Grenzen des Sag- und Zeigbaren: Humor im Bild von 1900 bis heute 9783534404179, 9783534404193, 9783534404186, 3534404173

Das in der Bildsatire Sag- und Zeigbare ist das Ergebnis ständiger Aushandlungsprozesse, welche die Grenzen des Akzeptab

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Grenzen des Sag- und Zeigbaren: Humor im Bild von 1900 bis heute
 9783534404179, 9783534404193, 9783534404186, 3534404173

Table of contents :
Cover
Impressum
Inhalt
Vorwort
Theorie und Stilmittel
Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire
Das visuelle Skript – ein Instrumentarium für die Analyse von Humor im Bild
Visueller Humor als Kritik und Ausgrenzung am Beispiel der Postkartenserie „Der kleine Cohn“ – Entwicklung einer Humortheorie
Feindbilder, Grausamkeit und Gewalt
Mit satirischen Mitteln gegen Antisemitismus? – Die Zeitschrift „Schlemiel“ (1903–1924)
Wilhelm Buschs Bestialitäten: Die Bildergeschichte „Monsieur Jacques“ im Spiegel der Bildsatire des Pariser Hungerwinters 1870/ 71
Exzess, Attraktion, Subversion - Zur Wechselwirkung von Gewaltdarstellung und Komik im Spielfilm
Normbrüche und gesellschaftliche Tabus
Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons
Mit dem System oder dagegen?
„Taten besiegen Tinte“? Propagandistische Demontagen antifaschistischer Bildsatiren in der NS-Zeit
Karikatur und Widerstand in Iran. Perspektiven einer Visuellen Ethnologie des Politischen
Skandale und andere Grenzüberschreitungen
Provokation oder Kampf um republikanische Werte? Charlie Hebdo und die Grenzen des Sag- und Zeigbaren im sogenannten „Karikaturenstreit“
Die parasitäre Komik gegenwärtiger Mediensatire: Neo Magazin Royale
Grenzüberschreitender Humor im Pass-, Schrift- und Weltbild in Marc-Uwe Klings Känguru-Trilogie
Autorenportraits
Backcover

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Antonia Gießmann-Konrads, Dr. phil., studierte Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Deutsche Philologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen beschäftigt.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40417-9

Grenzen des Sag- und Zeigbaren

Frank Becker, Dr. phil., ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität DuisburgEssen. Aktuell forscht er zur Geschichte der politischen Kultur, zu historischem Zukunftshandeln und zum Umgang von Gesellschaften mit Ambiguität.

Becker / Gießmann-Konrads

Dieser interdisziplinär angelegte Band versammelt unterschiedliche Perspektiven auf das im Humor Sag- und Zeigbare. Gerade hieraus entstehen innovative Perspektiven für die Erforschung visuellen Humors: Wie verändern sich die Grenzen des Sagund Zeigbaren im Zeitverlauf? Nationale, kulturelle und epochenspezifische Besonderheiten werden dabei genauso thematisiert wie die Herstellungspraktiken von Satire – im Horizont der Frage, wann „Humor im Bild“ in Konflikte mit seiner politischsozialen Umwelt geriet.

Frank Becker Antonia Gießmann-Konrads (Hrsg.)

Grenzen des Sag- und Zeigbaren Humor im Bild von 1900 bis heute

Frank Becker Antonia Gießmann-Konrads (Hrsg.)

Grenzen des Sag- und Zeigbaren

Frank Becker Antonia Gießmann-Konrads (Hrsg.)

Grenzen des Sag- und Zeigbaren Humor im Bild von 1900 bis heute

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildung: Lustige Blätter, Nr. 1, 5. Januar 1910, S. 31 © Universitätsbibliothek Heidelberg Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40417-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40419-3 eBook (epub): 978-3-534-40418-6

Inhalt Vorwort .................................................................................................................................................... 7

Theorie und Stilmittel Dietrich Grünewald: Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire .............. 10 Antonia Gießmann-Konrads: Das visuelle Skript – ein Instrumentarium für die Analyse von Humor im Bild ............................................................................................................... 35 Clemens Schwender: Visueller Humor als Kritik und Ausgrenzung am Beispiel der Postkartenserie „Der kleine Cohn“ – Entwicklung einer Humortheorie ..................................... 49

Feindbilder, Grausamkeit und Gewalt Regina Schleicher: Mit satirischen Mitteln gegen Antisemitismus? – Die Zeitschrift „Schlemiel“ (1903–1924) .......................................................................................... 61 Martin Knauer: Wilhelm Buschs Bestialitäten: Die Bildergeschichte „Monsieur Jacques“ im Spiegel der Bildsatire des Pariser Hungerwinters 1870/​71 ........................................................ 73 Jakob Larisch: Exzess, Attraktion, Subversion. Zur Wechselwirkung von Gewaltdarstellung und Komik im Spielfilm ................................................................................... 101

Normbrüche und gesellschaftliche Tabus Claudia Gottwald: Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons .................................................................................... 119

Mit dem System oder dagegen? Andrea Albrecht und Jens Krumeich: „Taten besiegen Tinte“? Propagandistische Demontagen antifaschistischer Bildsatiren in der NS-Zeit........................................................... 137 Mirco Göpfert: Karikatur und Widerstand in Iran. Perspektiven einer Visuellen Ethnologie des Politischen................................................................................................................. 156

Skandale und andere Grenzüberschreitungen Carina Gabriel-Kinz: Provokation oder Kampf um republikanische Werte? Charlie Hebdo und die Grenzen des Sag- und Zeigbaren im sogenannten „Karikaturenstreit“ ............................................................................................................................. 173 5

Nils Jablonski: Die parasitäre Komik gegenwärtiger Mediensatire: Neo Magazin Royale....................................................................................................................204 Carolin Haupt: Grenzüberschreitender Humor im Pass-, Schrift- und Weltbild in Marc-Uwe Klings Känguru-Trilogie............................................................................................. 224 Autorenportraits.................................................................................................................................. 245

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Vorwort „Was darf die Satire? Alles!“ – so das bekannte Zitat des Schriftstellers Kurt Tucholsky aus seinem gleichnamigen Artikel, der im Januar 1919 im Berliner Tageblatt erschien. Tucholsky ging es vor allem um den Umgang der deutschen Gesellschaft mit Satire, den es seiner Ansicht nach zu hinterfragen galt. Denn durch „ständische[n] Dünkel“ würden manche Themen und Zielgruppen der Satire entzogen, so die Kritik. Folglich endete der Artikel mit der provokanten Aussage, Satire dürfe „alles“.1 In den Debatten über die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“, den terroristischen Angriff auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo oder die „Böhmermann-Affäre“ diente das Tucholsky-Zitat immer wieder als Aufhänger, um die Frage nach den umstrittenen Grenzen von Satire zu stellen. Die hitzig geführten Debatten und ihre Folgen zeigen, dass Grenzverletzungen auch scharf sanktioniert werden. Vor allem nach öffentlichkeitswirksamen Satire-Skandalen wird immer wieder kontrovers diskutiert, welche Zielscheiben und Darstellungsweisen möglicherweise illegitim sind – so auch im Frühjahr 2019, als die New York Times für den Abdruck einer Karikatur des portugiesischen Zeichners António Moreira Antunes scharf kritisiert wurde. Die Karikatur zeigte einen erblindeten Donald Trump mit Kippa, der von dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu – dargestellt als Blindenhund mit Davidstern – hinter sich hergezogen wird. Vor dem Hauptsitz der New York Times kam es zu Protesten, und auch auf Social-Media-Kanälen hagelte es Kritik. Diese heftigen Reaktionen auf die Karikatur, deren Bildsprache, so der Vorwurf, antisemitisch sei, ja derjenigen des berüchtigten NS-Blattes „Der Stürmer“ ähnele, führten dazu, dass sich die Herausgeber entschuldigten und die Veröffentlichung als einen redaktionsinternen Fauxpas bzw. eine „Fehleinschätzung“ bezeichneten. Man werde mit den hauseigenen Cartoonisten, dem in Genf lebenden Patrick Chappatte und Heng Kim Song aus Singapur, künftig nicht mehr zusammenarbeiten und ab Juli 2019 überhaupt keine politischen Karikaturen mehr veröffentlichen.2 „The power of images has never been so big“3, bedauerte dies Chappatte daraufhin in einem flammenden Appell für den Fortbestand politischer Karikaturen.

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Was darf die Satire?, in: Berliner Tageblatt, Nr. 36, Abend-Ausgabe, 27.01.1919, S. 2. Vgl. z. B. Lars von Törne/​Markus Ehrenberg, Schluss mit lustig. „New York Times“ stoppt Karikaturen, 18.05.2020, https://​www.tagesspiegel.de/​kultur/​comics/​schluss-mit-lustig-new-york-times-stoppt-karikaturen/​24443198.html. Patrick Chappatte, The end of political cartoons at The New York Times, 18.05.2020, https://​www.chappatte.com/​en/​the-end-of-political-cartoons-at-the-new-york-times/​.

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Vorwort

Der hier aufgeworfenen Problematik spürte die interdisziplinäre Konferenz „Grenzen des Sag- und Zeigbaren – Humor im Bild von 1900 bis heute“ vom 27. bis 29. Juni 2019 in Essen nach. Die Ergebnisse der Tagung trägt der vorliegende Band zusammen. Neben der politischen Karikatur – dem in diesem Zusammenhang sicherlich prominentesten Medium – finden auch andere Bildgattungen wie Cartoons, Filme und Fernsehsendungen Beachtung. Nationale, kulturelle und epochenspezifische Besonderheiten werden dabei genauso thematisiert wie die Praktiken der Erzeugung von Satire und die Frage, wann „Humor im Bild“ in Konflikte mit seiner politisch-sozialen Umwelt geriet. Die historische Forschung hat sich bisher nur am Rande mit dem Thema „Humor im Bild“ beschäftigt und ist nach wie vor auf die Expertise von Nachbardisziplinen angewiesen. So wurde bei der Konferenz der Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern der Literatur- und Sprachwissenschaft, der Kommunikations- und Medienwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Ethnologie gesucht. In der Folge verknüpften sich unterschiedliche Fragehorizonte und Perspektiven. Dabei wurde sichtbar, dass sich die Grenzen des Sag- und Zeigbaren im Zeitverlauf verändern; sie sind das Ergebnis ständiger Aushandlungsprozesse. Tabubrüche führen dazu, dass sich Grenzen verschieben oder verfestigen. Welche Prozesse der Inklusion und Exklusion jeweils ausgelöst werden, hängt von Machtlagen, gesellschaftlichen Hierarchien und kulturellen Normsetzungen ab. Nur solche Kontextualisierungen machen den Humor im Bild – und seine Folgen – letztlich verständlich. Die Frage, wie bei der Analysen genau zu verfahren sei, wurde von den Beiträgerinnen und Beiträgern unterschiedlich beantwortet. Angesichts der diversen fachlichen Blickwinkel konnte dies nicht überraschen. Auch der Tagungsband strebt keine theoretisch-methodische Geschlossenheit an. Vielmehr versteht sich das Buch als ein Diskussionsband, der ein Forschungsfeld vermisst, auf dem noch vieles in Bewegung ist. Der Dank der Herausgeber gilt der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, die die Tagung und Buchveröffentlichung mit finanziellen Zuschüssen gefördert hat. Wir möchten außerdem Prof. Dr. Tom Oliver Kindt (Fribourg), Dr. Michaela Haibl (Dortmund), Prof. Dr. Andreas Böhn (Karlsruhe), Rangel Trifonov (Köln), Dr. Detlev Mares (Darmstadt), apl. Prof. Dr. Melanie Ulz (Osnabrück) und Nina Heindl M.A. (Köln) unseren Dank aussprechen, die die Sektionen der Konferenz kommentiert und dabei wichtige Anregungen gegeben haben. Martina Kessel (Bielefeld) hat mit ihrer Keynote Speech „Lachen im Bild. ‚Humor‘ als Gewaltpraxis und Un/​Sichtbarkeitsregime, 1914/​1945“ dafür gesorgt, dass auch die dunkle Seite von Witz und Gelächter die gebotene Beachtung fand. Eine große Hilfe bei der Organisation und Durchführung der Tagung waren Stephanie Hück, Max Keilhau, Hanna Schöneweiß und Nina Szidat (alle Essen). Auf Verlagsseite hat Jens Seeling die Publikation des Bandes umsichtig begleitet. Essen, im Mai 2020 Frank Becker und Antonia Gießmann-Konrads 8

Theorie und Stilmittel

Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire Dietrich Grünewald Karikatur ist visuelle Satire und damit subjektiver kritischer Kommentar. Sie will wirksam sein, Menschen erreichen und zum Nachdenken bringen. Um Wirkung erzielen zu können, muss sie zunächst wahrgenommen werden, also Aufmerksamkeit erregen und dann möglichst anschaulich und interessant wirken, wobei auch das unterhaltende Moment als motivierendes Mittel wichtig ist, damit die nötige Rezeptions- und Interpretationsarbeit überhaupt aufgenommen und durchgehalten wird. Im Ulenspiegel, der 1945 in Berlin gegründeten satirischen Nachkriegszeitschrift, sucht das Helmut Beyer mit dieser Zeichnung.

Abb. 1: Helmut Beyer: Vor der Diagnose. „Da, da tut’s noch weh“, Ulenspiegel 2/​1947 10

Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire

Sie zeigt die Welt als menschliche Figur, als Frauengestalt, die als Patientin ihren Rock heruntergelassen hat, die Schmerzen fühlen und auch lokalisieren kann, wo sie spürbar sind. Der Betrachter kann das übertragen und geografisch identifizieren: gemeint ist Deutschland. Da „tut es weh“, denn die deutsche Frage, die Situation Deutschlands ist nicht geklärt und schmerzt. Empfunden von den Menschen, die dort leben. Die Ärzte sind nicht näher gekennzeichnet; da es vier sind, kann man auf die Alliierten schließen. Die Aussage an sich ist nicht sonderlich originell und schon gar nicht komisch; zudem tut es, um im Bild zu bleiben, der Welt damals wie heute an vielen Stellen weh. Und doch schmunzeln wir, wenn wir die Zeichnung sehen – denn sie wirkt in ihrem cartoonierten Zeichenstil humorvoll – auch wenn die inhaltliche Information eher traurig ist. Das Bild von der kranken Welt findet sich oft. So nutzt es der Argentinier Qunio in seiner satirischen Comic-Serie Mafalda.1 Hier wird die Welt nicht als Allegorie, sondern als Modell gezeigt: die Weltkugel liegt erkrankt im Bett. Zunächst lacht Mafaldas Vater über diesen Einfall; doch dann sieht er auf dem Weg zur Arbeit einen armen jungen Zeitungsverkäufer. Das bringt ihn zum Nachdenken und zur Bestätigung: die Welt ist krank. Der Kenner weiß, dass „Frau Welt“ im Mittelalter die Personifikation weltlicher Sinnenfreude und weltlichen Glückes war. Sie erscheint, wie am Dom zu Worms (Südportal, 1298), von vorn als schöne betörende Frau, ihr Rücken aber ist voller Eiter und grässlichen Ungeziefers. Anders als bei Beyer entspricht sie der Voluptas, der römischen Personifikation der Lust und Begierde, die den Menschen blind macht und ins Verderben führt.

Personifikationen Die Welt als Frauengestalt ist eine Allegorie. 2 Die ist eine Form indirekter Aussage, bei der eine Sache aufgrund von Ähnlichkeits- oder Verwandtschaftsbeziehungen als Zeichen einer anderen Sache eingesetzt wird. Häufig tritt sie als Personifikation auf, zielt also darauf, etwas anschaulich und greifbar, ein Abstraktum zu einem deutbaren wie auch kritisierbaren Gegenüber zu machen. So wird sie auch in visuellen Aussagen genutzt. Der antike Künstler Appelles, der, wie Lukian überlieferte, von einem Kollegen aus Neid verleumdet wurde, malte aus Rache ein Bild mit satirisch-kritischer Note, in dem er als personifizierte Allegorien dem Hass, der Verleumdung, der Schurkerei und dem Betrug die Reue und die nackte Wahrheit gegenüberstellte. 1494 malte Botticelli das Bild nach.3 Wie hier finden wir im Verlauf der

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Quino, Mafalda, S. 45. Vgl. Kurz, Metapher, Jacob, Allegorien; http://​wortwuchs.net/​stilmittel/​allegorie//​; http://​www-gewi. kfunigraz.ac.at/​moderne/​heft5t.htm (9. 1. 2020). Sandro Botticelli: Der Verleumdung des Malers, 1494; vgl. Schumacher, Botticelli, S. 5.

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Dietrich Grünewald

Kunstgeschichte zahlreiche allegorische Personifikationen, und insbesondere die Karikatur zieht sie als probates auf anschauliche Verständlichkeit zielendes Verfahren heran. So übt Gerhard Haderer Kritik an der Praxis, Müll illegal im Meer zu entsorgen. In seiner Karikatur stellt er dieses kriminelle Unternehmertum personifiziert dar.4 Das Verständnis der Zeichnung verlangt kein gelehrtes Vorwissen, sondern Spaß am Deuten. Haderer zeigt ein Superzeichen: Die gezeichnete Figur „besteht“ aus dem Müll, der Gegenstand ihres Fehlverhaltens ist. Vorbild ist die fantastische Kunst des Manieristen Arcimboldo, der z.  B. die Allegorie des Frühlings als schöne Frauengestalt malte, die ganz aus den Blüten zusammengesetzt ist, die der Frühling hervorbringt und die ihn symbolisieren.5 Das Verfahren nutzt auch die politische Karikatur, um entlarvende Kritik zu üben, z. B. in Robert Holochs Karikatur an der als falsch und fehlerhaft verstandenen Politik Bismarcks, seiner Zollpolitik, dem Sozialistengesetz, der Knebelung der Redefreiheit usf. Der gezeichnete Kopf ist keine Allegorie der Politik, der Zeichner meint konkret Kanzler Bismarck selbst, was an der physiognomischen Ähnlichkeit abzulesen ist. Symbolisch zeigt Holoch, dass Bismarcks Kopf eigentlich nur aus politischen Entscheidungen besteht (durch Schrift ausgewiesen), die aus seiner Sicht (die er auch als die der Sozialdemokraten, der Leser des Wahren Jacobs, ansieht) falsch sind und scharf kritisiert werden müssen.6

Das Skelett als Tod Eine häufig genutzte Allegorie ist der Tod, dargestellt als Skelett. Daumier setzt sie ein, um Bismarcks Alptraum zu visualisieren. Dem im Sessel ruhenden Kanzler zeigt ein Skelett (die Allegorie als Tod wird durch das Attribut der Sense noch verstärkt) ein Feld voller Toter: der Krieg gegen Frankreich kostete vielen Soldaten das Leben. Die belastende Anklage wird durch die allegorische Figur anschaulich.7 Auch A. Paul Weber, Hans-Georg Rauch oder Jürgen Tomicek nutzen diese Allegorie des Todes. Und sie können sicher sein, dass die Betrachter ohne allzu große Interpretationsanstrengung erfassen, was gemeint ist: das Skelett personifiziert den Tod, der anklagend auf das unnatürliche Sterben, sei es im

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Gerhard Haderer: Mülldeponie Ozean, Stern 16/​2011, S. 11. Beispiele S. Ferino-Pagden, Arcimboldo. Robert Holoch: Moderne Schädelstudie. Der Vater der ersten Umsturzvorlage, in: Der Wahre Jacob, Berlin 1879; S. https://​www.akg-images.de/​archive/​-2UMEBMW2COYP.html (11.1.2020) Honoré Daumier: Bismarcks Alptraum, 22.8.1870. Lithographie, S.  Courbet und Deutschland, S. 33.

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Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire

Krieg, durch die Bedrohung von Mittelstreckenraketen oder durch Raserei auf der Autobahn, verweist.8 Die Allegorie basiert auf einer jahrhundertelangen vertrauten Konvention, auf den europäischen mittelalterlichen Totentänzen (s. Wunderlich, Tanz in den Tod 2001). Sind es hier ursprünglich tote Menschen, die ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen jedem zeigen, dass er sterben wird, so wird spätestens seit Holbeins Totentanz (1538) die Skelett-Figur als Allegorie des Todes allgemein verstanden und genutzt. Auch Alfred Rethel setzt sie in seiner mahnenden Bildgeschichte ein, um zu zeigen, dass revolutionäre Erhebungen Tod und Verderben heraufbeschwören.9 Da die Allegorie ein indirektes Zeichen des Dargestellten ist, muss sie zum Verständnis „übersetzt“, auf das eigentlich Gemeinte zurückgeführt werden. Das aber erfordert Vorwissen. Um z. B. in Blatt 1 die Frauengestalten, deren Krallenfüße an Harpyien erinnern, als Allegorien zu erkennen, muss man ihre Attribute verstehen und zuordnen können. So weisen der Fuchsschwanz auf dem Kopf als Sinnbild des Bösen und der Verführung sowie die um den Hals gewundene Schlange die erste Frau als Allegorie der „List“ aus. Um nicht nur gebildeten Kunstkennern diese Deutung zu überlassen, wird in der als Bilderbogen herausgebrachten Volksausgabe des Totentanzes jedem Bild ein Gedicht (von Robert Reinick) zugegeben, das Verstehenshilfe gibt.

Tradierte Figuren Das Beispiel zeigt: Soll die Allegorie, insbesondere als Personifikation, anschaulich-wirksames Mittel der Karikatur sein, so muss sie so gewählt und präsentiert werden, dass die angesprochene Zielgruppe sie auch erkennen und auf den eigentlichen Sachverhalt zurückführen kann. Walter Hanel führt uns vor, wie man für ein disperses Publikum, das zudem medienbedingt (Zeitung) nicht allzu viel Zeit zum Betrachten einsetzt, die Interpretationsanstrengung möglichst gering hält. Er wählt als allegorisches Bild für den Aufschwung eine Figur mit Flügelhelm, die versucht, einen Aufschwung am Reck hinzubekommen. Erschwert wird die Turnübung durch den Pferdefuß. Die Figur ist per Aufschrift als „Aufschwung“ gekennzeichnet;

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A. Paul Weber: „…  und komme nach kurzer Pause wieder“, 1934/​1955 (Reinhardt, Weber, S.  184); Hans-Georg Rauch: „Ich bekomme nicht genug davon!“ (Zeit, 18. 6. 1982); Jürgen Tomicek: Kein Tempolimit! (Gießener Allgemeine, 27.1.2019) Alfred Rethel: Auch ein Todtentanz aus dem Jahr 1848, 6 Holzschnitte, 1849, vgl. Grünewald, Totentanz.

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Dietrich Grünewald

am Pferdefuß ist ein Zettel angebracht, auf dem „Arbeitslose“ steht. In einer anderen Karikatur steht die Figur mit dem Flügelhelm auf einem Rollstuhl, der von Helmut Kohl geschoben wird. Obwohl angeschlagen, ein Bein und ein Arm sind verbunden, hebt sie, schräg grinsend, die Linke zum Siegeszeichen hoch. Auf der Lehne des Rollstuhls lesen wir „Konjunktur“.10 Ähnlich verfahren andere Karikaturistinnen und Karikaturisten.11 Die Aufschriften wie die eindeutigen Szenen erlauben auch bei rascher Rezeption, die Allegorien und damit die intendierte Kritik zu entschlüsseln. Erleichtert wird das Verständnis zudem durch visuelle Konvention. Wenn ein Betrachter weiß, dass der Herr mit Flügelhelm auf Merkur zurückgeht, der nicht nur der antike Götterbote, sondern auch der Gott der Händler und Diebe war und sich somit bestens als Allegorie für die Konjunktur eignet, so hat er eine zusätzliche Deutungsbestätigung. Oder dass die Dame mit Füllhorn12 Bona Dea darstellt, die „gute Göttin“, auch Fauna genannt, in der römischen Religion die Göttin der Fruchtbarkeit. Auch sie ist bestens als Personifikation der Konjunktur geeignet. Da beide Figuren in zahlreichen Gemälden und Skulpturen der europäischen Kulturgeschichte erscheinen, sind es sicher nicht nur Fachleute, die sie wiedererkennen. Immer wieder gerne werden bekannte Kunstwerke von der Karikaturaussage zitiert. In der Karikatur von Horst Haitzinger (Abb. 2) geht es um die Personifikation der Freiheit, die bemüht wird, Jutta Ditfurths Bruch mit den Grünen zu veranschaulichen. Nach rabiater Abrechnung mit den „Realos“ (repräsentiert durch Joschka Fischer, rechts unten) verlässt sie die Partei. Das Pathos der Aussage unterstreicht Haitzinger, indem er seine Zeichnung erkennbar zitierend an die „Ikone der Freiheit“, an Eugène Delacroixs berühmtes Gemälde Der 28. Juli 1830 oder Die Freiheit führt das Volk an, 1830 (Paris, Louvre) anlehnt. Er kann davon ausgehen, dass viele Betrachter dieser Karikatur das Gemälde kennen; wer nicht, für den wird oben rechts schriftlich darauf hingewiesen. So kann nun jeder – ironisch – die Aura des Gemäldes auf den profanen Akt der Tagespolitik übertragen.

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Abb. S. FAZ, 29.3.1983 und 10.12.1983. Z.  B. Egon Körbi (Neue Westfälische Zeitung, 31.12.1982), Marie Marcks (Süddeutsche Zeitung, 22.12.1983). Heiko Sakurai (Kirchenmagazin 3/​2000).

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Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire

Symbolfiguren – Marianne und Germania

Abb. 2: Horst Haitzinger: Die Mutter der Schlachten, Mai 1991 Die Allegorie der Freiheit in Delacroix’ Gemälde ist zugleich auch Marianne, die Symbolfigur für die französische Nation. In einer Zeichnung (1995), die das Gemälde ebenfalls zitiert, hat ihr Ernst Maria Lang die Germania, die deutsche Symbolfigur, zur Seite gestellt. Weniger satirisch kritisch, sondern im Sinne zukunftsweisender Perspektive veranschaulichen beide die neue enge Verbindung von Frankreich und Deutschland. Germania und Marianne tragen vereint die europäische Fahne in eine positiv gesehene europäische Zukunft, die – gemäß des Bildzitates – der Freiheit verpflichtet ist.13

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Abb. in Koch, Marianne, S. 73 (modifizierte Fassung: ebd. S. 77); in ihrer Wanderausstellung hat Ursula Koch anschaulich und umfassend die Geschichte von Marianne und Germania in der Karikatur vorgestellt.

