang – die Revolution weiterschritt, um schließlich zur rasenden Furie zu werden.“16 Demokratie wurde bei Rousseau zur sittlichen Einheit des Bürgers mit dem Staat. Gehorsam gegenüber dem Staatsgesetz wird zum Gehorsam gegenüber der Vernunft stilisiert. Dieses „,kantische‘ Element vor Kant“17 habe der Demokratie ein „fast religiöses Pathos“ gegeben, war aber politisch fatal: „[E]in politischer Begriff wurde zu einem moralischen Begriff verabsolutiert und damit blind für alles, was in Geschichte und Politik unlogisch

13 Ebd., S. 322f. 14 Ebd., S. 23. u. 35.; der zweite wichtige Name in diesem Zusammenhang ist – nicht nur bei Dahrendorf – Montesquieu. 15 Carlo Schmid, „Einleitung“, in: Maximilien Robespierre. Ausgewählte Texte, deutsch von Manfred Unruh, Hamburg: Merlin, 1971, S. 9-36. 16 Ebd., S. 12. 17 Ebd., S. 13.

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erscheint, für die Einordnung in ein moralisches System nicht taugt.“18 Robespierre stellt nun als politische Figur die Konsequenz des rousseauschen Demokratiebegriffs dar: „Die Erzeugung der volonté générale ist letztlich ein mystischer Vorgang, der Inspiration der Pfingstgemeinde durch den Heiligen Geist vergleichbar, ‚sie weiß sich selbst‘, und zu Zeiten kann sie in einer einzigen Person manifest werden. Robespierre hat in einer seiner Konventsreden sich selber als Inkarnation der volonté générale bezeichnet!“19

Dieser der politischen Repräsentation entgegengesetzte Inkarnationsgedanke ist es, der für Schmid die Erbschaft des Rousseauschen Demokratiemodells und der Französischen Revolution in ihrer jakobinischen Ausprägung problematisch werden lässt. Es ist daher auch kaum verwunderlich, wenn selbst das ideengeschichtliche Standardwerk der sechziger Jahre zur politischen Philosophie Rousseaus aus der Feder von Iring Fetscher der normativen Relevanz des Contrat social für die demokratietheoretischen Debatten der Gegenwart eine Absage erteilte. Obwohl hier doch die vermeintliche Distanz der revolutionären Radikalen zu Rousseaus Position herausgehoben wird, um ihn gegen den von Talmon erhobenen – durch seine ahistorische Perspektive gleichwohl überzogenen – Totalitarismusvorwurf zu schützen20, sieht Fetscher keine Möglichkeit einer direkten Analogie von Rousseaus Begriffen und der Demokratie der Gegenwart: „Rousseaus Intention stand noch völlig im Banne des klassischen Polisideals, das er, lediglich geringfügig modifiziert, in seinen kleinbürgerlichen Republiken wiederauferstehen sah. Der erste Theoretiker der modernen Massendemokratie ist Alexis de Tocqueville gewesen.“21 Damit vollzieht Fetscher ein theoriepolitisches Rettungsunternehmen, das in diesem Kontext nur um den Preis einer radikal historisierenden Distanzierung zu haben war. Die Französische Revolution galt der liberalen bundesrepublikanischen Gründergeneration gleichwohl nicht allein als problematische Einheitsfiktion. Im Gegenteil: Joachim Ritter wollte vielmehr mit einer spezifischen Lesart Hegels die Französische Revolution als Ausgangspunkt moderner

18 Ebd., S. 14. 19 Ebd., S. 17f. 20 Jacob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln: Westdeutscher Verlag, 1962ff. 21 Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999 [1960], S. 255.

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Entzweiung verstanden wissen. Hegels Philosophie des Geistes in seinen vielfältigen Differenzierungen gilt so als direkter Ausdruck der Französischen Revolution, mit der die Freiheit des Individuums ebenso wie das Ende der vormodernen Einheit verknüpft wird. Nicht die sittliche Wiederherstellung von Einheit, wie es Hegel von seinen Kritikern häufig vorgeworfen wurde, sondern die normative Bestimmung von „Entzweiung“ als Signum der modernen Epoche seien das Ziel der Hegelschen Philosophie. Ritter artikuliert damit eine grundlegende liberal-konservative Skepsis gegen ein totalisierendes, einheitsfixiertes Vernunftdenken, wie es in der marxistischen politischen Theorie noch nicht überwunden zu sein schien. Während hier die Französische Revolution lediglich als Auftakt zu einer Herstellung gesellschaftlicher Einheit auf einer höheren Ebene interpretiert wird, so liest Ritter mit Hegel das Ereignis der Revolution als konstitutiven Bruch der Moderne mit einem vormodernen Verständnis von gesellschaftlicher und politischer Einheit. Eine solche Einheit jedoch war nur ohne individuelle Freiheit zu haben und ist weder auf einer „höheren“ Entwicklungsstufe der modernen Gesellschaft noch durch einen reaktionären Regress wieder verfügbar: „Die politische Konstituierung der Freiheit durch die Revolution steht so unter dem Gesetz der Entzweiung; diese ist die Grundverfassung der Zeit.“22 Dieser Anschluss an die politische Modernität der Französischen Revolution war jedoch für liberal-konservative Denker dieser Zeit keineswegs die Regel. Vielmehr spielte für die Bundesrepublik in geistesgeschichtlicher Hinsicht die Beziehung zu den Vereinigten Staaten eine immer wichtigere Rolle.23 Gerade aus dem Umfeld der Emigration wurde die Französische Revolution und mit ihr das Denken der französischen Aufklärung und des politischen Republikanismus kritisch betrachtet, wenn nicht sogar ohne Vorbehalte in die Vorläufergeschichte des Totalitarismus eingereiht. Hannah Arendts gegenläufige Interpretation der Amerikanischen und der Französischen Revolution brachte dies exemplarisch zum Ausdruck.24 Amerika war aus dieser Sicht die bessere Revolution, da die politisch-konstitutionelle Gründung dauerhaft gelang und das Soziale keine Rolle spielte. Politik hat nicht zur Aufgabe, eine homogene, rationale Gesellschafts-

22 Joachim Ritter, Hegel und die Französische Revolution. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1965, S. 60. 23 Heinz Bude / Bernd Greiner (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg: Hamburger Edition, 1999. 24 Hannah Arendt, On Revolution. New York: Viking Press, 1963.

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ordnung herzustellen und die Differenzen und Unterschiede durch staatliche Intervention zu glätten. Zudem ist für Arendt die Idee des homogenen Gemeinwillens nach Rousseau einer der zentralen Gründe für das fatale Scheitern des europäischen Nationalstaates als politische Ordnungsidee. Arendt kritisiert den fundamentalen Fehlschluss, welcher der voluntaristischen, von Rousseau begründeten Tradition zugrunde liegt, weil er im Kern die pluralistische Dimension des Politischen verfehlt. Der ideengeschichtliche Referenzpunkt Arendts ist dagegen Immanuel Kant: Nicht nur seine Theorie der Freiheit als Möglichkeit einen neuen Anfang zu setzen, ist hier prägend gewesen. Mehr noch ist es die Theorie der Urteilskraft, die Arendt von Kant übernimmt, um sie gegen die voluntaristische Demokratietheorie zu stellen.25 Während bei Schmid, Ritter und Arendt jedoch noch die liberalen Traditionen präsent sind, die aus der Französischen Revolution hervorgegangen sind, so dominiert im Lichte der Rousseaukritik bei Leo Strauss und bei Eric Voegelin die Distanz zu dieser Denktradition. Leo Strauss, der mit einem Rockefeller-Stipendium vor 1933 Paris kennenlernte, dann als Emigrant nach Cambridge und weiter in die USA fliehen musste, hatte Rousseau zusammen mit Hobbes und Locke als Protagonisten der Krise des Naturrechts gelesen.26 Vor der Hintergrundfolie des klassischen Naturrechts, dass die menschliche Freiheit als positiv gebundene Freiheit in sittlicher Gemeinschaft begreift, wird das moderne Naturrechtsdenken als Prozess der Formalisierung beschrieben, mit dem das Naturrecht als normativer Maßstab der gesellschaftlichen Ordnung nach und nach entwertet wird. Positivismus, Individualismus und Nihilismus sind Symptom und Folge zugleich. Rousseau nimmt für Strauss gleichwohl eine ambivalente Position ein, da sein Begriff des Naturzustandes nicht allein als negativer Maßstab fungiert wie es bei Hobbes und auch bei Locke der Fall ist. Für Strauss ist Rousseau weniger als Hobbes und Locke verantwortlich für die Destruktion des traditionalen Naturrechts durch die liberale Moderne, sondern schon ein Autor der Krise des modernen Naturrechts selbst, da er den bürgerlich vergesellschafteten Zustand jenseits des Naturzustandes nicht mehr uneingeschränkt als höhere Entwicklungsstufe des Menschen begreift. Der Naturzustand dient in der bürgerlichen Gesellschaft nach

25 Hannah Arendt, Lectures on Kant’s Political Philosophy. Edited and with an Interpretive Essay by Ronald Beiner, Chicago: University of Chicago Press, 1982. 26 Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte. Stuttgart: Koehler, 1956.

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Rousseau vielmehr als unbestimmte Projektionsfläche der Freiheit27, der tugendhafte Bürger steht im Spannungsverhältnis zum unverbildeten Menschen des Naturzustandes. Daher ist Rousseau in dieser Lesart auch kein Anhänger einer positiven Freiheit in der politischen Gemeinschaft, sondern offenbart einen Freiheitsbegriff, der sich normativ an der offenen Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Naturzustandes orientiert. Zwar wird der Naturzustand in kritischer Distanz zu Hobbes und anderen modernen Naturrechtstheoretikern zu einem positiven Orientierungsmaßstab gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft umgewandelt – aber zugleich bleibt dieser Maßstab in seiner symbolischen Deutungsoffenheit so unbestimmt, dass er ein gänzlich offenes, negatives Freiheitsverständnis generiert, das nicht mehr die soziale Verwirklichung der Freiheit in ihrer gemeinschaftlichen Bindung zum Vorbild macht, sondern die rein individuell verstandene Vervollkommnung des einzelnen Bürgers als Mensch. Während so zum einen die Französische Revolution, sich auf Rousseau berufend, mit den individualistischen Menschenrechten den Gipfelpunkt dieses modernen Umbruches darstellt, kommt umgekehrt Edmund Burke die Rolle des einsamen Warners zu, der angesichts der konstruktivistischen, formalistisch entleerten Ordnungsbemühungen des Kontinents auf den altliberalen Traditionsbeständen der englischen Verfassung beharrt.28 Auch wenn Rousseau für Strauss eine ambivalente Position einnimmt, so steht doch die von der Revolution angestoßene Entwicklung ganz im Zeichen des naturrechtsvergessenen Liberalismus sowie seiner formalistisch begründeten und individualistisch missverstandenen Autonomievorstellungen. Besonders deutlich jedoch wird die Kritik an der Französischen Revolution bei Eric Voegelin. Die politische Aufklärung und ihre theoretische Verwissenschaftlichung des Politischen sind für Voegelin Ausdruck eines säkularen Erlösungsglaubens, der in seiner konstruktivistischen Radikalität die ethisch-praktischen Einsichten in eine gute Verfassung dem Furor der Machbarkeit geopfert hat. Demgegenüber ist das Bewusstsein von den Voraussetzungen einer guten Ordnung lediglich in der englischen Verfassungstradition und in der amerikanischen Republik präsent geblieben. Bereits in seiner ersten Monographie, die nach einem zweijährigen Amerikaaufenthalt entstand, studierte Voegelin den amerikanischen Pragmatismus

27 Ebd., S. 306f. 28 Ebd., S. 307ff.

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von William James und Charles Sander Pierce.29 Voegelins Neue Wissenschaft von der Politik orientiert sich daher folgerichtig an der französischen Tradition als Negativfolie: „Das angelsächsische Zivilregime [...] überragt an nomothetischer Kunst und praktischem Erfolg alle anderen Verfassungsexperimente der Neuzeit: für die nachmittelalterlichen, modernen Gesellschaften sind seine Prinzipien an paradigmatischem Wert den Modellkonstruktionen eines Platon und Aristoteles für die Polis zu vergleichen.“30

Die einzig vertretenen französischen Autoren sind so nur Condorcet und Comte, die als Urheber eines positivistischen, szientifisch verfälschten Politikbegriffs haftbar gemacht werden. Die politische und philosophische Aufklärung erscheint Voegelin daher allein im Zeichen einer wiedergekehrten Gnosis, die in der Neuzeit ihren transzendenten Erlösungsanspruch innerweltlich reformuliert hat.31 Die Französische Revolution gilt damit als Vorläufer der Totalitarismusgeschichte des 20. Jahrhunderts, obgleich weder Rousseau noch Robespierre einer expliziten Analyse unterzogen werden. 3. Materielle gegen formelle Demokratie Die radikaleren Demokratietheorien der sechziger und siebziger Jahre bezogen dort, wo sie den ökonomisch-orthodoxen Strukturdeterminismus zugunsten einer Vorstellung politischer Autonomie hinter sich ließen, die Inspiration ihrer Einheits- und Unmittelbarkeitsutopien über den Umweg des Marxismus aus Jean-Jacques Rousseaus Demokratiebegriff. Im Zentrum der Kritik stand die vermeintliche Reduktion demokratischer Praxis auf parlamentarisch-repräsentative Verfahren. Eine solchermaßen formalistisch enggeführte Demokratie verfehlte in den Augen ihrer Kritiker jedoch das eigentliche Ziel demokratischer Ordnung: eine von Herrschaft gänzlich emanzipierte, autonome und egalitäre Gesellschaft. Diese Debat-

29 Eric Voegelin, Über die Form des amerikanischen Geistes. Tübingen: Mohr, 1928. 30 Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik. München: Fink, 2004 [1959], S. 17. 31 Die Genese des gnostischen Sozialismus aus dem Geist der französischen Aufklärung und dem Positivismus (Voltaire, D’Alembert, Turgot, Condorcet, Comte) wird geschildert bei Eric Voegelin, Die Krise. Zur Pathologie des modernen Geistes. München: Fink, 2008.

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te der „radikalen Demokratie“ wurde dabei von einem antistaatlichen, institutionenkritischen Affekt gegen das politische System geleitet, der bis hin zu einer offenen „Systemopposition“ reichte.32 Gleichwohl nahmen sich die positiv besetzten „materialen“ Alternativen neben der in dunklen Farben gemalten Kritik an der realexistierenden bürgerlichen Formaldemokratie erstaunlich blass aus. Zu den zentralen Topoi gehörten die Identitätsvorstellung von Regierenden und Regierten, das normative Theorem der Herrschaftsfreiheit und der egalitären Interessengemeinschaft sowie die spontanen, im Fließen bleibenden Vergemeinschaftungen durch politische Teilhabe. Das Emanzipationsdenken durch Aufhebung der Entfremdung im „ganz Anderen“33 beließ daher dieses Andere bei aller rationalistisch-szientifischen Überdeterminierung weitgehend im Ungefähren – und trug so dazu bei, seine symbolische Strahlkraft nicht durch profane Konkretisierungen zu brechen. Aus dieser anfänglichen Radikalkritik entwuchs dann aber nach und nach eine gemäßigte Position, die den Widerspruch zwischen institutioneller Ordnung und demokratischer Lebenswelt in eine zivilgesellschaftliche Demokratietheorie überführte. Die Gründe hierfür liegen nicht zuletzt im erfolgreichen Kampf um Mitbestimmung, der angesichts der zunehmenden Präsenz der Bürger in den politischen Entscheidungsdiskussionen ein gewandeltes Repräsentationsverständnis hervorgebracht hat. Wie groß das normative Gefälle zwischen demokratietheoretischem Anspruch und der wahrgenommenen politischen Ordnung ausfiel, zeigt die vielbeachtete Studie Student und Politik: „Demokratie“, so die emphatischen Leitsätze aus der Einleitung, „arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein“.34 Erst also, wenn der Bürger zum Menschen wird – so der Rückgriff auf die bekann-

32 Vgl. Michael Th. Greven, Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre. Opladen u.a.: Budrich, 2011. 33 So die Kritik bei Bernd Guggenberger, Wem nützt der Staat? Kritik der neomarxistischen Staatstheorie. Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 1974, S. 51; Guggenberger kritisiert zudem den ökonomisch-rationalistischen Objektivismus der neomarxistischen Literatur, die über ihren rein instrumentalistischen Politikbegriff im Staat lediglich eine funktionale Struktur erkennen kann. 34 Jürgen Habermas / Ludwig von Friedeburg / Christoph Oeler / Friedrich Welz, Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten. Neuwied: Luchterhand, 1961, S. 15; die theoretische Einleitung wurde von Jürgen Habermas verfasst.

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ten Überlegungen des frühen Marx – kann Demokratie als verwirklicht betrachtet werden. Das Ziel der materialen Demokratie liegt daher in der Abkehr von bloßer Verwirklichung kontingenzbehafteter, willkürlicher Interessen zugunsten „rationaler Autorität“35, die allein dem Allgemeinwohl verpflichtet wäre. Während Rousseau in der liberalkonservativen Deutung Mensch und Bürger als zwei grundsätzlich voneinander geschiedene Möglichkeiten auffasst, den Zustand der als depraviert empfundenen bourgeoisen Gesellschaft entweder (als Mensch) zur Natur oder (als citoyen) zur wahren Polis hin zu überwinden36, so werden diese beiden Alternativen der Identität mit sich selbst im sozialphilosophischen Neomarxismus zu einem einzigen Fluchtpunkt der demokratischen Emanzipation zusammengezogen und zugleich universalistisch überhöht. Zurückgegriffen wird dazu weitgehend unvermittelt auf den republikanischen Transformationsansatz, der politische Teilhabe nicht allein funktional begreift, sondern ihr einen sittlichen Mehrwert für die Entwicklung der Individuen in einem freien Gemeinwesen zuschreibt: „[D]emokratisch wird das Potential dieser Beteiligung in dem Maße sein, in dem es für eine Entwicklung der formellen zur materialen, der liberalen zur sozialen Demokratie politisch wirksam werden, also die politische Entscheidung im Sinne der Verwirklichung einer freien Gesellschaft beeinflussen kann.“37 In der Positionsbestimmung wird auch hier – wie schon in der Darstellung über den Strukturwandel der Öffentlichkeit38 – stark auf Carl Schmitt und dessen Gegenüberstellung eines idealisierten ideengeschichtlichen Soll- und eines gegenwärtigen, ernüchternden Seinszustands der liberalen Demokratie rekurriert.39 Wenngleich in entgegengesetzter politischer Absicht erfolgt doch eine Depotenzierung des Parlamentes und seiner Bedeutung für eine demokratische Ordnung. Legitime Gesetzesentscheidungen können demnach nicht vom Parlament und seinen gewählten Volksvertretern erwartet werden. Die Hoffnung auf eine „effektive Handhabung der parlamentarischen Institution durch das mündige Volk“ ist aufgrund der in 35 Ebd., S. 16. 36 Robert Spaemann, „Natürliche Existenz und politische Existenz“ [1962], in: ders., Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne, Stuttgart: Klett-Cotta 2008, S. 19-46, hier S. 26f. 37 J. Habermas u.a., Student und Politik, S. 55. 38 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1962, Neuauflage Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990. 39 C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage.

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sich abgeschlossenen Funktionslogik des politischen Systems problematisch: „Näher liegt der Gedanke an die Beteiligung von Gruppen, die außerhalb des Parlaments über ein Feld politischer Wirksamkeit verfügen.“40 Damit wandert der normative Fokus von den politischen Institutionen zu den nicht-institutionellen gesellschaftlichen Faktoren demokratischer Ordnung. In diesem Sinne wurde die außerparlamentarische Perspektive von Johannes Agnoli zu einer antiparlamentarischen Radikalkritik zugespitzt, die sich gelungene Demokratie nur noch vage als offenen politischen Kampf im nicht-institutionalisierten Raum vorzustellen vermochte.41 Hinter den Institutionen des Verfassungsstaats stehe so lediglich das Interesse der herrschenden Klasse an der Unterdrückung derjenigen, in deren Namen sie zu herrschen vorgeben. Der legitimitätserzeugende Konsens über die Grundstrukturen der politischen Verfassung stiftet einen „sozialen Frieden“, der jedoch als ideologische Repression von Widerstand gegen Herrschaft entlarvt werden müsse. Dass die staatliche Unterdrückung gesellschaftlicher Antagonismen als „Verlust an Politik“42 bezeichnet wird, zeigt, wie eng Agnoli Carl Schmitt nicht nur in seiner Abneigung repräsentativer Vermittlungsformen, sondern bis hinein in den Begriff des Politischen selbst folgt. Dieser antiliberale Jakobinismus verherrlicht den militanten Konflikt bis hin zum gewaltförmigen Ausnahmezustand: „Nicht Brot und Spiele noch Wahlzettel, sondern die Gewalt hat im Laufe der bisherigen Geschichte soziale Kräfte der Manipulation entzogen und Freiheit verwirklicht.“43 Die repräsentative parlamentarische Demokratie gilt Agnoli daher als repressives System: Die Bürger glauben zwar, frei zu sein, werden aber durch die Inszenierung einer Scheinautonomie manipuliert. Das parlamentarische System fingiert demnach einen vordergründigen Konsens und unterdrückt damit zugleich den offenen Austrag des gesellschaftlichen Grundkonflikts. Worin dagegen wahre Volksherrschaft bestehen könnte, bleibt unklar. Soziale Bewegung steht so unvermittelt gegen institutionelle Statik – eine starre und analytisch ebenso wie normativ unergiebige Frontstellung, die sich in der Diskussion der siebziger Jahre fortsetzen sollte.

40 J. Habermas u.a., Student und Politik, S. 51. 41 Johannes Agnoli / Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1968. 42 Ebd., S. 22. 43 Ebd., S. 30.

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Ihren theoretischen Gipfel erklomm die Debatte über die Krise demokratischer Ordnung in den siebziger Jahren mit der Analyse des spätkapitalistischen Staatswesens bei Claus Offe und Jürgen Habermas: Unter dem Stichwort der „Legitimationsprobleme“ wurde dem politischen System eine neue Aufmerksamkeit zuteil, die sich jedoch in ihrer kritischen Bestandsaufnahme bundesrepublikanischer Praxis vornehmlich auf die Entlarvung scheindemokratischer Prozeduren konzentrierte. Trotz der Überzeichnung von bewusstseinsphilosophisch diagnostizierten Verblendungsund Manipulationszusammenhängen bereiten diese Positionen aber auch den Übergang zu einer demokratietheoretischen und ebenso -praktischen Diskussion vor, aus der angesichts der vielfältigen politischen und sozialen Konfliktsituationen dieser Zeit – der Umweltpolitik, der Gesellschaftspolitik, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Sozialpolitik – zahlreiche zivilgesellschaftliche Beteiligungsformen als neue, allgemein anerkannte Ebene bürgerlicher Teilhabe hervorgingen. Claus Offe setzte den entscheidenden Akzent auf die Kritik des orthodoxen Marxismus, der politische Strukturen lediglich als Ableitungsverhältnis ökonomisches Konflikte deuten kann und hob dagegen das Eigengewicht des Staates hervor: Im „Spätkapitalismus“ gewinne das politische System an Autonomie gegenüber den Bewegungsgesetzen kapitalistischer Produktionsweisen und stehe daher unter dem zunehmenden Druck der Legitimation politischer Entscheidungen: „Die widersprüchliche Erfahrung, dass wachsende Ausschnitte der konkreten Lebensbedingungen zwar durch politisch-administrative Instanzen bestimmt, aber dennoch nicht politisch kontrollierbar sind, erzeugt ein strukturelles Legitimationsproblem.“44 Das „Strukturproblem“ des spätkapitalistischen Staates bestehe daher in der Befriedigung seines selbst erzeugten Begründungsbedarfs – damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit der marxistischen Sozialtheorie von den Bewegungsgesetzen des Kapitals hin zu den Paradoxien politischer Legitimations- und Konsensbeschaffung. Offe beschreibt, wie die staatlichen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft damit in eine neue Abhängigkeit geraten, die jedoch nicht mehr ökonomischer, sondern symbolischer Art ist: Die „Selbstrechtfertigungen [...] können sich Geltung verschaffen nur auf dem Wege manipulativer Organisation politischer Symbole und ihrer Erzeugung einerseits, durch staatliche Repression legi-

44 Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1972, S. 124f.

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timationskritischer Potentiale andererseits“.45 Mit der prekären Überzeugungskraft staatlicher Herrschaft gehe so die Verwaltung nach und nach dazu über, Formen der Legitimitätserzeugung in ihren Planungsablauf einzubauen: Offe zufolge leidet dies aber am Missverständnis demokratischer Legitimation, die verwechselt werde mit einem „Instrumentarium administrativer Öffentlichkeitsarbeit“ zur „Erhaltung und Beschaffung von Massenloyalität“.46 Dagegen komme es darauf an, wirkliche Legitimation durch materiale Demokratie zu ermöglichen, in denen die wahren, demokratisch zu bestimmenden Inhalte über die bloße Form der Entscheidungsfindung gestellt werden. Die „Methodisierung des Demokratiebegriffs“ reduziere Demokratie auf ein bloßes Verfahren. Wenn aber die Form über die Inhalte gestellt wird, so werde mit dieser Scheinlegitimation nur verschleiert, „dass dieses scheinbar inhaltsleere System demokratischer Regeln selbst Klassencharakter hat“.47 Aus dieser marxistischen Kritik der „herrschenden Verhältnisse“ heraus werden jedoch mittelbar eine ganze Reihe von neuen Möglichkeiten demokratischer Artikulation freigesetzt – zumeist aus dem Repertoire der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre – , die erst später als prozedurale Verflüssigung von etablierten Machtverhältnissen eingestuft werden, hier aber noch mit einer substantiellen Annahme materialer versus formaler Demokratie befrachtet sind48: Wahre Demokratie sei so, nach Offe, an dem Kriterium zu beurteilen, „ob die Formen der Beteiligung den Effekt haben, eine Verflüssigung der externen und internen Prämissen asymmetrischer Interessengewichtung zu bewirken, die der politischen Planung im Kapitalismus [...] anhaftet. Wirksame Korrekturen hätten die Etablierung von Gegenmacht-Positionen der Planungsbetroffenen zur Voraussetzung“.49 Zu den Modellen solcher Gegenmacht-Positionen zählt Offe bei aller verbleibenden Skepsis gegenüber einer bloßen Reform politisch-institutioneller Strukturen sowohl das „neighborhood government“ als neuen, kleinräumigen Typ von dezentralisierenden Gebietskörperschaften, als auch Bürgerinitiativen, die

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Ebd., S. 60f. Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. Die materiale Kategorie sollte später bei Habermas in der Rationalität deliberativer Kommunikationsprozesse aufgehen. Aber auch schon bei Offe fungiert das „Selbstbild gesamtgesellschaftlicher Rationalität“ als normatives Fundament seiner Kritik (ebd., S. 151). 49 Ebd., S. 139.

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Kampagnen von Bürger- und Verbraucheranwälten nach dem Vorbild von Ralph Nader in den USA, den Ombudsmann sowie das Modell des Bürgerforums.50 Damit aber öffnet sich die unerwartete Perspektive auf die pragmatischen, zivilgesellschaftlich verfassten Partizipationsformen, die – ohne dass dieses Spannungsverhältnis hier schon explizit in Offes Demokratiebegriff reflektiert würde – den von Rousseau über Marx übernommenen Demokratiebegriff institutionell-prozedural vermitteln und damit seiner Unmittelbarkeits- und Einheitsfiktionen berauben. Die theoretischen Konsequenzen dieses langen Abschieds von Rousseau sollten jedoch erst Ende der achtziger Jahre gezogen werden51 – und auch da nur halbherzig, da die pluralistischen Formen zivilgesellschaftlicher Partizipation auch hier immer noch im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie und nicht als deren immanente Erfordernis gedacht wurden. Diese von Offe aufgeworfenen Fragen sind auch von Jürgen Habermas im Rahmen seiner Sozialphilosophie thematisiert worden – sie entstammen ohnehin dem gemeinsamen Frankfurter Diskussionszusammenhang.52 Auch Habermas arbeitet mit der Dichotomie von formeller und materieller Demokratie. Aufbauend auf Ernst Forsthoffs These vom verwaltungsdominierten, funktionalistischen Leistungsstaat53 erscheint die realexistierende repräsentative Demokratie lediglich als symbolischer Schein der Legitimationsbeschaffung, nicht jedoch als wahre Teilhabe im Zeichen lebensweltlich verankerter Autonomiebedürfnisse. Das „System der formalen Demokratie“ beruht daher auf einem „Legitimationsprozess,

50 Ebd., S. 140ff. 51 Dass es sich bei der Fokussierung auf die radikaldemokratische Seite Rousseaus ohnehin immer um eine einseitige Rezeption handelte, zeigen – neben der wichtigen Monographie von Iring Fetscher 1960 – die editorischen Kontrapunkte aus den siebziger und achtziger Jahren – die beiden wichtigsten davon sind JeanJacques Rousseau, Kulturkritische und politische Schriften, 2 Bde., hrsg. v. Henning Ritter, München: Hanser, 1978 (enthält u.a. die „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, die „Briefe vom Berge oder Rousseau richtet Jean-Jacques“), sowie Heinrich Meier, der mit der kommentierten Edition des Diskurses über die Ungleichheit bei Wilhelm Hennis in Freiburg promoviert wurde (Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l’inégalité, Kritische Ausgabe des integralen Texts, hrsg., übers. u. kommentiert v. Heinrich Meier, Paderborn u.a.: Schöningh, 1984). 52 Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973. 53 Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. München: C.H. Beck, 1971.

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der generalisierte Motive, d.h. inhaltlich diffuse Massenloyalität beschafft, aber Partizipation vermeidet“.54 Dabei ist es rückblickend bemerkenswert, auf welche Weise Habermas gegen die vermeintlich affirmative Position von Niklas Luhmann auf die Kontextbedingungen verweist, die mit den Verfahren auch eine Rationalitätserwartung verbinden lassen.55 Habermas fasst die Frage nach der Legitimationskrise als Problematisierung der normativen Strukturen in der demokratischen Ordnung. Dabei greift er in der Analyse indirekt auf die Positionen von Ernst-Wolfgang Böckenförde und Joachim Ritter zurück, die das Problem sittlich-kultureller Grundlagen, von Tradition und Kultur im modernen Verfassungsstaat gestellt haben.56 Gegen Böckenförde und Ritter behauptet Habermas nun ohne diese explizit zu nennen, dass der bloße Verweis auf die traditionellen Ressourcen normativer Rechtfertigung nicht ausreiche, um das politische Entscheidungssystem mit Legitimation zu versorgen: „Legitimationsdefizit bedeutet, dass sich mit administrativen Mitteln legitimationswirksame normative Strukturen nicht in erforderlichem Maße aufrechterhalten oder herstellen lassen. [...] Der Traditionsbestand selbst entzieht sich dem administrativen Zugriff – administrativ lassen sich legitimationswichtige Überlieferungen nicht regenerieren.“57

Es gibt, so Habermas, „keine administrative Erzeugung von Sinn. [...] Die Legitimationsbeschaffung ist selbstdestruktiv, sobald der Modus der ‚Beschaffung‘ durchschaut wird“.58 Im Zuge der versuchten administrativen Verfügbarmachung traditioneller Geltungsressourcen verlieren diese Traditionen gerade ihre transzendente Geltung, die nicht zuletzt in der lebensweltlichen Distanz zu den instrumentellen Staatsapparaten begründet liegt. Für Habermas bietet sich daher auch kein Ausweg in eine Zivilreligion oder ähnliche stabilisierende Momente, da diese die verlorenen Traditionsgrundlagen nur im Modus der Imitation nachahmend suggerieren. Vielmehr liegt im Augenblick der Erosion von Traditionen die Chance, den

54 J. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 54f. 55 Ebd., S. 138; vgl. dagegen Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983 [1969], sowie die Auseinandersetzung in Jürgen Habermas / Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1971. 56 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ [1967], in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 92-114. 57 J. Habermas, Legitimationsprobleme, S. 70. 58 Ebd., S. 99.

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Legitimationsmodus der politischen Ordnung gänzlich umzustellen auf post-traditionale Rechtfertigungsmechanismen, in denen die Verallgemeinerungsfähigkeit der politisch beanspruchten Normen diskursiv, also durch den kommunikativen Austausch von Argumenten, geprüft wird.59 Wahre, materielle statt bloß formeller Demokratie wäre dann auch hier die unvermittelte Teilhabe am normativen Diskurs politischer Konsensbildung. In dieser Rationalisierungsbemühung der Demokratie durch die diskursive Verfügbarmachung normativer Gründe geht Habermas nun allerdings so weit, ganz im Sinne Rousseaus, jegliche Momente der liberalen Vermittlung des demokratischen Willens zu Rationalitätshindernissen zu erklären: „Dass demokratische Willensbildung in Repression umschlage, wenn sie nicht durch das Freiheit verbürgende Prinzip der Gewaltenteilung in Schranken gehalten werde, ist ein Topos der Gegenaufklärung.“60 Der ungebrochene Demokratiebegriff sperrt sich zudem gegen die Frage nach der angemessenen Rolle von Repräsentanten, die angesichts der „Rückbildung der Demokratietheorie“61 nur als zweitrangiges, normativ ohnehin unbedeutendes Thema behandelt werden kann. 4. Von der verflüssigten Volkssouveränität zum postdemokratischen Souveränitätsverlust Gerade die Frage der Ökologie leitete jedoch in den achtziger Jahren einen Prozess der demokratietheoretischen Konvergenz ein. Die in der Literatur der spätkapitalistischen Legitimationskrise latent enthaltene Demokratietheorie nahm erst Gestalt an, als der marxistische Hintergrund zu verblassen begann und anstelle der radikalen Systemopposition eine breite Vielfalt von sozialen Bewegungen getreten war. Die Frage nach dem Gesamtsystem trat so zurück hinter die politischen Konflikte auf partikularen Politikfeldern, in denen sich die neue Mitsprache der Bürger erproben konnte – eine Erfahrung, die umgekehrt jedoch bald eine demokratietheoretische Diskussion über das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit im demokratischen Verfassungsstaat hervorbrachte. Zwar ist die alte Leitdifferenz zwischen formaler und materialer Demokratie weiterhin zu erkennen – jedoch sind beide Seiten der Unterscheidung durch die Frage nach 59 Ebd., S. 102. 60 Ebd., S. 154. 61 Ebd., S. 169.

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den Geltungsbedingungen formaler und prozeduraler Strukturen vermittelt, wodurch der Blick auf die Erfolgsbedingungen demokratischer Institutionen gerichtet wird. Damit kann eine Ablösung des marxistisch-rousseauistischen Paradigmas von einer zivilgesellschaftlich fundierten pluralistischen Demokratietheorie beobachtet werden. Rousseaus Modell unmittelbarer Demokratie wird nun hingegen überwiegend skeptisch beurteilt: „[D]ie Rousseausche Konstruktion des Gesellschaftsvertrages, in der der Bürger zugleich absoluter Untertan und absoluter Souverän ist, macht von einer unhaltbaren Annahme Gebrauch: der Annahme nämlich, dass der kollektive Souverän wegen eben jener Identität den kollektiven Untertan schonen, d.h. ihm keine ‚unzumutbaren‘, letztlich zur Lösung des Vertrages führenden Gehorsamspflichten aufbürden werde.“62

Die „Analyse der Kontext- und Anwendungsbedingungen des Mehrheitsprinzips“63 legt angesichts der zunehmenden Transnationalisierung wichtiger Entscheidungen ein Dilemma offen: Das Mehrheitsprinzip muss für seine befriedende und legitimierende Wirkung eingebettet sein in eine Gemeinschaft der sich gegeneinander solidarische verhaltenden Rechtsgenossen, deren gemeinsame Identität als Angehörige derselben Nation die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen auch durch die unterlegene Minderheit erlaubt, insofern sie darauf hoffen kann, selbst einmal Mehrheit zu werden. In dem Maße jedoch, wie die zu entscheidenden Fragen – Umweltthemen wie Atomkraft, aber auch wirtschafts- und währungspolitische Fragen – die Grenzen des Nationalstaates zunehmend überschreiten und damit auch für diejenigen relevant werden, die nicht Angehörige des Entscheidungskollektivs sind, wird die Geltung der Mehrheitsregel für Offe problematisch. Diese Konstellation „lässt erkennen, dass die Fiktion einer ‚nationalen Schicksalsgemeinschaft‘ Voraussetzung ist für die legitimitätsstiftende Kraft der Mehrheitsregel, und dass diese Fiktion von der Natur der Entscheidungsthemen, die vom modernen Staat bearbeitet werden müssen, zunehmend unterhöhlt wird“.64 Während Guggenberger in seiner Erinnerung an die vorpolitischen, sozio-kulturellen und sozio-moralischen

62 Bernd Guggenberger / Claus Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1984; Claus Offe, „Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung?“, in: B. Guggenberger / C. Offe, Mehrheitsdemokratie, S. 150-183, hier S. 168. 63 Ebd., S. 178. 64 Ebd., S. 170.

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Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips vor der Gefahr einer „Desinstitutionalisierung der politischen Entscheidungsprozesse“65 warnt und dafür plädiert, „dafür zu sorgen, dass es, auch in der Perzeption aller Entscheidungsbetroffenen, im politischen Normalfall jedenfalls immer nur um die vorletzten, besser noch: vor-vorletzten Fragen geht“66, bleibt Offe im Angesicht dieser Problematik skeptisch gegenüber einer liberalen Einschränkung des Mehrheitsprinzips durch Strukturelemente wie den Föderalismus, Dezentralisierung, Proportionalisierung, Minderheitenschutz durch Quoren, Ausbau von Grundrechten usw. Er schlägt dagegen den umgekehrten Weg einer Ausweitung des Mehrheitsprinzips vor, durch „dass die Gegenstände, Modalitäten und Grenzen der Anwendung des Mehrheitsprinzips selbst zur mehrheitlichen Disposition gestellt, d.h. das Mehrheitsprinzip auf sich selbst angewandt wird“.67 Eine solche Debatte um die richtigen Verfahren könne daher zu einer Stärkung der materialen demokratischen Substanz führen, indem der formale Kern des demokratischen Prinzips selbst zum Gegenstand materialer demokratischer Diskussionen gemacht wird. Diese „reflexive Schleife“68 Offes perpetuiert daher die alte demokratietheoretische Differenz im neuen Gewand der partizipatorischen Bürgergesellschaft: Das Problem der institutionellen Verfahren einer solchen unvermittelten, direktdemokratischen Metadiskussion bleibt jedoch auch dann ungelöst, wenn durch „verfahrensbezogene Mehrheitsabstimmungen zu bestimmten Entscheidungsthemen“ versucht wird, „die Verfahrensentscheidung selbst zu demokratisieren“.69 Wenn zugestanden wird, „dass das Mehrheitsprinzip keineswegs ‚von selbst‘ Gerechtigkeit und Richtigkeit politischer Entscheidungen verbürgt, sondern allenfalls dann, wenn die Frage, ob dies in konkreten Entscheidungslagen unterstellt werden darf, zuvor selbst der mehrheitlichen Prüfung durch die Bürger unterworfen ist“70, dann verbirgt sich hinter dieser reflexiven Schleife eine Verschiebungstendenz von dem pouvoir constitué zum pouvoir constituant, die durch eine Dynamisierung der Verfassungsordnung hinter ihrer recht-

65 B. Guggenberger, „An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie“, S. 184-195, hier S. 191. 66 Ebd., S. 194. 67 C. Offe, Politische Legitimation, S. 179. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 181. 70 Ebd.

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lich-konstitutionellen Mediatisierung hervortreten soll, um innerhalb der konstituierten Ordnung an demokratischer Präsenz zu gewinnen. Noch deutlicher hingegen tritt die ideengeschichtliche Referenzverschiebung bei Jürgen Habermas zutage, der mit der Idee einer prozeduralen Verflüssigung von Volkssouveränität das rousseausche Konzept der volonté générale nun diskursethisch umformt und damit zu einer kantianisch geprägten Rationalisierung des Politischen vorstößt. Mit der Veröffentlichung von Faktizität und Geltung wird hier ein Perspektivwechsel deutlich, der die rechtlichen Strukturen politischer Ordnung nun deutlich aufwertet. Universale individuelle Rechte und demokratische Selbstbestimmung sind nun mehr mit Kant und Rousseau zusammen als gleichursprünglich zu denken.71 Damit nimmt Habermas eine Entwicklung der amerikanischen Sozialphilosophie auf, die im Anschluss an Rawls eine Neubegründung des politischen Liberalismus zum Ziel hatte und hierzu auch die philosophiegeschichtlich einschlägigen Referenzen wie Mill und Kant heranzieht. Gegen eine liberale Verabsolutierung der universalen Rechtsgeltung setzt Habermas allerdings einen demokratietheoretischen Kontrapunkt, indem er Kant nicht einfach an die Stelle von Rousseau setzt, sondern beide miteinander verbinden will. Dieser theoriestrategische Schachzug nimmt das Projekt der Rousseauschen Volkssouveränität aus der Kritiklinie einer partikularistischen Schließung, indem das Autonomieprinzip mit Kant weitergeführt wird und somit an seine Äußerung in der Form universaler Normen gebunden wird. Die dadurch mitunter implizierte Ununterscheidbarkeit von Kant und Rousseau hat aber zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen geführt. Während beispielsweise Helmut Dubiel, Günter Frankenberg und Ulrich Rödel die Pluralisierung und die Verflüssigung der Volkssouveränität zu einer zivilgesellschaftlichen Verfassungstheorie weiterentwickelt haben72, in der auch institutionelle Faktoren wie die Verfassungsgerichtsbarkeit ihren legitimen Platz haben, so ist aus der gleichen Diskussion auch eine radikale Ablehnung jeglicher Formen der verfassungsstaatlichen Fragmentierung und repräsentativer Pluralisierung hervorgegangen, die mit Kant und Rousseau für die Institu-

71 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, S. 50; zur „Gleichursprünglichkeit“ S. 155, zudem S. 599: „Kein autonomes Recht ohne verwirklichte Demokratie.“ 72 Ulrich Rödel / Günter Frankenberg / Helmut Dubiel, Die demokratische Frage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989.

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tion der Verfassungsgerichtsbarkeit keinen demokratietheoretisch begründbaren Platz mehr vorsieht.73 Diese eben auch ideengeschichtlich ausgefochtenen Deutungs- und Legitimationskonflikte der alten Bundesrepublik scheinen jedoch insofern an ihre Ende gekommen zu sein, als die politiktheoretische und auch die demokratietheoretische Diskussion zunehmend Abstand von ihrer Selbstverortung in der Geschichte des Politischen Denkens nimmt und – sei es in Gestalt der empirischen Demokratieforschung, sei es als Fußnote zu Rawls und Habermas – zunehmend selbstreferentiell argumentiert.

73 Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Kant. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992.

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Rezeptionsblockaden und Ladehemmungen im Arsenal der politischen Ideengeschichte. Die Rousseau-Rezeption im Kommunitarismus (Charles Taylor, Benjamin Barber) Martin Oppelt

1. Politische Ideengeschichte heute: Ein Arsenal Die Geschichte der Politischen Ideengeschichte im 20. Jahrhundert kann nur vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Totalitarismus erzählt werden1, insofern der Totalitarismus als Fluchtpunkt aller demokratietheoretischen und demokratiepolitischen Überlegungen frei nach Sartre als der unüberschreitbare Horizont dieses Jahrhunderts gelten muss. Als Teildisziplin der Politikwissenschaft war die Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert daher stets auch Demokratiewissenschaft2, die der Aufklärung über die geistes- und ideengeschichtlichen Grundlagen des Nationalsozialismus ebenso verpflichtet war, wie der Reflektion über die Bedingung der Möglichkeit der Vermeidung eines erneuten Umschlags in totalitäre Herrschaftsformen. Hierfür spielt selbstverständlich die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Totalitarismus eine entscheidende Rolle, ob man also beide als sich einander ausschließende politische Systeme versteht, oder aber als zwei mögliche Ausprägungen von Gesellschaftsformen, die demselben historischen Ursprung entstammen.3 Jenseits des wohl unumstrittenen gesellschaftspolitischen Auftrags der demokratischen Selbstverortung und mitunter Selbstvergewisserung, der (Selbst-) Aufklärung demokratischer Gesellschaften über die eigenen geschichtlichen, politischen und ideellen Fundamente, die seit der „demokra1 Alfons Söllner / Ralf Walkenhaus / Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin: De Gruyter, 1997. 2 Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München: C.H. Beck, 2001. 3 Martin Oppelt / Paul Sörensen, „Totalitarismuskritik ‚mit links‘. Cornelius Castoriadis und Claude Lefort“, in: Frank Schale / Ellen Thümmler (Hrsg.), Den totalen Staat denken, Baden-Baden: Nomos, 2015, S. 157-178.

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tischen Revolution“ (Tocqueville) freilich nur als vorläufig, prekär und damit stets umstritten verstanden werden dürfen4, befindet sich das Fach dabei immer schon in Selbstfindungsdebatten um seine Funktionen und Methoden an der Schnittstelle von Geistes- und Sozialwissenschaft, Geschichte, Gesellschaft, Wissenschaft und Politik. Nicht erst seit dem „Ende der großen Erzählungen“5 steht die politische Ideengeschichte dabei stärker als andere Teildisziplinen der Politikwissenschaft unter einem gewissen Legitimationsdruck, der von einer schleichenden Marginalisierung in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung wenn nicht verstärkt, dann doch begleitet wird. Dies mag damit zusammenhängen, dass man das Phänomen des Totalitarismus seit dem vielfach zitierten „Ende der Geschichte“ mit dem Zusammenbruch des Systemgegensatzes zwischen Ost und West nach 1990 als historisch überwunden und durch die weltweite Ausbreitung der liberalen Demokratie als hinreichend verunmöglicht ansieht.6 Dass dies eine historisch fahrlässige Perspektive ist, sollte sich vor allem für die Disziplin der Politischen Theorie und Ideengeschichte von selbst verstehen. Und dennoch zeitigt das dominante Bild von liberalen Demokratien als „panic rooms“7 gegenüber der stets präsenten totalitären Gefahr auch Konsequenzen innerhalb des Fachs, die hier unter dem Begriff der Rezeptionsblockaden gefasst im Fokus stehen und anhand der RousseauRezeption im Kommunitarismus, genauer der politischen Theorien Charles Taylors und Benjamin Barbers, illustriert werden. Inwiefern dies problematisch ist und zu „Ladehemmungen“ in den Momenten führen kann, in denen politische Theorien in gesellschaftspolitischen Debatten Anwendung finden sollen, wird deutlich, wenn man sich die politische Funktion von Ideengeschichte vor Augen führt. Laut Harald Bluhm kann man drei Varianten von politischer Ideengeschichte unterscheiden: aktualisierende, kontextualisierende und jene Ansätze, die auf die Beantwortung ewiger Fragen und Probleme abheben, wobei in der Realität meist Mischformen auftreten, insofern jede Ideenge-

4 Oliver Marchart: „Demokratischer Radikalismus und radikale Demokratie. Historisch-programmatische Anmerkungen zum Stand politischer Theorie“, Berliner Debatte Initial, 26/4, 2015, S. 21-32. 5 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Passagen, 2009. 6 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?. München: Kindler, 1992. 7 M. Oppelt / P. Sörensen, „Totalitarismuskritik ‚mit links‘“, S. 175.

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Rezeptionsblockaden und Ladehemmungen

schichte Gegenwartsbezug habe und keine ohne historische Gründe auskomme.8 Weiter wurde die Politische Ideengeschichte nach ihren Funktionen, etwa in ein Lagerhaus politischer Probleme und deren Lösungen, ein Medium methodischer Schulung und ein Hilfsmittel der Prognose unterschieden.9 Dieses Bild übersetzte Herfried Münkler in die Funktionen des Archivs, in welchem politische Ideen konserviert werden, und des Laboratoriums, wohin diese zu überführen und vor Anwendung in „realen“ Kontexten intellektuell auf ihre Brauchbarkeit zu testen seien.10 Marcus Llanque – auf den Kampf politischer Ideen um Deutungshoheit beziehungsweise gesellschaftspolitische Kämpfe um Hegemonie unter Zuhilfenahme politischer Ideen abhebend – rüstete das Laboratorium schließlich zu einem Arsenal um.11 Die Frage der „Lösung“ von gesellschaftlichen oder politischen Problemen, wie sie im Bild des Laboratoriums zumindest implizit noch anklingt, ist damit im strengen Sinne abgeschafft worden, insofern das Bild des Arsenals nicht auf „Wahrheit“, sondern auf den siegreichen Kampf abhebt.12 Politische Ideengeschichte wird damit nicht als von gesellschaftlichen und politischen Gesamtzusammenhängen abgeschottetes Experimentieren im vermeintlich vorpolitischen Feld, sondern als ein Kampf um Ideen und ein Kampf der Ideen um Deutungshoheit im Handgemenge gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen konzipiert und adressiert.13 Eine prinzipielle Herausforderung für jede sich in

8 Harald Bluhm, „Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Einleitung“, in: ders. / Jürgen Gebhardt (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden: Nomos, 2006, S. 9-29, hier S. 19. 9 Klaus von Beyme, Politische Ideengeschichte. Probleme eines interdisziplinären Forschungsbereiches. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1969. 10 Herfried Münkler, „Politische Ideengeschichte“, in: ders. (Hrsg.), Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2003, S. 103-131. 11 Marcus Llanque, Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse. München/Wien: Oldenbourg, 2008, S. 1-11. Ders., „Hermann Heller als Ideenpolitiker. Politische Ideengeschichte als Arsenal des politischen Denkens“, in: ders. (Hrsg.), Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden: Nomos, 2010, S. 93-116. 12 Marcus Llanque, „Ideenpolitische Interventionen im Archiv der Ideengeschichte. Die diskursive Klassizität von Texten und ihr Kanon“, in: Walter Reese-Schäfer / Samuel Salzborn (Hrsg.), „Die Stimme des Intellekts ist leise“. Klassiker/innen des politischen Denkens abseits des Mainstreams, Baden-Baden: Nomos, 2015, S. 41-58. 13 Samuel Salzborn, Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext. Baden-Baden: Nomos, 2015.

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diesem Sinne als politisch verstehende Ideengeschichte liegt daher, noch einmal mit Harald Bluhm, darin, „grundlegende theoretische Alternativen mit Blick auf Gegenwartsdiagnosen fruchtbar zu machen“.14 Damit ist es umso wichtiger, darauf hinzuweisen, dass auch die Idee der Politischen Ideengeschichte als Archiv und Arsenal zu dem Missverständnis voneinander getrennter Funktionsbereiche führen könnte, die einem die Entscheidung oder Zuordnung abverlangt. Die politische Ideengeschichte sollte vielmehr als ein Arsenal politiktheoretischer „Waffensysteme“ verstanden werden, die nach bestimmten archivarischen Prinzipien gelagert, gelistet und gewartet werden und auf die von Teilnehmer*innen an politischen Deutungskämpfen zurückgegriffen wird. Die Verschlagwortung, nach der das Arsenal sortiert wird, ist dabei entscheidend für die jeweilige Wahl der Waffen, die bei entsprechender Anfrage für einen Deutungskampf ausgegeben werden und die wiederum Auswirkungen auf die Erfolgsaussichten eines jeden Deutungskampfes haben. Damit wird der Kanon des politischen Denkens zur Arena identitätspolitischer Auseinandersetzungen, zum Kampfplatz um die Interpretation und gegebenenfalls Transformation historisch kontingenter, faktisch jedoch unumstritten existenter, wirkmächtiger institutionalisierter Ordnungen und um die über den Lauf der Geschichte mit Autorität und Legitimität aufgeladenen Traditionen, Narrative, Normen und Werte einer Gesellschaft, welche die Institutionen mit Sinn ausstatten. Der Kanon des politischen Denkens ist also nicht einfach nur historisch angehäufter und geerbter Besitzstand, sondern eine „institutionell anerkannte und curricular sedimentierte hegemoniale Diskursformation, mit der die umstrittenen Grenzen des Sag- und Denkbaren in Bezug auf politische Wert und Ordnungsvorstellungen befriedet werden sollen. Inhalte und Grenzen gehen aus diskursiv-politischen Kämpfen hervor, die als Kämpfe nie endgültig stillzulegen sind, insofern sie in breitere soziale und politische Konfliktkonstellationen eingebettet sind“.15

14 H. Bluhm, Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert, S. 15. 15 Oliver Marchart, Ankündigungstext „Im Schatten des Kanons – Auf dem Weg zu einer alternativen politischen Ideengeschichte“, Workshop am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien am 2.12.2016.

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2. Rezeptionsblockaden: Ladehemmungen im Arsenal Gerade vor dem Hintergrund des demokratischen Kampfes gegen den Totalitarismus muss eine Geschichte der Ideengeschichte im 20. Jahrhundert dann also das So-Gewordensein des eigenen Kanons, sprich Strategien und Dynamiken der Kanonisierung, stets in den Blick nehmen. Die beständige Neusortierung des Arsenals ist dabei eine wesentliche Aufgabe der Politischen Ideengeschichte, zugleich aber selber immer Bestandteil von Deutungskämpfen und sollte als solcher zum Gegenstand einer Geschichtsschreibung der Ideengeschichte werden. Diesen Aspekt scheint die Politische Ideengeschichte mitunter zu vernachlässigen.16 Wo aber die Ordnung des Arsenals nicht als das Ergebnis politischer Deutungskämpfe adressiert wird, wird sie auch nicht mehr wirklich angetastet. Folglich lässt man vor allem die Säulenheiligen stehen wo sie sind und beraubt sie so mitunter der Möglichkeit ihrer Aktualisierung in gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen. Hierfür stellt die Rezeption der Politischen Theorie Jean-Jacques Rousseaus im 20. Jahrhundert ein herausragendes Beispiel dar. Um im Bild zu bleiben, wird Rousseau im Arsenal der politischen Ideengeschichte eher in einer Glasvitrine ausgestellt, als dass er zum laufend angefragten Bestand zählt. In dieser Vitrine bekommt man ihn, während man auf die Ausgabe der Waffen wartet, als interessante, zwiespältige, traurige und irgendwie wichtige Persönlichkeit vorgestellt und kann seine politische Theorie als gut gemeinte, aber historisch überholte und letztlich völlig über das Ziel hinausschießende Kuriosität bestaunen. Ab und an, an Festtagen und Jubiläen, wie etwa vor ein paar Jahren dem 250. Geburtstag des Contrat social, wird die Vitrine dann vielleicht geöffnet, das historische Relikt mit Samthandschuhen herausgeholt und vorsichtig herumgereicht, um es einer interessierten und ob der Grausamkeiten seiner Folgen faszinierten und schaudernden Öffentlichkeit zu präsentieren, es dann aber alsbald wieder unversehrt wegzusperren und sicher zu verwahren. Ein Blick in gegenwärtige politiktheoretische und gesellschaftspolitische Debatten zeigt dann die Folgen eines solchen Umgangs mit so genannten klassischen Theorien, insofern Rousseau hier nicht relevant, weil

16 Eine Ausnahme hierzu: Reinhard Heil / Andreas Hetzel / Dirk Hommrich (Hrsg.), Unbedingte Demokratie. Fragen an die Klassiker neuzeitlichen politischen Denkens, Baden-Baden: Nomos, 2011. Außerdem W. Reese-Schäfer / S. Salzborn (Hrsg.), „Die Stimme des Intellekts ist leise“.

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nicht anschlussfähig zu sein scheint. Dies, so die hier vertretene These, liegt daran, dass sich nach über 250 Jahren Wirkungsgeschichte die Verschlagwortung Rousseaus im Arsenal der politischen Ideengeschichte auf die Alternativen „Totalitarismus oder Liberalismus“ beschränkt, wobei die hegemoniale Interpretation ihn als proto-totalitären Denker ausweist. Diese Lesart leitet selbst wohlmeinende Zugriffe auf seine Theorie an, was nun aber nicht nur für Rousseaus Theorie bedauerlich und folglich eine Frage für Rousseau-Exeget*innen ist, sondern zum demokratiepolitischen Problem wird, sobald solche hegemonialen Interpretationen zu Rezeptionsblockaden werden und so zu Verknappungen und Leerstellen in gesellschaftspolitischen Debatten um die Herausforderungen, Gefahren und möglicherweise nötigen Transformationen der Demokratie führen. Der im Fall Rousseaus fast schon als Mumifizierung zu bezeichnende Umgang mit seiner einst so wirkmächtigen politischen Theorie führt zur Marginalisierung Rousseaus und dessen Ausschluss aus gegenwärtigen demokratietheoretisch wie demokratiepolitisch relevanten Debatten, was als Folge einer erfolgreichen Delegitimierungsstrategie seitens des liberalen politischen Denkens interpretiert werden kann. Durch den Einzug von Rezeptionsblockaden sorgt es für Ladehemmungen im Arsenal, die wie ein Sperrriegel gegen radikalen gesellschaftlichen und politischen Wandel funktionieren und die liberale Hegemonie über das Arsenal sichern sollen. Erfolgreich ist eine solche Strategie dann, weil sie bestimmt, mit welchen Theorien, beziehungsweise mit welchen Interpretationen von Theorien, sich demokratische Gesellschaften für ihre Selbstverortungsdebatten bestücken können. So scheiben sie die Ordnung des Arsenals als unverrückbar fest und verbergen dabei zugleich ihren Status als Teilnehmer eines politischen Deutungskampfes. Somit fungieren also die Kategorien „Totalitarismus“ und „Liberalismus“, beziehungsweise „Liberalismuskritik“, unter denen Rousseaus Politische Theorie im Arsenal geführt wird, als Rezeptionsblockaden. Diese schränken die oben erwähnte Funktion der politischen Ideengeschichte, grundlegende theoretische Alternativen mit Blick auf Gegenwartsdiagnosen fruchtbar zu machen, erheblich ein und bergen so in aller Konsequenz das Potential, zur Schließung des politischen Blickfelds und somit zu der auch in modernen Demokratien stets drohenden totalitären Gefahr beizutragen. Die Analyse von Rezeptionsblockaden hat methodische Konsequenzen. Wenn nämlich die Politische Ideengeschichte untersucht, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht eine Autorin an eine bestimmte Tra326

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dition anknüpft, oder eben auch nicht, und folglich „die Frage nach den Referenzautoren […] die Frage ein(schließt), welche nicht-rezipierten Autoren zur Verfügung gestanden hätten“17, dann muss dies gerade unter Berücksichtigung des oben gesagten auch die Frage mit einschließen, welche Rezeptionsalternativen mit Blick auf das Werk eines Referenzautoren vorhanden gewesen wären. Wenn die Politische Philosophie und mit ihr die Politische Theorie und Ideengeschichte schließlich zurück ins „Zentrum des öffentlichen Lebens“ (centre de la cité) geführt werden sollen, von wo sie in die „schönen Viertel des Formalismus“ (les beaux quartiers du formalisme) und in die „Wälder des Daseins“ (les forêts de l’Être) hinausgetrieben worden sind18, müssen sie sich mit Gérard Raulet wieder auf die ihnen ureigene Aufgabe der Erforschung radikaler Alternativen zu bestehenden Ordnungsmodellen besinnen und dafür die „allgemeine Verunsicherung der normativen Grundlagen“ mit „radikalen Fragestellungen“ in Verbindung bringen.19 Dass dies aber nur eingeschränkt möglich ist, wo Rezeptionsblockaden im Kanon als Sperrriegel gegen radikalen Wandel fungieren und zu Ladehemmungen im Arsenal der Ideengeschichte führen, soll im Folgenden illustriert werden. 3. Die Rousseau-Rezeption im Kommunitarismus (Taylor und Barber) Die Wirkung von Rezeptionsblockaden lässt sich anhand der Rezeption der Politischen Theorie Jean-Jacques Rousseaus im Kommunitarismus illustrieren. Diese Denkströmung kam in den 1980er und 1990er Jahren zu einiger Prominenz im Rahmen der so genannten Kommunitarismus-Liberalismus Debatte, welche mit der Veröffentlichung von John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ begann und im engen Sinn bis zu den jüngsten, die Debatte retrospektiv einordnenden und bewertenden Publikationen, andauerte.20 Gleichzeitig ist deren Bedeutung nicht auf diesen Zeitraum zu be-

17 M. Llanque, Politische Ideengeschichte, S. 9. 18 Pierre Manent, „Vers l’œuvre et vers le monde. Le Machiavel de Claude Lefort“, in: Claude Habib / Claude Mouchard (Hrsg.), La démocratie à l’œuvre, Paris: Éditions Esprit, 1993, S. 169-190, hier S. 171. 19 Gérard Raulet, „Aufgaben und Selbstverständnis der politischen Philosophie heute“, in: ders., Republikanische Legitimität und politische Philosophie heute, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2012, S. 9-27, hier S. 15f. 20 Für einen Überblick siehe die Beiträge in Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften,

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schränken, da sie an die Grunddebatte der Politischen Theorie und Ideengeschichte um das angemessene Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat und den entsprechend anzuwendenden Verständnissen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit anschließt, wie sie etwa auch im gegenwärtig breit diskutierten Denken der Radikaldemokratie geführt wird. Mit Blick auf Rousseau kann sie aber exemplarisch für die Funktionsweise diskursiver Rezeptionsblockaden herangezogen werden, insofern die hegemonialen Interpretationsalternativen „Totalitarismus oder Liberalismus“ beziehungsweise „Liberalismuskritik“ die Debatte begleiteten und dazu beitrugen, den Transfer der Politischen Theorie Rousseaus in den anschließenden Diskurs der Radikaldemokratie zu verhindern. Im Folgenden soll auf die Rezeption Rousseaus im kommunitaristischen Denken Charles Taylors und Benjamin Barbers fokussiert werden. Zwar existiert auch eine Tradition der affirmativen Auslegung der Politischen Theorie Rousseaus als grundlegend für das liberale politische Denken, doch spielt diese in der Auseinandersetzung zwischen Kommunitariern und Liberalen keine Rolle.21 Rawls selber kündigte nun zwar noch an, die Vertragstheorie – unter anderem die Rousseausche – auf ein neues Abstraktionsniveau zu heben22, nahm jedoch im weiteren Verlauf der Argumentation keinen weiteren Bezug mehr auf diesen. Die zweite Welle der Debatte, die auch als liberale Gegenoffensive gegen Michael Sandels kommunitaristisch inspirierte Kritik an Rawls seitens Autor*innen wie Brian Barry, Charles Larmore, Seyla Benhabib, Amy Gutman, Ronald Dworkin, Bruce Ackerman oder Will

Frankfurt a.M./New York: Campus, 1993. Außerdem Bert van den Brink / Willem van Reijen (Hrsg.), Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995. Ottfried Höffe: „Der Kommunitarismus als Alternative? Nachbemerkungen zur Kritik am moralisch-politischen Liberalismus“, Zeitschrift für philosophische Forschung, 50/1996, I/2, S. 92-112. Hans Vorländer: „Dritter Weg und Kommunitarismus“, Aus Politik und Zeitgeschichte, 16-17/2001, S. 16-23. Walter Reese-Schäfer, Kommunitarismus. Frankfurt a.M.: Campus, 2001. Michael Haus, Kommunitarismus. Einführung und Analyse. Wiesbaden: Springer, 2003. Walter Reese-Schäfer (Hrsg.), Handbuch Kommunitarismus, Wiesbaden: Springer, 2018. 21 Zur in diesem Sinne liberalen Auslegung Rousseaus als Vordenker individueller Freiheit und persönlicher Autonomie siehe Martin Oppelt, Gefährliche Freiheit. Rousseau, Lefort und die Ursprünge der radikalen Demokratie. Baden-Baden: Nomos, 2017, S. 77-87. 22 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S. 27f.