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Dietrich Grünewald

Eine solche eher pathetische und beschwörende Karikatur hatte schon einmal der Kladderadatsch präsentiert.14 Dem Zeichner Hans Maria Lindloff ging es um die Annäherung von Deutschland und Italien. Die blonde, eichenlaubumkränzte Frau, Germania, reicht der schwarzhaarigen, lorbeerumkränzten, Italia, die Hand; beide lächeln sich an. Benito Mussolini, 1922 Ministerpräsident des Königreichs Italien, als Duce del Fascismo ab 1925 Diktator des faschistischen Regimes, hatte nach zunächst kritischer Einstellung dem deutschen Einflussgewinn in Mittel- und Südosteuropa gegenüber dann doch eine Annäherung an Deutschland angestrebt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam es 1939 zu einem Militärbündnis zwischen Deutschland und Italien. Der Kladderadatsch, schon zu Bismarcks Zeiten rechts-national eingestellt, näherte sich bereits in der Weimarer Zeit in seiner politischen Position immer stärker den Nationalsozialisten an. Vorbild dürfte das bekannte Gemälde Italia und Germania (1811/​28) von Friedrich Overbeck gewesen sein.15 Die Frauenfiguren Italia und Germania sitzen vertraut, Händchen haltend beieinander. Overbeck gehörte zu den Nazarener16, eine deutsche Künstlergruppe, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Wien und Rom eine romantisch-religiöse Kunstrichtung begründete. Sie propagierte eine enge Freundschaft zwischen Italien und Deutschland. Germania hat eine lange Tradition, wie Ursula Koch in ihrer sehenswerten Ausstellung über Marianne und Germania gezeigt hat.17 Die Frauengestalt ist die Personifikation Germaniens bzw. Deutschlands, identisch mit der kaiserlichen Macht, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, aber auch mit dem deutschen Volk. So sehen wir sie in einem satirisch gefärbten Flugblatt der Reformationszeit.18 Es handelt sich um ein katholisches Propagandablatt: Germania suchen fünf Plagen heim. Allegorien der Zwietracht (Tiermischwesen, Schlange, Raubtierkopf, mit Klauen), des Krieges (Mars als Landsknecht), der Hungersnot (Mutter mit totem Kind), der Pest (Hexe mit Bogen) und der Ketzerei (Geistlicher, zelebriert das Abendmahl auf zweierlei Weise) bedrohen sie. Schon auf den Reversseiten römischer Münzen wird Germania als trauernde Gefangene gezeigt. Darauf spiel ein Blatt von Karl Russ19 an. Er zeigt einen großen muskulösen Krieger (die Schriftbänder auf seinen Oberschenkeln weisen ihn als Hermann aus), der die Ketten, die Germania gefangen hielten, zerbricht. Das Motiv, das sich auf die Varusschlacht (im Jahre 9 n. Chr.) bezieht, in der ein germanisches Heer unter Hermann drei römischen Legionen eine vernichtende Niederlage beibrachte, wird hier auf den Sieg des Koalitionsheeres über 14 15 16 17 18 19

Hans Maria Lindloff: Eine Hoffnung! Kladderdatsch 45/​1931. Friedrich Overbeck: Italia und Germania, 1811/​28, München, Bayerische Staatsgemäldegalerie. Vgl. Andrews, Nazarener. Koch. Marianne sowie Koch, Germania. Fabri (tätig 1544–1556): Germanias Wehklage an Christus, um 1550 (Koch, Marianne, S. 13). Karl Russ: Hermann zersprengt die Ketten von Germania, 1813, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

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Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire

Napoleon in der Völkerschlacht von Leipzig bezogen, wie die Inschrift auf Germanias Schild ausweist: Leipzig 1813. Dieser Sieg hat nicht, wie erhofft, zur deutschen Einheit geführt, und auch die Nationalversammlung in Frankfurt führt nicht zum Ziel eines deutschen Staates, schon gar nicht zu einem demokratisch verfassten. Eine Karikatur von Hermann Krüger20 zeigt, dass Fürstenmacht das verhindert. Die schlafende Germania wird von 34 Blutegeln, den deutschen Fürsten, angefallen und ausgesaugt, Österreich verdrückt sich und Preußen rückt näher heran. Die Darstellung wirkt weniger satirisch-kritisch als klagend pathetisch. Sie korrespondiert mit dem von Aby Warburg geprägten Begriff der Pathosformel.21 Man versteht darunter die Darstellung formelhafter Gestik und Mimik des Gefühlsausdrucks, denen eine universale Gültigkeit unterstellt wird. Germania verkörpert die Idee einer deutschen Nation und eines einheitlichen deutschen Staatsgebildes, denn einen gemeinsamen deutschen Staat gibt es nach der durch Napoleon verfügten Auflösung des Römischen Reiches Deutscher Nation nicht. Erst nach dem Krieg gegen Frankreich wird unter Führung Preußens 1871 ein Deutsches Reich – unter Ausschluss Österreichs und Luxemburgs – geschmiedet. Pathetisch spiegelt sich das in den zahlreichen Denkmälern, die Germania nach Gründung des Deutschen Reiches thematisieren, wie das von Johannes Schilling entworfene Niederwald-Denkmal bei Rüdesheim im hessischen Rheingau.22 Die Figur der Germania mit ihren Attributen wird dann auch in der Karikatur immer wieder aufgegriffen, der jeweiligen politischen Position angepasst und entsprechend vereinnahmt. Z. B. unter Benutzung der Pathosformel aus bismarcktreuer Sicht, wenn die Ausnahmegesetze des Kanzlers gegen die Sozialdemokratie verteidigt werden. In einer Karikatur von Constantin von Grimm (Abb. 3) sehen wir eine mächtige Germania, die in der Rolle Siegfrieds, des Erzengels Michaels oder des Heiligen Georgs mit ihrer Lanze den fauchenden Drachen niederzwingt. Auf seinem Schwanz ist zu lesen, dass er die Sozialdemokratie symbolisiert. Germania steht hier für das Deutsche Reich und seine die Politik bestimmenden Regierenden. Die Sozialdemokraten – wenngleich ja selbst Angehörige der deutschen Nation – werden als Feind gewissermaßen ausgegliedert. Das Pathos der Nibelungensage wie der religiösen Legenden wird für den wissenden Betrachter auratisch übertragen und damit zugleich die Aktion Germanias legitimiert. Bruno Paul dagegen charakterisiert sie ironisch als ältliche leicht demente Jungfer, die nur ihre Lieblingssöhne, Geistliche, Offiziere und hohe Beamte umsorgt, beraten von den Raben-Pfarrern auf ihrer Schulter.23 Nach dem 2. Weltkrieg ist die zukünftige Entwicklung Deutschlands völlig offen, was sich in der Darstellung der Germania spiegelt. In einer Karikatur des Schweizer Ne20 21 22 23

Hermann Krüger: Germania, Deutsche Reichs-Bremse 1/​24.2.1849, Abb. in Koch, Marianne, S. 21. Vgl. Hurttig, Antike. S. Tittel, Niederwald-Denkmal. Bruno Paul: Jungfrau Germania (Simplicissimus 22/​1902); dass Rabenmotiv spielt auf die Raben Odins an.

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Dietrich Grünewald

belspalters werden die Alliierten, die westlichen Außenminister Marshall, Bidault, Bevin sowie der Sowjetherrscher Stalin, als Künstler gezeigt, wie sie sich jeweils ihr eigenes Zukunftsbild von Germania entwerfen. Während das Modell Germania selbst ausgelaugt und apathisch auf einer Holzkiste hockt.24 1955, in einer Karikatur von Fritz Behrend, ist sie schon wieder proper und gut genährt.25 Der Tisch, auf dem sie im Schneidersitz hockt, biegt sich unter ihrem Gewicht. Die Außenminister der einstigen Alliierten, die auf der Genfer Konferenz 1955 beraten wollen, betreten gerade den Konferenzraum, in dem Germania sitzt. „Liebe Güte, da ist sie ja schon wieder!“ äußern sie mit entsetzten Gesichtern. Germania symbolisiert hier nicht den deutschen Staat, sondern die offene deutsche Frage, die die Politik umtreibt.

Abb. 3: Constantin von Grimm: Germanias Strafgericht, Schalk, Stuttgart, 2/​1878 24 25

Nebelspalter, 1947, Abb. in Marienfeld, Geschichte, S. 27. Fritz Behrendt, Allgemeen Handelsblad, Amsterdam, 1955, Abb. in Dollinger, Lachen, S. 352.

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Ihr Aussehen charakterisiert Zustand und Probleme Deutschlands: –– selbstzufrieden rekelt sich eine propere konsumierende Germania zu Zeiten des Wirtschaftswunders;26 –– sie (Germania West) geht schwanger mit der Neuregelung zur Unterbrechung der Schwangerschaft, die in der DDR 1972 legalisiert, in der BRD heftig diskutiert wurde und erst 1974 zur Fristenlösung führte;27 –– als kaffeetrinkende, zeitungslesende Oma erwartet sie (aus Sicht der CDU-nahen Zeitung) zufrieden das Ergebnis der Neuwahl von 1983, das nach dem Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt 1982 Helmut Kohl als seinen Nachfolger bestätigt.28

Der deutsche Michel

Abb. 4: Karikatur aus dem Eulenspiegel, 1848 Noch einmal sei eine Germania-Darstellung aus dem Jahr 1848 zitiert. In dieser Zeichnung aus dem Eulenspiegel wird Germania von zwei Männern unsittlich bedrängt (Abb. 4). Ein Mann mit Zipfelmütze sucht ihre Vergewaltigung zu verhindern, wenngleich es nicht so aussieht, als ob er dem Treiben energisch Einhalt gebieten könne. Die Zeichnung zielt darauf, dass in der Frankfurter Nationalversammlung die Reaktion an Boden gewinnt und eine angestrebte demokratisch fundierte Einheit Deutschlands von Preußen (links) und Österreich (rechts) hintertrieben wird. Während Germania die deutsche Nation, die Idee Deutschland symbolisiert, repräsentiert der Zipfelmützen-Mann den Deutschen Michel, konkret: den deutschen Bürger. Und der 26 27 28

Herbert Scheurich (Simplicissimus 19/​1965). Peter Leger (Vorwärts 19.4.1973). Rudolf Schöpper (Westf. Nachrichten 7.3.1983).

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scheint – wie er vor allem um die Geschehnisse der Bemühungen um die deutsche Einheit in der Nationalversammlung in Frankfurt 1848/​49 in den satirischen Zeitschriften zu finden ist – eher ein hilfloser Mensch zu sein, der den mächtigen Fürsten nichts entgegen zu setzen weiß. So sehen wir ihn betroffen, mit entsetztem Blick, als der Präsident der Nationalversammlung, der Mutter Germania entbunden hat, den reaktionär-konservativen Erzherzog Johann von Österreich als Reichsverweser vorzeigt. Die Parlamentslinke hat die Wahl verloren; Friedrich Hecker, der Revolutionär ballt verzweifelt die Faust. Michels Pose (er hält sich entsetzt die Hand an die Wange und reißt die Augen auf) lässt darauf schließen, dass er mit einem Töchterlein Republik glücklicher gewesen wäre.29 Als schließlich die Reaktion in Frankfurt siegt, die revolutionären Aufstände niedergeschlagen sind, kotzt Michel alles wieder aus, was er an demokratischen Errungenschaften den Fürsten abgetrotzt hatte.30 Mit dem Ende der Revolution und dem Versagen der Nationalversammlung kann er nur noch sein verstorbenes Töchterlein, die Grundrechte, betrauern.31 Seit dieser Zeit begegnet uns Michel bis heute in der Karikatur – dargestellt meist als Männchen mit einer Zipfelmütze auf dem Kopf, in unauffälliger Alltagskleidung. Selten wird er als Tierfigur gezeigt. Eine Ausnahme bietet Horst Haitzinger. Er zeigt Michel als treu-dummen Hund mit Zipfelmütze.32 Gierig folgt er mit gesenktem Blick der „Investitions-Wurst“, ohne zu merken, dass sie ihn – gezogen von der Wirtschaft – ins Hundefängernetz Helmut Kohls, also der CDU, lockt. Wobei der Alternativ-Hundefänger, Hans-Joachim Vogel, Kanzlerkandidat der SPD, auch nichts anderes im Sinn hat, aber mit seinem lockenden Knochen nicht ins Blickfeld des Hundes gelangt. In der Regel tritt Michel als Mann auf; er repräsentiert den Durchschnittsdeutschen. Allerdings ist eine Unterscheidung zwischen „dem Deutschen“ und „Deutschland“ (für das ja in d. R. Germania steht) nicht immer klar zu erkennen. So, wenn ihn Bernd Bruns nach der Aufnahme Deutschlands in die Nato in die Kette Händchen haltender Figuren einreiht, die durch entsprechende Attribute als die Symbolfiguren für die USA, England, Frankreich und die anderen Nato-Staaten zu identifizieren sind.33 Für das sich nach dem 2.  Weltkrieg allmählich entwickelnde (West)Deutschland wird Michel auch gerne als Kind dargestellt. Ernst Maria Lang lässt in seiner Karikatur von 1948 die französische Marianne ängstlich sagen: „Haltet

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Der Kaiserschnitt, 1848, Lithographie (Abb. Kessemeier, Ereigniskarikaturen, S. 234). Anonyme dt. Karikatur: „Wie der deutsche Michel alles wieder von sich gibt“, 1849 (Abb. Dollinger, Lachen, S. 83). Anonyme dt. Karikatur: Des Michels Töchterlein, 1849: (Abb. Lammel, Majestätsbeleidigung, S. 114). Horst Haitzinger (tz München 7.2.1983). Bernd Bruns (Deutsche Zeitung 8.5.1962).

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ihn ja fest – er hat es auf meine Unschuld abgesehen!“ Gemeint sind französische Bedenken gegen den engeren Zusammenschluss der amerikanischen und der britischen Besatzungszone, die auch mehr Befugnisse für die deutsche Verwaltung bringen sollte. Lang wertet diese Sorge als völlig grundlos, wenn er Michel als kleinen schmächtigen Jungen zeichnet, links und rechts von einem Amerikaner und einem Engländer an der Hand gehalten.34 Ähnlich argumentiert die Karikatur von Wolfang Hicks (1955). Auch hier äußert Marianne Bedenken, als Deutschland in die Nato aufgenommen wird. „Wenn nur kein NATO-nalsozialist aus ihm wird!“ Michel als kleiner unschuldiger Junge, dem der Nato-Stahlhelm gereicht wird, soll diese Vorbehalte entkräften.35 Marik Marks zeigt in ihrer Karikatur von 1968, dass es nicht „den einen“ Michel gibt, sondern durchaus mehrere. Alle ausgewiesen durch die Zipfelmütze. Und sie agieren auch unterschiedlich. Während der mittlere Michel mit dem Tonbandgerät Bundespräsident Lübke zu seiner Beteiligung am Bau von KZ-Anlagen interviewen will, scheint der Michel hinter ihr diese Initiative aufhalten zu wollen. Ein bärtiger Michel, der für die aufmüpfigen ’68er steht, ist dagegen schon dabei, Lübkes Thron zu stürzen.36 Michel ist nicht gleich Michel. Da gibt es den satten, reichen Michel mit feistem Gesicht, der seine Zigarre raucht und gerade ein opulentes Mahl verzehrt hat – und den schmalen, ausgemergelten Michel vor leerem Teller, der – wie der Aufdruck klärt – eine Million Arbeitslose repräsentiert.37

Ost- und Westmichel Mirko Szewczuk nutzt dieses Motiv bereits in den 1950er Jahren: Da sitzt ein Michel mit umgebundener Serviette am reichgedeckten Tisch und lässt sich ein köstliches Essen samt Wein munden. „Hallo! Hinter Ihnen steht einer!“ ruft ein nicht sichtbarer Beobachter ihm zu. Und das ist ein abgerissener, ausgemergelter Michel, der mit traurigem Gesicht einen leeren Teller hält. Zwischen beiden Micheln – die nur die gleiche Zipfelmütze verbindet – befindet sich ein Stacheldrahtzaun. Ein Schild erklärt: „Zonengrenze“.38 Nach Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten, BRD und DDR, thematisieren viele Karikaturisten die allmähliche Entfremdung der Ost- und Westdeutschen im Gegenüber der beiden Michel.

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Abb. in Lang, so lang, o.p. Abb. in Brant, Der Bundesdeutsche, S. 95. Süddeutsche Zeitung (Abb. Dollinger, Lachen, S. 388). Hanns Erich Köhler (FAZ, zit. Spiegel 17/​1978). Abb. in Bohne, Der Deutsche, S. 124.

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Abb. 5: Hanns Erich Köhler: Deutsche Teilung 45–55–65, 1959 Pessimistisch prophetisch zeigt das Erich Köhler 1949 in seiner kleinen Bildgeschichte (Abb. 5). 1945 stehen sich West- und Ostmichel auf Augenhöhe gegenüber; beide sind nach dem Krieg abgemagert, tragen eine geflickte Jacke, haben das Pfeifchen in die Tasche gesteckt, haben die gleiche schwarze Zipfelmütze auf dem Kopf. Über eine von Stacheldraht umrankte (noch kleine) Wand, recken sie sich sehnsuchtsvoll ihre Hände zu. „Bruder!“ sagen beide, wie Unterschrift und die geöffneten Münder anzeigen. Das zweite Bild bezieht sich auf das Jahr 1955. Die Mauer ist schon deutlich dicker und höher geworden. Die Michels unterscheiden sich: die schwarze Zipfelmütze von Michel West zieren der amerikanischen Flagge entlehnte Sterne, die von Michel Ost ist weiß und mit Hammer und Sichel geschmückt. Beide sitzen am Tisch und schreiben einen Brief; sie könnten sich nur sehen, wenn sie aufstehen würden. „Mein lieber Vetter!“ lautet der Untertext. Das dritte Bild verweist auf das Jahr 1965. Jetzt ist die Mauer noch dicker und so hoch, dass sie fast die Höhe des Panels erreicht und es damit zweiteilt. Wie wahr: 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut. Michel West und Ost können sich nicht sehen. Beide sitzen mit dem Rücken zur Wand. Michel West ist älter geworden, dick, mit Zigarre im Mund. Die Zipfelmütze trägt die Elemente der US-amerikanischen Fahne. Michel Ost hat einen Bart, eine Pfeife im Mund. Statt der Zipfelmütze trägt er eine Mütze mit Stern. Beide sprechen mit ihrem Nachwuchs. Sie zeigen mit dem Daumen hinter sich (also auf den jeweils anderen Michel hinter der stacheldrahtbewehrten Mauer) und sagen wie beiläufig: „Ach ja, wir haben irgendeinen entfernten Verwandten im Ausland …“ 22

Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire

Erst mit der Ostpolitik Willy Brandts in der 1980er Jahren kommt es zu Annäherungen, die sich auch im Bild der beiden Michels spiegeln. Unter dem Titel „Ost-West-Dialog“ zeigt Jupp Wolter 1980 eine Barszene. Zur Verwunderung der beiden Kellner schweben Michel-West und Michel-Ost in Sitzhaltung in der Luft; denn ihre beiden Barhocker (der eine mit „USA“, der andere mit Hammer und Sichel gekennzeichnet) liegen auf dem Boden. Sie prosten sich lachend mit ihren Sektgläsern zu.39 Drei Jahre später gießen in der Karikatur von Felix Mussil (Frankfurter Rundschau vom 29.9.1983) Michel-West und Michel-Ost das zarte Pflänzchen „Deutsch-deutsche Beziehungen“. Dabei sind die Ausgangsbedingungen durchaus verschieden: Michel-West hat eine riesige Wasserkanne in den Armen, aus der viel Wasser kommt, Michel-Ost hält dagegen ein kleines Kännchen in der Rechten, aus der es immerhin tropft. Aber beide scheinen, so ihre Mimik, zwar skeptisch, aber doch optimistisch zu sein. 1989, nach dem Fall der Mauer, kann dann Walter Hanel zwei Michel zeichnen, die sich mit Tränen in den Augen in den Armen liegen – wieder vereint; in der Mauer klafft ein riesiges Loch (Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 13.11.1989). Noch gibt es zwei Michel – doch beide sehen gleich aus, tragen die gleichen vertrauten Zipfelmützen. Es fällt auf, dass der deutsche Michel – und vor allem das Paar Michel-West/​Michel-Ost – offenbar nur von westdeutschen Zeichnern aufgegriffen wurde. In der DDR-Karikatur sucht man die Michel-Figur vergebens.40 Möglicherweise erinnerte sie zu sehr an die gemeinsame Geschichte und war dem Selbstbewusstsein des SEDStaates und seiner betonten Selbständigkeit nicht angemessen. Erst nach der Wende finden wir Michel-Zeichnungen auch aus der Feder ostdeutscher Zeichner. Andreas Müller41 z. B. reagiert leicht frivol sarkastisch auf die deutsch-deutsche Einheit, wenn er in seiner Karikatur von 1990 zwei Michelfiguren zeigt, die vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund offensichtlich mit einander kopulieren. Beide bärtigen Michel erinnern an Gartenzwerge; wobei der eine dank der Damenstöckelschuhe an den Füßen wohl als weibliche Figur zu deuten wäre. „Wir sind ein Volk!“ sagt sie (er) per Sprechblase, repräsentiert also wohl Michel-Ost. Der Partner kommentiert mit: „Wahnsinn!“42 Schon bald nach der Wiedervereinigung zeigt die politische Realität die Schwierigkeiten, die die Vereinigung mit sich bringt. Die bekannte Metapher des Staatsschiffes wird bei Walter Hanel zu einem Ruderboot, in dem der Ostmichel bis zum Hals im Wasser sitzt und der Westmichel Mühe hat, es mit kräftigem Ruderschlag vor dem Untergang zu retten.43 Aus thüringischer Sicht

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Abb. in Dollinger/​Koch, Ein Jahr, S. 89. Die Einschätzung teilt – im Gespräch – auch Harald Kretzschmar, prominenter Karikaturist der DDR und Mitinitiator des Satiricum in Greiz. Müller zeichnete u. a. für Eulenspiegel, Magazin, Leipziger Volkszeitung, war Kurator der Ausstellungsreihe Karicartoon in Leipzig; floh 1988 in der BRD, ging nach der Wende zurück nach Leipzig; S. Mueller, Anpassung. Abb. S. Mueller/​Forchner, Wahnsinn, Rückseite. Hanel, Frankfurter Rundschau, zit. Spiegel 18/​1991.

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weist Hans-Jürgen Starke auf die zunehmende Verhärtung. Die Herzen der sich argwöhnisch anschielenden Michel-Brüder bestehen aus Mauersteinen.44

Der passive Michel In einer Karikatur aus dem Badischen Tageblatt (4.2.1955) sehen wir Michel, wie er mit lautem Posaunenklang so beschallt wird, dass es ihm offensichtlich gar zu laut in den Ohren dröhnt. Die Posaune, die auf sein rechtes Ohr gerichtet ist, bläst Bundeskanzler Adenauer. Der Schriftzug „Pariser Verträge“ auf dem Instrument erklärt, was er ihm „ins Ohr bläst“. Ins linke Ohr dagegen trompetet Erich Ollenhauer, der SPD-Oppositionsführer. Sein Instrument trägt die Aufschrift „Deutsches Manifest“. Der Sachverhalt war dem Zeitungsleser als aktuelles politisches Geschehen vertraut. Die Zeichnung macht sichtbar: Michel als (west-)deutscher Bürger ist eine eher passive Figur, dem gesagt wird, wo’s lang geht. Das Motiv ist eingängig: Auch Wigg Siegl nutzt es als Titelblatt des Simplicissimus 5/​1967. Hier tutet die Konzertierte Aktion dem Michel ins Gehör, dass der vor Schreck fast umfällt und seine Mütze verliert. Auch wenn er Souverän im demokratischen Staat ist – Michel erscheint meist als passive Figur, die mit Meinungen beschallt wird, der duldsam zuhört und annimmt, was ihm Politiker und andere aus dem Herrschaftssystem von Staat und Gesellschaft verkünden bzw. vorgeben. Metaphorisch zeigt Eckart Munz den Grundvertrag als schlichtes Brett, das die Kluft zwischen BRD und DDR als wackliger Steg überwindet. Präsentiert von Staatssekretär Egon Bahr muss Michel die Situation so hinnehmen und sieht sich aufgefordert, über den Steg zu gehen.45 Michel wird nicht selbst aktiv, greift nicht zu, packt nicht an  – sondern betet und bittet allenfalls. Und wenn er einmal anweist oder eine eigene Meinung äußert, dann bleibt das ohne jede Resonanz, wie das z.  B. Hans-Joachim Gerboth zeigt. In seiner Karikatur in der Kölnischen Rundschau (10.9.1983) zieht Minister Stoltenberg, den „Haushalt“ unter dem Arm, einen Bollerwagen, in dem sich zahlreiche Kürzungen symbolisierende kleine Rotstifte befinden (mit „Kürzung“ ist verdeutlichend der Bollerwagen beschriftet). Den Stiften sind Zettel angeheftet: „Bildung“, „Soziales“. Michel schaut dem Minister nach und ruft ihm zu: „Haben Sie sich nicht getraut, mit dem hier zu arbeiten, Herr Stoltenberg?“ Demonstrativ hält er einen langen Stift hoch, auf dessen Schildchen „Subventionen“ steht. Stoltenberg dreht dem Rufer zwar den Kopf zu – aber er unterbricht seinen Marsch nicht, und es ist absehbar, dass er sich nicht um Michels Meinung kümmert. Michel ist durchaus betroffen, wie immer wieder seine in Pose und Mimik gespiegelte Reaktion zeigt. Doch in vielen Karikaturen ist er zum 44 45

Starke, Thüringer Allgemeine, zit. Spiegel 39/​1991. Munz, Stuttgarter Nachrichten, 11.11.1972.

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braven Zuschauen und Hinnehmen verdammt. Er kann nur wünschen und hoffen, dass sich alles gut entwickeln möge. Nicht selten bringt ihn seine Passivität auch in Gefahr. So wenn er in Horst Busses Zeichnung zufrieden träge mit geschlossenen Augen im Schlauchboot mit der Aufschrift „Soziale Sicherheit“ im Meer schaukelt – und gar nicht wahrnimmt – und daher auch nicht reagiert –, dass hinter ihm ein riesiger Fisch aufgetaucht ist, dessen aufgerissenes Maul (beschriftet: „Wirtschaftskrise“) ihn zu verschlingen droht.46 Diese Verdammung zur Passivität kennzeichnet nicht nur den BRD-Michel. Ein Motiv veranschaulicht seine Rolle durch die Zeiten: Ob freiwillig oder gezwungen, Michel ist nicht selbst aktiv, sondern lässt sich in schwieriger Situation tragen und beschützen. So zeigt Arthur Wellmann den Weimarer Michel, wie er auf den Schultern des Reichsaußenministers Walther Rathenau sitzt, der unsicher und wacklig auf einem über eine Schlucht gespannten Seil balanciert.47 Michel kann nur hoffen, dass er heil hinüber gebracht wird. Karl Arnold zeigt Michel, wie er nun immerhin selbst über das Seil balanciert. Doch er hat sich nicht selbst in diese Lage gebracht, sondern er folgt politischer Vorgabe. Er kann nur auf Reichskanzler Stresemann vertrauen, der als Schutzengel hinter ihm schwebt. „… er wird mich retten“, hofft Michel.48 1990, nach erfolgter deutscher Wiedervereinigung, greift Jürgen Tomicek das Motiv auf. Kanzler Kohl trägt Michel auf dem Arm, wobei die höchst unsichere Situation drastisch veranschaulicht wird: Kohl folgt dem Schild „Einheit“. Er schreitet auf bewegtem Wasser – doch das ist kein „Wunder“, denn der Betrachter sieht, dass er auf festen Buchstaben („Steuererhöhung“) geht, die sich, für Michel unsichtbar, unter Wasser befinden und bis zur Oberfläche reichen.49

Michel als Objekt und Opfer Allzu rasch wird Michel zum Objekt, wird unmündig unter Aufsicht gestellt  – wie 1983, als ihn, unter dem hämischen Gespött anderer Nationen, die Volkszählung zur Nummer degradierte.50 Oder wenn er – wenn’s den Politkern zu Pass kommt – einfach ins Eisfach gelegt wird, wo er Ruhe geben muss.51 Immer wieder wird Michel härtesten Belastungsproben ausgesetzt. 1913 zeigt Heinrich Kley, wie eine entsetzte Germania zusehen muss, wie Politik und Klerus ihren Michel behandeln: die Errichtung von Kirchen wie der Bau von Panzerkreuzern (gespie-

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Busse, Aufschwung 1983, S. 81. Wellmann, Kladderadatsch 39/​1921. Arnold, Simplicissimus 7/​1923, Titelblatt. Tomiceck, Berliner Zeitung, zit. Spiegel 41/​1990, S. 158. Egon Körbi, Neue Wesffälische Zeitung, 13.8.1983. Walter Hanel (Kölner Stadtanzeiger, 30.4.1983).

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gelt als überschwere Last) drohen ihn zu zerbrechen.52 Von Koch-Gotha53 bis Walter Hanel54 wird Michel gerne als der dumme Knecht charakterisiert, der die Lasten anderer zu tragen hat: Steuern, Kriegsschulden, den Sozialstaat oder auch die Kosten für das europäische Währungssystem. Der gutmütige Michel wird angebettelt, von Politikern wie der in die Krise geratenen Wirtschaft.55 Oft wird verschleiert, dass er ausgenommen werden soll. Er wird ausgerechnet von denen zum Sparen angehalten, die selbst das Geld – wie eine juwelengeschmückte Hand in der Karikatur von Hicks zeigt – luxuriös verprassen.56 Und klappt es auf die nette Art nicht, wird Michel das Geld entzogen wie bei einer Blutentnahme57 oder er wird ausgepresst wie eine Zitrone58 – drastische Metaphern, die beklagen, dass er ausgeplündert wird, ohne dass er sich dagegen wehren kann bzw. wehrt. Auch vor Diebstahl, Raub und Erpressung schrecken die nicht zurück, die Michel ans Geld wollen.59 Und nicht selten verstecken sich die eigentlichen Ausbeuter, wie Horst Haitzinger zeigt: In seiner Karikatur schimpft Michel auf die „verdammten Araber“, die ihm mit dem Tankstutzen, vorgehalten wie eine Pistole, höhere Benzinkosten abpressen. Was Michel nicht sieht, ist, dass dieser Araber nur eine Pappfigur ist, hinter der sich der eigentliche Erpresser verbirgt: „internationale Ölgesellschaften“, wie die Aufschrift auf dem dicken Männchen mit Melone und Zigarre für den Betrachter aufdeckt.60 Michel, so zeigen ihn Karikaturen immer wieder, ist ein wehrloses Opfer: Da wird er vom Atomsperrvertrag eingewickelt oder von Streikwellen61, wird  – Gullivers Gefangenschaft in Liliput zitierend  – auf den Boden gefesselt und malträtiert.62 Michel ist nicht nur Objekt der Ausbeutung, sondern auch Opfer. Er wird auf übelste Weise gefoltert: gestreckt, am Spieß geröstet, ins Laufrad gesteckt, durch die sprichwörtliche Mangel wie durch den Fleischwolf gedreht.63 Nur zu oft bringt er sich auch 52 53 54 55 56 57

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Abb. in Lammel, Deutsche Karikaturen, S. 214. Koch-Gotha, Kladderadatsch 3/​1921. Hanel, FAZ 15.4.1983. Z. B. Hans-Joachim Gerboth (Kölnische Rundschau, 23.6.1983). Wolfgang Hicks: Die öffentliche Hand, in: Hicks, Das war’s, S. 11. Arthur Johnson (Kladderadatsch 24/​1920); Horst Haitzinger (Abendzeitung, zit. Spiegel 27/​1991, S. 26). Josef Partykiewicz: Bis zum letzten Tropfen (Rheinischer Merkur, in: Karikatur IV/​80, S. 34/​35). Hans-Joachim Gerboth (Kölnische Rundschau 30.6.83); Herbert Kolfhaus: Los, los Michel – wer schnell gibt, gibt doppelt! 1980, in: Karikatur 1/​81, S. 13. Haitzinger, Spiegel 51/​1973. Horst Haitzinger, Atomsperrvertrag (Simplicissimus 6/​1967, Titel); Jürgen Tomicek: Mensch ärgere dich nicht! (Gießener Allgemeine, 21.10.2014). Neues Deutschland 11.5.1946; Deutsche Nationalzeitung (in: Karikatur IV/​80, S. 15). Z. B. Felix Mussil (Frankfurter Rundschau, 30.1.1971); Walter Hanel (FAZ, 9.4.1983); Pepsch Gottscheber (Vorwärts, 15.9.1983); Egon Körbi (Neue Westfälische Zeitung, 2.7. und 20.10.1983).

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selbst in schlimme Lagen. Da nagelt er sich selbst ans Kreuz,64 wird von den bestellten Raketen bedrohlich in die Enge gedrückt,65 läuft Gefahr, mit dem Hammer nicht nur das Mäuschen, sondern das Glashaus, auf dessen Dach er es jagt, zu zerschlagen und somit den Rechtsstaat, für den es symbolisch steht, zu zerstören.66

Michel-Rollen Immerhin  – nach dem 1.  Weltkrieg, der die alten autoritären Machtstrukturen verändert hat, wird Michel vor die Wahl gestellt, wie Thomas Theodor Heine zeigt: Michel steht „am Scheideweg“. Soll er dem Wegweiser „Zur Reaktion“ folgen, wie ihn ein altertümliches Ehepaar animiert, oder sich doch lieber „Zur Demokratie“ wenden, wozu ihn eine junge Frau einlädt.67

Abb. 6: Walter Hanel, FAZ 26.2.1983

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Arthur Wellmann (Kladderadatsch, 23/​1921). Ironimus (Gustav Peichl) (Süddeutsche Zeitung, 24.10.1983). Luis Murschetz: Terroristenjagd, in: Cartoon Caricature Contor 1980, S. 153. Abb. in Bohne, Der Deutsche, S. 67.

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Das demokratische System der BRD sieht im Bürger den Souverän; und zumindest mit seiner Wahl kann er etwas selbst bestimmen. Und so zeigt ihn Walter Hanel in einer eher selten eingenommenen Position: Michel als Riese, der die Politiker – am Tage der Wahl (!) – sichtbar in der Hand hat (Abb. 6). Michel ist bei seinen Wahlentscheidungen nicht immer glücklich; oft bringt das Wahlergebnis unerwünschte Folgen mit sich, wie schon eine Zeichnung im Wahren Jacob (1/​1884, 6) schildert, bei dem ihm aus dem Füllhorn der Reichstagswahl unerwartete Unbill entgegenfällt. Oder er muss feststellen, dass er sich doch wieder für biederen Kohl statt für das leckere Hähnchen entschieden hat,68 muss – wie ein Schwälmer Hessenmädchen, das hier für den hessischen Michel steht – bangen, was die Politiker nun nach erfolgter Wahl treiben werden.69 Die Figur des Michels repräsentiert also den deutschen Bürger, spiegelt allegorisch seine Situation, sein Empfinden, seine Nöte – wie es aus subjektiv-parteilicher Sicht die Karikaturisten sehen und anschaulich bewusstmachen wollen. Michel tritt in vielfältigen Rollen auf, die er auch erkennen sollte, um darauf – so die beabsichtigte Wirkung – schlussfolgernd zu reagieren. 50 Jahre nach der Machtergreifung der Nazis erkennt er – durchaus erschrocken – , wer bzw. was er einmal war: Adolf Hitler schaut ihm aus dem Spiegel entgegen.70 Metaphorisch verkörpert der Führer, dass seinerzeit die Mehrheit der Deutschen sein Denken, sein politisches Credo und Handeln übernahm, und die Karikatur lässt offen, wozu diese Erkenntnis jetzt führt. Denn dass Michel zielstrebig und rational handelt, wird immer wieder in Zweifel gezogen. Natürlich jeweils aus der parteilichen Sicht des Zeichners gesehen, bleibt er der ungeschickte Mensch, der aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit, die ihm ans Bein gebunden ist, es nicht schafft, den Aufschwung hinzukriegen71 und die Rolle des Kofferträgers übernehmen muss, der alle Lasten zu schleppen hat, die ihm hingestellt werden.72 Michel ist der eifrig dumme Befehlsempfänger, der durch die Jahrhunderte dem Marschbefehl im Stechschritt folgt,73 der naive Dummkopf, der verblendet sich von anderen (den Alternativen) schubsen lässt und gar nicht merkt, dass er, den Blick nach oben auf eine präsentierte Papiertaube („Friedensbewegung“) gerichtet, ins Wasser (des Antiamerikanismus) fallen wird.74 Michel wird uns gezeigt als Spielstein der Mächtigen.

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Rudolf Schöpper (Westfälische Nachrichten, 8.3.1983). Rudolf Schöpper: Jetzt nur auf Draht bleibe, gelle?! 1985 (in: Keim, Bilder, S. 45). Romulus Candea (Rheinische Post, 29.1.1983). Fritz Wolf (Neue Osnabrücker Zeitung, 9.12.1983). Jupp Wolter (Gießener Allgemeine, 9.3.1991). französische Karikatur (Journal satirique alsacien, 15.3.1933). Herbert Kolfhaus, in: Karikatur XI/​81, S. 12.

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Als allegorische, repräsentierende Figur ist Michel flexibel einsetzbar. Sein Erscheinungsbild ist nun fast zweihundert Jahre lang nur leicht variiert medial präsent, so dass er als konventionalisiertes Zeichen leicht erkannt wird. Er kann auf jeweils aktuelle Situationen zugeschnitten werden, in bildhaften Szenen, kann abstrakte und komplexe Sachverhalte und Probleme sowie die Kritik daran anschaulich vermitteln. Die Figur, als nationale Personifikation der Deutschen, geht wohl namentlich auf den Erzengel Michael zurück, Deutschlands Schutzpatron seit der Schlacht auf dem Lechfeld 955, mit der Otto der Große die Ungarneinfälle stoppte und die als Geburt der deutschen Nation gilt. Belegt ist der deutsche Michel aber erst 1541 in einem Sprichwörterbuch – und da bezeichnet er einen Dummkopf und Tölpel.75 Als gezeichnete Figur begegnet er uns seit dem 19. Jahrhundert, z. B. in einem Almanach, der ihn eher als zu bemitleidenden Versager sieht: an Händen und Füßen gefesselt hält er sein Steckenpferd, die „Volkssouveränität“, nur ohnmächtig hoch.76 Nach der gescheiterten Revolution 1848/​49 sehen wir ihn in vielen Flugblättern und Zeitschriften in dieser Rolle – allerdings mit der ablesbaren Intention, dass er sich eigentlich gegen diese Rolle, von Politik und Staatsgewalt herumgeschubst und befehligt zu werden, wehren müsste.

Das Zipfelmützenmännchen Das auffallendste Attribut des Michels ist – seit Beginn des 19. Jahrhunderts – die Zipfelmütze. Das erinnert zum einen an den Gartenzwerg, beliebte Vorgartenfigur der Deutschen, die ein biedermeierliches kleinbürgerliches Weltbild spiegelt. Egon Körbi zeigt in seiner Zeichnung, wie sich der Deutsche vom stolzen selbstbewussten Germanen in den Jahren zum Schrumpfgermanen und schließlich zum Gartenzwerg entwickelt.77 Zum anderen lässt die Figur an das Darmol-Männchen denken, seit über 110 Jahren Werbefigur für eine Verdauungsschokolade. Es trägt die Zipfelmütze als Schlafmütze. In Anlehnung an die „Schlafmütze“ Onkel Franz, der im Bett eben diese Zipfelmütze trägt und den Max und Moritz in Wilhelm Buschs Bildgeschichte mit Maikäfern ärgern, hat Hanel den Michel in dieser Schläferrolle gezeigt. Bei ihm sind es die Grünen, die Michel – der hier die etablierten Parteien, denen er ja sonst blind folgt, verkörpert – aus dem sorglos inaktiven Schlaf treiben.78 Dabei war Michels Mütze einmal die

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Vgl. Grote, Michel; Riha, Michel Flugschrift Der deutsche Michel, 1849, S. Lammel, Deutsche Karikaturen, S. 15. Egon Körbi (Neue Westfälische Zeitung, 15.12.1983). Walter Hanel (Kölnischer Stadtanzeiger, 5.4.1983); Wilhelm Busch: Max und Moritz, 1865, 5. Streich.

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des Revolutionärs – und hat sich erst im Verlauf der Zeit zur Schlafmütze des bequem eingerichteten Bürgers gewandelt. „Im Verlauf von sechzig Jahren hat sich das Rot der deutschen Freiheitsmütze so ausgewaschen, daß man sie jetzt recht wohl für eine Schlafmütze halten kann.“ heißt es im Untertext zu einer Karikatur von Thomas Theodor Heine im Simplicissimus 1908.79

Abb. 7: Julius Nisle: Michel und seine Kappe, Eulenspiegel 13/​23.3.1849 Diese Metamorphose zeigte schon Julius Nisle in seiner Eulenspiegel-Karikatur 1849. Wie Abb. 7 zeigt, wandelt sich der revolutionäre Michel mit grimmig-entschlossenem Blick und Revoluzzer-Bart im Frühjahr zum eher gemäßigten Bürger mit gepflegtem Schnurrbart im Sommer bis zum resignierten Untertan, bartlos und mit trübem Blick im Spätjahr. Auch die Mütze spiegelt diese traurige Entwicklung: ist sie zunächst noch kokette Revoluzzer-Mütze mit Kokarde, die an die französische Revolution erinnert, so wandelt sie sich schließlich zur Schlafmütze mit schlaff herabhängendem Zipfel. Ein selbstbewusster Michel, ohne seine Zipfel-Schlafmütze, findet sich in der Karikatur nur selten. Der Ungar Robert Berény, der für den satirischen Ulk, die Beilage des Berliner Tageblatts, zeichnete, hat ihn  – pathetisch beschwörend  – 1925 so vorgestellt. Selbstbewusst trägt er die schwarz-rot-goldene Fahne, geht aufrecht (ohne Zipfelmütze), ein Blatt mit dem Namen „Marx“ („In diesem Zeichen wirst du siegen!“) schwenkend, der Zukunft entgegen.80

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S. Lang, Heine-Buch, o.p. Berény. Ulk 17/​24.4.1925.

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Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire

Abb. 8: Helmut Beyer: Deutsche Kurz-Geschichte, Ulenspiegel 22/​1946 Doch das blieb frommer Wunsch. Der Michel hat, wie Helmut Beyer in seiner deutschen Kurz-Geschichte zeigt (Abb. 8), die Schlafmütze beständig getragen. Er ist so in die Schrecken zweier Weltkriege und des 3. Reiches gestolpert. Nun, so Beyer, wäre es doch endlich Zeit, sie abzusetzen und das damit verbundene demutsvolle, verschlafene, opferhafte Verhalten aufzugeben. 31

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Nun, der Überblick über Michel-Karikaturen muss leider konstatieren, dass Beyers Wunsch von 1946 nicht erfüllt wurde. Bis heute kritisiert die Karikatur den Deutschen in seiner allegorischen Michel-Verkörperung – nicht zu Unrecht – als eher passiv-hinnehmenden Schlafmützenträger. Als Repräsentant der Deutschen ist Michel damit natürlich auch Identifikationsfigur des Rezipienten. Wenn der sich nun nicht ständig beleidigt fühlen, sondern wenn das satirische Lachen einen produktiven Impuls geben soll, dann muss der Betrachter zwischen sich und Michel differenzieren. Aber er muss die Partei Michels ergreifen, seine Tölpel- und Opferrolle beenden. Vielleicht dadurch, dazu beizutragen, dass die Schlafmütze durch eine andere Mütze ersetzt wird, die sich auch schon lange in der visuellen Satire findet: nämlich die Schellenkappe des Narren – nicht des Tölpels, sondern des gewitzten Narren, des Eulenspiegels, der in seinem Spiegel zeigt, welche Fehler wir verlachen und austilgen müssen. Der Satirezeichner, der Karikaturist jedenfalls sieht sich gerne in dieser Narrenrolle. Und wenn er 1847 noch beklagt, dass er – anders als der freie britische Mister Punch – von staatlicher Zensur behindert wird,81 so hat er im Verlauf der Geschichte heute Meinungsfreiheit erstritten. Zu wünschen ist, dass er sie im Interesse des Michels nutzt und Wirkung erzielt. 82 Als kluger, selbstironischer Narr kann Michel so auch gerne ein Tänzchen mit dem Tod wagen, sowie A. Paul Weber Tod und Narren als „Vergnügte Tänzer“ dargestellt hat.83 Selbstbewusst wird er das Risiko meistern.

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Hermann Dyck: Der deutsche Satyrenzeichner, 1847 (in: Kessemeier, Ereigniskarikaturen, S. 15). Anders als die New Yorker Times, die auf politischen Druck hin nach einer bissigen Trump-Karikatur resigniert beschloss, auf den satirischen Kommentar von Karikaturen verzichten zu wollen. Vgl. https://​www.timesofisrael.com/​ny-times-deeply-sorry-for-anti-semitic-cartoon-of-netanyahu-andtrump/​ (3.7.2019) A. Paul Weber: Vergnügte Tänzer, Rohrfeder, 1957, Abb. S. https://​www.totentanz-online.de/​veranstaltungen/​ratzeburg.php (11.1.2020)

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Germania, Michel und der Tod. Allegorien der visuellen Satire

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Bildquellen Abb. 1: Helmut Beyer: Vor der Diagnose. „Da, da tut’s noch weh“, Ulenspiegel 2/​1947. Abb. 2: Horst Haitzinger: Die Mutter der Schlachten, Mai 1991, in: Haitzinger, Weltsch(m)erz, S. 29. Abb. 3: Constantin von Grimm: Germanias Strafgericht, Schalk, Stuttgart, 2/​1878, in: Koch, Marianne, S. 38. Abb. 4: Karikatur aus dem Eulenspiegel, 1848, in: Dollinger, Lachen, S. 81. Abb. 5: Hanns Erich Köhler: Deutsche Teilung 45–55–65, 1959, in: Marienfeld, Geschichte, S. 56. Abb. 6: Walter Hanel, FAZ 26.2.1983. Abb. 7: Julius Nisle: Michel und seine Kappe, Eulenspiegel 13/​23.3.1849, in: Dollinger, Lachen, S. 64. Abb. 8: Helmut Beyer: Deutsche Kurz-Geschichte, Ulenspiegel 22/​1946, S. 10.

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Das visuelle Skript – ein Instrumentarium für die Analyse von Humor im Bild Antonia Gießmann-Konrads

General Theory of Verbal (and Visual) Humor (GTVH)1 Wenn man aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive beginnt, sich mit Humor zu beschäftigen, steht man vor der Herausforderung, einen geeigneten methodischen Zugriff zu entwickeln. Denn Vorarbeiten existieren dazu kaum. Theoretisch wird zwar über das Phänomen reflektiert2, eine anwendungsbezogene Methodik zur Analyse von Quellenkorpora lag bisher jedoch noch nicht vor. Eine Grundproblematik in der Geschichtswissenschaft ist der oft unpräzise oder synonyme Gebrauch von Begriffen wie „Humor“ und „Lachen“. Nach der Erkenntnis, dass man beim Anblick einer Karikatur nicht unbedingt in Gelächter ausbricht, wird Humor als analytische Kategorie oft von vornherein ausgeklammert.3 Auf dem Feld der Humorforschung sind die Psychologie und die Linguistik4 führend. Hier wird eine andere Herangehensweise vorgeschlagen: Lachen wird in erster Linie als physiologischer Prozess beschrieben und kann, muss jedoch nicht als Reaktion auf Humor folgen, der als spezifischer Modus der Kommunikation und als kognitiver Prozess verstanden wird.5 Victor Raskin hat zunächst mit der semantischen Skripttheorie (SSTH) und dann mit der gemeinsam mit Salvatore Attardo entwickelten General Theory of Verbal Humor (GTVH) eine 1

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Der folgende Aufsatz basiert u.  a. auf dem Kapitel „General Theory of Verbal (and Visual) Humor (GTVH) und ihre Anwendbarkeit im Rahmen einer historischen Humoranalyse“, das in meiner Dissertation erschienen ist. Vgl. Gießmann-Konrads, John Bull, S. 34ff. Die Arbeit von Katharina Rogge-Balke stellt etwa einige wichtige Vorüberlegungen hierzu an (vgl. Rogge-Balke, Befehl, S. 51f.), Humor als spezifische Kommunikationsform spielt bei der Analyse allerdings dann eine untergeordnete Rolle. Auch Felix Axster befasst sich mit humortheoretischen Überlegungen, macht jedoch keinen Vorschlag für eine ‚handwerkliche Vorgehensweise‘. Vgl. Axster, Spektakel, S. 121–168. Vgl. z. B. Rebentisch, Gesichter. Vgl. z. B. Attardo, Handbook. Vgl. Gießmann-Konrads, John Bull, S. 16.

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linguistische Theorie vorgestellt, die eine anwendungsbezogene, handwerkliche Methodik für die Humoranalyse präsentiert.6 Humor wird hier als Ergebnis einer Bedeutungsverschiebung definiert und mit dem Prinzip der Skript Opposition erklärt. Wörter evozieren Skripte, in Form komplexer semantischer Relationen, in denen sich – so Raskin – lexikalisches, zeit- und kontextgebundenes Wissen verdichtet.7 Der Begriff Skript wird von Raskin wie folgt definiert: „The script is a large chunk of semantic information surrounding the word or evoked by it. The script is a cognitive structure internalized by the native speaker and it represents the native speaker’s knowledge of a small part of the world. Every speaker has internalized rather a large repertoire of scripts of ‚common sense‘ which represent his/​her knowledge of certain routines, standard procedures, basic situations, etc.“8.

Raskins leitende Hypothese ist, dass ein Text dann als Witz gelten kann, wenn die in ihm auftretenden Skripte in Gänze oder in Teilen kompatibel9, aber dennoch konträr sind.10 Er differenziert zwischen Formen der Skript Opposition, die im Kontext eines Witzes auf einen realen und auf einen Humor evozierenden, nicht-realen, abnormalen oder unmöglichen Situationsund Handlungszusammenhang verweisen. Dafür entwickelt er folgende bipolare Begriffspaare: „actual“ vs. „non-actual“, „normal“ vs. „abnormal“, „possible“ vs. „impossible“. Zusätzlich differenziert Raskin zwischen weiteren Skript Oppositionen, die er als „essential to human life“11 bezeichnet. Wieder bezieht sich das als zweites genannte Begriffspaar auf den Humor generierenden Situations- und Handlungszusammenhang: „goodness-related“ vs. „badness-related“, „life-related“ vs. „death-related“, „non-sex-related“ vs. „sex-related“, „non-money-related“ vs. „money-related“, „high-stature-related“ vs. „low-stature-related.“12 Als Praxisbeispiel führt Raskin den vielzitierten „Doctor’s Wife Joke“ ein, der aus dem Amerika der 1930er Jahre stammt:

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Vgl. Raskin, Semantic; Attardo, Linguistic. Vgl. Raskin, Semantic, S. 135. Ebd., S. 81. Im Mechanismus des Witzes vereinen sich Gegensätze und werden damit kompatibel. Zu dieser Kompatibilität vgl. ausführlich Gießmann-Konrads, John Bull, S. 39ff. Vgl. Raskin, Semantic, S. 99. Ebd., S. 113. Ebd., S. 127. Es sei darauf hingewiesen, dass im Folgenden mit den englischen Begriffspaaren gearbeitet wird.

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Das visuelle Skript – ein Instrumentarium für die Analyse von Humor im Bild

„Is the doctor at home?“ the patient asked in his bronchial whisper. „No“, the doctor’s young and pretty wife whispered in reply. „Come right in.“13 Das Liebhaber oder Ehebruch-Skript und das Doktor-Skript14 sind hier zwar in einem Text kompatibel, zeichnen sich jedoch durch die Opposition „sex-related“ vs. „non-sex-related“ aus.15 Die allgemeinste Form eines Skriptes lässt sich mit Raskin als „General Knowledge Script“16 bezeichnen, welches auf allgemein zugänglichem Wissen beruht. „Sophisticated Humor“ in Form von „Individual“ oder „Restricted Knowledge Scripts“17 hingegen basieren auf Insiderwissen, das (möglicherweise) nur einem begrenzten Personenkreis zur Verfügung steht. Raskin unterscheidet „macroscripts“ und „complex scripts“. Das „macroscript“ Restaurant besteht beispielsweise aus den chronologisch aufeinander folgenden Skripten drive up to the restaurant, be seated, order food etc. Das komplexe Skript war hingegen beinhaltet keine Chronologie, sondern besteht aus weiteren Skripten wie army, enemy oder victory.18 Wie zu zeigen ist, lässt sich Raskins Ansatz auch auf visuellen Humor in Form von Karikaturen übertragen. Denn ebenso wie Sprache evozieren Bilder als Karikaturen Skripte, auch bestimmte visuelle Skripte19. Humor entsteht dann, so ließe sich mit Bezug auf Raskin schlussfolgern, wenn es im Bild oder durch Text-Bild-Korrelationen in Karikaturen zu Formen der Skript Opposition kommt, indem eigentlich nicht miteinander vereinbare (konträre) Inhalte aufeinandertreffen. Eine Besonderheit von visuell hergestelltem Humor entsteht folglich, wenn Inkongruenzen auf verschiedenen text- oder bildbasierten Ebenen auftreten.20 Raskin schreibt: „The speaker and hearer’s knowledge of their language makes a certain set of scripts available to them in the form of the internalized lexicon of their native language. […] The society

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Ebd., S. 100. Mittels eines Strukturbaums definiert Raskin die semantischen Relationen des lexikalischen Doctor-Skripts (vgl. Raskin, Semantic, S. 85). Vgl. ebd., S. 32 ff; Martin, Psychology, S. 90–91. Raskin, Semantic, S. 135. Attardo, Linguistic, S. 216. Im Folgenden wird es ausschließlich um komplexe Skripte gehen. Vgl. Attardo, Linguistic, S. 200. Um ein aktuelles Beispiel aus der Welt der Politik zu geben: Der zeitgenössische Medienkonsument sieht vor seinem inneren Auge ein visuelles Merkel-Skript, d. h. eine normierte visuelle Repräsentation, die mit den Attributen Hosenanzug, Halskette und der für sie typischen Frisur und der zur Raute geformten Hände einhergeht. vgl. Hempelmann/​Samson, Cartoons, S. 611, 618.

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also contributes to the process of selection of scripts by making some scripts much more readily available to the speaker and hearer than some other scripts.“21.

Die semantische Skripttheorie ist eine linguistische Theorie, die auf Überlegungen basiert, die sich in erster Linie auf Sprache beziehen. Durch die Weiterentwicklung des Skript-Begriffes um die Dimension des Visuellen lässt sich die Theorie auf Karikaturen anwenden22. Bei der Untersuchung historischer Karikaturen werden Lexika, Benimm- oder Anstandsliteratur23, Wörterbücher sowie normierte visuelle Repräsentationen, wie sie sich bspw. in der Genremalerei, bei Herrscherporträts oder auch in der illustrierten Presse finden lassen, zu unerlässlichen Quellen, um die „General Knowledge Scripts“ – das zeitgenössische standardisierte Wissen – und die jeweils vorherrschenden zeit- und gesellschaftsspezifischen (visuellen) Skripte zu identifizieren. Die These, dass auch bildliche Darstellungen wie Karikaturen visuelle Skripte evozieren, soll im Folgenden zusammen mit dem Prinzip der Skript Opposition, einem – wie zuvor erläutert – zentralen Bestandteil der GTVH24, erläutert werden. Als Beispiel dient die berühmte Punch-Karikatur „Dropping the Pilot“ von John Tenniel (Abb. 1), die sich auf die Entlassung Bismarcks durch Wilhelm II. bezieht.25 Dabei geht es nicht um eine umfassende Karikaturenanalyse, sondern darum – aufbauend auf Raskin – eine für die Analyse visuellen Humors anwendbare Methodik und Terminologie zu erläutern.

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Raskin, Semantic, S. 129. Vgl. Gießmann-Konrads, John Bull. Zu der Quellengattung der Benimm- und Anstandsliteratur vgl. von Knorring, Militär. Das mit Raskin eingeführte Prinzip der Skript Opposition ergänzt die „General Theory of Verbal Humor“ um weitere Analysekategorien. Diese bezeichnet sie als „Knowledge Ressources“, die sich wie folgt benennen lassen: Zielscheibe, Situation, narrative Strategie, Sprache, logischer Mechanismus. Auf diese Weise lassen sich weitere Bestandteile und Abstraktionsebenen eines Witzes kennzeichnen. Das wesentliche Ziel der Theorie, die in der Forschung bereits auf visuelle Formen von Humor angewandt wurde (vgl. Paolillo, Gary; El-Arousy, Towards; Gérin, Second Look), besteht darin, mit Hilfe der genannten „Knowledge Ressources“ Ähnlichkeitsstrukturen in der Beschaffenheit von Witzen ‚aufzuspüren‘ (Attardo/​R askin, Script, S. 293). Durch die Integration von Humorzielscheiben als Analyseeinheit werden dabei Überlegungen aus dem Bereich der Superioritäts- und Aggressionstheorien berücksichtigt (vgl. Hempelmann/​Attardo, Resolutions, S.  130), die sich darauf beziehen, dass Humor meist gegen etwas gerichtet ist und Ab- und Ausgrenzungsmechanismen in sich vereint. Vgl. hierzu auch Gießmann-Konrads, John Bull, S. 32ff.

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Das visuelle Skript – ein Instrumentarium für die Analyse von Humor im Bild

Abb. 1: John Tenniel (1820–1914) Das Bild gilt „als zum Klassiker gewordene Karikatur“26 und das, obwohl es auf der ikonografischen Ebene nicht von dem Stilmittel der Verzerrung oder Verfremdung Gebrauch macht. Was von der Mehrheit der Autoren, die sich mit den Wesensmerkmalen von Karikaturen befassen, als zentral erachtet wird.27 Das zeigt, dass es offensichtlich ein anderes Merkmal sein muss, das Karikaturen in besonderer Weise auszeichnet und von anderen Bildern unterscheidet28. Bernhard Woschek hat dies mit dem Prinzip der „Bedeutungsverschiebung“29 erklärt. Karikaturen, so Woschek, seien das Ergebnis einer solchen Bedeutungsverschiebung und erzeugten damit Humor. 26 27 28 29

Woschek, Witzigkeit, S. 22. Vgl. z. B. Rebentisch, Gesichter, S. 24; vgl. Knieper, Karikatur, S. 75. So auch Woschek, Witzigkeit, S. 27. Ebd.

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Der Historiker Heinrich Dormeier konstatiert, die Punch-Karikatur sei eine „ehrerbietige Würdigung John Tenniels“30 an Bismarck. Eine Herleitung, wie er zu dieser Schlussfolgerung kommt, bleibt jedoch aus. Ihm ist hierbei durchaus zuzustimmen. Unter Anwendung der Skript Theorie mit ihren analytischen Kriterien ist es allerdings möglich, diese Deutung auch nachprüfbar herzuleiten. Warum ist es nicht Bismarck, der aus britischer Perspektive in eine komische Rolle eingebunden wird? Die Bedeutungsverschiebung, durch die Humor evoziert wird, entsteht nach Amadeu Viana durch die Kollision eines „Foreground“ mit einem „Background“ Skript.31 Das „Background“ Skript ist diejenige Bedeutungsebene, die in Verbindung mit dem Selbstverständnis der zur Zielscheibe gemachten Figur steht. Das „Foreground“ Skript hingegen konstituiert die Humorzielscheibe. Entscheidend ist, dass sich gerade aus den jeweils eingesetzten „Foreground“ Skripten Rückschlüsse darauf ziehen lassen, mit welcher Tendenz die jeweilige Humorzielscheibe belegt wird.32 Mit Bezug auf die Punch-Karikatur heißt dies konkret: Die ikonografische Darstellung Bismarcks evoziert das „Foreground“ Skript LOTSE, das kompatibel ist mit dem „Background“ Skript REICHSKANZLER, der das Staatsschiff durch unsichere Gefilde manövriert. Dabei ergibt sich keine semantische Distanz zwischen „Foreground“ und „Background“ Skript. Das Bild eines fähigen Lotsen ist mit einem fähigen Kanzler kompatibel, wodurch Bismarck nicht zur Zielscheibe von Humor wird. Auch Körpersprache und -haltung, so, wie sie im Bild dargestellt sind, kollidieren nicht mit dem visuellen Bismarck-Skript, d. h. mit normierten visuellen Repräsentationen des Reichskanzlers. Ganz im Gegensatz zu Wilhelm II.: Das „Foreground“ Skript eines Irrationalität und Realitätsverlust ausstrahlenden, verträumten JUNGEN („low-stature-related“), der eine „Phantasiekrone“33 trägt, zeichnet ein dekonstruierendes Bild des Deutschen Kaisers, der somit zur Zielscheibe des Humors wird. Die Darstellung Wilhelms evoziert das „Foreground“ Skript eines unreifen und unerfahrenen Jungen Mannes, insbesondere, wenn man auf seine Körpersprache achtet. Diese kollidiert mit dem Selbstverständnis des Kaisers und mit den ihm zugeschriebenen Merkmalen (rational-militärische Haltung, „high-stature-related“). Indem der junge Kaiser Bismarcks Entlassung ausspricht, lässt er den damit verbundenen Erfahrungsschatz wie eine unwichtige Sache fallen. Die Bedeutungsverschiebung lässt sich durch die Kollision des lexikalischen Skripts DROPPING mit dem zeitgenössischen BISMARCK Skript kennzeichnen.34 30 31 32 33 34

Dormeier, Einleitung, S. 9. Viana, Asymetry, S. 506. Vgl. Ebd., S. 505. Owzar, Staatsschiff, 1861. Im Rahmen einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit der Karikatur müsste nun der (mediale) Entstehungskontext in den Blick genommen werden, insbesondere, um die Wahl der eingesetzten Skripte weiter zu erklären. Im vorliegenden Fall dient die Karikatur zur Herleitung des methodischen Instrumentariums.