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Kymlicka bezeichnet werden kann23, verzichtete komplett auf Rousseau als ideenpolitischen Gewährsmann.24 Die hegemoniale Interpretation Rousseaus, die diesen als proto-totalitären Denker im Arsenal der politischen Ideengeschichte verankerte, lässt sich bis zu Benjamin Constant zurückverfolgen, der bereits 1819 konstatierte, dass dessen Werk dem Jakobinischen Tugendterror theoretisch wie praktisch den Weg geebnet habe.25 Die damit einhergehende Rezeptionsblockade, die selbst kommunitaristischen Zugriffe wie die Taylors und Barbers mitbestimmt, geht jedoch auf Jacob L. Talmon zurück, der Rousseau erfolgreich als Ahnherren „totalitärer Demokratien“ auswies.26 Bertrand Russell brachte diese Perspektive in extremer Zuspitzung wie folgt auf den Punkt: „Rousseau […] ist der Erfinder der politischen Philosophie pseudo-demokratischer Diktaturen […] In unserer Zeit war Hitler eine Folgeerscheinung Rousseaus; hinter Roosevelt und Churchill stand der Geist Lockes […]. [Rousseaus] Lehren zielen auf die Rechtfertigung des totalitären Staates ab, wenn sie auch scheinbar der Demokratie das Wort reden.“27

Wo eine affirmative Rezeption Rousseaus seitens liberaler Theorien also möglich gewesen wäre, aus verständlichen Gründen aber nicht unbedingt attraktiv war, sollte man für kommunitaristische Ansätze das Gegenteil annehmen dürfen, für jene zumal, die explizit auf Rousseau zugreifen. Wenn Kommunitarier schließlich jenseits der geteilten Kritik an atomistischen liberalen Gerechtigkeits- und Gesellschaftstheorien und bei allen inhaltli-

23 Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge, Mass.: Cambridge University Press, 1982. 24 Zur Debatte siehe Rainer Forst, „Kommunitarismus und Liberalismus. Stationen einer Debatte“, in: Axel Honneth, Kommunitarismus, S. 181-212. 25 Benjamin Constant, „Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der Heutigen. Rede vor dem Athénée Royale in Paris“, in: Ders., Politische Schriften. Ausgewählt, eingeleitet, ergänzend übertragen und kommentiert von Lothar Gall (= Werke in vier Bänden, vierter Band, herausgegeben von Alex Blaeschke und Lothar Gall), Berlin: Propyläen, 1972, S. 363-396. 26 Jacob L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie. Drei Bände, hrsg. von Uwe Backes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. Siehe auch Alfons Söllner, „Re-Reading Rousseau in the 20th Century – the Reception by Franz L. Neumann, Jacob L. Talmon und Ernst Fraenkel“, in: Oliver Hidalgo (Hrsg.), Der lange Schatten des Contrat Social. Demokratie und Volkssouveränität bei Jean-Jacques Rousseau, Wiesbaden: Springer, 2013, S. 211-227. Außerdem M. Oppelt, Gefährliche Freiheit, S. 62-77. 27 Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes. München: Piper, 2004, S. 693.

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chen Unterschieden die gemeinsame Position vertreten, dass gesellschaftliche Integration nur über eine gemeinsame Auffassung des Guten und deren Einbettung in ein geteiltes Ethos funktionieren kann, Legitimität und Stabilität jeder Gemeinschaft gleichermaßen der politischen Partizipation der Bürger*innen wie derer Identifikation mit dem Gemeinwesen und einer allgemein geteilten Vorstellung eines Gemeinwohls bedürfen, drängt sich Rousseau ja geradezu als Gewährsmann auf. Rousseau wie kommunitaristische Theorien sehen beide eine gewisse Homogenität innerhalb der Bürger*innenschaft als wichtige Voraussetzung gelungener Selbstregierung an. Nur wo die Bürger*innen gewisse Merkmale teilten, seien Eintracht und Harmonie möglich, erst die concordia im Sinne eines Gleichklangs der Herzen erlaube schließlich kollektives Handeln. Wo moderne Bürger*innen auf die Rolle der permanenten Beobachterin, die sich höchstens noch sporadisch engagiert, festgelegt werden, führt dies zu der von Rousseau befürchteten Passivität durch einen weitgehend entkoppelten Staatsapparat, wie sie auch das kommunitaristische Denken problematisiert und kritisiert. So habe sich die Vorstellung der Bürgerin als Ausdruck eines vertikalen Rechtsverhältnisses des Individuums zum Staat durchgesetzt, die unverbunden nebeneinander stünden und für die politische Partizipation in actu keine Bedeutung mehr hat.28 Taylors und Barbers Zugriffe auf Rousseau aber sind von der hegemonialen liberalen Interpretationstradition bestimmt und folglich von Rezeptionsblockaden gehemmt. 3.1. Charles Taylor liest Rousseau29 Charles Taylor wird dem kommunitaristischen Denken zugerechnet und vertritt die rousseauistische These, wonach ein politisch aktives Leben Bedingung wie Ausdruck der Freiheit in politischen Gemeinschaften ist und folglich eine gewisse Identifikation der Bürger*innen mit ihrem Gemein-

28 Marcus Llanque, „Der republikanische Bürgerbegriff. Das Band der Bürger und ihre kollektive Handlungsfähigkeit“, in: Thorsten Thiel / Christian Volk (Hrsg.), Die Aktualität des Republikanismus, Baden-Baden: Nomos, 2016, S. 95-123, hier S. 112f. 29 Die folgenden Erkenntnisse entstammen einem Aufsatz, den ich an anderer Stelle über Taylors Rousseau-Rezeption veröffentlicht habe: Martin Oppelt, „Zwischen Authentizität und totalitärem Terror. Charles Taylor liest Rousseau“, in: Ulf Bohmann (Hrsg.), Wie wollen wir leben? Das politische Denken und Staatsverständnis von Charles Taylor, Baden-Baden: Nomos, 2014, S. 21-39.

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wesen erfordert.30 Dass eine politische Gemeinschaft zudem nur so auf Dauer Bestand haben kann, hält er auch in liberalen Gesellschaften für gültig und nimmt insofern eine gewisse Zwischenposition in der Debatte zwischen Liberalen und Kommunitariern ein31, die er auf die Formel des „liberalen Patriotismus“ brachte.32 Bereits in seinem Hegel-Buch nahm er jedoch eine zwiespältige Haltung gegenüber Rousseau ein. So würdigte er ihn dort einerseits als ideengeschichtliche Inspirationsquelle für Kants „radikal freie moralische Subjektivität“33 und attestierte ihm zudem ein Verständnis von Freiheit als Abwesenheit persönlicher und willkürlicher Abhängigkeitsverhältnisse, wie es auch Hegel zu Eigen gewesen sei.34 Taylor verteidigte Rousseau hier sogar gegen Hegels Attacke, wonach Rousseaus „Traum absoluter Freiheit“ ebenso eine Unmöglichkeit darstelle, wie dessen Forderung nach der gleichen Beteiligung aller Staatsbürger*innen an der Gesetzgebung. Wo laut Hegel Rousseaus „undifferenzierte Homogenität des aus dem allgemeinen Willen geflossenen Staates“ zwangsläufig in Tyrannei und Terror führen müsse und es in einem Staat nach dem Vorbild Rousseaus daher niemanden verwundern dürfe, wenn dort diejenigen, die sich der Anpassung an den allgemeinen Willen verweigerten35, liquidiert würden und durch die Hand des Staates den „kältesten, plattesten Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhauptes oder ein Schluck Wasser“ stürben, kritisiert Taylor dies als ungerecht, da verkürzt, insofern Rousseaus volonté générale ausdrücklich mehr als die Summe aller einzelnen Willen sei.36 Folglich müsse das Streben nach dem Ideal absoluter Freiheit keinesfalls notwendig, wie von Hegel behauptet, zu dem sich in der „Mobaktion“ der jakobinischen Schreckensherrschaft „austobenden Rousseau“ führen.37 Taylor hob dabei explizit hervor, dass

30 Zur Politischen Theorie Charles Taylors siehe Hartmut Rosa, „Die Politische Theorie des Kommunitarismus: Charles Taylor“, in: André Brodocz / Gary S. Schaal (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart II, Opladen: UTB, 2009, S. 65-98. 31 Charles Taylor, „Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus“, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, S. 103-130. 32 Charles Taylor, Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 162. 33 Charles Taylor, Hegel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997, S. 49. 34 Ebd., S. 249. 35 Ebd., S. 89. 36 Ebd., S. 250. 37 Ebd., S. 594.

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Rousseau auch als liberaler Denker gelesen werden kann und nannte diesen an anderer Stelle in einem Atemzug mit Montesquieu und Tocqueville als Vertreter der „modern liberal democratic tradition“.38 Zugleich aber kritisierte Taylor an Rousseaus radikalem Freiheitsverständnis, dass diese eine sozialen Homogenität ebenso voraussetze, wie zur Folge habe, was mit den für jede menschliche Identität konstitutiven kulturellen, sprachlichen, religiösen, ethnischen und konfessionellen Differenzen im „nachromantischen Klima“ nicht vereinbar sei. In seinem Hauptwerk Quellen des Selbst rezipierte Taylor Rousseau zunächst als Fackelträger einer „psychologischen Revolution“ der Entdeckung des eigenen Selbst, welche den Beginn des modernen Denkens radikaler Autonomie markiere, wie es sich von Kants kategorischem Imperativ über Fichte, Hegel und Marx bis heute dem Diktat angeblich unveränderlicher Gegebenheiten und unaufhaltsamer Teleologien in Geschichte, Natur, Religion oder Tradition verweigere und das auf ein selbstbestimmtes Leben, den Erhalt und die Ausweitung individueller Freiheit abziele.39 Jedoch belegte Taylor Rousseau hier erstmals auch mit dem von Jacob L. Talmon geprägten Begriff des „politischen Messianismus“.40 Rousseaus Werk sei nicht nur Quell alternativer politischer Vorstellungen gegen das Ancien Régime gewesen, sowie Arsenal der Kritik an den modernen, bürokratischen Industriegesellschaften, auf das etwa Schiller, Tocqueville, Humboldt oder Marx zugegriffen hätten. Zugleich habe sich vielmehr auch der moderne Nationalismus aus dem Denken Rousseaus gespeist und im Rückgriff auf Rousseaus Volkssouveränität eine nicht zu leugnende „hässliche“ Seite offenbart, die chauvinistische Appelle an eine nationale Identität mit militärischem Machtstreben kombinierte und deren extremste Ausprägung das nationalsozialistische Deutschland darstellt.41 In seinem Essay „Die Politik der Anerkennung“ schließlich macht Taylor Rousseaus Konzeption des Gemeinwillens als Problem und Gefahr aus, und damit in dem Moment, in dem er über die politisch-praktische Umsetzung seiner theoretischen Grundüberzeugungen zu reflektieren be-

38 Ders., Philosophy and the Human Sciences. Philosophical Papers. Vol. 2, Cambridge: Cambridge University Press, 1985, S. 310. 39 Ders., Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, S. 633. 40 Ebd., S. 672. 41 Ebd., S. 724.

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Rezeptionsblockaden und Ladehemmungen

gann.42 Nun wurde Rousseaus Forderung nach der kollektiven Unterordnung unter die Herrschaft des Gemeinwillens für Taylor zur Formel „für die schrecklichsten Formen homogenisierender Tyrannei – angefangen bei den Jakobinern bis hin zu den totalitären Regimen unseres Jahrhunderts“.43 Deutlich schwenkte Taylor hier also auf die Interpretationslinie Talmons ein, Rousseau diente ihm in der Folge nur noch als Kontrastfolie, vor der er sein Modell einer „Politik der allgemeinen Menschenwürde“ entwirft, das im Gegensatz zu Rousseaus nun gerade nicht „in [...] Homogenisierung“ münde. Konsequent blendete Taylor alternative, von ihm selbst zuvor noch identifizierte Interpretations- und Rezeptionsmöglichkeiten von Rousseau aus. Vor dem Hintergrund seiner kommunitaristischen Grundüberzeugungen lässt sich dieser Zugriff nur so erklären, dass Taylor in vorauseilendem Gehorsam gegen die dominanten liberalen Lesarten Rousseaus diesen zu opfern scheint, um seinen eigenen Ansatz gegen die liberalen Vorbehalte zu immunisieren, die republikanische und kommunitaristische Ansätze als modernitätsvergessen, freiheitsgefährdend und realitätsfremd brandmarken. So inspiriere Rousseaus Werk laut Taylor bis in die Gegenwart hinein diejenigen Demokratiekonzeptionen, die mittels der Kritik an Unterdrückungs- und Machtverhältnissen die „verborgene Einmütigkeit“ von Gesellschaften freilegen wollen.44 Den leninistischen Marxismus bezeichnete er unzweideutig als „geschichtsmächtigstes Erbe“45 der Demokratietheorie Rousseaus und zugleich als eine der „Hauptursachen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert“.46 Im Manifest der Kommunistischen Partei Marx’ und Engels’ will Taylor gar einen Rousseau entlehnten „Gemeinwillen des Proletariats“ erkannt haben, den der Leninismus dann nur noch an die Rolle der Partei als Avantgarde zu knüpfen brauchte, um Rousseaus volonté générale „in Gestalt von Regimen, die die Unterdrückung in wahrhaft gigantischen Dimensionen systematisierten“, zum Leben zu erwecken.47 Rousseau sei folglich unlösbar verknüpft mit der „traurigen Geschichte des Sozialismus“ des zwanzigsten Jahrhunderts und der untauglichen „Illusion“ einer volonté générale als

42 Ders., „Die Politik der Anerkennung“, in: Ders. (Hrsg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009, S. 11-66. 43 Ebd., S. 37. 44 Ders., Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, S. 17. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 64. 47 Ebd., S. 18.

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handlungsanleitendes Prinzip für demokratische Gemeinwesen.48 Dies ist insofern bemerkenswert, als Taylor ein paar Jahrzehnte zuvor selbst noch Isaiah Berlins Verständnis negativer Freiheit dafür kritisiert hatte, positive Freiheitskonzeptionen pauschal als „links-totalitäre Theorie“ zu verunglimpfen, laut der man gezwungen werden könne, frei zu sein.49 Einen solchen Vorwurf an sämtliche Konzeptionen positiver Freiheit zu adressieren käme einer absurden Karikatur gleich, die selbst die Theorien Alexis de Tocquevilles und John Stuart Mills einbeziehen müsste. Zwanzig Jahre später schien Rousseau bei Taylor nun selber zur Karikatur geworden zu sein, zu der Talmon die Vorlage lieferte. Durch die Übernahme der Interpretation Rousseaus als proto-totalitärer Denker kaufte sich Taylor damit den Sperrriegel der Rezeptionsblockade Rousseaus ein und verbaute sich so die Möglichkeit eines produktiven Zugriffs auf dessen politische Theorie, die ihm in weiten Strecken seines Werkes ja durchaus zitationswürdig war. Damit brachte sich Taylor auch um die Möglichkeit, Anknüpfungspunkte zum Beispiel für die Schaffung eines für ihn so wichtigen Bürger*innensinns zu etablieren.50 Dafür musste er es bei dem angesichts dessen überraschend wenig liberalem Appell belassen, dass moderne Gesellschaften für ihren Selbsterhalt und ihre Stabilität auf die Motivation ihrer Bürger*innen angewiesen seien, auf deren Steuern und im Kriegsfall auch auf ihre Bereitschaft, für das Vaterland zu kämpfen und, tatsächlich, notfalls auch zu sterben: Auch der demokratische Staat verlange „ein gesundes Maß an Patriotismus, eine kräftige Identifikation mit dem Gemeinwesen und die Bereitschaft, ihm etwas zu opfern“.51 Taylor steht damit paradigmatisch für einen ursprünglich republikanisch motivierten kommunitaristische Zugriff auf Rousseaus politische Theorie, der diese aber aufgrund der hegemonialen liberalen Interpretation nicht kreativ und produktiv für die eigene Position nutzen kann und sich damit von ihm abstieß, als die Beweislast aufgrund des vermeintlich schlechten Leumunds zu erdrückend wurde.

48 Ebd., S. 28. 49 Ders., Philosophy and the Human Sciences, S. 211f. 50 Wie ich sie unter dem Schlagwort „Post-Rousseauismus“ an anderer Stelle versucht habe auszuloten. M. Oppelt, Gefährliche Freiheit, S. 454-466. 51 C. Taylor, Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, S. 150.

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3.2. Benjamin Barber liest Rousseau Auch Benjamin Barber schwankt in seinen Bezugnahmen auf Rousseau, wobei anders als Taylor nicht zwischen einer republikanisch-kommunitaristischen und proto-totalitären, sondern zwischen einer republikanischkommunitaristischen und einer liberalen Perspektive. Barbers Modell einer strong democracy und „partizipatorischen Demokratie“ nimmt aus einer kommunitaristischen Stoßrichtung stark auf Rousseau Bezug. Barber kritisiert hier mit Rousseau die existierenden liberal-repräsentativen Demokratien als thin democracy oder auch „juridische Demokratien“, insofern sie die Beziehungsweisen der Bürger*innen über die vertikale Dimension zum Rechtsstaat konzipieren, sie in der horizontalen Dimension aber als voneinander isolierte Individuen begreifen, was er als demokratiegefährdend ablehnt. Die Selbstregierung freier und tugendhafter Aktivbürger*innen und nicht die Verfolgung individueller Interessen müsse als an sich wertvolles Element begriffen werden, zu beobachten sei jedoch die schleichende Unterhöhlung des Prinzips der Volkssouveränität, etwa durch die zunehmende Abgabe politischer Kompetenzen an Verfassungsgerichte. Nur die wirkliche aktive Entscheidungsfindung aller von diesen Entscheidungen Betroffenen könne Legitimität garantieren und die Stabilität des Gemeinwesens und den Erhalt der Freiheit gewährleisten. Barber fokussierte dabei in Weiterentwicklung Rousseaus auf die politische Partizipation sowohl als Mittel der Einsicht in das Gemeinwohl als auch dessen Formung. Durch einen höchstmöglich inklusiven Prozess unmittelbarer und tatsächlicher Entscheidungsbeteiligung soll zu einem authentischen Ausdruck des Gemeinwohls gefunden und Selbstregierung erfahrbar gemacht und unmittelbar erlebt werden, da nur die regelmäßige Teilhabe an kollektiven Entscheidungsfindungen dazu beitrage, Partikularinteressen zu Gunsten des Gemeinwohls zurückzustellen und sich zu tugendhaften Bürger*innen zu entwickeln. Barber macht nun den Liberalismus für die Unzulänglichkeiten gegenwärtiger Demokratien mit verantwortlich und vertritt die Auffassung, dass dieser demokratische Institutionen zerstören kann. Die liberale Philosophie, wie sie die Theorie und Praxis der Demokratie anleite, unterlaufe die liberalen Institutionen mehr, als dass sie ihnen nütze. Barbers Ansatz nimmt sich dagegen die Reaktivierung der Bürger*innen zum Ziel, er stellt sein Verständnis von Partizipation aber nicht in die Dienste der Über-

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windung, sondern der Heilung der liberalen Institutionen.52 Er versteht gelungene demokratische Politik dabei als eine Form menschlicher Beziehungen und referiert neben dem amerikanischen Pragmatismus, allen voran John Dewey und dessen Verständnis von Demokratie als Lebensform, vor allem auf Rousseau als Paten für seine Konzeption einer staken, partizipatorischen Demokratie.53 Barbers demokratiepolitisches Ziel ist es schließlich zuvorderst, die Praxis der Demokratie wiederherzustellen und mit neuem Leben zu füllen. Hierfür möchte er alternative institutionelle Formen erarbeiten, um die gegenwärtige Bindung an die liberalen Theorien zu lockern und so das Überleben der Demokratie zu sichern. Ohne eine partizipatorische Form von Demokratie glaubt er, dass der gemeinsame Abtritt von Demokratie und liberalen Werten von der politischen Bühne nicht zu verhindern ist.54 Als Kommunitarier kann Barber dabei insofern bezeichnet werden, als er jenseits der Kritik am Liberalismus Demokratie grundsätzlich als Selbstregierung innerhalb einer Gesellschaft versteht, wobei die Selbstbestimmung keine Bezeichnung für persönliche Rechte und Werte, sondern deren Ausgangspunkt ist: „So lange Frauen und Männer nicht an einem gemeinsamen, sie bestimmenden Leben und an den ihre Lebenswelt formenden Entscheidungen teilhaben, können sie keine Individuen werden.“55 Selbstbestimmung aber führe nur dann zur Freiheit, wenn das Selbst sich von bloßen Trieben und Begierden emanzipiert und Absichten und Ziele verfolgt, die nur innerhalb einer Gesellschaft und Kultur entstehen können, „welche die dafür nötigen Richtlinien liefert“. Das liberale Ideal schrankenloser und unendlicher Mobilität sei dagegen nicht Freiheit, sondern Entwurzelung, es sei denn, frei sei gleichbedeutend mit „heimatlos“.56 Dabei verortet Barber sein Ideal einer partizipatorischen Demokratie zwischen der Vorstellung einer „reinen Demokratie“, in welcher „das Volk jederzeit und in allen öffentlichen Fragen selbst regiert“ und dem liberalen Prinzip der Repräsentation an, das er in letzter Konsequenz als undemokratisch ablehnt. Das bedeutet, dass „das ganze Volk sich selbst zumindest in einigen öffentlichen Belangen und wenigstens über einen gewissen

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Benjamin Barber, Starke Demokratie. Hamburg: Rotbuch, 1994, S. 9. Ebd., S. 25. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Ebd., S. 75.

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Zeitraum regiert“.57 Mit Rousseau kritisiert er die Wahl von Abgeordneten und Abgesandten als mit den Prinzipien und der Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit unvereinbar. Wo Männer und Frauen nicht unmittelbare Verantwortung in Form von gemeinsamer Entscheidung und Beratung übernähmen, „können sie nicht wirklich frei genannt werden“.58 Dabei verurteilt er jedoch nicht das Prinzip der Wahl an sich, sondern dessen liberale Interpretation als geheimer und individueller Akt der nicht rechenschaftspflichtigen Stimmabgabe. Ein derart verkümmertes politisches Recht, das nur noch dem Zweck der Auszählung von Mehrheiten dient, fördere ein apolitisches und damit demokratiezersetzendes Verhalten. Mit Verweis auf Rousseaus Brief an D’Alembert fordert Barber dagegen, dass „das Abgeben der Stimme [...] sowohl (als) ein Anlass zum Feiern als auch eine Gelegenheit der Entscheidung“ wahrgenommen werden sollte, insofern Rituale und öffentliche Feierlichkeiten mit Rousseau eine belebende Wirkung auf das Identitätsgefühl einer Gemeinschaft sowie auf die Autonomie und Handlungsfähigkeiten der Einzelnen und öffentliche Wahlrituale eine entsprechend verbindende Wirkung hätten.59 Talmons Lesart Rousseaus als Vorläufer totalitärer Einheitsphantasien, wie sie sich auch bei Taylor findet, lehnt Barber dabei rundherum ab. Rousseaus Dialektik, wonach Menschen nur sich selbst gehorchen, wenn sie anderen gehorchen, grenzt er dezidiert ab von Goebbels Einheitsvorstellung einer Opferung der Persönlichkeit an die Gesamtheit.60 Auch die libertär-anarchistische Lesart Rousseaus, die das von ihm formulierte Grundproblem, eine Form der politischen Vergesellschaftung zu finden, in der jede und jeder so frei bleibt wie zuvor, immer mit Blick auf den Schlussteil des „so frei wie zuvor“ zu lösen versuchten, weist Barber zurück. Rousseau sei nie ein Anarchist gewesen, vielmehr habe er mit der Transformation der natürlichen in die bürgerliche Freiheit gegen die eigene Problemkonstruktion verstoßen.61 Zur Frage der Rousseau-Rezeption zwischen „egalitärem Kollektivisten“ und „romantischem Individualisten“ nimmt er nicht direkt Stellung, demokratische Interpretationen der Theorie Rousseaus ganz abzulehnen, geht ihm jedoch „zu weit“.62

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Ebd., S. 14. Ebd., S. 139. Ebd., S. 189f. Ebd., S. 217. Ebd., S. 41, Fn 9. Ebd., S. 67, Fn 4.

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Barbers Rückgriffe auf die politische Theorie Rousseaus bleiben aber größtenteils im Rahmen seiner kommunitaristischen Kritik am Liberalismus haften, etwa dort, wo er unter Rückgriff auf die berühmte Ouvertüre in Rousseaus Gesellschaftsvertrag festhält: „Wir werden in Ketten geboren – als Sklaven der Abhängigkeit und des Mangels – und erwerben Selbstbestimmung erst, indem wir die schwierige Kunst der Selbstregierung erlernen, [...] stellen Gleichheit nur im Rahmen gesellschaftlich sanktionierter politischer Einrichtungen her, die über die von Natur aus ungleichen Wesen den staatsbürgerlichen Mantel künstlicher Gleichheit breiten.“63

Dies möchte Barber nicht so verstanden wissen, als sei der Mensch von Natur aus frei und die Gesellschaft lege ihn in Ketten. Vielmehr gehe es darum anzuerkennen, dass natürliche Freiheit eine Abstraktion, Abhängigkeit in und von Gesellschaft dagegen konkrete menschliche Wirklichkeit sei.64 Politik solle daher nicht die natürliche Freiheit „den Fängen der Politik [...] entreißen“, sondern die Errichtung und Verteidigung einer künstlichen Freiheit anstreben und folglich als Mittel der Verwirklichung der natürlichen Anlangen der Menschen und damit Bedingung der Ermöglichung von Freiheit und Gleichheit dienen.65 Die liberale Vorstellung von Freiheit ist ihm dagegen treffender mit „Einsamkeit“ oder „Misanthropie“ beschrieben.66 Rousseaus „1751 verfasster zweiter [sic!] Diskurs über die Wissenschaften und Künste“ sei zwar der locus classicus aller Schriften, welche die Rolle der Moderne für die Korruption des Menschen hervorheben67, Barber selber möchte den Liberalismus jedoch nicht für alle Pathologien moderner Gesellschaften allein verantwortlich machen, gibt ihm aber dennoch eine „gewisse Teilschuld“.68 Hierfür macht er Rousseau zur Referenz, der etwa im Vorwort zum Narcisse konstatierte, dass der Individualismus den Menschen ein Leben ohne Heuchelei, Konkurrenz, Verrat und Vernichtung unmöglich gemacht habe.69 Die liberale Behauptung eines vorpolitischen Konsenses, aus dem ein politischer Wille entspringe, der 63 64 65 66 67 68 69

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Ebd., S. 15. Ebd., S. 209. Ebd., S. 210. Ebd., S. 75. Ebd., S. 89, Fn 33. Ebd., S. 89. Ebd., S. 167. Außerdem Benjamin Barber / Janis Forman, „Jean-Jacques Rousseau’s ‚Preface to Narcisse‘: (translated, edited and with an introduction by

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diesen wiederspiegle, mache jede Politik in aller Konsequenz überflüssig, worauf Rousseau in einer Fußnote zum dritten Kapitel des zweiten Buchs des Gesellschaftsvertrags im Gesellschaftsvertrag hingewiesen habe.70 Zudem habe Rousseau keinen universalistisch metaphysischen Ansatz vertreten, wie Barber gegen Burkes Kritik einwendet71, sondern machte sich in den Abhandlungen über Korsika und Polen sozusagen in actu für die Berücksichtigung von zeitlichen und lokalen Gegebenheiten im Rahmen politischer Überlegungen stark. Jenseits der Bezugnahme auf Rousseau als Kritiker des Liberalismus fordert Barber nun unter Rückgriff auf dessen politische Theorie zwar auch die Transformation der Individuen zu Bürger*innen. Die Menschen durch Partizipation in ihren politischen Fähigkeiten üben und qualitativ verbessern zu können, sei das entscheidende Merkmal demokratischer Gemeinschaften, was in „Einheitsdemokratien“ nur in die Zerstörung von Autonomie und Individualität münden würde.72 Wo er jedoch konkrete Maßnahmen und Überlegungen präsentiert, spielt Rousseau keine Rolle mehr. Wenn Barber etwa über neue Formen staatsbürgerlicher Erziehung als Versicherung gegen den Rückfall in Nationalismus und das Wiederaufleben des Antisemitismus reflektiert, bezieht er sich nicht mehr auf Rousseau.73 Rousseau blieb ihm der Gewährsmann für seine Kritik an der liberalen Erfindung eines fiktiven Ichs, welches freischwebend und nicht gebunden an Situationen und Kontexte letztlich nur dazu tauge, den Grundgedanken des Politischen in Frage zu stellen.74 Eine Freiheit, die als „In Ruhe gelassen werden“ verstanden würde, sei eine Gefahr für die liberale Demokratie, die in der politischen Praxis die Prinzipien der individuellen Freiheit mit den Prinzipien der kollektiven Selbstregierung und des Egalitarismus zudem immer schon verbinde.75 Eine leichte Verschiebung seiner Perspektive auf Rousseau lässt sich nur in Richtung einer proto-liberalen Lesart

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Benjamin Barber and Janis Forman): I. Introduction“, Political Theory 6, 4, 1978, S. 537-542. B. Barber, Starke Demokratie, S. 115. Ebd., S. 119, FN 15. Ebd., S. 232. Ebd., S. 23. Benjamin R. Barber, „Die liberale Demokratie und der Preis des Einverständnisses“, in: Bert van den Brink / Willem van Reijen, Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995, S. 360-384, hier S. 360. Ebd.

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bemerken. Rousseaus Grundproblem, eine „Form des Zusammenschlusses [zu finden] [...], durch die jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht“ und „so frei bleibt, wie zuvor“, für Barber das „grundlegende Problem der abendländischen Politik“, sei letztlich bereits „auf liberale Weise“ formuliert worden, insofern es den Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft im Wortlaut setze. Dessen Wohlergehen sei folglich die wesentliche Aufgabe der „als künstliche Einrichtung betrachteten Gemeinschaft“ und dieser Vorrang des Liberalen sei verantwortlich für die „verheerendste politische Krankheit der Moderne“, nämlich die durch „das unbarmherzige Zerreißen aller Bindungen“ verursachte „Entwurzelung“ als Charakteristikum einer Ära, „die Gott, Tugend und Natur hinter sich gelassen hat und dem modernen Menschen weder Trost noch Sicherheit bietet“76, einer „Welt nach dem Verlust der Tugend“.77 Wo Taylor Rousseau also in der Tradition anti-liberaler bis totalitärer Politik als freiheitsgefährdend liest, stellt Barber ihn hier in die Ahnengalerie des Liberalismus. Bemerkenswert ist dabei, dass die totalitären Konsequenzen, die Taylor unter Übernahme der Lesart Talmons jeder rousseauistischen Politik unterstellte, bei Barber nun dieselben sind. Zwar liefe auch die dem kommunitaristischen Gedankengut oft unterstellte Umkehrung der Rangfolge von Individuum und Gemeinschaft auf einen „totalitären Kollektivismus“ hinaus.78 Wenn die Liberalen aber, zu deren Vordenkern er Rousseau nun rechnet, in der Abkehr vom Prinzip der Tugend nach wie vor das geeignete Mittel zur Verteidigung des Individuums gegen „amoklaufende Staaten und Irrwege einschlagende Gemeinschaften“ sähen79, würden sie wohlwissend die „tiefe Sehnsucht nach einer Identität“ ignorieren, die den Menschen mehr zu bieten hätte als „das leere Gehäuse der Rechtsperson“ und die, so sie nicht demokratisch gestillt würde, zum Einfallstor für die „unsicheren totalitären Formen des Mutualismus“ würde.80 Dagegen könne nur das Prinzip der Partizipation eine echte Form der Zugehörigkeit herstellen.81 Dabei weist sich Barber als konfliktaffiner Kontingenztheoretiker aus, wenn er „die Aufdeckung und Legitimierung gemeinsamer Grundlagen

76 77 78 79 80 81

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Ebd., S. 362. Ebd., S. 377. Ebd., S. 371. Ebd., S. 362. Ebd., S. 369. Ebd., S. 372.

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oder (den) Beschluss zum gemeinsamen Handeln, auch wenn eine gemeinsame Grundlage fehlt“, als das „archetypische politische Handeln“ einer so gefassten Gemeinschaft bezeichnet, die lernen müsse, „mit dem Konflikt zu leben“, anstatt ihn zu berechnen, um ihn einzuhegen oder gar stillzustellen.82 Seiner Vorstellung von gelungener Politik legt er ein Menschen- und Bürgerbild einer auf keine eindeutige Identität festlegbaren Person zugrunde, einer Person, deren Natur veränderlich, insofern gesellschaftlich konstruiert sei und der als wesentliches Merkmal die „Wandlungsfähigkeit als Fähigkeit zur Selbstveränderung“ und damit einhergehend des „Identitätsgefühls“ zukomme. Eine so verstandene partizipatorische Bürger*innenschaft sei in aller Konsequenz „nichts anderes, als die Ausdehnung dieser Prinzipien auf Fremde“, der Staat folglich „eine Nachbarschaft aus Fremden“, die sich nicht über die „intimen Rollen von Freundschaft oder Verwandtschaft“, jedoch auch nicht über das Prinzip der „Gegnerschaft“ konstituiere.83 Wenn er Individuen dementsprechend als „veränderliche Größen“ versteht und deren entsprechende Form der Aktivität als „fesselnder und beunruhigender“ als die liberale Alternative zwischen „Widerstand leisten oder sich fügen“, zwischen „Kampf oder Flucht“, bezeichnet, erinnert dies an die radikaldemokratische Vorstellung einer nie letztgültig auf den Begriff zu bringenden Demokratie, wie Jacques Derrida sie als „im Kommen“ oder Claude Lefort sie „auf der Flucht“ bezeichnet.84 Für Barber bedeutet sie die unaufhörliche „Suche nach gemeinsamen Grundlagen für ein gemeinsames Leben“.85 In diesem Verständnis von Demokratie geht es darum, „angesichts der Ambiguität und Ungewissheit zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen“. Genau da, wo es kein sicheres Wissen gebe, müsse demokratisch gehandelt und eine egalitäre Gemeinschaft geschaffen werden, welche die Individualität nicht zerstört.86 Partizipatorische Politik ist daher für Barber die klügste Verteidigungsstrategie der Freiheit in einer Zeit, „die nicht mehr in Religion, Geschichte oder Tradition verwurzelt ist [...], [wo] die grundlegenden Gewissheiten [...] zusam-

82 Ebd. 83 Ebd., S. 374. 84 Jacques Derrida, Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 154. Claude Lefort: „Die Drohung die auf dem Denken lastet“, WestEnd, Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 1/2017, S. 75-81, hier S. 78. 85 B. Barber, „Die liberale Demokratie und der Preis des Einverständnisses“, S. 374f. 86 Ebd., S. 376.

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mengebrochen sind und wo die Menschen gezwungen sind, miteinander zu leben, Vermittlungsinstanzen für ihre Konflikte zu finden und eine Essenz zu suchen, in der sie ihre Gemeinschaftlichkeit schmieden können“.87 Dies kann getrost als Grundformel radikaldemokratischen Denkens gelesen werden, zu dem Barber ja auch gerechnet wird.88 Davon zeugen auch aussagen wie jene, wonach die Stärke von Menschen in der Fähigkeit zur Gemeinschaft liege, sich „von Gott und der Natur verlassen“ aufeinander zu verlassen, belastet mit „der Bürde einer überkommenen Politik der Emanzipation [...], die uns verbietet, uns gegenseitig Trost zu spenden oder zusammenzuarbeiten“.89 Auch weiß Barber darum, dass Ordnung und Staatsgewalt immer Gefahren für die Freiheit darstellen. Wo argwöhnische und wachsame Liberale aber stets Feinde vermuten, zur Verteidigung aufrufen und einen Schutzwall um die isolierten Individuen errichten müssen, könne dieser auch zur „Gefängnismauer“ werden. In der Folge würde man „auch dort Feinde sehen, wo nur Nachbarn sind, Gegnerschaft und Konkurrenz, wo es Zusammenarbeit geben könnte“. Weniger radikaldemokratisch, sondern wieder stärker kommunitaristisch argumentiert er jedoch, wenn er den Schutz der voneinander getrennten Körper als Vernachlässigung am Körper der Gemeinschaft kritisiert, insofern die Überbetonung der Würde als Individuum es versäumen würde, der Gesellschaftlichkeit Würde zu verleihen und ihr eine sichere Ausdrucksmöglichkeit zu geben.90 Auf den Verlust der Moderne könne daher nur eine „dialektisch ausbalancierte liberale Demokratie“ angemessen, sprich freiheitskonform reagieren, eine Demokratie, „die das Individuum von innen heraus stärkt und ihm als äußere Hilfe eine artifizielle, nicht von Natur aus gegebene Mitgliedschaft in neu entworfenen, auf einem gemeinsamen Wollen beruhenden Gemeinschaften ermöglicht“. Dieses „Kunstprodukt“ muss demo-

87 Ebd. 88 Siehe den entsprechenden Eintrag in Dagmar Comtesse / Oliver Flügel-Martinsen / Franziska Martinsen / Martin Nonhoff (Hrsg.), Handbuch Radikale Demokratietheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2018. 89 B. Barber, „Die liberale Demokratie und der Preis des Einverständnisses“, S. 378. 90 Ebd. Diese starke Betonung einer existenten politischen Gemeinschaft, in der Körpermetapher zumal, widerstrebt dem eher auf die Dekonstruktion aller Einheitserzählungen abhebenden Diskurs der Radikaldemokratie. Dieser Unterschied wird auch an einer exemplarischen Stelle deutlich, wo Barber mit dem Prinzip der Partizipation zu „mehr kultureller Identität“ und mehr Verantwortung beitragen möchte, ausländische Arbeitnehmer*innen und Asylbewerber*innen „in die deutsche Gesellschaft zu integrieren“. Siehe B. Barber, Starke Demokratie, S. 23.

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kratisch sein, soll sicher und ungefährlich sein, es muss „das Ergebnis gemeinsamer Beratungs- und Entscheidungsprozesse sein und auf den Verlust an Gewissheit weder mit Zynismus noch mit Verzweiflung, sondern mit einer neuartigen Epistemologie politischer Urteilskraft“ reagieren. Es gelte daher, „nach einer gemeinsamen Neuschaffung des sozialen Nährbodens zu streben, den früher die Tradition bereitstellte“. Die partizipatorische Demokratie kann „den Verlust von Fundamenten, die Erblast der Modernität, nicht ersetzen, doch sie verspricht, eine bestimmte Klugheit und Umsicht dort walten zu lassen, wo früher Sitte, Tradition und Geschichte bestimmend waren“ und versteht Freiheit als „kühn gegen die souveräne Notwendigkeit sich behauptende Hoffnung, die dem menschlichen Willen und der Tugend [...] einen kleinen Spielraum zu verschaffen trachtet“.91 Für all diese theoretischen Anschlussmöglichkeiten kann Rousseau jedoch keine Rolle spielen, solange er auf die Rolle des Liberalismuskritikers oder Ahnherren des liberalen Denkens reduziert wird, was ebenfalls als das Ergebnis einer Delegitimierungsstrategie und einer daraus resultierenden Rezeptionsblockade interpretiert werden kann. Ähnlich wie bei Taylor, nur unter anderen normativen und ideengeschichtlichen Vorzeichen, wird Rousseaus politische Theorie von Barber als totalitäre Gefahr ausgemacht beziehungsweise als solche übernommen, ohne dass er die Sortierung des Arsenals als das Ergebnis politischer Deutungskämpfe in Frage stellt und das Potenzial der Theorie Rousseaus auszuschöpfen und in Form alternativer Lesarten für seinen eigenen Ansatz zu gewinnen versucht. 4. Fazit Die Problematik von Rezeptionsblockaden als Ladehemmungen im Arsenal der Politischen Ideengeschichte lässt sich am Beispiel der kommunitaristischen Zugriffe Taylors und Barbers auf Rousseau illustrieren. Wo sie aus den theoretischen Grabenkämpfen mit dem Liberalismus herauskommen möchten und konkrete Alternativen zum gegenwärtigen liberalen Dispositiv entwerfen, kommt es mit Blick auf die politische Theorie Rousseaus zu Ladehemmungen im Arsenal, insofern die hegemoniale Verschlagwortung als proto-totalitär oder liberal den weiteren Zugriff verhin-

91 Ebd., S. 378f.

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dert. Dies wirkt sich zum Beispiel auf die Übernahme republikanischen Gedankenguts im Diskurs der Radikaldemokratie aus, die ohne Bezugnahme auf Rousseau vonstattengeht. Dieser Diskurs versteht sich als Alternative zu den großen Strömungen des Liberalismus und Republikanismus und speist sich zugleich aus diesen. Egal ob man diesen vor dem Hintergrund mitunter verleugneter, mitunter übersehener, jedoch definitiv zu rekonstruierender Wirkungszusammenhänge mit republikanischem Gedankengut, oder aber als demokratietheoretisch wie demokratiepolitisch vielversprechende Alternative zum Grabenkampf zwischen Kommunitarismus und Liberalismus begreift, Rousseau spielt für das radikaldemokratische Denken keine Rolle, weil auch hier der Sperrriegel der liberalen Interpretationstradition einrastet. Dabei geht es Radikaldemokrat*innen wie auch Taylor und Barber um eine Neubestimmung des Spannungsverhältnisses zwischen Gesellschaft, Politik, Staat und Demokratie und die Bestimmung der Rolle des Politischen für das Selbstverständnis des Menschen als ein auf Interaktion angewiesenes Wesen.92 Sicher begegnen Radikaldemokrat*innen den Begriffen der Republik und des Republikanismus eher mit Skepsis, steht ihnen republikanisches Gedankengut gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Totalitarismus im 20. Jahrhundert doch als ein Stützpfeiler eines auf Institutionen, Ordnung und Herrschaft ausgerichteten Politikstils als Angriffspunkt ihrer Argumentation im Namen demokratischer Verfügungsgewalt.93 Gleichzeitig aber lässt sich der Rückgriff auf republikanische und kommunitaristische Argumentationsfiguren und Denkbewegungen auch hier nachweisen.94 In Claude Leforts Demokratie- und Totalitarismustheorie, die als eine wesentliche Passage des radikaldemokratischen Denkens gilt und beide Phänomene sowohl als dem gleichen historischen Ursprung entstammend, als auch als zwei stets mögliche Ordnungsformen gegenwärtiger moderner Gesellschaften versteht95,

92 Emmanuel Richter, „Radikaldemokratie und Republikanismus. Der Ertrag aus einem verweigerten Erbe“, in: T. Thiel / C. Volk (Hrsg.), Die Aktualität des Republikanismus, Baden-Baden: Nomos, 2016, S. 317-344, hier S. 318. 93 Ebd., S. 319. 94 Siehe etwa die Beiträge in Michael Hirsch / Rüdiger Voigt (Hrsg.), Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren Französischen Denken, Stuttgart: Franz Steiner, 2009 und Franziska Martinsen / Oliver Flügel-Martinsen (Hrsg.), Demokratietheorie und Staatskritik aus Frankreich. Neuere Diskurse und Perspektiven, Stuttgart: Franz Steiner, 2015. 95 Siehe M. Oppelt, „Claude Lefort“, in: D. Comtesse / O. Flügel-Martinsen / F. Martinsen / M. Nonhoff (Hrsg.), Handbuch Radikale Demokratietheorie.

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finden sich schließlich die Grundfrage radikaldemokratischer Überlegungen und zugleich die hegemonialen Rezeptionsalternativen Rousseaus als totalitär oder liberal thematisiert, wobei Rousseau hier keinerlei Erwähnung findet, was im Fall Leforts zu Leerstellen etwa mit Blick auf institutionentheoretische Fragestellungen führt, für die Rousseau durch aus ein mit dem radikaldemokratischen Grundansinnen konformer Gewährsmann hätte sein können.96 Dies bestärkt die zugrundeliegende Annahme, dass im politischen Kampf um gesellschaftspolitische Relevanz viel öfter den Schleier, der über der Kontingenz der Ordnung des Arsenals der politischen Ideengeschichte liegt, gelüftet werden muss, um mitunter bestehende Interpretationskartelle zu zerschlagen. Die politische Ideengeschichte, so ließe sich eine Forderung formulieren, muss eine kritische Genealogie der Ordnung ihres eigenen Bestandes vornehmen.97 Es geht dabei weniger um eine Genealogie politischer Ideen, als um die Genealogie der Interpretation politischer Ideen und damit verbunden der Identifikation und mitunter Aufhebung von Rezeptionsblockaden. Demnach müssten hegemoniale Interpretationstraditionen mittels einer ideengeschichtlich informierten Genealogie nicht nur kritisch erhellt, sondern durch diskursive Kontextualisierung relativiert und so eine von den Voreingenommenheiten der Interpretationstradition befreite Neudeutung politischer Theorien ermöglichen werden, die in letzter Konsequenz zur Neusortierung des ideengeschichtlichen Kanons führen kann. Genau hier muss angesetzt werden: Bei der mit Nietzsche gesprochenen Neuschöpfung der Vergangenheit um der Gegenwart willen, ohne dabei die Eigengesetzlichkeit des Vergangenen zu vergessen.

96 M. Oppelt, Gefährliche Freiheit. 97 Marcus Llanque, „Genealogie als ideengeschichtliche Methode und die Idee der Menschenrechte“, in: Timothy Goering (Hrsg.), Ideengeschichte heute. Traditionen und Perspektiven, Bielefeld: Transcript, 2017, S. 171-194.

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In den durch das Erscheinen von Victor Farias’ Enthüllungsbuch Heidegger und der Nationalsozialismus1 aufgewühlten 1990er Jahre der Heidegger-Rezeption wurde sein 1927 erschienenes Hauptwerk Sein und Zeit sowohl als philosophische Paraphrase von Hitlers Mein Kampf2 wie auch als eine „moderne Übertragung“ von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik dargestellt.3 Über die Stichhaltigkeit solcher Genealogien politischer Ideengeschichte lässt sich natürlich streiten, doch diese beiden konkurrierenden Auslegungen von Heideggers Verhältnis zum politischen Denken sind bis in die jüngsten Debatten über die Schwarzen Hefte repräsentativ für die konfliktgeladene Rezeption der letzten dreißig Jahre. In der Debatte wird dem Gegenpart prinzipiell vorgeworfen, die jeweilige Interpretation sei nur ein Oberflächenphänomen. Der ontologisch-aristotelische Diskurs kaschiert eher schlecht als recht ein rechtsextremes Substrat oder umgekehrt: Politische Aspekte sind in einer solch fundamentalen Darlegung menschlichen Seins höchstens illustrativen Zuschnitts und treffen den eigentlichen Kern nicht. Die Hypothese einer Übertragbarkeit aristotelischen Gedankenguts auf die Analyse der spezifisch modernen Gesellschaftlichkeit wird in dieser polemischen Zuspitzung der Argumente nicht

1 Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt: S. Fischer, 1989 (die französische Fassung erschien 1987; vgl. dazu schon Jürg Altwegg (Hrsg.), Die Heidegger-Kontroverse, Frankfurt a.M.: Athenäum, 1988). 2 Siehe dazu Johannes Fritsche, Historical Destiny and National Socialism in Heidegger’s Being and Time. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1999. 3 Francesco Volpi, „Being and Time: A ‚Translationʻ of the Nicomachean Ethics?“, in: Theodore Kisiel / John Van Buren (Hrsg.), Reading Heidegger from the Start. Essays in His Earliest Thought, Albany: SUNY, 1994, S. 195-211. Siehe auch Volpis Selbstkommentar in „Heidegger und der Neoaristotelismus“, in: Alfred Denker u.a. (Hrsg.), Heidegger und Aristoteles, Freiburg/München: Karl Alber, 2007, S. 221-236, hier S. 223.

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wahrgenommen4, obwohl sie den Ausgangspunkt von Heideggers paradoxem Interesse an Aristoteles begründet. Paradox, denn für den politischen Ort, von dem Heidegger aus denkt und argumentiert, scheint Aristoteles nicht unbedingt der geeignetste Gewährsmann zu sein. Dementsprechend komplex und vielschichtig ist dieses Interesse denn dann auch. 1. Der Kulturkritiker Aristoteles Für die enge Verbindung zwischen Aristoteles und Sein und Zeit spricht die Tatsache, dass Heidegger Anfang der 1920er Jahre an einem Aristoteles-Buch arbeitete und dass aus diesem Projekt – so zumindest eine weit verbreitete Annahme innerhalb der Heideggerforschung – letztlich Sein und Zeit wurde. Als Einleitung zu diesem Aristoteles-Buch gilt unter den Heideggerforschern der sogenannte Natorp-Bericht, ein 51-seitiges Typoskript, das den Arbeitstitel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation) trägt und das Husserl nach Göttingen und Marburg schickt, woraufhin Heidegger auf das Marburger Extraordinariat für Philosophie berufen wird.5 Obwohl Heidegger in seinem Briefwechsel mit Karl Löwith den Natorp-Bericht wiederholt als „Einleitung“ bezeichnet6, kann dieser Text nur 4 Exemplarisch bei Jean-François Mattéi: „Emmanuel Faye, l’introduction du fantasme dans la philosophie“, Le Portique. Revue de philosophie et de sciences humaines, 18/2006, S. 1-70, hier S. 13. Vgl. auch Dimitrios Yfantis’ Kölner Dissertation Die Auseinandersetzung des frühen Heidegger mit Aristoteles. Ihre Entstehung und Entfaltung sowie ihre Bedeutung für die Entwicklung der frühen Philosophie Martin Heideggers (1919-1927), Berlin: Duncker & Humblot, 2009, insb. S. 334-359. Eine Ausnahme bildet jedoch Michael Allen Gillespie: „Martin Heidegger’s Aristotelian National Socialism“, Political Theory, 28/2000, S. 140-166; siehe dazu weiter unten im Fließtext. 5 Siehe dazu maßgeblich Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being & Time. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1993, S. 227-308, insb. S. 248-271, hier S. 252: „In its sheer innovative thrust, the typescript of October 1922, like no other, deserves to be called Heidegger’s breakthrough to his magnum opus.“ 6 Vgl. Martin Heidegger / Karl Löwith, Briefwechsel 1919-1973, hrsg. von Alfred Denker, Freiburg/München: Alber, 2017, insb. S. 84-86 u. 99. Zu dieser Bezeichnung siehe auch das Nachwort von Günther Neumann zu Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (Sommersemester 1922). Anhang: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation). Ausarbeitung

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bedingt als solche angesehen werden, d.h. als Einführung zu einem eigentlichen Haupttext, und wird in einer handschriftlichen Vorbemerkung angemessener als „Entwurf“ bezeichnet.7 Dabei geht es nicht um philologische Finessen, sondern um die Funktion dieses Textes bzw. seinen Argumentationsrahmen. Dieser ist rein akademischer Natur, da es vornehmlich darum geht, die Kollegen aus Göttingen und Marburg von den eigenen philosophischen Fähigkeiten zu überzeugen. Spuren eines solchen Veröffentlichungsprojekts lassen sich jedoch schon im Kontext von Heideggers erster Aristoteles-Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 finden, und in dem entsprechenden Band der Heidegger-Gesamtausgabe befinden sich verschiedene kurze Entwürfe zu einer Einleitung, woraus die Herausgeber des Bandes den Schluss ziehen, dass Heidegger zunächst plante, aus diesem Vorlesungsmanuskript „ein Buch zu machen“.8 In diesen Einleitungsentwürfen weht dem potenziellen Leser ein ganz anderer Ton entgegen als im Natorp-Bericht. Heidegger spielt hier einen dezidiert antiakademischen Gestus aus, der typisch für seinen Vorlesungsstil während der Frühphase der Weimarer Republik ist. In diesen Einleitungsentwürfen heißt es zum Beispiel: „Für sachlich fördernde Auseinandersetzung bin ich zur Stelle. Man ignoriere lieber das Buch, als daß man darüber das heute übliche fade Geschreibe und Gerede mache, das seit langer Zeit bei uns blüht. Der letzte, der erstrangig wissenschaftlich-philosophische Rezensionen geschrieben hat, war glaube ich, Hegel. Wo ist die Möglichkeit und das Organ? Man nenne doch die Dinge beim Namen: Literatur; und wo ernsthafte Arbeit ist, da hat jeder seinen eignen Zirkus und man wird lediglich als Zuschauer zugelassen; mehr kann man nicht tun.“9

für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (1922), hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2005 [= Gesamtausgabe, Bd. 62], S. 440f. (im Folgenden GA 62). 7 GA 62, S. 346. 8 Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (Wintersemester 1921/22), hrsg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1994 [= Gesamtausgabe, Bd. 61], S. 201 (im Folgenden GA 61). Es ist auch möglich, dass bei der Arbeit am Buch Heidegger das Vorlesungsmanuskript und spätere Einleitungsentwürfe zusammen gebündelt hat und dass diese Bündelung sich archivarisch festgesetzt hat. Bekanntlich ist Heideggers Gesamtausgabe nicht historischkritisch ausgelegt. 9 GA 61, S. 193. Unterstreichungen in Zitaten stammen prinzipiell von ihren jeweiligen Autoren.