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Das visuelle Skript – ein Instrumentarium für die Analyse von Humor im Bild

Während der Betrachter mit dem Wort „to drop“ die Handlung verbindet, sich von etwas Bedeutungslosem („low-stature-related“) zu trennen, verbindet er mit der im Bild dargestellten Figur Bismarck das Gegenteil, nämlich Relevanz („high-stature-related“). Durch diese unerwartete und damit auch unverständliche Handlung wird Wilhelm mit der Skript Opposition „normal“ vs. „abnormal“ in eine komische Rolle eingebunden. Der Ausdruck „Dropping“ ist dabei nicht willkürlich gewählt. Für die humoristische Wirkung ist die englische Bildunterschrift entscheidend: To drop ist ein transitives Verb; die deutsche Übersetzung „Der Lotse geht von Bord“ hingegen ist intransitiv, womit die eigentliche Pointe der Karikatur verfehlt sein dürfte. Denn dies führt zu der Interpretation, Bismarck verlasse das Staats-Schiff aus freien Stücken. Die vorgestellte Terminologie der Skript Theorie ermöglicht somit eine analytische Herleitung der Dormeierschen These, dass es sich bei der Karikatur Tenniels um eine Würdigung Bismarcks handelt. Obwohl er „im ganzen eine kühle oder moderat unfreundliche Haltung gegenüber England“35 pflegte, verband man mit ihm auf englischer Seite trotzdem vor allem Stabilität und einen vorhersehbaren (politischen) Kurs. Wilhelm II. hingegen galt bereits frühzeitig als „Risiko“.36

„Fore-“ und „Background“ Skripte im Wandel der Zeit Auf der Grundlage empirisch durchgeführter Untersuchungen kommen Ruch, Attardo und Raskin zu dem Ergebnis, dass die Form der Skript Opposition den größten Einfluss darauf hat, ob und in welchem Maße sich Witze voneinander unterscheiden.37 Diesen Gedanken greift der vorliegende Ansatz auf und geht von der Hypothese aus, dass die Art der Skript Selektion (die Zuordnung eines „Foreground“ zu einem „Background“ Skript), also die semantische Distanz zwischen den Skripten, und die Skript Opposition (z. B. „high-stature-related“ vs. „low-stature-related“) einem historischem Wandel unterliegen und somit keinesfalls statisch sind. So kann es  – beispielsweise mit Blick auf die britische Königin Victoria, wenn sie zur Zielscheibe der 35 36

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Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 444–445. Ebd., S. 467. Woschek weist mit Recht darauf hin, dass die Karikatur eine ambivalente Struktur besitzt. Diejenigen Punch-Leser, die mit der Abdankung Bismarcks auf einen Neuanfang, auch für das deutsch-britische Verhältnis, hofften, imponierte möglicherweise das draufgängerische Verhalten Wilhelms  II. Die vorliegende Interpretation meint jedoch, dass die öffentliche Besorgnis aufgrund Bismarcks Entlassung in England überwog. Dies wird nicht zuletzt an den Dimensionen des gezeichneten Schiffes deutlich, dass nun ohne Lotsen vor allem Unberechenbarkeit ausstrahlt. Rebentisch verweist überdies in seiner Untersuchung auf weitere frühe Karikaturen John Tenniels, u. a. aus dem Jahr 1889, die auf die Rüstungsvorhaben des neuen deutschen Kaisers verweisen und ein klares Bedrohungspotential besitzen (vgl. Rebentisch, Gesichter, S. 165). Vgl. Ruch/​Attardo/​Raskin, Empirical, S. 123.

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Komik gemacht wurde – nicht als arbiträr gelten, mit welchen „Foreground Skripten“ das zeitgenössische „Background“ Skript Königin im Humor des 19. Jahrhunderts kollidierte. Dies soll im Folgenden schlaglichtartig anhand ausgewählter Bildbeispiele erläutert werden. Die erste Karikatur (Abb. 2) aus der Zeit des Burenkrieges (1899–1902)38 stellt neben der britischen Königin Victoria (1819–1901) ihren Premierminister Joseph Chamberlain (1837–1914) sowie den Burenpräsidenten Paul Kruger (1825–1904) dar. Die deutsche Öffentlichkeit ergriff während des Konflikts mehrheitlich Partei für die Buren, die man als „niederdeutsche Bauern“39 verklärte. In der ersten Phase des Krieges konnten diese überraschend Siege gegen das britische Empire verbuchen, die von den deutschen Medien euphorisch bejubelt wurden. Das Blatt änderte sich jedoch schon im Frühjahr 1900, als der Kriegsverlauf begann, sich zu Gunsten der Briten zu ändern. Die Konnotation des in Abb. 2 gewählten „Foreground“ Skripts Gewichtheberin bzw. Jahrmarktsattraktion muss aus der Perspektive der Zeitgenossen als skandalträchtig bewertet werden. Dieser schonungslose Blick auf den ‚royalen Körper‘40 und die semantische Distanz der Skripte Königin („Background“ Skript, „high-stature-related“) vs. Gewichtheberin („Foreground“ Skript, „low-stature-related“) dürfte auf Seiten der deutschen Humorrezipienten für einen besonderen Erregungszustand gesorgt haben. Zur Zeit der Jahrhundertwende lässt sich diese Form der Erregung durch intensive Aushandlungsprozesse über Fragen von Nacktheit und zur Schau gestellter Sexualität sowie des jeweils Sag- und Zeigbaren erklären, die den öffentlichen Diskurs dieser Zeit begleiteten.41 Die beschriebene Form der bildlichen Darstellung zeichnet sich somit dadurch aus, dass die britische Königin jenseits des offiziellen Protokolls und außerhalb der für sie üblichen öffentlichen Sphäre dargestellt wird. „Fore“- und „Background“ Skript stehen in diesem Fall in einem besonderen Spannungsverhältnis.

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Der Burenkrieg war eine Auseinandersetzung Großbritanniens mit den Burenrepubliken Transvaal und Oranje-Freistaat um die Vorherrschaft in Südafrika. Die Buren waren die Nachfahren der ersten holländischen Siedler, die seit dem 17. Jahrhundert den südlichen Teil Afrikas besiedelten. Die Karikatur erschien in einer im Frühjahr 1900 publizierten Sonderausgabe mit dem Titel „Der Burenkrieg“. Herausgegeben wurde diese insbesondere von Redaktionsmitgliedern der bekannten Satirezeitschrift Simplicissimus. Vgl. hierzu ausführlich Gießmann-Konrads, John Bull, S. 211ff sowie Gießmann-Konrads, Queen, S. 311ff. Zu den Hintergründen des „Burenkriegs“, der in der deutschen Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt wurde, vgl. Kröll, Buren-Agitation, S. 15ff. sowie z. B. Geppert, Pressekriege. Keller, Ludwig Thoma, S. 44. Der Begriff des ‚royalen Körpers‘ setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: neben dem menschlichen Körper ist auch die Monarchie als institutioneller ‚Körper‘ gemeint und damit die ‚Verkörperung‘ eines bestimmten Gesellschaftsmodells. Hierbei liegt eine partielle Überschneidung mit der These von Kantorowicz vor, der allerdings zwischen einem physischen und einem metaphysischen Körper des Königs unterscheidet. Vgl. Kantorowicz, Two Bodies. Vgl. Templin, Schmutz, S. 269. Zu dem Themenfeld vgl. auch das Kapitel „Sex and Satire“ bei Allen, Satire, S. 138 ff. sowie Axster, Spektakel, S. 168ff.

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Das visuelle Skript – ein Instrumentarium für die Analyse von Humor im Bild

Abb. 2: Thomas Theodor Heine (1867–1948), Mißlunge Kraftprobe Skript Oppositionen im visuell hergestellten Humor, der bereits über 100 Jahre zurückliegt, lassen sich nur unter Berücksichtigung normativer Bildwelten erkennen und analysieren. Dies wird offensichtlich, wenn man die satirische Darstellung mit dem affirmativen visuellen Background Skript Victoria der zeitgenössischen Bildproduktion vergleicht. In einem Porträt des österreichischen Malers Heinrich von Angeli (1840–1925) aus dem Jahr 1899 wird Victoria ihrem gesellschaftlichen Stand und Alter entsprechend als Witwe in hochgeschlossener schwarzer Robe porträtiert.42 Der Kontrast zwischen der Witwentracht und dem knappen, sehr körperbetonten rosafarbenen Rüschenanzug könnte den in der Karikatur vollzogenen Tabubruch nicht deutlicher in Erscheinung treten lassen.

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Victoria soll die Auftragsarbeit Angelis dabei mit den höchsten Tönen gelobt haben: Vgl. Royal Collection Trust, 11.05.2020, https://​www.rct.uk/​collection/​404836/​queen-victoria-1819-1901.

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Durch Rekurs auf normative Bildkonstruktionen lassen sich aber auch Unterschiede in der satirischen Bildproduktion benennen. Eine der wenigen Karikaturen Victorias in der Satirezeitschrift Kladderadatsch (Abb. 3), die weitestgehend auf die Darstellung der britischen Königin verzichtete, übernimmt ganz im Gegensatz zu der Karikatur von Thomas Theodor Heine wesentliche Bestandteile aus der affirmativen Bildvorlage und ist damit deutlich weniger provokant. Die Karikatur „Der bedrohte Frieden“ erschien kurz vor Ausbruch des Burenkrieges im Oktober 1899. Hier ist die britische Königin zwar in der Weise deformiert dargestellt, dass ihr Übergewicht ins Zentrum gerückt wird, ihre Kleidung entspricht jedoch den damaligen Konventionen, denn sie trägt ihre schwarze Witwenkleidung. Eine Abweichung von diesem wesentlichen Bestandteil des visuellen Victoria-Skripts war offensichtlich, genauso wie die Skript Opposition „no-sex-related“ vs. „sex-related“, für den Kladderadatsch keine Option für die Herstellung von Humor.

Abb. 3: Ludwig Stutz (1865–1917), Kladderadatsch, Nr. 40, 1. Oktober 1899 44

Das visuelle Skript – ein Instrumentarium für die Analyse von Humor im Bild

Ein weiteres Bildbeispiel, das ca. fünfzig Jahre zuvor und damit während des Krimkrieges (1853– 1856) erschienen ist, zeigt die junge britische Königin im Jahr 1855 (Abb. 4). Die britische Flotte hatte im Rahmen ihrer Ostseemission wider Erwarten nicht durch fulminante Seeschlachten gegen Russland für Aufsehen gesorgt, sondern durch die Taktik der Seeblockade eher stille Erfolge verbuchen können.43 Neben Victoria zeigt das Bild Admiral Charles Napier (1786–1860), den man zum Sündenbock des in den Augen der Öffentlichkeit gescheiterten britischen Seekriegs machte, sowie Richard Dundas. Letzterer galt als neuer Hoffnungsträger der Briten, dem nun die Aufgabe oblag, etwa die russischen Festungsanlagen von Kronstadt einzunehmen und damit ‚ernstzunehmende‘ militärische Erfolge nach Hause zu tragen. Victoria trägt eine zeittypische Robe mit Schärpe, auf der die britischen Wappentiere Löwe und Einhorn zu sehen sind. Der Zeichner scheint hier in der Gestaltung der Figur Victoria bewusst auf stark deformierende Elemente zu verzichten und wählt eine ‚realistische‘ Darstellungsweise. Dadurch entsteht keine semantische Distanz zwischen „Foreground“ und „Background“ Skript.44 Offensichtlich hätte eine deformierende Darstellung der britischen Königin keine akzeptierte Form des Tabubruchs dargestellt, da ihr Status auf deutscher Seite scheinbar nicht hinterfragt wurde. Akzeptanz und Anerkennung gesellschaftlicher Autoritäten lassen sich, so die These, auch an dem Grad der Inkongruenz in subversiven Bildmedien messen. Denn religiöse, ethische oder anderen Normen können die Bereitschaft hemmen, eine für den Humor erforderliche alternative Interpretation zuzulassen.45 Obwohl der Karikaturist keine Zensurmaßnahmen zu befürchten hatte46, hält er sich tendenziell an die normative Bildvorlage.47 Daraus lässt sich ableiten, dass Humor als Kommunikationsform nur dann funktionieren kann, wenn die semantische Distanz zwischen den Skripten und die Art der Skript Opposition beim Humorrezipienten auf Akzeptanz stoßen und damit die Grenzen des Sag- und Zeigbaren eingehalten werden. Die Notwendigkeit akzeptierter Normbrüche bei der Humorrezeption hat Elliot Oring als „appropriate incongruity“48 bezeichnet. Aus Orings Überlegungen lässt sich schlussfolgern, dass Humor generierende Inkongruenzen nie willkürlich gewählt sind, sondern im Zusammenhang mit ihrem kulturellen Entstehungskontext zu sehen sind. So besitzt das Abbild Victorias offensichtlich fünfzig Jahre später nur noch eingeschränkt Gültigkeit für die Rekonstruktion von „Background“-Repräsen43 44 45 46

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Zur britischen Ostseemission im Krimkrieg vgl. ausführlich Gießmann-Konrads, John Bull, S. 48ff. Für eine detaillierte Einordnung und Analyse der Karikatur vgl. Ebd., S. 76ff. Vgl. Raskin, Semantic, S. 129. Majestätsbeleidigung als „Contempt against the King“ kam in England seit 1832 nicht mehr zur Anwendung. Vgl. Hartmann, Majestätsbeleidigung, S. 185, Anm. 8. Vgl. etwa zeitgenössische Stiche der britischen Königin aus dem Jahr 1855: gettyimages, 11.05.2020, https://​www.gettyimages.de/​detail/​nachrichtenfoto/​queen-victoria-1819-1901-in-1855-from-a-portrait-by-f-nachrichtenfoto/​113629114. Oring, Parsing, S. 213.

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tationen. Dies offenbart ein Seitenblick in die subversive Bildwelt (Abb. 1), in der für den Humor erforderliche alternative Interpretationen nun auf Akzeptanz stoßen.

Abb. 4: Wilhelm Scholz (1824–1893), Kladderadatsch, Nr. 19, 22. April 1855 Es konnte gezeigt werden, dass mit der Weiterentwicklung der GTVH um den Aspekt des Visuellen ein neuer, interdisziplinärer Zugang innerhalb der historischen Karikaturenanalyse zur Verfügung steht, um die jeweiligen Grenzen des Sag- und Zeigbaren sowie ihren Wandel auszuloten. Der schlaglichtartige Vergleich, wie die britische Königin im Abstand von fünfzig Jahren in Karikaturen rezipiert wurde, macht deutlich, dass Verschiebungen in der semantischen Beschaffenheit von Skript Oppositionen und die sich daraus ableitenden Schlussfolgerungen auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ein zentraler Untersuchungsgegenstand sind. Mit dem Prinzip der Skript Opposition lassen sich einerseits Mechanismen der Humorproduktion benennen und Bedeutungsverschiebungen werden beschreib- und nachprüfbar. Andererseits verweisen erkennbare Dominanzen der Skript Opposition auch auf eine zeitliche Spezifik des Humors und Entwicklungen in der Humorproduktion werden darstellbar.49 Gleichzeitig müssen subversive und affirmative Bildwelten als komplementäre Einheiten gesehen werden. Für die historische Bildwissenschaft bedeutet dies, dass die Erforschung visueller Medien aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive möglichst immer beide Bildwelten für eine 49

Vgl. Gießmann-Konrads, John Bull.

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umfassende Analyse berücksichtigen sollte. Denn auch die Bewertung normativer Bildkonstruktionen (Herrscherporträts/​Genre- und Historienmalerei) profitiert durch die Berücksichtigung subversiver Bildmedien.

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Visueller Humor als Kritik und Ausgrenzung am Beispiel der Postkartenserie „Der kleine Cohn“ – Entwicklung einer Humortheorie Clemens Schwender Die Rolle des visuellen Humors soll an einem außergewöhnlichen und schwierigen Beispiel diskutiert werden. Antisemitischer Humor geht eigentlich unter die Gürtellinie des Ertragbaren. Aber um die Funktion des Humors in seiner Breite zu verstehen, lohnt ein Blick auf Sachverhalte, durch die Aufklärung betrieben werden kann. Die Grundthese lautet: Humor stellt Fehler und Fehlleistungen dar und gibt die Verursacher der Lächerlichkeit preis. Humor ist damit grundsätzlich Kritik an dem, über was man lacht. Humor hat zunächst eine korrektive Funktion, kann aber auch ausgrenzen. Der Gegenstand der Untersuchung ist der Fall des kleinen Cohn, und die Anekdote, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine breite Öffentlichkeit fand und dessen mediale Verbreitung heute noch zur Verfügung steht. An einem Sample von gut 100 Bildpostkarten lassen sich die antisemitischen Stereotype sortieren und analysieren.

Der Gegenstand der Analyse: Der kleine Cohn Die Geschichte geht auf eine Anekdote zurück, die sich im Rahmen einer Theateraufführung ereignet haben soll. Die Journalistin Margret Boveri erinnert sich: Der Rechtsanwalt Fritz Cohn „war ein bekannter Lebemann, Reserveoffizier, Mitbegründer des kaiserlichen Jachtclubs, klein von Statur, aber groß als Gourmand und Trinker. Um die Jahrhundertwende ging während einer Pause im Apollo-Theater der kleine Mann im Gedränge verloren, seine Freundin rief in die Menge: ‚Habt ihr nicht den kleinen Cohn gesehen?‘ Der Ruf setzte sich von Mund zu Mund durch die Foyers fort und schwoll zum Chor an. Die Mitglieder des Ensembles nahmen ihn auf, gaben ihm eine Melodie – und es entstand das, was man in

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meiner Kindheit vor dem Ersten Weltkrieg noch einen Gassenhauer nannte, der Schlager ‚Habt ihr nicht den kleinen Cohn gesehn?‘.“1

Das Lied „der kleine Cohn“ fand zum Beispiel 1929 Eingang in das Potpourri „Anno Dazumal“ der Comedian Harmonists. Im Refrain heißt es: „Hab’n Sie nicht den kleinen Cohn geseh’n? /​ Sah’n Sie ihn denn nicht vorübergeh’n? /​In des Volkes Menge, /​da kam er in‘s Gedränge. /​Da hab’n Sie nun den Schreck, /​der Cohn ist weg!“ Auf die Tatsache, dass bereits die Verwendung des Namens Cohn einen antisemitischen Unterton hatte, weist Julius H. Schoeps in seinem Artikel „Hab’n Sie nicht den kleinen Cohn geseh’n?“ hin.2 Spätestens mit dieser Zuschreibung war die Stimmung gesetzt für eine Postkartenreihe, die den Fall aufnahm und um weitere antisemitische Stereotype ergänzte. Als der Sammler Arthur Langerman 2018 sein über viele Jahre zusammengetragenes Material dem Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin übergab, bot sich die Gelegenheit dies für die Forschung zu nutzen. Es bildet den weltweit größten und vielfältigsten Bestand visueller antisemitischer Artefakte mit über 5000 Postkarten, mehr als 1000 Skizzen sowie jeweils mehrere Hundert Plakate, Gemälde und illustrierte Druckwerke aus 15 Ländern. 3 „Der historische Schwerpunkt erstreckt sich vom späten 19.  Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, umfasst aber auch Sammelobjekte aus der Zeit nach 1945. Arthur Langerman stellt dem Zentrum für Antisemitismusforschung exklusiv den Zugang für die wissenschaftliche Arbeit zur Verfügung. Im Unterschied zu anderen großen Sammlungen antisemitischer Artefakte, etwa der Sammlung Peter Ehrenthal (New York/​Jerusalem) oder der Sammlung Wolfgang Haney (Berlin), zeichnet sich die Sammlung Langerman durch ihre thematische und materielle Fokussierung auf visuelle antisemitische Medien und ihre breite geografische und historische Fächerung aus. Da der Sammler zudem besonderen Wert auf Originale und im Entstehungsprozess begriffene Skizzen legt, besitzen die Artefakte einerseits in vielen Fällen Unikatcharakter, während sie andererseits oftmals mit zusätzlichen Anmerkungen und Arbeitsanweisungen versehen sind. Darüber hinaus liegen innerhalb der Sammlung einige geschlossene Serien vor, die dem Gesamtwerk spezifischer Propagandisten oder spezifischer Propagandakampagnen entsprechen.“4

1 2 3 4

Boveri, Lügen, S. 20. Schoeps, Cohn geseh’n. Die Sammlung Langerman. Ebd.

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So ergibt sich ein Sample von gut 100 Postkarten mit unterschiedlichen Varianten des Themas rund um die Figur des kleinen Cohn.

Die Inhalte Betrachtet man die Darstellungen, fallen zunächst zwei Motive auf, die sich über alle Bilder durchziehen. Zum einen wird die Kleinwüchsigkeit thematisiert und zum anderen visuelle jüdische Zuschreibungen. Dass Cohn klein ist, wird visuell übertrieben. So zeigt eine Karte einen Trauerzug, wo sein Leichnam in einem Kinderwagen Platz findet. Die Darstellungen in der Größe eines Kleinkindes machen die Figuren zu Spielzeugpuppen. Oft ist er kaum halb so groß wie sein Umfeld. Verstärkt wird dieses Merkmal bisweilen durch krumme Beine. Dies weist auf eine mögliche Ursache hin. Rachitis ist eine Wachstumsstörung der Knochen im Kindesalter und geht auf einen Vitamin-D-Mangel zurück. Die Krankheit wird durch zu wenig Sonnenlicht begünstigt. Damit bekommen die Symptome eine soziale und eine kognitive Dimension, da diese durch die richtige Ernährung und genügend Aufenthalt in der Sonne präventiv zu vermeiden sind. Die Hakennase ist ein immer wieder bemühtes Merkmal, das darauf deutet, dass man vorgeblich Juden an ihrem Aussehen erkennen könne. Es kommen noch eine Reihe von sozialen Indizien hinzu, die zwar nicht typisch antisemitisch sind, aber verwendet werden, um Personen zu diskreditieren. Die Hauptfigur trägt immer wieder unpassende und zerschlissene Kleidung: Mehrmals aufgeschlagene Hosenbeine, was die geringe Körpergröße noch mehr betont, großkarierte Anzüge, kleine Hüte, die clownesk aussehen und auf Unwissenheit in Bezug auf angemessene Kleidung verweisen. Einige Witzbilder zeigen Bauarbeiten verbunden mit dem Hinweis, der kleine Cohn habe eine Mark verloren und nun die Berliner Straßen aufgerissen werden müssen, um diese wieder zu finden. Dies ist ein Hinweis auf geiziges Verhalten, da Aufwand und Ertrag nicht zusammenpassen. Auf einer Karikatur sitzt Cohn mit drei weiteren als Juden erkennbare Personen auf einem Schwein. Dieses gilt als Tier, das mit Schmutz in Verbindung gebracht werden kann. Durch die Nähe von Juden und Schwein soll die Emotion Ekel beim Betrachter ausgelöst werden. Schließlich gibt es eine Reihe von Bildern, die die Hauptfigur tot zeigen. Kommentiert wird eines der Beispiele: „In der grossen Wassernot fand auch der kleine Cohn den Tod!!!“ Zu erklären sind diese Bilder als finaler Ausschluss aus der Gemeinschaft. Der Tod wird nicht bedauert und löst bei den Umstehenden keine erkennbare Trauer aus (Abb. 1).

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Abb. 1: Der kleine Cohn: Berlin unter Wasser Körperlicher Schmerz und Tod sind geläufige Bestandteile des visuellen Humors. Man denke an die Bildergeschichten von Wilhelm Busch. In den Streichen von Max und Moritz5 geht es derb zu bis hin zum Tod der Titelfiguren. Angesprochen wird Schadenfreude gegenüber Figuren. Zunächst erleben Max und Moritz diese Emotion bei ihren Steichen, am Ende erleben sie selbst das Leid. Dabei geht es um das Gefühl von Gerechtigkeit durch körperliche Strafe für verwerfliches Verhalten. Es gibt Varianten – wie in aktuellen TV-Spieleshows – da ist die Demütigung des Opfers das Ziel der Aktion. Die Betroffenen sollen Scham empfinden für das, was sie tun oder was sie sind. Wenn Ranghohe und Mitglieder von Minderheiten in missliche Situationen geraten und Schmerzen empfinden, kann dies als Genugtuung erlebt werden. Gemeinsam ist den meisten Abbildungen der Postkarten-Serie, dass sie männliche Attraktivitätsmerkmale thematisieren. Der angeborene oder erworbene Kleinwuchs widerspricht der Erwartung, dass Männer in aller Regel größer als ihre Frauen sind. Kleine Männer haben weniger Chancen bei der Partnerwahl.6 Dies ist kulturübergreifend festzustellen. Die Körpergröße spielt zudem eine Rolle bei der männlichen Konkurrenz untereinander. Größere Männer können sich kleineren überlegen fühlen. Dies wird bei den Bildern deutlich, die Situationen der Musterung zeigen. Männer schicken Grußkarten von diesem Ereig5 6

Busch, Max und Moritz. Ellis, Sexual Attraction, S. 274f.

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nis nach Hause und betonen ihre Fitness und ihre Zugehörigkeit zum soldatischen Männerbund. Die eigene körperliche Fitness wird im Abwärtsvergleich als Dominanzbestätigung betont. So können Juden als nicht passend für die Landesverteidigung ausgegrenzt werden (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Der kleine Cohn: Gruß von der Musterung Die große Nase widerspricht der Tendenz zur Durchschnittlichkeit. Attraktivität zeichnet sich dadurch aus, dass kein Körperteil in seinen Proportionen auffällig sein sollte.7 Unpassende Kleidung widerspricht gesellschaftlichen Normen. Wer diese ignoriert, kann ausgeschlossen werden. Geld zu haben, ist ein Zeichen von Dominanz und Besitz von Ressourcen. Dies ist aber nur attraktiv, wenn die Mittel auch andren zugänglich gemacht werden. Geiz gilt darum als egoistisch und kann als gesellschaftliches Ausschlusskriterium herangezogen werden. Die Verbindung zum Schwein stellt Juden als Gesundheitsgefahr dar und es wird auf visueller Ebene angeboten, dass eine Ablehnung angeraten wird. Die Mehrheitsgesellschaft muss sich offenbar schützen vor einer direkten Begegnung. Dieses und die anderen genannten Elemente zeichnen Bilder von Juden als unattraktive und für die Gesellschaft gefährliche Figuren. Die Indizien sind zum Teil durch Verhalten selbst verschuldet. Dies wird in den humoristisch übertriebenen Postkarten zum Ausdruck gebracht. Eine Humortheorie muss in der Lage sein, dies konsistent zu erklären (siehe Abb. 3).

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Schmehl/​Oberzaucher, Ein Sinn für das Schöne, S. 20

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Abb. 3: Seht her, hier ist der kleine Cohn mit Abraham, Jsak und Jacobsohn

Die Evolution von Humor und Lachen Lächeln und Lachen sind angeboren. Auch taub und blind geborene Kinder zeigen diese Reaktionen. Es kann also nicht erlernt sein. Selbst Gorillas und Schimpansen reagieren auf Lachen. Sie werden aggressiv, wenn man lacht, während man auf sie zeigt. Dies deutet auf den inneren Widerspruch von Humor hin: Es gibt zwar den Spruch, dass Lachen gesund sei, doch dies gilt nicht für den Ausgelachten. Dieser sollte sich schlecht fühlen. Das Lachen als Ausdruck von Humor wurde lange als eine Besonderheit des Menschen betrachtet. Zudem wird der Humor als Zeichen für Intelligenz angesehen. Man denke hierbei an die Etymologie der deutschen Worte Witz, witzig und gewitzt. Doch dass Humor nicht auf die menschliche Rasse beschränkt ist, zeigt Ottmar Bahner in seiner Dissertation8 über die Kommunikation bei Menschenaffen. Er berichtet von einem Gorillaweibchen, das auf Widersinniges mit Lachen zu reagieren und Äußerung von Schadenfreude zeigt. Lachen ist ein biologischer Prozess, der durch rhythmisches, heftiges mit Lautäußerung begleitetes stakkato-artiges Ausstoßen von Luft zu erkennen ist. Der Vorgang ist so eindeutig, dass Lachen in aller Regel als solches zu erkennen ist. Der Vorgang ist spontan und kann keinesfalls auf einem rein kognitiven Prozess beruhen und ist in manchen Situationen so heftig, dass er nur schwer zu kontrollieren ist. Humor ist eine beispielhafte Kombination von Kultur und Biologie. Humorverständnis braucht gesellschaftliches Wissen, um eine körperlich veranlagte Reaktion auszulösen. 8

Bahner, Intersubjektivität, Kommunikation und Natur, S. 280f.

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Viele Humorforscher verweisen auf die Inkongruenz, die beim Erkennen eines Witzes entsteht. Verschiedene Skripte passen nicht zusammen, und das Erkennen der Nichtpassung wird durch Lachen signalisiert. Nach Suls ist ein Witz dann zum Lachen, wenn der Zuhörer versucht, den Widerspruch zwischen Pointe und Setting zu lösen und aus der Inkongruenz eine Kongruenz zu machen. Inkongruenz ist der Widerspruch zwischen dem, was man erwartet und dem, was eintritt.9 Doch was dagegen spricht ist, dass hier kein Unterschied gemacht wird zwischen Humor und ernsten Situationen. So wird es vor Gericht immer wieder inkongruente Situationen geben, die aber nicht zum Lachen Anlass geben. Auch Victor Raskin sucht nach einer Grammatik des Humors.10 Ein Witz muss demnach einer Regel folgen, die aus zwei Sätzen besteht: (a) der Text ist – ganz oder teilweise – kompatibel mit zwei unterschiedlichen Skripts und (b) die zwei Skripts, zu denen der Text kompatibel ist, widersprechen einander. Dies folgt ebenfalls der weit verbreiteten Inkongruenz-Theorie. Allerdings erlebt man im Alltag häufig Situationen von Nichtpassungen, ohne dass dies zum Erleben von Humor führt. Eine Grammatik des Humors reicht demnach nicht aus. Soziale und psychologische Aspekte müssen in den Fokus genommen werden. Henri Bergson erkennt, dass Lachen meist in Gruppen entsteht. Dies stärkt den Gruppenzusammenhalt und schließt gleichzeitig die Ausgelachten aus. Bergson zufolge ist Lachen ein nützliches soziales Instrument: Man lacht, wenn jemand eine Situation nicht erkennt und folglich nicht angemessen reagieren kann. Es geht um ein Fehlverhalten und man zeigt, dass man das erkannt hat.11 Dies zeigt sich nicht nur auf individueller Ebene. Gesellschaftliche Minderheiten und Außenseiter können zum pauschalen Ziel durch die Mehrheitsgesellschaft werden. Der Ethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt führt diesen Gedanken weiter. Das Lachen einer Gruppe über eine von der Gruppennorm abweichende Personengruppe ist eine erste Eskalationsstufe erzieherischer Aggressionen. Ziel ist es, abnorme Menschen wieder der Gruppe anzugleichen. Damit ist Humor eine Kritik an Personen oder an deren Verhalten. Über etwas oder jemanden lachen zu können, scheint etwas höchst Lustvolles zu sein.12 Lachen ist auch eine Einladung an andere mitzulachen. Menschen lachen weniger, wenn ein anwesender Partner nicht in gleichem Maße mitlacht, sie lachen mehr und intensiver, wenn er das tut.13 Freundschaft und Kooperation zeigen sich auch darin, ein ähnliches Empfinden für Humor zu haben und über die gleichen Dinge zu lachen. Humor zeigt sich als Ausdruck für Kooperation.

9 10 11 12 13

Suls, Two Stage Model. Raskin, Semantic Mechanisms. Bergson, Das Lachen. Eibl-Eibesfeld, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Osborne/​Chapman, Suppression of Adult Laughter.

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Lachen ist nicht nur ein Anzeichen, dass man einen Fehler erkannt hat, sondern kann auch eine Reaktion auf Kitzeln sein, zudem gibt es ein Lachen in Kontexten von Peinlichkeit und Verzweiflung, sowie bei Dominanz, und schließlich als literarische Figur im Comic Relief. Arthur Koestler versucht Lachen in einem größeren Zusammenhang zu verstehen und vergleicht Humor mit Kitzeln. Der Vorgang des Lachens ist so spontan, dass es keinesfalls auf einem rein kognitiven Prozess beruhen kann und in manchen Situationen so heftig, dass er nur schwer zu kontrollieren ist. Nach Koestler haben Humor und Kitzeln funktionale Ähnlichkeiten.14 Kitzeln ist ein spielerischer Angriff und ist damit evolutionär als adaptives Verhalten einzuordnen. Beim Kitzeln ist das Ziel des Angriffs der Körper. Beim Humor sind die Ziele körperliche, mentale oder soziale Eigenschaften und Verhalten. Kitzeln ist ein spielerischer Angriff und das Erkennen der nichtaggressiven Situation. Kitzeln und die Reaktionen darauf sind somit zu beschreiben als spielerisches kindliches Nahkampftraining. Kinder suchen die Situation immer wieder auf, um sich aber daraus zu befreien. Übertragen auf Humor könnte man feststellen, dass dieser die offenen Stellen des sozialen Lebens offensichtlich macht. Betrachtet man Humor und seine Situationen, kann man die Ebenen der Fehler beschreiben. Es gibt sprachliche Fehler auf den Ebenen von Syntax, Semantik und Phonetik. Soziale Fehler wie das Tragen von unpassender Kleidung, intellektuelle Fehler, die sich im Nichtwissen gesellschaftlicher Normen äußern, Fehler der Bewegung, Gestik und Mimik oder körperliche Unzulänglichkeiten treten zutage. Kinder können noch über körperliche Gebrechen lachen, soweit sie noch nicht wissen, dass dies keine durch die Person willentlich verursachte Situation ist. Der Ausgelachte sollte sich schlecht fühlen – immerhin wird er eines Verstoßes bezichtigt und erhält einen Verweis. Der Lacher hingegen sollte sich gut fühlen. Zum einen erlebt er eine hierarchische Aufwertung, zum anderen weiß man sich in einer Gruppe aufgehoben, deren soziale Normen man teilt. Wenn man diese Doppelrolle des Humors zwischen Auslachen und ausgelacht werden akzeptiert, sollte man Folgen im Zusammenleben erwarten. Menschen vergleichen sich immer wieder mit anderen. Dies dient der sozialen Einordnung, zeigt im Vergleich nach unten, wo man besser ist, und weist im Aufwärtsvergleich auf Bereiche hin, die zu optimieren sind. Einen Witz zu erzählen hat nach Alexander drei Aspekte beim sozialen Abwärtsvergleich. Es steigert den Status des Erzählers, es vermindert den Status von Individuen, die im Witz vorkommen und es steigert den Status der Zuhörer, da die sie als Gruppenmitglieder bestätigen.15 Geht der soziale Vergleich positiv aus, sollten sich die Menschen besser fühlen, denn sie finden Bestätigung. Für die Beliebtheit für humorvolle Filme wurde dies untersucht und der Zusammenhang konnte bestätigt werden. Die Anzahl der Komödien in den Top 5 der jährlich erstellten „People 14 15

Köstler, The Act of Creation. Alexander, Ostracism and indirect reciprocity.

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Entertainment Almanac’s“ im Zusammenhang mit dem „General Hard Times Measure“, einem Indikator für schlechte sozio-ökonomische Bedingungen fand sich ein nachweisbarer statistischer Zusammenhang.16 Wenn es Menschen schlecht geht, gehen sie eher ins Kino, um über andere zu lachen. So können sie sich offenbar zumindest temporär überlegen fühlen, denn es scheint Figuren zu geben, denen es schlechter geht als ihnen. Die hier entwickelte Humortheorie hat weitere Konsequenzen. Ausgelachte müssen die Situation nicht nur hinnehmen, sondern können aggressiv reagieren und sich ihrerseits zur Wehr setzen. Im Januar 1945 spöttelte die Schauspielerin Hanne Mertens auf einer Feier zunächst über die NSDAP und ihren Führer und sang dann das Lied „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“, wobei sie den nachfolgenden Original-Halbsatz in „zuerst Hitler, dann die Partei“ umwandelte. Ein anwesender Gestapo-Mann verfasste ein Memorandum. Am 5. Februar 1945 wurde Mertens wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet und in das Frauengefängnis Fuhlsbüttel verbracht. Dort wurde sie Ende April erhängt.17 Generell scheinen autoritäre Regime wenig Verständnis für Humor zu zeigen. Am 20. Dezember 1934 wurde „das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“ erlassen, mit dem derartige Fälle verfolgt werden konnten: „(1) Wer vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen, wird, soweit nicht in anderen Vorschriften eine schwerere Strafe angedroht ist, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn er die Behauptung öffentlich aufstellt oder verbreitet, mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. […] (3) Richtet sich die Tat ausschließlich gegen das Ansehen der NSDAP oder ihrer Gliederungen, so wird sie nur mit Zustimmung des Stellvertreters des Führers oder der von ihm bestimmten Stelle verfolgt.“18

So offen, wie der Straftatbestand formuliert ist, so offen und willkürlich wurde das Gesetz auch angewandt. Es schränkte die Meinungsfreiheit ein und kriminalisierte diese. Dieses Phänomen lässt sich zurückverfolgen auf die gesetzlich verbotene und verfolgte Majestätsbeleidigung (crimen maiestatis) seit der Antike über das Mittelalter bis in die aktuelle Zeit. In

16 17 18

Pettijohn, Relationships. Bake, Hanne Mertens. Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen. 20.12.1934, www.documentarchiv.de/​ns/​heimtuecke.htm [10.02.2020]

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der Bundesrepublik wurde zum 1. Januar 2018 der Paragraf zu Majestätsbeleidigung abgeschafft. Dieser regelte die Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten. Die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter oder diplomatischer Vertreter war durch § 103 StGB, den so genannten „Majestätsbeleidigungsparagrafen“ unter Strafe gestellt. Voraussetzungen dafür waren, dass die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen zu dem betroffenen Staat unterhält, die Rechtsvorschrift dort auf Gegenseitigkeit trifft, die ausländische Regierung bei der Bundesregierung Strafverfolgungsantrag gestellt hat und die Bundesregierung die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt hat. Anlass für die Debatte und schließlich Abschaffung der Rechtsvorschrift war ein Schmähgedicht des Satirikers Jan Böhmermann über den türkischen Präsidenten Erdogan.19

Fazit Obgleich das Thema Antisemitismus mit Bedacht behandelt werden muss, sind alle Elemente einer Anwendung einer Humortheorie präsent. Durch visuellen Humor in Form von Karikaturen auf Ansichtskarten wird eine Gruppe von Personen pauschal für ihr Aussehen und für ihr Verhalten kritisiert. Diese Kritik hat aber nicht die Anpassung der Individuen an die Gruppennorm zum Ziel, sondern deren Ausgrenzung. Beim antisemischen Humor auf Postkarten werden immer wieder Verstöße gegen die Erwartungen in Bezug auf Attraktivität formuliert. Juden sollten als mögliche Partner für Nichtjuden diskreditiert werden. Es ist sicher nicht zu weit interpretiert, wenn man die Nürnberger Rassegesetze als Fortführung dieser Logik beschreibt. Diese verboten ab 15. September 1935 die Eheschließung sowie den nichtehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden. Verstöße gegen das Gesetz wurden als Rassenschande bezeichnet und mit Gefängnis und Zuchthaus geahndet. Humor hat aufgrund der hier entwickelten Theorie eigentlich eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Sie hilft über nonformale Kommunikationsformen das menschliche Zusammenleben zu organisieren. Leichte Verstöße gegen die jeweils aktuellen Benimmregeln werden durch Lachen kommentiert. Dies informiert den Ausgelachten, dass er sein Verhalten anpassen soll. Humor ist damit ein Instrument der gesellschaftlichen Verhandlungen über Moral. Im vorliegenden Fall wird Humor zwar benutzt, um auf Abweichungen hinzuweisen, jedoch letztlich nicht mit dem Ziel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, sondern um die Betroffenen auszuschließen  – ein Ausschluss, der historisch in der geplanten Eliminierung der Juden enden sollte. 19

Paragraf zu Majestätsbeleidigung ist abgeschafft, 7. Juli 2017, www.bundesregierung.de/​breg-de/​aktuelles/​paragraf-zu-majestaetsbeleidigung-ist-abgeschafft-346460 [10.02.2020].

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Visueller Humor als Kritik und Ausgrenzung am Beispiel der Postkartenserie „Der kleine Cohn“

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Bildquellen Abb. 1: Der kleine Cohn: Berlin unter Wasser, ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 4610. Abb. 2: Der kleine Cohn: Gruß von der Musterung, ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 4698. Abb. 3: Seht her, hier ist der kleine Cohn mit Abraham, Jsak und Jacobsohn, ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 4611.

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Feindbilder, Grausamkeit und Gewalt

Mit satirischen Mitteln gegen Antisemitismus? – Die Zeitschrift „Schlemiel“ (1903–1924) Regina Schleicher Die Zeitschrift „Schlemiel“, ab 1903 zuerst unter dem Titel „Schlemihl“ veröffentlicht, herausgegeben von Leo Winz, dann aus urheberrechtlichen Gründen um einen Buchstaben abgeändert und herausgegeben im Verlag von Julius Moses und – wie bereits zuvor – mit Max Jungmann als Redakteur, stellte einen Versuch dar, den innerjüdischen Auseinandersetzungen um Gesellschaft und Politik einen humoristischen Ausdruck zu verleihen. Gegründet in Berlin, erschien sie hier über mehrere Jahre in geringer Auflage, jedoch für ein breiteres Publikum zugänglich über Lesesäle und Kaffeehäuser. Nachdem der „Schlemiel“ bereits nach 1905 nur noch in zwei Einzelnummern erscheinen konnte, musste seine Publikation bis nach dem Ersten Weltkrieg pausieren und fand erst in den Jahren 1919/​20 im 14-tägigen Rhythmus den Weg zu seinen Leserinnen und Lesern, wurde dann jedoch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten wieder eingestellt. 1924 erschien die Zeitschrift erneut, diesmal als Beilage der jüdischen Familienzeitschrift „Menorah“ – es blieb diesmal jedoch lediglich bei einer Einzelnummer.1 Redakteur war neben Max Jungmann unter anderem Sammy Gronemann. Als Zeichner der Ausgaben vor dem Ersten Weltkrieg können Josel Rosinthal und Hermann Struck genannt werden. Nach der Neugründung im Jahr 1919 wurde Menachem Birnbaum künstlerischer Leiter. Für die Entstehungszeit lässt sich die Herausbildung eines sozialen Milieus konstatieren, das mit der Entstehung jüdischer Vereinigungen und der Gründung jüdischer Vereine zum einen eine stärkere Selbstorganisation von Jüdinnen und Juden im Deutschen Kaiserreich zum Ausdruck bringt und zum anderen eine ausgeprägte Ausdifferenzierung innerhalb dieser Selbstorganisation dokumentiert. Neben einer jüdischen Studentenverbindung Mitte der 1880er Jahre entstand beispielsweise 1895 eine Vereinigung jüdischer Studierender, die sich später Verein Jüdischer Studenten nann-

1

Vgl. hierzu Nemitz, Von „Heißspornen“; Schleicher, „Schlemiel“; Schleicher, Spott; Brenner, ‚Schlemiel‘; Gronemann, Erinnerungen 2002 & 2004; Jungmann, Erinnerungen.

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te, eine zionistische Ausrichtung hatte und aus dessen Kreisen einige Mitarbeiter des Schlemiel kamen.2 In der deutsch-jüdischen Publizistik waren im 19. Jahrhundert und den ersten Jahrzehnten des 20.  Jahrhunderts humoristische Veröffentlichungen als Einzelpublikation, Jahrbuch oder Periodikum, die sich primär an ein jüdisches Publikum richteten, keine Seltenheit. Es ist jedoch auffällig, dass sich die Periodika nicht lange hielten. Sie erschienen stets nur über wenige Jahre und mussten aus verschiedenen Gründen ihr Erscheinen immer wieder einstellen. Zur Gattung der Satire lassen sich der zur Zeit des Kaisertums in Österreich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts publizierte „Saphir’s humoristisch-satyrischer Volks-Kalender“ und der 1862/​63 erschienene „Lustige Luach“ nennen. Beide standen in der Tradition der Sammlung von Anekdoten und Witzen, die als „Judenkirschen“ bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Meißen und in Pesth erschienen waren und kolorierte Illustrationen enthielten.3 Ab Ende des 19. Jahrhunderts erschien im Deutschen Kaiserreich in loser Folge das Periodikum Gut Woch, herausgegeben von Siegfried Meyer, ein Pseudonym des Pädagogen und Schriftstellers Lion Wolff.4 Gut Woch richtet sich ebenfalls an ein jüdisches Publikum und richtet seinen Spott auf die zionistischen Bestrebungen: „Der Verfasser schildert in satyrischer Weise die Zustände, wie sie in Jerusalem sein könnten, wenn alle Juden dort wohnen würden.“5

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch, dass in der deutsch-jüdischen Presse auch humoristische Periodika in hebräischer Sprache erschienen, so 1864 in Leipzig Bikkoret ha-’Ittim.6 Mit den Publikationen Schlemiel und Gut Woch wurde die humoristische Publikationstätigkeit insofern inhaltlich ausgeweitet, als dass sie explizit gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen zu ihren Kernanliegen machten. Während Gut Woch auschließlich in das innerjüdische Diskussionsfeld um den Zionismus intervenierte, nahm der Schlemiel dies zwar zumindest in den Ausgaben vor dem Ersten Weltkrieg in den Fokus, war jedoch mit zahlreichen Wort- und Bildbeiträgen um die Stellung des Judentums und den Anitisemitismus in seiner Themenwahl insgesamt breiter ausgerichtet. Von der ersten Ausgabe an bespottete der Schlemiel die innerjü2 3

4 5

6

Schleicher, „Schlemiel“, S. 241. Saphir, Saphir’s humoristisch-satyrischer Volks-Kalender; Purimspieler, Lustiger Luach; Hilarius (Hrsg.), Judenkirschen. Meyer, Siegfried, Gut Woch. Ohne Autor, Israelitische Rundschau, Januar 1900. Vgl. zu den Auseinandersetzungen um Gut Woch Lion Wolff selbst in Wolff, Gesammelte Humoresken, S. III–IV. Vgl. die Auflistung in der Jewish Encyclopedia, 13.02.2020, jewishencyclopedia.com/​articles/​12034-periodicals.

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dischen Auseinandersetzungen. Zwar stand er in politischer Nähe zum zeitgenössischen Zionismus, doch blieben alle erdenklichen Antworten mehr oder weniger aggressiv von einer spöttischen Lasur überzogen. Wie Julius Moses in seiner Einleitung zur Publikation Die Lösung der Judenfrage von 1907 schrieb, gab es im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts drei mögliche Antworten auf die gesellschaftliche Situation der Jüdinnen und Juden im Deutschen Kaiserreich angesichts von Diskriminierung und Ausgrenzung: die Assimilation, verstanden als möglichst weitgehende kulturelle und religiöse Anpassung, die Beschränkung auf das Judentum als eine Religion und eine nationale Antwort, die innerhalb eines „Vielvölkerstaats“ wie das Habsburger Reich oder als Zionismus mit Bezug auf Palästina vorstellbar schien.7 In Bezug auf die innerjüdischen Diskussionen finden sich zahlreiche Quellen, mit denen sich auch in den Diskussionen über Strategien gegen Antisemitismus und mehr gesellschaftliche Anerkennung von Jüdinnen und Juden essentialisierende Vorstellungen vom Judentum zeigten. Hierbei wurde durchaus eine Vorstellung einer spezifischen jüdischen Physiognomie aufgegriffen und reproduziert. So schrieb Julius Moses: „Selbst in Westeuropa haben doch die Juden, abgesehen von den Rassenmerkmalen, ihren Charakter bewahrt. Beweis: Man erkennt den Juden am Benehmen, in der Sprechweise, in der Physiognomie auf den ersten Blick.“8

Eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus bedeutet in der Schlussfolgerung zumindest in den ersten Erscheinungsjahren des jüdischen Satireblatts nicht zwingend, Konzepte zu hinterfragen, die auf Zuschreibungen von Sprache, Eigenschaften oder physischen Merkmalen basierten. Insbesondere die Gestaltung des Titelblatts in den ersten Nummern des Schlemiel mit einer stereotypisierten lachenden Figur direkt unter dem Titel lässt darauf hindeuten, dass zunächst mit großer Unbefangenheit an eine Bildsprache angeknüpft wurde, in der das – freilich hier als ironisch zu deutende – Selbstbild Zuschreibungen aufgreift und in das eigene Repertoire integriert.9 An drei Beispielen von Bildsatiren, die im Schlemiel erschienen, soll in dem vorliegenden Beitrag diskutiert werden, welchen humoristischen Ausdruck insbesondere in der Bildsprache die Gegnerschaft zum Antisemitismus finden konnte und in welchem Maße sie sich in den drei Erscheinungszeiträumen weiterentwickelten. Humor wird in diesem Zusammenhang als sozialer Vorgang verstanden, der selbst Ein- und Ausschlüsse vornimmt und sich mit diesen auseinander-

7 8 9

Moses, Judenfrage, S. 14–17. Ebd., S. 15. Vgl. zum Beispiel Schlemiel 2, 01.02.1905, Titelseite. Die Karikatur wurde über drei Nummern verwendet. Nach der Märzausgabe des Jahres 1905 wurde keine Karikatur mehr im Titel veröffentlicht.

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setzt. In diesem Zusammenhang scheint es auch erforderlich nicht nur Begriffe wie ‚Humor‘ und ‚Witz‘ näher zu definieren, sondern unter Einbezug der Konstruktion einer spezifischen jüdischen Humortradition das Wechselspiel von Zuschreibung und Selbstzuschreibung zu durchleuchten.

Witz oder Humor Als einen Unterschied zwischen Witz und Humor nennt Chase, dass der Witz offener für negative Konnotationen sei und sich Humor als positiv besetzt auszeichne.10 Humor ist bis zu dem heutigen Sprachgebrauch unter anderem auch national konnotiert, in dem Sinne, dass von einem ‚englischen‘ oder ‚deutschen Humor‘ die Rede sein kann, zugleich jedoch von ‚jüdischem Witz‘11, obgleich inzwischen Publikationen vorliegen, die einen ‚jüdischen Humor‘ mit einer spezifischen Geschichte konstruieren.12 Entscheidend in Bezug auf dieses Unterscheidungskriterium scheint zu sein, dass jenseits der positiven und negativen Konnotationen das Lachen aus der Perspektive einer ganzen Nation oder einer Minderheit erzeugt wird. Letzteres führt mit sich, dass Witz und Humor sich auf soziale Grenzen beziehen, die nicht nur die Position der Minderheit markieren, sondern diese erst als Minderheit konstruieren und in Folge gesellschaftlicher Veränderung immer wieder neu gezogen werden müssen. Wie können Witz und Humor soziale Grenzen überschreiten; wann münden sie in eine Reaffirmation und wann werden sie so weit in Frage gestellt, dass sich aus dem Spott eine Waffe in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen schmieden lässt? In diesem Sinne konzipiert auch Chase die Funktion von Humor: “Even if the audience is predisposed toward rejecting minority bids for inclusion, a display of humor can overcome resistance by eliciting a reflexive response not under the audience’s full control. With laughter confirming one’s community membership, a successful humorous gambit nullifies preconceptions about difference. Moreover, in its satiric mode, humor offers a means of self-defense. A humourist can neutralize enemies who otherwise would have the upper hand by turning them into the butts of jokes, calling their discursive competence and community membership into question.”13

Mit der Vorstellung von einem ‚jüdischen Witz‘ oder von ‚jüdischem Humor‘ verbindet sich die essentialistische Vorstellung von einem Nationalcharakter mit dem Judentum. Dabei sei der ‚jü10 11 12 13

Chase, Inciting laughter, S. 5. Ebd., S. 6. BenGershôm, Esel des Propheten. Chase, Inciting laughter, S. 11.

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dische Witz‘ laut Chase auch negativ aufgeladen; seit dem 19. Jahrhundert werde Judentum mit einem zerstörerischen und satirischen Lachen assoziiert14 und diese Variante wurde von Geiger als „Wortwitz und jene Abart von Witz, die durch ihre ätzende Schärfe, ihre stark zugespitzte Pointe sich von anderen unterschied“15 charakterisiert. Das Wechselspiel von Zuschreibung und Selbstbeschreibung produziert an dieser Stelle eine besondere Ambivalenz, da sie auch antisemitisch aufgeladen ist: ,Jewish humour‘ was incited by anti-Jewish bias, further anti-Jewish bias, in turn, by satiric Jewish humour.16

Jüdischer Witz oder jüdischer Humor sollten daher im Allgemeinen aus einer zweifachen Perspektive beschrieben werden. Es zeigt sich ein (Hetero- und Auto-)Sterotyp, doch ist zugleich ein Ausgangspunkt einer Strategie gegen Antisemitismus und antisemitische Zuschreibungen.17 In Bezug auf die Zeitschrift „Schlemiel“ handelt es sich um Publikationen, die primär in die innerjüdische Diskussion intervenierten. Wenn wir uns im Folgenden mit Karikaturen beschäftigen, die sich mit Antisemitismus auseinandersetzen, stellt die Ambivalenz von Humorprodukten, auch wenn sie sich an ein jüdisches Publikum wandten, neben der Zielrichtung der Bekämpfung von Antisemitismus einen weiteren Rahmen für die Analyse. Wie konnte es gelingen, die Bildsprache auf ein Feld abzustimmen, in dem sich Selbstdefinitionen in einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Zuschreibungen von außen befinden? Mussten sich nicht über jede Visualisierung Elemente des Bildrepertoires legen, die von der antisemitischen Bildsprache geprägt sind? Mit einem weiteren Begriff, der „Satire“ und dem „Satirischen“, der oben bereits als Merkmal für den „jüdischen Witz“ genannt wurde, lässt sich die Zielsetzung des untersuchten Materials besser umreißen. Während „jüdische Witze“ und „jüdische Anekdoten“, wie sie in einer Rubrik des „Schlemiel“ auch veröffentlicht wurden und in einer Reihe weiterer humoristischer Publikationen im Fokus standen, vorrangig auf einer Reaffirmation gesellschaftlicher Grenzen zielen, beabsichtigen Satiren in Text und Bild gesellschaftliche und politische Missstände zu benennen und anzugreifen.18 Hierbei können verschiedene ästhetische Mittel miteinander verknüpft werden; neben den Humor kann Pathos treten oder der erzeugte Witz in einer Weise zugespitzt sein, dass das erzeugte Lachen im Halse stecken bleibt. Wie lassen sich hier die Grenzen des Humors ausloten?

14 15 16 17 18

Ebd., S. 1. Geiger, Berlin, 516; auch zitiert bei Chase, Inciting laughter, S. 2. Chase, Inciting laughter, S. 3. Ebd., S. 3–4. Zum Begriff der Bildsatire vgl auch Schleicher, Antisemitismus, S. 27.

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Bildsatiren gegen Antisemitismus

Abb. 1: M. Schwartz: ohne Titel, in: Der Schlemiel 11 (1904), S. 13.

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Die Bildsatire zeigt in der oberen Bildhälfte eine Gruppe von stereotyp als Ostjuden dargestellten, überwiegend männlichen Personen mit Bärten und Schläfenlocken in dem Korb eines Heißluftballons. In der Mitte der Personengruppe drängt sich eine Frau mit Kopftuch und einem Kind auf dem Arm an einen der Männer und scheint mit ihm die Konstellation einer Kleinfamilie zu bilden. In der unteren Bildhälfte sind auf einem Segment der Weltkugel drei Personen dargestellt, die sich ikonographisch als nationale Allegorien Russlands, Deutschlands und Englands deuten lassen und in unterschiedlicher Weise mit den sich offenbar auf der Flucht befindenden Jüdinnen und Juden interagieren. Während Russland die Knute schwingt, erheben Deutschland und England abwehrend die linke Hand. Unter dem Bild ist ein Zitat aus dem Walthari-Lied wiedergegeben, das die Flucht Walthers in dem Heldenlied zu einer Interpretationsfolie für die vor Pogromen in Russland Geflüchteten macht. Mit dieser Bildsatire reagierte der Schlemiel im Jahr 1904 darauf, dass die vor Pogromen Fliehenden, wie hier dargestellt, in England und Deutschland nicht aufgenommen beziehungsweise insbesondere aus dem Deutschen Kaiserreich nach Russland wieder abgeschoben wurden, sich sprichwörtlich zwischen Himmel und Erde bewegten. Das Bildbeispiel macht deutlich, dass Humor in der Bildsatire eine untergeordnete Rolle spielen kann. Die Bildsatire stellt jüdische Pogromopfer auf der einen Seite und die Nationen auf der anderen Seite, die verfolgen oder Hilfe verweigern, einander diametral gegenüber und formuliert auf diese Weise eine Anklage. Wie bereits oben angemerkt, bedarf die Verwendung von Stereotypen in den Darstellungen einer besonderen Betrachtung. In diesem Zusammenhang ist sie aus heutiger Sicht problematisch, jedoch in der Rezeption in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs nicht zwingend als antisemitisch zu werten oder zumindest sorgfältig zu kontextualisieren. Michaela Haibl schrieb hierzu: „Nicht jede typisierte Judenfigur ist antisemitisch besetzt oder von vorneherein negativ gemeint. Das gilt besonders für die Darstellung der ‚Ostjuden‘. Deren Typisierung weist häufig hochgradig iconische Qualitäten auf, indem sie sich an einer Realität orientiert, die Teil des visuellen Autostereotyps der polnischen, galizischen und russischen Juden ist. In Bildern und Graphiken zeitgenössischer jüdischer Künstler dienen Ostjuden häufig als Vorzeigefiguren einer gewachsenen, gelebten, jüdischen Wirklichkeit. Sie sind das positive Gegenbild zum modernen, akkulturierten Westjuden.“19

19

Haibl, Zerrbild, S. 327.