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Zu diesem „faden Geschreibe und Gerede“ findet man so manche Ausführungen in den verschiedenen Einführungsskizzen, wie zum Beispiel: „Man bewegt sich im ‚Außenʻ, an ‚Begriffenʻ von Philosophie […], man gewinnt von da philosophische Probleme, statt von entscheidenden Sachen auszugehen und zu forschen […]. Die Perversität geht so weit, daß man solche leere Überlegung als den Vorzug und die Überlegenheit der Philosophie gegenüber Wissenschaften preist, man sieht darin ihren Radikalismus. Man macht aus Verfall eine Grundaufgabe und weiß es als Vorzug anzumelden, wenn man über diese nicht einmal hinauskommt.“10

Der philosophische Lehr- und Wissenschaftsbetrieb erscheint sowohl als Begleiterscheinung wie auch tieferer Antrieb eines allgemeinen kulturellen Verfalls. Ähnliche kulturkritische Überlegungen finden sich auch im gesamten Vorlesungsmanuskript der Aristoteles-Vorlesung vom Wintersemester 1921/22. Dabei erscheint in Heideggers Darlegungen Aristoteles eindeutig als Gegenfigur zur zeitgenössischen Philosophie, welche mit beißendem Spott charakterisiert wird: „Plato und Aristoteles haben das Wort ‚Weltanschauungʻ, d.h. den damit kundgegebenen Erfahrungs- und Einstellungszusammenhang, nicht gehabt. Sie mußten schon sehen, mit der Philosophie fertig zu werden und die Probleme anzufassen, ohne sich in die großmäulige Breitspurigkeit dieses ‚Wortesʻ und seine Einstellungstendenzen bequem retten zu können.“11

Auch herrscht in dieser Vorlesung eine allgemein für die frühen Freiburger Vorlesungen bis 1923 charakteristische, kulturkritische Umbruchsrhetorik, die sich vorzugsweise in dramatisch ausformulierten Alternativen ausdrückt: „Prinzipiell ist zu entscheiden: entweder: wir leben, wirken und forschen relativ auf ungeprüfte Bedürfnisse und suggerierte Stimmungen, oder: wir sind imstand, eine radikale Idee konkret zu ergreifen und in ihr Dasein zu gewinnen. Ob wir dabei ‚untergehenʻ, kulturell betrachtet, oder ob Aufstieg und Fortschritt kommen, ist von sekundärem Belang.“12

10 GA 61, S. 188. 11 GA 61, S. 44. 12 GA 61, S. 70. Siehe auch M. Heidegger / K. Löwith: Briefwechsel 1919-1973. S. 20 (Brief vom 13.9.1920 an Löwith): „Ich will aber mindestens etwas anderes. Das ist nicht viel, nämlich was ich in der heutigen faktischen Umsturz-Situation lebend als ‚notwendigʻ erfahre, ohne den Seitenblick darauf, ob daraus eine

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Nun kann man über die direkte Übernahme solcher Passagen im geplanten Aristotelesbuch nur spekulieren (auch kann der Weg von einem Einleitungsentwurf bis zu seiner Endfassung durchaus ein langer sein), doch zeugen sie auf jeden Fall von einer kulturkritischen Ausgangsposition Heideggers, die aufs engste mit seinem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, d.h. mit seinem philosophischen Ethos verknüpft ist. Wenn man nun, wie dies die Heideggerforschung tut, in diesem Projekt den Ausgangspunkt von Sein und Zeit erblickt, dann steht an dessen Anfang eine kulturkritische Radikalität, die sich an der Analyse aristotelischer Texte noch aufzuheizen scheint. In dieser Perspektive wären die beiden Eingangshypothesen, d.h. Sein und Zeit als philosophische Paraphrase von Hitlers Mein Kampf wie auch als moderne Übertragung von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, nicht mehr inkompatibel. In dieser ersten Aristoteles-Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 kommt es gleichzeitig zu einer bemerkenswerten Abwandlung von Heideggers Argumentationsmustern. Hat in den allerersten Nachkriegsvorlesungen das Thema eines spezifisch die Moderne charakterisierenden Verfalls eine nahezu leitmotivische Funktion, so gesellt sich 1921/22 zu diesem Argumentationsstrang ein weiterer, der eben durch den Rekurs auf Aristoteles bedingt ist.13 Das für den frühen Heidegger zentrale „Problem der Faktizität“, in dem er lebensphilosophische Motive mit Husserls phänomenologischen Ansatz kombiniert, wird – in Anlehnung an die aristotelische Physik – als „ϰίνησις-Problem“ verstanden.14 Aus diesem Verständnis der Faktizität als „Bewegtheit“15 wird die „Ruinanz als eine kategoriale Grundbestimmtheit der Faktizität“16 herausgearbeitet. Die Wortschöpfung Ruinanz tritt nur in dieser Vorlesung auf, sie ist von „ruina – Sturz“

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‚Kulturʻ wird, oder eine Beschleunigung des Untergangs.“ Dort ist die Anspielung auf Spengler noch deutlicher. Zu dieser Entwicklung, vgl. allgemeiner Daniel Meyer: „Kulturkritische Aspekte bei Martin Heidegger, 1918-1932“, Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, 15/2011-12, S. 47-69. GA 61, S. 117. Ebd. Ebd., S. 133. Vgl. dazu auch Servanne Jollivet, „Das Phänomen der Bewegtheit im Licht der Dekonstruktion der aristotelischen Physik“, in: A. Denker u.a. (Hrsg.), Heidegger und Aristoteles, S. 130-155, hier S. 135-138.

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abgeleitet.17 Heidegger übersetzt offenbar einen lebensphilosophischen Ansatz in eine aristotelische Perspektive.18 Doch diese aristotelische Wandlung ist selbst nur Teil eines längeren Prozesses von ideengeschichtlichen Anleihen bzw. Legitimierungsverweisen, den er am Ende seiner ersten Freiburger Zeit 1923 provokativ rekonstruiert, indem er das Heterogene daran unterstreicht: „Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mit Husserl eingesetzt.“19 Tatsächlich wird in der Vorlesung vom Sommersemester 1921 zur ‚Phänomenologie des religiösen Lebensʻ der Begriff ‚Abfallʻ durch eine „immanente Explikation“ von Augustins Confessiones herausgearbeitet.20 Eine solche „immanente Explikation“ zielt auf „eine Wendung von dem objektgeschichtlichen Zusammenhang zur vollzugsgeschichtlichen Situation“. Es geht also Heidegger darum, und dies wird er anhand Aristoteles immer wieder versuchen, den Sinnzusammenhang philosophischer Grundbegriffe aus ihrem Entstehungskontext zu rekonstruieren. Was ihn aber nicht daran hindert, gleich zu Beginn der darauffolgenden Aristoteles-Vorlesung den Begriff

17 GA 61, S. 131. 18 Ähnlich argumentiert auch Hans-Georg Gadamer, wenn er den Natorp-Bericht wie folgt kommentiert: „Hier wird nicht auf Aristoteles als auf einen wichtigen historischen Gegenstand zugegangen, sondern es wird aus den gegenwärtigen Fragen der Philosophie, aus dem Problemdruck, den der Begriff des Lebens erzeugte und in diesen Jahrzehnten die Philosophie in Deutschland mehr und mehr zu beherrschen begann, eine radikale Fragestellung entwickelt.“ (Hans-Georg Gadamer, „Heideggers ‚theologischeʻ Jugendschrift“ [1989], in: Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2013, S. 67-75, hier S. 69) 19 Martin Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (Sommersemester 1923), hrsg. von Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1995 [= Gesamtausgabe, Bd. 63], S. 5. Dieser Passus findet sich in einem dem Vorlesungsmanuskript beigefügten „Vorwort“, das im Kolleg nicht vorgetragen wurde, und dessen Duktus und Inhalt den verschiedenen Vorwortprojekten des geplanten Aristoteles-Buchs stark ähneln. 20 Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens. 1. Einleitung in die Phänomenologie der Religion (Wintersemester 1920/21). 2. Augustinus und der Neuplatonismus (Sommersemester 1921). 3. Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik (Ausarbeitungen und Entwürfe zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19), hrsg. von Matthias Jung / Thomas Regehly / Claudius Strube, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2011 [= Gesamtausgabe, Bd. 59], S. 84f.

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‚Abfallʻ mit Spengler21, d.h. durchaus in einen kulturkritischen Kontext zu setzen (ihn also in der ‚vollzugsgeschichtlichen Situationʻ der Gegenwart zu aktivieren). In Laufe der Vorlesung aber wird der Abfall zur Ruinanz, zu einer von Aristoteles’ Verständnis der Faktizität als „Bewegtheit“ begründete Grundtendenz menschlichen Seins – also das, was Heidegger bald ein Existenzial nennen wird. Hier wird ersichtlich, dass das kulturkritische Motiv eines spezifisch modernen Verfalls durch die Autorität des Aristoteles zu einer Grundkategorie des Bezugs des Menschen zur Welt wird, zu dem, was Heidegger ab dem Natorp-Bericht bis hin zu Sein und Zeit als „das Verfallen“ bezeichnen wird22, d.h. einem den Menschen, insbesondere in seinem Bezug zum öffentlichen Leben kennzeichnenden Hang zur Uneigentlichkeit, einer ursprünglichen Veranlagung zum Selbstverlust im sozialen Zusammensein. Es handelt sich dabei nicht um eine Fehlleistung des Daseins, die individuell oder für ein spezifisch modernes Weltverhältnis charakteristisch wäre23, sondern – wie es in Sein und Zeit pointiert heißt – um eine „wesenhafte ontologische Struktur des Daseins“.24 Gerade hier werden die Dinge diskursstrategisch interessant, denn obwohl Heidegger 1921 über die Wortschöpfung Ruinanz verfügt, zieht er danach den zweideutigen Begriff des „Verfallens“ vor, wobei wir einmal mehr bei der Eingangs erläuterten Alternative angelangt wären: Also Sein und Zeit einerseits als eine politisch motivierte Moderne- bzw. Zeitkritik und andererseits als Strukturanalyse menschlichen Daseins, die in zentralen Texten der griechischen Antike fußt.

21 Vgl. GA 61, S. 26. Zitat S. 100. 22 Vgl. insb. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik (Sommersemester 1922). Anhang: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation). Ausarbeitung für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (1922), hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2005 [= Gesamtausgabe, Bd. 62], S. 356 (im Folgenden GA 62), sowie Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 17. Auf. 1993, S. 178f. 23 Vgl. ebd., S. 176: „Die ontologisch-existenziale Struktur des Verfallens wäre auch mißverstanden, wollte man ihr den Sinn einer schlechten und beklagenswerten ontischen Eigenschaft beilegen, die vielleicht in fortgeschrittenen Stadien der Menschheitskultur beseitigt werden könnte.“ Das heißt aber eben auch, dass der Terminus nicht kulturkritisch zu verstehen ist als spezifisch moderner Verfall der westlichen Kultur. 24 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 179.

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In Sein und Zeit erscheint das „Verfallen“ in enger Verbindung mit dem „Man“, es ist „in eins mit dem Hineinreißen in das Man“.25 Der Begriff „Man“ taucht zum allerersten Mal im Rahmen der zweiten AristotelesVorlesung vom Sommersemester 1922 auf und wird dann breiter im Natorp-Bericht ausgeführt. In der Vorlesung fällt der Begriff im Rahmen einer Erörterung der Parmenides-Fragmente, von denen es gilt, sie „aus modernisierender Mißinterpretation herauszunehmen und in ihre archaische Einfachheit zurückzustellen“.26 Doch gerade letzteres tut Heidegger offensichtlich nicht, wenn er Parmenides’ Doxa-Begriff stichwortartig mit folgenden Begriffen verbindet: „Durchschnittlichkeit, Öffentlichkeit, die Üblichkeit des ‚Man‘“.27 Bei einer solchen Assoziationskette ist der Kierkegaard’sche Einfluss nicht zu übersehen28, doch der springende Punkt ist, dass es sich dabei in Heideggers Sinne eben nicht um eine „modernisierende Mißinterpretation“ (d.h. um einen Anachronismus) handelt, sondern dass er hier stichpunktartig eine allgemeine Theorie der Meinungsbildung skizziert, die schon für die Antike verbindlich sein soll und die nicht ein spezifisch modernes Phänomen darstellt (wie dies bei Kierkegaard der Fall ist). Der Natorp-Bericht von 1922 führt dann das „Gerede“ ein (auch hier ein Begriff der Kierkegaard’schen Ursprungs ist) als sprachliche Manifestation des Man, sozusagen seine Stimme. Aristoteles selbst wird im Natorp-Bericht aber noch nicht als Gewährsmann für diese Analysen des öffentlichen Lebens herangezogen. Allein die Philosophie des 20. Jahrhunderts erscheint illustratorisch als „weltanschauliche Betriebsamkeit“, als Gerede, aus dem allein die „Strenge der Forschung“ herausbrechen kann, für die nicht so sehr Husserls Begriff einer „Philosophie als strengen Wissenschaft“ Pate steht als eben Aristoteles.29 Und in der Tat handelt es sich dabei um ein doppeltes Projekt: Einerseits geht es um eine ideengeschichtliche Rekonstruktion der „griechi-

25 Ebd. 26 GA 62, S. 211. 27 Ebd. Siehe dazu auch Günther Neumann, „Heideggers frühe Parmenides Auslegung“, in: Hans-Christian Günther / Antonios Rengakos (Hrsg.), Heidegger und die Antike, München: C.H. Beck, 2006, S. 133-174, hier S. 154f. 28 Siehe dazu auch Gerhard Thonhauser, Ein rätselhaftes Zeichen. Zum Verhältnis von Martin Heidegger und Søren Kierkegaard. Berlin/Boston: de Gruyter, 2016, S. 252-275. 29 GA 62, S. 363. Vgl. Edmund Husserls berühmten Aufsatz „Philosophie als strenge Wissenschaft“, Logos – Zeitschrift für Philosophie und Kultur, Bd. 1, Tübingen 1910/11, S. 289-341.

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schen Begrifflichkeit“ als „Destruktion“30, als Abbau verfälschender Traditionen, andererseits um die Herausarbeitung einer „radikalen phänomenologischen Anthropologie“31 unter dem emphatischen Zeichen der Ontologie schlechthin. Dabei wählt Heidegger zweideutige Formulierungen, die ein Hand-in-Hand-gehen beider Aspekte unterstreichen sollen, und aus dieser Entsprechung heraus sind die kritischen präludierenden Bemerkungen zur Kollektiv-Bildung32 im Natorp-Bericht auch zu verstehen, d.h. eine Ontologisierung der Ideengeschichte aus einer politischen bzw. kulturkritischen Matrix heraus. So dass in der letzten Freiburger Vorlesung vom Sommersemester 1923 beide Argumentationsreihen sehr eindrucksvoll für die Zuhörer kombiniert werden, also einerseits der kulturkritische Umbruchswille und andererseits die Herausarbeitung existentieller, suprahistorischer Defizienzen sowohl des je einzelnen Verstehens wie auch der verschiedenen möglichen, historisch variablen Kollektivbildungen. 2. Das politische Wesen 1924 Heideggers ‚theoretisches Manöverʻ Aristoteles, das zunächst auch kulturkritisch eingesetzt wird, gewinnt während der Marburger Zeit eine gewisse Eigendynamik, d.h. es trägt schließlich dazu bei, den Heidegger’schen Umbruchswillen der frühen Freiburger Vorlesungen – aus dem es hervorgegangen ist – zu untergraben. Dies lässt sich anhand der Art und Weise demonstrieren, wie Heidegger am Anfang seiner Marburger Zeit ganz spezifisch den aristotelischen Gemeinschaftsbegriff der Koinonia innerhalb der doppelten Definition des Menschen als zoon logon echon und als zoon politikon reflektiert.33 Laut Heideggers Ausführungen im Sommersemester 1924 kommt im ersten Buch der Politik

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GA 62, S. 367. Ebd., S. 368. Vgl. ebd., S. 347f. Vgl. dazu auch Jacques Taminiaux, Sillages phénoménologiques. Auditeurs et lecteurs de Heidegger. Bruxelles: Ousia, 2003, S. 50-64, sowie Roman Dilcher, „Die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins. Heidegger, Aristoteles und die Sache der Rhetorik“, in: Josef Kopperschmidt (Hrsg.), Heidegger über Rhetorik, München: Fink, 2009, S. 89-111.

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„die Bestimmung des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον […] in einer ganz bestimmten Abzweckung vor, im Zusammenhang des Nachweises, daß die πόλις eine Seinsmöglichkeit des menschlichen Lebens ist“.34

Ontologisch durchformuliert heißt dies dann: „Im Sein des Menschen selbst liegt die Grundmöglichkeit des Seins-in-der-πόλις.“35 Der noch in Sein und Zeit prominent auftretende Begriff des Miteinanderseins erscheint in dieser Vorlesung zum ersten Mal, und zwar als eine Übersetzung von Aristoteles’ Koinonia-Begriff.36 Auffallend ist in Heideggers Analyse, dass einerseits auf den analytischen und praxeologischen Aspekt des aristotelischen Textes kaum eingegangen wird, und andererseits dass die politische Anthropologie des Aristoteles etwas forciert in ontologische Begrifflichkeiten übersetzt wird. Diese forcierte Ontologie liegt aber auch daran, dass Heidegger zu dieser Zeit den Subjekt-Begriff dekonstruiert37, wie zum Beispiel in der gleich darauf anschließenden Formulierung: „Dieses Seiende, das mit der Welt spricht, ist ein solches, das im Sein-mit-anderen ist.“38 Die Engführung zwischen zoon logon echon und zoon politikon, die hier deutlich wird, mündet in eine drastische Hervorhebung des kommunikativen Aspektes des Gemeinschaftsbegriffes: „Miteinandersprechen mit anderen Sprechenden“ ist „das seinsmäßige Fundament der Koinonia“.39 Die Engführung zwischen zoon logon echon und zoon politikon stellt nicht zuletzt eine Kritik des klassischen politischen Vernunftbegriffs dar, denn laut Heidegger kann der zoon logon echon im aristotelischen Sinne nicht als animal rationale, als vernünftiges Wesen verstanden werden, dessen Vernunft die Vorbedingung des animal sociale sei und damit die Rationalität der Kollektivbildung begründet. Vielmehr ist „die Bestimmung des Miteinanderseins gleichursprünglich […] mit der Bestimmung des Sprechendseins“.40 Und gerade an dieser exponierten Stelle setzt Heidegger den Begriff des Man ein. Er wird als „das eigentliche Wie […] des durchschnittlichen,

34 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (Wintersemester 1924), hrsg. von Mark Michalski, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2002 [= Gesamtausgabe, Bd. 18], S. 45 (im Folgenden GA 18). 35 Ebd., S. 46. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd., exemplarisch S. 56f. 38 Ebd., S. 46. 39 Ebd., S. 50. 40 Ebd., S. 64.

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konkreten Miteinanderseins“ bezeichnet, d.h. als Standardmodus des Kollektivs. Aber während im Natorp-Bericht das ‚Geredeʻ nur die kommunikative Veräußerung des Man ist, sein sprachliches Symptom, ist nun „der eigentliche Träger dieses Man […] die Sprache“.41 Dieser neue Aspekt wird jedoch von Heidegger an dieser Stelle der Vorlesung nur angedeutet. Ausgeführt wird dies erst weit später in der Vorlesung, nachdem er die besondere Beziehung zwischen der griechischen Auffassung der Rhetorik und derjenigen der Politik im Miteinandersein der Menschen als Miteinandersprechen hervorgehoben hat.42 Dies mündet letztlich in Ausführungen über die Doxa in der Nikomachischen Ethik. Zwar referiert Heidegger den doppelten Charakter des aristotelischen Doxa-Begriffes, der als Meinung sowohl der Wahrheit wie auch der Nicht-Wahrheit entsprechen mag, doch indem er die Doxa als „die eigentliche Orientierung des Miteinanderseins in der Welt, und zwar des durchschnittlichen Miteinanderseins“ definiert, überträgt er den Charakter des Man und des Geredes auf die Doxa: „Es liegt in der Struktur der δóξα die Möglichkeit, daß sie zu einer eigentümlichen Herrschaft und Hartnäckigkeit kommen kann. […] Was hinter der Herrschaft der δóξα steht, sind die anderen, die eigentümlich unbestimmt sind, die man nicht fassen kann – man ist der Ansicht: eine eigentümliche Herrschaft, Hartnäckigkeit und ein Zwang, der in der δóξα selbst liegt.“43

Zwar gesteht Heidegger der Doxa einen deliberativen Charakter zu, doch letztlich „ist die δóξα Boden, Quelle und Antrieb für das Miteinandereden, so, daß das, was im Verhandeln selbst sich ergibt, selbst wieder den Charakter einer δóξα hat“.44 Der deliberative Charakter der öffentlichen Meinung mündet bei Heidegger dementsprechend nicht in einen Konsens durch den die Gemeinschaft zum Träger ihres eigenen Tuns wird oder es zumindest mitbestimmt, sondern „Die δóξα hat die Herrschaft und Führung des Miteinanderseins in der Welt.“45 Sie also nicht einmal dessen kommunikative Veräußerung, auch kein polyphones Meinungsgefüge,

41 Ebd. 42 Ebd., S. 134-136, insb. S. 134: „Die Rhetorik ist also selbst keine rein formale Disziplin, sondern es zeigt sich, daß sie Beziehung hat zum Sein des Miteinanderseins der Menschen. Man kann die ausdrückliche Betonung des Zusammenhangs von Politik und Rhetorik nur verstehen, wenn man sich den zeitgeschichtlichen Hintergrund vergegenwärtigt.“ 43 Ebd., S. 151. 44 Ebd. 45 Ebd.

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sondern eine sich selbst reproduzierende, vom Kollektiv losgelöste Instanz, die es aber gleichzeitig vollkommen bestimmt. Es ist dabei schon faszinierend zu beobachten, wie Heidegger ausgerechnet anhand der Nikomachischen Ethik eine Negierung jedweden politischen Handlungsspielraums, ja selbst politischen Tuns, herausliest. Und es ist nur allzu verlockend, solche Formulierungen, die dann auch ähnlich mittels Sein und Zeit drei Jahre später in den öffentlichen Raum der Weimarer Republik eintreten werden, als zeitbezogene Demokratiekritik zu werten, gar als Para-Diskurs zu Hitlers Mein Kampf auf dem Sonderweg zur Selbstzerstörung. Doch darum geht es Heidegger hier nur bedingt, denn schon „Zur Zeit Platos und Aristoteles’ war das Dasein […] mit Geschwätz beladen“.46 Indem also Heidegger seine Analysen des Man und des Geredes mittels Aristoteles auf einen Grundpfeiler der politischen Theorie fußen lässt, bestimmt er diese Erscheinungsformen der Gesellschaftlichkeit nicht als spezifisch moderne Entartungsformen, sondern als überzeitliche Konstanten. So ist – wie es in der nächsten Vorlesung vom Wintersemester 1924/25 heißt – die „anthropologische Struktur […], in der der Mensch innerhalb der griechischen Forschung stand“, selbst nur eine geschichtlich determinierte Spielart der allgemeinen „Seinsstrukturen des menschlichen Daseins“.47 Das heißt, es geht Heidegger darum, „Anthropologie als Ontologie“ zu fundieren, so der Titel einer Notiz zu dieser Vorlesung.48 Diese fundamentale Skepsis gegenüber einer deliberativen Gesellschaftlichkeit wird auch in einem Vortrag über Aristoteles vom 2. Dezember 1924 in Köln öffentlich deutlich. Dort heißt es in extremer Zusammenraffung: „Das Miteinandersein der Menschen, die Koinonia, […] ist Miteinandersein im Gerede.“49 So wird durch den Rekurs auf den Begriff der Koinonia ein möglicher Unterschied zwischen antiker Gesellschaftlichkeit

46 47 48 49

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Ebd., S. 109. GA 19, S. 370. Ebd., S. 635. Der Passus befindet sich nicht in Heideggers Manuskript, so wie es in Martin Heidegger, „Dasein und Wahrsein (nach Aristoteles)“, in: ders., Vorträge. Teil 1: 1915-1932, hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2016 [Gesamtausgabe, Bd. 80.1], S. 57-80, wiedergegeben ist. Es handelt sich vielmehr um eine zeitgenössische Mitschrift, die bis jetzt nur in englischer und französischer Übersetzung publiziert wurde, und die zahlreiche gravierende Abweichung von Heideggers Manuskript aufweist. Dies liegt einerseits an Heideggers relativ freiem Vortragsstil, andererseits an der Tatsache, dass er den

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und moderner Massendemokratie negiert. In dem Vortrag wird aber auch die kulturkritische Entweder-oder-Rhetorik der frühen Freiburger Jahre wieder bemüht, doch bezeichnenderweise in eine ideengeschichtliche Problematik eingefügt, die in den Vorlesungen wiederholt formuliert, in dem Manuskript zu diesem Vortrag aber in einer schon dramatischen Bündelung offeriert wird: „Die Fundamente der heutigen Wissenschaften und erst recht der begriffliche Bestand der Philosophie reichen in die Forschungen der Griechen, vor allem des Aristoteles zurück. Freilich ist dieses Gut, mit dem wir arbeiten, abgegriffen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Es steht ganz bei uns: entweder uns selbst in den Fundamenten unseres Sehens und Fragens durchsichtig zu werden und so den Kampfplatz für echte Auseinandersetzungen zu gewinnen – oder aber beliebig äußerlich und zufällig von den alten Begriffen Gebrauch zu machen. Die Entscheidung in diesem Entweder-Oder hängt davon ab, wie weit verstanden wird, was Geschichte ist, ob man in ihr eine Antiquitätensammlung sieht für die Neugier und gelegentliche Belehrung, oder ob man versteht, daß wir die Geschichte selbst sind und somit für sie und deren Auswirkung die Verantwortung tragen. Die Interpretation will nichts weiter denn für Aristoteles die Gelegenheit ausarbeiten, selbst zu sprechen.“50

Demnach lässt sich die Genese der kollektivkritischen Begriffe Man und Gerede in einen doppelten Rahmen verorten: einerseits ein kulturkritischer Ursprung, andererseits die Tatsache, dass Heidegger aus verschiedenen Gründen, die man zur Diskussion stellen könnte, diskursstrategisch auf die griechische Antike und insbesondere (bzw. ausgerechnet) auf Aristoteles setzt. Dies nimmt aber dem kulturkritischen Ausgangspunkt den Wind aus den Segeln, denn Heideggers kulturkritischer Diskurs zielt systematisch – sei es zwischen 1918 und 1923 oder wieder ab 1929 – auf einen radikalen Umbruch, auf eine Form von ideeller aber auch gesellschaftlicher Zeitenwende ab, was jedoch durch die Annahme von überzeitlichen Strukturen

Vortrag insgesamt sechsmal zwischen dem 1. und 8. Dezember 1924 wiederholt hat und wohl dementsprechend variiert hat. Bei der Mitschrift handelt es sich um den Vortrag vom 2. Dezember in Köln, in Anwesenheit Schelers. Der Verfasser bedankt sich bei dem französischen Übersetzer Hicham-Stéphane Afeissa für die Einsicht in diese auf Deutsch unveröffentlichte Mitschrift, das Zitat befindet sich darin auf S. 7. 50 M. Heidegger, „Dasein und Wahrsein (nach Aristoteles)“, S. 57f. Vgl. auch GA 18, S. 5-15.

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der Gesellschaftlichkeit, die eine kollektive Authentizität nur als Ausnahmezustand gelten lässt, zur Unmöglichkeit wird. So ist ein Hauptargument Heideggers in seinem Aristoteles-Vortrag von 1924 ja gerade, dass Aristoteles’ Denken gesellschaftspolitisch von Interesse sein kann, weil die Antike mit genau den selben Problemen zu kämpfen hatte wie die Weimarer Republik.51 Dementsprechend sollte der Einschlag der griechischen politischen Tradition in der Entwicklung des Heidegger’schen Diskurses nicht unterschätzt werden, aber auch nicht überschätzt. Dies tut Michael Allen Gillespie, wenn er so weit geht zu behaupten, Heideggers Aristoteles-Analysen würden seine Zuwendung zum Nationalsozialismus erklären. Laut Gillespie mündet Heideggers Interpretation der aristotelischen Phronesis in ein kairologisches Politikverständnis. Heideggers Denken in zugespitzten Alternativen wäre so seiner Interpretation der Nikomachischen Ethik geschuldet, sein Dezisionismus eine paulinische Umdeutung Aristoteles’, ein Dezisionismus der Heidegger geradewegs in den Nationalsozialismus führt.52 Doch der politische Aspekt der Phronesis wird von Heidegger nie ausgespielt und Gillespie belegt dieses kairologische Moment nur durch Vorlesungen von 1933/34. Auffallend ist vielmehr die Tatsache, dass Heidegger seinen Entweder-Oder-Diskurs, der für ihn so charakteristisch während Anfangsjahre der Weimarer Republik ist (also noch vor seiner Zuwendung zu Aristoteles), eben gerade nicht durch Aristoteles’ KairosAnalysen untermauert. Peter Österreichers Position ist differenzierter, wenn er Heideggers Doxa-Analysen von 1924 als eine ambivalente Zwischenposition interpretiert, bei der Heidegger sowohl die positive DoxaAuffassung von Aristoteles wie auch die negative Platons kombiniert, wobei die negative Auffassung Platons letztendlich in Sein und Zeit radikalisiert zum Tragen kommt, so dass Heideggers Auffassung des Man und des

51 Vgl. M. Heidegger, „Dasein und Wahrsein (nach Aristoteles)“, S. 63-65, noch ausgeprägter in der Kölner Mitschrift S. 6-8. Siehe dazu auch Theodore Kisiel, „Heideggers Einsetzung der rhetorischen Politik in seine ‚urpraktischeʻ Ontologie (Die Franzosen besetzen das Ruhrgebiet)“, in: Andreas Großmann / Christoph Jamme (Hrsg.), Metaphysik der praktischen Welt. Perspektiven im Anschluß an Hegel und Heidegger, Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 2000, S. 165-186. 52 Vgl. M. A. Gillespie: „Martin Heidegger’s Aristotelian National Socialism“, S. 150f.

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Geredes eine Form von „Kryptoplatonismus“ darstelle.53 Dieses ideengeschichtliche Modell geht also von einem an sich neutralen aristotelischen Ausgangspunkt aus (der ja durch Heideggers Projekt eines AristotelesBuchs ab 1922 belegt ist), der in eine platonische Radikalisierung mündet. Dem kann man jedoch entgegenhalten, dass die Radikalisierung der Kritik der Gesellschaftlichkeit als anthropologischer Konstante gerade 1924 im Zeichen der aristotelischen politischen Anthropologie stattfindet. Und wenn man von einer Modernekritik als konstantes Anliegen Heideggers ausgeht, findet ganz im Gegenteil eine erhebliche Entwicklung im Sinne einer Abschwächung der Ausgangsposition statt, da in der in Sein und Zeit formulierten Ontologie eine radikale Überwindung der Moderne nicht mehr zu leisten ist. 3. Das politische Unwesen 1934 Dass Heideggers Politik-Auffassung, bzw. die Art und Weise, wie er über das Politische reflektiert, sich im Rahmen von aristotelischen Kategorien bewegt, wird auch während der Rektoratszeit deutlich. Dabei werden die begrifflichen Konstellationen, die 1924 herausgearbeitet wurden, d.h. die Beziehung zwischen zoon logon echon und zoon politikon und damit auch die Beziehung zwischen Rhetorik und Politik, wieder aufgegriffen, jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. Exemplarisch geschieht dies in seiner Vorlesung vom Wintersemester 1933/34. Er geht dabei wieder von der Sprache aus („Die Sprache ist das Grundelement des Miteinanderseins der Menschen.“54) Doch die kritischen Überlegungen zur Öffentlichkeit und zum Man bzw. zur Doxa fallen nun weg. Der zoon politikon meint nun keinesfalls, laut Heidegger, dass der Mensch ein ‚geselliges Wesenʻ sei, sondern: „Der Mensch ist ein solches Lebewesen, das von Haus aus zugehörig ist einem Miteinander im Staat. Dieses Miteinander ist nicht verstanden auf Grund dessen, daß es viele Menschen gibt, die man in Ordnung halten muß,

53 Peter L. Oesterreicher, „Kryptoplatonismus. Heideggers eigenwillige Adaptation der Doxa“, in: Josef Kopperschmidt (Hrsg.), Heidegger über Rhetorik, München: Fink, 2009, S. 179-195. 54 Martin Heidegger, Sein und Wahrheit. 1. Die Grundfrage der Philosophie (Sommersemester 1933). 2. Vom Wesen der Wahrheit (Wintersemester 1933/34), hrsg. von Hartmut Tietjen, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2001 [= Gesamtausgabe; Bd. 36/37], S. 158.

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sondern als miteinander zugehörig dem Staate, aus dem Staat heraus existierend.“55

Diese anthropologisch fundierte Zugehörigkeit dem Staate gegenüber ist im Heidegger’schen Diskurs ein Novum und ein deutliches Zeichen seines nationalsozialistischen Engagements. So verweist der Sprachcharakter des Kollektiven nicht mehr auf eine a priori uneigentliche Öffentlichkeit, wie dies zehn Jahre vorher der Fall war, sondern begründet ganz im Gegenteil die Möglichkeit einer Selbstreflexion des Staates unter dem – nach 1933 verhängnisvoll gewordenen – Schlagwort der „politischen Wissenschaft“, denn Heidegger fährt fort: „[U]nd zwar vollzieht und gestaltet sich diese Existenz durch die Rede, den λόγος. Die Wissenschaft, die sich auf das Redenkönnen bezieht, die Rhetorik, ist die Grundwissenschaft vom Menschen, die politische Wissenschaft.“56

Dieser Reflexionsprozess der Staatsangehörigen über den Staat in einer dezidiert nationalsozialistischen Perspektive wird in einer parallel abgehaltenen Seminarübung versucht. In der sechsten Stunde, am 19. Januar 1934, liest man im von Studenten verfassten Protokoll, wieder in Bezugnahme auf Aristoteles: „[E]igentlich ζῷον πολιτιϰόν ist der Mensch […] insofern Menschsein heißt: In sich die Möglichkeit und Notwendigkeit tragen, in einer Gemeinschaft sein eigenes Sein und das der Gemeinschaft zu gestalten und zu vollenden.“57

Das für die Marburger Zeit charakteristische „Miteinandersein“ wird zur eindeutig positiv besetzten „Gemeinschaft“. Damit geht einher, dass der Sprachcharakter der Koinonia im Seminar vollends wegfällt, und die Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv ist dementsprechend harmonisch, ja symbiotisch, denn es geht um einen doppelten, sich jeweils ergänzenden Schaffensprozess und nicht – wie wohl während der ‚Systemzeitʻ der Weimarer Republik – um leerlaufende Deliberationen. Die darauffolgende Aussage unterstreicht noch diesen dynamisch-kreativen Charakter:

55 Ebd. 56 Ebd. 57 Martin Heidegger, „Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat“, in: Alfred Denker / Holger Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und der Nationalsozialismus I. Dokumente, Freiburg/München: Alber, 2010, S. 53-88, hier S. 71.

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„Der Mensch ist ein ζῷον πολιτιϰόν, weil er Kraft und Anlage zur πόλις hat, wobei also πόλις nicht begriffen ist als ein schon vorher bestehendes, sondern als etwas, das der Mensch erst gestalten konnte und mußte.“58

Das Präteritum am Satzende bedeutet jedoch nicht, dass ein solcher Staat sich aus der griechischen Tradition bis zum heutigen Tage erhalten hätte, sondern dass analog zur griechischen Polis- bzw. Staatserschaffung es nun darum geht, ein ebensolches Unternehmen im Lichte der nationalsozialistischen Revolution in Angriff zu nehmen. Dies wird in der nächsten Stunde deutlich, am 2. Februar 1934, wenn die Beziehung zwischen Individuum und Staat sich im „Sein“ selbst artikuliert, denn „das Sein des Staates liegt verankert im politischen Sein der Menschen, die als Volk diesen Staat tragen, die sich für ihn entscheiden“.59 Und diese „politische, d.h. geschichtlich schicksalhafte Entscheidung“ gründet wiederum auf dem „Staatsmann oder Führer“.60 Nicht zu Unrecht bewertet Marion Heinz dies als „Versuch einer existenzialontologischen Fundierung des anti-demokratischen Führer-Staates als legitime Fortführung des griechischen Anfangs“.61 Während jedoch Heidegger am Anfang der 1920er Jahre die kulturkritische Figur des Verfalls in eine Existenzialontologie überführt, spielt umgekehrt nun das Narrativ eines spezifisch politischen Verfalls eine legitimierende Rolle. Denn in der sechsten Stunde erfahren die Studenten auch von dem „Zerfall [ihres] Staates“, einem Zerfall, der in der Renaissance in Ursprung hat mit der bei ihr einsetzenden doppelten Dynamik von Individualisierung und Spezialisierung.62 So dass Hitlers Machtergreifung als Gegenbewegung zu einem politischen Verfall erscheint, der während der Weimarer Republik ihren Höhepunkt erreicht hatte. Auffallend ist dabei, dass Argumentationsrahmen und -substrat 1924 und 1934 identisch sind, jedoch völlig anders benutzt werden. Dies wirft dabei die methodologische Frage auf, ob ideengeschichtliche Argumentationsmuster in ihrer Diskurshaftigkeit politisch präformiert sind. Doch stellt die Analogie zwischen den beiden Argumentationsrahmen eine wei-

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Ebd. Ebd., S. 73. Ebd. Marion Heinz, „Volk und Führer. Untersuchungen zu Heideggers Seminar Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat (1933/34)“, in: Alfred Denker / Holger Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und der Nationalsozialismus II. Interpretationen, Freiburg/München: Alber, 2009, S. 55-75, hier S. 61. 62 M. Heidegger, „Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat“, S. 72.

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tere Frage, diejenige der Kontinuität innerhalb einer Entwicklung. Denn diese Analogie kann trotz konträrer Ausrichtung durchaus als Kontinuität bewertet werden, was an sich eine Deutung darstellt, die wiederum politisch aufgeladen werden kann. Einerseits kann diese Kontinuität darauf verweisen, dass Heidegger schon am Anfang seines Denkweges dezidiert jenseits von rechtskonservativen Positionen zu verorten ist (Emmanuel Faye ist wohl zur Zeit der prominenteste Vertreter dieser Hypothese), wie sie auch interpretiert werden kann als ein Festhalten an Problemstellungen, die aus der vermeintlichen politischen Unschuld der griechischen Antike geschöpft wurden, und die während der Rektoratszeit aus Übereifer ins Heikel-Politische nahezu versehentlich abrutschen (eine lange Zeit dominierende, aber seit dem Erscheinen der Schwarzen Hefte kaum noch vertretene Hypothese). Beide Positionen überbewerten aber jeweils ein Feld (Aristoteles vs. rechtskonservative Position), während die Entwicklung Heideggers, wie eine diskursstrategische Rekonstruktion zeigt, weitaus komplexer ist. Eine solche Rekonstruktion dieser Entwicklung ist aber noch deshalb signifikant, weil Franco Volpi seit den 1990er Jahren mit der These weites Gehör findet, dass Heideggers Aristoteles-Interpretationen nach dem zweiten Weltkrieg maßgeblich zu einer nicht zuletzt politischen Aristoteles-Renaissance durch Schüler wie Hannah Arendt, Leo Strauss oder Joachim Ritter beigetragen hätten63, einer These, der Thomas Gutschker im Bereich der politischen Philosophie sehr ausführlich nachgeht.64 Doch zumindest im Fall des in der bundesrepublikanischen Philosophie sehr einflussreichen Joachim Ritters ist diese These fragwürdig, denn er hatte nur kurz die Gelegenheit, Heidegger in Freiburg zu hören und distanziert sich nach dem Krieg explizit von Heideggers Verständnis der griechischen Philosophie.65 Aber noch fundamentaler fußt diese These eines Einflusses Heideggers auf die Aristoteles-Rezeption der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Hypothese eines annähernd homogenen Argumentationssubstrats seitens Heideggers, von dem ein prägender Einfluss erst ausgehen könnte. Ein solch homogenes politisches Argumen-

63 Vgl. bilanzierend Franco Volpi, „Heidegger und der Neoaristotelismus“, in: Alfred Denker (Hrsg.), Heidegger und Aristoteles, S. 221-236. 64 Thomas Gutschker, Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler, 2002. 65 Vgl. Joachim Ritter, „Aristoteles und die Vorsokratiker“ [1954], in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969, S. 34-56, insb. S. 38 u. 56.

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tationssubstrat existiert jedoch nicht, nur ein letztlich höchst wandelbares Bild von Aristoteles.

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Überlegungen zu einer Ideengeschichte des Nationalsozialismus im Anschluss an Helmuth Plessner und Hannah Arendt. Ansätze zu einer Methodologie der Ideengeschichte Wolfgang Bialas

Ideengeschichtliche Referenzen im zeitgeschichtlichen Kontext historischer Umbrüche dienen der Legitimierung des Umbruchs durch die Mobilisierung selektiv interpretierter Traditionen zur Konstruktion einer Balance zwischen Bruch und Fortsetzung, Diskontinuität und Kontinuität radikal infrage gestellter Entwicklungen. Dabei konstruieren ideengeschichtliche Bezüge einen Diskurszusammenhang, der philosophische und politische Denkfiguren als zugleich zeitgeschichtlich brisante wie historisch übergreifende Aufforderungen zu geistigen und politischen Interventionen in aktuelle Konflikte und Auseinandersetzungen mobilisiert. Dabei geht es darum, mit dieser Konstruktion eines Traditionszusammenhangs zugleich eine reduktionistische Nivellierung und Überblendung ganz unterschiedlicher Problemlagen zu vermeiden, die mit Metaphern wie „vorausschauender Vorwegnahme künftiger Entwicklungen“ oder „retrospektiver Aufklärung zeitgenössisch diffuser Konstellationen“ unterstellen würde, Geschichte ließe sich als Abfolge ideeller Konfigurationen rekonstruieren, Zeit- und Ideengeschichte seien also nichts anderes als Variationen ein und desselben Geschehens, das sich lediglich in unterschiedlichen Medien entfalte. Als Parallelgeschichte der Politik wird politische Ideengeschichte dann zur Legitimationsgeschichte instrumentalisiert oder aber zur alternativen Geschichte nicht wahrgenommener Möglichkeiten aufgebaut, die in einer ideellen Gegengeschichte präsent gehalten werden. Historische Bezüge in der philosophischen und politischen Theoriebildung haben dagegen die Funktion, eine solche suggestive Angleichung unterschiedlicher Probleme und ihrer geistigen Reflexion zu vermeiden und durch die für Interpretationen offene Figur der ideellen Gleichzeitigkeit des politisch und historisch Ungleichzeitigen zu ersetzen. Diese Denkfigur sieht in der politischen Ideengeschichte ein Kontinuum, das in einer ideellen Parallelgeschichte des Politischen den Vergleich auch solcher Ereignisse ermöglicht, die in keinem direkten Zusammenhang stehen.

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Unterstellt wird dabei, dass diese Ereignisse mit Erkenntnisgewinn im Raster der gleichen Ideen interpretiert werden können, ohne sie dadurch begriffsgeschichtlich gleichzuschalten. Zeitlich weit auseinanderliegende Ereignisse, die sich nur schwer auf einen politischen Nenner bringen lassen, werden dadurch in einen ideengeschichtlichen Vergleichshorizont gesetzt, der sie auf wechselseitig erhellende Weise aufeinander bezieht, ohne ihre historische Einzigartigkeit zu relativieren. Deutungs- und Denkmuster der Ideengeschichte verweisen auf die Anschlussfähigkeit je historisch spezifischer Versuche, aus historischen Ereignissen und politischen Turbulenzen Bedeutungen zu destillieren und Sinn zu generieren, die die Gegenwart als zukunfts- und entwicklungsfähige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ausweisen. Politische Ideengeschichte ist selbst Teil von Traditionskonstruktionen, -reproduktionen, -rekonstruktionen und -transformationen, die sie kritisch reflektiert und dadurch zugleich bekräftigt. Gegen die suggerierte Alternative von Kontinuität und Diskontinuität eröffnet sie dadurch ein Spektrum des Vergleichs, der solche Festlegungen und Vereinseitigungen vermeidet. Politische Ideengeschichtsschreibung muss sich an diesem Balanceakt der Vermeidung vorschneller Identifizierung geistiger Traditionslinien ebenso wie der Konstruktion radikaler Brüche und Zäsuren profilieren. Auch die Behauptung eines radikalen Bruchs mit ideengeschichtlichen Traditionen stellt einen Bezug zu diesen Traditionen her, von denen sie sich ablöst und abgrenzt. So war die politische Ideengeschichte der Zwischenkriegszeit noch in ihrer Emanzipation von den ideologischen Debatten dieser Zeit Teil dieser Debatten. Ideengeschichte ist Ausdruck einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur, auf die sie reagiert, ohne deren Konflikte und Probleme lediglich in der ideellen Überhöhung oder Verfremdung zu spiegeln. Sie ist nicht lediglich Projektionsfläche zeitgenössischer Problemlagen, sondern ein eigenständiger Versuch, Geschichte nach ideellen Maßstäben zu strukturieren. Wie ein Text zeitgeschichtlich funktioniert, lässt sich nicht aus der vermeintlich schlüssigen Aktualisierung eines in unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten mobilisierbaren politischen Potentials dieser Ideen erklären. In den vielschichtigen Prozess der Aneignung politischer Ideengeschichte geht die Rezeption und Interpretation der Ideen ebenso ein wie die dabei entwickelten diskursiven Strategien im für eine Vielzahl von Rezeptionen und Interpretationen offenen Feld der Ideengeschichte.

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Überlegungen zu einer Ideengeschichte des Nationalsozialismus

Die bürgerlich-humanistische Moral hatte den Nationalsozialismus nicht verhindern können. Die Ideengeschichte ihrer Begründung ist dadurch jedoch ebenso wenig diskreditiert, wie diese Moral selbst, jedenfalls dann nicht, wenn man Politik, Moral und Ideengeschichte als eigenständige Formationen begreift, die sich in wechselseitigen Konstellationen zusammenschließen können, ohne dabei ihre Eigenständigkeit zugunsten einer symbiotischen Funktionalität aufzugeben. Unter dieser Voraussetzung kann Ideengeschichte im Horizont des Politischen durch gegenläufige politische Entwicklungen nicht widerlegt werden, die sie vielmehr an die Eigendynamik ihrer Diskurse erinnern. Politische Ideen können zur normativen Orientierung und Kritik von Politik dienen, sie können jedoch nicht durch Politik verwirklicht oder widerlegt werden. Ihr spezifischer Diskurszusammenhang unterliegt eigenen Regeln: Diese sichern, dass die rückhaltlose Instrumentalisierung der Ideengeschichte zu herrschafts- und machtpolitischen Zwecken deren kritisches Reflexionspotential zwar zeitweise überlagern und unterdrücken, nicht jedoch ausschalten kann. Dadurch bleibt es möglich, Ereignisse als Konsequenz machtpolitischer Auseinandersetzungen sachlich zu bilanzieren, ohne den kritischen Horizont moralischer Maßstäbe politischen Handelns aufzugeben. Mit der Konstruktion exemplarischer Probleme und Entscheidungen generiert Geschichtsphilosophie Bedeutungen, die historische Ereignisse zum empirischen Material einer universellen Bedeutungsgeschichte anordnen. Damit behauptet sie einen verborgenen Sinn der Ereignisse, der sich den historischen Akteuren nicht erschließt, auch wenn sie ihn selbst erst konstituiert haben. Der Politik werden dann als Verwirklichung von Ideen Bedeutungen zugeschrieben, die sich allein aus der Pragmatik politischer Auseinandersetzungen nicht plausibel konstruieren ließen. 1. Der Nationalsozialismus im Anschluss an philosophische Imaginationen von Deutschsein1 Die nationalsozialistische völkische Revolution beanspruchte in der Durchsetzung eines radikal Neuen zugleich auch bisher unterdrückte, politisch nicht zum Zuge gekommene völkische Traditionen und vorgeschicht1 Vgl. dazu Wolfgang Bialas, „Der Nationalsozialismus und die Intellektuellen. Die Situation der Philosophie“, in: Wolfgang Bialas / Manfred Gangl (Hrsg.), Intellektuelle im Nationalsozialismus. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2000, S. 13-49.

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liche mythische Quellen des Deutschen zu mobilisieren. Die Nationalsozialisten sahen sich als ideologische Platzhalter höherer Prinzipien in der außeralltäglichen Situation der Bewährung vor der Geschichte selbst. Völkische und nationalkonservative Intellektuelle sahen im Nationalsozialismus ihre eigenen geschichtsphilosophischen Phantasien der Mobilisierung mythischer Quellen deutschen Seins mit der entsprechenden politischen Energie verfolgt. In der Aneignung deutscher und europäischer Ideengeschichte bestand die nationalsozialistische Ideologie darauf, die politische Durchsetzung der von ihr favorisierten Ideen tatsächlich anzugehen, ohne Rücksicht auf deren Komplexität und Resistenz gegenüber politischer Vereinnahmung und Instrumentalisierung. Ob Nietzsche oder Kant, Hegel, Fichte oder Platon, Leitmotiv dieser Aneignung war die Eignung dieser im Zweifelsfall auf politische und ideologische Schlagworte reduzierten Ideen zur Begründung und ideengeschichtlichen Rechtfertigung nationalsozialistischer Politik. Eben weil sich die nationalsozialistische Ideologie nicht damit begnügte, ihre politischen Ambitionen mit der Aura höherer Bedeutungen zu versehen, sondern an diesen Ideen selbst Bedeutungen freilegte, deren politische Verwirklichung sie beanspruchte, musste die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch auf dieser Ebene der symbiotischen Verklammerung von philosophischen Ideen und politischen Zielen zu einer Politisierung der Ideengeschichte geführt werden. Philosophische und literarische Imaginationen von Deutschsein in weltbürgerlicher Bedeutung behaupteten in der Tradition der deutschen Klassik ein national spezifisches missionarisches Projekt, Schicksal oder Verhängnis deutschen Geistes.2 Bei aller Kritik dieses Projektes wurde häufig dennoch seine nationalgeschichtliche und kulturelle Plausibilität anerkannt, die mit einer in Besonderheiten deutscher Geschichte liegenden spezifischen Mentalität, einem Nationalcharakter oder auch einer besonderen Affinität zu höheren Werten, zu Kultur und Sozialismus begründet wurde. Die Autoren solcher Konzepte operierten mit der nationalphilosophischen Rhetorik vom „Schicksal deutschen Geistes“ (Plessner)3, der Rede von den „philosophischen Grundlagen politischen Verhaltens“

2 Vgl. Wolfgang Bialas, (Hrsg.), Die nationale Identität der Deutschen: Philosophische Imaginationen und historische Realität deutscher Mentalität. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2002. 3 Vgl. Helmuth Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Zürich/Leipzig: Max Niehans, 1935.

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Überlegungen zu einer Ideengeschichte des Nationalsozialismus

(Cassirer)4 und der auf die deutsche Ideologie bezogenen Metaphorik der „Schicksalswende“ und „Vernunftzerstörung“ (Lukács).5 Besonderheiten deutscher Geschichte, die sie von anderen europäischen Nationalgeschichten unterschieden, wurden unter Bezug auf nationale Fragmentierung und „historische Verspätung“ zu einem „deutschen Sonderweg“ verallgemeinert. Spätestens seit Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ aus dem Jahre 1808 galt die Philosophie in Deutschland als symbolischer Ort nationaler Selbstverständigung.6 Die Formel vom „deutschen Wesen, an dem die Welt genesen“ solle, konnte so an eine philosophische Tradition anknüpfen, in der Deutschsein als eine weltgeschichtliche Mission gesehen wurde. Das „philosophische Volk par excellence“, das deutsche „Volk der Dichter und Denker“, traute sich zu, weltbürgerlicher Vernunft zunächst in Deutschland, aber auch weltweit, zum Durchbruch zu helfen, die Welt zum ewigen Frieden zu führen, ewige Menschheitsprobleme endlich und ein für allemal zu lösen. In der je originären Verknüpfung von deutscher Philosophie, Politik und Geschichte, so Protagonisten einer solchen Verknüpfung, habe sich eine spezifisch deutsche Form (Max Weber) herausgebildet; eine nationale Eignung zur Stellvertretung der Vernunft herausgestellt, die die Deutschen durch die Revolution zu exemplarischen Menschen werden lasse (Karl Marx); eine geistige Disposition zu Sozialismus und Kultur geformt (Oswald Spengler) oder aber philosophisch durch eine Verfallsgeschichte der Vernunft der deutsche Faschismus vorbereitet (Georg Lukács). In deutscher Philosophie und Literatur entwickelte sich eine tiefe Skepsis in die Gestaltungsfähigkeit von Politik, die sich auf die Miseren deutscher Politik bezog. Dabei reichte das Spektrum der generell formulierten Haltungen zur Politik von ihrer prinzipiellen Stigmatisierung als geistund substanzlos auf der einen bis zur übersteigerten Hoffnung in eine philosophische, durch kompetente und charismatische Führer angeleitete, am

4 Vgl. Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates (1945). Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 1985. 5 Vgl. Georg Lukács, Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie. Berlin: Aufbau, 1948 und ders., Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Berlin: Aufbau, 1955. 6 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808), in: Fichtes Werke, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Band VII: Zur Politik, Moral und Philosophie der Geschichte. Berlin: De Gruyter, 1971, S. 259-499.

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Maßstab universeller Werte und Ideen orientierte Politik auf der anderen Seite. Die Politik wurde zu philosophischer Ideenpolitik sublimiert, in der mit politischen Bedeutungen angereicherte geistige Auseinandersetzungen ausgetragen wurden, die in der Politik selbst nicht stattfanden. Zugleich wurde eine idealtypisch konstruierte Politik zum virtuellen Raum der Geltung und Reichweite philosophisch behaupteter Bedeutungen erklärt. Die Annahme eines wahren, eigentlichen, geheimen Deutschland, das unberührt von gegenläufigen soziokulturellen und politischen Entwicklungen eine eigene höhere Bedeutungsebene des Deutschen verkörpere, bereitete das durch die nationalsozialistische Ideologie aggressiv vertretene Konzept vor, die Qualität von Politik entscheide sich an ihrer Fähigkeit, höhere Werte der Rasse, des Deutschen oder der Volksgemeinschaft gesellschaftlich und kulturell durchzusetzen. 2. Philosophische Erklärungsversuche des Nationalsozialismus: Helmuth Plessner und Georg Lukács Die These von einem ideengeschichtlichen bzw. philosophischen „Sonderweg“ Deutschlands7 bezog sich auf verspätete, unterbliebene oder verfehlte nationalgeschichtliche wie sozialökonomische Entwicklungen, die dafür verantwortlich seien, dass Deutschland die Funktion eines geistigen Zentrums zur Vergewisserung der nationalen Eigenart und Identität der Deutschen der Philosophie zugefallen sei. In Abwesenheit eines deutschen Nationalstaates hätten die Philosophie oder philosophisch inspirierte Literatur in der geistigen Vorwegnahme politischer und sozioökonomisch ausgebliebener Entwicklungen die Funktion einer ideellen Stellvertretung des Nationalen übernommen. Ideologien, so Plessners Überzeugung, entfalteten ihre Wirkung nicht gegen die Geschichte, sondern nur mit und in ihr. In eigenwilliger Verstärkung, Abschwächung oder Ausblendung tatsächlicher Entwicklungen bestimmten sie die Geschichte zum Feld der Entscheidung über das Schicksal universeller Ideen und Werte.8 Inhaltlich zielte Plessners Ideologiekri-

7 Zur Diskussion vgl. Jürgen Kocka: „Der ‚deutsche Sonderweg‘ in der Diskussion“, German Studies Review, 5/1982, S. 365-379. 8 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, in: ders., Gesammelte Schriften, Band VI, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982, S. 7-225, hier S. 30.

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tik des Nationalsozialismus vor allem auf die Ersetzung des universellen Humanismus durch den biopolitisch selektiven Universalismus der Rasse. Im Nationalsozialismus sah Plessner keinen Bruch mit westlicher Rationalität bzw. Moderne, sondern den Ausdruck von Ambivalenzen der Moderne, die sich in Deutschland zur Entfaltung ihrer negativen Seiten vereinseitigt habe. Plessners historisch und ideengeschichtlich weit ausgreifende Interpretation sah im Nationalsozialismus den verhängnisvollen Zusammenschluss von Komplementärentwicklungen deutscher Geschichte und westeuropäischer Moderne. In Nazideutschland stand für Plessner die weltgeschichtliche Zukunft bürgerlicher Liberalität und Humanität auf dem Spiel. Die Verschränkung deutscher und europäischer Entwicklungen, von völkischem Aufbruch und krisenhafter Erschöpfung des politischen Humanismus werde den Westen zur Konfrontation mit dem Nationalsozialismus zwingen und ihn dadurch in die Lage versetzen, den politischen Humanismus als zukunftsfähiges Projekt zu erneuern. Der Nationalsozialismus war für Plessner ein klarer Angriff auf das bürgerliche Werte- und Gesellschaftssystem, auf den eine angemessene geistes- wie realpolitische Antwort gefunden werden musste. Deshalb konnten die deutschen Entwicklungen Europa nicht gleichgültig lassen, zielte die nationalsozialistische Ideologie doch in ihrer Infragestellung des politischen Humanismus auf den normativen Kern des westlichen Selbstverständnisses. Plessner ging es nicht um die Konstruktion eines deutschen Nationalcharakters, der den Deutschen im Nationalsozialismus zum politischen Verhängnis geworden wäre, „als habe in der politischen Katastrophe das Schicksal eines Geistes sich erfüllt“9, sondern um die „Kritik der Grundlagen [...], die den geistigen Nährboden für die Ideen des Nationalsozialismus abgaben“.10 Sein Thema war die Unfähigkeit der deutschen bürgerlichen Gesellschaft, sich gegen ihre aggressive Überwältigung durch die nationalsozialistische Bewegung zur Wehr zu setzen. Dabei beließ er es jedoch nicht bei der im Grunde ebenso hilflosen Rhetorik der Überwältigung. Seine Argumentation zielte auf die deutschen Entwicklungen und uneingelösten Erwartungen, aber auch Befürchtungen, die der Nationalsozialismus mit seinen eigenen ideologischen Inhalten besetzen konnte, um

9 Ebd., S. 12. 10 Ebd., S. 26.

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sich selbst als politische Lösung eines Problemstaus der deutschen Geschichte zu empfehlen. Georg Lukács’ geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus u.a. in seiner Schrift Die Zerstörung der Vernunft, in der er einen philosophischen Weg Deutschlands zu Hitler behauptete, eignet sich als Kontrastfolie zu Plessners ebenfalls geschichtsphilosophischem „Deutschlandbuch“. Gegen die Annahme einer nationalen Pathologie des Faschismus im Ergebnis einer unerklärlichen Schwächung der Immunkräfte von Moral und Humanität in Deutschland setzte Lukács auf die mögliche demokratische Erneuerung des deutschen Geistes aus eigenen inneren Kräften. Diese Erneuerung müsse auf „Traditionen der freiheitlichen Entwicklung Deutschlands“ zurückgreifen und die „Probleme des wahren Deutschtums“11 radikal zu Ende denken. In seiner eigenen Position nahm Lukács die Metaphorik von der kurzen, schweren „Erkrankung des deutschen Volkes“ auf. Diese Krankheit habe Deutschland jedoch nicht schicksalhaft von außen angefallen, sondern sich als innerer Krankheitsherd immer weiter im deutschen Volkskörper ausgebreitet, bis sie schließlich mit dem Faschismus zum offenen Ausbruch gekommen sei. Lukács sah eine akute Vergiftung auf der Basis eines langwierigen und chronischen gesellschaftlich-politischen Leidens mit tiefen Wurzeln in der ökonomischen, politischen und ideologischen Geschichte Deutschlands.12 Der spätere geistige und moralische Fall der deutschen Nation im Faschismus habe sich historisch lange vorbereitet.13 Dagegen behaupte eine Position, die den klassischen Humanismus Deutschlands und seine faschistische Gegenwart als schroffe Gegensätze gegeneinander stelle, die nichts miteinander gemein hätten, zwischen beiden einen ideologisch nicht zu überbrückenden Abgrund. Die Frage nach spezifisch deutschen Quellen der faschistischen Ideologie erübrigte sich dann. Diese war wie „aus dem Nichts entstanden“14, oder aber ihre Quellen mussten an anderer Stelle gesucht werden. Diesen Weg der ideologischen Entlastung des klassischen Humanismus und der idealistischen Philosophie von der Verantwortung für den Faschismus ging Lukács nicht. Stattdessen führte er mit den Argumentationsfiguren der ideologischen

11 12 13 14

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Ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 372. Vgl. ebd., S. 226f. Ebd., S. 229.

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Anfälligkeit und Schwäche des deutschen Humanismus, seiner zeitbedingten Grenzen und schließlichen reaktionären Verfälschung einen argumentativen Dreischritt vor, der die faschistische Instrumentalisierung deutschen Geistes plausibel machen sollte. Die Schwächung des bürgerlichen Humanismus durch die ideologiekritische Selbstzerstörung seiner konzeptionellen Grundlagen belegte für Lukács die Anschlussfähigkeit des Nationalsozialismus an die politische Ideengeschichte des Humanismus. Die Zurückweisung seines universellen Geltungsanspruchs ermöglichte dann die Profilierung des selektiven Humanismus der Rasse als Bruch mit dem rassenindifferenten bürgerlichen Humanismus. Der Nationalsozialismus konnte sich insofern als Fortsetzung und Vollendung der Ideengeschichte des Humanismus sehen, als er dessen ideologiekritische Selbstzerstörung durch seine rassenbiologische Erneuerung vollendete. Die Crux dieser in Anspruch genommenen Erneuerung war, dass ein politischer, also Politik strategisch anleitender Humanismus nur mit Hilfe der biologisch, sozial und kulturell grundlegenden Kategorie der Rasse entwickelt werden konnte. Die von Plessner rekonstruierte „Logik des Verdachts“ hatte mit der ideologiekritischen Zerstörung aller inneren und äußeren Autoritäten der Vernunft schließlich die Vernunft selbst als illusionäre Setzung entlarvt. Die Zerstörung der Philosophie als moralische Instanz habe die Akzeptanz des Nationalsozialismus als weltanschauliche Lösung der deutschen Identitätskrise vorbereitet.15 Diese Infragestellung von Vernunft und Geist, Freiheit und Geschichte hatte den substantiellen Kern bürgerlichen Selbstverständnisses schwer erschüttert und mit der „Selbstzerstörung der Vernunft“ durch den Rigorismus ihrer Prinzipien die Ersetzung einer Vernunftnatur des Menschen durch Blut und Rasse als seine biologische Natur vorbereitet. Die Diskreditierung des universellen Geltungsanspruchs von Freiheit, Gleichheit und Humanität als empirisch nicht begründbar, spekulativ und autoritär hatte den Boden für eine rassenpolitische Neuordnung Deutschlands bereitet. Gesetzt in das geistige Vakuum, das die Diskreditierung jeglicher Vernunftautorität hinterlassen hatte, konnte sich mit dem Rassekonzept eine vermeintlich höhere Form von Humanität durchsetzen. Auch Plessner schrieb der deutschen Philosophie eine herausragende Rolle im nationalen Selbstverständnis der Deutschen zu. Seine Verknüpfung des Nationalsozialismus mit dem Schicksal deutscher bürgerlicher

15 Vgl. H. Plessner, Verspätete Nation, S. 20.

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Kultur legte mit dem Konzept einer sich ständig steigernden ideologiekritischen Verdachtslogik gegen Aufklärung und Humanität die Annahme einer geistigen Wegbereitung des Nationalsozialismus ebenso nahe wie Lukács’ Konstruktion einer philosophischen Parallelgeschichte des Faschismus, die in der „Zerstörung der Vernunft“ einen „Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie“16 nachzeichnete. Beide gingen davon aus, dass die ideologiekritische Zerstörung universeller Gattungsvernunft deren Ersetzung durch die vermeintlich naturwissenschaftlich abgesicherten Konzepte von Blut und Rasse vorbereitet habe. Ohne fatalistisch den Nationalsozialismus zum unausweichlichen vorläufigen Endpunkt verhängnisvoller deutscher Entwicklungen zu erklären, ordneten Plessner wie Lukács den Nationalsozialismus in die Entwicklungslogik deutscher Geschichte ein, war dieser für sie also keineswegs das Ergebnis zufälliger oder spezifisch politischer Konstellationen des 20. Jahrhunderts. Eine methodische Isolierung des Nationalsozialismus als Fremdkörper deutscher Geschichte schlossen sie kategorisch aus. 3. Moderne und Nationalsozialismus: Reichweite und Grenzen der politischen Ideengeschichte Plessner sah seine Verspätete Nation als „Beitrag zur Geistesgeschichte des deutschen Nationalismus“.17 Diese Geschichte deutschen Geistes „im politischen und sozialen Horizont gesehen“18 war weder Dogmengeschichte noch im engeren Sinne Zeitgeschichte. Dem Nationalsozialismus gestand er zu, in der Tradition einer solchen politischen und sozialen Geistesgeschichte der Selbstermächtigung zu nationaler Größe zu stehen. Plessner gelang der seltene Balanceakt einer intellektuellen Distanzierung, die sich der irritierenden Nähe zu dem aussetzt, zu dem sie intellektuell erst Abstand zu gewinnen sucht. Die geistige Faszinationskraft der durch den Nationalsozialismus politisch mobilisierten und zugespitzten Ideen war ihm nicht fremd. Geistesgeschichte war für Plessner kein passiver Reflex der politischen und sozialen Geschichte, sondern stand mit dieser in einem Zusammenhang gegenseitiger Anregung und Herausforderung bei Anerkennung ihrer jeweiligen Eigenständigkeit. Zwar gebe es 16 G. Lukács, Zerstörung der Vernunft, S. 6. 17 H. Plessner, Verspätete Nation, S. 13. 18 Ebd., S. 21.

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keine autonome Welt des Geistes, wohl aber eine geistige Bedeutung politischer und kultureller Auseinandersetzungen. Um die Eigenart der historischen und ideengeschichtlichen Konstellationen zu verdeutlichen, die den Erfolg des Nationalsozialismus ermöglicht hatten, zeichnete Plessner ein Bild, das zugleich auf die generelle Differenz von Natur und Geschichte zielte. Bei den Kräften, deren Zusammenspiel für den Nationalsozialismus relevant geworden sei, handele es sich weder „um gewissermaßen immer verfügbar gewesene Spannungsenergien aus einem geschichtlich gewordenen Reservoir, um Anlagen des deutschen Charakters, noch um bloße ephemere Klangfiguren ausschließlich des damaligen Erregungszustandes. Vielmehr haben sie sich selbst [...] aneinander geformt“.19

Diese energiepolitische Rhetorik verortete den Nationalsozialismus in einem Spannungszustand nationalgeschichtlicher Entwicklungen und zeitgeschichtlicher Zuspitzungen in der Entscheidungssituation des revolutionären Umbruchs. Nur eine politische Bewegung, die sich selbst im Kraftfeld dieser Spannungen bewegte und die dadurch in einen eigenen Erregungszustand geriet, dass sie sich selbst zur entscheidenden Kraft des gesellschaftlichen Umbruchs profilierte, so Plessner, habe die Spannungsenergie dieser Kräfte als Resonanzboden eigener Ambitionen zu deren Verstärkung nutzen können. Dieser Erregungszustand habe die nationalsozialistische Bewegung dazu befähigt, politisch auf Entwicklungen hinzuarbeiten, denen die Zeit selbst entgegen arbeitete.20 Anstelle einer aus den politischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Zeit argumentierenden Beschreibung oder Erklärung des politischen Erfolgs der nationalsozialistischen Bewegung beschrieb Plessner atmosphärische Stimmungen und Spannungen der Zeit, die die nationalsozialistische Bewegung mit politischen Verstärkereffekten für sich nutzen konnte.

19 Ebd., S. 14. 20 Joachim Fest hat die Dynamik dieses intensiven Austauschprozesses zwischen der Geschichte und der Gestaltungskraft historischer Subjekte am Beispiel Hitlers eindringlich dargestellt. In dieser Komplementärbeziehung war Hitler „weit weniger der große Widerspruch der Zeit als deren Spiegelbild“. Erst der „Zusammenbruch der Ordnung, die Angst und Veränderungsstimmung der Epoche [...] spielten ihm die Chance zu, aus dem Schatten der Anonymität zu treten“ (Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie. Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein, 1991, S. 22 und 24).

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Ein Teil dieser Spannungsenergie verdankt sich der Differenz zwischen politischen Ideen mit universellem Geltungsanspruch und der solche Ideen ignorierenden oder instrumentalisierenden, jedenfalls nicht überzeugend und glaubwürdig verwirklichenden Politik. Auch wenn diese Denkfigur der politischen Verwirklichung von Ideen auf einem Verständnis von Politik gründet, das diese in die Nähe der Ideologie rückt, bleibt sie doch wirksam als Verweis auf eine Diskrepanz zwischen ihrer möglichen politischen Verwirklichung suggerierenden universellen Ideen und einer Macht- und Interessenpolitik, die ihrer eigenen Dynamik folgte. Die an diese Diskrepanz anschließende Denkfigur der uneingelösten Versprechen von Politik beschreibt eben diese Spanungsenergie, gerade weil sich ein solches Versprechen der Ersetzung von Realpolitik durch Ideenpolitik nicht einlösen lässt. In einer ideellen Parallelgeschichte zur europäischen Moderne hatte Deutschland aus Plessners Sicht den Anschluss an die europäischen Entwicklungen gehalten. Plessner plädierte in dieser Situation für eine europäische Integration Deutschlands, die mit der Pazifizierung eines deutschen Aggressionspotentials zugleich die traumatische Angst Nachkriegseuropas vor einem von Deutschland ausgehenden neuen bewaffneten Konflikt beenden sollte. Europa und insbesondere die westlichen Siegermächte des Ersten Weltkrieges forderte er dazu auf, eine zugleich politisch realistische wie auf Prinzipien gegründete Strategie des Umgangs mit dem Nationalsozialismus zu entwickeln. In der doppelten Distanz zu den eigenen nationalgeschichtlichen Miseren wie zu den Ambivalenzen der europäischen Moderne habe die deutsche politische Ideengeschichte Entwicklungsmöglichkeiten offen gehalten, die in den entwickelten westlichen Industriestaaten bereits diskreditiert oder gescheitert seien. Plessner behauptet einen unmittelbaren Einfluss der Ideengeschichte auf die Politik und gesteht politischer Ideengeschichte eine Wirkungsgeschichte zu, die weit darüber hinausgeht, der Politik einen in ideengeschichtlichen Traditionen gegründeten normativen Rahmen gegenüberzustellen, der die Eigengesetzlichkeit und Dynamik von Macht- und Realpolitik nicht berührt, für diese also keinerlei Verbindlichkeit oder Konsequenzen hat. Politische Ideengeschichte kann durch den Verweis auf durch Politik nicht eingelöste Versprechen Entwicklungen offenhalten. Durch ihre Thematisierung der Diskrepanz zwischen normativen Prinzipien und pragmatischer Realpolitik wirke sie als normatives Gewissen politischen Handelns.

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In seiner Erstarrung zum Rigorismus universalistischer Prinzipien war der westliche Humanismus für Plessner unfähig, den komplexen Herausforderungen von klassen- und rassetheoretischen Reduktionen normativ zu begegnen. Der gesellschaftspolitischen Provokation der Ersetzung universeller Prinzipien durch einen kämpferischen Humanismus der Vernichtung, Erziehung und Züchtung auf ihren ideologischen Materialwert reduzierter Menschen war der bürgerliche Humanismus politisch nicht gewachsen. Gegen die erklärte Bereitschaft der nationalsozialistischen Bewegung, ideologische Reinheitsgebote eines neuen Menschen durch politische Säuberungs- und Vernichtungsaktionen tatsächlich umzusetzen, konnte der Verweis auf die Prinzipien menschlicher Gattungsvernunft nichts ausrichten. Die nationalsozialistische Rassenideologie war dem in seinem Prinzipienrigorismus befangenen politischen Humanismus in ihrer aggressiven Rhetorik und der Bereitschaft, ihre Prinzipien als strategische Orientierung der Politik durchzusetzen, überlegen. In dieser Konstellation entschied der politische Umgang des Westens mit dem Nationalsozialismus über die Zukunft des bürgerlichen Wertesystems. In der Spannung zwischen dem universellen Geltungsanspruch seiner Prinzipien und den Erfordernissen pragmatischer Politik, aber auch zwischen den Prinzipien territorialer Souveränität und nationaler Selbstbestimmung, musste sich der Westen neu verorten. Plessner sah in der unausweichlichen Konfrontation des politischen Humanismus mit dem Nationalsozialismus dessen Chance, wieder Anschluss an die Herausforderungen der Zeit zu gewinnen und sich als prinzipiengeleitetes, aber auch flexibles, realistisches und politikfähiges Wertesystem zu erneuern. Dazu musste sich der bürgerliche Humanismus dem deutschen Anspruch einer völkischen Neuordnung Europas stellen. Dieser Anspruch berief sich auf das Recht zu nationaler Selbstbestimmung, das jedoch ohne die Aufkündigung des Prinzips der Unverletzlichkeit territorialer Grenzen nicht durchzusetzen war. Der Nationalsozialismus konfrontierte den bürgerlichen Humanismus hier mit der Unvereinbarkeit zweier gleichermaßen essentieller Prinzipien seines Wertesystems, die nur durch die Begründung der Höhergewichtung des einen über das andere Prinzip in der konkreten politischen Situation zu lösen war. Die ideologischen Extremismen der Rasse und Klasse und die Visionen eines neuen Menschen, der bereit war, seine individuellen Neigungen und Bedürfnisse den als höher anerkannten Pflichten und Erfordernissen seiner Rassen- bzw. Klassenzugehörigkeit unterzuordnen, konfrontierten die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer drohenden Vernichtung. Hier lagen aus Plessners Sicht Risiken und Chancen der bürgerlichen Moderne dicht ne379

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beneinander, ohne dass sich vorab bestimmen ließ, welche der gleichermaßen möglichen Entwicklungen sich schließlich durchsetzen werde. Die Blockierung der Handlungsfähigkeit des Westens gegenüber dem Nationalsozialismus, so stellte Plessner heraus, verwies auf die notwendige Erneuerung des bürgerlichen Werte- und Gesellschaftssystems und die Entwicklung einer an der Lösung zeitgeschichtlicher Probleme und Konflikte orientierten, zugleich jedoch prinzipiengeleiteten, Politik. 4. Deutschland und der Nationalsozialismus: politische Ideengeschichte und geschichtsphilosophische Analyse In seinem „Deutschlandbuch“ suchte Plessner sich Klarheit über die Gründe der zeitgenössischen Plausibilität des Nationalsozialismus zu verschaffen. In ihm suchte er in kritischer Zeitgenossenschaft mit den deutschen Entwicklungen, die zum Nationalsozialismus geführt hatten, diesen Entwicklungen nach dem Zusammenbruch liberaler Bürgerlichkeit und Humanität in Deutschland Möglichkeiten einer europäischen Erneuerung des politischen Humanismus abzugewinnen. Zwei zunächst parallel laufende Entwicklungslinien kennzeichnen den „deutschen Sonderweg“ in geistespolitischer Hinsicht. Zum einen profilierte sich hier ein romantischer Volksbegriff zur politischen Leitidee, der einem deutschen Nationalbewusstsein den Halt zu geben suchte, den es in fortgesetzter nationaler Fragmentierung im europäischen Kontext nicht finden konnte. Zum anderen übernahm die Philosophie in dieser Situation die Führungsrolle in einer quasireligiösen Weltanschauungskultur. Beide Linien schlossen sich zusammen zu einer völkischen Philosophie nationaler Wiedergeburt in der weltanschaulichen Mobilisierung vorgeschichtlicher Ursprünge und Mythen. Plessner rückte den Nationalsozialismus in die Tradition deutscher Geschichte, in der Absicht, daraus Gründe seines nationalgeschichtlich stimmigen politischen Erfolges zu rekonstruieren. Wer sich den politischen Risiken, Miseren und Mythen deutscher Geschichte nicht stelle, so Plessners Überzeugung, werde keinen Zugang zu den in ihnen gebundenen Energien nationaler geistiger Erneuerung Deutschlands finden. Nicht durch die Unterdrückung der besseren deutschen Traditionen sei der Nationalsozialismus zum Zuge gekommen, sondern dadurch, dass er sich der deutschen Geschichte in ihrer ganzen Komplexität angenommen und sich ihrer bemächtigt habe. Seine geistige Überwindung konnte so nicht aus der Befrei380

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ung eines unterdrückten besseren Deutschland folgen, sondern musste sich mit jenen politischen, religiösen und sozialen Kräften der deutschen Geschichte auseinandersetzen, aus deren Zusammenspiel der Nationalsozialismus hervorgegangen war. „Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes“: Dabei argumentierte Plessner vor allem geschichts- und religionsphilosophisch, anthropologisch und geistesgeschichtlich. Auf subtile Weise rekonstruierte er die Gründe für den Erfolg der nationalsozialistischen Bewegung, die er, ähnlich wie später Georg Lukács, durch eine ideologiekritische Selbstzerstörung bürgerlicher Vernunft vorbereitet sah. U. a. fragte er nach nationalgeschichtlichen Turbulenzen und weit in die deutsche Geschichte zurückreichenden Ereignissen und Ideen, die für den Sieg der nationalsozialistischen Bewegung mit verantwortlich gewesen sein könnten. Dabei sah er deutsche Geschichte nicht als isoliertes Phänomen, sondern im europäischen Kontext der westlichen Moderne, die in dieser Diskussion den normativen Maßstab dafür bildete, deutsche Entwicklungen als „verspätet“, als „Sonderweg“ oder als „nachholend“ zu kennzeichnen. Mit Hilfe des Konzeptes der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ versuchte Plessner die historische Spezifik und explosive Dynamik deutscher Entwicklungen als „deutschen Sonderweg“ einer „verspäteten Nation“ zu begreifen. Die geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus führte er im Beziehungsfeld von Philosophie, Politik und Geschichte. Mit der Argumentationsfigur der „verspäteten Nation“ als Synonym für eine problematische Existenz der Deutschen entwickelte Plessner eine paradoxe Konstellation von Kompensationen, Antizipationen, Verfremdungen, Beschleunigungen und Verspätungen. In ihr sah er den Zusammenschluss ideengeschichtlicher, politischer, religiöser, kultureller und ökonomischer Entwicklungen der deutschen Geschichte zu einem problematischen politischen Gebilde, dessen Spannungen, Defizite und Konflikte der Nationalsozialismus zu lösen versprach. Dieser Erklärungsansatz verwies auf die Akkumulation tradierter problematischer Konstellationen der deutschen Geschichte zu einer Situation, in der sich entscheiden musste, ob und in welcher Weise Deutschland Anschluss an den Entwicklungsstand der europäischen Moderne finden werde. Die verhinderte nationale Identität Deutschlands habe sich zu metaphysischen Tiefenstrukturen und Mythen deutschen Seins verfestigt, die von der nationalsozialistischen Bewegung in ihrer politischen Programmatik völkischer Erneuerung übernommen und erfolgreich zur nationalen Mobilisierung des deutschen Volkes eingesetzt worden seien. 381

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Plessner sah den Nationalsozialismus als Ergebnis einer weit in die Geschichte der Deutschen zurückreichenden Kette von Ereignissen – von Verspätungen und Ausfällen, von Zeit- und Problemverschiebungen, von paradoxer Gleichzeitigkeit und ambivalenten Ungleichzeitigkeiten, von ideen- und sozialgeschichtlichen Konfigurationen und ihrem Zusammenspiel. Im Nationalsozialismus sah er Kräfte am Werk, die in ihrer Reichweite und Bedeutung weit über dessen zeitgeschichtliche Spezifik hinausgingen. In der ideologischen Mobilisierung solcher Entwicklungen und Mentalitäten war es dem Nationalsozialismus gelungen, sich selbst als deren folgerichtige Vollendung darzustellen. Der Nationalsozialismus war für Plessner weder historischer Zufall noch marginaler Unfall der deutschen Geschichte, sondern eine durch die zeitgeschichtlichen Konstellationen und Kräfteverhältnisse wirksam gewordene Möglichkeit, die in der inneren Logik deutscher Entwicklung lag. Nicht politischer Staats- oder Handstreich, demagogische Überrumpelung oder terroristische Ausschaltung der Gegner, auch nicht propagandistische Raffinesse oder dumpf-rassistischer Antisemitismus waren für ihn die entscheidenden Gründe des politischen Erfolgs der Nationalsozialisten. Im Nationalsozialismus als einer möglichen Konsequenz deutscher Geschichte sah er eine überzeugende, wenn auch vorläufige, Lösung ihrer nationalgeschichtlichen Spannungen. 1935 bescheinigte Plessner dem deutschen Volk, „ein Bewusstsein von dem revolutionären Sinn seiner Existenz erlangt“21 zu haben, was es den Deutschen unmöglich mache, „in der Gegenwart zur Ruhe zu kommen“.22 Dabei war Plessner zuversichtlich, dass diese revolutionäre Hochstimmung des deutschen Volkes im Nationalsozialismus nicht lange anhalten werde. Seine Affinität zu universeller Weltbürgerlichkeit, so gab er sich überzeugt, konnte nur zeitweise im Überschwang pseudoradikaler und metaphysischer Dogmatik still gestellt werden. Politische Erfolge hinterließen ebenso wie nationale Miseren Wirkungen in der Mentalität der von diesen Entwicklungen betroffenen Menschen, die sich als Affinität zu oder Aversion gegen bestimmte Ideen und die in ihnen akkumulierten Versprechen äußern könnten. Diese mentalen Haltungen und Erwartungen bieten politischen Bewegungen die Möglichkeit, im Anschluss an sie, ihre Ideologie als deren politische Konkretisierung darzustellen und Anhänger zu

21 H. Plessner, Verspätete Nation, S. 50. 22 Ebd.

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mobilisieren. Der „konstitutiven Unruhe“ der Deutschen ordnete Plessner die Revolution als die „natürliche Explosivform“ ihrer politischen Existenz zu. Der nationalsozialistische Staat habe versprochen, diese Unruhe auf Dauer zu stellen und ihr eine politische Bewegungsform zu geben. Aus dieser Unruhe hatte er seine Energie bezogen. Aus ihr habe sich der aktionistische Zwang zur ständigen Überbietung der eigenen politischen Rhetorik und einer Radikalisierung der politischen Ziele der Bewegung gespeist, die sich programmatisch nicht still stellen lasse. Diese irritierende These behauptet eine nationalgeschichtliche Tiefenstruktur und Anschlussfähigkeit des Nationalsozialismus an deutsche Geschichte als Geheimnis seines politischen Erfolges. Dabei geht es nicht allein um die Ereignisse deutscher Geschichte, sondern auch und vor allem um deren Interpretation und ideelle Überhöhung als Medium von Bedeutungen, deren Fortschreibung Geschichte generiert. In dieser Funktion ist insbesondere die politische Ideengeschichte entscheidend als Brücke zwischen Geschichte und Politik. Für ihr Selbstverständnis ist es wichtig, dass sich die Politik auf Ideen berufen kann, auf deren Durchsetzung sie sich verpflichtet; auf die sie in den Turbulenzen politischer Auseinandersetzungen als Referenz verweist und deren historische Unterdrückung oder Marginalisierung sie als Antrieb politischen Handelns nimmt. Die nationalsozialistische Bewegung wird nicht länger in Gegenstellung zur deutschen Geschichte gebracht, sondern als authentischer politischer Ausdruck von nationalen Frustrationen und Imaginationen, von gesellschaftlichen Stimmungen und Erwartungen in ihrer symbiotischen Verklammerung anerkannt. Hitler und die nationalsozialistische Bewegung haben nach dieser Interpretation den Deutschen nicht die politische Macht aufgezwungen, sondern ihnen ist eher umgekehrt diese Macht von der historischen Entwicklung Deutschlands selbst zugespielt worden. Plessner sah die nationalsozialistische Machtergreifung als eine Revolution nicht gegen, sondern im Anschluss an Entwicklungen deutscher Geschichte. In ihrer völkischen Revolution, so seine These, hätten die Nationalsozialisten eine Verknotung deutscher Entwicklungen zum nationalen Problemstau gelöst und die politische Schubkraft der von dieser Lösung frei gesetzten Energien für ihre eigenen Zwecke zu nutzen vermocht. Mit dieser These wandte er sich gegen eine Erklärung des Nationalsozialismus zum historischen Unglücksfall, der aus der Normalität deutscher Geschichte herausfalle. In der ideellen Überhöhung stellte er nationalgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus heraus, die diesen

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als folgerichtige, wenn auch nicht einzig mögliche Konsequenz deutscher Geschichte erscheinen ließen. Im Nationalsozialismus hat sich aus dieser Sicht eine deutsche Entwicklung vollendet, die im 17. Jahrhundert begonnen hatte und die im historischen Kompromiss des Bismarckstaates zwischen Nationalstaat und Reichsgedanken für kurze Zeit in ihrer politischen Dynamik still gestellt wurde, um schließlich nach dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Versailler Frieden den Deutschen einen einzigen Weg aus ihrer verzweifelten Lage übrig zu lassen: „den Weg zur Erneuerung ihres Reiches aus der Idee seines natürlichen Lebensgrundes, des Volkes: die völkische Revolution“.23 Politische Erneuerung, so Plessner in dieser Argumentation, ist nur möglich in Bezug auf eine Idee, aus der die Erneuerung ihre Rechtfertigung bezieht. Diese Idee verbindet historische Zeiträume durch die Annahme eines ihnen gemeinsamen natürlichen Lebensgrundes, der unter dafür günstigen historischen Umständen in die politische Existenz tritt. Plessners Würdigung der nationalsozialistischen Machtergreifung als einer völkischen Revolution auf der Höhe ihrer Zeit verwies auf deren nationalgeschichtliche Bedeutung. Mit der Separierung unterschiedlicher Bedeutungsebenen zielte er auf eine klare Trennung dessen, was historische Subjekte in konkreten politischen Konstellationen zu verantworten hatten von dem, was sich auf einer anderen tiefenstrukturellen Ebene durch ihr Handeln vollzog, ohne sich ausschließlich ihrem Handeln zu verdanken. Plessners geschichtsphilosophische Interpretation stellte den Nationalsozialismus in den Zusammenhang einer Nationalgeschichte der Blockierungen, Verfremdungen und ideellen Ersatzbildungen verfehlter deutscher Entwicklungen in der ausdrücklichen Absicht einer dramaturgischen Steigerung der in ihm sich akkumulierenden Gefahren. Plessner stellte den Nationalsozialismus in den zeitgeschichtlichen Kontext deutscher und europäischer Entwicklungen im normativen Horizont des politischen Humanismus und seiner Krise. Er sah die Bedeutung spezifisch deutscher historischer Konstellationen für den nationalen Erfolg des Nationalsozialismus. Deutschland blieb für ihn jedoch gerade in seinen eigentümlichen Abweichungen vom nationalstaatlichen Standard der europäischen Geschichte Bestandteil Europas. Seine nationalgeschichtliche Perspektive, davon war Plessner überzeugt, würde sich im europäischen Kontext entscheiden, in dem es entweder gelang, die deutschen

23 Ebd., S. 57.

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Entwicklungen europäisch einzubinden, oder in dem Deutschland ein dann auch für Europa verhängnisvoller politischer Sonderstatus als „verspätete Nation“ zugestanden wurde. In der an das bürgerliche Werte- und Gesellschaftssystem gerichteten Vernichtungsdrohung durch den Nationalsozialismus sah er eine strukturelle Gefährdung westlicher Gesellschaften. Überleben und Erneuerung des bürgerlichen Humanismus seien davon abhängig, ob dieser eine angemessene Antwort auf die völkische Revolution des Nationalsozialismus finden würde. An der Fähigkeit Deutschlands zum politischen Neubeginn aus dem gleichen Potential, das für die deutsche Entwicklung zum Nationalsozialismus verantwortlich war, würde sich die Zukunft des politischen Humanismus und damit zugleich der westlichen Zivilisation entscheiden. Im Nationalsozialismus verband sich für Plessner das Schicksal der bürgerlichen Welt mit dem Deutschlands. Auf diese Weise rückte das Wertesystem des politischen Humanismus ebenso in den Blick wie die Zukunft der in seinem Namen gegründeten europäischen Territorialordnung. Plessners Beschwörung einer dramatischen Situation der Unentscheidbarkeit, in der Europa seine Fähigkeit zu politischer Gestaltung verlieren könne, zielte auf die Sensibilisierung Europas für die in den deutschen Entwicklungen liegenden Gefahren. In dieser Zuspitzung der nationalgeschichtlichen Situation zur notwendigen politischen Entscheidung über die Zukunft Deutschlands lag ein ganzes Spektrum möglicher Lösungen. Entweder würde Deutschland in der fortgeschriebenen Abkopplung vom Westen weiterhin auf einem eigenen Entwicklungsweg bestehen oder es würde im reflektierten Anschluss an die westliche Moderne die notwendige Erneuerung des politischen Humanismus initiieren. In seiner geschichtsphilosophisch-geistesgeschichtlichen Analyse des Nationalsozialismus spielte Plessner beide Möglichkeiten als Risiken und Chancen deutscher Entwicklungen für Europa und die westliche Moderne durch. Seine Präferenz für die Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“24 auf der normativen Basis eines in seinem Universalitätsanspruch erneuerten politischen Humanismus, der durch die politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus der strukturellen Lähmung zu neuer politischer Handlungsfähigkeit gefunden hatte, war dabei eindeutig. Ob der Westen in der Lage sein würde, den im Natio-

24 Ebd., S. 50.

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nalsozialismus liegenden Gefährdungen seiner eigenen Existenz politisch angemessen zu begegnen, ließ Plessner offen. Plessners geschichtsphilosophische Verortung des Nationalsozialismus entwickelte eine subtile, disziplinär übergreifende und historisch breit angelegte Analyse der Gründe des politischen Sieges der nationalsozialistischen Bewegung und seiner nationalgeschichtlichen Plausibilität. In diesem Zusammenhang war für ihn die Annahme einer mythischen Gründung des deutschen Nationalcharakters historisch nicht weniger wirkungsmächtig als die politische Programmatik der nationalsozialistischen Bewegung. Erklärungsrelevant war hier für ihn vor allem ein für Deutschland tragisches, den Anschluss an moderne Entwicklungen auf Dauer blockierendes Ungleichgewicht zwischen einer ins Universelle ausgreifenden weltbürgerlichen Gestaltungsabsicht von Geschichte und der realpolitischen Fragmentierung deutscher Entwicklungen. 5. Der Nationalsozialismus und die geistige Tradition: Hannah Arendts Verneinung einer politischen Ideengeschichte des Nationalsozialismus Sowohl Arendt als auch Plessner nutzen ihre methodologisch reflektierte Analyse der Ideengeschichte nationalsozialistischer Politik und Ideologie dazu, sich über das funktionale Zusammenspiel von Ideengeschichte, politischer Philosophie und ideologisch begründeter Politik des Nationalsozialismus Klarheit zu verschaffen. Dabei verfolgen beide Denker schon im Ansatz konträre Erklärungsstrategien. Während Plessner den Nationalsozialismus als plausible Anknüpfung an die ideologiekritische Selbstzerstörung der ideellen Grundlagen des bürgerlichen Humanismus interpretiert, wodurch dessen Ideologie als Erneuerung eines deutschen bzw. nordischen Humanismus erschien, sprach Arendt dem Nationalsozialismus jegliche Berechtigung ab, seine totalitäre Ideologie des Rassendenkens durch ideengeschichtliche Bezüge auf den bürgerlichen Humanismus, in welcher selektiven Lesart auch immer, zu legitimieren. Während Lukács eine geistige Wegbereitung des Nationalsozialismus durch eine philosophische Parallelgeschichte der „Zerstörung der Vernunft“ annahm, sah Hannah Arendt den Nationalsozialismus als radikale Verneinung jeder Tradition und geistigen Kultur einschließlich der deutschen. In ihrem Verständnis kontextbezogener, zugleich aber historisch übergreifender Ideengeschichte versucht Hannah Arendt den Balanceakt zwischen der Historisierung und Generierung politischer oder politisch rele386

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vanter Ideen zu vollziehen. Diesen Ideen wird weder eine Affinität zu bzw. Anschlussfähigkeit an wechselnde historische Problem- und Konfliktkonstellationen unterstellt, noch werden sie als erratischer Block einer permanent unter ihren Möglichkeiten bleibenden Geschichte dieser als deren ideeller Horizont und normatives Gewissen gegenübergestellt. Angenommen wird vielmehr ein Komplementärprozess gegenseitiger Anregung und Infragestellung, aus dem sich situativ stimmige Interpretationen von Geschichte ergeben, die über die bloße Beschreibung von Ereignissen hinausgehen, ohne die Geschichte zum Schauplatz der Auseinandersetzung von Ideen um die Besetzung von Geltungsräumen zu erklären. Arendts politische Ideengeschichte der Rekontextualisierung von Unbestimmtheit löst die Spannung zwischen Diskontinuität und Kontinuität auf, ohne diese Unbestimmtheit im vermeintlichen Fortschreiten zu einer verbindlichen Interpretation aufzugeben. Ihre Unbestimmtheit bleibt der Horizont, in dem politische Ideen wirksam werden, wobei der historische Kontext als Affinität zu ihrem geistigen Potential darüber entscheidet, auf welche Weise dieses Potential politisch aktiviert wird, ohne in dieser Konkretisierung zur Rechtfertigung politischer Ereignisse oder Bewegungen festgeschrieben zu werden. Aus diesen Ideen konturiert sich das begriffliche Raster der Interpretation politischer und historischer Ereignisse. Sie vermitteln einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen, der diese in einen historisch übergreifenden geistigen Horizont stellt, in dem die Beweggründe und das Selbstverständnis der handelnden Personen und Gruppen als gleichberechtigte Ebene des Verstehens dieser Ereignisse neben die empirisch etablierten manifesten Zusammenhänge tritt. Dieser geistige Horizont schließt illusionäre und ideologische Missverständnisse der eigenen historischen Rolle ebenso ein wie heroische Übertreibungen und das tragische Scheitern dieser Akteure. Für Arendt war der Nazismus kein ausschließlich deutsches Problem. Das „Gerede vom ‚ewig gleichen Deutschland‘ und dessen ewigen Verbrechen“, dass das „Schreckgespenst vom ‚Nationalcharakter‘ Deutschlands“ 25 beschwor, verhindere die Wahrnehmung der europäischen Krise des Humanismus, die im Nazismus politisch zum Ausbruch komme. Jeglicher Versuch, den Nazismus auf die deutsche Geschichte zu beziehen, werte diesen unnötigerweise nationalgeschichtlich auf. Eine nationale Tra25 Hannah Arendt, „Das ‚deutsche Problem‘ ist kein deutsches Problem“, in: dies., In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München/Zürich: Piper, 2000, S. 9-25, hier S. 10.

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dition, auf die dieser sich zu Recht berufen könne, gebe es nicht. Weder lasse er sich in der politischen Geschichte Deutschlands verankern, noch habe er geistige Wurzeln in der deutschen oder europäischen Geistesgeschichte. So war es für sie „völlig abwegig, den Nazismus aus einer speziellen deutschen Charakteranlage oder aus der deutschen Tradition erklären zu wollen. Zum Nazismus gehört kein Teil der westlichen Tradition, sei er deutsch oder nicht, katholisch oder protestantisch, griechisch oder römisch. Weder Thomas von Aquin noch Machiavelli oder Kant oder Hegel oder Nietzsche [...] tragen die geringste Verantwortung für das, was in den deutschen Vernichtungslagern geschehen ist“.26

Unklar bleibt, welche Verantwortung diese oder andere Größen des europäischen Geisteslebens überhaupt für politische Ereignisse tragen könnten. Politische Bewegungen berufen sich auf politische Ideen und philosophische Traditionen, um sich Bedeutungen zuzuschreiben, die sich aus ihrem machtpolitischen Agieren nicht plausibel ableiten lassen. Die Berufung auf ideengeschichtliche Traditionen nimmt diese nicht in die Verantwortung für politische Ereignisse, sondern öffnet die Bewegung für potentielle Anhänger, denen zugestanden wird, diese aus eigenen, nicht zwingend politischen oder ideologischen Gründen zu unterstützen. Die ideelle Aufwertung des Nationalsozialismus durch seinen Anschluss an die politische und philosophische Ideengeschichte hatte eben diese Funktion. Indem Arendt dem Nationalsozialismus die Möglichkeit abspricht, seine Politik durch den Bezug auf eine ideengeschichtliche Tradition zu legitimieren, bleibt unerklärlich, worin seine Faszination und Plausibilität für Menschen gelegen haben könnte, deren geistige Prägung sich eben dieser ideengeschichtlichen Tradition verdankte. Unbestritten ist, dass der Nationalsozialismus nicht im geistigen Vakuum entstanden ist, und dass er in seiner Erklärung einer ideengeschichtlichen Zäsur zugleich Traditionsbezüge behauptet hat, die seine ideologische Politik legitimieren sollten. Dem korrespondierten die nicht zwingend mit nationalsozialistischer Politik deckungsgleichen Imaginationen seiner bildungsbürgerlichen Anhänger, die dem Nationalsozialismus Bedeutungen zuschrieben, die diese Politik ideell aufwerteten, konterkarierten oder uminterpretierten. Heideggers Phantasie einer im Nationalsozialismus sich gegen die Profanität pragma-

26 Ebd., S. 11 f.

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Überlegungen zu einer Ideengeschichte des Nationalsozialismus

tischer Machtpolitik durchsetzenden philosophischen Politik ist hier sicher das prominenteste Beispiel einer solchen ideellen Überhöhung des Nationalsozialismus.27 Haben, so wie von Arendt unterstellt, deutsche und europäische Geistesgeschichte nichts zur Vorbereitung oder Legitimierung des Nationalsozialismus beigetragen, so bleibt offen, welchen Beitrag Ideen- und Geistesgeschichte überhaupt zur Begründung und Rechtfertigung von Politik leisten können. Kant, Hegel oder Nietzsche eine Verantwortung für den Holocaust abzusprechen, hat in dieser überzogenen Behauptung einer möglichen unmittelbaren Beziehung zwischen Ideengeschichte und Politik die Funktion, den Nationalsozialismus in einem geistigen Vakuum zu verankern. Für unterschiedliche Interpretationen offene Denkfiguren der politischen Ideengeschichte werden dann auf ihre Affinität zu oder Resistenz gegenüber ideologischer Indienstnahme reduziert. Als radikale Verneinung jeder Tradition scheint der Nazismus aus dem Nichts entsprungen, und in der Tat ist es für Hannah Arendt der „Mahlstrom des Vakuums“28, dem der Nazismus seine politische Existenz verdankt. Es sei die offene Anerkennung dieses Vakuums, des fast gleichzeitigen Zusammenbruchs der sozialen und politischen Strukturen Europas, und die Fähigkeit, das Volk in Übereinstimmung mit seinen Gesetzen zu organisieren, auf der die psychologische Anziehungskraft des Nazismus und sein politischer Erfolg beruhten. Im Nationalsozialismus sei die Ideologie des Nihilismus zum politischen Programm geworden, das aus dem „Traum, die Leere schaffen zu können“29, die Vernichtung tatsächlich verfolgte. Nach den Erfahrungen massenhafter Vernichtung und Zerstörung im Ersten Weltkrieg sei ein Menschentyp entstanden, „den die Angst vor Vernichtung selbst in eine zerstörerische Macht verwandelt“30 habe. Diese konzeptionelle Gründung des Nationalsozialismus in einer negativen Anthropologie des destruktiven Charakters schloss seine Isolierung zu einem spezifisch deutschen Phänomen aus. Dennoch sah auch Arendt eine mit der „späten Entwicklung der Deutschen als Nation“ zusammenhängende besondere Affinität Deutschlands zum „Bruch mit allen Tradi-

27 Vgl. George Leaman, Heidegger im Kontext: Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen. Hamburg: Argument, 1993. 28 H. Arendt, Das ‚deutsche Problem‘, S. 16. 29 Ebd., S. 13. 30 Ebd., S. 14.

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tionen“31 als Grund dafür, dass der Nazismus hier, und nicht in einer der anderen europäischen Nationen an die Macht gekommen war. Aber auch wenn es in Deutschland „leichter gewesen sein mag, europäische Traditionen ... zu zerbrechen“, die hier aus Mangel an demokratischer Erfahrung noch gar nicht voll ausgebildet waren, so stand für Arendt doch gleichzeitig auch fest, dass diese Traditionen „zerbrochen werden mussten“.32 Der Nationalsozialismus hat aus dieser Sicht Traditionen aufgekündigt, die als identitätsstiftende Grundlagen des politischen Humanismus bereits dysfunktional geworden waren. Die normative Krise des europäischen politischen Humanismus ermöglichte es ihm, seine rassenanthropologische Ideologie als Erneuerung des Humanismus durch seine biologische Grundlegung zu behaupten. Arendt spricht vom Verschwinden der Tradition im Zeitalter der Moder33 ne und spielt damit auf den Bruch mit der Traditionsgeschichte an, aus dem sich die Moderne versteht. Auch wenn die Wirkungsgeschichte dieser Traditionen vermeintlich mit der Moderne zu Ende geht, die sich entweder als Einlösung ihrer Versprechen oder als Bruch mit der Annahme einer progredierenden Kontinuität versteht, sind diese Traditionen als Horizont der Moderne weiter präsent. Auch Arendt benutzt ganz selbstverständlich ideengeschichtliche Referenzen, um ihre zeitgeschichtlich provozierten Interventionen, die zugleich auf eine historische Kontinuität ungelöster, sich historisch fortschreibender Problemlagen reagierten, argumentativ zu unterstützen. Obwohl der Nationalsozialismus aus ihrer Sicht mit allen Traditionen der deutschen und europäischen Geistesgeschichte gebrochen habe, findet Arendt in dieser Geistesgeschichte Denkfiguren, die in der Anwendung auf den Nationalsozialismus Aufschluss über dessen politische Dynamik geben. So steht für sie die totale Herrschaft des Nationalsozialismus für die Existenz des von Kant in die Begriffsgeschichte der Moral eingeführten Begriffs des „radikal Bösen“, der Massenvernichtung von Menschen in Konzentrations- und Vernichtungslagern, die weder angemessen bestraft noch vergeben werden könne.34 Die für Kant bei allen tatsächlichen Verstößen gegen sie dennoch als solche feststehende moralische Ordnung

31 32 33 34

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Ebd. Ebd. Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München: Piper, 2000, S. 7. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München/Zürich: Piper, 1991, S. 701.

Überlegungen zu einer Ideengeschichte des Nationalsozialismus

wurde von der nationalsozialistischen Vernichtungsideologie aufgekündigt. Die Ersetzung universeller Gattungsmoral durch eine selektive Rassenmoral hat eben diesen Bruch mit der ethischen Begründung des Ausschlusses der Juden und anderer für rassisch minderwertig erklärter Gruppen vollzogen. Für sie war damit ohne Aussicht auf seine Erneuerung „der Faden der Tradition gerissen“.35 Das Moralische verstand sich nicht mehr von selbst.36 Mit dem Wegfall bzw. der Diskreditierung dieser Tradition steht einerseits auch die bürgerliche Moral unter einem verstärkten Begründungszwang und wird andererseits das im normativen Raster der bürgerlichen Moral Unmoralische zu einer ebenfalls ethisch begründungsfähigen Option des Handelns aufgewertet. Unmoralisches politisches Handeln wird durch die Etablierung einer eigenen moralischen Ordnung des Bösen als im Rahmen dieser Ordnung moralisches Handeln begründet. Die Entwicklung einer Rassenethik im Gegensatz zur universellen Ethik des bürgerlichen Humanismus, die als rassenindifferent und deshalb widernatürlich diskreditiert wurde – als gegen die biologische Natur des Menschen ebenso wie im Gegensatz zum Gesetz natürlicher Auslese stehend, erfüllte eben diese Funktion einer Ethik des Nationalsozialismus.37 In konkreten moralischen Entscheidungssituationen musste moralisches Handeln immer wieder neu begründet und durchgesetzt werden. In dieser Situation zeigte es sich, dass die Rolle der Tradition, fraglos geltende, über jeden Zweifel erhabene und deshalb nicht begründungsbedürftige Regeln und Normen zu unterstützen, nun auf ideologische Formationen übergegangen war, in denen sich der Geltungsanspruch der von ihnen als universell behaupteten politischen Ideen selektiv durch Zugehörigkeit zu oder Ausschluss von der als biologisch oder sozial überlegen definierten Rassen- bzw. Klassengemeinschaft entschied. In beiden Fällen wurde diese Gemeinschaft exemplarisch repräsentiert durch die politische Elite einer Avantgardepartei und ihrer Repressivorgane.

35 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. München/Zürich: Piper, 1998, S. 207. 36 Vgl. Hannah Arendt, Über das Böse: Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München/Zürich: Piper, 2007, S. 26. 37 Vgl. Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014.

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6. Politik und Moral bei Arendt: Die Relevanz der politischen Ideengeschichte für die Entwicklung einer politisch-moralischen Haltung zum Nationalsozialismus Ideengeschichtlich verortet Arendt ihr Politikverständnis ganz entscheidend in der Philosophie der Antike. So unterscheidet sie zwischen einer auf Institutionen bezogenen Politik, in der es um die Effizienz pragmatischer Politik geht, und einer sich direkt an die Bürger wendenden Politik, in der in der Tradition des antiken Politikverständnisses Ethik und Moral als Teil des Politischen behauptet werden: „Als Bürger müssen wir schlechte Taten verhindern, weil es um die Welt geht, in der wir alle leben, der Übeltäter, das Opfer und der Zuschauer.“38 Arendt unterscheidet zwischen dem Menschen als denkendem und handelndem Wesen. Während es für den Menschen als denkendes und moralisches Wesen besser sei, „mit der ganzen Welt in Widerstreit zu geraten, als mit sich selbst“39, stehe für ihn als politisches und handelndes Wesen die Welt im Mittelpunkt. Sie warnt vor den „verheerenden Konsequenzen, für jede Gesellschaft, [...] die allen Ernstes begänne, den ethischen Vorschriften Folge zu leisten“, die für Individuen, nicht für politische Gemeinwesen gedacht sind, davor also, „den Philosophen Einfluss im Bereich des Politischen einzuräumen“.40 Aus dieser konzeptionellen Differenzierung von Welt- und Selbstverhältnissen leitet Arendt keine absolute Trennung von Moral und Politik ab. Gegen die These, dass Politik, um effizient und erfolgreich sein zu können, bereit sein muss, auch Entscheidungen zu treffen, die sich moralisch nicht rechtfertigen lassen, bestimmt sie die Grenzen des Politischen dadurch, dass „nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfasst, was in der Welt vorkommt. [...] Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das ihr inhärente Versprechen, dass Menschen die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert“.41

Aus dieser Unterscheidung von institutioneller und unmittelbar an den Bürgern orientierter Politik leitet sie die moralische Indifferenz institutioneller Politik ab. Dadurch tritt sie aus der Entgegensetzung von Moral und

38 39 40 41

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H. Arendt, Leben des Geistes, S. 181. H. Arendt, Vergangenheit, S. 347. Ebd., S. 347f. Ebd., S. 369f.

Überlegungen zu einer Ideengeschichte des Nationalsozialismus

Politik heraus, in der die Politik als unmoralisch gilt, während die Moral zu einer politisch irrelevanten inneren Haltung wird. Gegen diese Dichotomie von unmoralischer Politik und moralischer Innerlichkeit schreibt sie die Differenzierung von Moral und Politik in das Feld des Politischen selbst ein. Das Zusammenspiel von Welt- und Selbstverhältnis wird bei ihr zum Schlüssel der Selbstfindung von Menschen in einer gemeinsam bewohnten und zu verantwortenden Welt, in der diese sowohl nach moralischer Orientierung als auch nach politischer Haltung und Wirkung suchen. Menschen sind darauf verwiesen, sich in ihrer gemeinsamen Welt miteinander ins Benehmen zu setzen. Das plurale Universum löst sich nicht auf in eine Pluralität verselbständigter Parallelwelten, in der sich jeder entsprechend seiner Neigungen und Vorlieben ohne Rücksicht und Rückbezug auf alle anderen einrichtet. Der Andere ist eben deshalb mein einziger Zugang zum Anderen meiner Selbst, weil er mir durch einen eigenen Zugang zu der Welt, die ich durch einen anderen Zugang mit ihm teile, Dimensionen dieser Welt und damit zugleich meines Selbst erschließt, die mir in der Fixierung auf die Exklusivität meines eigenen Zugangs verschlossen bleiben würden. Die gemeinsame Welt im je unterschiedlichen Zugang ist hier das Medium, durch das sich das Selbst in der medialen Brechung durch die Perspektive des Anderen konstituiert. Mit der auf Sokrates zurückgehenden These des Aristoteles, „dass eine Gemeinschaft nicht von Gleichen gebildet wird, sondern im Gegenteil von Leuten, die verschieden und ungleich sind“, wird für Arendt zur entscheidenden Frage die der politischen Konstituierung einer Gemeinschaft, deren Mitglieder „Partner in einer gemeinsamen Welt“42 sind. Die politisch-existentielle Herausforderung dieser Gemeinschaft Ungleicher ist für sie nicht die Angleichung dieser Unterschiede, sondern deren produktives Zusammenspiel in der Aneignung und Gestaltung ihrer gemeinsamen Welt. Dieses auf die wertschätzende Anerkennung menschlicher Vielfalt gegründete Verständnis von Gemeinschaft steht dem nationalsozialistischen Konzept der von der nordischen Rasse geprägten Volksgemeinschaft, das eine solche Vielfalt ausdrücklich ausschließt, unvereinbar entgegen. Ganz selbstverständlich geht Arendt davon aus, dass die Philosophie eine politische Funktion hat, deren Fokus die Humanisierung der gemeinsamen Welt in geteilter Verantwortung ist. In ihrer Annahme einer politi-

42 Hannah Arendt: „Philosophie und Politik“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 41/1993, Nr. 2, S. 381-400, hier S. 387.

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schen Funktion der Philosophie erneuert sie jedoch nicht den Platonischen Anspruch der Philosophie auf politische Führung. Vielmehr ist die philosophische Lebensform für sie die Keimform einer auf Pluralität basierenden politischen Ordnung: „Selbst wenn ich gänzlich mit mir allein leben müsste, würde ich, so lange ich lebe, unter der Bedingung der Pluralität leben.“43 Diese kontrafaktische Denkfigur des radikalen Rückzugs auf sich selbst bekräftigt für sie die Nichthintergehbarkeit von Pluralität und Vielfalt der in den Individuen selbst verankerten Orientierung an einer Gemeinschaft, die eben nicht auf Gleichschaltung oder Mechanismen von Zugehörigkeit und Ausschluss beruht, sondern Gemeinschaft für Pluralität öffnet, indem sie sie als Fortschreibung eines anthropologischen Wesenskerns bestimmt. Nach der von Platon kolportierten Lesart ist Sokrates an seiner Unfähigkeit gescheitert, seinen Mitbürgern glaubhaft zu vermitteln, dass es ihm nicht darum ging, mit philosophischer Weisheit politisch zu intervenieren, sondern sich als Bürger unter Bürgern mit diesen in einem offenen Dialog zu begeben. Ewige Wahrheiten für menschliche und politische Dinge könne es ebenso wenig geben, wie ein in der Philosophie konzentriertes, für Politik relevantes allgemeines Wissen. Als Philosoph hatte Sokrates „seinen Mitbürgern nichts zu lehren“.44 In ihrer Auseinandersetzung mit den der Philosophie als Königsdisziplin traditionell zugeschriebenen Bedeutungen wie der Ermächtigung zu politischer Intervention oder der Verkündung absoluter Wahrheiten zelebriert Arendt jedoch nicht die Verabschiedung der Philosophie in die politische und existentielle Bedeutungslosigkeit, sondern versucht sie deren Erneuerung im an Dialog und Kommunikation orientierten Verständnis demokratischer Politik. Arendt beschreibt auch die totalitäre Gegenbewegung zur Demokratisierung von Philosophie und Politik: Der ontologische Bedeutungsverlust der Philosophie als einer gescheiterten metaphysischen Ordnung des Absoluten wird in einer totalitären politischen Ordnung zum Konzept einer philosophischen Politik gewendet. In dieser ideokratischen Ordnung werden philosophische Ideen ganz selbstverständlich für politische Zwecke benutzt und „in menschliche Gesetze verwandelt“45, die den absoluten Geltungsanspruch ewiger Ideen zur Legitimierung ihrer Politik benutzen. 43 Ebd., S. 389. 44 Ebd., S. 384. 45 Ebd., S. 384.

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Überlegungen zu einer Ideengeschichte des Nationalsozialismus

Unter der Ausnahmebedingung einer totalitären Diktatur, in der eine politische Öffentlichkeit aus- oder gleichgeschaltet ist, in der jede Form von Widerstand auf den strukturell tiefgestaffelten Repressivapparat des politischen Systems, aber auch auf Unverständnis und Ablehnung einer opportunistischen Mehrheit der Bevölkerung trifft, ist die Konsequenz der Verweigerung politischer Konformität aus moralischen Gründen der Rückzug aus öffentlicher Wirksamkeit: „Wenn jeder gedankenlos mitschwimmt in dem, was alle andern tun und glauben, dann stehen die Denkenden nicht mehr im Hintergrund, denn ihre Weigerung ist nicht zu übersehen und wird damit zu einer Art Handeln.“46 Unter diesen Bedingungen wird aber andererseits auch die nicht politisch, sondern moralisch motivierte Verweigerung zum politischen Widerstandsakt. Unter totalitären Bedingungen sind politikfreie Räume nicht zugelassen, gibt es nichts, das nicht zugleich auch politisch wäre. Wer dem System die Zustimmung verweigert, gibt sich als politischer Gegner zu erkennen, unabhängig davon, ob diese politische Zuspitzung genuin unpolitischen Verhaltens seinem Selbstverständnis entspricht oder nicht. Die Entscheidung für moralisches Verhalten ist in der Ausnahmesituation der totalitären Gesellschaft immer zugleich auch eine Entscheidung gegen politisches Handeln. Vom Standpunkt der politischen Kräfteverhältnisse ist es eine Position der Schwäche, die sich weigert, die Durchsetzungsfähigkeit ihrer Position als Kriterium ihrer Berechtigung zu akzeptieren. Dem entspricht ideenpolitisch die Weigerung, dem Nationalsozialismus die Berufung auf politische Ideen und philosophische Traditionen zuzugestehen, die als Traditionsbestand des bürgerlichen Humanismus dessen ideengeschichtliches Selbstverständnis prägen. Für Arendt ist es gerade die Verweigerung machtpolitischer Instrumentalisierung, die die politische Ideengeschichte im Spiel reflektierter Politik hält.

46 H. Arendt, Leben des Geistes, S. 191.

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III. Rechtsstaat und Republik

Die Geschichte der Ideengeschichte der Menschenrechte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Georg Jellinek bis zu Hannah Arendt Marcus Llanque

Die Menschenrechte erscheinen aus heutiger Sicht ein so selbstverständlicher wie zentraler Baustein sowohl der politischen Ideenwelt wie des Völkerrechts, der Ethik wie der praktizierten Politik zu sein, dass es fraglich sein kann, worin die Sinnhaftigkeit einer Ideengeschichte der Menschenrechte liegen könnte.1 Definiert man nämlich die Menschenrechte als Rechte, die nicht gegeben werden (schon gar nicht durch Staaten), sondern die von Natur aus dem Menschen zukommen und von Staaten nur anerkannt oder proklamiert werden2, so beschränkt sich die Ideengeschichte auf die Geschichte der Entdeckung dessen, was immer schon da war und nur nicht von allen erkannt oder akzeptiert worden ist. Alle hegemonialen Ideen tendieren jedoch zum Dogmatismus und damit notwendig zur Erstarrung. So wird leicht übersehen, dass die Menschenrechte vor 1940 nur eine marginale Rolle im politischen Denken wie in der politischen Praxis spielten. Die Erfahrung totalitärer Herrschaft brach der Idee der Menschenrechte endgültig Bahn. Erst das Jahr 1945 markiert dann in der Geschichte der Menschenrechte die entscheidende Zäsur.3 Diese Zäsur ist nicht für alle Teile der ideengeschichtlichen Forschung gleichermaßen relevant. Gegenwärtig kann man eine an der Geistes- und Dogmengeschichte orientierte Ideengeschichte der Menschenrechte4 von einer an politi-

1 Jean-Paul Lehner, „Pleading for a New History of Human Right“, in: Anja Mihr / Mark Gibney (Hrsg.), The Sage Handbook of Human Rights, Bd. 1, Los Angeles/ London: Sage, 2014, S. 22-38, hier: S. 22f. 2 So am deutlichsten Chris Brown, International Society, Global Polity. An Introduction to International Political Theory. Los Angeles/London: Sage, 2015, S. 59f. 3 Bardo Fassbender, „Idee und Anspruch der universalen Menschenrechte im Völkerrecht der Gegenwart“, in: Josef Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, Berlin: Duncker & Humblot, 2009, S. 11-42. 4 Micheline R. Ishay, The History of Human Rights. From Ancient Times to the Globalization Era. Berkeley: University of California Press, 2004; Paul Gordon

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schen Entstehungskontexten orientierten unterscheiden.5 Versteht man die Ideengeschichte jedoch nicht als die Schilderung der Vorgeschichte einer bestimmten Fassung dieser Idee, sondern als Genealogie6, d.h. als Darstellung aller ideenpolitischen Positionen, die für die Interpretation dieser Idee wichtig wurden und auch unterschiedliche Formulierungen dieser Idee verursachten, dann wird die Ideengeschichte zu einem Archiv und zu einem Arsenal für die politische Argumentation. Dann wird deutlich, dass die ideengeschichtliche Forschung selbst den Inhalt der jeweils dargestellten Idee formt, sie findet ihn nicht einfach als vorgegebenen Inhalt vor. Welches ideengeschichtliche Material wird dieser spezifischen Idee zugeordnet? Wie wird dieses Material nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten geordnet? Welche diskursiven Zäsuren werden für maßgeblich erachtet? Welche Inhalte werden für repräsentativ, welche für marginal erachtet? Zur Geschichte der Ideengeschichte gehört auch, was überhaupt zum Gegenstand wird: Jeder Ideengeschichte liegt eine Interpretation der erforschten Idee zugrunde. Im Falle der Menschenrechte lassen sich in ihrer Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts zwei Varianten unterscheiden: Die einen verstanden unter den Menschenrechten den Gedanken angeborener („natürlicher“) Rechte, deren Ursprung philosophische Begründungszusammenhänge sind; die anderen verstanden darunter juridische Ansprüche, die Institutionen und politische Rahmenbedingungen zur Voraussetzung haben. Als Begründungszusammenhang verstanden hatte die Idee der Menschenrechte politische Konsequenzen, als juridische Ansprüche verstanden hatte sie philosophische Hintergründe. Die unterschiedliche Festlegung des Inhalts der Idee hatte Konsequenzen für die Konzeption ihrer Ideengeschichte. Als Begründungszusammenhang verstanden, steht die Geistes- und Dogmengeschichte im Vordergrund, die in der Regel eine Kontinuität zwischen dem Naturrecht und den modernen Erscheinungsweisen der Menschenrechte herstellt; als juridische Ansprüche verstanden stellt sich einer solchen politisch-juridischen Ideengeschichte immer die Lauren, The Evolution of Human Rights. Visions Seen. Philadelphia: University Pennsylvania Press, 3. Auf. 2011. 5 Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein, 2010; Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History. Cambridge/Mass.: Belknap Press Harvard University Press, 2010. 6 Marcus Llanque, „Genealogie als ideengeschichtliche Methode und die Idee der Menschenrechte“, in: D. Timothy Goering (Hrsg.), Ideengeschichte heute. Traditionen und Perspektiven, Bielefeld: Transcript, 2017, S. 171-194.