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Abb. 2: „Allen Assimilanten und anderen Deutschnationalen wird der bewährte Nasenformer ‚Antisemit‘ empfohlen.“ Ludwig Wronkow: ohne Titel, in: Schlemiel 6 (1919). S. 94. Das Bild zeigt einen menschlichen Kopf mit dunklem gekräuseltem Haar, großen Ohren und dicken Lippen, dessen Nase mit einer Art Schiene versehen ist, von der seitlich und über die Kopfdecke Spannbänder gezogen sind. Zwischen den Lippen klemmt eine Zigarette. Der Zeichner Ludwig Wronkow, der auch für dadaistische Zeitschriften, wie Das Bordell und Der Faun arbeitete, hatte später selbst zu seiner Bildsatire kommentiert: „Für das jüdische Witzblatt Schlemiel erfand ich den Nasenformer für die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens, die so gerne gute Preußen werden wollten.“ 20

Der Kommentar des Künstlers trägt zur Kontextualisierung seines Produkts bei. Er bezog sich auf das Verbot der Aufnahme von Jüdinnen und Juden in die völkische Deutschnationale Volkspartei. Der Spott richtete sich weniger gegen das Verbot, als gegen das Anliegen von Jüdinnen und Juden, am völkischen Projekt mitzuwirken. Das gewählte Mittel der Satire bezieht sich auf 20

Bohrmann (Hrsg.), Ludwig Wronkow, S. 33.

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das Stereotyp der jüdischen Nase, die hier als Metapher zu übertriebener Anpassung einer Umformung unterzogen werden soll.21

Abb. 3: „Maschine zur Feststellung des Gehalts an jüdischem Blut (man beachte die schwarzen Spuren in der Retorte!).“ Menachem Birnbaum: Deutschnationale Blutprobe. In: Schlemiel 24 (1920), S. 324. Die Bildsatire des Künstlers Menachem Birnbaum zeigt in der oberen Bildhälfte eine Retorte, die mit einer roten Flüssigkeit gefüllt ist. Sie ist an zwei geriffelte Schläuche angeschlossen, von denen einer sichtbar zu einer Art Kasten führt, an den ein Hakenkreuz angebracht ist, aus dessen Mitte 21

Vgl. hierzu auch meine Analyse unter dem Aspekt der Identitässuche in Schleicher, „Schlemiel“, S. 256–257.

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offensichtlich eine Flüssigkeit austritt. Im Vorder- und Hintergrund des Bildes sind Ketten aus Hakenkreuzen zu sehen, die sich jeweils in einer leichten Diagonale von unten nach oben durch das Bild ziehen. Bewegungslinien unterstützen den Eindruck, dass es sich um eine aktive Maschine handelt. In der Bildlegende wird auf die „schwarzen Spuren“ in der Retorte hingewiesen. Diese „schwarzen Spuren“ lassen sich schwer deuten; es könnte sich um eine Anspielung auf politische Unterstützer der Deutschnationalen im Adel handeln oder um eine frühe Verwendung der Farbe Schwarz für die völkische Rechte. Birnbaum greift ebenfalls das Aufnahmeverbot für Jüdinnen und Juden der Deutschnationalen Volkspartei auf. Sein Spott richtete sich jedoch nicht auf die Jüdinnen und Juden selbst, die Mitglieder werden wollten, sondern auf die Partei und das völkische Denken. Auffällig ist, dass sich die Bildpublizistik des Schlemiel inhaltlich und formal verschob. Während in den Ausgaben im ersten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts stereotype Darstellungen in die eigene Bildsprache übernommen und somit reproduziert wurden, fand später auch auf der visuellen Ebene eine vertiefte Auseinandersetzung mit essentialisierenden Zuschreibungen und Selbstzuschreibungen statt. Während zunächst noch mit dem Aufgreifen von Heterostereotypen Widersprüche sichtbar gemacht und Brüche markiert werden konnten, dienten sie nun als eine Folie der Grenzziehung gegenüber einen in dieser Form nicht mehr zulässigen Humor. Dabei gewonnen die Bildsatiren an Schärfe und an politischer Aussagekraft. Es handelte sich hierbei um eine Reaktion auf die sich – nicht nur – in der Deutschnationalen Volkspartei organisierenden völkischen Rechten, die der gesellschaftlichen Verbreitung des rassistischen Antisemitismus erheblich Vorschub leisteten.

Schluss Mit den beschriebenen Bildbeiträgen fand eine Neuorientierung dieser (selbst)kritischen Strömung in den Auseinandersetzungen unter Jüdinnen und Juden statt. In zunehmendem Maße wurden essentialisierende und auf Bildstereotype zurückgreifende Darstellungsmodi in Frage gestellt. Dies lässt sich nicht nur als Reaktion auf den anwachsenden Antisemitismus interpretieren, sondern auch auf eine stärkere Auseinandersetzung innerhalb des Judentums, wie sie sich ebenfalls in der Opposition gegen Kabarett von Juden ausdrückte, das mit Stereotypen reproduzierte.22 Die Bildsatiren aus der Zeit von 1919/​20 lassen sich als Versuch der Neudefinition der Grenzen des Humors interpretieren, als eine Verschärfung der diesbezüglichen Auseinandersetzung unter Jüdinnen und Juden sowie als ein Schärfen der Waffen gegen rassistischen Antisemitismus. So 22

Vgl. hierzu Jelavich, Jewish Jokes. Die redaktionelle Entschuldigung der Zeitschrift Menorah für den Schlemiel als Beilage 1924 lässt sich auch in diese Richtung interpretieren (Ohne Autor, Zum Schlemiel.

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scheint dem humorvollen Umgang, der Satire nicht ausschließlich durch staatliche Zensur, sondern auch seitens der RezipientInnen eine Grenze gezogen zu sein, eine Linie, die zwischen Zulässigem und nicht Zulässigem verläuft. Lachen ist ein sozialer Vorgang, der sich an dieser Linie orientiert und mit gezielten Überschreitungen versucht sie zu verschieben. Dies war eines der Anliegen der Versuche, der Experimente des „Schlemiel“.

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Wilhelm Buschs Bestialitäten: Die Bildergeschichte „Monsieur Jacques“ im Spiegel der Bildsatire des Pariser Hungerwinters 1870/​711 Martin Knauer

Busch, der hässliche Humorist: ein Missverständnis In der aktuellen, 2002 erschienenen „Historisch-kritische[n] Gesamtausgabe“ von Buschs Bildergeschichten kommt „Monsieur Jacques“ nicht gut weg. Die Ende Dezember 1870 in den Fliegenden Blättern veröffentlichte Arbeit sei „einer der bedauerlichsten Ausfälle in der Geschichte dieses humoristischen Organs.“ Buschs „Verhöhnung des notleidenden Gegners“ angesichts des „heldenhaft[en]“ Ausharrens der Pariser Bevölkerung während der Blockade verrate „die schmutzige Gesinnung eines Schreibtischtäters“.2 Dieser meinungsfreudige Kommentar, verantwortet immerhin von der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, irritiert in doppelter Hinsicht: Einerseits scheint er noch dem auf Friedrich Theodor Vischer zurückgehenden Verständnis verhaftet, das Buschs antiklerikalen Bildergeschichten „Heiliger Antonius“ (1870) und „Pater Filucius“ (1872) im aristotelischen Sinne als „schädliches Häßliches“ und damit als Überschreitung der Linie ,guten‘, d.  h. humanen Humors verurteilt.3 Andererseits wird „Monsieur Jacques“ hier kaum reflektiert als persönliche Stellungnahme gedeutet – und nicht als politische Satire verstanden. Im Kern  – und dies ist die zentrale These des folgenden Beitrages  – resultiert jenes Missverständnis aus der Ausblendung des publizistisch-bildsatirischen Kontexts. Für eine histo1

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Erste Überlegungen zu diesem Beitrag gehen auf meine am 11.06.2012 an der Westfälischen Wilhelms-Universität gehaltene Antrittsvorlesung zurück. Guratzsch/​Neyer, Wilhelm Busch (im Folgenden: WBG), Zitate Bd. 2 (2002), Sp. 178 und Sp. 1082. Abdruck der Geschichte mit Kurzkommentar ebd. Sp. 178–189; Kommentar („Beurteilung“), Sp. 1082– 1084. Vischer, Zeichnung (Zitate S. 115 u. ö., S. 126). Vgl. dazu Potthast, Vischers Tendenzen, sowie Willems, Abschied, insbes. S. 221f.

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risch-kritische Analyse fehlt die vergleichende französische, speziell republikanische Perspektive auf den Hungerwinter. Buschs angebliche Grenzüberschreitung, der Spott über die Not der Belagerten, die brutale Tötung des Hundes Moustache und der sich an die Zimmerdecke sprengende Jacques, sind anders zu deuten, bezieht man die während der Belagerung entstandenen Karikaturen des Charivari und weiterer nach der Befreiung veröffentlichter Satireblätter wie „Paris Bloqué“ und „Paris Assiégé“ mit ein. Was sind die Gründe für diese verkürzte Perspektive? Mit Ablauf der Urheberrechte wurde Busch in der frühen Bundesrepublik erneut populär. Nach 1958 kamen in kurzer Zeit vier Werkausgaben auf den Markt.4 Gleichzeitig stieß Busch auf alte Vorbehalte, speziell von katholischer Seite. 1960 beschuldigte ihn Paul Wilhelm Wenger im Rheinischen Merkur zudem, mit seinen Judenstereotypen dem NS-Rassenwahn Vorschub geleistet zu haben. Buschs Werk sei nur noch unter „Ausscheidung der vergiftenden Beigabe“ akzeptabel.5 Ebenso erneuert wurde die Kontroverse um die Grenzziehung zwischen Komik und Witz, Häme und Spott. Böll attestierte Busch 1966 in seinen Frankfurter Reden zur „Ästhetik des Humanen“ einen abfälligen „Humor der Schadenfreude“.6 Auch Golo Mann, für den Busch in seiner Deutschen Geschichte dem Bürgertum den Spiegel vorhält, adaptierte Vischers Denkfigur: Boshaft-,hässliche‘ Spottlust anstelle von ,echtem‘, d. h. humanem Humor. Immer dann, wenn Busch politisch werde und Partei ergreife – ein gegen Satire gern gerichteter Topos – bliebe der ,wahre‘ Humor auf der Strecke.7 Das Verdikt der Amoralität und schlechten Humors betrifft insbesondere „Monsieur Jacques“. Angesichts der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs lautet der Vorwurf: Chauvinismus und Kriegstreiberei. Mit jener Bildergeschichte sei Busch „in den Matsch der Kriegspsychose“ geraten, stellte Wiechert 1964 fest.8 Kraus, der 1970 einen Band mit Selbstzeugnissen publizierte, wertete Buschs Satiren zum Deutsch-Französischen Krieg als „pamphletistische Machwerke“, die nur auf ein „siegestrunkenes Publikum komisch gewirkt haben“ können.9 Auch Hippen wirft Busch die Verhöhnung des geschlagenen Gegners vor. Der ,Humor‘ der Geschichte bestehe da-

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Das goldene Wilhelm-Busch-Album; Das grosse Wilhelm-Busch-Album; Hochhuth (Hrsg.), Sämtliche Werke; Das große Wilhelm Busch Hausbuch. Wenger, Busch, S. 3. Heute überwiegt die Ansicht, dass Busch sich mit seinen Judenstereotypen über den Antisemitismus seiner Zeit lustig gemacht habe. Wyrwa, Busch, S. 116. Vgl. Dittmar, Vorurteil. Böll, Frankfurter Reden, S. 25, S. 104. Mann, Deutsche Geschichte, S. 456. Mann hielt auf Einladung der Wilhelm-Busch-Gesellschaft die Festrede zum 150. Geburtstag. Ders., Busch, S. 16f.; ebenso in: Neue Rundschau, 93. Jg. (1982). Wiechert, Busch, S. 17. Kraus, Busch, S. 68f.

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rin, dass „ein Satter [also Busch, M. K.] über die Leiden der Hungernden spottet“.10 1991 ist in einer kunsthistorischen Dissertation von „unmenschlichen Bildern“ die Rede.11 Primär solchen Distanzierungsversuchen scheint es geschuldet, dass eine Einordnung in den Kontext der Belagerungspublizistik bislang unterblieb. Klare Positionierungen lässt auch die Biographik vermissen, die um die Kriegsepisoden einen Bogen macht. In Anlehnung an Uedings volkspädagogische Studie12 dominieren psychologisierende Urteile, die dazu neigen, Buschs Einstellungen und Haltungen aus dem Werk herzuleiten.13 Anders als Standardwerke zur Karikatur14 blendet die Buschforschung die Frage nach direkten Vorbildern und dem medialen Entstehungskontext weitgehend aus. Unter den wenigen Autoren, die Busch als Karikaturisten ernstnehmen, steht Kunzle an erster Stelle, der „Monsieur Jacques“ als dessen bedeutendste Bildergeschichte überhaupt einstuft.15 Konkrete Zeitbezüge hat zuletzt Elisabeth Vaupel herausgearbeitet und auf mögliche Verbindungen zwischen Jacques’ Explosionspillen und der Entwicklung alternativer Sprengstoffe im eingeschlossenen Paris aufmerksam gemacht.16

Die Bildergeschichten zum Deutsch-Französischen Krieg „Monsieur Jacques“ entstand mit drei weiteren Bildergeschichten zum Deutsch-Französischen Krieg im Herbst 1870 in Frankfurt am Main, wo Busch für ein Jahr als Gast bei der Industriellenfamilie Keßler lebte, eine Galerie unterhielt und Kontakte zu Verlegern und Journalisten knüpfte. Der Impuls zur Serie ging allerdings aus einer älteren Verbindung hervor, der zum Münchener Verleger Kaspar Braun. Im Dezember 1870, noch zur Zeit der Blockade, wurde „Monsieur Jacques à Paris während der Belagerung im Jahr 1870“ in den Nummern 1327 und 1328 der von Braun & Schneider herausgegebenen Fliegenden Blätter publiziert. Bereits Ende

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Hippen, Kabarett, S. 48. Faust, Studien, S. 113. Ueding, Busch. Etwa Weissweiler, Busch; Schury, Leben; Diers, Busch. Vgl. Searle u. a., Caricature, S. 202f. Kunzle, History, S. 259. Die zwischen 1869 und 1873 entstandenen Bildergeschichten seien „Busch’s Political Interlude“. Kunzle hat zudem Buschs Einfluss auf amerikanische Cartoons untersucht. Vgl. Ders., Busch im Ausland und Ders., Busch abroad. Vaupel, Salpeter.

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November 1870 erschien der „Der Particularist“17, im September 1871 folgte im Münchener Bilderbogen das „Napoleonspiel“18. Einen Hinweis darauf, dass Buschs Kriegsgeschichten einen publizistischen Kontext haben, gibt die Zusammenarbeit mit Friedrich Stoltze, den Busch über den befreundeten Verleger Wilhelm Kaulen kennenlernte, dem Herausgeber der Düsseldorfer Rheinischen Zeitung. In der ersten Probenummer von Stoltzes kurzlebigem satirischem Wochenblatt Deutsche Latern, einer Fortsetzung der durch die preußische Zensur eingestellten Frankfurter Latern, erschien am 23. Oktober 1870 ein weiterer Beitrag mit Frankreichbezug, die Zeichenschule „Wie man Napoliums macht“.19 Busch schrieb Braun von der Option, die Arbeiten in einem „politischen Journal“ unterzubringen.20 Die Texte im „Napoleonspiel“ und „Particularisten“ rekurrieren auf die in der deutschen Presse gefeierten Siege. Im „Particularisten“ parodiert Busch anhand eines im Halbporträt gezeigten welfisch gesinnten Bauern, dessen anfangs hoffnungsfrohe Mine sich in die eines zweifelnden und darum ,dummen‘ Esels verwandelt, das Scheitern der französischen Kriegsziele. Zudem sagte Busch am 12. Oktober zu, den „Particularisten“ und „Monsieur Jacques“ für einen von Braun & Schneider geplanten Kriegsbilderbogen beizusteuern.21 Tatsächlich brachte der Verlag beide Geschichten nach Aufhebung der Blockade im Frühjahr 1871 unter dem Titel „Erinnerungsblätter an das Jahr 1870“ erneut heraus. Bei den insgesamt 14 Bilderbögen mit Karikaturen und Militärgenre22 handelt es sich um eine verbreitete Form publizistischer Zweitverwertung, die damals links wie rechts des Rheins üblich war. Die Geschichte von „Monsieur Jacques“, einem alleinstehenden Durchschnittsrepublikaner und seinem Hund Moustache, wird in zwanzig Bildern entfaltet: (Bild  1): Jacques sitzt bei hellem Deckenlicht mit ausgebreiteter Zeitung am Tisch und liest die neuesten Nachrichten, 17

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Erstdruck: Fliegende Blätter, Bd. 53 (1870), Nr. 1324, S. 174f. Abdruck in WBG (2002), Bd. 2, Sp. 170– 177, Kommentar, Sp. 1077–1081. Erstdruck: Münchener Bilderbogen, Bd. 23 (1871), Nr. 543. Abdruck in WBG (2002), Bd. 2, Sp. 202– 208, Kommentar, Sp. 1087–1089. WBG (2002), Bd. 2, Sp. 166–167, Kommentar, Sp. 1071–1075. Weitere Zeitbezüge finden sich in der nur drei Bilder umfassenden Geschichte „Auch der erledigt seine italienische Frage“, die über die Stiefelmetapher (einem Wanderer drückt der Stiefel) Napoleons Eingreifen in Italien thematisiert. Erstdruck: Deutsche Latern, zweite Probenummer, 30.10.1871. Abdruck in WBG (2002), Bd. 2., Sp. 168– 169, Kommentar, Sp. 1075–1076. Zit. nach Bohne (Hrsg.), Sämtliche Briefe, Bd. 1, S. 61 (Brief 82). Die näheren Umstände der Zusammenarbeit zwischen Busch, Stoltze und Keulen sind ungeklärt. Zit. ebd., S. 60 (Brief 79). 1. L’Empire c’est la paix; 2. Gespensterfurcht; 3. Kriegsszenen – Ansicht von Weißenburg; 4. Verhext; 5. Emil Girardin als Kriegslistenfabrikant; 6. [ohne Titel] ein zerstörtes Bauernhaus, Turcos; 7. Die französische Flotte in Thätigkeit; 8. Der Turco; 9. Der Particularist; 10. Die Spekulanten; 11. Monsieur Jaques[!] à Paris (Teil 1); 12. Monsieur Jaques[!] à Paris (Teil 2); 13. Vor Paris (Bilder nach dem Leben); 14. Rosalinde.

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neben ihm der treue Hund. Jacques trägt – wie auf allen Bildern – Hausmantel und -mütze. Auf dem Tisch stehen Weinflasche und Glas. (Legende: „Die Preußen setzen ihren Marsch auf Paris fort“). (Bild 2): Jacques stürmt in patriotischem Furor durchs Zimmer, eine Hand zur Faust erhoben, die andere hinter dem Rücken geballt. Der Hund teilt die Begeisterung. Am Schreibpult lehnen Stiefel und Säbel. („Vive la république!“). (Bild  3): Jacques liest mühsam die Zeitung. Licht spendet eine Kerze, die in der inzwischen geleerten Flasche steckt. („Die Beleuchtung in Paris wird immer spärlicher“). (Bild  4): Jacques sitzt am Tisch und träufelt Milch in den Kaffee. („Milch gehört zu den Seltenheiten“). (Bild  5): Jacques steht erschöpft an seinem Bett und dreht sich eine Zigarette aus dem Stroh der Matratze. Der Hund nagt an einem Schuh. („Was Cigaretten anbelangt, so ist Monsieur Jacques bereits auf seine Seegrasmatratze angewiesen“). (Bild 6): Jacques schnürt die Mantelkordeln zu einer grotesk verengten Taille und zeigt auf diese Weise seine Abmagerung. („Anfang der Selbst-Cernirung“). (Bild 7): Jacques trägt eine Schnappfalle, in der er eine Maus gefangen hat. („Häusliches Wildpret“). (Bild 8): Die Maus wird auf dem Ofen gegart, während der Hund eine Fliege fixiert. Dahinter hängt – wie schon in Bild 6 – ein Vogelkäfig. („Moustache richtet sein Augenmerk auf das kleinere Geflügel“). (Bild  9): Jacques hat die Voliere abgenommen und brät den Vogel über der Flamme, wobei Kerzentalg auf das Fleisch tropft. Der Hund fängt eine Fliege. („Monsieur Jacques bratet seinen Kanarienvogel“). (Bild 10): Jacques sitzt von Hunger gekrümmt vor leerem Teller. Sein Blick fällt auf Moustache, dessen Schweif seinen Appetit anregt. („Monsieur Jacques wird lebhaft an die Gestalt erinnert, welche man Wurst zu nennen pflegt“). (Abb.  1) (Bild 11): Mit freudevoller Mine kupiert Jacques den Schweif. („Excusez, mon ami, mais c’est la guerre“). (Bild 12): Jacques kocht den Schweif. Der Hund versucht seinen Schmerz zu lindern. („Moustache fährt Schlitten“). (Bild 13): Jacques stellt Sprengstoff her und überzeugt sich von dessen Erfolg. Der Hund jault vor Schmerz. („Monsieur Jacques erfindet die Explosionspillen“). (Bild 14): Jacques gibt Moustache eine Pille. („Erster Versuch“). (Bild 15): Dem Hund wird der Kopf weggesprengt, nur der Bart (Moustache) bleibt übrig. Jacques hebt freudig die Arme. („Günstiger Erfolg der neuen Erfindung“). (Bild 16): Auf dem Tisch stehen Teller mit Hundekoteletts, Jacques entfernt sich. („Zwei Carbonaden pour les Prussiens“). (Bild 17): Zwei Kommunarden, einer barfuß und mit Jakobinermütze, treten zur Tür herein und finden das Fleisch. („Statt der Preußen stürzen sich zwei hung’rige Citoyens auf die geladenen Carbonaden“). (Bild 18): Sie werden von den darin versteckten Pillen zerrissen. („Furchtbare Wirkung der neuen Sprenggeschosse“). (Bild 19): Jacques lädt in großer Eile die Stiefel mit zwei weiteren Pillen (vgl. Bild 2). Zugleich nähert sich ein preußischer Soldat mit Pickelhaube und Schwert. („Monsieur Jacques wird desperat, ladet seine eigenen Stiefel,“). (Bild 20): Als der Preuße zur Tür hereintritt, explodiert die Ladung. Die Stiefel bleiben am Boden, der Körper zerplatzt. („… und sprengt sich selbst gegen die Decke“).

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Abb. 1: Wilhelm Busch, „Monsieur Jacques à Paris“, Bild 11–14, in: Fliegende Blätter, Nr. 1328, S. 206 Im Folgenden wird die These vertreten, dass es sich bei dem konzipierten Belagerungstod von Herr, Hund und Kommunarden trotz bzw. gerade wegen der Polemik und drastischen Details um ,echte‘ Satire handelt. Als eines von zahlreichen text- und bildmedialen Beispielen für den Hungerdiskurs erscheinen Hinweise auf die „Verhöhnung des notleidenden Gegners“ oder „sadistisches Potential“ obsolet.23 Die Belagerung von Paris fand ein weit über die deutsche und französische Öffentlichkeit hinausreichendes Echo. Zahlreiche Augenzeugen- und Presseberichte, während oder nur wenige Wochen nach Aufhebung der Blockade veröffentlicht, dokumentieren die schwierige Situation während der Herbst- und Wintermonate 1870/​71.24

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WBG (2002), Bd. 2, Sp. 1082f. Die beste Zusammenfassung immer noch bei Alistair Horne (zuerst London u. a. 1965). Im Folgenden zitiert nach Horne, Paris.

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Der Pariser Hungerdiskurs Die erfolgreichste und wohl verbreitetste Darstellung stammt von dem Schriftsteller und Journalisten Francisque Sarcey (1827–1899), der als Theaterexperte ein feines Gespür für die symbolischen (Re)Inszenierungen von Anhängern und Gegnern der Revolutionsregierung beweist. Sarceys noch vor Friedensschluss veröffentlichtes Buch, das mit dem kaiserlichen Regime hart ins Gericht geht, erlebte im Erscheinungsjahr vierundzwanzig Auflagen.25 Einen ähnlich hohen Reflexionsgrad weisen die Tagebuchaufzeichnungen des Literaten und Bonvivants Edmond de Goncourt (1822–1896) auf. Das erst Jahre später veröffentlichte „Journal“ spiegelt die privilegierte Haltung eines Großbürgers, schildert aber überaus kenntnisreich die Versorgungslage.26 Zu den auswärtigen Sympathisanten der Republik zählen der Schweizer Peter Schüler, der als Mitglied der „internationalen Hülfssection“ die Belagerung miterlebte,27 sowie Henry du Pré Labouchère (1831–1912), ein als Journalist tätiger ehemaliger britischer Politiker. Labouchères für die Daily News verfertigten Reportagen kamen noch im selben Jahr in Buchform heraus.28 Im Fokus egodokumentarischer und literarischer Berichte, der Text- und Bildpublizistik sowie der Satireblätter und Karikaturen stehen Probleme der Bevorratung, das sich verschlechternde Warenangebot und die mangelhafte Versorgung der Märkte und Restaurants. Dennoch wird zu zeigen sein, dass der Kern jenes Hungerdiskures nicht in der Empörung über die Not der Eingeschlossenen oder die Verurteilung der Belagerer besteht, sondern im behaupteten Kultur- und Zivilisationsbruch, dargestellt durch den Verzehr von Hunden, Katzen und Ratten.29 Um zu untersuchen, inwieweit „Monsieur Jacques“ Kriterien für eine inhumane oder zynische Haltung liefert, gilt es dessen Sujets und Motive mit parallelen publizistischen, literarischen und satirischen Zeugnissen zu vergleichen.

Das ,Belagerungswild‘ als Thema der französischen Bildberichterstattung Visuelle Basisinformationen über die Belagerung liefert die 1843 gegründete L’Illustration. Journal Universel, deren Nachrichtengrafiken von vielen Medien nachgestochen wurden. Darüber hinaus dient ein über die Forschungsliteratur erschlossener Korpus an Bilderbögen und Karika25 26 27 28

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Sarcey, Siège. Schon 1871 erschienen englische, deutsche, russische und tschechische Übersetzungen. Haffmans (Hrsg.), Goncourt. Schüler, Tagebuch. In deutscher Fassung erschien das Tagebuch in zwei Lieferungen bei Loewe in Leipzig (Labouchère, Tagebuch). Ein Auszug mit zum Teil anderen Einträgen folgte im selben Jahr bei Webel (Ders., Aus dem Tagebuche, im Folgenden zitiert). Vgl. hierzu die Kapitel „Hunger“ bei Horne, Paris, S. 170–186 und „The Food Crisis“ bei Clayson, Paris.

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turen als geeignete Quelle.30 Nichtveröffentlichtes Material, wie etwa die Skizzen des Zeichners und Journalisten Gustave Doré,31 bleiben im Folgenden unberücksichtigt. Da sich die am 4. September 1870 eingesetzte Provisorische Regierung einer Kapitulation unter preußischen Bedingungen verweigerte, richtete sich das öffentliche Interesse zunehmend auf Verteidigungs- und Verproviantierungsfragen. Zunächst ging es darum, die Bollwerke zu verstärken und die Stadt mit Waffen und Munition zu versorgen.32 Ab Oktober rückte die Ernährungslage ins Zentrum. Xylographien zeigen die Einlagerung von Brot33, das Einholen von Grünzeug34 sowie Schafsund Rinderherden im Bois de Boulogne, die die Versorgung der Stadt sicherstellen sollten.35 Im Ergebnis, dies sei vorweggenommen, wird das visuelle Gedächtnis des Hungerwinters von zwei Motiven dominiert: um Nahrung anstehende Menschenschlangen sowie der als Tabubruch markierte Verzehr von Haustieren, Mäusen und Ratten. Tiere und die ihnen zugewiesene heraldische, allegorische und metaphorische Bedeutung sind traditionell Bestandteile von Flugblattpublizistik. Als „politische Menagerie“ gehören Tier-Mensch-Vergleiche zum Grundrepertoire der Karikaturisten.36 Napoleons Kapitulation und die Veröffentlichung der kompromittierenden Tuilerien-Papiere bildeten den Auftakt für diverse mit dem Regime abrechnenden Pamphlete. Paul Hadols 32-teilige Lithografienfolge „La Ménagerie Impériale“ denunziert den Kaiser und seine Entourage als aasfressende und wiederkäuende Parasiten.37 Das Titelblatt stellt die Personifikation der Republik als Conférencieuse auf einer Jahrmarktbühne dar. Angeheftet an dem von ihr geöffneten Vorhang gibt der als Geier visualisierte Kaiser den Modus der Abrechnung vor („Le Grand Vautour de Sedan“). Der Diskurs über das Fressen und Gefressenwerden kam aber nicht nur als Polemik gegen das verhasste Regime zum Einsatz. Im Rahmen der Kontroversen um Hippophagie begegnet er bereits wenige Jahre zuvor als Reaktion auf konkrete Versorgungsprobleme. Da Pferdefleisch lange Zeit verpönt war, wurde der 1866 legalisierte Verkauf öffentlich propagiert.38 Bereits ein Jahr zuvor hatte der Chefveterinär der Armee, 30 31

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Milner, Art, insbes. S. 73–138; Clayson, Paris. Der beste Überblick noch immer bei Ducatel, Histoire. Siehe das „Album de vingt-six dessins sur le siége de Paris“, Feder auf Papier, ca. 17 x 23 cm, Paris, Musée Carnavalet. Neben Nationalgardisten, denen Doré selbst angehörte, wird vor allem die Versorgungslage thematisiert. Lehni, Doré, Nr. 91. Allgemein zu Doré Kaenel, Le Métier. L’Illustration zeigt unter dem Titel „La Défense de Paris“ Befestigungsarbeiten an der Stadtmauer samt Aufstellung einer Batterie (Nr. 1434, 20.8.1870), die Einlagerung von Kanonenrohren und das Fällen von Bäumen an der Stadtmauer (Nr. 1436, 3.9.1870). Ebd., Nr. 1434, 20.8.1870: Ausladen von Broten zur Einlagerung im Rathaus. Ebd., Nr. 1442, 15.10.1870: „Entrée dans Paris des Légumes récoltés dans la Banlieu“. Ebd., Nr. 1437, 10.9.1870: „L’Approvisionnement de Paris. – Bétail parqué au bois de Boulogne“. Gombrich, Arsenal, S. 394–397. Gombrichs Aufsatz geht auf einen Vortrag von 1962 zurück. „LA MENAGERIE IMPERIALE composée des ruminants, amphibies, carnivores et autres[,] qui on dévoré la France pendant 20 ans“. Gade, Horsemeat; Levine, Eating horses. Der zeitgenössische Diskurs bei Magne, Lʼhippophagie.

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Emile Decroix, ein Komitee gegründet, das Pferdefleisch an Bedürftige verteilte.39 Ähnliche Ziele verfolgte die Commission Centrale d’Hygiène et de Salubrité, die während der Belagerung ein Bankett veranstaltete, bei dem ausschließlich Pferd serviert wurde.40 Als L’Illustration am 17. Dezember 1870 auf dem Höhepunkt der Versorgungskrise unter dem Titel „La viande de cheval“ einen Artikel über die Pferdeschlachterei veröffentlichte und auf vergleichbare Krisenzeiten unter LudwigXVI. aufmerksam machte, war das Thema somit bereits etabliert. Fünf Phasen der Fleischverarbeitung werden illustriert: das Sammeln der Pferde an zentralen Plätzen, die Schlachtung, das Aufpumpen der Kadaver, das Ausbluten und der Abtransport zu den kommunalen Fleischereien.41 The Illustrated London News druckte im Dezember 1870 und Januar 1871 ähnliche Motive.42 Schon Mitte November sah sich die Kommission genötigt, weitere Möglichkeiten zu erwägen. Wie pragmatisch man das Problem der Fleischversorgung anging, zeigt die Idee des Arztes und Ökonomen Gustave de Molinari, Haustiere und Ratten als billiges und leicht verfügbares ,Belagerungswild‘ („gibier du siège“) zu vermarkten.43 Auch Hunde zählten zum Angebot, was so neu aber nicht war. Obwohl Hundefleisch in Europa seit dem Mittelalter geächtet wurde, gab es Ausnahmen. Buschs Spiel mit Ernährungstabus, wie in den 1866 veröffentlichten Hundefänger-Episoden „Die Strafe der Faulheit“ und „Der Lohn des Fleißes“,44 hat insofern einen historischen Hintergrund. Tatsächlich war Cynophagie in Deutschland noch Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet. Manche Schlachthöfe hielten separate Räume vor. Allein in Chemnitz, Breslau und München wurden zwischen 1904 und 1924 vermutlich über 40 000 Hunde verspeist.45 Die Buschforschung hat die soziokulturelle Dimension des Themas bisher unterschätzt.46 L’Illustration vom 24. Dezember 1870 zeigt eine „Spezial-Schlachterei“, die auf subtile Weise Nachricht mit Satire verknüpft.47 (Abb.  2) Neben dem Ladenschild „BOUCHERIE CANINE

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Gade, Horsemeat, S. 2. Bei Horne, Paris, S. 170 die Menükarte: „Consommé de cheval; Cheval bouilli aux choux; Culotte de cheval à la mode; Côte de cheval braisée; Filet de cheval rôti; Bœuf et cheval salés froids“. L’Illustration, Nr. 1451, 17.12.1870: „Marché et abattage des chevaux pour l’alimentation. – Le parc des chevaux acquis par la Commission d’alimentation“; „L’abattage“; „Le sofflages“; „La saignée“; „Transport de la viande aux boucheries municipales“. The Illustrated London News, Nr. 1625, 3.12.1870: „Inside Paris: The Horsefresh Market in the Halles Centrals“. Die Abbildung „The Food Supply of Paris: Butchers’ Horse Market, Boulevard d’Enfer and Boulevard Montrouge“, Nr. 1631, 7.1.1871, zeigt Pferde im Pferch, die von Käufern gemustert werden. Molinari, L’alimentation, S. 117. WBG (2002), Bd. 1, Sp. 456–461 und Sp. 462–469. Eversen, Haushund, S. 250; Oeser, Hund, S. 150f. Erstaunlicherweise zieht der Kommentar keine Parallele zur Kaiserzeit, sondern zur Weimarer Republik (WBG (2002), Bd. 2, Sp. 184). L’Illustration, Nr.  1452, 24.12.1870: „Siége de Paris.  –  Une boucherie spéciale au marché Saint-Germain“; wieder abgedruckt in Claretie, Histoire, S. 397.

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ET FÈLINE“ hängt Hundefleisch am Haken. Hunde werden nicht nur als Schlachtware verkauft, sondern lebend eingeliefert. Der zugehörige Artikel „Les Boucheries de Chien“ verurteilt zwar den Hundeverzehr, informiert aber nüchtern über die Preise. Während ein Mann seinem Hund das Fell bürstet (um ihn dann dem Metzger auszuliefern), wendet sich eine Pariserin, ihr Hündchen unter dem Arm, ängstlich ab. Eine in The Illustrated London News einen Monat später gedruckte Variante, deren Vorlage, wie die Zeitschrift nicht nur in diesem Falle betont, per Ballonpost aus Paris gelangte, arbeitet das Verratsmotiv noch stärker heraus. Hier legt ein nichts ahnender Hund seine Pfoten auf die Ladentheke, während ein weiterer an den Ohren herbeigeschleift wird.48 Das Lettre-journal de Paris49 bringt eine dritte Fassung.50

Abb. 2: „Siège de Paris – Une boucherie spéciale“, in: L’Illustration, Nr. 1452, 24.12.1870

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The Illustrated London News, Nr. 1634, 28.1.1871: „The market for dogs’ and cats’ flesh, Paris“. Das als Gazette des Absents bekannte Journal, ein für die Belagerungszeit typischer Notdruck auf dünnem Papier, erschien damals zwei- bis dreimal wöchentlich. Im Januar gehörte donnerstags eine Ereignisgrafik dazu. „L’ALIMENTATION DE PARIS PENDANT LE SIÈGE  –  Boucheries canine et féline au marché Saint-Germain“. Maillard, Histoire, S. 54f. Der Stand ist hier als „Volaille“ (Geflügelgeschäft) bezeichnet.

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Auch bei einem anderen, kaum weniger spektakulären Blockademotiv, der Schlachtung der Pariser Zootiere, vermischen sich Information und Unterhaltung. Laut Labouchère waren die Zoobewohner am 3. Dezember fast gänzlich verzehrt, mit Ausnahme der Affen, die „aus einer unbestimmten Darwin’schen Scheu vor dem Verwandtenmorde“ verschont blieben.51 Die Tötung der letzten Elefanten, genannt Castor und Pollux, Ende des Monats wurde zum herausragenden medialen Ereignis. Die verbreitetste Darstellung zeigt, wie eines der Tiere im verschneiten Jardin beim Verlassen des Elefantenhauses erlegt wird – ein kaum der Wahrheit entsprechendes Szenario.52 Noch unrealistischer ist ein kolorierter Bilderbogen, hier vollzieht sich die Tötung unter den Augen der Besucher.53 Ebenso große Aufmerksamkeit galt dem Verkauf des Elefantenfleisches. Die Edel-Schlachterei Deboos erwarb die Exoten für eine hohe Summe. Edmond de Goncourt notiert über den Besuch des berühmten Geschäftes am Boulevard Haussmann, es gäbe hier „alle möglichen wundersamen Tierkadaver. An der Wand hängt an einem Ehrenplatz der Rüssel des jungen Pollux“. Deboos habe die Vorzüge einer Zwiebelwurst aus Elefantenblut gepriesen, unter den „namenlosen Fleischstücken“ seien aber auch Kamelnieren gewesen.54 Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass die Schlachtung der kostbaren Zootiere – jedenfalls nach Auffassung der Zeitzeugen  – keine Verzweiflungstat darstellte. Sie symbolisierte den Luxus, den sich viele Pariser trotz der Blockade leisten konnten, während die Armen auf Fleisch in der Regel ohnehin verzichten mussten.55

Französische Hungerkarikaturen Überwog bereits in der journalistischen Ereignisgrafik die Praxis, Schlachtung und Verzehr des ,häuslichen Wildes‘ ironisch zu kommentieren, drängte sich das Sujet den Karikaturisten geradezu auf. Dutzende Darstellungen visualisierten die Versorgungslage als humoristischen Konkurrenzkampf zwischen Mensch und Tier. Eine wichtige Rolle dabei 51 52

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Labouchère, Aus dem Tagebuche, S. 30. L’Illustration, Nr. 1454, 7.1.1871: „Siège de Paris. – Abattage d’un des éléphants du Jardin d’acclimation“. Die Doré zuzuschreibende Darstellung auch in La Gazette des Absents, hier: „Abattage d’un élephant du Jardin des plantes durant le siége de Paris“, sowie Claretie, Histoire, S. 396. Eine Variante in The Illustrated London News, Nr. 1634, 28.1.1871: „Killing an Elephant for food in the Jardin des Plantes, Paris“.   Zwei verschiedene Ausgaben: „Pendant le siège de Paris, l’armée procède à l’abbatage de l’elephant du Jardin des Plantes afin de nourrir la population“ (Imagerie Haguenthal, Musée Carnavalet, Paris) sowie „SIEGE DE PARIS[,] ABATTAGE DE L’ELEPHANT. Depuis plusieurs mois, il n’etait pas entré de vivres dans Paris cerné par les Prussiens. […]“. Haffmans (Hrsg.), Goncourt, Bd. 5, S. 311. Spang, Relating, S. 756f.

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spielte die Aufhebung der Zensur, die Anfang September 1870 das rigide Pressegesetz von 1852 beseitigte. Das Gros der satirischen Blätter machte für die Misere nicht die Belagerer verantwortlich, sondern nutzte das Thema für Gesellschaftskritik. Der Hunger war demnach ein internes Problem, ausgelöst durch Uneinigkeit, Überheblichkeit und mangelnde Vorsorge. Aufschluss darüber gibt die politische Herkunft der Karikaturisten, insbesondere die von Cham (Amadée Charles Henri de Noé), der für den wöchentlichen Charivari die berühmten Ereignis-Karikaturen („Actualité“) schuf und dessen Hauptgegner das Kaisertum war.56 Der zwischen September 1870 und März 1871 nur zwei Seiten umfassende Charivari war zur Zeit der Blockade das einzige periodisch erscheinende Satireblatt.57 Über ähnlich großen Einfluss wie Cham verfügte der für den Verlag Éclipse arbeitende Draner (Jules Jean Georges Renard). Im Unterschied zu den Belagerungs-Karikaturen handelt es sich bei den erst nach Aufhebung der Belagerung entstandenen Satireblättern „Souvenirs du siège“, „Album caricature“ und „Paris assiégé“, um naive Darstellungen in der Bilderbogentradition.58 Stilistisch vergleichbar arbeitete Faustin Betbeder, der nach der Befreiung eine Mappe mit dem Titel „Paris Bloqué“ publizierte.59 Nicht selten wurde von den Karikaturisten die Boucherie als Schauplatz gewählt.60 Dem einfachen Volk dienten die oft vermögenden Metzger traditionell als Hassfiguren. Gerade in Notzeiten warf man ihnen vor, Waren unter dem Ladentisch zu verkaufen. „Paris Bloqué“ zeigt ein solches Geschäft mit einem Pferdekadaver am Haken.61 Während der Fleischer die Käufer vor dem Laden aussperrt, interessiert sich ein Hund als Nahrungskonkurrent für den trophäenartig an der Wand des Schlachtraums prangenden Pferdeschinken. Im Charivari verdichtet sich das Futterneidmotiv zur Mensch-Tier-Parabel. Im Blatt „Les animaux du Jardin des Plantes faisant la queue comme tout le monde pour avoir leur viande“ ist es ein dem Zoo entlaufener Bär, dargestellt mit Einkaufskorb und in Begleitung eines Löwen, der mit einer Pariserin um Fleisch streitet.62 Restaurants bieten dem Nahrungskampf eine ähnlich symbolträchtige Bühne. Die improvisierten Pariser Menus finden neben den Tagebüchern vor allem in den Satireblättern ein breites Echo. (Abb. 3) Von Cham stammt ein besonders drastischer Einfall, bei dem selbst der Mageninhalt zur potentiellen Nahrungsquelle

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Vgl. Kunzle, Cham; Nathan, Cham. Eine Einzelanalyse der Arbeiten Chams für den Charivari fehlt. Koch/​Sagave, Charivari, S. 36. Draner, Les défenseurs; Ders., Album caricaturel; Ders., Paris assiégé. Faustin, Paris Bloqué. Vgl. Deutsch, War. „(6 heures du matin) la queue à la boucherie … [unleserlich]“, in: Faustin, Paris Bloqué, Nr. 12. Le Charivari, 11.11.1870, abgeb. bei Ducatel, Histoire, S. 45 mit Nr. 12.

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wird. Die Karikatur zeigt einen Mann vor leerem Teller. Zur Hälfte steckt eine Katze in seinem Rachen, laut Legende, um eine Maus zu erjagen.63

Abb. 3: Cham, „Le danger de manger“, in: Le Charivari, 1.12.1870 Wie eingangs erwähnt, zählt die Menschenschlange zu den verbreitetsten Hungernarrativen.64 Stand man anfangs um Fleisch, Gemüse und Milchprodukte an, ging es ab Spätherbst um das sanktionierte, mit Reis und Stroh gestreckte Belagerungsbrot. Ereignisblätter und Karikaturen stellen die beteiligten Personen in oft obskuren Situationen dar. Chams „Krieg um das Rattenfleisch“ zeigt eine endlose Menschenschlange im nächtlichen Paris in gebückter Haltung vor dem Rinnstein, in der trügerischen Hoffnung, eine Ratte zu erwischen.65 Ähnlich beliebt sind Schaufenster, die allerhand Seltsames feilbieten. Eine Karikatur verspottet unter dem Titel „Nourriture pedant le siège“ eine Auslage, die ein ausgestopftes Krokodil, einen Pferdekopf und – als besondere Attraktion – einen ledernen Bergstiefel unter einer Duftglocke präsentiert.66 Solche Überzeichnungen waren dennoch nicht fern der Realität – oder doch eingebunden in weitere Diskurse. So erspähte der britische Journalist John Augustus O’Shea im Schaufenster eines nunmehr Lebensmittel verkaufenden Juweliers einen Hasen, umgeben

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„Le danger de manger de la souris est qu’ensuite votre chat ne coure après“, in: Le Charivari, 1.12.1870; ebenso bei Ducatel, Histoire, S. 48 mit Nr. 1. Eine ähnlich absurde Anekdote brachte der Figaro: Ein Mann wird von einer Hundemeute durch Paris gehetzt, bis ihm einfällt, dass er eine Ratte zum Frühstück verzehrt hat. Horne, Paris, S. 172f. Zusammengefasst bei Clayson, Paris, S. 179–191. „La guerre pour la viande de rats“, in: Le Charivari, 8.12.1870; bei Ducatel, Histoire, S. 49 mit Nr. 5. Pescheux, Les Aventures.

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von einem Teller mit Elritzen und Spatzen, sowie Eier, die kreisförmig wie ein Perlenhalsband arrangiert waren.67 In dieselbe Reihe grotesker Nahrungsmittel der Verkehrte-Welt-Tradition gehört Jacques’ Verzehr des Hundes Moustache. Tatsächlich besitzt das an Gefühle appellierende Narrativ von Treue und Verrat in den Text- und Bildsatiren diverse Facetten. Bei Gautier heißt es: „Bald merkten die Tiere, daß die Menschen sie auf seltsame Weise ansahen und ihre Hand sie, unter dem Vorwand zu streicheln, wie die Finger eines Schlächters befühlte, um zu sehen, wie viel Bauch sie hätten. Die Katzen, die klüger und mißtrauischer sind als die Hunde, begriffen es als erste und gewöhnten sich in ihrem Umgang größte Vorsicht an“.68 „Paris Bloqué“ zeigt eine Katze, die den Lockungen eines ihr auf dem Dachfirst nacheilenden Koches misstraut und einen Buckel macht.69 Das gegenteilige Verhalten führt ein Blatt des Albums „Paris assiégé“ mit dem Titel „Die Essbaren“ vor. Dargestellt ist der geheuchelte Schmerz eines Ehepaares, das sich von seinem Hund verabschiedet, der in seiner Treue nicht merkt, was ihm bevorsteht.70 (Abb. 4) Eine Zusammenschau der gängigsten Belagerungsmotive bringt Chams Titelvignette des „Album du siège“, welches der Charivari-Verlag wohl erst ein Jahr nach Aufhebung der Blockade Ende Januar 1871 herausbrachte. Mit 39 Lithografien ist hier eine prominente Auswahl der zuvor in den Einzelausgaben publizierten Karikaturen versammelt:71 Oberhalb des Titels erscheint eine männliche Personifikation der Stadt Paris, dargestellt als Lockenkopf mit Mauerkrone, der mit spitzen Zähnen Ratten verspeist; daneben zwei Kasserollen, in denen Hund und Katze schmoren. Die linke Bordüre zeigt eine in Streit geratene Menschenschlange vor einer von einem Gardisten bewachten Boucherie. Am rechten Bildrand taucht ein Pferd auf, das zur Schlachterei geführt wird. Unten sind zwei Bäcker zu erkennen, die Belagerungsbrot backen. Einer von ihnen versetzt den Brotteig mit Stroh, der andere holt verbrannte Laibe aus dem Ofen.

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Zitiert bei Horne, Paris, S. 175. Théophile Gautier: Tableaux du Siège. Paris 1870-1871, Paris 1886. Zitiert nach Horne, Paris, S. 171. „La chasse aux lapins de gouttière. Le dernier jour d’un condamné …“, in: Faustin, Paris Bloqué, Nr. 13; bei Ducatel, Histoire, S. 53 mit Nr. 3. Die Bezeichnung „lapin de gouttière“ (Dachhase) spielt auf die Ähnlichkeit von Katzen- und Hasenfleisch an. „LES COMESTIBLES. Mon pauvre Médor, je vain étre forcé de te manger pour te conserver ton pauvre maître“, in: Draner, Paris assiégé, Bl. 16. Cham/​Daumier, Album du siège.

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Abb. 4: Cham, „Album du siège“, Titelvignette, Paris ca. 1872

Die deutsche Berichterstattung Im Unterschied zu vielen ausländischen Kollegen waren die deutschen Korrespondenten vom direkten Informationsfluss ausgeschlossen. Dies scheint mit ein Grund dafür zu sein, dass die Belagerung in der deutschen Presse eine geringe Rolle spielte.72 Die meisten Beobachter, so auch der für die Kölnische Zeitung aktive Reiseschriftsteller und Kriegsberichterstatter Hans Wachenhusen, hielten sich beim Oberkommando in Versailles auf. Schon vor Sedan stand für 72

Für Preußen Koch, Berliner Presse; Fischer, Königgrätz.

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die deutsche Öffentlichkeit weniger das Frontgeschehen im Fokus, denn das Ideal einer nationalen Einheit, die – anders als von Busch im „Particularisten“ karikiert – regionale Interessen überwindet und Armee und Heimat zusammenbringt.73 Zu Kriegsbeginn publizierte Daheim ein Porträt des preußischen Königs in Uniform, verbunden mit dem Aufruf zur Geschlossenheit: „Die Campagne des Daheim beginnt hiermit. Wir setzen das Porträt König Wilhelms, dessen greises Haupt französische Frechheit zu insultiren gewagt, hierher als […] Symbol des mit einem Schlage geeinten Deutschlands. Zum ersten Male ziehen alle deutschen Heere in einen Kampf; der Feldherr von Königgrätz führt sie […] und Gott wird mit ihm sein! Haltet Euch wacker, Ihr Schwaben, Baiern, Preußen, Sachsen und wie Ihr Stämme alle heißet; das Daheim wird Eure Thaten verzeichnen“.74

Während die deutsche Bildpublizistik wirklichkeitsnahe, aber verharmlosende Gefechte, Belagerungen und beim Publikum beliebte Etappendarstellungen veröffentlichte, waren Satiren die Ausnahme. Nur vereinzelt druckten Kladderadatsch und Fliegende Blätter gegen Frankreich und dessen Militär polemisierende Karikaturen. Verbreiteter waren ironische Kommentare zur Pariser Ernährungssituation, die erkennbar auf französischen Vorbildern basierten. (Abb. 5) Der Kladderadatsch vom 20.  November brachte unter dem Titel „Ländlich, sittlich“ die Karikatur einer Schlachterei, deren Legende – „Eine Pariser Wildpret-Handlung“ – Übereinstimmungen mit Jacques’ Mäusefang („Häusliches Wildpret“, Bild 7) besitzt.75 Bekannte Motive werden hier verarbeitet: Ein gut situiertes Paar liefert seinen Pudel einem Händler aus, der einen Katzenkadaver im Arm hält. Die Auslage entspricht französischen Mustern: Goldfische, Kalbskopf, Kranich, Eule, Fledermaus und Krähe. Vor der Bauchhöhle eines kompletten Pferdes am Haken werden bizarr an einer Schnur hängende Mäuse zum Kauf angeboten. Nach Art der Präsentation handelt es sich eher um eine Tierhandlung als um ein Lebensmittelgeschäft. Auf einer anderen Karikatur entdeckt ein Paar in einer Restaurantauslage einen Rattenkönig als Beleg für die Haltbarkeit seiner Liebe.76 Ein weiteres Verratsdispositiv brachte dagegen die Januarausgabe, die unter dem Motto „Treu bis in den Tod!“ ein Hündchen auf einem Pariser Kaminsims zeigt.77 73 74 75 76

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Becker, Deutschland im Krieg. Daheim, Nr. 44, 30.7.1870. Kladderadatsch, Nr. 54, 20.11.1870, nach S. 215. So der entsprechende Dialog: „Sieh nur, Clothilde, zwei Ratten, die mit den Schwänzen zusammengewachsen sind! – Ach, wie appetitlich! Komm hinein, wir wollen ein ,Vielliebchen‘ essen“. Ähnlich: „Der Rattenkönig. (Pariser Straßenbild)“, in: Kladderadatsch, Nr. 56, 4.12.1870. Beiblatt zum Kladderadatsch, Nr. 2, 8.1.1871. Die Beischrift wird noch deutlicher: „Azor. Ging d.[en] Weg all:[en] Fleisches mit Zwiebelsauce am 1ten Jan. 1871“.

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Kladderadatsch griff auch das Schicksal von Castor und Pollux auf. Zum Kommentar „Allerneuestes vom Pariser Menu, seitdem die beiden Elephanten des Jardin des Plantes an einen Schlachter verkauft wurden“ ist eine Art ,Elefanten-Klein‘ zu sehen: ein fassgroßer Teller mit Stoßzahn, Rüssel und Elefantenpfoten.78

Abb. 5: „Ländlich, sittlich – Eine Pariser Wildpret-Handlung“, in: Kladderadatsch, Nr. 54, 20.11.1870 78

Beiblatt zum Kladderadatsch, Nr. 3, 15.1.1871.

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Dass die Franzosen, deren Küche für ihre Raffinesse berühmt war, jetzt mit vermeintlich Ungenießbarem Vorlieb nehmen mussten, bot Anlass für Spott wie Bewunderung. Peter Schüler, der sein erstes Pferdesteak noch als Mutprobe beschrieb, äußerte sich später durchaus positiv.79 Labouchère berichtete über ein Lokal, das Schimmel- für Rindfleisch und Katzen für Kaninchen ausgab, wobei die Speisen fantasievoll zubereitet ausgezeichnet schmecken würden.80 Auch Goncourt, der einen Großteil des Tages in seinem Stammlokal verbrachte, notierte, dass man dort jetzt Hunderücken statt Hammelfleisch serviere.81 Selbst Jacques’ Hundekoteletts kommen zur Sprache. So zitiert Goncourt ein Straßengespräch, es seien Koteletts von Hunden angeboten worden, die denen von Hammeln zum Verwechseln glichen.82 Die Gartenlaube argumentierte ähnlich. In einem Artikel über „Pariser Massenrestaurants“ heißt es: Wer das Niveau der französischen Gastronomie kenne, dem schwebe „beständig die Frage vor der Seele: welcherlei Diners und Soupers in diesen verschiedenen culinarischen Etablissements wohl jetzt aufgetischt werden mögen, nachdem der unzerreißbare Eisengürtel unserer siegreichen Heere die Hauptstadt Frankreichs schon seit Monden von der Außenwelt hermetisch abgesperrt und jede Proviantzufuhr für die nahezu zwei Millionen Magen unmöglich macht? […] Fügen sie sich ohne innere Empörung der herben Nothwendigkeit, ihre kunstvollen Ragouts, Emincés und wie sonst die Bezeichnungen ihrer Wissenschaft lauten, aus Pferdefleisch bereiten zu müssen? Oder spornt der Patriotismus ihren Genius zu unerhörten Erfindungen und setzt ihre belagerten Stammgäste durch neue Triumphe der Kochkunst über rebellisches Material in Erstaunen?“83

Der Diskurs um militärische Feigheit Das von der Warte kriegerischer Überlegenheit dem ,französischen Naturell‘ zugeschriebene Talent zu Gewitztheit und Improvisationsgabe prägt ebenso den zweiten Diskursstrang im „Monsieur Jacques“, die als Feigheit visualisierte angebliche Ehrlosigkeit der Franzosen: Jacques hat anfangs Stiefel und Degen neben dem Schreibpult deponiert (Bild 2). Wie der Hausrock andeutet, entzieht Jacques sich dem Kampf bis er zuletzt einen ,feigen‘ Racheakt begeht – mit präparierten Hundekoteletts (Bild 18). Allerdings trifft der Anschlag nicht die Preußen, sondern

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Schüler, Tagebuch, S. 73. Labouchère, Aus dem Tagebuche, S. 18. Der Eintrag erfolgte zum 26. Oktober 1870. Haffmans (Hrsg.), Goncourt, Bd. 5, S. 337. Ebd., S. 289. H. Schn., „Pariser Massenrestaurants“, in: Die Gartenlaube, Jg. 1871, Nr. 5, S. 81–83, hier S. 81.

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den ,inneren‘ Feind – als Sansculottes auftretende zerlumpte Kommunarden (Bild 17). Der hier antirepublikanisch intendierte Begriff „Citoyens“ deutet darauf hin, dass die Darstellung auf die Proklamation vom 4. September 1870 anspielt, deren Text an die Notlage der Republik in den Jahren 1792/​93 erinnert.84 Erst nach dem Scheitern seines Mordkomplotts stellt sich Jacques in die (Soldaten)Stiefel; allerdings sprengt er sich nunmehr selbst in die Luft (Bild 19 und 20).85 Vermutlich parodiert Busch hier revolutionäre Symbolik. Dafür sprechen Parallelen mit seinen im „Pater Filucius“ ebenfalls jakobinisch angelegten Verräterfiguren „Jean Lecaq“ und „Internazi“, die sich im Auftrag des ,falschen‘ Pater als ,feige‘ Franzosen gegen den deutschen Gottlieb Michael verschwören. Der Vorwurf unfairer Kriegführung bildete einen Schwerpunkt deutscher Propaganda. Viele Artikel schrieben über unsoldatisches Verhalten sowie französische Geheimwaffen, die mehr mit Mord als Krieg zu tun hätten. Selbst ein Provinzblatt wie die Wöchentliche[n] Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg wusste von „Satans-Raketen“, „Petroleum-Minen“ und „Höllen-Torpedos“ zu berichten, die die Kampfmoral im Lande stärken sollten.86 Tatsächlich fürchtete die deutsche Öffentlichkeit die Wirkung der Mitrailleuse und des Chassepotgewehrs, obgleich die Forschung heute die größere Effektivität der preußischen Artillerie und der Kommandostrukturen für kriegsentscheidend hält.87 „Die Mitrailleuse entspricht nicht den Bedingungen des Feldkrieges“, lautete ein damals gängiges Urteil.88 Frankreichs überlegene Waffentechnik wurde denn auch als Agitationsinstrument abgetan. Daheim schrieb: „Keinen Krieg hat das zweite Kaiserreich bisher geführt, ohne dabei mit irgend einer unerhört wunderbaren, ,noch nie dagewesenen‘ Ueberraschung anzutreten […]. Im Krimkriege waren es die phantastisch kostümirten, kibitz-laufenden und miauenden Zuaven und Turkos mit ihren ,chatons‘, zum Theil echte Söhne der afrikanischen Steppe, zum Theil aber auch simple Pariser Kinder aus dem Fabourg St. Antoine […]. In dem gegenwärtigen Kriege mit Deutschland endlich tritt Louis Bonaparte mit zwei neuen Mordwerkzeugen auf, die seine früheren Leistungen bei weitem überstrahlen

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„Français! La Peuple a devancé la Chambre, qui hésitait. Pour sauver la Patrie en danger, il a demandé la République. Il a mis ses représentants non au pouvoir, ami au péril. La République a vaincu l’invasion en 1792, la République est proclamée. La Révolution est faite au nom du droit, au salut public. Citoyens, veillez sur la Cité qui vous est confiée; demain vous serez, avec l’armée, les vengeurs de la Patrie!“ Zur These revolutionärer Re-Inszenierung Deinet, Revolution. Der Einsatz des Stiefels als Zwangsmittel, das dem Träger die Freiheit nimmt, findet sich in der Bildergeschichte „Fips, der Affe“ (1878), WBG (2002), Bd. 3, Sp. 76–176. F. Graf Eyben, in: Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg, 40. Jg., Nr. 83, 21.10.1870. Howard, Franco-Prussia War, S. 4f. Stadelmann, Mitrailleuse.