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Frage, innerhalb welcher institutionellen Rahmung diese Ansprüche eine juristische bzw. politische Realität erlangen konnten: als Grundrechte in einem entsprechend konzipierten Staat oder, wenn es um internationale Menschenrechte gehen sollte, in einem Weltstaat. Berücksichtigt werden hier nur die deutschsprachigen Beiträge, denn die Zäsur von 1945 wird auch im deutschen Diskurs am deutlichsten sichtbar; zudem werden nicht alle Überlegungen zur Idee der Menschenrechte behandelt, sondern nur solche, die auch ideengeschichtlich argumentieren. Nichtsdestotrotz ist das Feld sehr groß und reicht von Georg Jellinek ausgangs des 19. Jahrhunderts bis zu Hannah Arendt in der Mitte des 20. Jahrhunderts. 1. Georg Jellineks Menschenrechts-Forschung und die NaturrechtsSkepsis Die Debatte um die Ideengeschichte der Menschenrechte wurde maßgeblich durch die Studie Georg Jellineks zur Herkunft der Erklärung der Menschenrechte von 1789 initiiert.7 Sie erschien 1895 und lag 1919 in dritter Auflage mit den Notizen und Änderungen aus Jellineks Hand vor. Die Arbeit Jellineks ist vor allem wegen der durch sie ausgelösten Debatte über die Ursprünge der Erklärung der Menschenrechte bekannt geworden. Jellinek führt sie auf Amerika zurück und sieht die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in direkter Abhängigkeit von den amerikanischen Verfassungen und ihren Grundrechtskatalogen. Hiergegen ergriff Émile Boutmy das Wort und verteidigte den von Jellinek abgelehnten Ansatz von Paul Janet8, wonach die europäische Aufklärung als geistesgeschichtlicher Hintergrund sowohl der amerikanischen wie der französischen Menschenrechts-Texte anzusehen sei.9 Der Jellinek-Boutmy-Streit gehört dem 19. Jahrhundert an. Für die Geschichte der Ideengeschichte

7 Georg Jellinek, „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte“ (1895), 3. Auf. 1919, in: Roman Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, S. 1-77. 8 Paul Janet, Histoire de la philosophie morale et politique, dans l’antiquité et les temps modernes. Paris: Ladrange, 1858, 3. Auf. 1882. 9 Émile Boutmy, „La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen et M. Jellinek“, Annales des Sciences Politiques, Bd. 17 (1902), S. 415-443, zitiert nach der deutschen Übersetzung: „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg

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der Menschenrechte sind aber Jellineks Reflexionen über die methodischen Grundlagen der Ideengeschichte relevant und die von ihm vorgenommene Strukturierung des ideengeschichtlichen Materials. Jellinek kritisiert nämlich sehr klar eine „literarische“ Dogmengeschichte, die alleine aus der Diskussion einschlägiger theoretischer Arbeiten auf die Bedeutung und Wirksamkeit politischer Ideen schließen will und verlangt stattdessen eine auf Institutionen gründende Ideengeschichte: „Die Geschichte der Politik ist heute noch viel zuviel Literaturgeschichte, viel zu wenig Geschichte der Institutionen selbst. Die Zahl neuer politischen Ideen ist sehr gering, die meisten sind, im Keime wenigstens, bereits der antiken Staatslehre bekannt gewesen. Die Institutionen aber sind in steter Veränderung begriffen und wollen überall in ihrer eigentümlichen geschichtlichen Ausgestaltung begriffen werden.“10

Unter „Institutionen“ versteht Jellinek nicht nur staatliche Einrichtungen, sondern politische Praktiken im weiteren Sinne, welche die Entstehungskontexte von Ideen formen. Jellinek führt aus, dass der „souveräne Individualismus auf religiösem Gebiet“, der die Idee individueller Menschenrechte vorbereitet habe11, grundsätzlich aus den Kämpfen des Kongregationalismus und Independentismus in England und Schottland im 17. Jahrhundert hervorgegangen sei, aber seine politisch wirksamen Kontexte erst im kolonialen Amerika gefunden habe, wo man vermeinte, „außerhalb des Staates, im Naturzustande, leben zu können“.12 Das erst habe die unmittelbare Demokratie und die Idee der individuellen Freiheit so plausibel gemacht, und zwar allen voran manifestiert und praktiziert als „angeborenes Urrecht der religiösen Freiheit“.13 Jellineks Verständnis von Ideengeschichte als Institutionengeschichte und nicht als Literaturgeschichte soll sagen: Politische Ideen finden sich zwar auch in Büchern großer Theoretiker, aber ihre Wirklichkeit, die sich dann niederschlägt in Dokumenten wie den Erklärungen der Menschenrechte, hat mit institutionellen Kontexten, mit den Kontexten der Praxis zu tun. Nicht die Lektüre von Büchern, sondern der Kontext eines (wie auch immer imaginierten oder tatsächlich

Jellinek“, in: Roman Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, S. 78-112, hier: S. 87. 10 G. Jellinek, „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, S. 36. 11 Ebd., S. 37. 12 Ebd., S. 46. 13 Ebd.

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erlebten) „Naturzustandes“ schuf einen Rahmen, in welchem die Idee der Menschenrechte entstand und sich auch praktisch durchsetzte. Jellineks Beitrag zur Geschichte der Ideengeschichte der Menschenrechte hat noch eine weitere Bedeutung, die sich aus seiner Gliederung des ideengeschichtlichen Materials ergibt. Indem er die Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte ausgangs des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt dieser Geschichte stellt, definiert er einen Mittelpunkt, von dem aus betrachtet es eine ideengeschichtliche Vorgeschichte gibt, deren Ursprung und Verlauf man analysieren und diskutieren kann; zugleich verändert sich aber mit diesen Erklärungen auch die weitere Geschichte der Menschenrechte, denn die abstrakte Idee der Menschenrechte wird in sehr konkrete Grundrechts-Kataloge einzelner Staaten umgeformt und so erst zum juridischen Gegenstand. Man darf nicht übersehen, dass Georg Jellineks Interesse an den Menschenrechten im Zusammenhang seiner Theorie der Grundrechte als subjektive öffentliche Rechte entstand. Die Studie zu den ideengeschichtlichen Wurzeln der Menschenrechte von 1895 legte Jellinek drei Jahre nach dem Erscheinen seines „Systems subjektiver öffentlicher Rechte“ vor.14 Die positivierten Grundrechte überführen die abstrakten Menschenrechte in geltendes Recht und befreien sie dadurch auch ihrer naturrechtlichen Herkunft. Das im „System“ dargelegte Grundverständnis wandte Jellinek auch in seiner ideengeschichtlichen Studie an. Darin lehnt Jellinek das Naturrecht ab: „Der große Fehler des Naturrechts lag darin, dass es den tatsächlichen Zustand der Freiheit als ein Recht auffasste und diesem Recht eine höhere, den Staat schaffende und beschränkende Macht zuerkannte.“15

Das bedeutet aber nicht, „die naturrechtlichen Lehren als haltlose Träumereien“ abzulehnen, wie die historische Schule es getan habe, sondern zu fragen, unter welchen praktischen Rahmenbedingungen so scheinbar abstrakte Theorien „Einfluß auf ihre Zeit“ gewinnen konnten. Das gelang laut Jellinek unter Anknüpfung an ältere Rechtsvorstellungen des Common Law und vor dem Hintergrund der historischen Lage Englands im 17. Jahrhundert und seinen absolutistischen Lehren. Menschenrechte als negative Freiheitsrechte werden nicht vom Staat geschaffen, sie werden aber vom Staat anerkannt und so erst zu Recht, „und zwar durch Selbstbeschränkung des Staates und die durch sie erzeugte Angrenzung von Zwi-

14 Georg Jellinek, System subjektiver öffentlicher Rechte. Freiburg: Mohr, 1892. 15 Ebd., S. 71.

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schenräumen, die notwendig zwischen den Fäden seiner Normen existieren müssen, mit denen er das Individuum umgibt“.16 Damit war die Ideengeschichte der Menschenrechte in der weiteren Diskussion zunächst festgelegt: Sie lief auf die Erklärungen der Menschen und Bürgerrechte am Ende des 18. Jahrhunderts zu und erfuhr anschließend einen Formwandel zur Gestalt der Grundrechte, die sich nur noch zur Legitimierung auf die Idee der Menschenrechte berufen mussten, ihre weitere Existenz aber alleine innerhalb der staatlichen Normordnung verdankte. Das machte die naturrechtliche Begründung der Menschenrechte, die ohnehin als logisch falsch angesehen wurde, zugleich zwecklos, da sie sich ja nun innerhalb des modernen Staates, verstanden als Rechtsstaat, in unendlich vielen konkreten Positivierungen entfalten konnte. Jellineks Kritik an der Ideengeschichte als Doktrinen- und Literaturgeschichte hatte in der Sache Janet vor Augen, zielte methodisch aber auf Otto von Gierke. Zu den wichtigsten Gesamtdarstellungen der politischen Ideengeschichte im 19. Jahrhundert gehört Gierkes „Althusius“.17 Diese Arbeit sieht Althusius als Ausgangspunkt der gesamten Staatslehre des 17. und 18. Jahrhunderts, behandelt die Staatslehren aber auch selbstständig und darin kommen dann auch die Menschenrechte zur Sprache. Gierke rezipierte in den späteren Auflagen Jellineks Arbeit von 1895 und wies einige Überlegungen Jellineks zurück (der seinerseits die Kritik Gierkes in späteren Auflagen konterte). Für Gierke standen die Menschenrechte eindeutig in gedanklicher wie ideengeschichtlicher Abhängigkeit von den klassischen Naturrechtslehren.18 Von Relevanz sind hier vor allem Gierkes Einlassungen zum Verhältnis von Positivismus und Naturrecht. Der vom Naturrecht befreite Positivismus ist in Gierkes Augen auf eine gefährliche Weise abhängig von der Machtidee des Staates einerseits und vom gesellschaftlichen Nützlichkeitsdenken andererseits. Die Idee der Gerechtigkeit (sie ist für Gierke der zentrale Begriff, nicht die Menschenrechte) droht hier verloren zu gehen, das Recht wird leer. Er regt am Ende seiner Zusätze zur 2. Auflage von 1902 eine Vermittlung, wenn nicht gar zur Versöhnung beider rechtstheoretischen Ansätze an. Zwar sei jeder Versuch einer

16 Ebd., S. 71. 17 Otto von Gierke, Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik. Breslau 1880, 2. Aufl. 1902, 3. Aufl. 1913; hier zitiert nach der 7. Aufl. mit einem Vorwort von Julius von Gierke, Aalen: Scientia, 1981. 18 Ebd., S. 112-115, S. 304f.

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„Wiedererweckung des Naturrechts zu einem leiblichen Dasein“ verfehlt, aber es gelte, „seine unsterbliche Seele“ zu erhalten: „Wird ihr der Einzug in den Körper des positiven Rechts versagt, so flattert sie gespenstisch durch die Räume und droht, sich in einen Vampyr zu verwandeln, der dem Rechtskörper das Blut aussaugt.“19 Es gelte, die äußere Erfahrung, dass alles geltende Recht positiv sei, mit der inneren Erfahrung, „dass die lebendige Kraft des Rechts aus dem mit dem Menschen angeborenen Rechtsidee stammt“, zu verbinden.20 Während also Jellinek naturrechtliche Begründungen der Menschenrechte ablehnte, erkannte Gierke darin bei aller Skepsis doch eine Berechtigung. Die Kontroverse beider Autoren wurde in der Zeit der Weimarer Republik zum Fundament der weiteren Diskussion zwischen dem juridisch-politischen und dem philosophisch-geistesgeschichtlichen Ansatz. 2. Das ideengeschichtliche Verständnis der Menschenrechte in der Weimarer Republik Die ideengeschichtliche Forschung der Menschenrechte knüpfte in Weimar an die Vorkriegszeit an und fragte nach den Einflüssen auf die Menschenrechts-Erklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. So hatte Ernst Troeltsch 1912 die Frage aufgeworfen, ob Jellinek ausreichend innerhalb der protestantischen Glaubensrichtungen unterschieden habe und ob der von ihm behauptete Einfluss nicht auf die Täufer und weniger auf den Kalvinismus zurückzuführen sei.21 Diese Fragen wurden auch nach 1918 fortgesetzt. Gustav Adolf Salander verwies auf die Unterschiede zwischen den einzelnen amerikanischen Kolonien und machte eher die juridischen Freiheitslehren angelsächsischer Provenienz als das Naturrecht verantwortlich22, wogegen Otto Vossler die Differenzen zwischen englischem und amerikanischem Rechtsdenken vor 1776 betonte.23

19 Ebd., S. 366. 20 Ebd. 21 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen: Mohr, 1912, ND 1994, S. 760f. 22 Gustav Adolf Salander, Vom Werden der Menschenrechte. Leipzig: Weicher, 1926. 23 Otto Vossler: „Studien zur Erklärung der Menschenrechte“, Historische Zeitschrift, 142/1930, S. 516-545.

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Umfangreichere Darstellungen der Ideengeschichte der Menschenrechte, die sich nicht auf die Frage der Herkunft der Menschenrechts-Erklärungen beschränkten, erfolgten im Zusammenhang mit der Ideengeschichte der Idee der Grundrechte. Eine solche Beschäftigung mit den Grundrechten lag in den 1920er Jahren nahe, da die Weimarer Reichsverfassung erstmals auf deutscher nationaler Ebene einen umfangreichen Grundrechtskatalog in die Verfassung aufgenommen hatte. Die ersten größeren Abhandlungen zu den verfassungsrechtlich fixierten Grundrechten in der Weimarer Reichsverfassung beinhalteten daher auch ideengeschichtliche Beiträge zu den Grundrechten und stellten sie in den Kontext der Idee der Menschenrechte, und zwar unter Berücksichtigung des Naturrechts, des Kontraktualismus und der Erklärungen der Menschenrechte.24 Gerade die verfassungsrechtliche Positivierung der Grundrechte warf die Frage ihrer ideengeschichtlichen Zuordnung auf: wurden sie in Zusammenhang mit den Menschenrechten gebracht und diese naturrechtlich interpretiert, war mit einer solchen Deutung auch eine Einschränkung der demokratischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verbunden. Diese Frage formte den ideenpolitischen Hintergrund der Kontroverse zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus in der Weimarer Republik. Hier wurden die Bahnen Jellineks nicht verlassen. 2.1. Das evolutive Verständnis der Menschenrechte in Weimar: Kelsen, Heller, Radbruch Unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaates nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete der Rechtspositivismus ideenpolitisch die Rechtfertigung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Vor diesem Hintergrund wurden alle materiellrechtlichen, rechtsphilosophischen, namentlich naturrechtlichen Argumentationslinien dahingehend kritisiert, ob sie nicht in Wahrheit einfach nur die Praxis der demokratischen Selbstgesetzgebung einschränken wollten. Das Naturrecht im Allgemeinen und in diesem Kontext auch die Menschenrechte im Besonderen wurden als vor-demokratische, wenn nicht gar anti-demokratische Forderungen diskreditiert.

24 Hans Planitz, „Zur Ideengeschichte der Grundrechte“, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, Bd. 3, Berlin: Hobbing, 1930, S. 597-623.

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Die Rechtspositivisten wie die übrigen Kritiker des Naturrechts in den Reihen der Staatslehre, neben Hans Kelsen auch Hermann Heller und Gustav Radbruch, verfassten keine Ideengeschichte der Menschenrechte. In ihrer Kritik der Menschenrechte als Naturrecht kommt aber ein ideengeschichtliches Grundverständnis zum Ausdruck, das den Rechtspositivismus nicht nur als einen rechtsphilosophischen Standpunkt ausweist, sondern eine bestimmte Ideengeschichte des Rechts zur Voraussetzung hat, und darin auch die Geschichte der Menschenrechte. Der deutlichste Kritiker des Naturrechts war Hans Kelsen. Er zählte die Menschenrechte zur Naturrechtslehre, von der er sich ausdrücklich abgrenzte.25 Den Sinn solcher naturrechtlicher Forderungen sieht Kelsen in der politischen (und nicht rechtlichen) Forderung, aller Politik absolute Schranken auferlegen zu wollen. Als subjektive Rechte in die Rechtsordnung integriert, entpuppen sich Kelsen zufolge solche „angeborenen“ Rechte oder Grund- und Freiheitsrechte als politische Forderungen, die auf die Verleihung einer Rechtsmacht abzielen, um an der „Erzeugung“ von Recht mitzuwirken und die Rechtmäßigkeit von Gesetzesrecht zu überprüfen.26 So sagt Kelsen in der „Allgemeinen Staatslehre“ von 1925: „Es ist die Idee der angeborenen, unzerstörbaren oder auch der ‚erworbenen‘ Rechte des Individuums, die seit je mit der Prätention aufgetreten ist, absolute Schranken gegen das positive Recht aufzurichten.“27

Die Praxis der Aufnahme ganzer Kataloge an Freiheitsrechten in die moderne Verfassung seit dem 18. Jahrhundert bezeichnet Kelsen konsequenterweise als problematisch, weil sie weiterhin der Vorstellung Vorschub leistet, die objektive Rechtsordnung leite sich aus dem Naturrecht ab.28 Die ideengeschichtlichen Hintergrundannahmen dieser Auffassung gehen von einer evolutiven Entwicklung aus, an deren Ende die politische Emanzipation samt dem Anspruch der selbstbestimmten Gestaltung steht. Hier ist das Recht als Medium verstanden, um in hoch arbeitsteiliger Form und über unterschiedlichste Wertorientierungen hinweg die Gesellschaft selbstverantwortlich einzurichten. Aus dieser Sicht war es daher naheliegend, dass auch die Anhänger des Naturrechts immer weniger wurden, je stärker

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Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre. Berlin u.a.: Springer, 1925, S. 59. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. 2. Aufl. Wien: Deuticke, 1960, S. 145-149. H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 59. Ebd., S. 154.

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die Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Rechts als selbstgesetzter Gesellschaftsgestaltung steht. Einer der Schauplätze der Auseinandersetzung des Rechtspositivismus der Kelsen’schen Provenienz war die Zeitschrift für öffentliches Recht. Dort veröffentlichte auch Erich Voegelin, der zeitweilige Assistent Kelsens, seine Studie zur französischen Erklärung der Menschenrechte. Die aus seiner Sicht offenkundigen normativen Widersprüche dieser Erklärung, die zwischen Naturrecht und Positivismus schwankt, sind seiner Ansicht nach nur dadurch zu erklären, dass die Akteure in der Französischen Revolution wie in einem „Schauspiel“ agierten (modern gesprochen: rhetorisch agierten), was einerseits erklärt, wie es zu den „realitätsfernen Thesen der Deklaration“ kommen konnte und gleichzeitig oft genug dieselben Autoren in Einsicht dieser Wirklichkeitsferne moderierend auf die Formulierungen einwirkten und so den stärksten idealistischen Überschwang bremsten.29 Selbst Kritiker des Rechtspositivismus der Weimarer Zeit wie Hermann Heller stimmten in der Ablehnung des klassischen Naturrechts mit den Rechtspositivisten überein.30 Freiheitsrechte werden demnach nicht mehr als Naturrechte, sondern als „Kulturrechte“ angesehen.31 Das kritisch-evolutionistische Zeitalter habe die individualistisch-atomistische Weltanschauung des Naturrechts abgelöst32 und erst der Staat verbürge die Freiheitsrechte, die wiederum den Bürgern Pflichten gegenüber dem Staat auferlegen, um die Realität dieser Freiheitsrechte zu ermöglichen. Gustav Radbruch wird im Kontext der Renaissance des Naturrechts nach 1945 am häufigsten genannt, weil sich an ihm der Umschlag von einem Anhänger des Rechtspositivismus vor 1933 zu einer wiedererwachten Akzeptanz des Naturrechts nach 1945 klar abzeichnete. Ohne auf die Kontroverse näher eingehen zu müssen, die sich mit Radbruchs „Wende“ zum Naturrecht beschäftigt, ist hier nur von Relevanz, dass Radbruch vor 1933 die bereits bei Kelsen und Heller beobachtbare Annahme teilt, wo-

29 Erich Voegelin: „Der Sinn der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, Zeitschrift für öffentliches Recht, 8/1929, S. 82-120, hier: S. 107. 30 Hermann Heller, „Grundrechte und Grundpflichten“, in: Teubners Handbuch der Staats- und Wirtschaftskunde, 1. Abteilung: Staatskunde, 2. Band, 1. Heft, Leipzig/Berlin: Teubner, o.J. (1924), S. 1-23, zitiert nach: ders., Gesammelten Schriften, Leiden: Sijthoff, 1971, Band 2, S. 281-317. 31 Ebd., S. 286. 32 Ebd., S. 284-286.

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nach es sich um eine weltgeschichtliche Entwicklung vom individuellen zum sozialen Recht, vom reinen Individualismus zum Kollektivismus handelt.33 Den menschenrechtlichen Hintergrund thematisiert Radbruch vor allem anhand des Rechts auf Eigentum, welchem Radbruch die Geltung als eines Naturrechts oder eines unverletzlichen Menschenrechts abspricht.34 Was demnach Kelsen, Heller wie Radbruch eint, ist die Annahme einer evolutiven Ideengeschichte des Rechts, gekennzeichnet durch eine Entwicklung von einem individualistischen zu einem sozialen Verständnis des Rechts. In dieser Rahmung ist die Berufung auf individuelle Rechte ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Einbettung des Menschen sinnlos und die naturrechtliche Begründung der Menschenrechte ein anachronistischer Rückfall in eine Denkweise, die als überwunden gilt. Wenn dann tatsächlich doch einmal ein Staatsrechtler sich dezidiert auf das Naturrecht berief, um wie etwa Erich Kaufmann das Grundrecht auf Gleichheit in den Kontext eines aristotelischen und christlichen Naturrechtstradition zu stellen35, dann war die Reaktion der Positivisten eine gewisse Ungläubigkeit und Überraschung. In der Aussprache des Vortrags von Kaufmann äußerte sich Gerhard Anschütz, es habe ihn überrascht, mit welcher Intensität und „Bekenntniskraft“ das Naturrecht verteidigt werde, dass er, Anschütz, bis vor kurzem als überwunden angesehen hatte. Ironisch stellt er fest, er komme sich mit einem Male sehr altmodisch vor: vermeinte er zuvor den Fortschritt zu vertreten, müsse er nun konstatieren, dass das Naturrecht wieder Mode geworden sei.36

33 Hierzu Nathalie Le Bouëdec, Gustav Radbruch, juriste de gauche sous la République de Weimar. Québec: Presses de l’Université Laval, 2011, S. 334-355 mit einer genauen Rekonstruktion dieses rechtstheoretischen Grundverständnisses, das Radbruch in der Zeit zwischen 1919 und 1933 entwickelte. Diese vielleicht genaueste Studie zu Radbruch endet leider mit dem Jahr 1933. 34 Zahlreiche Nachweise bei N. Le Bouëdec, Gustav Radbruch, S. 344. 35 Erich Kaufmann, „Die Gleichheit vor dem Gesetz nach Art. 107 der Reichsverfassung“, in: Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Münster i.W. am 29. und 30. März 1926, Berlin/Leipzig: De Gruyter, 1927, S. 2-24. 36 Ebd., Aussprache zum Referat, S. 47.

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2.2. Der Kampf um das Naturrechtsverständnis: Aufklärung oder Scholastik (Cassirer und Rommen) Außerhalb der Staatsrechtslehre war das Naturrecht freilich deutlich präsenter. In stärker philosophisch argumentierenden Diskursen blieb das Naturrecht eine Orientierung nicht nur für die Anordnung des ideengeschichtlichen Materials als Archiv, sondern als Arsenal, das heißt um hieraus Argumente auf gegenwärtige Diskussionen zu beziehen. In dieser Debatte war nicht die Frage, ob man an das Naturrecht anknüpfen könne, sondern vielmehr: an welche Spielart des Naturrechts. Zwei Stränge wurden hierbei unterschieden und entsprechend unterschiedliche Ideengeschichten des Naturrechts und darin der Menschenrechte konzipiert: einmal das individualistisch-rationalistische Naturrecht der Neuzeit, dann aber auch das hiervon unabhängige scholastische Naturrecht. Für ersteres soll Ernst Cassirer stellvertretend erörtert werden, für letzteres Heinrich Rommen. Ernst Cassirers Buch zur Ideengeschichte der Aufklärung37 ist hier auch deswegen zu nennen, weil anhand seiner Schriften immer wieder die Frage des argumentativen Stellenwerts der Ideengeschichte in seiner politischen Philosophie diskutiert wurde. So ist von einem persuasiven Gebrauch von Ideengeschichte die Rede38 oder von der Ideengeschichte als einem politischen Medium.39 Bereits die zeitgenössische Rezeption erkannte Cassirers ideenpolitische Motivation: die Aufklärung gegen ihre Verächter im akademischen Milieu Deutschlands zu verteidigen; es handle sich daher um eine „Apologie der Aufklärung“, die Cassirer vorgelegt habe.40 37 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen: Mohr, 1932. 38 Jan Altmann, „Republikanische Wendung des Nationsdiskurses. Zur Rhetorik von Ernst Cassirers Rede ‚Die Idee der republikanischen Verfassung‘“, in: Karl Graf Ballestrem / Volker Gerhardt / Henning Ottmann / Martyn P. Thompson (Hrsg.), Politisches Denken, Jahrbuch 2002, Stuttgart: Metzler, 2002, S. 61-78, hier: 61f. 39 Gérard Raulet, Das Zwischenreich der symbolischen Formen. Ernst Cassirers Erkenntnistheorie, Ethik und Politik im Spannungsfeld von Historismus und Neukantianismus. Frankfurt a.M. u.a.: Lang, 2005, S. 130. Man findet auch die Sentenz von der „Ideengeschichte als politische[r] Praxis“: Peter Müller, Der Staatsgedanke Ernst Cassirers. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S. 86-88, nur dass sich hierzu keine weiteren Aussagen im Text finden. 40 Hans Barth: „Apologie der Aufklärung“, Neue Zürcher Zeitung, 18. Februar 1933, Blatt 1, zitiert nach: Gerald Hartung, „Einleitung“, in: Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung, ND, Hamburg: Meiner, 2007, S. VII*-XVII*, hier: S. VII*.

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Cassirer ging es um den Nachweis der weit über die Grenzen des „Westens“ hinausreichenden Tradition der Aufklärung, deren Naturrechtsdenken immer auch ein Denken über die „Natur“ des Menschen in naturwissenschaftlicher wie historisch-sozialer Hinsicht gewesen war. Für den Philosophen Cassirer berührt das Naturrecht weniger die Frage der Natur des Rechts als vielmehr das Verhältnis von Macht und Recht.41 Vor diesem Hintergrund ist die Suche nach einem „Rechts-System“, das sich von dem bloß Äußerlichen, vom „bloß-Faktischen“ tatsächlicher staatlicher Macht unabhängig machen will. In einer doppelten Frontstellung gegen Theologie und Machtstaats-Idee42 sieht Cassirer die vernunftrechtliche Abstraktion als Vorgang politischer Emanzipation an. Die Idee „unveräußerlicher Rechte“ ist dabei die Leistung der gemeineuropäischen Aufklärung. Die französischen Revolutionäre fanden dies in dem Naturrecht des 17. Jahrhunderts schon vor, wie auch die Amerikaner hiervon beeinflusst wurden, aber erst die Franzosen erhoben diese Idee zu einem „sittlichen Evangelium“.43 Cassirer schloss hier also in der Sache an die französische Argumentation von Paul Janet an, nur dass er unter Aufklärung eine gemeineuropäische, auch die deutsche Philosophie (namentlich Leibniz) einbeziehende Tradition verstand, die entsprechend in diesen Kulturen weiterhin Geltung beanspruchen durfte. Bei Heinrich Rommen finden wir umgekehrt einen Anhänger des scholastischen Naturrechts, der das individualistisch-rationalistische Naturrecht der Aufklärung für die Probleme der Gegenwart verantwortlich machte. Da er weit weniger bekannt ist als Cassirer, soll er hier ausführlicher behandelt werden. Rommen war Dezernent für Gesellschaftslehre und staatsbürgerliche Bildungsarbeit beim Volksverein für das katholische Deutschland in Mönchengladbach und hatte 1927 eine Arbeit zum Naturrecht von Suarez vorgelegt.44 Dieser philosophisch-theologischen Dissertation folgte ein Studium der Jurisprudenz, das er mit einer Dissertation zu den Grundrechten und dem richterlichen Prüfungsrecht in den USA 1928 abschloss. Im Rahmen eines Berichts über eine der frühesten international ausgerichteten Erklärungen der Menschenrechte, der Erklärung der internationa-

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E. Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 314. Ebd., S. 319. Ebd., S. 335. Heinrich Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez S.J.. Mönchengladbach: Volksvereins-Verlag, 1927.

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len Menschenrechte vom 12. Oktober 1929 in Baircliff Lodge, äußerte sich Rommen ausführlich darüber, wie seiner Ansicht nach die Menschenrechte ideengeschichtlich einzuordnen seien.45 Die besagte Erklärung internationaler Menschenrechte, vorgelegt vom „Institut de Droit International“, stellt Rommen in einen ideengeschichtlichen Kontext. Hier habe man es mit dem Höhepunkt einer Entwicklung zu tun, die ihren Ausgang mit der Durchsetzung des modernen Staates genommen habe. Das Mittelalter mit seinen genossenschaftlichen Gebilden kannte zwischen Mensch und Staat zahllose Möglichkeiten, das Individuum nicht der politischen Herrschaft schutzlos auszusetzen. Das ändert sich mit den Reformatoren, die den souveränen Staat insoweit vervollständigen als sie in ihm die weltliche mit der geistlichen Macht vereinigen. Nun stehen sich nur noch Individuum und Staat gegenüber. In dieser Konstellation habe das „neuere Naturrecht“ sich der Aufgabe gewidmet, das Individuum vor dem Staat zu schützen und hierfür dem „abstrakten Individuum“ in einem gedachten vorstaatlichen Zustand den Besitz „natürlicher subjektiver Rechte“ zugestanden.46 Neben eine geistesgeschichtliche Erläuterung der Idee der Menschenrechte stellt Rommen eine politische. Im Hintergrund der textlichen Niederschläge der Idee der Menschenrechte finden sich nämlich konkrete ideenpolitische Auseinandersetzungen. Das stärkste Interesse an einer solchen Theorie natürlicher Rechte hatten die amerikanischen Kolonien, welche das hohe Gut der „Rechte des Engländers“ aus der Rechtsordnung des Mutterlandes einfach zu natürlichen Rechten erklärten, die jedem Menschen, und so in erster Linie den Amerikaner, zustünden.47 Von Amerika aus habe die Idee der Menschenrechte dann ihren Siegeszug angetreten. Die „praktische Bedeutung“ der Menschenrechte variiert aber beträchtlich, je nach den Möglichkeiten, die bestehen, um sie gegenüber dem Staat durchzusetzen.48 Die Möglichkeit der richterlichen Prüfung staatlichen Handelns von der Habeas-Corpus-Akte in England bis zum Supreme Court in den USA „sind für die praktische Durchsetzung der Menschenrechte mehr wert als hundert Verfassungsartikel“.49 Immerhin erstreckt

45 Heinrich Rommen: „Die Erklärung der internationalen Menschenrechte“, Hochland, 28/1931, S. 324-337. 46 Ebd., S. 329. 47 Ebd., S. 335. 48 Ebd., S. 334. 49 Ebd., S. 335.

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sich der Rechtsschutz des Menschen in den USA auch auf Nicht-Bürger und damit auf eine sehr konkrete Weise auf alle Menschen. Daher stellt Rommen hinsichtlich der weiteren Zukunft der internationalen Menschenrechte die Frage, in welchen institutionellen Bahnen sie welche Entwicklung machen werden. Er formuliert hierzu mehrere Szenarien: Kommt es analog zu den innerstaatlichen Grundrechten zur Errichtung eines Berufungsrechts für die in ihren internationalen Menschenrechten verletzten Menschen? Wird es wenigstens zwischen den „zivilisierten Staaten“ einen diplomatischen Schutz analog den geltenden Regelungen zum Schutz von Minderheiten geben, nun aber für jedermann? Oder aber ermöglichen die Menschenrechte die Intervention in Staaten, welche die Menschenrechte verletzen? Rommen denkt hier an eine Intervention durch ein oder mehrere Bündnisse von Staaten, die sich auf der Grundlage der internationalen Menschenrechte solidarisieren.50 Die unmittelbare Zukunft mit ihren Unwägbarkeiten und aufkeimenden Konflikten auf der zwischenstaatlichen Ebene illustriert Rommen mit einer „Wikingerfahrt“: man stünde „vor einer neuen Wikinger-Fahrt der Idee der Menschenrechte“.51 Selbst die Schaffung eines Gerichtshofes für Menschenrechte wäre ein politischer Unruheherd. Eine solche Instanz wäre gegenwärtig kein „Organ eines universalen Weltstaates“ und daher Teil eines einzelnen Staates oder einer Staatengemeinschaft, so dass in die Rechtsentscheidungen immer auch „politische Gesichtspunkte“ hineinragen werden: „Die Tendenz, das Politische zu juridifizieren, führt in notwendigem Umschlag zur Politisierung des Juridischen. Das Politikon ist eben genauso ewig wie das Recht.“52 Mit diesen Zeilen schließt diese bemerkenswerte Abhandlung. In ihr spricht Rommen vom „neueren Naturrecht“ oder den „neueren Naturrechtslehren“.53 Was er hier auslässt ist dagegen der andere Strang des Naturrechts, dem er selbst nahesteht, das scholastische Naturrecht. Rommen hat einen umfassenderen Begriff des Naturrechts als Cassirer. Das erklärt sich aus seiner Zugehörigkeit zum Diskurs der katholischen Soziallehre. Immerhin ist er darin mit seiner Akzeptanz, wenn nicht sogar seiner Unterstützung der Menschenrechte eine Ausnahmeerscheinung. Die Menschenrechte wurden seitens der Amtskirche zu diesem Zeitpunkt noch mit

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Ebd., S. 337. Ebd. Ebd. Ebd., S. 329f.

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größter Skepsis betrachtet, weil sie mit einem individualistischen Liberalismus identifiziert wurden.54 Rommen folgt nun aber nicht der sich nach 1945 durchsetzenden Argumentationsstrategie, die Menschenrechte unkritisch in die Tradition des Naturrechts zu stellen und damit die Brücke zur katholischen Lehre zu schlagen. In seinem Buch zu Suarez von 1927 unterschied er innerhalb des Naturrechts zwischen dem scholastischen und dem neuzeitlichen, individualistisch-rationalistischen Naturrecht: letzteres habe seine Mission mit der „Entdeckung“ des schon vor allem staatlichen Leben gültigen Menschenrechte erfüllt.55 Das neuzeitliche Naturrecht will das Individuum vor dem Staat schützen, kann aber den Sinn des Staates und den Inhalt seiner Tätigkeit nicht bestimmen und muss daher insbesondere in der demokratischen Identifizierung von Staat und Individuen ins Leere laufen. Nur das scholastische Naturrecht umfasst neben den Rechten des Individuums auch seine soziale Stellung in der Seinsordnung, auf die alleine seine Ansprüche begründet werden können. Das Naturrecht kann sich daher nicht auf den Willen des Individuums stützen, will es nicht konsequenterweise im Positivismus aufgehen und damit untergehen. Was sich hier andeutet wird Rommen dann in seinen Schriften nach 1933 weiter ausführen und mit diesen zur Renaissance des Naturrechts beitragen, wie noch zu sehen sein wird. Rommen stellt auch hinsichtlich des Verständnisses der Ideengeschichte einen Kontrapunkt zu Cassirer dar. Cassirer ist sich der ideenpolitischen Kämpfe der Aufklärer bewusst, verweilt aber bei dem dogmengeschichtlichen Ansatz. Rommen stellt von vorneherein den ideenpolitischen Kontext der historischen Auseinandersetzungen in den Vordergrund und hat daher auch keine Mühe darüber zu spekulieren, wie sich die Menschenrechte in unterschiedlichen institutionellen Kontexten verwirklichen lassen. Die tatsächliche Entwicklung hat Rommen genauso wenig wie andere Zeitgenossen vorhergesehen. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und das Jahr 1933 markiert für viele Gegenstände der Politischen Ideengeschichte eine massive diskursive Zäsur, so auch und besonders für die Idee der Menschenrechte. Die Missachtung des individuellen Menschen und seines Eigenwerts wurde von den Ideologen dieses Regimes auch ideenge-

54 Hierzu im Überblick: Rudolf Uertz, „Menschenrechte im Spannungsfeld zwischen Gottesrede und säkularer Politik“, in: Markus Vogt (Hrsg.), Theologie der Sozialethik, Freiburg: Herder, 2013, S. 279-299. 55 H. Rommen, Die Staatslehre des Franz Suarez S.J., S. 76.

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schichtlich eingestanden, um nicht zu sagen: verkündet. Bereits in einer Rede vom April 1933 nutzte Goebbels die Idee der Menschenrechte als Markierung des Gegenpols der nationalsozialistischen Ideologie und erklärte die Streichung des Jahres 1789 aus der Geschichte: „Wir wollen die Weltanschauung des Liberalismus und die Anbetung der Einzelperson beseitigen und ersetzen durch einen Gemeinschaftssinn, der wieder das ganze Volk erfasst und das Interesse der Einzelperson wieder dem Gesamtinteresse der Nation ein- und unterordnet. Damit ist das Jahr 1789 aus der Geschichte gestrichen.“56

Die Zäsur von 1945 begann eigentlich schon 1933. Das war den zeitgenössischen Autoren sehr bewusst. Nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern die Erfahrung der gezielten Missachtung jeglicher Menschenrechte prägte die Diskussion. 3. Die Ideengeschichten der Menschenrechte nach 1945 3.1. Die Ideengeschichte der Menschenrechte als neuer Diskurs Die Zeit nach 1945 erlebte einen sprunghaften Anstieg an ideengeschichtlichen Darstellungen der Menschenrechte. Es ist behauptet worden57, der erste Historiker der Menschenrechte sei Gerhard Ritter gewesen, mit seiner 1949 erschienenen Abhandlung zum „Ursprung und Wesen der Menschenrechte“.58 Das wird man nach dem bisher Erörterten kaum aufrechterhalten können. Nicht einmal hinsichtlich der Titelgebung, die sich mit dem Begriff der Menschenrechte gerade nicht auf die Erklärungen der

56 Joseph Goebbels, „Rede in Berlin am 31. April 1933“, in: ders., Revolution der Deutschen. 14 Jahre Nationalsozialismus, Berlin, 1933, S. 155-161, hier: S. 161, zitiert nach: Anselm Doering-Manteuffel, „Die Ordnung der Zeit im nationalsozialistischen Herrschaftssystem“, in: Lucien Hölscher (Hrsg.), Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung, Frankfurt a.M./New York: Campus, 2017, S. 101-120, hier: S. 109. Vgl. auch Ian Kershaw, „Die Auslöschung der Menschenrechte in Nazi-Deutschland“, in: Olwen Hufton (Hrsg.), Menschenrechte in der Geschichte, Frankfurt a.M.: Fischer, 1998, S. 236-269. 57 Samuel Moyn, Christian Human Rights. Philadelphia: Pennsylvania University Press, 2015, S. 101-135. 58 Gerhard Ritter: „Ursprung und Wesen der Menschenrechte“, Historische Zeitschrift, 169/1949, S. 233-263.

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Menschenrechte beschränken will, war Ritter singulär oder auch nur der erste.59 Er bewegte sich innerhalb eines ganzen Feldes an etwa zeitgleich erscheinenden deutschsprachigen Arbeiten zur Vorgeschichte der Menschenrechte. Schon die bloße Menge an publizierter Literatur ist aufschlussreich für das neu erwachte Bewusstsein bezüglich der Bedeutung der Menschenrechte. Aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt veröffentlichte Willy Strzelewicz 1947 sein Buch Der Kampf um die Menschenrechte.60 Strzelewicz wurde bei Max Horkheimer promoviert, emigrierte 1933 nach Schweden und kehrte 1955 nach Deutschland zurück, wo er die Erwachsenenbildung und Pädagogik hauptsächlich in Niedersachsen prägte. Bei dem erwähnten Buch handelt es sich um das deutschsprachige Originalmanuskript, das im Exil 1943 in Schwedisch veröffentlicht wurde. Hier werden die Entstehungskontexte behandelt und hiervon ausgehend die Ergänzung der klassischen Menschenrechte um soziale und ökonomische verlangt. Einige Autoren stellten weiter die Grundrechte als Inbegriff der Menschenrechte in den Mittelpunkt. Dazu gehören Autoren, die nicht im Exil waren, so wie Alfred Voigt und Fritz Hartung. Voigt wurde 1937 bei Ernst von Hippel in den Rechtswissenschaften promoviert, war während des gesamten Zweiten Weltkrieges Soldat und habilitierte sich 1948 bei Walter Jellinek in Heidelberg. Im gleichen Jahr erschien seine Geschichte der Grundrechte.61 Der bei Otto Hintze promovierte Historiker Fritz Hartung durchlebte Weimar wie das Dritte Reich auf seiner Professur an der Universität Berlin. Bekannt wurde er durch seine 1914 vorgelegte und in vielen Auflagen überarbeitete Deutsche Verfassungsgeschichte. Seine 1948 veröffentlichte Sammlung an Dokumenten verbindet Menschenrechts-Erklärungen und Verfassungen mit Grundrechts-Katalogen zu einem Diskurs.62 Die Texte reichen von der „Virginia Bill of Rights“ bis zum Entwurf einer DDR-Verfassung, vorgeschaltet ist eine zwanzigseitige Einleitung. In der 2. Auflage von 1954 nimmt Hartung einige Dokumente heraus 59 Früher ist beispielsweise Arthur Hossbach, Die Menschenrechte. Braunschweig: Westermann, 1948, der aber inhaltlich wenig interessant ist. 60 Willy Strzelewicz, Der Kampf um die Menschenrechte. Von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung bis zur Gegenwart, Hamburg: Phönix, 1947, mit einem Vorwort von Herbert Wehner. 61 Alfred Voigt, Geschichte der Grundrechte. Stuttgart: Speemann, 1948. 62 Fritz Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776-1946. Berlin: Wissenschaftliche Editions-Gesellschaft, 1948 (Quellensammlung zur Kulturgeschichte, hrsg. von Wilhelm Treue, Bd. 1); 2. erweiterte Aufl. 1954.

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(insbesondere die deutschen Länderverfassungen) und neue hinein, namentlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950. Unter den nach dem Zweiten Weltkrieg publizierten Arbeiten zur Ideengeschichte der Menschenrechte fand die von Gerhard Oestreich vorgelegte Studie die größte Verbreitung. Oestreich wurde 1936 bei Fritz Hartung in Berlin im Fach Geschichtswissenschaft promoviert und war während des zweiten Weltkrieges Soldat. Nach dem Krieg war er bei der Deutschen Literaturzeitung tätig, dann beim Walter de Gruyter Verlag, wo er u.a. für Kürschners Gelehrtenlexikon verantwortlich war. Er habilitierte sich 1954 an der Freien Universität Berlin, wo er 1958 zum außerordentlichen, 1960 zum ordentlichen Professur ernannt wurde. Oestreich begann 1951 mit einer kleinen Broschüre zur Ideengeschichte der Menschenrechte von nur 32 Seiten, die dann über die Jahre sukzessive erweitert wurde63, um am Ende in der letzten Fassung aus dem Jahr 1978 schließlich auf knapp 160 Seiten anzuwachsen.64 In der Ursprungsfassung von 1951 definiert Oestreich die Menschenrechte als unveräußerliche und unentziehbare Rechte und stellt sie in den naturrechtlichen Kontext: „Die Menschenrechte stehen am Ausgang der Gestaltung des Naturrechts, sie sind das dauernde Ergebnis seiner gesamten Entwicklung.“65 Die größten Geister sind an dieser zweitausendjährigen Tradition beteiligt gewesen:

63 Gerhard Oestreich, Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Düsseldorf: Völker, 1951, 32 S.; verbesserter und erweiterter Neudruck (Schriftenreihe der Niedersächs. Landeszentrale für Polit. Bildung Reihe C Heft 7), 1961, 44 S.; überarbeiteter Neudruck als Heft 11 der Reihe „Zur Politik und Zeitgeschichte“, hrsg. vom Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin und der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin, 1963, 46 S.; 5. Auf. mit erw. Lit. 1974, 47 S. 64 Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß (Historische Forschungen Bd. 1). Berlin: Duncker & Humblot, 1968, 136 S.; 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. 1978, 158 S. Sie beruht auf Oestreichs Beitrag im Grundrechte-Handbuch von Bettermann und Nipperdey: Gerhard Oestreich, „Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Eine historische Einführung“, in: K. A. Bettermann / F. L. Neumann / H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. 1,1, Berlin: Duncker & Humblot, 1966, S. 1-123. 65 G. Oestreich, Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung, S. 5.

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„Alle ihre Anstrengungen scheinen nur dazu zu dienen, mit der Gestaltung des Naturrechts in der Neuzeit auch die Idee der Menschenrechte staatsrechtliche sowie völkerrechtliche Wirklichkeit werden zu lassen.“66

Hinsichtlich der Einschätzung des Naturrechts vorsichtiger als Oestreich ist dessen Doktorvater Fritz Hartung. In der Einleitung zu seiner Quellensammlung erkennt Hartung die Bedeutung der Naturrechts-Tradition als maßgebliche geistesgeschichtliche Wurzel der Idee der Menschenrechte an, ist hinsichtlich dieser Bewertung aber deutlich vorsichtiger als etwa Oestreich. Er stellt den Ausdruck Naturrecht in Anführungsstriche67, betont den Umstand, dass einige moderne Erklärungen und Verfassungen neben Rechten auch Pflichten enthalten68, bemängelt, dass auch die jüngsten Menschenrechts-Kataloge keine Sicherungen gegen nichtstaatliche soziale Verbände insbesondere kapitalistischen Zuschnitts enthalten und zeigt sich skeptisch hinsichtlich des Rechtscharakter so genannter natürlicher Rechte. Da Hartung zufolge die eigentliche Leistung der Menschenrechte ohnehin darin besteht, dem Zusammenleben eine feste Grundlage zu geben und eine Erziehung zur Achtung der Würde des Menschen anzuleiten, steht und fällt der Sinn der Menschenrechte aber auch nicht mit ihrem Rechtscharakter.69 Nicht nur stellt Oestreich die Menschenrechte ganz selbstverständlich in einen engen Zusammenhang mit der Naturrechtstradition und sieht sie zugleich als ihr teleologisches Ergebnis an, er erhebt den Vorwurf an die früheren Rechtswissenschaften, bis in die jüngsten Jahre hinein das Naturrecht bekämpft zu haben und damit auch die Idee der Menschenrechte: „Die Rechtswissenschaft des vorigen Jahrhunderts und der letzten Jahrzehnte hat zum großen Teil das Naturrecht, das wichtigste geistesgeschichtliche Fundament der Menschenrechte, bekämpft und damit ihre Wurzel durchschnitten.“70

Das Naturrecht ist in dieser geistesgeschichtlichen Darstellung als ganz selbstverständlicher Bezugspunkt der Menschenrechte angesetzt. Generell kann man zur naturrechtlichen Argumentation nach 1945 sagen, dass sie

66 Ebd. 67 F. Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776-1946, S. 7. 68 Ebd., S. 10f. 69 Ebd., S. 21. 70 G. Oestreich, Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung, S. 5.

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den Totalitarismus nur als Unterbrechung des Naturrechts ansieht und dass es nun wieder darauf ankommt, das Naturrecht erneut zu inthronisieren. Die Menschenrechte sind hierzu ein wichtiges Vehikel. Der Bezug zum Naturrecht ist nun kein Makel mehr, sondern das entscheidende qualifizierende Merkmal. Der Positivismus dagegen gilt hier als überwunden, so wie einige Dekaden zuvor das Naturrecht als überwunden gegolten hatte, jedenfalls im staatsrechtlichen Diskurs. 3.2. Die Debatte um das Naturrecht nach 1945 (Rommen, Cassirer) Nicht dieses oder jenes Naturrecht spielte nach 1945 eine bedeutsame Rolle, sondern der Umstand, dass jedes Naturrecht dem Individuum eine personale Würde zusprach. Das Naturrecht übernahm nach 1945 eine bedeutende ideenpolitische Rolle, und zwar als argumentative Brücke zwischen politischen Akteuren unterschiedlicher ideologischer Lager. Es ist keine Frage, dass im Parlamentarischen Rat der Bezug auf das Naturrecht es sowohl sozialistisch eingestellten wie auch explizit christlich denkenden Politiker ermöglichte, eine gemeinsame ideenpolitische Grundeinstellung zu formulieren. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur die Einigung auf eine ganze Reihe von individuellen Grundrechten in das Grundgesetz zu erklären, sondern vor allem die Festlegung auf das Prinzip der Menschenwürde.71 Zu den wenigen Autoren, die nach 1945 hinsichtlich des Naturrechts differenzierter argumentierten, zählte Heinrich Rommen. Er war gleich nach der Machtergreifung 1933 mehrere Wochen in die „Schutzhaft“ der Gestapo genommen und verhört worden, schlug sich danach als Rechtsberater eines Wirtschaftsunternehmens durch und emigrierte 1938 mit Hilfe des „Episcopal Committee for Catholic Refugees“ in die USA. Noch vor der Emigration erschien sein Buch zum Staat in der katholischen Gedankenwelt, worin er behauptete, das Naturrecht sei objektiv geltendes Recht, nicht nur Idee und Maßstab72 und worin er einem Gesetz, das Unsittliches und Ungerechtes anstrebe, seinen Gesetzescharakter absprach.73 Das

71 Materialien hierzu versammelt bei Manfred Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde. Die Debatten seit 1949. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2016, S. 17-25. 72 Heinrich Rommen, Der Staat in der katholischen Gedankenwelt. Paderborn: Bonifacius, 1935, S. 90. 73 Ebd., S. 265f.

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Buch, das Rommen berühmt machte, war das zur Renaissance des Naturrechts von 1936. Es fand in den 1930er Jahren nur geringen Widerhall. Erst nach 1945 auf der Grundlage der zweiten Auflage von 1947 fand es Leser.74 In dieser zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage der Ewigen Wiederkehr des Naturrechts warf Rommen die Frage auf, an welches Naturrecht angeknüpft werden sollte, wenn es darum ging, eine programmatische Frontstellung gegen die totalitäre Herrschaft zu formulieren. Musste er in der Erstauflage von 1936 unter den publizistischen Bedingungen der Zeit noch vorsichtig sein, konnte er sich nun deutlicher äußern. Angesichts seines noch in Weimar veröffentlichten Aufsatzes zur internationalen Erklärung der Menschenrechte von 1931 hätte man vermuten können, dass Rommen in die Vielzahl der Beiträge einstimmte, welche die Menschenrechte als die notwendige Folgeentwicklung des Naturrechts oder gar dessen Höhepunkt und zugleich Endpunkt ansetzten. Rommen führte jedoch seine Unterscheidung innerhalb des Naturrechts fort, die er bereits 1927 vorgenommen hatte. Er machte den individualistisch-rationalistischen Strang für den Rechtspositivismus verantwortlich und erklärte, nur der scholastische Strang des Naturrechts sei anschlussfähig für die Frage der Menschenwürde. Von der Antike bis zur Gegenwart lassen sich demnach zwei Varianten des Naturrechts unterscheiden: 1) die „Idee eines revolutionär-individualistischen Naturrechts“, die Rommen mit den Theoremen des Naturzustandes und des kontraktualistisch legitimierten Staates in Verbindung bringt, und 2) „die Idee eines metaphysisch begründeten Naturrechts“, meist verbunden mit einer Vorstellung Gottes als des obersten Gesetzgebers. Im Unterschied zur ersten Variante wird das Naturrecht hier nicht vor den Gesetzen gedacht, sondern als etwas, das „in ihnen lebt und leben soll“.75 Der für die Menschenrechte relevante Unterschied besteht darin, dass das rationalistische Naturrecht in Form von Rechten denkt, so insbesondere Freiheitsrechten des Individuums, wogegen das metaphysische Naturrecht in der Form des Gesetzes denkt.76 Das Recht zielt auf ein „subjektives Förderndürfen“, das Gesetz hingegen auf die objektive Ordnung und stellt den Grund von Pflichten und Rechten dar. Damit wird zugleich deutlich,

74 Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts. Leipzig: Hegner, 1936, 2. Auf. München: Kösel, 1947. 75 Ebd., S. 11. 76 Ebd., S. 198.

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dass in Rommens Interpretation das metaphysische Naturrecht das Anliegen des rationalen in sich aufnimmt. Auch das metaphysische Naturrecht kennt die Freiheitsrechte des Individuums und fordert sie als Naturrecht, aber es bleibt nicht bei dem isolierten Individuum stehen, sondern begreift den Menschen aus seiner sozialen Natur heraus. Hierzu gehört aber nicht nur die vertragliche Festlegung der Verhältnisse untereinander, sondern vor allem die Institutionen der Sozialität, von der Familie bis zu den wirtschaftlichen Korporationen. Daher kann weder von einem Primat des Individuums noch von einem der Gemeinschaft gesprochen werden77, vielmehr müssen beide miteinander vermittelt werden. Die totalitäre Herrschaft des Nationalsozialismus deutete das Naturrecht zu dem Recht um, das aus der Natur der Rasse folgt und leugnete das System angeborener und unveräußerlicher Rechte des Individuums.78 Das rationale Naturrecht, mittlerweile in der Willenstheorie des Positivismus aufgegangen, konnte laut Rommen dem nichts entgegensetzen. Das Naturrecht hört aber auch in der Tyrannis nicht auf, fortzugelten. Die naturrechtliche Verpflichtung in einer solchen Situation besteht nicht schlicht in der (ins Leere laufenden) bloßen Forderung der Freiheitsrechte, sondern im Widerstand gegen die Tyrannis. Das metaphysische Naturrecht wird zum legitimierenden Bezugspunkt für jeden Einzelnen, Widerstand zu leisten. Das Naturrecht hört also nicht auf zu bestehen, es verändert nur seine Forderung und richtet sich in dieser Situation an das Gewissen des Einzelnen. Mit der Überwindung der Tyrannis kann auch wieder die Naturrechtsordnung vollständig praktiziert werden, was neben der Wiedereinsetzung der individuellen Freiheitsrechte vor allem die Wiedereinsetzung der unabhängigen sozialen Institutionen bedeutet. Naturrecht zielt auf Sittlichkeit, es erteilt Aufträge und verpflichtet die Menschen: Widerstand zu leisten oder das Gemeinwohl anzustreben. Individuelle Menschenrechte spielen hier nur eine und noch nicht einmal entscheidende Rolle. Ferner können sie je nach Konstellation erweitert werden oder sich verändern, das hängt nicht von den Normen, sondern von der sozialen Ordnung ab. Das meint nicht nur den Vergleich verschiedener Länder, sondern unterschiedlicher sozialer Institutionen, in welchen der Mensch tätig ist und wo er seine Freiheitsrechte sinnvoller Weise nur sehr unterschiedlich zur Geltung bringen

77 Ebd., S. 243. 78 Ebd., S. 162.

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kann, sollen die Institutionen nicht ad absurdum geführt werden. Das Naturrecht weist hier nur ein Minimum der Freiheitsrechte aus.79 Rommen belässt es also nicht bei einem pauschalen Hinweis auf das Naturrecht, er differenziert nach unterschiedlichen Varianten des Naturrechts und warnt davor, erneut in den Fehler zu verfallen, sich nur das rationalistische Naturrecht zum Vorbild zu nehmen. Rommens Beitrag steht im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Diskussionen innerhalb der katholischen Soziallehre, die erst nach 1945 die Menschenrechte für sich entdeckten. Nicht zufällig gilt hier die Arbeit von Joseph Höffner zum Völkerrecht der Spätscholastik als Meilenstein.80 Nicht das Naturrecht als solches, sondern vor allem das spätscholastische schien den Zugang zu einer Menschenrechts-Deutung zu bieten, die mit der Soziallehre der Kirche vereinbar war. Demgegenüber beharrte Ernst Cassirer nach 1945 auf der Aufklärung als dem ideengeschichtlichen Bezugspunkt der Menschenrechte, er deutet aber die Aufklärung nun in ein stoisch definiertes Naturrecht um. Cassirer war über Schweden 1941 in die USA ausgewandert und lehrte u.a. in Yale und Princeton. Kurz vor seinem Tod am 13.4.1945 vollendete er das Manuskript seines letzten Buches The Myth of the State. Cassirer schrieb das Original-Manuskript in Englisch. Das Buch erschien 1946 in den USA81 und wurde dann für die deutsche Ausgabe übersetzt.82 Die politische Intention Cassirers wird rasch deutlich: Bis 1800 gab es eine gesamteuropäische Philosophie, der es mit wenigen Ausnahmen (namentlich Machiavelli und Hobbes) gelungen war, eine gemeinsame politische Theorie zu entwickeln, deren Höhepunkt die Erklärungen der Menschenrechte darstellt. In dieser Hinsicht rückte Cassirer die Bedeutung der Menschenrechte gegenüber der Philosophie der Aufklärung von 1932 noch weiter in das Zentrum. Erst die Romantik, insbesondere ihre deutsche Richtung, habe mit dieser Kontinuität gebrochen, den Mythos gegen den Rationalismus restituiert und damit die geistigen Voraussetzungen des

79 Ebd., S. 235. 80 Joseph Höffner, Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter. Trier: Paulinus, 1947. 81 Ernst Cassirer, The Myth of the State. New Haven: Yale University Press, 1946. 82 Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates, übersetzt von Franz Stoessl. Zürich: Artemis, 1949. Diese Übersetzung wird noch für die heutigen Ausgaben verwendet. Zitate nach der Ausgabe Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens. Frankfurt a.M.: Fischer, 1985.

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Heroen-Kultes und der Anbetung des Staates geschaffen, an deren Ende das Dritte Reich stand. Für die Frage der Ideengeschichte der Menschenrechte ist nicht die Herleitung der totalitären Herrschaft durch Cassirer wesentlich, sondern ob er seine Konzeption der ideengeschichtlichen Grundlagen der Menschenrechte im Vergleich zu seinen Ausführungen in der „Philosophie der Aufklärung“ von 1932 veränderte. Neben der bereits erwähnten stärkeren Positionierung der Menschenrechte als Inbegriff der europäischen politischen Philosophie liegen die Änderungen vor allem im Bereich des Naturrechts. 1932 sprach Cassirer in erster Linie von der Aufklärung und nur in zweiter vom Naturrecht. 1946 dagegen trat das Naturrecht stärker hervor. 1932 war nur vereinzelt von der Stoa die Rede. Von ihr sei das gesamte Naturrecht abgeleitet, hatte er behauptet, ohne es zu belegen. Den wesentlichen Einfluss der Stoa sah Cassirer aber durch ihre Lehre von der Notwendigkeit der Beherrschung der Gefühle zum Zwecke der Ermöglichung von Selbstbestimmung bedingt. 1946 wird die Stoa zur großen dominanten Achse der gesamten europäischen Philosophie und reicht kontinuierlich bis zu Thomas Jefferson und der Unabhängigkeitserklärung von 1776 sowie den folgenden Menschenrechts-Erklärungen.83 Zuvor war die Theorie von den „natürlichen Rechten des Menschen“ nur eine „abstrakte ethische Lehre“, hinfort wurde sie zum „Ausgangspunkte politischer Aktion“.84 Die von Cassirer aufgeworfene ideengeschichtliche Frage lautete, wie die Stoa diese Stellung einnehmen konnte. Wieso griffen die Autoren am Ende des 18. Jahrhunderts auf eine zweitausend Jahre alte Tradition zurück, um die „Probleme der modernen Welt“ zu lösen? Cassirer erklärt dies mit der Funktion, welche die Stoa ausübte: Sie bot nach dem Zusammenbruch des einheitlichen Weltbildes des Mittelalters die Möglichkeit der Wiedererrichtung eines einheitlichen philosophischen Systems, beruhend auf Prinzipien, die „von jeder Nation, jedem Glauben, jeder Sekte angenommen werden konnten“.85 Metaphysische Rätsel der Welt waren mit der Stoa nicht zu lösen, dafür gab sie dem Menschen die Idee seiner „ethischen Würde“, die unverlierbar ist und nur von seinem Willen abhängt:

83 E. Cassirer, Der Mythus des Staates, S. 219. 84 Ebd., S. 220. 85 Ebd., S. 222.

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„Dies war der große und in der Tat unschätzbare Dienst, den die Theorie des Natur-Rechts der modernen Welt zu leisten hatte. Ohne diese Theorie schien es kein Entkommen vor einer vollständigen moralischen Anarchie zu geben.“86

Cassirers Buch und ihre Naturrechts-Theorie ist gleichsam der Gegenentwurf zu Rommen, den Cassirer freilich nicht nennt. Angesichts der Renaissance des Naturrechts, die sich in den USA schon in den frühen 1940er Jahren abzeichnete, versuchte Cassirer nicht nur, die Aufklärung in Stellung zu bringen, sondern gab ihr mit der Verknüpfung zur Stoa eine dem Naturrecht vergleichbare Kontinuität, nur dass Cassirer dabei das scholastische Naturrecht völlig ausließ. Spätscholastiker wie Suarez werden kaum erwähnt, Thomas wird als Stoiker dargestellt, der dem „politischen Leben des Menschen eine neue Würde“87 verleiht. Von einer metaphysischen Seinsordnung ist keine Rede und das Gemeinwohl weist dem Menschen keinen Platz in den nicht-staatlichen Gemeinschaften an. Es gab nicht zwei Varianten des Naturrechts, wie Rommen annahm, es gab nur ein Naturrecht, seine Ausrichtung war stoisch, und ihre moderne Fassung war die Aufklärung. 3.3. Gerhard Ritter: die Geschichte der Menschenrechte als Geschichte politischer Auseinandersetzungen Will man dem katholisch orientierten Heinrich Rommen einen protestantisch eingestellten Autor gegenüberstellen, so gelangt man zu Gerhard Ritter. Ob er den Menschenrechten eine christliche Prägung gegeben hat, wie angenommen wird88, ist sehr fraglich. So wie Rommen die Menschenrechte aus der Perspektive eines unabhängig hiervon gewonnenen Naturrechts-Verständnisses bewertete und relativierte, so stellte Ritter den individuellen Menschenrechten das christliche Sittengesetz entgegen. Ritters protestantisch geprägte, konservativ-nationalpolitische Einstellung steht außer Zweifel. Das hatte Auswirkungen auf seine Bewertung der Menschenrechte. In einer brieflichen Stellungnahme an den Ökumenischen Rat zur Frage der Stellung der Kirche zu internationalen Fragen äußerte sich Ritter auch zur Frage der Menschenrechte. Internationale Beziehungen

86 Ebd., S. 223. 87 Ebd., S. 153. 88 S. Moyn, Christian Human Rights, S. 101-135.

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können seiner Ansicht nach nicht mehr auf „gemeinchristlichen Überzeugungen“ errichtet werden, hier bleiben nur die „‚Allgemeinen Menschenrechte‘ als moralische Basis“. Ritter regt an, diese moralische Basis zu stärken, auch wenn die christliche Sozialethik von Forderungen weiß, die sich nicht mit den Freiheitsforderungen der Menschenrechte decken. Nicht die natürliche Würde des Menschen, sondern seine Verantwortung vor Gott ist für den Christen maßgeblich, betont Ritter, und hieraus folgen sittliche Verpflichtungen und nicht nur Freiheitsansprüche.89 In seiner Darstellung der Idee der Menschenrechte und ihrer Geschichte von 1949 kommt diese Grundeinstellung zum Tragen. Schärfer noch als Rommen für die katholische Seite distanziert sich Ritter von dem politischen Denken, das er hinter den Menschenrechten vermutet. Er stellt deren mechanisches Verständnis von Begriffen wie Freiheit und Gleichheit deren organischer Vermittlung in der vielfältigen gemeinschaftlichen Verortung des einzelnen Menschen gegenüber, er kontrastiert die christliche Sozialethik mit der Glücksethik des Rationalismus90, er fürchtet, dass aus dem abstrakten Gleichheitsverständnis der Menschenrechte ein Weg zur Uniformität und zum Massencharakter eines Volkes führt, was für die Idee der Menschenrechte zur Bedrohung wird, da vom Volk noch mehr Gefahren für die Rechte des Einzelnen ausgehen als vom absoluten Monarchen.91 Im Zusammenhang einer Geschichte der Ideengeschichte der Menschenrechte ist ungeachtet der Bewertung von Ritters Interpretation der Menschenrechte sein ideengeschichtlicher Zugriff hervorzuheben. Ritters Zugriff hat selbstverständlich mit seiner grundsätzlich kritischen Einstellung zu der liberalen Idee der Menschenrechte zu tun. Doch er nutzt die Ideengeschichte nicht einseitig, um die Menschenrechte zu kritisieren, sondern um auf inhärente Gefahren aufmerksam zu machen. Das Anliegen der Menschenrechte findet Ritters Unterstützung, sie greifen nur zu kurz, übersehen ihre eigenen internen Probleme und vor allem droht, dass sie nicht leisten, was sie leisten sollen: das Individuum vor der Politik zu schützen.

89 Gerhard Ritter, Ein politischer Historiker in seinen Briefen, hrsg. v. Klaus Schwabe / Rolf Reichardt, Boppard am Rhein: Boldt, 1986, S. 437-439, hier: S. 438-439. Laut Herausgeber ist der Adressat dieses Briefes, der aus dem Nachlass veröffentlicht wurde, nicht eindeutig zu ermitteln. 90 G. Ritter, „Ursprung und Wesen der Menschenrechte“, S. 261. 91 Ebd., S. 254.

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Ritter macht darauf aufmerksam, dass dieselbe Idee der Menschenrechte in unterschiedlichen politischen Konstellationen unterschiedliche Wirkungen entfalten kann: in Amerika dient sie dem Schutz des Individuums unter Bewahrung der eigenen kolonialen Tradition des Zusammenlebens und der Selbstregierung, doch nirgendwo sei ein „logisch abgerundetes und vollständiges System“ erkennbar, überall entstehen Forderungen nach einzelnen Rechten „aus ganz konkreten Anlässen“.92 In Frankreich werden die Menschenrechte zu einem Instrument radikaler Veränderung gesellschaftlicher Traditionen und können sich zu einer Gefahr für das Individuum entwickeln.93 In der Paulskirche, deren Grundrechtskatalog die vollständigste und systematisch geschlossenste Version individueller Rechte ist und laut Ritter – im Unterschied zu Amerika und Frankreich – keinen Bezug zum Naturrecht aufweist, geht es um die Errichtung einer Nation aus einem Flickenteppich unterschiedlichster Staaten.94 Die am Beispiel Frankreichs hervorgehobenen Gefahren, die sich aus der Verbindung von Menschenrechtsidee und Demokratie ergeben, hätten auch Amerikaner wie Thomas Jefferson entsetzt. Die amerikanischen Menschenrechte machten vor dem Hintergrund der kolonialen Gesellschaft Sinn, angesichts der modernen Industriegesellschaft mit ihren „anonymen Massen“95 greifen sie nun jedoch zu kurz. Daher warnt Ritter davor, die Selbstdeutung der Menschenrechte, die sich abstrakt dogmatisch wie zeitlos geben96, für bare Münze zu nehmen: Auch die Idee der Menschenrechte unterliegt Veränderungen, was sich in den Unterschieden zwischen den verschiedenen Fassungen von 1776 über 1789 bis zu 1849 zeigt. Ritter erkennt die „Notwendigkeit“ der Menschenrechte nach 1945 an: Es sei erforderlich gewesen, „nach dem totalen Zusammenbruch des liberalen Systems“, die Welt auf eine neue Grundlage zu stellen. Aber man dürfe nicht vergessen, was diesen Zusammenbruch verursachte, die „Weißglut des totalitären Nationalismus“ nämlich, welche humanitäre Grundsätze „wie Butter in der Sonne“ schmelzen ließ. Gesucht ist daher „ein Glaube aus wirklich feuerfestem Stoff“. 97 Daher wünscht sich Ritter,

92 93 94 95 96 97

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Ebd., S. 242. Ebd., S. 251-254. Ebd., S. 257. Ebd., S. 249. Ebd., S. 254. Ebd., S. 263.

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dass die Menschenrechte nicht nur „Programm“ sind, sondern „Wirklichkeit“ werden. 98 Das will sagen, die Menschenrechte müssen nicht nur ideellen Anforderungen genügen, sie müssen der politischen Wirklichkeit standhalten. Hinderlich ist hier die „innere Problematik“ der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, die wiederum auf die „Spannung zwischen dem Freiheitsund dem Gleichheitsprinzip im naturrechtlichen Denken“ zurückgeht.99 Sollen nun die Menschenrechts-Kataloge mehr sein als „fromme Wünsche“, „so kann es keinesfalls genügen, liberale und sozialistische Programme irgendwie zusammenzuleimen und das Problem ihrer innerlichen Gegensätzlichkeit stillschweigend zu übergehen“.100 Die „Spannung gegensätzlicher Prinzipien“ kann zur Sprengung der Idee führen, sie insbesondere „praktisch unwirksam machen“.101 Die Richtung, in welche Ritter stattdessen fortschreiten möchte, ist der Versuch, auf der Grundlage eines Gerechtigkeitsbegriffs die Problematik grundsätzlicher anzugehen als „das mechanische Gleichheitsprinzip des rationalistischen Naturrechts“.102 Im Ergebnis sind Menschenrechte politische Forderungen und abhängig von den jeweiligen politischen Anforderungen: „In alledem kommt nur zum Ausdruck, was diese ‚Menschenrechte‘ eigentlich waren: daß sie im Grunde gar kein ‚Recht‘ darstellen, irgendwo in den Sternen geschrieben, ein ‚natürliches‘ oder ‚göttliches‘ Recht, das immer und überall die gleiche Geltung hätte. Sie waren und sind vielmehr sittliche Gestaltungsprinzipien für den Aufbau der Gesellschaft und des Staates, entsprechend einem ganz bestimmten Menschenbild und Gemeinschaftsideal, das sich jeweils durchsetzen will und darum nach legislatorischer Festlegung drängt.“103

Es kommt daher darauf an, sie den jeweiligen Anforderungen anzupassen und nicht dogmatisch ihre kontinuierliche Identität vom alten Naturrecht bis zum 20. Jahrhundert zu behaupten, in der verfehlten Annahme, von dieser unveränderten Identität der Menschenrechte auf ihre vorpolitische Natur schließen zu können.

98 99 100 101 102 103

Ebd., S. 233. Ebd., S. 261. Ebd., S. 262. Ebd., S. 234. Ebd., S. 263. Ebd., S. 255.

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3.4. Hannah Arendt und die Ideengeschichte der Menschenrechte als Mythos des Anfangs Zur Geschichte der Ideengeschichte der Menschenrechte gehört Hannah Arendt nicht deswegen, weil sie eine solche Ideengeschichte präsentiert hätte. Ihr Beitrag liegt darin begründet, ein völlig anderes Verständnis der Ideengeschichte der Menschenrechte formuliert zu haben als die bislang erörterten Autoren. Arendt hat diesen Weg nur skizziert, sie hat ihn nicht selbst beschritten und dafür gibt es Gründe, die grundsätzlich die Periode der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abschließen, nämlich die Versteifung des Kalten Krieges. Insofern kann Arendt als eine Art Coda der Geschichte der Ideengeschichte der Menschenrechte aufgefasst werden. Der Beitrag Arendts zu den Menschenrechten wird im Allgemeinen in ihrer Sentenz vom „Recht, Rechte zu haben“ gesehen, er ist also in der Theorie der Menschenrechte, nicht ihrer Geschichte angesiedelt. Das ist nicht weiter verwunderlich, da die vorzustellende Skizze einer neuartigen Ideengeschichte der Menschenrechte dem Schlusskapitel ihres 1951 veröffentlichten Buches Origins of Totalitarianism zu entnehmen ist, den „Concluding Remarks“. Dieses Schlusskapitel hat Arendt aus allen weiteren Fassungen ihres Buches nach 1951 des Buches gestrichen104 und wird daher in der Arendt-Forschung kaum zur Kenntnis genommen. Arendt blieb trotz ihrer Flucht in die USA bestrebt, am deutschsprachigen Diskurs der Nachkriegszeit Teil zu haben. In der Vorbereitungsphase ihres Buches zu den Origins of Totalitarianism veröffentlichte sie Vorabüberlegungen auch in deutschen Zeitschriften, namentlich der Wandlung, der von Dolf Sternberger und Karl Jaspers, Arendts Doktorvater, nach 1945 gegründeten Zeitschrift. Dort erschien 1949 Arendts Aufsatz „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, worin sie ihre Einwände gegen die Idee individueller Menschenrechte ausspricht: Hier wird nämlich immer nur von „dem Menschen“ im Singular gesprochen, in der politischen Wirklichkeit aber muss man von „den Menschen“ im Plural ausgehen. Nur Vorstellungen von Gottesrecht oder Naturrecht können den Menschen im Singular in den Blick nehmen, Rechte dagegen nicht:

104 Erst spät wurde dieses von Arendt gestrichene Kapitel ins Deutsche übersetzt: Hannah Arendt, Über den Totalitarismus. Texte Hannah Arendts aus den Jahren 1951 und 1953, aus dem Englischen übertragen von Ursula Ludz, Kommentar von Ingeborg Nordmann, Hannah-Arendt-Institut, Berichte und Studien Nr. 17, Göttingen: V&R Unipress, 1998.

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„Rechte existieren nur auf Grund der Vielzahl der Menschen; Rechte haben wir nur, weil wir die Erde zusammen mit anderen Menschen bewohnen, während sowohl das göttliche Gebot, gestützt darauf, daß der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei, wie auch das Naturrecht, hergeleitet aus der menschlichen ‚Natur‘, auch dann wahr bleiben müßten, wenn es nur einen einzigen Menschen auf der Welt gäbe.“105

Damit ist bereits die Stoßrichtung von Arendts Auffassung von den Menschenrechten bezeichnet: sie naturrechtlich zu begründen heißt sogleich sie zu verurteilen, politisch irrelevant zu sein. Die „ganze Frage der Menschenrechte“ sei in „Konfusion geraten, aus der sich philosophisch so absurde und politisch so unrealisierbare Ansprüche ergeben wie der, daß jeder Mensch mit dem unverlierbaren Recht auf Arbeitslosenunterstützung und Altersversicherung geboren sei“106, eine Anspielung auf Artikel 25 Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Solche Forderungen sind politisch wünschbar und auch durchsetzbar, aber sie machen nur Sinn vor dem Hintergrund funktionierender demokratischer Wohlfahrtsstaaten, in welchen Menschenrechte am weitesten durchgesetzt und am wenigstens als „universal“ kodifiziert werden müssen: „Und kein Paradox zeitgenössischer Politik ist von einer bittereren Ironie erfüllt als die Diskrepanz zwischen den Bemühungen wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und der Situation der Entrechteten selbst, die sich ebenso beharrlich verschlechtert hat.“107

Arendt stellt sich in die Tradition der Burke’schen Menschenrechts-Kritik108 und beklagt, dass Naturzustand und Gesellschaftszustand verwechselt werden, wenn man Menschen natürliche Rechte zuspricht. Wo der Mensch in der Moderne gleichsam in einen Naturzustand versetzt wurde, wo er nichts weiter ist als Mensch, nämlich im Konzentrationslager, dort helfen die angeborenen Menschenrechte gerade nicht. Das einzige Menschenrecht, das diesen Namen verdiente, ist das „Recht, Rechte zu haben“, worunter Arendt versteht, „in einem Beziehungssystem zu leben, in dem

105 Hannah Arendt: „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, Die Wandlung, 4/1949, S. 754-770, hier: S. 766. 106 Ebd., S. 766. 107 Ebd., S. 755. 108 Ebd., S. 762f.

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man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird“.109 Es handelt sich also nicht um einen rechtlichen Anspruch, sondern einen politischen Zustand, der zur Voraussetzung aller rechtlichen Ansprüche wird und Arendt formuliert mit dem Recht, Rechte zu haben, das normativistische Dilemma, wonach das, was erstrebt wird, immer schon vorausgesetzt wird. So verbleibt unter den gegenwärtigen Bedingungen nur, dass die Menschenrechte Grundlage von Vereinbarungen sind, die politische Allianzen erlauben, um hieraus die gegenseitige Rechtfertigung zu gewinnen, damit man in Staaten intervenieren kann, die Menschen in KZs halten. Die Menschenrechte könnten also laut Arendt dazu dienen, das Prinzip der Nichtintervention außer Kraft zu setzen. Ansonsten verhilft die „bloße Aufzählung von Rechten“ in solchen Menschenrechts-Katalogen höchstens dazu, „die Gesetzgebung reaktionärer Länder anzuspornen“.110 Die Kritik der Menschenrechte, die Aufdeckung des Paradoxes, in welchem ein normativistisches Verständnis der Menschenrechte gefangen ist, wiederholt Arendt in dem entsprechenden Kapitel der Origins von 1951 ausgiebig. Im Schlusskapitel der Origins skizziert sie aber, wie ein aus ihrer Sicht produktives Verständnis der Menschenrechte aussieht und deutet auch an, welche Konsequenzen das für das Verständnis der Ideengeschichte der Menschenrechte haben kann. Menschenrechte will Arendt nämlich als politischen Mythos verstehen, als Gründungserzählung einer die Menschheit umfassenden politischen Ordnung. In den „Concluding Remarks“ bezeichnet Arendt die Vorstellung, Menschenwürde sei angeboren, als den vielleicht arrogantesten Mythos der jüngeren Menschheitsgeschichte.111 Mit der Behauptung einer angeborenen Menschenwürde habe die Aufklärung versucht, den biblischen Mythos der Erschaffung des Menschen durch Gott durch die Etablierung eines Begriffs naturbasierter Menschenwürde abzulösen, welcher dann in der Sprache von Rechten ausbuchstabiert zu dem Begriff unveräußerlicher, angeborener und für selbstverständlich angenommener Menschenrechte führte. Arendt behauptet aber, dass die Ära der Aufklärung an ihr Ende gekommen ist: Die Sicherheit des Glaubens an den Fortschritt der Geschichte ist im 20. Jahrhundert abhandengekommen und die Natur stellt

109 Ebd., S. 462. 110 Ebd., S. 769. 111 Hannah Arendt, Origins of Totalitarianism. New York: Harcourt Brace & Co, 1951, S. 439.

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angesichts ihrer modernen technischen Veränderbarkeit bis hin zum Potential der Selbstzerstörung auch kein beruhigendes Fundament mehr für die Politik dar. Auf der Suche nach der verloren gegangenen Gewissheit und aus dem Bedürfnis heraus nach einer neuen stabilen Ordnung würden gegenwärtig die „Neo-Humanists“112 erneut versuchen, den Begriff der Menschenwürde in den Erklärungen der Menschenrechte als Fundament der politischen Ordnung zu etablieren. Das sei zwar verständlich, jedoch vergeblich. Für die Errichtung einer die Menschheit umspannenden Weltordnung können die Menschenrechte aber in einer ganz anderen Weise nützlich werden, und zwar als ihr „Ursprung“. Wenn der Ursprung der Geschichte nicht von der Geschichtsschreibung selbst erfasst werden kann, sondern sie „transzendiert“, wie Arendt sagt113, dann ist dieser Ursprung auch nicht ohne weiteres der vernünftigen Rekonstruktion verfügbar. Das sei die Funktion des Mythos vom Goldenen Zeitalter für die Griechen, des absolut Bösen für den Orient, des Paradieses für die Juden, der ursprünglichen Sündhaftigkeit für das Christentum gewesen.114 Was sie alle boten und was nicht durch Geschichtsphilosophie oder Naturrechts-Denken ersetzt werden kann, ist eine geistige Heimat.115 Soll also ein neuer Anfang der Menschheit gefunden werden, der die Autorität besitzt, hieran anschließend den politischen Begriff der Menschheit auszubilden, so wäre zu erwägen, die Menschenrechte als den Ursprungsmythos der Menschheit zu begreifen. Die Menschenrechte sind dann nicht Ausweis dessen, was angeblich immer schon und von Natur aus vorhanden ist, sondern der politische Anfang einer neuen politischen Ordnung. Die Menschenrechte wären die „vorpolitische Grundlage einer neuen politischen Ordnung“, die vorlegalistische Grundlage ihrer Legalordnung und insgesamt die vorgeschichtliche Grundlage ihrer eigenen Geschichte: „The Rights of Man can be implemented only if they become the prepolitical foundation of a new polity, the prelegal basis of a new legal structure, the, so to speak, prehistorical fundament from which the history of mankind will derive its essential meaning in much the same way Western civilization did from its own fundamental origin myths.“116

112 113 114 115 116

Ebd., S. 438. Ebd., S. 434. Ebd., S. 434f. Ebd., S. 435. Ebd., S. 439.

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Hannah Arendts 1951 angestellten Überlegungen zu den Menschenrechten als Gründungsmythos haben Auswirkungen auf die Ideengeschichtsschreibung der Menschenrechte. Aus diesem Verständnis heraus bewegen sich die verschiedenen Erklärungen der Menschenrechte nicht in einer sie verbindenden Ideengeschichte, sie sind als Ausgangspunkt der durch sie initiierten politischen Ordnungen zu begreifen und machen auch nur in diesem Kontext Sinn. Nicht die Ähnlichkeit der Texte untereinander ist dann aufschlussreich, sondern welche Bedeutung sie als Ausgangspunkt und als fortwährender Bezugspunkt in den Debatten dieser jeweiligen einzelnen Ordnungen haben. Eine gesonderte, etwa naturrechtliche Legitimation ist nicht nur unnötig, sondern geradezu hinderlich, denn sie lenkt davon ab, dass die Legitimation der jeweiligen Menschenrechte in der Vereinbarung liegt, welche konkrete Menschen untereinander vornahmen, als sie sich hierauf festlegten. Sollen aber tatsächlich Menschenrechte nicht nur jeweils konkrete Grundrechte sein, sondern den Menschen als Teil der Menschheit und nicht primär als Teil eines partikularen Staates ansprechen, so macht dies eine Gründung einer die Menschheit umspannenden politischen Ordnung erforderlich. In all diesen Setzungen ist die Idee der Menschenrechte immer mythischer Herkunft, der Gegenstand von Erzählungen und wissenschaftlich unerforschlich. Politische Realität werden sie in ihren jeweils konkreten Fassungen. Es ist nicht sogleich einzuschätzen, ob Arendt hier als Realistin oder aber nicht eher als Idealistin spricht. Ideengeschichtlich überraschend sind ihre Überlegungen nur im Zusammenhang mit dem deutschen Diskurs. In der englischsprachigen Welt und dort auch die deutschsprachigen Exilanten wie Arendt oder ihr Freund Hermann Broch stand die Frage der internationalen Menschenrechte immer in einem Zusammenhang mit der Errichtung eines Weltstaates. Ob man diesen für möglich erachtete oder nicht, die Idee der Menschenrechte schien nach 1945 nur in einem solchen Kontext verwirklichbar. Nicht wenige Entwürfe von neuen Menschenrechts-Katalogen wurden im Zusammenhang mit ganzen Weltstaats-Modellen präsentiert, darunter auch der von Broch. Broch selbst gehörte zusammen mit Thomas Mann, Lewis Mumford u.a.m. zu einer Gruppe von Intellektuellen und Wissenschaftlern, die in dem Buch The City of Man den Vorschlag eines föderativen Weltstaats machten und dies mit einem

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Katalog an Menschenrechten verbanden.117 Teile dieser Gruppe bildeten dann das 1945 gegründete „Committee to Frame a World Constitution“, das Ende 1947 den Entwurf einer Weltverfassung publizierte, der auch eine Erklärung von Menschenrechten enthielt.118 Das Naturrecht spielte in diesen Modellen und ihren Begründungen keine nennenswerte Rolle. Mit dem Kalten Krieg wurde jedoch die Idee des Weltstaates völlig unplausibel und hinfällig. Damit versiegte nicht nur die entsprechende kosmopolitische Debatte fürs erste, es versiegte auch die Debatte um die Menschenrechte. Arendt hat den Gedanken einer Neuformulierung der Ideengeschichte der Menschenrechte später weiterverfolgt, aber nicht im Zusammenhang einer Menschheits-Ordnung, sondern von konkreten Republiken. In dem Buch On Revolution hat sie diesbezüglich die Ideengeschichte der Gründung der französischen Republik wie der amerikanischen Republik skizziert und miteinander verglichen.119 Gerade der unterschiedliche Umgang mit den Menschenrechten erklärt laut Arendt, warum die eine Gründung so erfolgreich und dauerhaft war und die andere sofort in die Krise geriet: Die amerikanische Republikgründung konzentrierte sich auf die Frage der Organisation der kollektiven Handlungsfähigkeit und hat darin auch die Grundrechte eingebettet, im Falle der französischen Republik verbleiben die Menschenrechte Programmsätze, dabei erweitert um soziale Ideale des privaten Glücks, was aus Arendts Sicht verhängnisvoll war, da dies als „salut public“ immer wieder zur Bedrohung der politischen Freiheit werden konnte, ein Gedanke, den zuvor bereits Gerhard Ritter andeutete hatte. Im Ergebnis zeigt die Geschichte der Ideengeschichte der Menschenrechte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass die ideengeschichtliche Konzipierung in einem engen Zusammenhang stand mit ideenpolitischen Annahmen und Interessen und vor diesem Hintergrund motiviert war, einen bestimmte Auszug der Geschichte unter Hervorhebung bestimmter Teile des möglichen ideengeschichtlichen Materials in einen be-

117 The City of Man. A Declaration on World Democracy. By Herbert Agar, Christian Gauss, Frank Aydelotte, Oscar Jászi, G. A. Borgese, Alvin Johnson, Hermann Broch, Ada L. Comstock, William Yandell Elliott, William Allan Neilson, Reinhold Niebuhr, Gaetano Salvemini, Hans Kohn, Van Wyck Brooks, Dorothy Canfield Fisher, Lewis Mumford, Thomas Mann, New York: Viking Press, 1940. 118 Robert M. Hutchins / Giuseppe Antonio Borgese et al., Preliminary Draft of a World Constitution. Chicago: University Press, 1948. 119 Hannah Arendt, On Revolution. New York: Viking Press, 1963.

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stimmten Zusammenhang zu stellen, um hieraus politische Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft der betreffenden politischen Idee zu ziehen. Es ist nicht ausgemacht, dass dies nicht auch für die Geschichte der Ideengeschichte anderer politischen Ideen zutrifft.

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Ideengeschichte als Krisengeschichte? Die politische Theorie republikanischer Selbsthistorisierung von der Weimarer Renaissanceforschung bis zur Cambridge School. Daniel Schulz

Gehorcht das republikanische Paradigma politischer Theorie einer besonderen, mit historischem Erfahrungswissen angereicherten Semantik und besitzt die ideengeschichtliche Selbstreflexion eine besondere Bedeutung für den Republikanismus? Dieser Zusammenhang zwischen historischer Semantik und republikanischer Selbstvergewisserung wird am Beispiel der Weimarer Rezeption des oberitalienischen Städterepublikanismus untersucht. Anhand der Meinecke-Schüler Felix Gilbert und Hans Baron lässt sich zeigen, wie die Suche nach einer ideengeschichtlichen Verankerung der Weimarer Republik einen eigenen „Machiavellian moment“ hervorgebracht hat. Zur Wirkung kam diese Rezeption allerdings erst in der amerikanischen Emigration: Die Arbeiten von Baron und Gilbert bildeten hier die Grundlage für die Diskussion des amerikanischen Republikanismus, die sich erst in den 1960er und 1970er Jahren voll entfaltet hat. Anhand der Arbeiten von John Pocock und Quentin Skinner lässt sich zeigen, wie auch das ideengeschichtliche Paradigma der Cambridge School von dieser Entwicklung profitiert hat. Allerdings erscheint im Gegensatz zu dieser genuin ideengeschichtlichen Aneignung des Renaissance-Republikanismus die gegenwärtige republikanische Theoriediskussion als eine Überwindung der historischen Kontextsensibilität, die möglicherweise auch ihre genuine Fähigkeit der politischen Krisendiagnose reduziert. 1. Welche Sprache spricht die republikanische Theorie? Historische Semantik als Krisenreflexion Anders als konkurrierende Theorieangebote besitzt das republikanische politische Denken keine klar umrissene Traditionslinie, sondern erstreckt sich über die gesamte Geschichte der europäischen und amerikanischen Erfahrung mit einer freiheitlichen, auf die Beteiligung seiner Mitglieder

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gestützten, politischen Ordnung. Dieser weit gefasste Rahmen impliziert notwendigerweise eine geringe Homogenität dieses Paradigmas, das eher durch zahlreiche Brüche und Fragmentierungen geprägt wurde als durch die systematische Entwicklung eines in sich kohärenten, prinzipienbasierten Ansatzes, wie es beispielsweise für den Liberalismus behauptet werden kann. Dennoch lassen sich mindestens zwei Elemente des republikanischen Denkens identifizieren, die im Kontext der antiken Polisdemokratie, in der römischen Republik und im oberitalienischen Städterepublikanismus eine zentrale Rolle gespielt haben: das institutionelle Moment der Mischverfassung und die Frage der soziomoralischen Voraussetzungen politischer Ordnung. Noch in den modernen Revolutionen in den USA und in Frankreich sind beide Elemente vorhanden, wenngleich die Mischverfassung in den USA deutlich prominenter diskutiert wird und der Tugendbegriff in der Französischen Revolution eine herausgehobene, letztlich aber auch problematischere Rolle spielen sollte. Neben diesen beiden Elementen existiert aber möglicherweise ein weiteres Merkmal, das gerade für die gegenwärtige politiktheoretische Debatte einen genuinen Impuls durch die republikanische Tradition verspricht. Gerade weil republikanisches Denken über die Geschichte hinweg immer wieder mit der Herausforderung politischer Krisen und Umbrüche konfrontiert war und auch, weil eines der wichtigsten Erkenntnisinteressen in der dauerhaften Stabilisierung einer freiheitlichen politischen Ordnung lag, hat das republikanische Denken einen besonderen semantischen Modus entwickelt, diese zahlreichen Krisen- und Umbruchserfahrungen theoretisch fruchtbar zu machen. Genau dies geschieht, so die These, in der spezifischen Geschichtlichkeit des Republikanismus: Republikanische Theorie orientiert sich weniger an universalen Prinzipien als an politischer Urteilskraft und praktischer Klugheit. Die für die Ausbildung dieser Aspekte notwendigen Erfahrungsressourcen werden im republikanischen Paradigma durch narrative Vergegenwärtigung historischer Vorbilder und Krisenerfahrungen verarbeitet. Dies führt in der Konsequenz zu einer besonderen semantischen Theoriegestalt, die weder auf Historiographie noch auf Philosophie reduziert werden kann, sondern durch die theoretische Reflexion des historischen Erfahrungswissens geprägt ist. Welche Sprache also spricht das republikanische Paradigma? Lassen sich der theoretisch-methodische Zugang, die Besonderheit republikanischen Denkens und seine Unterscheidung von anderen Paradigmen der politischen Theorie über eine sprachliche Dimension bestimmen? In einem allgemeinen Sinn werden politische Paradigmen seit dem linguistic turn in 436

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den Geisteswissenschaften als Sprachen, Grammatiken oder Sprachspiele bezeichnet. Damit wird zumeist grundsätzlich auf die sinnkonstitutive Bedeutung politischer Theorien verwiesen, die nicht nur sprachneutrale akademische Reflexionsformen bilden, sondern in Gestalt von interpretativen Weltbildern eine sinngebende und welterschließende Deutung produzieren. In einer solchen, allgemeinen Verwendung kann eine republikanische von einer liberalen oder einer kommunitaristischen Sprache politischen Denkens unterschieden werden. Theorien werden demnach als Sprachen verstanden, wenn sie nicht zuerst über ihre logische Kohärenz, ihre normativen Rechtfertigungspotentiale oder ihren Vernunftgrad beurteilt werden, sondern wenn ihre rhetorischen, semantischen und narrativen Elemente im Vordergrund stehen. Es geht dann um einzelne argumentative Figuren, um deren semantische Verbindung zu integrativ-umfassenden Deutungsversuchen der politischen Ordnung sowie um ihre paradigmatische Verfestigung solcher Zusammenhänge zu narrativ vergegenwärtigten Weltbildern, die von anderen politiktheoretischen Paradigmen mehr oder weniger trennscharf geschieden werden können. Welche Eigenschaften also hätte dann die Sprache republikanischer Theorie? Wenn die oben genannten Aspekte von rhetorischen Figuren, Semantiken und Narrativen als Oberbegriff für politische Sprachen gesetzt wird, dann mag es nicht erstaunen, dass diese Aspekte auch im republikanischen Paradigma präsent sind. Eine solche tautologische Folgerung kann nur dann vermieden werden, wenn gezeigt werden kann, in welchen besonderen Ausprägungen diese Elemente hier präsent sind. Eine mögliche These lautet daher, dass die allgemeinen Eigenschaften politischer Sprachen in besonderer Weise im republikanischen Denken erscheinen und sich dieses Paradigma gerade durch einen besonderen „content of the form“ auszeichnet, um eine Formulierung von Hayden White aufzugreifen1: Republikanisches Denken unterscheidet sich von politischen Theorien des Liberalismus durch seine kontextgebundene Orientierung an konkreten politischen Ordnungs- und Problemzusammenhängen. Es ist daher kein Zufall, dass republikanische Theorien zumeist im Medium historischer Selbstvergewisserung operieren. Ihre politiktheoretische Problemreflexion trägt daher weniger die Züge einer von historischen Kontexten und Exempeln abgelösten, auf begriffliche Reinheit und rationale Systematik abzielenden philosophischen Universalüberlegung. Vielmehr ist sie sich

1 Hayden White, Die Bedeutung der Form. Frankfurt a.M.: Fischer, 1990.

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der eigenen Rhetorizität und Narrativität bewusst und setzt diese Formelemente durchaus strategisch zur Evidenzerzeugung ein. Im Gegensatz zum Liberalismus bewegt sich republikanisches Denken in einem anderen Geltungsraum: Während liberales Denken mit Verweis auf überzeitliche Vorstellungen von Vernunft, Natur und Gerechtigkeit die konkreten Kontexte des eigenen Geltungsanspruches transzendiert, so evozieren republikanische Diskurse die historischen Sinnzusammenhänge umgekehrt geradezu als unhintergehbare Geltungsvoraussetzungen politischen Ordnungsdenkens. Damit variiert die Deutungsmacht republikanischer Sprache in dem Maße, wie sich Gesellschaften in einer Reflexion ihrer eigenen Geschichte definieren oder einer solche Reflexion ihre Geltung bestreiten. 2. Ideengeschichte des Republikanismus und die Idee der Republik: Weimarer Positionen bei Gilbert, Baron und Hintze Folgt man diesen Zusammenhängen politischer Theorie und ideengeschichtlicher Reflexion, dann gewinnt die jeweilige Aneignung des historischen Archivs politischen Denkens eine Dimension, die über eine geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion und das analytische Verstehen geschichtlicher Zusammenhänge hinausgeht. Die ideengeschichtliche Arbeit wird selbst zu einer Theorieproduktion, indem sie durch Rückgriff auf vergangene Epochen und Kontexte begrifflich gefasste Erfahrungen sichtbar macht und sie als Spiegel für den eigenen politischen Kontext verwendet. Ein besonders augenfälliges Beispiel für diesen Zusammenhang zwischen historischer Semantik und republikanischer Selbstvergewisserung bietet die Weimarer Rezeption des oberitalienischen Städterepublikanismus. Während in der bisherigen ideengeschichtlichen Untersuchung dieses ersten deutschen republikanisch-demokratischen Experiments zumeist die Feinde der liberalen Demokratie im Mittelpunkt standen2, so sind die Verteidiger der Republik bislang nur vereinzelt gewürdigt worden.3 Gerade die politische Ideengeschichte in der Folge ihrer akademischen Etablie-

2 Vgl. dazu nur den politikwissenschaftlichen Klassiker von Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München: Nymphenburger Verlagsanstalt, 1962. 3 Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918-1933. Frankfurt a.M.: Fischer, 1970.

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rung durch Friedrich Meinecke zeigt aber, wie sehr auch im Kontext von Weimar die Konstruktion eines historischen Referenzraumes Teil der republikanischen, antinationalistischen, antiabsolutistischen und antivölkischen Geltungsgeschichte der neuen politischen Ordnung gewesen ist. Wenngleich die Krise und schließlich das Ende der Weimarer Republik allzu deutlich die Erfolglosigkeit dieser ideenpolitischen Gründungsunternehmen unterstreichen, so zeigen sie doch deutlich, wie sehr eine Minderheit von akademischen Intellektuellen das republikanische Experiment auch mit der eigenen Forschungsagenda zu unterstützen suchte – freilich nicht in einem tagesaktuellen, ideologischen Sinne, sondern vielmehr in der Herausbildung eines neuen, politisch-kulturellen Sets an Leitideen, die mit ihrer historischen Genese beitragen sollten zur Erneuerung eines politischen Geltungsnarratives, an dem es in Weimar trotz aller Bemühungen doch so eklatant zu mangeln schien. Friedrich Meinecke selbst hat sich im November 1918 als Herzensmonarchist und als Vernunftrepublikaner bezeichnet.4 Auch wenn er selbst mit seinem Buch über die Idee der Staatsräson Machiavelli für die Entkopplung von Macht und Moral verantwortlich machte und die Entwicklung des Machiavellismus als eine Genealogie des Machtstaatsdenkens seiner Gegenwart beschrieb, so legte er mit seiner Neubegründung der Ideengeschichte doch die kategorialen und methodischen Grundlagen für die Rezeption des Renaissancehumanismus durch seine Schüler Felix Gilbert und Hans Baron. Unter seiner Leitung entstand an der Berliner Universität „unter dem Schutzschirm des Vernunftrepublikaners ein politisch und wissenschaftlich-methodisch liberales und innovatives ‚Laboratorium‘, wie es in der Geschichtswissenschaft der Weimarer Republik wohl einzigartig war“.5 Meinecke selbst hatte die Epoche der Renaissance als positiven Bezugspunkt weitgehend ausgespart und siedelte seine Geschichte der Staatsräson auf den geistigen Trümmern, den intellektuellen Ruinen der 4 „Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner.“ (Friedrich Meinecke, „Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik“, in: ders., Politische Schriften und Reden, hrsg. u. eingel. v. Georg Kowowski, Darmstadt: Siegfried Toeche-Mittler, 1958, S. 280-298, hier S. 281); vgl. dazu Nikolai Wehrs, „Demokratie durch Diktatur? Friedrich Meinecke als Vernunftrepublikaner in der Weimarer Republik“, in: Gisela Bock / Daniel Schönpflug (Hrsg.), Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Leben und Werk, Stuttgart: Steiner, 2006, S. 51-94. 5 N. Wehrs, Demokratie durch Diktatur?, S. 112.

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Städterepubliken an.6 Machiavelli erscheint hier sehr viel weniger als letzter Denker der republikanischen Ordnung, denn vielmehr als der Begründer der ragione dello stato, der staatlichen Souveränitätsidee.7 Gleichwohl ist seine „Idee der Staatsräson“ weniger als ein Anti-Machiavell zu verstehen, als vielmehr als ein Anti-Hegel.8 Gerade die spezifisch deutsche Verbindung von staatlich-souveräner Machtfülle und umfassendem Vernunftanspruch war es, die nach Meinecke zu den problematischen Erbschaften der Tradition politischen Denkens in Deutschland gehörte und die auch in Weimar zur Überhöhung von Staat und Macht als Selbstzweck beigetragen hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte Meinecke den Zusammenhang von Machiavellismus und modernem Machtstaat allerdings noch einmal pointieren: In Die deutsche Katastrophe macht er das Phänomen des „Massenmachiavellismus“ für den nationalsozialistischen Totalitarismus verantwortlich, der mit seiner Entkopplung von Macht und Moral, von ethos und kratos, die Grundlagen einer guten politischen Ordnung zerstört hatte. Bereits zu Beginn der Weimarer Republik hatte Meinecke zusammen mit Hermann Oncken die Reihe „Klassiker der Politik“ begründet. Als zweiter Band erschien in dieser Reihe Machiavellis Discorsi, als achter Band dann auch Der Fürst und kleinere Schriften mit einer Einführung von Meinecke selbst.9 Es waren dann vor allem seine Schüler Felix Gilbert und Hans Baron, die auf dem Feld der Renaissanceforschung nach Erkenntnissen für die Stabilität und den Zerfall freiheitlicher Ordnung suchten, und die dabei bereits den Zerfall der republikanischen Ordnung in Weimar deutlich vor Augen hatten. Dabei handelte es sich nicht so sehr um die Suche nach den Wurzeln einer eigenen Tradition, also gewissermaßen nach dem Machiavellian moment der Weimarer Republik. Eher kann man von einer Spiegelung der gegenwärtigen Krisenerfahrung und Bedrohungsszenarien im Medium des

6 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, hrsg. u. eingel. v. Walther Hofer, 2. Aufl., München: Oldenbourg, 1960; zur RenaissanceRezeption der deutschen Geschichtsschreibung vgl. Perdita Ladwig, Das Renaissancebild deutscher Historiker 1898-1933. Frankfurt a.M./New York: Campus, 2004; Martin A. Ruehl, The Italian Renaissance in the German Historical Imagination, 1860-1930. Cambridge: Cambridge University Press, 2015. 7 Vgl. zu Meineckes Machiavelli-Bild Gisela Bock: „Meinecke, Machiavelli und der Nationalsozialismus“, in: dies. / D. Schönpflug (Hrsg.), Friedrich Meinecke, S. 145-176, hier S. 159. 8 Vgl. die Einleitung von Walther Hofer in F. Meinecke, Staatsräson, S. IX-XXXII. 9 Vgl. G. Bock, Meinecke, S. 155f.

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historischen Erfahrungswissens sprechen. Gerade Barons Verortung des Bürgerhumanismus in Oberitalien bildete dabei eine transnationale Alternativerzählung zum gängigen Narrativ der vornehmlich deutschen Ursprünge im Luthertum, dem der Ausgang aus dem fremdbestimmten Mittelalter und die Geburt des modernen Individuums gleichermaßen alleinverantwortlich zuzuschreiben seien. Zugleich bildete dieser ideengeschichtliche Diskurs eine Parallele zu einer weiteren normativen Selbstverständigungsdebatte um die Leitideen der neuen Republik, welcher hingegen vornehmlich in der Sprache des Rechts geführt wurde: Im Grundlagenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, der sich zwischen Hans Kelsen, Carl Schmitt, Rudolf Smend und Hermann Heller entfaltete, wurden ebenso die unterschiedlichsten historischen Referenzen rekonstruiert – Heller verweist auf Bodin, Schmitt dagegen auf Hobbes und arbeitet sich an der französischen Aufklärung und dem Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts ab. Der historische Diskurs dagegen findet in einem Kontext statt, in dem die deutsche Geschichtswissenschaft mehrheitlich konservativ und antirepublikanisch geprägt ist und die Ideen von 1914 gegen diejenigen von 1789 stehen. Ein Minderheitendiskurs jedoch hat die genuin republikanische Frage nach der Ordnung der Freiheit historisch verarbeitet und spiegelt die Frage nach der Möglichkeit einer deutschen Republik in der ideengeschichtlichen Reflektion auf die republikanischen Theoriediskurse in Florenz. Nicht nur die Frage der Voraussetzungen republikanischer Freiheit wird in der italienischen Renaissance beobachtet. Es ist insbesondere auch die Spannung zwischen einer freiheitlichen Ordnung und ihrer Bedrohung. Der Gegensatz von Republik und Tyrannis spielt eine entscheidende Rolle. Aber auch die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Freiheit, die potentielle Offenheit des Bürgerhumanismus für die Möglichkeit politischen Handelns einerseits, und das Denken in Kategorien der Notwendigkeit, des Schicksals und der unhintergehbaren natürlichen Gesetzmäßigkeiten anderseits, klingen hier an. Bei Baron und Gilbert handelt es sich um Arbeiten, die in der Spätphase der Weimarer Republik begonnen wurden und erst in der amerikanischen Emigration fortgesetzt werden konnten. Im neuen Kontext der amerikanischen Selbstvergewisserung der geistesgeschichtlichen Ursprünge der Republik wurden diese Arbeiten dann ganz anders rezipiert. Außerdem können auch die Arbeiten von Hedwig Hintze in dieses Bild eingereiht werden, die sich bei Meinecke als eine der ersten Frauen in der deutschen Geschichtswissenschaft habilitierte. Im Unterschied zu Gilbert und 441

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Baron stellte sie jedoch nicht den italienischen Republikanismus der frühen Neuzeit, sondern den französischen Republikanismus der Gironde in den Mittelpunkt ihrer Forschung. 2.1. Felix Gilbert Felix Gilbert kann als linksliberaler Anhänger der Republik gelten. Er entstammt einer großbürgerlichen Familie und entscheidet sich für ein Studium der Geschichte, „weil ich in einer Welt der Politik aufgewachsen war. [...] Was wir erlebten, hinterließ die Überzeugung, daß unser Leben von der Politik bestimmt wurde, und so erklärt es sich, daß ich von Geschichte fasziniert war“.10

Zu einer Dissertation bei Meinecke zog es Gilbert, weil er unter deutschen Professoren jener Zeit als Ausnahme, als „ein Verteidiger der Republik“ galt.11 Gilberts erster Themenvorschlag für seine Dissertation bei Meinecke wollte den „Ursprung der Idee des politischen Gleichgewichts in der Renaissance“ untersuchen.12 Stattdessen jedoch arbeitete er auf Vorschlag Meineckes zu Droysens Schriften über die Revolution von 1848.13 Nach seiner Dissertation 1930 verbrachte Gilbert drei Jahre lang seine Zeit abwechselnd in Berlin und Florenz, wo er das ursprünglich vorgesehene Projekt zum politischen Gleichgewicht wieder aufgriff und weiter verfolgte.14 Neben den Studien des historischen Materials im Florentiner Stadtarchiv ermöglichte Gilbert dieser Aufenthalt auch tiefere Einblicke in das faschistische Regime Italiens unter Mussolini, die er selbst in seinen Erinnerungen unter Rückgriff auf die klassische Terminologie der Verfas-

10 Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905-1945. Berlin: Siedler, 1989, S. 33. 11 Ebd., S. 79. 12 Ebd., S. 82. 13 Das Thema des politischen Gleichgewichts beschäftige zu Beginn der dreißiger Jahre auch Hans Baron, der sich mit Leonardo Bruni auseinandersetzte und hier die Entstehung der Lehre vom Mächtegleichgewicht verortete, vgl. Riccardo Fubini: „Renaissance Historian: The Career of Hans Baron“, Journal of Modern History, 64/1992, S. 541-574, hier S. 551. 14 Vgl. Gerhard Ritter, „Friedrich Meinecke und seine emigrierten Schüler“, in: ders., (Hrsg.), Friedrich Meinecke: Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichungen 1910-1977, München: Oldenbourg, 2006, S. 13-112, hier S. 56ff.

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sungslehre als Alltag einer „Tyrannis“ schildert.15 Auch im Austausch mit seinen Berliner Freunden und mit Blick auf die deutsche Diktatur wird dieser Referenzrahmen deutlich: Der an ihn gerichtete Brief eines Freundes aus dem Februar 1933 zitiert die Londoner Times mit dem Ausspruch: „Die Verhältnisse in der Wilhelmstraße erinnern an einen italienischen Fürstenhof im 16. Jahrhundert.“16 In seinem später im amerikanischen Exil verfassten, aber bereits vor der Emigration begonnenen Hauptwerk Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in Sixteenth-Century Florence17 wird der thematische Zusammenhang von Politik und Geschichte ideengeschichtlich reflektiert und damit auf die Bedeutung ideengeschichtlicher Methodik für die republikanische Ordnung verwiesen: Der spezifisch politische Geltungsanspruch republikanischer Ordnung kann selbst nur geschichtlich begriffen werden. Machiavelli und Guicciardini sind beispielhafte Denker, bei denen sich dieser Zusammenhang in unterschiedlicher Gewichtung ausgeprägt hat. Während bei Machiavelli der Möglichkeitsraum des politischen Handelns im Kontext geschichtlicher Kontingenz reflektiert wird, nimmt bei Guicciardini die gesetzmäßige Notwendigkeit der Geschichte Überhand über ihre politische Gestaltbarkeit. Sowohl Machiavelli als auch Guicciardini sind zugleich politische Theoretiker als auch Historiographen der florentinischen politischen Ordnung und ihrer Krisenerscheinungen. Gilbert geht in seinem Hauptwerk genau diesem Zusammenhang von Verfassung und Stabilität nach und versucht, mit beiden Autoren das Scheitern der achtzehn republikanischen Jahre zwischen 1494 und 1512 zu ergründen.18 Die Krisenhaftigkeit des politischen Denkens, der Versuch, für die neuen Herausforderungen der Republik neue Kategorien zu entwickeln und zugleich von den konstitutionellen Erfahrungen anderer politischer Ordnungen wie Rom und Venedig zu lernen, waren für Gilbert die Hauptmerkmale des republikanischen Diskurses in Florenz. Nachdem sich jedoch im Laufe der Krise eine Verschiebung von einer Ordnung der Freiheit zur Dominanz der schicksalhaften Notwendigkeit beobachten lässt, gerät die Rückkehr zur Republik außer Reichweite. Es kommt nunmehr in der Interpretation Gilberts darauf an, die Würde des Menschen angesichts

15 F. Gilbert, Lehrjahre, S. 121ff. 16 Ebd., S. 133. 17 Felix Gilbert, Machiavelli and Guicciardini. Politics and History in SixteenthCentury Florence. New York/London: Norton, 1984 (1965). 18 Ebd., S. 18ff.

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der schicksalhaft verhärteten Tyrannei zu behaupten: „The master over the events of history is Fortuna. The strongest, most permanent impression which the History of Italy imparts – and was meant to impart – is that of helplessness and impotence of man in the face of fate.“19 Und weiter heißt es mit Blick auf Guicciardini und seine Abkehr von der republikanischen Freiheitsverheißung: „In the last analysis the writing of history serves to maintain the dignity of man.“20 Was in der politischen Praxis nicht mehr gerettet werden kann, bewahrt lediglich eine politische Theorie und ihre Integration der historischen Erfahrung eines Scheiterns der Republik und ihres Endes in der Tyrannei. Diese narrative Vergegenwärtigung der Krise des Gemeinwesens, wenngleich nun aus der Außenperspektive des emigrierten Amerikaners, greift Gilbert auch in seinem späteren Werk auf. Als letzter Band der von Gilbert herausgegebenen sechsbändigen Reihe „The Norton History of Modern Europe“ erscheint The End of the European Era, in dem der Untergang der Weimarer Republik einen wichtigen Schwerpunkt bildet.21 Ähnlich wie in seiner Beschäftigung mit der republikanischen Krise der Renaissance werden auch hier die Gründe für das Scheitern der Republik und der Übergang zur totalitären Tyrannis des Nationalsozialismus diskutiert. Die Kategorien, die hier auf die Frage der stabilen Verfassung in Weimar angewendet werden, sind offenkundig die gleichen, die auch den klassischen Republikanismus geprägt haben – es geht um die Frage institutioneller Strukturen sowie ihre historische, kulturelle und soziale Kontextualisierung.22 2.2. Hans Baron Hans Baron war ebenfalls Schüler von Meinecke, kam aber ursprünglich von Ernst Troeltsch und wurde in Leipzig nach einem frühen Studienaufenthalt 1920/21 auch von Walter Goetz, Renaissance-Forscher und 19 Ebd., S. 288. 20 Ebd., S. 290. 21 Felix Gilbert, The End of the European Era. 1890 to the Present. 2. Aufl., New York: Norton, 1979. 22 Zu Weimar heißt es dort: „[O]nly after the years of continuous unrest and emergencies were over was it possible to test whether the changed constitutional forms would become a reality because they reflected a social transformation, the evolution of a democratic society and of a liberal spirit.“ (ebd., S. 244)

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Reichstagsabgeordneter der DDP, gefördert.23 Bereits in seiner Dissertation von 1924 nimmt er das Thema republikanischer Ordnung auf. Unter dem Einfluss seines ersten Doktorvaters Troeltsch und dessen Rekonstruktion der Genese politischer Ordnung aus dem unterschiedlichen Geist Calvins und Luthers arbeitet Baron über „Calvins Staatsanschauung und das Konfessionelle Zeitalter“24 – dabei sind es weniger die theologischen Aspekte, die ihn interessieren, als vielmehr die Ursprünge eines republikanischen Freiheitsideals. 1925 ging Baron mit einem Stipendium nach Florenz, um sich dort den bei Goetz begonnenen Studien zum RenaissanceHumanismus anhand der Quellen zu widmen. Nachdem er zunächst an eine Untersuchung über den Neuplatonismus gedacht hatte, verlagert sich sein Interesse angesichts des Quellenstudiums schnell auf die Figur des Leonardo Bruni, Kanzler von Florenz und einer der zentralen Gestalten dessen, was Baron den Bürgerhumanismus nennen sollte. In einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer Goetz von 1926 beschreibt Baron seine Motivation, sich mit dieser Zeitspanne der florentinischen Geschichte auseinanderzusetzen, mit einer „aktiv-republikanischen Gesinnung“ und „bürgerlicher Ehrbarkeit“, welche diese Epoche auszeichne.25 Ergebnis dieser Arbeit ist seine unveröffentlichte Habilitationsschrift Leonardo Bruni Arentino und der Humanismus des Quattrocento von 1928. In seiner wichtigsten, 1955 erschienenen Studie The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny wird die Republik Florenz im Konflikt zwischen Freiheit und Tyrannei dargestellt. Es ist die Bedrohung durch die Herzöge von Mailand um 1400, die den Grund für das Entstehen des Bürgerhumanismus bildet. Helden der Erzählung sind Coluccio Salutati mit seinem Werk über die Tyrannis und, mehr noch, Leonardo Bruni mit seiner Laudatio der Florentinischen Verfassung und seiner historischen Gründungserzählung, die Florenz auf die Gründung durch die römische Republik zurückführt und Florenz somit zum legitimen Nachfolger des republikani23 Vgl. G. Ritter, Meinecke, S. 61ff.; Klaus Große Kracht, „,Bürgerhumanismus‘ oder ‚Staatsräson‘. Hans Baron und die republikanische Intelligenz des Quattrocento“, in: Mario Keßler (Hrsg.), Deutsche Historiker im Exil. Ausgewählte Studien, Berlin: Metropol, 2005, S. 243-263; zu Goetz und Baron vgl. P. Ladwig, Das Renaissancebild, S. 115-201 u. 278-359. 24 Erschienen in Historische Zeitschrift, Suppl. 1 (Berlin und München, 1924), vgl. R. Fubini, Baron, S. 547. Die Arbeit wurde nach dem frühen Tod von Troeltsch bei Friedrich Meinecke beendet, dem sie auch gewidmet ist. 25 Vgl. K. Große Kracht, Bürgerhumanismus, S. 252.

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schen Roms erhebt. Baron zeigt, wie der klassische Humanismus von Dante und Petrarca angesichts der Bedrohung des Gemeinwesens immer mehr dazu neigt, die politischen Bürgerpflichten zu vernachlässigen. Anstelle einer notwendigen politischen Theorie des bürgerschaftlichen Handelns verfeinern sie eine gebildete Kulturkritik im Namen der stilisierten klassischen Antike. Es liegt nahe, diese Konstellation auch auf Weimar zu übertragen und sie als Kritik an den deutschen Mandarinen und ihrer Distanz zur Republik zu lesen. Später wurde die Bedeutung von Barons Studie für die amerikanische Selbstverortung in der republikanischen Tradition hervorgehoben: „Was in Deutschland, wo es immer noch keine Übersetzung des Buches gibt, völlig übersehen wurde, ist die grundlegende Bedeutung einer vermeintlich entlegenen Streitfrage für das gegenwärtige Verständnis der politischen Identität moderner Staaten. Amerika ist auf der Suche nach einer republikanischen Vergangenheit. [...] So befinden sich die amerikanischen Historiker seit 1955 in einer leidenschaftlichen Debatte über den Ursprung ihrer eigenen republikanischen Vorstellungen, während ebendieselbe Renaissance für die inzwischen sogar in ‚Toskana-Fraktionen‘ organisierten Deutschen immer noch, wie Aby Warburg monierte, die ‚Halleluja-Wiese für die Osterferien‘ darstellt. Es gibt deshalb im angelsächsischen Bereich eine harte und oft bittere Auseinandersetzung über die Berechtigung einzelner Behauptungen, wovon wir uns keine Vorstellung machen können, weil es seit 1933 in Deutschland keine Renaissanceforschung mehr gibt.“26

Bereits 1932 hatte Baron den entscheidenden Umbruch im republikanischen Denken anhand von Leonardo Brunis Geschichte des Florentiner Volkes festgemacht. Die Größe der römischen Republik, so Bruni, basierte auf dem Bürgersinn des Volkes. Der Abstieg, der schließlich zum Verlust der Freiheit führte, begann dagegen mit dem Wandel zum Kaisertum. Baron kommentierte diese Vergeschichtlichung politischer Ordnung durch Bruni: „So sieht der erste Versuch einer Geschichte Roms und Italiens aus, die an die Stelle der Roma aeterna den historischen Körper des römischen Volkes setzt.“27 Baron beschreibt damit, wie die Florentinische Republik ihre Verfassung im Gewand einer Eigengeschichtsschreibung und der Ver-

26 Horst Günther, „Hans Baron und die emigrierte Renaissance“, in: Hans Baron, Bürgersinn und Humanismus im Florenz der Renaissance, Berlin: Wagenbach, 1992, S. 7-10, hier S. 9f. 27 Hans Baron, „Das Erwachen des historischen Denkens im Humanismus des Quattrocento“, in: ders., Bürgersinn, S. 27-40, hier S. 33f. (zuerst 1932 in der Historischen Zeitschrift publiziert).

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ankerung in den ideengeschichtlichen Traditionslinien mit Geltung versorgt – die implizite Spiegelung Weimars in Florenz ist demnach eine doppelte: Zum einen werden die institutionellen Bedingungen der politischen Ordnung und ihre soziomoralischen Voraussetzung verhandelt, zum anderen jedoch geht es auch um die zentrale Frage, welche Rolle dabei der historischen Selbstverortung der Republik zukommt. Der Unterschied zu Meinecke sticht bei all dem deutlich heraus: „Barons Rekonstruktion des frühen Florentiner ‚Bürgerhumanismus‘ legt damit eine Perspektive der politischen Ideengeschichte der Neuzeit frei, die weit hinter die Idee der Staatsräson Meineckes zurückreicht. Sah dieser mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die alteuropäische Tradition staatlicher Rationalität zu einem definitiven Ende gekommen, erinnert Baron an die Ursprünge des republikanischen Diskurses der Neuzeit. Dort, wo sein Lehrer politisch zu resignieren drohte, leistete Baron aktive Gedächtnishilfe für das 20. Jahrhundert.“28

2.3. Hedwig Hintze Eine weitere, wenn auch nicht auf Florenz, sondern auf Paris ausgerichtete ideengeschichtliche Selbstreflektion republikanischer Ordnung hat die Historikerin Hedwig Hintze vorgelegt. Mit ihrer bei Meinecke entstandenen Habilitationsschrift Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution29 hat sie sich am Beispiel der Verfassungskonflikte der Französischen Revolution mit der Frage befasst, wie die Stabilisierung eines freien Gemeinwesens gelingen kann, ohne dabei allein auf die Einheit staatlicher Souveränität zurückzugreifen. Ihre Sympathien gehören dabei den liberalen Girondisten und ihren gescheiterten Versuchen,

28 K. Große Kracht, Bürgerhumanismus, S. 259f.; in Anspielung auf Barons Verwurzelung in der Weimarer Kultur und sein Verständnis zentraler Begriffe wie „Bildung“ und „Bürgerhumanismus“ schrieb der italienische Historiker Riccardo Fubini in seiner Zusammenfassung von Barons Forschung: „How German all this sounds, and how reminiscent of the national-liberal intellectualism of the Wilhelmine period, mildly nostalgic for the liberal ideals of 1848!“ (R. Fubini, Baron, S. 541) Baron ging es um die Bedeutung von Kultur als Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft, seine Idee eines bildungshumanistisch gestifteten Bürgerkonsenses weist nach Fubini zurück auf die neuhumanistischen Idealstaatsmodelle eines Wilhelm von Humboldt (ebd., S. 567). 29 Hedwig Hintze, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution. Stuttgart: DVA, 1928.

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der Volkssouveränität eine konstitutionelle Gestalt zu verleihen. Der jakobinische Kampf gegen den Föderalismus im Namen der nationalen Einheit gerät so zur freiheitsbedrohenden Tyrannei, zur „Überspannung des Einheitsgedankens“ einer „nach außen und nach innen noch immer um ihre Existenz ringenden Republik“.30 Dabei nimmt sie das Thema Meineckes aus der Idee der Staatsräson auf und überträgt das Dilemma auf den französischen Republikanismus: „Der Umstand, daß im Laufe der Jahrhunderte immer wieder das liberale, genossenschaftliche Prinzip freiwilliger Föderation in Frankreich durch das herrschaftliche Prinzip bureaukratischer Zentralisation vergewaltigt worden ist, bedeutet eine tragische Antinomie und steht in Zusammenhang mit jenem anderen Phänomen: daß dieses oft als Vorkämpfer der Humanität, der persönlichen und nationalen Freiheit gefeierte, mit allen Reizen einer hohen Geisteskultur und einer dem Frieden dienenden verfeinerten Zivilisation früh geschmückte Frankreich sich doch von despotischen Herrschern und machtverführten Demagogen allzu leicht auf die Bahnen einer eroberungssüchtigen ausgreifenden Gewaltpolitik drängen ließ.“31

Der Schlusspunkt der umfassenden Monographie mündet schließlich in die mögliche Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes und verweist auf die ideengeschichtliche Konvergenz der Pläne eines föderal verfassten Europas, das Jean Jaurès ebenso wie Immanuel Kant als einen Föderalismus freier Staaten prophezeit haben und welches erst jenseits eines radikalen, geschlossenen Souveränitätsdenkens möglich sei, ganz gleich, ob es sich dabei um eine absolute Fürstensouveränität oder eine absolute Volkssouveränität handle.32 Hintze wurde 1940 auf eine Stelle als Associate professor an die New School for Social Research in New York berufen, konnte diese Stelle jedoch nicht mehr antreten. Im Exil wollte sie das von ihrem Ehemann Otto Hintze begonnene Projekt einer vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte fortschreiben, wozu es durch die ablehnende Haltung der Familie ihres Mannes und schließlich durch Hintzes Tod jedoch nicht mehr kam. Dieses Projekt wäre „der entscheidende Schritt von der allgemeinen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (mit ihrer Tendenz zur Individualisierung) zur theoretisch fundierten vergleichenden Verfassungsge-

30 Ebd., S. 475. 31 Ebd., S. 482. 32 Ebd., S. 485f.

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schichte (mit der Tendenz zur Typisierung) gewesen“.33 Eine solche Unternehmung hätte genau an jenen republikanischen Topos angeknüpft, kluge Verfassungsarrangements nicht allein durch eine philosophische Reflexion auf ewige, universale Prinzipien zu begründen, sondern durch den historischen und politischen Vergleich konstitutioneller Strukturen, durch den Rekurs auf historische Erfahrung erfolgreicher Ordnungsbildung oder des Scheiterns von Verfassungen. 3. Zum Stellenwert ideengeschichtlicher Reflexionssemantik in der republikanischen Theorie heute Wie steht es mit der republikanischen Sprache politischer Ordnungsreflektion heute? In der politischen Theorie der Gegenwart dominiert mit der Position von Philip Pettit eine analytisch-liberale Semantik, die zugleich den Verlust der historisch-narrativen Dimension politischer Sprache bedeutet, welche im Medium der Ideengeschichte Krisenpotentiale zeitgenössischer Ordnung benennt und zugleich mit historischem Erfahrungswissen verkoppelt. Der letzte Abschnitt dieser Überlegungen soll daher die Entwicklung nachvollziehen, die sich nach der aus der Krise von Weimar erwachsenen politiktheoretisch-ideengeschichtlichen Reflektion vollzogen haben. Nachdem die deutschen Emigranten in den USA die Grundlage für eine breite historische Renaissanceforschung gelegt haben – und diese Tradition im Nachkriegsdeutschland damit zugleich abgebrochen war – hat John Pocock auf der Grundlage der von Baron und Gilbert geleisteten Vorarbeiten ein großes ideengeschichtliches Panorama der Entwicklung von Machiavelli bis zur amerikanischen Revolution vorgelegt. In seiner Folge hat in der Cambridge School eine intensive Diskussion um die republikanische Traditionslinie des politischen Denkens eingesetzt, die dann jedoch politiktheoretisch in den Arbeiten von Philipp Pettit mündet und in denen gerade der fundamentale Konnex von Politik und Geschichte radikal in Frage gestellt wird. Im Kontext des englischen Verfassungsdiskurses wurde die republikanische Tradition durch die Cambridge School ideengeschichtlich aufgearbeitet und als Kontrastfolie zu den liberalen Gegenwartsgesellschaften in 33 Peter Th. Walther, „Die Zerstörung eines Projektes. Hedwig Hintze, Otto Hintze und Friedrich Meinecke nach 1933“, in: G. Bock / D. Schönpflug (Hrsg.), Friedrich Meinecke, S. 119-143, hier S. 143.

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Szene gesetzt.34 Zwar wurde eine direkte Anschlussfähigkeit republikanischen Denkens in der Moderne von den führenden Vertretern dieses Ansatzes immer wieder verneint, aber dennoch lässt sich die Reflexion der republikanisch geprägten englischen Verfassungstradition auch als eine ideenpolitische Aussage über den Verlust eines genuin politischen Freiheitsbegriffs in gegenwärtigen, postpolitischen Ordnungen verstehen. Quentin Skinner und J.G.A. Pocock stehen damit trotz ihrer vordergründigen Skepsis gegenüber einer möglichen Revitalisierung republikanischer Ordnungsvorstellungen für die Vergegenwärtigung des konstitutionellen Denkstranges, der durch die Whig-Geschichtsschreibung und die liberale Hegemonie weitgehend verdrängt wurde. Die politische Sprache des Republikanismus, die hier freigelegt wird, operiert weniger über individuelle Rechte als über das Problem der institutionellen Verstetigung soziomoralischer Voraussetzungen von Freiheit. Dieser Ansatz kann als Reaktion auf die Dominanz ökonomischer – marxistischer ebenso wie später wirtschaftsliberaler – Ansätze gelesen werden, die auf der Grundlage eines hobbesianischen, auf Wahlfreiheit und die Abwesenheit von äußeren Widerständen verengten Freiheitsbegriffs nicht nur theoretisch, sondern auch politisch zunehmend die öffentliche Agenda bestimmten. In ähnlicher Hinsicht wird dieser Strang republikanischer Liberalismuskritik in der politischen Philosophie und der Verfassungstheorie fortgesetzt: Philip Pettit hat den für die systematische politische Philosophie ausgearbeiteten Ansatz eines politischen Republikanismus formuliert, der den Freiheitsbegriff und seine kategoriale Bestimmung in den Mittelpunkt stellt.

34 Zur deutschsprachigen Rezeption der Cambridge School vgl. Olaf Asbach: „Von der Geschichte politischer Ideen zur History of Political Discourse? Skinner, Pocock und die ‚Cambridge School‘“, Zeitschrift für Politikwissenschaft, 12/2002, S. 637-667; Hartmut Rosa: „Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der ‚Cambridge School‘ zur Metatheorie“, Politische Vierteljahresschrift, 35/1994, S. 197-223; Rainer Schmidt, „Ideengeschichte und Institutionentheorie. Begriffe, Diskurse und institutionelle Mechanismen als Bausteine für ein Modell der Ideengeschichtsschreibung“, in: Harald Bluhm / Jürgen Gebhardt (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos, 2006, S. 71-88; die folgende Darstellung findet sich erweitert bei Daniel Schulz, Die Krise des Republikanismus. Baden-Baden: Nomos 2015, S. 89ff.

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3.1 Die Republikanismusdebatte der Cambridge School zwischen ideengeschichtlicher Rekonstruktion und politikphilosophischer Abstraktion Obwohl die historische Schule des Republikanismus das direkte Anknüpfen an die vormodernen Traditionslinien skeptisch beurteilt, lassen sich doch aus ihrer Perspektive Lehren aus dem republikanischen Paradigma in Bezug auf die gegenwärtige politische Theorie und die Sprache der Selbstbeschreibung ziehen, die in normativer Hinsicht ein Korrektiv zum politikphilosophischen Rationalismus sowie zum marktliberalen (oder marxistisch-orthodoxen) Ökonomismus bilden können.35 In diesem Sinne besteht für John G.A. Pocock die Bedeutung der republikanischen Tradition politischen Denkens für die Gegenwart darin, einen Modus der politischen Reflexion zu demonstrieren, der sich durch seine partikulare und zeitlich-historische Verortung innerhalb bestimmter politischer Ordnungskontexte und -probleme von der abstrakt-universalistischen Form der liberalen politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Diesen republikanischen Strang des politischen Denkens rekonstruiert Pocock in seiner großen Studie zur „atlantischen Tradition“ zwischen dem italienischen Städterepublikanismus und der amerikanischen Revolution als eine Kontrastfolie zur Gegenwart.36 Methodisch werden dabei vor allem die unterschiedlichen Sprachen des Politischen hervorgehoben, mit denen das republikanische und das liberale Paradigma operieren.37 Der Liberalismus vollzieht gerade auf dieser sprachlichen Ebene einen radikalen Bruch mit der republikanischen Selbstbeschreibungssemantik und entwertet so zentrale Leitbegriffe, die durch neue Konzepte und Ordnungsvorstellungen ersetzt werden. An die Stelle von Tugend und gutem Leben, Korruption, gemischter Verfassung, Politik, Selbstregierung, Geschichtlichkeit, zeitli-

35 Zur politischen Stoßrichtung zuerst gegen marxistische, dann gegen marktliberale Tendenzen vgl. das Vorwort in John G.A. Pocock, Politics, Language, and Time. Essays on Political Thought and History. Chicago/London: University of Chicago Press, 1989 [1971], S. XII. 36 John G.A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Revolution. Princeton: Princeton University Press, 1975. 37 John G.A. Pocock, „The concept of language and the métier d’historien: some considerations on practice“, in: Anthony Padgen (Hrsg.), The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press, 1987, S. 19-38; ders., „Languages and Their Implications: The Transformation of the Study of Political Thought“, in: ders., Politics, Language, and Time, S. 3-41.

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chem Denken und weltlicher Verortung tritt die Hegemonie von Interessen, Souveränität, Vertrag, Handel, Wohlstand und individuellen Rechten. Die komplexe Geschichte der republikanischen Tradition in der Darstellung von Pocock erstreckt sich vom Ordnungsdiskurs im Florenz der Renaissance über die englische Revolutionszeit bis hin zur Gründung der amerikanischen Republik. Pococks These geht im Gegensatz zur traditionellen Historiographie des politischen Denkens davon aus, dass die Hegemonie des Liberalismus zum Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs so deutlich gewesen ist, wie die liberale Eigengeschichte bislang annahm.38 Gerade die amerikanische Gründergeneration stand sehr viel tiefer im Kontext republikanischer Ordnungsvorstellungen als gemeinhin vermutet wurde. Die Quellen dieser Vorstellungen, so Pococks Kritik, sind jedoch in der Ideengeschichtsschreibung nur unzureichend berücksichtigt worden. Sein Interesse gilt daher diesen versunkenen Schichten vormodernen politischen Denkens, in denen eine spezifische Semantik gespeichert und tradiert wurde. Gerade im florentinischen politischen Denken des frühen 15. Jahrhunderts setzt so nach Pocock ein Umbruch ein, der sich vom zuvor dominanten christlichen Ordnungsverständnis emanzipiert und mit den zentralen Annahmen des augustinischen und thomistischen Deutungshorizontes bricht: Wesentliches Merkmal der entstehenden klassischen republikanischen Tradition sollte so das gewandelte Zeitlichkeitsverständnis politischer Institutionen sein, welches jenseits außerweltlicher Heilserwartungen durch die säkulare Endlichkeit menschlicher Ordnungsstiftung geprägt ist. Mit diesem neuen, endlichen Zeithorizont wird zudem auch eine neue Geschichtlichkeit entfaltet, in die das weltliche Gemeinwesen eingebettet ist und mit der es in einem unauflöslichen Wechselverhältnis steht. Pocock schildert die Genese der zentralen Begrifflichkeiten von fortuna, occasione und virtù, welche in ihrem engen Zusammenhang die neue sinnstiftende Erzählung einer Republik als bürgerliche Gründung im stetig sich wandelnden Umfeld ermöglichen. Die politische Reflexionstheorie des florentinischen Städterepublikanismus hat dieser Konstellation prekärer Dauer ein besonderes Augenmerk gewidmet und steht in einem starken Kontrast zu den mittelalterlichen Reichsmythen und deren Kontinuitätserzählungen. Dieser Gedanke der Sterblichkeit politischer Ordnungen hat Eingang in

38 Louis Hartz, The Liberal Tradition in America. An Interpretation of American Political Thought since the Revolution. New York: Harcourt Brace, 1955.

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zahlreiche nachfolgende Theorien erhalten und findet sich bei Locke und Hobbes ebenso wie bei Rousseau. Jedoch ist das Zusammenspiel der durch die Tugend der Gründerväter geschaffenen Ordnung und deren Dauer nirgendwo so eingehend thematisiert worden wie hier. Machiavelli steht nach Pocock am Ende dieser republikanischen Selbstbeschreibungstheorien, die aber in der Folge eine Wirkung weit über diesen engen historischen Kontext hinaus entfaltete. Die Verfassungstheorie der italienischen Stadtrepubliken unterscheidet sich sowohl von den ihr vorhergehenden monarchischen Legitimationstheorien als auch von den folgenden juristischen Staatsmodellen: In Anlehnung an die antiken Polismodelle orientierten sich die politischen Theorien der Republik an der Frage, wie eine body politic als Zusammensetzung aus interagierenden Bürgern konzipiert werden konnte – und nicht als eine Verkörperung universaler Normen oder traditionaler Institutionen.39 Grundlage einer solchen Ordnung war nach Pocock die Politisierung des humanistischen Begriffes der virtù: Nicht mehr die ethische Vervollkommnung des Individuums, noch die heroische Tugend des Herrschers wurden mit diesem Begriff verbunden, sondern die Kooperation und aktive Interaktion von Bürgern in einem Gemeinwesen, das nur durch die weitgehende politische Teilhabe eine sittliche Form der Perfektion erreichen konnte – eine solche, politisch verfasste Ordnung auf relative Dauer zu stellen und so zumindest für eine begrenzte Zeit der Anarchie der Fortuna, der geschichtlichen Verfallsdynamik und der Korruption zu entziehen, war das Ziel des vormodernen italienischen Republikanismus. Damit war es Aufgabe des konstitutionellen Denkens dieser Zeit, die prekäre Ressource des gemeinsamen politischen Handelns durch ein ausgefeiltes institutionelles Arrangement auf Dauer verfügbar zu machen. Der florentinische Verfassungsdiskurs zehrt dabei von einer geltungsstiftenden mythologischen Beschreibung der venezianischen Konstitution, die ganz dem Verhältnis ähnelt, wie es später das Frankreich des 18. Jahrhunderts zur englischen Verfassung besaß. In der Teilung der Macht durch eine Mischung der idealtypischen Verfassungsmodelle glaubte man so, den Schlüssel für die Dauerhaftigkeit einer gemeinwohlorientierten konstitutionellen Ordnung zu besitzen. Gleichwohl wird die Bindung des „vivere civile“, der vita activa des republikanischen Bürgers an die militärische Konfliktbewältigung durch Bürgermilizen anstelle von Söldnerheeren

39 J.G.A. Pocock, The Machiavellian Moment, S. 74.

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nicht unterschlagen. Diese militante Komponente des republikanischen Tugendbegriffs, die in Machiavellis Position besonders ausgeprägt erscheint, wird jedoch bei Guicciardini durch eine Eingrenzung des Tugendbegriffs auf die politische Klugheitslehre entschärft.40 Die problematische Fernwirkung dieser militanten Aspekte des republikanischen Tugendbegriffs bis in die aufkommenden Nationalbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts hinein wird von Pocock jedoch nicht mehr zur Sprache gebracht. Die entscheidende Brückenfunktion bei der modernen Rezeption dieses kleinräumigen Republikanismus der frühen Neuzeit kommt Pocock zufolge James Harrington zu. Wenngleich noch bei den amerikanischen Gründervätern die Angst vor der korrupten Wirkung des Handels und der Zerstörung der einfachen Sitten präsent ist, so zeigt doch der intensive semantische Kampf gegen die liberale Sprache des Interesses und des Handels bereits an, dass sich das republikanische Idiom des vivere civile seinem Ende zuneigt. Während Pocock nun die politischen Sprachen in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen gestellt hat, konzentriert sich Quentin Skinnner stärker auf die historische Entwicklung politischer Leitbegriffe.41 Die vergessenen Ursprünge des modernen politischen Denkens deckt Skinner in der Renaissance und im Zeitalter der Reformation auf. Hier wurden die Probleme der Geltungsvoraussetzungen und der Legitimität politischer Ordnung durchgespielt, bevor die Leitidee souveräner Staatlichkeit sich hegemonial in Europa ausbreiten und das für das frühneuzeitliche Denken so bedeutsame Konzept der mixed constitution verdrängen konnte. Skinner beobachtet den Wandel von politischen Ordnungsideen als einen Wandel des politischen Vokabulars und der begrifflichen Sinnhorizonte, in deren Verlauf sich insbesondere die Bedeutung von Freiheit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit verschoben hat. Aber auch die politischen Ordnungsstrukturen haben sich gewandelt: Vor dem Siegeszug des Nationalstaates waren sie vorwiegend kleinräumig geprägt. Mit dem Aufschwung der Städte und vor der Dominanz großräumiger Ordnungsformationen entstand eine neue Möglichkeit, an die politischen Ordnungsvorstellungen antiker Formationen anzuknüpfen. Doch bereits hier mussten

40 Ebd., S. 270. 41 Vgl. den klassischen methodologischen Aufsatz von Quentin Skinner: „Meaning and Understanding in the History of Ideas“, History and Theory, 8/1969, S. 3-53; zur Debatte dieses Grundlagentextes vgl. die Beiträge in James Tully (Hrsg.), Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Princeton: Princeton University Press, 1988.

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sich diese kleinräumigen Republiken gegen konkurrierende Strukturen behaupten. So war gerade zu Beginn dieser republikanischen Periode die Position der Republiken von einer eigentümlichen Zwischenstellung gekennzeichnet42: Einerseits mussten sich die frühen Stadtrepubliken dem Herrschaftsanspruch des Reiches und seiner imperialen Ordnungsstruktur entziehen, andererseits bedurfte es ebenso einer Abgrenzung gegenüber den sakral gestützten Hegemoniebestrebungen der Papstkirche. Marsilius von Padua und andere Theoretiker der republikanischen Ordnung entwarfen in diesem Kontext eine politische Rechtfertigungslehre, die von der Freiheit des Gemeinwesens ausgehend ein Ideal der Selbstregierung artikulierte, das sich auch in späteren Konflikten zu einer speziellen Selbstdeutung und Selbstbehauptung republikanischer Ordnungsvorstellungen verdichtete. Das fundamentale Ziel politischer Ordnung ist für Marsilius von Padua der Erhalt des Friedens, jedoch ist die Verwirklichung dieses Ziels anders als bei nachfolgenden Autoren, insbesondere bei Hobbes, möglich, ohne zugleich die republikanische Freiheit einzuschränken.43 Besonderes Gewicht legt Skinner auf die Bedeutung, die den vorpolitischen Grundlagen für den Erhalt der Republik zugeschrieben wurde. Nicht Institutionen allein, sondern erst ihre Verankerung in einem bürgerlichen Ethos können diesem Denken zufolge die dauerhafte Existenz von Freiheit gewährleisten. Auch hier steht wie bei Pocock der Topos bürgerlicher Tugenden im Mittelpunkt der Rekonstruktion des republikanischen Freiheitsverständnisses. In Italien und besonders im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts breitet sich so ein neuhumanistischer Begriff der Freiheit aus, der sowohl mit Unabhängigkeit als auch mit der Idee der Selbstregierung und der aktiven Teilhabe der Bürger an der politischen Ordnung verknüpft wird. Nicht mehr die christliche Vorhersehung Gottes, sondern die göttliche Fortuna bildet nun den Hintergrund für die politische Handlungsmotivation jener Zeit. Die perfektionswürdige Tugend des Bürgers erlaubt es, den Kampf gegen die Gewalt der Kontingenz aufzunehmen und einer sich im ständigen Wandel befindenden Welt einen verstetigten Raum der Freiheit abzuringen.44 Gesetzmäßige Formen der Notwendigkeit können so durch politisches Handeln überwunden werden. Freiheit besteht in diesem Verständnis darin, sich von Notwendigkeit und Zufälligkeit freizumachen

42 Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, Bd. 1: The Renaissance. Cambridge: Cambridge University Press, 1978, S. 3ff. 43 Ebd., S. 65. 44 Ebd., S. 96.

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und an deren Stelle etwas Eigenes, Neues stellen zu können.45 Erst mit den an die Stelle der Republiken tretenden Fürstenherrschaften zum Ende des 15. Jahrhunderts wird diese Freiheitstradition überlagert durch die Dominanz der Sicherheits- und Friedensfrage: In einem zunehmenden prinzipiellen Konflikt werden Freiheit und Sicherheit wenn nicht zu unvereinbaren Gegensätzen, so doch zu kaum gleichzeitig realisierbaren Zielvorstellungen politischer Ordnung erklärt. Gleichzeitig geht die Ordnungsgarantie von den tugendhaften Bürgern auf die Figur des in besonderer Weise ausgezeichneten Fürsten über, der alleine zum Erhalt politischer Stabilität in der Lage sein soll – sei es durch besondere ethische Auszeichnung, sei es durch strategisches Geschick, wie Machiavelli gegenüber der humanistischen ebenso wie gegenüber der christlichen Tradition behaupten sollte. Die sich in der Folge dieser Konflikte entwickelnde europäische Idee souveräner Staatlichkeit ist daher gleichursprünglich mit dem zunehmenden Sicherheitsbedürfnis angesichts zahlreicher verheerender militärischer Konflikte und bürgerkriegsähnlicher Szenarien. Skinner zeigt jedoch auch, wie die republikanische Tradition ihre normative Bewertung von Einheit und Konflikt in dem Maße zu ändern bereit ist, wie politische Integration nicht allein von homogenen soziomoralischen Geltungsvoraussetzungen erwartet werden kann, sondern ebenfalls durch eine institutionell eingehegte Konfliktdynamik.46 Damit öffnet sich dieser Traditionsstrang durch die Akzeptanz von politischen Differenzen innerhalb des Gemeinwesens erstmals für eine potentielle Kompatibilität mit der Struktur moderner Gesellschaften – wenngleich sich dieses Problem in der politischen Praxis erst sehr viel später stellen sollte, dann jedoch durch die einseitig auf Homogenität bedachte Reartikulation des Republikanismus durch Rousseau in besonderer Schärfe. Diese ideengeschichtliche Konstellation bildet den Hintergrund für Skinners „neorömische“ Freiheitstheorie, mit der er sich deutlich gegen eine Dominanz des liberalen Freiheitsverständnisses in der politischen Theorie der Gegenwart absetzt. „Neorömisch“ rückt dabei an die Stelle von „republikanisch“, weil dieser Freiheitsbegriff auch von Autoren ver-

45 Hieran zeigt sich im Übrigen, wie sehr Kants Freiheitsbegriff neben all seinen liberalen, rechtlich definierten Aspekten dieser republikanischen Tradition verhaftet ist. 46 Quentin Skinner, Machiavelli. Hamburg: Junius, 2008, S. 100: Machiavellis Konzept der Mischverfassung beruhte auf einem „Lob der Zwietracht“ und stand so der „gesamten Tradition republikanischen Denkens in Florenz entgegen“.

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treten wurde, für die monarchische Regierungsformen durchaus legitime Ordnungsmodelle darstellten. Die gemeinsame Grundannahme der von Skinner angeführten englischen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts liegt darin, „that any understanding of what it means for an individual citizen to possess or lose their liberty must be embedded within an account of what it means for a civil association to be free“.47 Entgegen späteren Freiheitsvorstellungen des Liberalismus, die den Akzent auf die Handlungsautonomie des Individuums setzen, wird in diesem Kontext dem kollektiven Gemeinwesen eine gewisse Priorität eingeräumt. Nicht das einzelne Individuum, sondern die politische Körperschaft des Gemeinwesens, die „body politic“ ist das primäre Subjekt von Freiheit. Nur wenn auf dieser Ebene Freiheit durch eine Herrschaft der Gesetze sichergestellt ist, die noch dazu unter der aktiven Beteiligung der Bürger zustande gekommen sind, kann auch auf der individuellen Ebene von Freiheit gesprochen werden. Die politische Realisierung eines gemeinsamen Freiheitsideals ist damit die unumgängliche Voraussetzung für einen dauerhaften Bestand individueller Freiheit. Damit sind freie politische Körperschaften ebenso wie freie Individuen durch die Fähigkeit zur Selbstregierung gekennzeichnet. Freiheit entsteht durch die gemeinsame Zustimmung zu den Gesetzen, die deshalb jedoch nicht notwendigerweise direkt-demokratisch verfassten Prozeduren entspringen müssen. Das republikanische Tugendideal enthielt stets auch den Aspekt einer Hierarchisierung, der den tugendhaften Eliten des Gemeinwesens einen Vorrang bei der deliberativen Formulierung des Gemeinwohls zusprach. Erst mit Rousseau und der Französischen Revolution sollte diese Vorstellung durch ein starkes Ideal der Gleichheit ergänzt und damit auch transformiert werden. Vor dieser Transformation jedoch war es unter den „neurömischen“ Autoren weitgehend selbstverständlich, dass die breite Masse des Volkes durch gewählte Vertreter in einer repräsentativen Körperschaft an der Selbstregierung beteiligt werden sollte, nicht jedoch durch eine direkte und unmittelbare Partizipation an den politischen Entscheidungen.48 Damit entsprach das konstitutionelle Ideal der republikanisch-römischen Strömung nach Skinner dem Vorbild der gemischten Verfassung, wie es bereits in den antiken Reflexionen Athens und Roms zum Ausdruck gebracht worden war und durch die Wiederbelebung dieser

47 Quentin Skinner, Liberty before Liberalism. Cambridge: Cambridge University Press, 1998, S. 23. 48 Ebd., S. 32.

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Vorstellung im Spätmittelalter und der Renaissance erneut als alternatives Ordnungsmodell verfügbar wurde. Besonders wichtig für das Verständnis dieses Freiheitsideals ist das omnipräsente Gegenbild, das Skinner in der Diskussion dieser individuellen und kollektiven Dimension politischer Freiheit nachweist. Die Sklaverei ist demnach jener Status, in dem sich sowohl das Individuum als auch das Gemeinwesen gleichermaßen in der Herrschaft und damit der Verfügbarkeit durch einen Anderen befinden.49 Entscheidend für den Freiheitsbegriff ist dabei, dass es keinerlei Bedeutung hat, ob das versklavte Individuum oder das sklavische Gemeinwesen durch seine Herren unmittelbare Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit erfahren oder ob es sich um den Fall eines „wohlwollenden“ Herrn handelt, der sich mit Interventionen zurückhält und seinen Herrschaftsunterworfenen weitgehende Entscheidungsspielräume belässt. Es ist diese Unterscheidung zwischen einer auch im Zustand der Sklaverei möglichen Abwesenheit von Eingriffen in die individuelle Handlungsfreiheit einerseits, und andererseits der Existenz von hierarchischen Herrschaftsverhältnissen mit der steten Möglichkeit einer willkürlichen Intervention – auch wenn eine solche Intervention die Ausnahme bilden sollte oder gar ganz ausbleibt –, die von Philip Pettit zu einer republikanischen Freiheitstheorie weiterentwickelt wurde. Die zentrale These der Republikanismustheorie Pettits lautet: Freiheit besteht nicht in der Abwesenheit von tatsächlichen Eingriffen in die individuelle Autonomie, sondern Freiheit „as non-domination“ bedeutet in erster Linie die Abwesenheit von unkontrollierter Herrschaft, auch wenn deren drohende Freiheitseinschränkungen nur der reinen Möglichkeit nach bestehen.50 Damit verschiebt sich das Kriterium für Freiheit von der individuellen Ebene auf die Ebene des politischen Gemeinwesens. Positiv gewendet bedeutet der hier verhandelte Freiheitsbegriff, dass nur ein auf Gesetzen gegründetes Gemeinwesen die individuelle Freiheit seiner Bürger verwirklichen und garantieren kann. Die Unterscheidung liberaler und republikanischer Freiheitstheorien vollzieht Pettit dabei anhand der von ihm mit „domination“ und „interference“ benannten unterschiedlichen Kriterien zur Einschränkungen von Handlungsspielräumen. Liberale Freiheitstheorien setzen eine Priorität der individuellen Freiheit: Freiheit ist die Abwesenheit von externen Eingrif49 Ebd., S. 36. 50 Philip Pettit, Republicanism. A Theory of Freedom and Government. Oxford: Oxford University Press, 1997, S. 21.

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fen (interference) in die individuelle Handlungsautonomie. Republikanische Freiheitstheorien setzen dagegen eine Priorität des Gemeinwesens. Freiheit ist die Abwesenheit von willkürlicher Herrschaft (domination). Während die liberale Freiheitstheorie durchaus mit einer Form illiberaler Herrschaftsordnungen kompatibel ist, solange sich der gutwillige Despot einer Intervention in den privaten individuellen Freiheitsraum enthält, so ist die republikanische Freiheitstheorie umgekehrt durchaus verträglich mit Eingriffen in die individuelle Autonomie, solange diese auf der Grundlage eines allgemeinen Gesetzes beruht. Damit unterscheiden sich liberale und republikanische Freiheitstheorien für Pettit vor allem darin, welche Bedeutung sie dem Gesetz zuschreiben. Bilden für die liberalen Theorien insbesondere die individuellen Grundrechte und die sie festschreibende Verfassung die rechtliche Grundlage des Gemeinwesens, so liegt der Schwerpunkt republikanischer Theorien im Gesetz als rechtlicher Form des Gemeinwohls. Freiheit als „non-domination“ zu definieren stellt so den Versuch dar, eine dritte Variante der Freiheitstheorie zu ermöglichen, die über die klassische, an Benjamin Constant anknüpfende Gegenüberstellung Isaiah Berlins von positiver (politisch-republikanischer) und negativer (rechtlich-liberaler) Freiheit hinausführt.51 Republikanische Freiheit als Abwesenheit von willkürlicher Herrschaft zu definieren, erlaubt es Pettit in Abkehr dieser Gegenüberstellung von einer negativen republikanischen Freiheit zu sprechen und damit der von der liberalen Position aus erhobenen Kritik an den Konzeptionen positiver Freiheit zu entgehen. Jedoch sind die bei Pettit vorgenommenen subtilen Unterscheidungen innerhalb des Freiheitsbegriffs mit einer konkreten Ordnungsvorstellung staatlichen Handelns verbunden. Die republikanische Freiheitstheorie besitzt die Funktion, eine staatliche Intervention in die Freiheitssphäre der Bürger zu rechtfertigen, um egalitäre Lebensverhältnisse herzustellen, die wiederum als Voraussetzung einer republikanischen Ordnung gelten. Pettit wendet sich dabei gegen jene „populistische“ Ausformungen der republikanischen Tradition, wie sie entscheidend von Rousseau vorgenommen worden sind. Anstelle einer solchen starken Volkssouveränität bevorzugt Pettit eine Konzeption politischer Repräsentation, die es ihm erlaubt, im Staat den legitimen Agenten der Bürgergesellschaft zu erblicken, der in deren Namen und in deren Auftrag politisch handelt. Damit bewegt sich

51 Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty. Oxford: Oxford University Press, 1969.

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sein Entwurf weg von einem traditionellen, partizipatorisch ausgerichteten, aber durch starke, tugendinduzierte Hierarchien der Mitgliedschaft ausgewiesenen Republikanismus hin zu einem egalitären Staatsrepublikanismus. Zudem lässt sich bei Pettit eine analytische Transformation republikanischer Sprache beobachten, die in auffälligem Missverhältnis zum klassischen Republikanismus steht: Methodisch unternimmt er den Versuch, die unterschiedlichen normativen Implikationen politischer Sprachspiele durch das Instrumentarium der analytischen Sprachphilosophie explizit zu machen und zudem eine eigene normative Position zu entwickeln, die er aus der republikanischen Tradition und den dort implizit enthaltenen Selbstverständnissen von politischer Freiheit herleitet. Auf methodischer Ebene findet hier jedoch ein Bruch mit der republikanischen Tradition statt, die ihre politische Selbstverständigung gerade nicht durch eine prinzipienorientierte normative Theoriebildung generierte, sondern zumeist auf einer dichten, erfahrungsgesättigten historischen Beschreibung beruhte, aus der einer pragmatischen politischen Klugheitslehre gemäß Schlüsse gezogen werden konnten – über die soziomoralischen Tugendvoraussetzungen der Republik, über die politischen Handlungsmöglichkeiten in einer Welt der Fortuna und über die Gestaltung der konstitutionellen Ordnung des Gemeinwesens. Im Gegensatz zu den analytisch-rationalen Entwürfen der liberalen Aufklärungsphilosophie werden diese jedoch nicht selbst noch einmal auf einer höheren, abstrakt-prinzipiellen Ebene abgebildet. Pettits Theorie republikanischer Freiheit begibt sich in der Abwehr der liberalen Einwände so sehr auf dieselbe formalistische Argumentationsebene, dass im Endergebnis seine Position nur noch mit großer Mühe als Republikanismus erkennbar ist.

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Interpretationskämpfe im US-amerikanischen Konstitutionalismus. Die Liberalismus-Republikanismus-Debatte und die Entstehung der Cambridge School Bruno Quélennec

Es ist ein Gemeinplatz, dass die Gründungstexte des US-amerikanischen Regimes – von der Unabhängigkeitserklärung (1776) bis zur Verfassung (1787) über The Federalist – nicht nur juristische Bedeutung haben, sondern auch politische Legitimationskraft besitzen. Es gehört also zum Standardrepertoire der politischen Rhetorik in den USA, sich auf die Founders (oder die Framers), d.h. auf die „Gründungsväter“ – wie zum Beispiel Benjamin Franklin, Thomas Jefferson oder James Madison – zu berufen. Und daher erstaunt es kaum, dass ein akademisches Forschungsfeld existiert, das sich ausschließlich mit der Interpretation des Founding beschäftigt. Bis in die 1950er und 1960er Jahre dominierten auf diesem Feld zwei Interpretationsstränge.1 Der erste war von der Pionierarbeit von Charles A. Beard geprägt worden. In An Economic Interpretation of the Constitution of the United States (1913) hatte der Historiker zu zeigen versucht, dass die Hauptmotive der Gründungsväter ökonomischer – und nicht ideologischer – Natur waren. Der Streit zwischen Föderalisten und Anti-Föderalisten entsprach seiner Ansicht nach einem Klassenkampf zwischen Arm und Reich. In diesem Kontext verstand er die amerikanische Verfassung von 1787 als eine Konterrevolution gegen die demokratischen Unruhen der 1770er Jahre. Diese „fortschrittliche“ (progressive) Lesart war nur begrenzt an den Ideen der Framers interessiert. Sie ging davon aus, dass die Ideengeschichte die Erforschung der „wirklichen“ Motive der Gründer,

1 Für meine Rekonstruktion habe ich mich stark von den Arbeiten von Alan Gibson inspirieren lassen. Siehe Alan Gibson, Interpreting the Founding. Guide to the Enduring Debates over the Origins and Foundations of the American Republic. Lawrence: University Press of Kansas, 2009, und Alan Gibson, Understanding the Founding. The Crucial Questions. Lawrence: University Press of Kansas, 2010.

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d.h. ihrer unmittelbaren materiellen Interessen, eher verhindern als befördern würde. Gegen diese in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Interpretation hat sich in den 1950er Jahren eine „liberale“, „konsensuelle“ oder „Lockesche“ Deutung etabliert, die von Louis Hartz lanciert wurde. Dieser hatte in The Liberal Tradition in America (1955) Tocquevilles Erzählung adaptiert und die Besonderheit der US-amerikanischen Entwicklung im Vergleich zu der politischen Geschichte Europas hervorgehoben: Die Kultur der USA wäre von Beginn an „liberal“ gewesen, was die Immunisierung des Landes gegen jede Form von Totalitarismus erklären könnte.2 Interessanterweise haben sich die Anhänger dieser – für den Kalten Krieg typischen – Variante des Mythos eines „amerikanischen Exzeptionalismus“ genauso wenig wie die Progressive Historians für die politischen Ideen der Framers interessiert: Hartz ging es mehr um eine kulturgeschichtliche Analyse als um eine sorgfältige Interpretation von Locke und seiner amerikanischen Rezeption. Nichtsdestotrotz wurde diese „Lockesche“ Interpretation des Founding in der politischen Ideengeschichte übernommen, und zwar von den unterschiedlichsten Theoretikern. Von C.B. Macpherson3 bis zu den Straussians führten alle – manchmal durchaus in kritischer Absicht – die Entstehung des amerikanischen Regimes auf eine von Hobbes und Locke inspirierte liberale politische Philosophie zurück.4 Ab den 1960er Jahren wurde dieser ideengeschichtliche Konsens jedoch von Bernard Bailyn, Gordon S.

2 „Whereas the Progressives had explained American history as a series of sequential conflicts between agrarian debtors and commercial capitalists, consensus historians emphasized the continuity throughout American history of the middle-class structure of American society and the hegemony of liberal values such as the sanctity of property, economic individualism, and democracy. In their specific interpretations of the American Founding, the consensus historians challenged the Progressives’ interpretation of colonial society as stratified between social groups or classes with an interpretation that suggested […] that conflict among social classes in the United States was minimal during and after the Revolution.“ (A. Gibson, Interpreting the Founding, S. 15) 3 C. B. [Crawford Brough] Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. From Hobbes to Locke. Oxford: Clarendon Press, 1962. 4 Siehe dazu den ironischen Kommentar von John G. A. Pocock: „Finally, the myth that liberalism enjoyed an unchallenged control of the eighteenth-century mind is maintained not only by those who may themselves be described as liberals in the sense that the myth defines, but perhaps in greater measure by critics of liberalism who maximize its role in order to provide themselves with an antithesis. Marxists, as is notorious, maintain the ascendancy of ‚bourgeois‘ values in and out of season,

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Wood und John G. A. Pocock5 insofern in Frage gestellt, als sie die republikanische Ideologie der Gründungsväter ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Grob gefasst, lautete ihre These, dass nicht der auf individuelle Abwehrrechte und privatem Eigennutz gegründete Liberalismus, sondern Tugend, Patriotismus, Opferbereitschaft für das Gemeinwohl und „positive“ Freiheit (im Sinne von Partizipationsrechten) für das politische Denken der Framers konstitutiv gewesen seien. Damit beanspruchten die „Republikanisten“, die oft mit der Cambridge School in Verbindung gebracht wurden6, eine ideengeschichtliche Revolution vorzunehmen. In den 1980er Jahren war Republikanismus in der Tat zu einer Art buzzword im Feld des amerikanischen Konstitutionalismus geworden und wurde als der Gegenpol zur politischen Tradition des Liberalismus betrachtet. Die Frage, ob die „politische Theorie“ der Framers entweder als „liberal“ oder als „republikanisch“ zu bezeichnen sei, scheint heute weitgehend überholt zu sein. Es ist nämlich üblich geworden, vom „liberalen Republikanismus“ oder vom „republikanischen Liberalismus“ zu sprechen, ohne dass man in dieser Syntagma-Konstruktion etwas Widersprüchliches sehen würde. Die Debatte ist somit vorläufig abgeschlossen.7 Aber eben deshalb ist eine Historisierung dieser Kontroverse von Interesse: Sie zeigt, wie ideengeschichtliche Paradigmen entstehen, sich etablieren und verge-

since without the ‚bourgeois‘ adversary Marxism would have no raison d’être; and much the same is true of the prevalent neoconservative and neo-Hellenic schools associated with such names as Arendt, Strauss and Voegelin. These argue that a separation of the individual from the political, a triumph of the commercial, cultural, and social over the political, occurred somewhere in the seventeenth and eighteenth centuries; and they expound the character of this ‚liberalism‘ or ‚modernism‘ in terms not very far removed from those which Marxists employ. “ (John G. A. Pocock: „The Machiavellian Moment Revisited: A Study in History and Ideology“, The Journal of Modern History, 1/1981, S. 70) 5 Bernard Baylin, The Ideological Origins of the American Revolution. Cambridge: Harvard University Press, 1967; Gordon Wood, The Creation of the American Republic, 1776-1787 (1969). New York/London: W.W. Norton & Company, 1993; John G.A. Pocock, The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton: Princeton University Press, 1975. 6 Diese Verbindung wird vor allem deshalb hergestellt, weil der „Republikanist“ J. G. A. Pocock auch – zusammen mit Quentin Skinner, Peter Laslett, John Dunn und anderen – als Begründer der Cambridge School der politischen Ideengeschichte gilt. Durch ihre Methodentexte und ihre thematischen Schwerpunkte (Machiavelli, Harrington, Hobbes, Locke, usw.) hat die Cambridge School auch indirekt die Debatten über das Founding beeinflusst. 7 Siehe dazu A. Gibson, Understanding the Founding, S. 134.

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hen.8 Im Rahmen dieses Aufsatzes kann es nicht darum gehen, die ganze Debatte zu rekonstruieren, sondern nur darum, ihre Vielschichtigkeit aufzuzeigen. Die Kontroverse fand nämlich auf mehreren Ebenen statt, mit jeweils unterschiedlichen Fronten und Allianzen: Sie betraf nicht nur die historische Deutung der amerikanischen Revolution, sondern war gleichzeitig ein philosophischer Streit um die korrekte Methode der Textinterpretation und um die politische Relevanz der Ideengeschichte. In diesem Text werde ich mich nur auf einen Teilaspekt dieser Diskussion konzentrieren, und zwar auf die Auseinandersetzung der „Republikanisten“ und der Cambridge School mit den Straussians. Dabei möchte ich die These aufstellen, dass die „Republikanisten“ ihre eigene Position vor allem in Opposition zu der ideengeschichtlichen Praxis der Straussians konstituierten. Gegen die unhistorische, philosophische und politisierte Ideengeschichte der Strauss-Schüler plädierten sie energisch für eine Verwissenschaftlichung und eine Entpolitisierung des Faches. Gegen die liberale Lesart des Founding, die prominent von den Straussians vertreten wurde, lieferten sie – vor allem Pocock – eine liberalismusfreie Genese der amerikanischen politischen Kultur. Dabei blieben sie – so die hier vertretene These – von der Position ihrer Gegner negativ bestimmt. Zunächst werde ich mich mit der liberalen Lesart des Founding im straussianischen Konstitutionalismus befassen (1), bevor ich die Kontroverse mit den „Republikanisten“ analysiere (2). 1. Die Straussians und die Neuerfindung des amerikanischen Konstitutionalismus Über die Framers vermochte Leo Strauss bekanntlich wenig zu sagen. Seiner Ansicht nach war die philosophische Hauptquelle, auf welcher das amerikanische Regime beruhte, die politische Theorie von John Locke, die wiederum eine abgemilderte Version des Liberalismus von Thomas Hobbes darstellte.9 Sein Urteil über „Amerika“ fiel entsprechend hart

8 Siehe dazu Daniel T. Rogers: „Republicanism: The Career of a Concept“, The Journal of American History, 1/1992, S. 11-38. 9 „It is not exaggeration to say that Strauss’s judgement on Locke is his judgement on America.“ (Steven Smith, Reading Leo Strauss. Chicago: University of Chicago Press, 2006, S. 168f.) The Federalist, bzw. James Madison wird zum Beispiel in Natural Right and History lediglich einmal zitiert und nur, um ihn als Lockes Schü-

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aus.10 Es ist daher höchst erstaunlich, dass seine Schüler (und die Schüler seiner Schüler11) im Feld des amerikanischen Konstitutionalismus so stark vertreten sind.12 Nicht nur haben sie auf diesem Gebiet zahlreiche wichti-

ler zu präsentieren. Siehe Leo Strauss, Natural Right and History. Chicago: The University of Chicago Press, 1971, S. 245. 10 Siehe dazu den Kommentar von Michael und Catherine Zuckert: „Strauss’s view of the truer and better political principles remained at some distance from the American regime. In his major work Natural Right and History, for example, he indicated some of that distance: ‚Since men are then unequal in regard to human perfection, i.e., in the most decisive respect, equal rights for all appeared to the classics as most unjust. They contended that some men are by nature superior to others, and, therefore, according to natural right, the rulers of others.‘ America is founded in the conviction that ‚all men are created equal‘ and that government exists to secure the equal rights possessed by all men. America is thus an order that is, according to the ancients whose views Strauss endorses, ‚most unjust‘.“ (Catherine P. Zuckert / Michael H. Zuckert, The Truth about Leo Strauss. Political Philosophy and American Democracy. Chicago: University of Chicago Press, 2006, S. 199f.) 11 Michael und Catherine Zuckert haben anhand einer – weitgehend fiktiven – geographischen Aufteilung zwischen drei „Fraktionen“ innerhalb des straussianischen Konstitutionalismus unterschieden: die neokonservativen „East-Coast Straussians“ (Walter Berns, Allan Bloom, Thomas Pangle, Harvey Mansfield, Carnes Lord), die „West-Coast Straussians“, die heute als die neuen Apostel der Ideologie des „amerikanischen Exzeptionalismus“ gelten (Harry Jaffa, Thomas G. West, Charles R. Kesler) und die liberal-konservativen „Midwest Straussians“ (um Martin Diamond). Siehe C. P. Zuckert / M. H. Zuckert, The Truth about Leo Strauss, S. 228ff. Jason Frank und Richard H. King haben darüber hinaus vorgeschlagen, zwischen der ersten und der zweiten Generation der Strauss-Schüler zu unterscheiden. Siehe dazu Jason Frank, „Is there a Straussian Constitutionalism?“, in: Uwe Hohendahl / Erhard Schütz (Hrsg.), Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945, Berlin/Bern: Peter Lang, 2012, S. 233-257; Richard H. King: „Rights and Slavery, Race and Racism: Leo Strauss, the Straussians, and the American dilemma“, Modern Intellectual History, 1/2008, S. 55-82. 12 Siehe dazu die besorgte Diagnose von Gordon S. Wood im Jahre 1988: „Perhaps the most remarkable fact about the scholarship of the bicentennial celebrations is the extent to which that scholarship has been colored by the students and followers of Leo Strauss, the German-born political theorist who taught at the University of Chicago in the 1950s and 1960s. ‚Straussians‘ are everywhere in government and academia, in both high and low places, in conferences, in symposiums, in books and journals. More than any other single group the Straussians are attempting to set the agenda for public debate over the Constitution. They have sought to define the terms, to organize the conferences, and to dominate the discussions. A big reason for this presence is surely their access to power and money in a conservative Republican administration. But nearly as important as governmental patronage has

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ge Beiträge geleistet, sondern auch oft – anders als Strauss – ein positives, wenn nicht unkritisches, Verhältnis zu dem Founding entwickelt. Im Gegensatz zu Strauss – aber auch zu den Progressive Historians – stellen die Straussians die Framers als hervorragende Philosophen und Staatsmänner vor, deren Schriften mit der größten Sorgfalt analysiert werden sollen. Sie geben sich also mit der Gleichung „Amerika = Locke“ nicht zufrieden. Haben sie um des Patriotismus willen mit ihrem Meister und seiner Interpretation „Amerikas“ gebrochen oder einfach seine Intention missverstanden? Haben sie seine politische Philosophie verraten oder sie an die amerikanische Kultur angepasst? Alle diese Interpretationen sind möglich. Vielversprechender noch als die Frage der (Un-)Treue ihrer Strauss-Interpretationen scheint mir jedoch die Analyse ihrer „diskursiven Strategien“ (Gérard Raulet) zu sein: Wie haben die Straussians die „Lehre“ ihres Lehrers konkret adaptiert?13 Die Straussians verfügen über eine gemeinsame theoretische Grundlage, die ich hier hervorheben möchte. Erstens teilen sie alle eine ähnliche Diagnose über die Selbstzerstörungstendenzen des Liberalismus und plädieren für eine – mehr oder weniger radikale – Rückkehr zur klassischen politischen Philosophie.14 Zweitens verwenden sie auf der methodischen Ebene ein ähnliches interpretatorisches Instrumentarium, indem sie sich vom exo/esoterischen Ansatz ihres Meisters inspirieren lassen.15 Drittens haben sie die Strauss’sche Kritik des „Positivismus“ und „Historizismus“ in den Sozial-, Politik- und Geisteswissenschaften übernommen. Für die politische Ideengeschichte heißt dies, dass sie gegen jede Form von kontextualistischen Ansätzen hart Stellung beziehen. Viertens machen sie sich

been their long and untiring philosophical interest in what they invariably call the ‚Founding‘, the principles embodied in America’s nation-building at the end of the eighteenth century.“ (Gordon S. Wood: „The Fundamentalists and the Constitution“, The New York Review of Books, 18.2.1988, S. 33f.) 13 Im Rahmen dieses Aufsatzes kann eine solche Frage nicht mal holzschnittartig behandelt werden. Eine Monographie zum Straussian Constitutionalism ist immer noch ein Desiderat der Forschung. 14 Siehe meinen anderen Aufsatz in diesem Band. 15 Siehe dazu Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing. Chicago: The University of Chicago Press, 1952, S. 22ff. Dieser Interpretationsansatz wurde vielfach diskutiert und kritisiert. Eine gute deutschsprachige Einführung in dieses Thema bieten Harald Bluhm, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss. Berlin: Akademie-Verlag, 2002, S. 110ff., und Ralph Weber / Martin Beckstein, Politische Ideengeschichte. Interpretationsansätze in der Praxis. Göttingen u.a.: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 105ff.

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meistens die klassische These vom „Hobbesschen“ oder „Lockeschen“ Liberalismus der Framers zu eigen.16 Fünftens sind sie sich zugleich darüber einig, dass diese – historisch zwar korrekte, politisch und philosophisch aber schädliche – Lesart des Founding aus der Perspektive der klassischen politischen Philosophie korrigiert werden sollte. Last but not least sind sie sich alle der politischen Dimension ihrer Interpretationen bewusst: Ideengeschichte ist für sie kein Selbstzweck, sondern immer auch eine Intervention in die Hegemoniekämpfe um die Deutung der politischen Identität der USA. Nach den Sixties ist das Feld des amerikanischen Konstitutionalismus eben der Bereich, in dem die Straussians die Prinzipien des amerikanischen Konservatismus neu zu erfinden versuchten.17 Ausgehend von dieser gemeinsamen Position haben sie jedoch recht unterschiedliche und manchmal entgegengesetzten Interpretationen des Founding entwickelt: „In some versions, they argued that America was not an entirely modern regime and therefore that it allowed and benefited from virtue and prudential statesmanship; or to the extent that it was modern, its political practice and discourse were supplemented and elevated by ancient insights. In other versions Straussians defended the philosophy of natural rights and social contract as America’s definitive political commitment, arguing that it was far superior to other modern options and that to some extent it could be reconciled to Aristotelian political science and biblical morality.“18

16 Unter den Schülern von Strauss negieren nur die West-Coasters, dass die Framers von modernen, liberalen Prinzipien inspiriert wären. Oder besser: In ihrer Lesart hätten die Framers John Locke zwar gelesen und geschätzt, ihn aber als einen christlichen Anhänger der aristotelischen politischen Philosophie verstanden. Siehe die kritische Rekonstruktion dieser abenteuerlichen Interpretation bei C.P. Zuckert / M. H. Zuckert, The Truh about Leo Strauss, S. 239ff. 17 „Straussians who had formerly been Democrats became Republicans. The hopes and theories of the sixties, unlike earlier political disagreements, aroused almost uniform opposition among Straussians on the basis of Straussian principles. Sixties ideas were utopian through and through, and the main theme of Straussian political philosophy was anti-utopian. Strauss taught that the preeminent political virtue was moderation and the most desirable political arrangement was constitutionalism and the rule of law. […] The inordinate hopes of the sixties utopians combined with the inordinate hopes of the social engineers who brought us the Great Society to produce an important intellectual backlash known as neoconservatism. […] When it emerged, many Straussians sympathized with it, and more than a few became publicly associated with it.” (Ebd., S. 230) 18 Jonathan O’Neill: „Straussian Constitutional history and the Straussians political project“, Rethinking History, 4/2009, S. 467-468. Diese Dreiteilung entspricht der

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Während manche – wie Harry Jaffa und seine Schüler von der „westlichen Küste“ – die Gründungsväter als esoterische Aristoteliker ansahen, versuchten andere – wie Martin Diamond und seine Nachfolger – den Liberalismus der Framers als die vernünftigste, d.h. moderateste Form moderner Politik zu deuten.19 Im Rahmen dieses Aufsatzes kann nicht entschieden werden, ob es sich dabei um leichte Variationen eines gleichen Themas oder um Unterschiede im Ganzen handelt. Wie bereits erwähnt, möchte ich hier nur auf die gemeinsame Grundlage insistieren und die diskursiven Strategien der Straussians hervorheben. Was dabei gleich ins Auge sticht, ist ihr doppelbödiger Charakter: 1. Auf der einen Seite erfährt das Founding mit den Straussians eine Art Re-Sakralisierung. Die Strauss-Schüler stellen nämlich – im Gegensatz zu den Progressive Historians – oft Jefferson, Madison oder Lincoln als quasi-mythische Figuren vor, ohne dabei die klassische „liberale“ Lesart zu verwerfen. Auf der anderen Seite entwickeln sie jedoch ein kritisches Verhältnis zu den Gründungsvätern und versuchen, ihre politische Lehre vor dem Horizont der „klassischen politischen Philosophie“ zu korrigieren, bzw. umzudeuten. 2. Auf der einen Seite proklamieren sie in Strauss’scher Manier, dass sie die Framers so verstehen wollen, „wie sie sich selbst verstanden haben“. Auf der anderen Seite wird das politische Denken des American Founding bei den Straussians systematisch in ein vorgeformtes philosophisches Narrativ (Ancients versus Moderns) hineingezwängt. Dementsprechend pflegen die Straussians einen manchmal recht instrumentellen Umgang mit Texten. Die Offensive der Straussians im Feld des amerikanischen Konstitutionalismus, die man als eine Verphilosophierung, Enthistorisierung und Politisierung der Ideengeschichte bezeichnen kann, hat ab den 1960er Jahren in der amerikanischen Politikwissenschaft Spuren hinterlassen und einen großen Widerstand ausgelöst. Die sogenannte Cambridge School und die Republikanismus-These sind in diesem Kontext entstanden.

Klassifizierung von Catherine und Michael Zuckert: West-Coast Straussians, EastCoast Straussians und Midwest Straussians. 19 Siehe zum Beispiel Martin Diamond: „Democracy and the Federalist: A Reconsideration of the Framers’ intent“, The American Political Science Review, 1/1959, S. 52-68.

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2. Der anti-straussianische Gegenentwurf der „Republikanisten“ und der Cambridge School Im amerikanischen Konstitutionalismus fand die Attacke gegen die Straussians auf zwei verschiedenen Ebenen statt: inhaltlich und methodisch. Auf der inhaltlichen Ebene kann man die Geburt der RepublikanismusThese retrospektiv auf die Publikation von Bailyns The Ideological Origins of the American Revolution (1967) zurückdatieren, auch wenn der Historiker den Begriff des „Republikanismus“ selbst nicht verwendete. Gegen die Lockesche Lesart des Founding hatte er zu zeigen versucht, dass die Ideologie der amerikanischen Revolution aus den Schriften der radikalen Intellektuellen der englischen Country Party des 17. und 18. Jahrhunderts stammte.20 Es war jedoch sein Schüler Gordon Wood, der in The Creation of the American Republic (1969) diese revolutionäre Ideologie als „Republikanismus“ bezeichnete, wobei er sie mit der Opferbereitschaft für das Gemeinwohl assoziierte: „The sacrifice of individual interests to the greater good of the whole formed the essence of republicanism and comprehended for Americans the idealistic goal of their Revolution. From this goal flowed all of the Americans’ exhortatory literature and all that made their ideology truly revolutionary. This republican ideology both presumed and helped shape the Americans’ conception of the way their society and politics should be structured and operated – a vision so divorced from the realities of American society, so contrary to the previous century of American experience, that it alone was enough to make the Revolution one of the great utopian movements of American history.“21

Für Bailyn wie für Wood war aber diese republikanische Phase relativ kurzlebig und endete brutal in den 1780er Jahren mit der Redaktion der

20 Zwischen 1680 bis 1740 war die Country Party eine englische Bewegung, die aus Tories und unzufriedenen Whigs bestand. Sie behauptete, eine unparteiische Kraft zu sein, die für das Interesse der ganzen Nation gegen die Politik der Court Party, d.h. der Londoner Politiker, kämpfte. Die Country Party glaubte, dass die Court Party Großbritannien korrumpierte, indem sie sich durch Patronage Macht erwerbe. Außerdem prangerte sie die Court Party an, weil sie die englischen und schottischen Freiheiten sowie die Unabhängigkeit des Parlaments bedrohen würde. Ihre Intellektuellen (darunter John Trenchard, Thomas Gordon oder Viscount Bolingbroke) forderten ein Milizheer, statt der siebenjährigen Amtszeit jährliche Wahlen zum Parlament, und wollten die politische Macht dem Landadel geben – und nicht den königlichen Beamten, Kaufleuten oder Bänkern. 21 G. S. Wood, The Creation of the American Republic, S. 53f.

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Verfassung, die eine ganz andere, moderne und liberale Politikauffassung zum Ausdruck brachte.22 Leicht anders verhielt es sich in der Großerzählung von John G. A Pocock. In The Machivellian Moment (1975) lieferte der Neuseeländer eine Geschichte der „politischen Sprache“ des „classical republicanism“ oder „civic humanism“23, die er ausgehend von der Antike über die Florentinischen Renaissance und die englische „Country Party“ bis zum revolutionären Amerika verfolgte. Diese materialreiche Studie war innerhalb des amerikanischen Konstitutionalismus ein großes Ereignis. Sie tilgte den Lockeschen Liberalismus vollständig aus der ideologischen Genese der amerikanischen Revolution und brach mit dem Strauss’schen binären Schema (Ancient Republicanism v. Modern Liberalism).24 Durch eine gewagte Konstruktion zog sie eine kontinuierliche Linie von Aristoteles und Polybios bis zu den Anti-Föderalisten über Machiavelli und Harrington. Jedoch konnte diese Erzählung nicht ohne Vereinfachungen auskommen. In diesem liberalismusfreien Narrativ setzte sich Pocock kaum mit den historischen Dokumenten auseinander, die zu seiner These nicht passten: „Pocock has ignored the liberal dimensions of political thought in the Founders’ writings that would challenge his thesis about the ubiquity of republicanism.“25 Nach dem Gegenangriff der Anhänger der liberalen Lesart des Founding26, der auf die Publikation von The Machiavellian Moment folgte, sah sich der Historiker zu einem „stra22 Andere historischen Arbeiten haben aber die Persistenz dieser republikanischen Ideologie bis tief in den 19. Jahrhundert verfolgt. Siehe D. T. Rogers: „Republicanism: the Career of a Concept“, S. 24ff. 23 Die Begriffe stammen ursprünglich von Zera Fink (The Classical Republicans. An Essay in the Rediscovery of a Pattern of Thought in Seventeenth-Century England, 1945) und Hans Barion (The Crisis of the Early Italian Renaissance: Civic humanism and republican liberty in an age of classicism and tyranny, 1955). 24 Siehe zum Beispiel die Studien von den Straussians Paul Rahe oder Michael Zuckert, in denen Harrington, John Trenchard, Thomas Gordon und die Radical Whigs als eindeutig moderne und liberale Intellektuelle gedeutet werden: Paul Rahe, Republics Ancient and Modern: Classical Republicanism and the American Revolution. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1992; Michael Zuckert, Natural Rights and the New Republicanism. Princeton: Princeton University Press, 1994. Dazu Christopher Hamel, „La lecture straussienne du républicanisme de James Harrington. Eléments de critique“, in: Bernard Graciannette / Christophe Miqueu / Jean Terrel (Hrsg.), Harrington et le républicanisme à l’âge classique, Bordeaux: Presses Universitaires de Bordeaux, 2014, S. 165-185. 25 A. Gibson, Understanding the Founding, S. 333. 26 Siehe zum Beispiel die Antwort von Michael Zuckert, der die RepublikanismusThese zugleich anerkennt und relativiert, indem er die Strauss’sche Unterschei-

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tegischen Rückzug“ (Daniel Rogers) genötigt und relativierte seine Thesen der 1970er Jahre: Später erklärte er, dass das Buch nur eine „TunnelHistory“ rekonstruiere und die Existenz anderer „politischer Sprachen“ voraussetze. The Machiavellian Moment wäre vor allem geschrieben worden, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass der klassische Republikanismus auch nach dem Sieg des Liberalismus in den USA wirksam geblieben wäre: „The language of republicanism had survived to furnish liberalism with one of its mode of self-criticism and self-doubt.“27 Der Republikanismus der amerikanischen Revolutionäre wäre somit keine integrative Weltanschauung oder Ideologie gewesen, sondern nur ein wichtiger politischer Diskurs neben anderen. Da Pocock den „polyglotten“ und potentiell widersprüchlichen Charakter der politischen Sprache nun offen anerkannte, bahnte er den Weg für neue historische Studien, die sowohl den Liberalismus als auch den Republikanismus, aber auch den Puritanismus oder die schottische Aufklärung als wichtige Diskurselemente der revolutionären Phase gelten ließen.28 Die „Republikanisten“ etablierten sich zunächst durch eine radikale Zuspitzung ihrer These. Nachdem ihre Position in den 1980er Jahren anerkannt worden war, konnten sie eine moderatere Perspektive einnehmen und mit der Idee eines „republikanischen Liberalismus“ irgendwie Frieden schließen. Auf der methodischen Ebene sind die Spuren, die die Straussians in den Konzepten der „Republikanisten“ und der Cambridge School hinterlassen haben, deutlicher zu verfolgen. Man kann anhand der Texte von Skinner, Pocock und Wood nachweisen, dass sie die Straussians als ihre gefährlichsten Feinde ansahen und sich gegen ihre Attacken zu immunisieren suchten. Der berühmte Methoden-Text von Skinner aus dem Jahre 1969 zeugt zum Beispiel von diesem Abgrenzungswillen und verwendet mehrmals Texte der Straussians als negative Folie, um seine Kritik an den für die Ideengeschichte typischen „Mythen“ (Mythos der „Lehre“, Mythos der

dung zwischen „political philosophy“ und „political science“ einführt. Wenn man einmal diese Unterscheidung mache, könne man seiner Auffassung nach zeigen, dass die Whigs des 17. und 18. Jahrhunderts eine republikanische Politikwissenschaft mit einer politischen Lockeschen Philosophie fusionierten – eine Synthese, die für die amerikanischen Revolutionären „maßgebend“ gewesen wäre (M. Zuckert, Natural Rights and the New Republicanism, S. 299). 27 John G. A. Pocock: „Between Gog and Magog: The Republican Thesis and the Ideologia Americana“, Journal of the History of Ideas, 2/1987, S. 341. 28 Alan Gibson spricht mit Rogers M. Smith von einem „Multiple Traditions Approach“. Siehe A. Gibson, Interpreting the Founding, S. 53ff.

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„Kohärenz“ und Mythos der „Vorwegnahme“ und der „Anverwandlung“) zu exponieren.29 Etwas Ähnliches findet man in den Texten von Pocock30, die genauso wie bei Skinner und Wood31 auf eine Verwissenschaftlichung und eine Entpolitisierung der politischen Ideengeschichte abzuzielen scheinen. 1. Eine Verwissenschaftlichung: Für die Cambridge School soll sich die politische Ideengeschichte endlich vom philosophischen Feld abgrenzen und mit den methodischen Instrumenten der Historiker bzw. der Sozialwissenschaftler arbeiten.32 Der Rekurs auf einen quasi-strukturalistischen Diskurs gehört dazu. Bei Bailyn und Wood wird zum Beispiel der Geertzsche – also ein nicht-marxistischer – Begriff der „Ideologie“ eingesetzt33, um die Wirkkraft der Ideen auf die revolutionären Ereignisse zu begreifen,

29 Siehe Quentin Skinner, „Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte“ (1969), in: Martin Muslow / Andreas Mahler (Hrsg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010, S. 21-87. Auf Strauss und die Straussians wird in den folgenden Fußnoten verwiesen: Fn 10, S. 23, Fn 46, S. 32, Fn 50, 51, 52 und 54, S. 33f., Fn 67, S. 37, Fn 90, S. 43, S. 45f., Fn 102 und 104, S. 48, Fn 109, 110, 111, 113, S. 50f., Fn 177, 178, 179, S. 72. Auf die wohlbekannte „Mythenkritik“ von Skinner brauche ich nicht weiter einzugehen. 30 Siehe zum Beispiel die zwei Texte in dem von Muslow und Mahler herausgegebenen Sammelband: J.G.A. Pocock, „Sprachen und ihre Implikationen: Die Wende in der Erforschung des politischen Denkens“ (1972), in: M. Muslow / A. Mahler (Hrsg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, S. 88-126 und „Der Begriff einer ‚Sprache‘ und das métier d’historien: Einige Überlegungen zu Praxis“, S. 127-152. 31 Siehe G.S. Wood, „The Fundamentalists and the Constitution“. 32 Skinner ist dabei eine Ausnahme, da er seine Methode philosophisch – auf der Sprechakttheorie Austins – zu gründen versucht. 33 Clifford Geertz, The Interpretation of Cultures. New York: Basic Books, 1973, S. 193ff. Das Konzept von Geertz wird in dieser Weise von Wood adaptiert: „We humans have to give meaning to nearly everything we do, but we are not free at any moment to give whatever meaning we wish to our behavior. The meanings we give are public ones, and they are defined and delimited by the conventions and language of the culture of the time. It is in this sense that culture or ideology creates behavior. It does so by forcing us to describe our behavior in its terms. The definitions and meanings that we seek to give to our behavior cannot be random or unconstrained. Our actions thus tend to be circumscribed by the ways we can make them meaningful, and they are meaningful only publicly, only with respect to an inherited system of conventions and values. What is ‚liberal‘ or ‚tyrannical‘, ‚monarchical‘ or ‚republican‘, ‚democratic‘ or ‚aristocratic‘ is determined by this cultural structure of meanings. Our intellectual life is made up of struggles over

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Interpretationskämpfe im US-amerikanischen Konstitutionalismus

ohne dabei in die Falle des Idealismus zu tappen. Bei Pocock wird bekanntlich Geertzs Ideologiebegriff durch Thomas Kuhns „Paradigmen“34 ersetzt: die methodische Stoßrichtung bleibt jedoch eine ähnliche. Es geht bei ihm auch darum, politische Ideen als „objektive“, wirkungsmächtige und relativ autonome Vermittlungsinstanzen zwischen Akteuren und sozialen Strukturen zu verstehen. Diese „Methode“ führt natürlich zu einer Verschiebung der Blickrichtung, ja zu der Konstruktion eines neuen Forschungsgegenstands. Der Historiker interessiert sich hier nämlich nicht mehr primär für die „Inhalte“ der politischen Diskurse, d.h. für die Frage ihrer theoretischen Wahrheit. Ideen sollen eher für „what they do“ studiert werden. Pocock, Skinner und Wood konstruieren also eine strikte Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Ideengeschichte: Im Gegensatz zu den Philosophen gehe es bei dem Historiker nur um das, was eigentlich passiert ist, bzw. um das, was eigentlich „gemeint“ war.35 2. Eine Entpolitisierung: Die Verwendung von wissenschaftlichen Methoden scheint bei der Cambridge School und den „Republikanisten“ die Funktion zu erfüllen, eine unüberbrückbare Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu schaffen, als ob sie jegliche (Wieder-) Aneignung der Ideen der Framers unmöglich machen wollten. Die Rolle des unparteilichen Historikers, so zum Beispiel Gordon Wood, bestehe nämlich vor allem darin, historische Diskontinuitäten aufzuzeigen und die Andersheit der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart vor Augen zu führen.36 Der politische und philosophische Wert der Ideengeschichte wird somit rein negativ gefasst: „For Wood, studying the historical process teaches prudence and guards against self-righteousness. If we study history carefully, he suggests, we will

getting people to accept different meanings of experience. The stakes are always high because what we cannot make meaningful-cannot conceive of, legitimate, or persuade other people to accept-in some sense we cannot do. What is permissible culturally affects what is permissible socially or politically, so that although ideas may not be the motives for behavior, they do affect and control it.“ (G. S. Wood: „Ideology and the Origins of Liberal America“, The William and Mary Quarterly, 3/1987, S. 631) 34 Siehe zum Beispiel: J. G. A. Pocock, „Sprachen und ihre Implikationen: Die Wende in der Erforschung des politischen Denkens“, S. 97ff; Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: Chicago University Press, 1962. 35 J. G. A. Pocock, „Sprachen und ihre Implikationen: Die Wende in der Erforschung des politischen Denkens“, S. 91f. 36 A. Gibson, Understanding the Founding, S. 126-128.

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Bruno Quélennec

see that the actions of historical agents are severely circumscribed by their historical circumstances and that few end up achieving what they set out to achieve. More often, they end up bitter and estranged, prisoners of the world they created by the unintended effects of their actions and their words.“37

Skinner betont seinerseits, dass die ideengeschichtliche Forschung nicht zum Ziel haben könne, aus den Texten der Vergangenheit irgendwelche „Lehren“ zu ziehen oder „Antworten“ für die Gegenwart zu finden: „[D]as Denken“, schreibt er am Ende seines berühmten Methoden-Aufsatzes, „müssen wir schon selbst besorgen“.38 Der „Wert und Nutzen“ der politischen Ideengeschichte scheint also für ihn vor allem darin zu bestehen, eine Art moralischen Relativismus zu kultivieren: „Die klassischen Texte, besonders auf dem Gebiet des sozialen, ethischen und philosophischen Denkens, können uns dabei helfen – wenn wir es zulassen –, nicht die prinzipielle Gemeinsamkeit, sondern die prinzipielle Vielfalt entwicklungsfähiger moralischer Hypothesen und politischer Verpflichtungen zu entdecken. Darin liegt in erster Linie der philosophische, ja sogar der moralische Wert dieser Texte.“39

Hier kann nicht en détail auf die Reaktionen der Straussians gegenüber dieser „schwachen“ oder „nüchternen“ Rechtfertigung der politischen Ideengeschichte eingegangen werden. Ziel des Aufsatzes war lediglich die Hypothese aufzustellen, dass die Konstitution der Position der „Republikanisten“ und der Cambridge School negativ von der ideengeschichtlichen Praxis der Straussians bestimmt wurde. Auf der inhaltlichen Ebene scheint heute die Liberalismus-Republikanismus Kontroverse im Feld des amerikanischen Konstitutionalismus erst einmal abgeschlossen zu sein. Auf der methodischen Ebene ist jedoch ein Ende des Streits nicht in Sicht.

37 Ebd., S. 114. 38 Q. Skinner, „Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte“, S. 86. 39 Ebd.

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1. Nach der gängigen Definition gilt die Ideengeschichte als Metadisziplin im Dienste der Wissenschaftsgeschichte (Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft oder anderer Wissenschaften, Philosophiegeschichte etc.). Ich habe sie im Einklang mit dieser Definition als ein „Nebenfach mit Schlüsselfunktion“ bezeichnet, aber am Beispiel der französischen germanistischen Ideengeschichte gezeigt, dass sie im diskursiven Feld eine ausgeprägte politische Rolle gespielt hat. In seinem Aufsatz „Geschichte politischen Denkens oder Ideenpolitik“1 spricht Marcus Llanque in diesem Sinn von „Ideenpolitik“. Damit ist gemeint, dass parallel zu ihrer wissenschaftlichen Begründungsfunktion die Ideengeschichte zugleich zur diskursiven Positionierung im Feld beiträgt. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur in den Selbstdarstellungen der einschlägigen Lehrstühle im Internet nachzuschlagen. Nach der Definition des Lehrstuhls „Theorie der Politik“ an der HU (z.Z. Herfried Münkler): „Das Aufgabengebiet des Lehrstuhls umfasst die politische Ideengeschichte und die Politische Theorie in ihrer gesamten Breite. Das grundlegende Ziel ist hierbei, politische Fragestellungen in analytischer und historischer Weise zu durchleuchten: Die Diskussion und Zusammenführung von Begriffen und Modellen sind ebenso Gegenstand wie die Rekonstruktion der politischen Ideen, ihrer Geschichte(n) und Rahmenbedingungen – von Platon und Aristoteles bis hin zu aktuellen Debatten um Kommunitarismus oder Postdemokratie. Insbesondere die politische Ideengeschichte arbeitet dabei stark interdisziplinär.“

1 Marcus Llanque, „Geschichte politischen Denkens oder Ideenpolitik: Ideengeschichte als normative Traditionsstiftung“, in: Harald Bluhm / Jürgen Gebhardt (Hrsg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden: Nomos, 2006, S. 51-70.

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Gérard Raulet

Ganz ähnlich lautet die Webseite des Jenaer Lehrstuhls „Politische Theorie und Ideengeschichte“ (Inhaber Klaus Dicke, Apl. Michael Dreyer): „Gegenstand der politischen Theorie und Ideengeschichte sind die Grundfragen einer normativen Rechtfertigung politischer Ordnungen, die Geschichte und Genealogie dieser Rechtfertigungsmodi und die Geschichte des politischen Denkens in seinen unterschiedlichen historischen, ideologischen wie länderspezifischen Ausprägungen.“

Die Definition ist dabei freilich präziser: Die politische Ideengeschichte versteht sich als Metareflexion der normativen Rechtfertigung politischer Ordnungen, wodurch die Rekonstruktion von Traditionen und die normative Orientierungsfunktion noch deutlicher angesprochen werden, so dass die Trennung zwischen den „zwei Perspektiven der politischen Ideengeschichte“ (Llanque) kaum noch aufrechterhalten werden kann. In ihrer jüngst erschienenen Einführung Politische Theorie und Ideengeschichte: Eine Einführung (Beck 2016) umreißen Herfried Münkler und Grit Straßenberger das Programm des Fachs folgendermaßen: „Was hat man zu unterschiedlichen Zeiten unter ‚Gemeinwohl‘, ‚Tugend‘ oder ‚Gerechtigkeit‘ verstanden? Welche Möglichkeiten gibt es ‚Staat‘, ‚Demokratie‘ und ‚Freiheit‘ zu denken? Und wie lassen sich politische Ideengeschichte und politische Theorie für das Verständnis unserer Gegenwart nutzen?“ Ich spreche von Fach, weil an den politikwissenschaftlichen Instituten die Einführungsvorlesung zur Politischen Theorie zu den Pflichtveranstaltungen gehört. Ein Blick auf die Kataloge der Verlage zeigt sogar, dass der Markt für solche Publikationen entsprechend floriert: Geschichte der politischen Ideen: Von der Antike bis zur Gegenwart von Marcus Llanque, Politische Theorie 2: Von Rousseau bis Rawls (Grundzüge der Politikwissenschaft, Band 2932) von Christian Schwaabe, Grundkurs Philosophie / Politische Philosophie (Reclams Universal-Bibliothek) von Robin Celikates und Stefan Gosepath. Und dergleichen mehr. Aus dem starken bildungspolitischen Anspruch, der daraus folgt, erklärt sich in der Selbstdarstellung des oben erwähnten Jenaer Lehrstuhls der nachdrückliche Hinweis, dass selbst der methodische Pluralismus (gleichermaßen an den Grundsätzen des Kritischen Rationalismus wie an der Cambridge School ausgerichtet) „als essentieller Bestandteil der Politikwissenschaft als kritischer Demokratiewissenschaft betrachtet“ wird. Die Ideengeschichte ist also beileibe nicht bloß ein akademischer „Sprechakt“, um mit Quentin Skinner zu reden. Weil in unserer an der

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Republikanische Ideengeschichte

Wirkung und Rezeption orientierten Methodologie2 der plurinationale Ansatz eine grundlegende Rolle spielt, liefert wiederum ein Blick auf die französische Praxis der Ideengeschichte die Probe aufs Exempel dafür, dass die Ideengeschichte sich grundsätzlich nicht als rein akademischen Diskurs versteht. In seiner Präsentation der Études germaniques macht Charles Andler 1905 keinen Unterschied zwischen akademischen und außerakademischen Beiträgen. Er unterscheidet auch nicht zwischen den Beiträgen der Historiker, der Philosophen und der Komparatisten. In Andlers Konzept ist Germanistik im umfassendsten Sinn deutsche Kulturgeschichte. Sie umfasst die Geschichte, die Geographie, das philosophische, wissenschaftliche und politische Denken, die Literatur und die Künste. Bei Andler ist die Histoire des idées alles andere als ein Nebenfach oder eine Unterdisziplin: Sie entspricht den Études germaniques überhaupt, deckt deren ganze Bandbreite ab und bildet die Grundlage ihrer Identität. Auf deutscher Seite ist eine vergleichbare Ausdehnung zu beobachten: Unter dem Einfluss Diltheys wurde, zum Beispiel beim Literaturhistoriker Hermann August Korff, die Ideengeschichte als Kulturgeschichte verstanden und ihr kulturpolitischer Beitrag lässt sich durchaus mit dem französischen Pendant vergleichen. Korff publizierte 1923 sein heute noch (zumindest in der Germanistenzunft) für wichtig gehaltenes Opus magnum Geist der Goethezeit. Zum Konzept dieses Buchs schrieb er: „Das Buch ist also mit Bewußtsein Ideengeschichte, nicht in dem üblichen Sinne Literaturgeschichte (deren Eigenrecht damit in keiner Weise angetastet werden soll). Aber es ist Ideengeschichte mit einem besonderen Rechte, weil auf der Auffassung beruhend, daß nur durch eine ideengeschichtliche Betrachtung unsere klassisch-romantische Dichtung wesenhaft zu erleuchten ist.“3

Korff sah die Ideengeschichte als eine Geschichte, die über die Literaturgeschichte hinausgreift. Denn nach ihm sind die Gegenstände der Ideengeschichte in allen kulturellen Erscheinungen präsent. Nicht viel anders lässt 2 Vgl. folgende Darstellungen: Gérard Raulet, „Interdiskursivität als Methode der Literaturwissenschaft und der Ideengeschichte“, in: Kenichi Mishima / Hikaru Tsuji (Hrsg.), Deutschlandstudien international, Bd. 2, München: Iudicium, 1992, S. 135-155; ders., „Réflexions sur la pratique de l’histoire des idées“, in: Germanica, 26/2000 (S. 11-32); „›Histoire des idées‹. Überlegungen zu einem Nebenfach mit Schlüsselfunktion“, Deutsch als Fremdsprache, 32/2006 (S. 52-76). 3 Vgl. Heinz Gockel, Literaturgeschichte als Ideengeschichte. Vorträge und Aufsätze, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, S. 9.

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sich aufgrund von Michel Foucaults „Archiv“ der Ansatz der neueren Ideengeschichte definieren, die sich nicht mehr auf eine Herzählung der nennenswerten Monumente beschränken will, sondern diese in den allgemeinen Komplex der Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Zeit einschreibt. Im Mittelpunkt der disziplinären Identitätssuche der Histoire des idées steht dann freilich die Frage, wie sie ihre prätendierte philologische Verbindlichkeit mit den neuen kulturwissenschaftlichen Ansätzen in Einklang bringt. Die kulturwissenschaftliche Wende stellt dabei mehr als Pluri-, Multi- oder Interdisziplinarität dar. Bei der Multi- oder Pluridisziplinarität bewahren die an einem gemeinsamen Projekt beteiligten Disziplinen ihre Eigenständigkeit. Es kommt zu keiner Änderung in den Theoriegefügen und Objekten, der untersuchte Gegenstand wird nur unter verschiedenen, komplementären Gesichtspunkten erfasst. Selbst Interdisziplinarität im herkömmlichen Sinne bleibt ein durchaus konservatives Verfahren wissenschaftlicher Praxis, weil die disziplinären Grenzen durch rituelle Grenzüberschreitungen verfestigt werden. Hingegen führen die kulturwissenschaftlichen Ansätze dazu, dass etablierte Disziplinen ihre disziplinären Ränder und Grenzen neu zu konturieren beginnen. Das wirft die Frage auf, inwiefern die Ideengeschichte dieser Herausforderung gewachsen ist und ob sie ihr Rechnung tragen kann. In vielerlei Hinsicht ist die Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Untersuchungshorizonts inhaltlich wie methodisch mit Übertreibungen und Verstellungen konfrontiert. Zunächst das sog. cross mapping, das philologische Relevanz beansprucht, wiewohl es sich ausgesprochen auf das Feststellen von „Ähnlichkeiten“ zwischen ästhetischen Werken beschränkt. Zu begrüßen ist zwar die Bemühung, disparate Texte miteinander zu verbinden, weil sie durchaus in die Richtung von Foucaults Archiv geht, gegenüber einer philologisch ungeregelten Praxis wilder Intertextualität sind aber Bedenken anzumelden. Dies ist nun eine andere Debatte, zu der ich andernorts Stellung genommen habe und die nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Überlegungen steht. Sobald man die „Geschichte der Ideen“ derart in das Umfeld der ganzen „Kultur“ einschreibt, hört sie jedenfalls auf, eine reine geistesgeschichtliche Angelegenheit zu sein. Die Einbettung in den breiteren Kontext der von einer Epoche generierten Diskurse rückt die Ideengeschichte in die Nähe der Sozialgeschichte, wie sie in den USA als Sozialgeschichte der Ideen (social history of ideas) gefordert wurde und in der marxistischen Tradition als Ideologiekritik betrieben worden ist. Auch dies ist nun nicht die Argumentationslinie, die hier gewählt wird. Ich erkenne ihr ihre volle Gültigkeit zu, aber als solche kann sich die Ideengeschichte nicht in 478

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der Darlegung der ökonomisch-sozialen Bedingungen, sondern nur in der Analyse (und ggfs. Entlarvung) der diskursiven Strategien entfalten. Die Cambridge School versteht die Ideengeschichte(n) als politische Sprache(n) – womit im großen und ganzen dasselbe gemeint ist, vielleicht mit dem einzigen Unterschied, dass es in der Ideengeschichte, wie ich sie mir vorstelle, weniger um die sozio-ökonomische oder sozio-kulturelle Bestimmung, bzw. um die Generativität der Diskurse geht, als vielmehr um die Aktualisierung der langue durch die parole bzw. durch den Diskurs, der erst eigentlich die ideengeschichtliche und zugleich politische Positionierung bewirkt. Darin besteht m. E. der Unterschied zwischen Pocock und Michel Foucault. Bei genauem Hinsehen erweist sich die Auffassung des Archivs als Bedingungsrahmen und Vorrat an Ausdrucksmöglichkeiten als etwas ganz anderes als die noch sehr deterministisch aufgefasste Geschichte des Denkens als Geschichte des Sprechens bei Pocock.4 Bei Foucault gestaltet sich das Archiv als eine Dimension, die allgemein das Denkbare einer Epoche umfasst und die erst in der eigengesetzlichen Ökonomie seiner Aktualisierungen dieses Denkbare diskursiv umsetzt. Es verhält sich keineswegs so, als handelte es sich um eine Bedingung des Ausgedrückten durch – sagen wir: klassenideologische oder erkenntnistheoretische Grundannahmen. 2. Für Frankreich ist nun der ausgeprägte politische Charakter der Ideengeschichte eine Selbstverständlichkeit sowohl auf dem Gebiet der Geschichte politischer Ideen als auch im Sinn einer „Ideenpolitik“. Beide Ansätze lassen sich umso weniger trennen, als die Ideengeschichte ein offen bekundetes politisches Anliegen war, bei dem es um die Behauptung einer nachrevolutionären, also gesetzten Institutionalisierung der republikanischen Idee ging. Damit ist nichts anderes als der allgemeine ideengeschichtliche Rahmen der Dritten Republik umrissen. Der Zusammenhang zwischen Ideengeschichte und Republik ergab sich aus der Aufgabe, ein regierungsfähiges republikanisches Regime als Alternative sowohl zum Dritten Kaiserreich als auch zum Deutschen Kaiserreich zu behaupten. 4 Zur Kritik an Pocock s. Mark Brevir, „Geist und Methode in der Ideengeschichte“, in: Martin Mulsow / Andreas Mahler (Hrsg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 205f.

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Unter diesen Umständen befassten sich die französischen Republikaner nicht nur – und sogar weniger – mit dem Erbe Rousseaus als vielmehr mit einer Denktradition, die in ihren Augen mit der Reformation beginnt und in Kant ihren Höhepunkt erreicht. Einige, wie Charles Andler, verlängern diese Traditionslinie bis zum Sozialismus, andere (aber zum Teil sind es auch dieselben: Henri Lichtenberger, Edmond Vermeil) verbinden damit den Gedanken des „Prussianismus“, also eines preußischen Geistes, der die protestantische Moral – Verantwortung und Selbstbeherrschung – und den Machtgedanken zu einem unerhört effizienten Herrschaftsinstrument vereinigt habe. Dem sei das Second Empire unterlegen – ein Regime, dem sie als Vernunft- oder Gesinnungsrepublikaner freilich keineswegs nachtrauern, ebenso wenig wie sie natürlich das deutsche Kaiserreich als solches zu ihrem Ideal machen. Sie wollen zwar – in Marcus Llanques Termini – „den ideengeschichtlichen Status ihrer Gegenwart klären“, es kommt ihnen aber noch mehr darauf an, „Handlungsorientierung [zu] leisten“.5 Sie stellen die Überlegenheit der deutschen Geistesverfassung fest und sehen in ihr – angesichts der französischen Niederlage in Sedan – ein Modell, wenn man nur die preußischen Züge abstreift und sich auf die moralischen Ressourcen konzentriert. Diese Linie der ideengeschichtlichen politischen Sinnstiftung vertreten in ihren Schriften und in Zeitschriften wie die Critique philosophique oder die Revue bleue Denker wie Charles Renouvier oder der Kant-Übersetzer Jules Barni (der erste Übersetzer der Kritik der reinen Vernunft).6 Zu erforschen wäre, ob auf deutscher Seite die Geburt der kulturgeschichtlichen Orientierung bei Dilthey, Rickert und den Denkern der süddeutschen neukantianischen Schule in ähnlichem Maße von einem politischen (insb. bildungspolitischen) Projekt begleitet wird. Sehr nuanciert ist zu erkunden, in welchem Verhältnis diese kulturgeschichtliche Schule zum Mainstream des Historismus gestanden hat: ob sie ihn gestärkt oder unterhöhlt hat. Was den politisch (sozialdemokratisch) engagierten Flügel des Neukantianismus (etwa den Kant-Interpreten und Herausgeber Karl Vorländer) betrifft, ist eine solche Hypothese zumindest plausibel. Fest steht nämlich, dass hier Ideengeschichte und republikanisches Denken eine Verbindung eingehen und dass parallel zu bzw. in Konkurrenz mit dem allgemeinen historischen Diskurs eine andere politische Tradition inauguriert

5 M. Llanque, „Geschichte politischen Denkens oder Ideenpolitik“, S. 54. 6 Vgl. Gérard Raulet, Apologie de la citoyenneté, Paris: Cerf, 1999, S. 11ff.

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wird als diejenige, die gemäß der historistischen Linie zum Nachteil des republikanischen Gedankens eher die Rechte des „historisch Gewordenen“ verteidigt. Cassirers republikanischer Kampf stellt in dieser Hinsicht einen exemplarischen Fall von ideengeschichtlicher Diskursstrategie dar, die dem Unheil des reaktionären Historismus vorzubeugen versucht. Bei Cassirer zeigt sich, was es mit der politischen Bezeichnung des „Vernunftrepublikanismus“ eigentlich auf sich hat, wenn dieser sich als Republikanismus der Vernunft, als einen Republikanismus aus Vernunftprinzipien, behauptet. Cassirer engagiert sich nicht auf parteiliche Weise: Die Aufgabe der Philosophie bzw. der Universität besteht nicht darin, wie er es in der Rede über „Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte“ vom Juli 1930 betont, „die politischen Kämpfe zum Austrag“ zu bringen, sondern Schlüssel zu ihrem Verständnis zu erarbeiten. Der Essay Vom Mythus des Staates wird diese Auffassung des Verhältnisses der Philosophie zur Praxis folgendermaßen zuspitzen: „It is beyond the power of philosophy to destroy the political myths. A myth is in a sense invulnerable. It is impervious to rational arguments; it cannot be refuted by syllogisms. But philosophy can do us another important service. It can make us understand the adversary.“7

Insofern sind auch Cassirers politische Texte wie alle seine übrigen Produktionen ideengeschichtlich konzipiert und untermauert, was nun auch zur Folge hat, dass man sich, um seine politische Philosophie zu verstehen, auf die im engeren Sinne politischen Texte nicht beschränken kann. Die Probe aufs Exempel ist die 1916 veröffentlichte Sammlung von Aufsätzen Freiheit und Form. Nach Dimitri Gawronsky stellt Freiheit und Form Cassirers Antwort auf den preußischen Militarismus und den Ersten Weltkrieg dar.8 „Trotz seiner Überlastung im Dienste“, schreibt Toni Cassirer, „arbeitete er in seinem Büro an [Freiheit und Form] und schloß das Manuskript jeden Abend in seinem Schreibtisch im Kriegspresseamt ein [...]. Auf diese Weise rettete er für sich das Bild des unzerstörbaren, unvergänglichen Deutschland, das im

7 Ernst Cassirer, The Myth of the State, New Haven: Yale University Press, 1946, S. 296. 8 Dimitri Gawronsky, „Ernst Cassirer. Leben und Werk“, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), Ernst Cassirer, Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 1966, S. 23.

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Begriffe war, durch die Schlacken, die es ansetzte, ganz und gar unkenntlich zu werden“.9

Im Vorwort hebt Cassirer die kulturkritische Bedeutung seiner Studie hervor: Sie sei bemüht, „mitten in den schwersten Kämpfen um das politischmaterielle Dasein des deutschen Volkes die Frage nach seiner geistigen Wesensart und seiner weltgeschichtlichen Bestimmung“ 10 zu stellen. Ein sprechendes Beispiel von Ideengeschichte als politischer Sinnstiftung also. Nur anscheinend hat man es mit einem literaturwissenschaftlich-philosophischen Essay zu tun. Als solcher entspricht er aber genau der Aufgabe der Philosophie, wie Cassirer sie dann unter dem Druck der Umstände in seiner Rede über „Die Idee der republikanischen Verfassung“ ausdrücklich bestimmt hat. Diese Rede nimmt sich vor, das Verhältnis der Philosophie zur Praxis zu untersuchen, „wie es sich in den naturrechtlichen und staatsrechtlichen Gedanken des deutschen philosophischen Idealismus herstellt“.11 Die Frage, die sich Cassirer stellt, ist die, ob die „Revolution der Denkart“, die Kant in der Philosophie vollzogen hat, in irgendeinem Zusammenhang steht mit „der großen politischen Umwälzung“ der französischen Revolution. Von vorn herein betont er, dass man es mit zwei Gesetzmäßigkeiten zu tun hat, die man nicht leichter Hand kausal in Verbindung bringen kann: „Wir müssen zu den Quellen beider zurückgehen, um in ihnen den eigentlichen Punkt der Vereinigung zu finden.“12 Die Philosophieund Ideengeschichte erscheint demnach als ein ideologisch-politischer Kampfplatz und beileibe nicht als eine bloße Philologensache. Liest man sie aufmerksam und fragt man nach ihren philosophischen Implikationen, dann sind Cassirers politische „Gelegenheitstexte“ weit mehr als bloße ideengeschichtliche Plädoyers für das Naturrecht und den Republikanismus. Die Brisanz der Heraufbeschwörung der Naturrechtsidee im damaligen Kontext ist schon als solche unverkennbar. Anderthalb Jahre nach dem Ende seines Rektorats hielt Cassirer 1932 vor der „Juristischen Gesellschaft Hamburg“ noch einen Vortrag zum Thema „Vom Wesen und Werden des Naturrechts“. Darin wiederholte er seine Überzeu-

9 Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim: Gerstenberg, 1981, S. 119. 10 Ernst Cassirer, Freiheit und Form, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, S. XI. 11 Ernst Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, Hamburg: Friederichsen, 1929, S. 6 [im Folgenden: Idee]. 12 Ebd., S. 9.

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gung, dass die gesamteuropäische Entwicklung der Idee des Naturrechts die Basis geschaffen habe für einen normativ geregelten Umgang im nationalen sowie im internationalen Bereich. Doch die Bedeutung von Cassirers ideengeschichtlicher Vergegenwärtigung der Naturrechtstradition erschöpft sich auch nicht darin: Er rückt zugleich einen Aspekt in den Vordergrund, der sich in seiner Denkstrategie als entscheidend erweist, nämlich die Rückbesinnung auf Leibniz, mit dem schon das erste Kapitel von Freiheit und Form ansetzt. Der Rückgriff auf die Monadenlehre von Leibniz signalisiert nicht nur Cassirers Entscheidung, hinter Kant zurückzugehen und somit weiter auszuholen, um die europäische Tradition in ihrer ganzen Breite zu vergegenwärtigen, sondern die Art und Weise, wie Cassirer das Monadenmodell deutet, weist auf das Wagnis hin, „eine bürgerliche Gesellschaft ohne kategorischen Imperativ zu denken“.13 Cassirer verfolgt ein doppeltes Ziel: einerseits Leibniz als Vorgänger Kants zu deuten (dieser Ansatz ist bei ihm nicht neu, sondern schon in Das Erkenntnisproblem zu finden), andererseits die Spezifität der Monade hervorzukehren, an ihr die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung auszumachen und Leibniz zum Vorgänger und Verfechter der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums zu machen. Dadurch wird ein bestimmtes Republikanismuskonzept begründet – ein Konzept, das gegen die „französische“ Republikauffassung (die nun, wie gesehen, so wenig „französisch“ eingestellt war, dass sie sich eher an Kant und der protestantischen Tradition orientierte) eine weniger exklusive, weniger absolute, breiter angelegte und offenere geltend macht: kurzum eine liberale Republik. 3. Damit ist der Rahmen abgesteckt: Die Ideengeschichte hat mit der Republik zu tun, und umgekehrt, wohl aber auch mit verschiedenen RepublikKonzeptionen. Natürlich ließe sich spontan gegen eine solche massive Behauptung erwidern, dass es andere politische Traditionen – etwa die mon-

13 Enno Rudolph, „Symbol und Geschichte. Cassirers Kritik der Geschichtsphilosophie“, in: Wolfgang Vögele (Hrsg.), „Die Gegensätze schließen einander nicht aus, sondern verweisen aufeinander“. Ernst Cassirers Symboltheorie und die Frage nach Pluralismus und Differenz, Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 1999, S. 23 [Loccumer Protokolle 30/98].

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archische – gibt, die mit ihr konkurrieren und einen ähnlichen fundamentalen Status für die politische Ideengeschichte beanspruchen können. Eine bloß rhetorische Antwort auf diesen Einwand wäre der Hinweis darauf, dass die Konkurrenz der politischen Regierungsformen sich im Rahmen eines Oberbegriffs des res publica abspielt, dem die verschiedenen Regierungsformen von Monarchie, Aristokratie oder Demokratie sowieso untergeordnet sind. Wie man nun innerhalb dieses allgemeinen Rahmens die Verhältnisse zwischen dem Souverän und der Regierung bzw. zwischen der Legislative und der Exekutive gestaltet, macht den Unterschied zwischen der Republik im alten Sinn und dem modernen Republikanismus aus. Worauf es vor allem ankommt, ist die Alternative der liberalen oder der „radikalen“ Republik Rousseauscher Prägung. Bei den französischen Republikanern, die um die Bildung einer republikanischen politischen Kultur und um die Stabilisierung eines regierungsfähigen republikanischen Regimes kämpften, oder bei Cassirer, der das Aufkommen eines antidemokratischen Denkens abzuwehren versuchte und der zu diesem Zweck über die sich verfestigenden Fronten hinweg eine diskursstrategische République des lettres durch ein übergreifendes Bündnis der Gebildeten entwarf, handelte es sich aber nicht nur um einen allgemeinen Begriff der res publica. Es ging um die Selbstvergewisserung und Verteidigung der modernen Idee der Republik, was freilich – gerade wegen dieses Bündnisses – mehr Probleme nach sich zieht, als auf den ersten Blick aus den einschlägigen Texten Cassirers hervorgeht, weil es ja in der neuzeitlichen Tradition wenigstens zwei vorherrschende Auffassungen der Republik gegeben hat, bei denen es im engeren Sinn auch um zwei Konzepte der politischen Ordnung geht. Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte hat in sehr feinen interpretativen Rekonstruktionen diese beiden Varianten des neuzeitlichen politischen Denkens zu konturieren versucht. Sie hat dabei nicht nur den verschiedenartigen Bezug auf Denkmotive der antiken Republikauffassung rekonstruiert, sondern vor allem innerhalb der „modernen“ Republikauffassung der Gegenüberstellung zwischen einer „liberalen“ und einer „republikanischen“ Republikauffassung, die unsere politische Welt seitdem beherrscht, schärfere Umrisse gegeben. Egal welche politischen Interessen dem Unternehmen zugrundegelegen haben mögen: festzuhalten ist, dass wir ohne diesen zugleich philologischen und per se republikanischen Beitrag zur Aufklärung über die republikanische Idee sehr unbewaffnet dastehen würden gegenüber der gewaltigen Aufgabe, mit der es die (politische) Ideengeschichte aufzunehmen hat im Kontext der Ausein484

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andersetzungen nicht nur zwischen (Neo-)Liberalismus und Republik, sondern überdies zwischen allen Variationen des grundsätzlich liberalen, des anti-neoliberalen und des grundsätzlich republikanischen, aber öfters demokratisch-kommunitaristisch eingeengten Denkens, das den allgemeinen Hintergrund unserer Rechtsstaaten bildet. An der Darstellung der Bedeutung von Rousseau in der politischen Tradition lassen sich die konkurrierenden Lektüren am besten schematisch charakterisieren. Für Leo Strauss sind die Begründer des modernen Naturrechts Hobbes und Locke. Rousseau stellt hingegen den Eintritt in die Epoche einer Krise des modernen Naturrechts dar. Strauss deutet Rousseaus politische Philosophie als den Versuch, die Krise der Moderne mit den Mitteln der Moderne zu überwinden: „The first crisis of modernity occurred in the thought of Jean-Jacques Rousseau. Rousseau was not the first to feel that the modern venture was a radical error and to seek the remedy in a return to classical thought. It suffices to mention the name of Swift. But Rousseau was not a ‘reactionary’. He abandoned himself to modernity. One is tempted to say that only through thus accepting the fate of modern man was he led back to antiquity.“14

Die strategische Intention von Strauss fällt bei der Lektüre des RousseauKapitels seines Buchs Naturrecht und Geschichte nicht sofort auf, sondern erst wenn man sie, wie sein Schüler Heinrich Meier es exemplarisch getan hat, mit dem früheren Aufsatz von 1947 „On the Intention of Rousseau“ vergleicht, der sich mit der ersten Rede, dem Discours sur les sciences et les arts befasst, während das Kapitel aus Naturrecht und Geschichte sich auf die zweite Rede, den Discours sur l’inégalité bezieht. Auf den ersten Blick ist beiden Schriften ein ähnliches hermeneutisch-philologisches Vorgehen gemeinsam, das um die Rekonstruktion von Rousseaus „Absicht“ und der Kohärenz seiner Grundlegung seiner politischen Philosophie bemüht ist. Gegen ein solches hermeneutisches Postulat und gegen das Postulat der Kohärenz, das ihm zugrundeliegt, hat Quentin Skinner Einspruch erhoben und seine Einwände an zahlreichen Geschichten des politischen Denkens exemplifiziert, weil ja „dieses Verfahren […] dem Denken diverser klassischer Autoren eine Kohärenz und den Anschein eines geschlossenen Systems [verleiht], die sie möglicherweise niemals erreicht haben

14 Leo Strauss, Natural Right and History, Chicago: University of Chicago Press, 1953, S. 252.

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oder gar erreichen wollten“.15 Sehr wahrscheinlich würde Skinner die doppelgesichtige, esoterische und exoterische Methode von Strauss anzweifeln und das esoterische Vorgehen, die Erforschung der echten oder tieferen Intention nur als unendliche Annäherung gelten lassen. Im Unterschied zum Aufsatz von 1947 entwickelt Strauss in seinem Rousseau-Kapitel ganz bewusst die andere Interpretationsstrategie, der es weniger auf die „Wahrheit“ von Rousseaus Intention ankommt als auf das, was sie für unseren Umgang mit der Moderne bedeuten kann: „Der Schlußsatz des ersten Paragraphen schlägt den Bogen zu Nietzsche, der Rousseaus ‚attack on modernity‘ etwas mehr als ein Jahrhundert später wiederholen sollte und ‚„who thus ushered in the second crisis of modernity – the crisis of our time.“16 Heinrich Meier kommentiert: „Im Vordergrund steht die archäologische Sicht, die immer schon sieht, was aus Rousseaus Philosophie hervorgehen, was auf ihr aufbauen, was sie umformen und überlagern wird. Das Interesse an der Rekonstruktion des Entwicklungsganges, der von Rousseau bis zur Krisis der Gegenwart zurückgelegt wurde, übernimmt die Führung. Kant und Hegel, Marx und Nietzsche, die Romantik und der Historismus werden bei der Interpretation von Rousseaus Denken nicht nur stets mitbedacht, sondern in die Darstellung miteinbezogen.“17

Die Vergegenwärtigung einer ideengeschichtlichen Tradition oder eines Moments in ihr gehorcht immer einem handlungsorientierenden Interesse. In Marcus Llanques Formulierung: „Die Frage lautet hier, wer zu den Ahnherren dieser Idee zählt und bei wessen Denken man sich ihres Kerns vergewissern soll. John Rawls etwa wertet Rousseau neben Hobbes und Locke als gleichrangigen Bestandteil dieser Tradition, die er liberal deutet. Wolfgang Kersting dagegen will Rousseau aus dieser Tradition exkludieren, weil ihm die individualistische Orientierung gefehlt habe. Die Interpretation eines Autors der politischen Ideengeschichte erfolgt so im Lichte der inhaltlichen Interpretation der Tradition, in deren Geltungsraum er gestellt wird.“18

15 Quentin Skinner, „Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte“, in: Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin: Suhrkamp, 2010, S. 21-87, Zitat S. 39. 16 Heinrich Meier, Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die Intention des Philosophen, Stuttgart u. Weimar: Metzler, 1996, S. 35. 17 H. Meier, ebd. 18 M. Llanque, „Geschichte politischen Denkens oder Ideenpolitik“, S. 56.

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Kurzum: „Die Frage, was ausgesagt wird, lässt sich zumindest in politischer Kommunikation nicht entkoppeln von der Frage, für wen und innerhalb welcher Horizonte politische Aussagen gemacht werden.“19 Es gibt gerade deshalb gute Gründe, an der Möglichkeit einer Trennung des Esoterischen und des Exoterischen, bzw. einer Unterscheidung zwischen der Hermeneutik einer Tradition und ihrer ideenpolitischen Mobilisierung zu zweifeln, wie sie Llanque zusammengefasst hat: „Traditionen werden in der Geschichte des politischen Denkens (re-) konstruiert, um ihre Faktizität im historischen Ablauf zu demonstrieren, wohingegen sie in der Ideenpolitik aufgearbeitet werden, um ihren Verpflichtungsgrad zu revitalisieren.“20 Innerhalb der liberalen Tradition spielt Rousseau bei Michael Walzer freilich eine ganz andere Rolle als in der Interpretation von Rawls, insofern als Walzer die Gerechtigkeit als gerechte Umverteilung versteht. Wie für Rousseau bedeutet für ihn Gerechtigkeit, die dem Menschen angeborene Gleichheit und Freiheit gesellschaftlich zu verwirklichen: „Wir können […] ihn [den Gesellschaftsvertrag] kennzeichnen als eine Übereinkunft, die Mittel der Mitglieder umzuverteilen gemäß einem gemeinsamen, im Detail der ständigen politischen Neubestimmung unterworfenen Verständnis von deren Bedürfnissen. Der Vertrag ist ein moralisches Band. Er verbindet die Starken mit den Schwachen, die Glücklichen mit den Unglücklichen, die Reichen mit den Armen, indem er eine Union, eine Gemeinsamkeit, herstellt, die, alle Interessenunterschiede überwindend, ihre Stärke aus Geschichte, Kultur, Religion, Sprache, usw. bezieht.“21

Das unterscheidet seine als kommunitaristisch bezeichnete Position, die auf die Gemeinsamkeit den Akzent setzt, von jener eines John Rawls, der mit seinen zwei Prinzipien der Gerechtigkeit die Ebenen des Gerechten und des Guten und Wünschbaren voneinander trennt. Rawls stimmt hierin mit Kant überein, der im zweiten Abschnitt seiner Abhandlung „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ die Selbständigkeit des Bürgers von dem Eigentum und der Verteilung der Güter entkoppelt. Das Kriterium der Staatsbürgerlichkeit, d.h. der Fähigkeit, als Mitgesetzgeber zu agieren, ist die Selbstständigkeit (sibisufficentia) und „hier sind nun Kunstverwandte und große (oder klei-

19 Ebd., S. 57. 20 Ebd., S. 59. 21 Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a.M.: Campus, 1992, S. 133.

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ne) Gutseigentümer alle einander gleich“.22 Politische und ökonomische Gerechtigkeit sollen streng voneinander getrennt bleiben, während Rousseau eher dazu neigt, die politische Tugend von einem enthaltsamen Umgang mit Gütern abhängig zu machen und in diesem Sinn die materielle Gleichheit zu einer Voraussetzung der politischen zu machen, selbst wenn er in seiner zweiten Rede, genauso wie Kant, Leben und Freiheit im Gegensatz zum materiellen Reichtum als unveräußerliche Güter ansieht.23 Es gilt für Rousseau, einen Machtanspruch, der aus den Eigentumsverhältnissen resultieren könnte, zu verhindern. Ziel des Souveräns muss es deswegen sein, keine Kluft zwischen formalem Recht und materialer Gleichheit entstehen zu lassen. Der Contrat social geht davon aus, dass eine demokratische Regierungsform „weitgehende Gleichheit der gesellschaftlichen Stellung und der Vermögen“ voraussetzt. Aus allen diesen Gründen kann man nur cum grano salis von „einer“ französisch-deutschen Tradition des Republikanismus reden. Bei Philip Pettit ist die Einschränkung dieser von ihm selbst geschaffenen Pauschalisierung nicht unbedeutend: Er definiert „the Franco-German tradition“ als „the republican way of thinking that was associated with Jean-Jacques Rousseau and to a somewhat lesser extent, Immanuel Kant“.24 Es gibt allerdings zwischen Rousseau und Kant ein gemeinsames Moment, das den harten Kern des radikalen Republikanismus bildet. Wie Kant ersetzt Rousseau die Gründung des gesellschaftlichen Zustands auf das Naturrecht durch den vernünftigen Akt der Staatsgründung. Auch Leo Strauss hat diesen Aspekt des Rousseauschen Denkens deshalb richtig hervorgehoben, weil nur dieser Akt imstande ist, die Hobbes’sche Auffassung der Entstehung des Staates abzulösen:

22 Immanuel Kant, Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden: Insel, 1964, Bd. VI, S. 151. Dazu G. Raulet, Kant: Histoire et citoyenneté, Paris: Presses universitaires de France, 1996, S. 169-172. 23 „Puffendorff dit que tout de même qu’on transfère son bien à autrui par des conventions et des contrats, on peut aussi se dépouiller de sa liberté en faveur de quelqu’un. C’est là, ce me semble, un fort mauvais raisonnement. […] [Le] droit de propriété n’étant que de convention et d’institution humaine, tout homme peut à son gré disposer de ce qu’il possède: mais il n’en est pas de même des dons essentiels de la nature, tels que la vie et la liberté.“ (De l’inégalité parmi les hommes, in: Du Contrat social, Paris: Garnier, 1963, S. 84) 24 Philip Pettit, „Two Republican Traditions“, in: Andreas Niederberger / Philipp Schink (Hrsg.), Republican Democracy: Liberty, Law and Politics, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2013, S. 169-204, S. 176.

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„His conception of the state of nature points toward a natural right teaching which is no longer based on considerations of man’s nature, or it points toward a law of reason which is no longer understood as a law of nature. Rousseau may be said to have indicated the character of such a law of reason by his teaching concerning the general will, by a teaching which can be regarded as the outcome of the attempt to find a ‘realistic’ substitute for the traditional natural law.“25

Es ist dieses Moment, das dem Republikanismus seine Spezifität im Vergleich mit allen anderen rechtsstaatlichen und parlamentarischen Ordnungen verleiht. Kant greift es auf in den ersten Zeilen seines Anti-Hobbes, d.h. des zweiten Abschnitts der Abhandlung von 1793 „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“. Diese auf eine Verfassung gegründete rechtliche Ordnung, die ohne Ausnahme für alle verbindlich und verpflichtend ist, unterscheidet sich grundsätzlich von einem privatrechtlichen Vertrag. Wie fiktiv er nun auch ist – wie es bei Kant ausdrücklich, bei Rousseau genauer besehen, trotz der Kapitel V und VI im ersten Buch des Contrat social26, auch der Fall ist –, hat freilich dieser absolute Gründungsakt den Nachteil, die republikanische Idee mit einem Homogenitätsanspruch zu belasten, der sich heutzutage immer mehr an der Pluralität der Meinungen stößt. Diese Feststellung lag bereits den Überlegungen von Tocqueville über die Geschichte der Demokratien und den Lehren, die er aus dem amerikanischen Vorbild zog, zugrunde. Die Rezeption seiner Gedanken spielte deshalb in der liberalen Tradition insgesamt und, was Deutschland betrifft, in der politischen Debatte in den ersten Jahren der BRD eine entscheidende Rolle, insbesondere in Ernst Fraenkels Verteidigung des Pluralismus zugleich gegen Carl Schmitt und gegen Rousseau. Bei Ralf Dahrendorf, Carlo Schmid oder Iring Fetscher, die recht kontrastierte ideologische Positionen vertraten, bilden Rousseau und Tocqueville ein Gegensatzpaar, wobei diese drei Autoren trotz ihrer politischen Divergenzen in ihrer Ablehnung von Rousseau einstimmig sind.27 Indem sie ihre Kritik auf Rousseau konzentrierten, sind die bundesdeutschen Intellektuellen in die Fußstapfen ihrer Vorgänger der Weimarer Republik – die ebenso we-

25 L. Strauss, Natural Right and History, S. 276. 26 Resp. „Qu’il faut toujours remonter à une première convention“ und „Du pacte social“. 27 Hierzu Daniel Schulz, Die Krise des Republikanismus, Baden-Baden: Nomos, 2015, Kap. 5.

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nig alle reaktionär gesinnt waren – getreten.28 Auch Claus Offe, deren Kritik der repräsentativen Demokratie sich in den 1980er Jahren zu einer Kritik am Mehrheitsgesetz entwickelt, verbreitet durch eine zugleich sehr stereotypische Behandlung des Gegensatzes zwischen einer liberalen und einer strengeren, durch das Gesetz der Mehrheit als Souverän begründeten republikanischen Ordnung ein verzerrtes Bild des französischen Republikanismus. Wenn sowohl Offes partizipatorische Bürgergesellschaft als auch Habermas’ deliberativer Prozeduralismus republikanische Momente aufgreifen, die das Demokratiekonzept beträchtlich radikalisieren, scheinen sie nach wie vor gegen die Idee eines – wie auch immer fiktiven, rein konstitutionellen, jedoch absoluten – Gründungsakt republikanischer Souveränität Vorbehalte zu haben. Dem Rousseauschen allgemeinen Willen werfen sie vor, immer schon im Voraus konstituiert zu sein und deshalb einen dezisionistischen Charakter zu besitzen. Sie setzen ihm den Prozess politischer Entscheidungsfindung. Bei genauerem Hinsehen verweist diese klassische Debatte auf die Hauptfront zwischen Liberalismus und Republikanismus: den Freiheitsgedanken. Aus der Rousseauschen Begründung des gesellschaftlichen Zustands und der politischen Ordnung folgt, dass diese auf einer unveräußerlichen Freiheitsidee beruhen müssen. Leo Strauss gibt den Rousseauschen Gedankengang in folgenden Worten wieder: „Rousseau could not have maintained the notion of the state of nature if the depreciation or ex-inanition of the state of nature which he unintentionally effected had not been outweighed in his thought by a corresponding increase in the importance of independence or freedom […]. According to Rousseau, however, freedom is a higher good than life. […] [H]e suggests that the traditional definition of man be replaced by a new definition according to which not rationality but freedom is the specific distinction of man.“29

Was Strauss hier umreißt, ist die charakteristische republikanische Auffassung der Freiheit. Den Autoren der Cambridge School haben wir zu verdanken, dass sie maßgeblich dazu beigetragen haben, diesen prinzipiellen Gegensatz wieder geltend zu machen. Es ist die Auffassung der Republik, die Philip Pettit wieder in aller Deutlichkeit der liberalen gegenüberge-

28 Zur Rousseau-Rezeption der 1920er und 1930er Jahre s. G. Raulet, „›C’est la faute à Rousseau‹. Die Rousseau-Rezeption und das deutsch-französische Verhältnis im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: Politisches Denken, Jahrbuch 2012, S. 99-128, und den Rousseau-Beitrag in zweiten Teil des vorliegenden Bandes. 29 L. Strauss, Natural Right and History, S. 278f.

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stellt hat. Die German-French Tradition, wie er sie versteht, beruht auf der Forderung der Freiheit von Herrschaft (non-domination): „[T]he idea that the state is founded in a concern for the equal liberty of its citizens and, in particular, that such freedom or liberty consists in not having to live under the will of another: that is, not being subjected to, or dominated by, another.“30

Pettit unterstreicht die enge Verwandtschaft zwischen Rousseaus und Kants Konzept: Selbständigkeit, Autonomie, „being one’s own master“.31 Bei allen Unterschieden steht für ihn insgesamt fest, dass „Rousseau and Kant kept faith, in their different ways, with the republican conception of freedom as nondomination“.32 Damit ist der grundsätzliche Streit umrissen zwischen einer negativen und einer positiven Freiheitsidee – ein Gegensatz, der auf Isaiah Berlins berühmte Vorlesung über „Two Concepts of Liberty“ (Berlin 1969) zurückgeht. Freiheit ist nicht nur die Behebung der Hindernisse (absence of obstacles), die der Ausübung der individuellen Freiheit im Wege stehen – in John Stuart Mills Worten: „The only freedom which deserves the name is that of pursuing our own good in our own way, so long as we do not attempt to deprive others of theirs.“33 Nach Pettit bildet diese negative Definition der Freiheit als „non interference“ den gemeinsamen Nenner aller liberalen Theorien: „Liberalism has been associated over the two hundred years of its development, and in most of its influential varieties, with the negative conception of freedom as the absence of interference, and with the assumption that there is nothing inherently oppressive about some people having dominating power over others, provided they do not exercise that power and are not likely to exercise it.“34

Dagegen wendet er ein, dass echte Freiheit nur dann gegeben ist, wenn auch die bloße Möglichkeit ihrer Einschränkung durch einen Anderen ausgeschlossen ist – eine Voraussetzung, die für ihn wie für Rousseau nur durch ein gemeinsames Gesetz, dem alle in gleichem Maße unterworfen sind, erfüllt werden kann: „To enjoy such non-domination, after all, is just

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P. Pettit, “Two Republican Traditions”, S. 176. Ebd., S. 177. Ebd., S. 179. John Stuart Mill, „On Liberty“ (1859), in: On Liberty and Other Essays, ed. by John Gray, Oxford: Oxford University Press, 1991, S. 17. 34 P. Pettit, Republicanism. A Theory of Freedom and Government, Oxford: Clarendon Press, 1997, S. 8f.

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to be in a position where no one can interfere arbitrarily in your affairs, and you are in that position from the moment that the institutions are in place.“35 Herrschaft hört erst dann auf, wenn die Macht des Gesetzes den Willen eines oder mehrerer Einzelnen ersetzt. Die Bedeutung, die somit dem Gesetz gegeben wird, macht den zweiten grundlegenden Unterschied zwischen Republikanismus und Liberalismus aus: Seit Hobbes muss für letzteren die Begrenzung der Freiheit durch das Gesetz nur deshalb akzeptiert werden, weil die Abwesenheit des Gesetzes ein noch größeres Übel, eben den Verlust der Freiheit oder gar den Tod, verursachen würde. Für Rousseau und die sich auf ihn berufende republikanische Tradition steht hingegen fest: „Im Gesellschaftsvertrag verliert der Mensch seine natürliche Freiheit und ein unbeschränktes Recht auf alles, was er anstrebt und was er erreichen kann; er gewinnt im Gegenzug seine bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was ihm gehört. […] Man könnte dem Gesagten noch hinzufügen, daß wir mit dem Erwerb des bürgerlichen Standes auch sittliche Freiheit gewinnen, die allein den Menschen wirklich zum Herrn seiner selbst macht; denn der Antrieb des bloßen Begehrens ist Sklaverei, nur der Gehorsam vor dem Gesetz, das man sich selber gegeben hat, ist Freiheit.“36

35 Ebd., S. 107. 36 Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social, S. 247.

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Die Autoren

Wolfgang Bialas, Dr. sc. phil., Philosoph und Historiker, freiberuflicher Dozent und Übersetzer. Manfred Gangl, Dr. phil., 1992-2012 Maître de conférences an der Université d’Angers; ab 2015 Lehrbeauftragter an der Hochschule Fulda, Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften; Mitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar seit 1982. Frauke Höntzsch, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft / Politische Theorie der Universität Augsburg. Marcus Llanque, Professor für Politische Theorie an der Universität Augsburg. Reinhard Mehring, Prof. für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Daniel Meyer, Prof. für deutsche Ideen- und Kulturgeschichte an der Universität Paris Est Créteil, dort Leiter der Forschergruppe Culture Allemande dans l’Espace Culturel Européen – IMAGER. Mitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar. Martin Oppelt, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Political Philosophy and Theory der Hochschule für Politik an der Technischen Universität München. Bruno Quélennec, Dr. phil., Post-Doktorand an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS, Paris). Mitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar. Benjamin Pinhas, Dr. phil., Promotion an der Sorbonne (Sorbonne Université), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Fremdsprachen der Université de Lille. Mitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar.

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Die Autoren

François Prolongeau, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter in deutscher Ideengeschichte an der Sorbonne (Sorbonne Université). Mitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar. Gérard Raulet, em. Prof. für deutsche Ideengeschichte an der Sorbonne (Sorbonne Université), Forschungsprogrammleiter an der Stiftung Maison des sciences de l’homme (Paris), IFK Fellow (Wien). Christian Roques, Dr. phil., Maître de conférences an der Université de Reims - Champagne-Ardenne, Mitglied der Groupe de recherche sur la culture de Weimar (FMSH Paris). Daniel Schulz, Dr. phil. habil., Privatdozent und Vertreter des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden. Alfons Söllner, em. Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz. Ellen Thümmler, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politische Theorie und Ideengeschichte der Technischen Universität Chemnitz. Rieke Trimҫev, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Universität Greifswald.

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