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sollen; es sind dies der ,wunderthätige‘ Sanct Chassepot und der angeblich noch viel wunderthätigere Sanct Mitrailleur (alias: Mitrailleuse), oder, wie er officiell genannt wird, da canon à balles, das Infanteriekanon – in der That ein paar recht wunderliche Heilige. […].“89

Vaupel, die auf den Zusammenhang zwischen Jacques’ Explosionspillen und dem Diskurs um geheime Explosivwaffen aufmerksam macht, verweist auf die Verbindung zum von Marcelin Berthelot gegründeten Comité Scientifique pour la Défense de Paris.90 Berthelot, Professor für organische Chemie und Lehrstuhlinhaber am Collége de France, dem es zuvor gelungen war, Fette aus Glycerin und Fettsäuren zu synthetisieren, erhielt von der Regierung den Auftrag, künstliche Nahrungsmittel zu entwickeln, um drohende Engpässe zu vermeiden. Während der Belagerung begann Berthelot zudem mit der Entwicklung von Explosivstoffen.91 Die anhand nationaler Stereotypen konstruierte Debatte um alte und neue Waffensysteme fand Eingang in viele Gesprächsprotokolle. So berichtet Goncourt über ein Essen mit Berthelot und Ernest Renan am 6. September 1870, bei dem man sich psychologisierend mit der Kriegstechnik beider Völker auseinander setzte: „Die Präzisionswaffen widersprechen dem französischen Temperament. Schnell abdrücken, mit dem Bajonett stürmen, das ist es, was unser Soldat braucht. Wenn ihm das verwehrt ist, ist er gelähmt. Die Mechanisierung des Individuums ist nicht seine Sache. Das ist im Augenblick die Überlegenheit der Preußen.“92

Humoristisch-überdrehte, die Angst der Eingeschlossenen kompensierende Diskurse um Bomben und Vernichtungswaffen zirkulierten. Zwei Wochen später besuchte die Runde um Gon-

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[O. A.] „Der Mitrailleur. Nach eigener Anschauung von einem preußischen Artillerieofficier“, in: Daheim, Nr. 46, 13.8.1870, S. 730–732, hier S. 731. Ähnlich [o. A.] „Über die Mitrailleusen“, in: Provinzial-Correspondenz, 26.07.1870, Nr.  30, S.  4: „Die Franzosen haben immer dahingestrebt, bei Beginn eines Krieges mit irgend etwas Neuem die und den Gegner zu überraschen. Dies Mal sind es die Mitrailleusen […]. Noch niemals hatten die Franzosen Glück mit der Einführung neuer Waffen. […] So werden sie 1870 am Ziel vorbei schießen, wenn sie uns mit ihrer Waffe zu überraschen gedenken. Wir haben dieselbe erprobt und ihren geringen wahren Werth sorgfältig ergründet“. Vaupel, Salpeter, S. 47. Zur Umstellung der Wissenschaftsinstitutionen auf Kriegsbedingungen Crosland, Science. Vaupel, Salpeter, S. 49. Haffmans (Hrsg.), Goncourt, Bd. 5, S. 157f.

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court der germanophile Journalist August Nefftzer (1820–1876). Dieser kolportierte Gerüchte, wonach einheimische Kreise planten, die Stadt mit Petroleumfässern in die Luft zu sprengen. „Und in all unserem etwas traurigen Ernst witzeln alle über die übertriebene Lösung“, lautete sein Kommentar.93

Der Hungerdiskurs als symbolische Praxis Stellt man sich der Tatsache, dass der Hungerdiskurs mit seiner ebenso anspielungsreichen wie drastischen Bildlichkeit in wie vor den Toren von Paris letztlich von einheimischen Künstlern und Autoren geprägt wurde, scheint es wenig plausibel, „Monsieur Jacques“ als grausame Entgleisung eines deutschen Chauvinisten zu deuten. Bereits den Zeitgenossen diente der Diskurs dazu, mit dem Hinweis auf Kreativität und Cleverness die Überlegenheit der französischen Kultur zu beweisen. Nicht Not und Entbehrung, sondern „Débrouillardise“, der gewitzte Umgang mit Ressourcen, prägten die Debatte.94 Besonders deutlich formulierte das Sarcey. Dieser erkannte nicht nur – wie auch andere, dass während der Friedensgespräche zwischen Bismarck und Thiers Anfang November plötzlich für wenige Tage Lebensmittel in den Schaufenstern auftauchten, auf die Paris lange verzichten musste.95 Vielmehr beschrieb er den Bruch mit Nahrungstabus als fingierte symbolische Praxis, die den Bürgern dabei half, den Belagerungsdruck durch Spott zu kompensieren: „Man tat groß damit […]. Und man rief: ,Rattenfleisch! her damit!‘ Man aß davon mit langen Zähnen, halb zaghaft, halb witzelnd, nicht ohne Zögern. Und den meisten Spaß machte es uns, wenn uns zufällig ein deutsches Blatt zu Händen kam, aus dem wir sahen, wie jene braven Journalisten ihren Landsleuten erzählten, wir wären schon so weit gekommen, daß wir Rattenfleisch essen müßten. Sie essen Rattenfleisch, also haben sie keine Lebensmittel mehr! Wenn sie gewußt hätten, daß es geschah, um den Schrecknissen der Belagerung einen Possen zu spielen, rein aus Laune und infolge der echt französischen Neigung, sich selbst zu verspotten!“96

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Zit. nach ebd., S. 182. Der aus Colmar stammende Nefftzer hatte 1857 mit Charles Dollfus die Revue germanique gegründet. Siehe vor allem das Kapitel „The Food Crisis“ bei Clayson, Paris. Zur These der dem Hungerdiskurs eingeschriebenen Débrouillardise Claflin, Savoring. Zur Mischung zwischen Dokumentation, Ideologie und Ästhetisierung auch Milner, Art, insbes. Preface, IXf. Hier zit. nach Sarcey, Belagerung, S. 101. Ebd., S. 124.

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Obwohl in Deutschland wohl nur eine Minderheit an eine wirkliche Hungersnot glaubte, wurde mit dem Thema Politik gemacht. Die Kölnische Zeitung, die seit Kriegsbeginn auf ihrer ersten Seite einen Artikel über die militärischen Ereignisse brachte, berichtete erstmals Ende Dezember über Paris, als die Stadt bombardiert wurde. Es herrsche zwar Mangel, dennoch seien Mehl, Wein, Pökel- und Pferdefleisch auf absehbare Zeit in ausreichender Menge vorhanden.97 Mit der fehlenden Milch für den Kaffee (Bild 4) und dem Verspeisen des Kanarienvogels (Bild 9) spielt Busch gleichwohl auf tatsächliche Versorgungsdefizite an. Seit Belagerungsbeginn sind Klagen über den Mangel an Milchprodukten dokumentiert. Das Garen des Vogels unter Zugabe von Kerzentalg (Bild 9) karikiert den verbreiteten Fettmangel. Berthelots Versuche waren bekannt, tierischen Talg, der sich wegen hoher Fettsäureanteile nicht für die menschliche Ernährung eignete, in genießbare Fette zu verwandeln.98 Spöttische Äußerungen über die Pariser Ernährungssituation erreichten selbst die politische Führung. Bismarck wird eine Bemerkung zugeschrieben, deren Übereinstimmung mit Buschs Kaffeeszene frappiert (Bild 4). Lässt sich das von Horne zitierte Bonmot, es reichten acht Tage ohne Café au lait, um den Widerstand der Pariser Bourgeoisie zu brechen, auch nicht verifizieren,99 gibt es doch andere Belege. Als der preußische Ministerpräsident seinem Sohn Herbert am 12. November von einem Gespräch mit Thiers berichtete, kommentierte er den – aus seiner Sicht – mangelnden Friedenswillen der Pariser mit folgenden Worten: „Wir haben Zeit, bis sie ihre Hunde und die schönen langhaarigen Katzen gegessen haben werden, zu schießen werden wir vielleicht nicht brauchen, nachdem es bisher nicht geschehen […]“.100

Fazit Tritt uns Busch im „Monsieur Jacques“ als chauvinistischer Schreibtischtäter gegenüber, der den geschlagenen und notleidenden Gegner verhöhnt? Überschreitet die Bildergeschichte die Linie ,guten‘ Humors für die Kaiserzeit oder die Grenzen des Sagbaren nach 1945? So wie sich die Frage nach ,richtigem‘ oder ,falschem‘ Humor weder unter ethischen noch politischen Aspekten beantworten lässt, so entzieht sich auch der der Kriegsepisode zugrunde liegende 97

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„Die Zustände in Paris und dessen Beschießung. Von Julius v. Wickede“, in: Kölnische Zeitung, Nr. 357, 26.12.1870. Allgemein Horne, Paris; Vaupel, Salpeter. Horne, Paris, S. 170. Laut Auskunft von Dr. Ulf Morgenstern, Otto-von-Bismarck-Stiftung, ist das Zitat nicht nachweisbar. [E-Mail: 13.3.2015]. Zit. nach Windelband/​Frauendienst (Hrsg.), Briefe, 2. Bd., Nr. 1358, S. 799 (hier auch die Auslassungszeichen).

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Hungerdiskurs der klaren Täter-Opfer-Zuordnung. Als gewitzte, von den Eingeschlossenen selbst als typisch Französisch deklarierte Versuche, aus der materiellen Not eine intellektuelle Tugend zu machen und damit den deutschen Sieger wenigstens geistig als unterlegen zu markieren, verschließen sich die Hunger-Satiren in ihrer soziokulturellen Vielschichtigkeit einer nationalen Feindlogik. Dieser Befund sagt aber nichts darüber aus, warum „Monsieur Jacques“ heutigen Betrachterinnen und Betrachtern wohl mehrheitlich als zynisch, grausam und brutal vorkommt. Fällt die visuelle Kultur jenseits des Rheins durch „Débrouillardise“ und anspielungsreiche Selbstreflexion auf, scheint es Busch im „Monsieur Jacques“ eher mit dem Holzhammer zu versuchen. Letztlich kennt die Berichterstattung über die Belagerung von 1870/​71 weniger nationale, denn europäische Akteure und Adressaten. Reporter und Spezialkorrespondenten, Kriegszeichner und Karikaturisten arbeiteten für heimische und ausländische Zeitungen sowie auf eigene Rechnung. Korrespondenzbüros und Agenturen standen zwar unter dem Einfluss der Regierungen, verkauften Bilder und Nachrichten aber ebenso an die Konkurrenz.101 Dabei waren deutsche wie die meisten internationalen Journalisten, die keinen direkten Zugang zu den Geschehnissen hatten, auf Information aus zweiter Hand angewiesen. Schon aufgrund dieser Ereignisferne griffen die deutschen Autoren in ihren wenige Wochen nach der Öffnung von Paris auf den Markt gebrachten Büchern auf die kurz zuvor publizierte französische Belagerungsliteratur zurück – einschließlich des populären Hungerdiskurses. Fontane, der sich, kurzzeitig als Spion inhaftiert, über einen längeren Zeitraum als Kriegsberichterstatter in Versailles aufhielt, veröffentlichte neben seinem Gefangenenbericht eine vierbändige, aus zahlreichen Briefen und Publikationen kompilierte Kriegsgeschichte, deren Abschnitt „Paris im November“ vor allem Sarcey und Labouchère zitiert.102 Auch Wachenhusen referiert in seinem Tagebuch über lange Passagen Sarcey, dessen regierungskritische Haltung er lobt.103 Seit dem Ende der heißen Feldzugsphase näherten sich auf deutscher Seite Kriegsberichterstattung und verklärende Erinnerungsliteratur immer weiter an. Obgleich in vielen Teilen Frankreichs noch gekämpft wurde und sich der ,Zernierungs‘-Ring um Paris schloss, war der Krieg im Herbst 1870 entschieden. Das Zurückdrängen der Todesangst und das ruhige Etappenleben förderten den humoristischen Blick. Ob es sich bei „Monsieur Jacques“ tatsächlich um ein typisches Beispiel ,hässlicher‘ Kriegseuphorie im Sinne des ,Deutschen Humors‘ handelt, wie Martina Kessel in Anlehnung an die ältere Literatur meint, sei somit dahingestellt.104 101 102 103 104

Vgl. hierzu mit einem Schwerpunkt auf Fontane Homberg, Reporter-Streifzüge, insbes. S. 268–292. Fontane, Krieg gegen Frankreich. Wachenhusen, Tagebuch, S. 247. Kessel, Gelächter, S. 105.

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Wenngleich die krude Ästhetik der Bildergeschichte weder in den Bereich ,versöhnenden‘ Humors gehört,105 noch dem Gestus gemütvoller Landser-Romantik nach Art des ,Humor im Felde‘ folgt, unterscheidet sich Buschs Hunger-Satire in ihrer Motivik nicht von den französischen Pendants. Es bleibt die ungeklärte Quellenfrage. Wie und wo hat sich Busch informiert? Kontakte zu Journalisten und Verlegern sind bekannt, nicht aber Buschs Medienkonsum. Welche Zeitungsberichte, Illustrationen und Karikaturen dienten „Monsieur Jacques“ als Anregung oder konkretes Vorbild? Kannte Busch den Pariser Hungerdiskurs? Antworten darauf gibt es nicht. Erschwerend hinzu kommt Buschs Vorsicht gegenüber politischer Vereinnahmung, aktuell begründet im Prozess um den „Heiligen Antonius“. Im Juli 1870, einen Monat nach Erscheinen der Religionssatire, wurde deren Verleger Moritz Schauenburg von der Offenburger Staatsanwaltschaft wegen „durch die Presse verübte Herabwürdigung der Religion und Erregung öffentlichen Ärgernisses durch unzüchtige Schriften“ verklagt. Auch wenn es später zum Freispruch kommen sollte, blieb die Broschüre doch in einigen Staaten auf dem Index. Am 12. August 1870 schrieb Busch an Schauenburg, dem er für den Prozess entlastendes Material zusandte: „Mit tendenziösen Sachen habe ich mich nie im Leben befaßt. Wo mir etwas komisch erschien, habe ich es in meiner Weise zu behandeln gesucht.“106 Dabei wird Buschs Bemühen deutlich, Vorbilder und gesellschaftskritische Aspekte zu verneinen, um politisch aus dem Schussfeld zu geraten. Heute überschreiten Jacques’ Bestialitäten an anderer Stelle die Grenzen des Zeig- und Zumutbaren. Anders als im Europa des 19. Jahrhunderts gilt das Schlachten tierischer Lebensgefährten unter Social-Media-Bedingungen als inhumane, sadistische Tat, als letztlich unentschuldbares Verbrechen. Andererseits fiel bereits den Zeitgenossen auf, dass Buschs Geschichten nicht nur von Tötungen, sondern auch von an Tieren verübten Grausamkeiten wimmeln, die stellvertretend für menschliches, speziell kindliches Fehlverhalten malträtiert werden. Gerade das Überzogene dieser Strafen zeigt die parodistische Absicht. Im Werk von Busch ist das Leiden des, in diesem Falle schuldlosen, Hundes Moustache keine Ausnahme: zu erinnern ist an den frechen Kater Münzel, dessen eingeklemmter Schweif von der frommen Helene mit Hilfe von Lack und Papier angezündet wird, oder an den Mensch wie Tier quälenden Raben Hans Huckebein, der als Strafe sich im Suff an einem Wollfaden erhängt. Dass bei einem Humoristen und Satiriker, dessen Tierliebe vielfach dokumentiert ist, Tierquälereien einen so breiten Raum einnehmen, hat also sicher etwas zu bedeuten.

105 106

Vgl. ebd., S. 102, S. 106. Bohne, Sämtliche Briefe, Bd. 1, S. 56 (Brief 75). Vgl. hierzu WBG (2002), Bd. 2, Sp. 925-940, Zitate Sp. 925 und Sp. 927.

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Wilhelm Buschs Bestialitäten: Die Bildergeschichte „Monsieur Jacques“ im Spiegel der Bildsatire des Pariser Hungerwinters 1870/71

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Bildquellen Abb. 1: Wilhelm Busch, „Monsieur Jacques à Paris“, Bild 11–14, in: Fliegende Blätter, Nr. 1328, S. 206. Abb. 2: „Siège de Paris – Une boucherie spéciale“, in: L’Illustration, Nr. 1452, 24.12.1870. Abb. 3: Cham, „Le danger de manger“, in: Le Charivari, 1.12.1870. Abb. 4: Cham, „Album du siège“, Titelvignette, Paris ca. 1872. Abb. 5: „Ländlich, sittlich – Eine Pariser Wildpret-Handlung“, in: Kladderadatsch, Nr. 54, 20.11.1870.

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Exzess, Attraktion, Subversion Zur Wechselwirkung von Gewaltdarstellung und Komik im Spielfilm Jakob Larisch

1. Komik und Gewaltdarstellung: Einleitende Worte Vieles kann und muss lustig sein (dürfen) in einer aufgeklärten Gesellschaft: Eine komödiantische oder satirische Auseinandersetzung mit grundlegend zu Kontroversen neigenden Sujets wie Religion oder Sexualität ist heutzutage nicht nur glücklicherweise zulässig bzw. rechtens, sondern im Umkehrschluss im Sinne einer freien Kunst, einer freien Rede, einer freien gesellschaftlichen Kommunikation zudem auf abstrakter Ebene gar wünschenswert. Doch es gibt ein weiteres Themenfeld, in dessen Rahmen die Stimmung in Bezug auf eine komödiantische Verankerung schnell zu kippen droht: die Darstellung von Gewalt, selbst wenn diese sich in fiktiven Zusammenhängen abspielt. Per definitionem werden durch Gewaltakte Menschen verletzt oder getötet, was auch in einem fiktionalisierten Bezugsrahmen stets im Bewusstsein mitzuschwingen vermag. Das Lachen über Akte der Gewalt, so könnte man verschiedene Vorwürfe formulieren, negiere Drastik und Dramatik von Gewalthandlungen, es degradiere Schmerz und/​oder gewaltsamen Tod zu Faktoren der Belustigung, es mache die Opfer der (auch fiktiven) Gewalthandlungen und damit Gewaltopfer als solches verächtlich, selbst wenn man wisse, dass die dargestellten Vorgänge „nicht echt“ seien, kurz: es sei in jedem Fall geschmack- und pietätlos, vielleicht gar gefährlich. Ausgehend von diesen Konfliktlinien wird der vorliegende Beitrag sich mit der Frage nach dem Zusammenspiel von Gewaltdarstellung und Komik im Spielfilm auseinandersetzen und die These formulieren, dass der komisch konnotierten Darstellung von fiktiver (in diesem Falle filmischer) Gewalt ein progressiver Charakter innewohnt – was gleichermaßen für andere zu Kontroversen neigende Themenbereiche gilt. Nach einer knappen filmtheoretischen Einordnung folgt eine filmhistorische, schlaglichtartige Abhandlung über die Materie, um anhand konkreter Beispiele einen strukturierten Überblick über die zugrunde liegende thematische Verbindung geben und die Frage nach dem Ursprung von Komik im Themenfeld filmischer Gewaltdar101

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stellung beantworten zu können. Im Sinne einer dialektischen Wechselwirkung der Kunstform Film mit gesellschaftlichen Zuständen wird dabei im Zuge einer zeithistorischen Ursachenforschung immer wieder die Frage gestellt, wie sich die behandelten Filme gesellschaftspolitisch verorten lassen, um alsdann in einem letzten Schritt auf die grundlegende politische Bedeutung einzugehen.

2. Komik und Gewaltdarstellung: Die Theorie Der Verbindung von filmischer Gewaltdarstellung und Komik lässt sich mit einem ganzen Konglomerat aus Filmtheorien begegnen. Insbesondere zwei Konzepte sind hierbei wichtig: die von Kristin Thompson entwickelte Theorie des Exzesses sowie die auf Linda Williams zurückgehende Idee der Körpergenres. Jenseits seines narrativen Charakters, so Thompson, wohne Film stets ein Moment inne, das sich nicht erzählerisch verorten lasse und welches sie als Exzess bezeichnet: „At that point where motivation fails, excess begins.“1 All jene Dinge, die nicht im Dienste des Elaborierens einer Handlung stehen, die keine erzählerische Notwendigkeit aufweisen, sind folglich als exzessiv zu betrachten. Nicht nur ist Film damit ein dauerhaft exzessives Medium, da man stets die Aufmerksamkeit auf das Spiel der Farben, Formen und Töne lenken könne2, der analysierende Blick wird daneben auf das Verhältnis der beiden nicht voneinander zu trennenden Faktoren Stil und Plot gelegt3, dem immer etwas Willkürliches anhaftet: Ein spezifischer (quasi „objektiver“) Grund, eine Szene bzw. einen Vorgang filmisch „genau so und nicht anders“ zu zeigen, besteht in der Regel nicht. Film als (erzählende) Kunstform wird auf diese Weise als Konstrukt entlarvt, das eben nicht auf quasi-naturgegebenen Strukturen basiert: „Once the narrative is recognized as arbitrary rather than logical, the viewer is free to ask why individual events within its structures are as they are.“4 Mit Blick auf die Verknüpfung von Komik und Gewaltdarstellung kommt Exzess zum Tragen, da es sowohl den Witz bzw. die humorige Konnotation bestimmter Momente als auch die drastische Bebilderung von Gewalthandlungen nicht in jedem Falle „braucht“, um eine Handlung zu verstehen. So sind spezifische Formen filmischer Darstellung prädisponiert für in diesem Sinne exzessive Darstellungen: Benötigt man Verfolgungsjagden und Schießereien, um den narrativen Fortschritt eines Actionfilms zu verstehen? Doch ist Film ein genuin visuelles Medium und vermag in diesem Kontext, so Tom Gunning, ein „Kino der Attraktionen“5 zu sein. Zwar be-

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Thompson, Excess, S. 58. Vgl. Bordwell, Narration, S. 53. Vgl. ebd., S. 48ff. Thompson, Excess, S. 63 Gunning, Kino der Attraktionen, S. 27.

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Exzess, Attraktion, SubversionZur Wechselwirkung von Gewaltdarstellung und Komik im Spielfilm

zieht er sich spezifisch auf das frühe Kino, allerdings ist der Terminus gleichwohl dazu geeignet, auch eher zeitgenössische Ausdrucksformen von Film zu charakterisieren, in denen das Spektakel und nicht die erzählte Geschichte im Vordergrund steht6 und „exhibitionistische Konfrontation statt diegetische Versunkenheit“7 zum Motto erhoben wird. Komik und Gewaltdarstellung berufen sich damit quasi auf ein gesteigertes Kino der Attraktionen, das den spektakulären Charakter des Mediums hervorhebt und unterstreicht: Auch die Gewalt, auch der Schrecken kann schließlich zur Attraktion gemacht werden. Und dieser Schrecken ist es, der seitens des Publikums auf somatischer Ebene zu wirken vermag (nicht: muss) und ebenso wie das Lachen folglich in Verbindung mit den so genannten „Körpergenres“8 gebracht werden kann, welche nach Williams diejenigen Genres bezeichnen, die auf eine dezidiert körperliche Reaktion des rezipierenden Subjekts ausgelegt sind: das Melodram (Weinen), der Horrorfilm (Schrecken/​Ekel) und die Pornografie (sexuelle Erregung).9 Auch wenn sie die Komödie nicht als Teil der Körpergenres fasst, so stellt das Lachen nichtsdestotrotz eine physiologisch fundierte Reaktion auf das filmisch Gezeigte dar. Wenn nun das dem Lachen (im Regelfall) vorausgehende komische Moment in Zusammenhang mit Gewaltdarstellung als einem zweiten potenziell somatisch wirkenden Faktor gebracht wird, der an Dinge wie Abscheu oder Ekel appelliert, die zu körperlichen Reaktionen von Abwenden über Erbrechen bis hin zum Abbruch der Rezeption führen können, lässt sich der Begriff des Exzesses in die Diskussion re-integrieren, denn die genannten Körpergenres sind als genuin exzessiv aufzufassen: Um eine Handlung kognitiv zu „verstehen“, bedarf es keiner somatischen Reaktionen. Folglich bricht das filmische Beschwören körperlicher Wirkungen die narrative Geschlossenheit auf und wirft das zuschauende Subjekt auf sich selbst und seine eigene Körperlichkeit, letztlich seine eigene Verletzbarkeit zurück. Damit geht ein Kontrollverlust einher; das Gefühl, seinen eigenen Körper und dessen Aktionen nicht vollumfänglich beherrschen zu können. Dies widerspricht dem Bild des dauerhaft rational, kalkulierend, denkend agierenden Ich, es widerspricht ebenso dem Gedanken einer vom Menschen beherrschten Kunst: An dieser Stelle beherrscht die Kunst den Menschen. Und dieser doppelte Kontrollverlust ist es, der von einem (meist eher kulturkonservativen) Teil der Öffentlichkeit beständig als latent gefährlich betrachtet wird: „Starkdosierungen von Sex, Gewalt und Gefühl werden – für sich alleine oder in Kombination  – von jener Fraktion abgelehnt, die behauptet, dass diese Darstellungen keine Existenzgrundlage jenseits ihres Erregungspotenzials haben […].“10

6 7 8 9 10

Vgl. ebd., S. 29f. Ebd., S. 30. Williams, Filmkörper, S. 11. Vgl. ebd., S. 9ff. Ebd., S. 10.

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Sämtliche hier verhandelten Konzepte richten sich somit gegen ein klassisches, ausschließlich als handlungsgetrieben verstandenes Kino und führen Film in gewisser Weise auf seine visuelle, spektakuläre, exzessive Natur zurück.

3. Komik und Gewaltdarstellung: Eine filmhistorische Orientierung In der im Verhältnis zu anderen Kunstformen eher kurzen Historie des Films hat die Kombination von Humor und Gewaltdarstellung eine nochmals deutlich kürzere Geschichte; ihre systematischen Anfänge lassen sich in den beginnenden 1980er Jahren verorten. Vieles ist dabei im Genre des Horrorfilms beheimatet, einige Beispiele lassen sich im Action- oder Kriminalfilm finden, wobei die Grenze zur Komödie mal mehr, mal weniger überschritten wird. Seit den 1960er Jahren war zunächst generell die filmische Darstellung von Gewalt drastischer und expliziter geworden, was maßgeblich mit dem Ende der bis 1968 in den USA geltenden Zensurmaßnahmen des so genannten Production Code zusammenhing. Filme wie Bonnie and Clyde (Bonnie und Clyde, USA 1967), Night of the Living Dead (Die Nacht der lebenden Toten, USA 1968) oder The Wild Bunch (USA 1969) hatten diesbezüglich neue Maßstäbe gesetzt, die sich bis Anfang der 1980er Jahre konstant steigerten. Es entstand der so genannte Splatterfilm, der „kein spezifisches Genre [bezeichnet], sondern eine spezielle Filmästhetik, die die Zerstörung und Auflösung der Physis zum Thema hat“11 und der in den ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahren die destruktive Sozialstruktur der USA widerspiegelte: „Mit dem Splatterfilm gelangt 1968 die brutale Realität des Kalten Krieges und des Krieges in Vietnam, die Angst vor dem atomaren Untergang der Welt, die globale Gleichzeitigkeit von Gewalt in den Massenmedien und eine neue Authentizität der Wundästhetik in das Horrorkino. Mit dem Einzug der Nachrichtenbilder in und damit das hautnahe Heranrücken des Horrorfilms an die zeitgenössische Medienwirklichkeit, die sich im steten Annähern der Kamera an die geschändeten und zerstückelten Körper der Opfer ausdrückt, wird das Genre diskursiv und kameratechnisch auf paradoxe Weise zugleich realistischer und fantastischer.“12

11 12

Stiglegger, Splatterfilm, S. 672. Meteling, Endspiele, S. 47f.

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Exzess, Attraktion, SubversionZur Wechselwirkung von Gewaltdarstellung und Komik im Spielfilm

Die US-amerikanische Gesellschaft zerfiel im Angesicht von Vietnamkrieg, Studentenunruhen und Watergate-Affäre, ein Selbstzerstörungsprozess, den (Horror-)Filme wie Night of the Living Dead, The Last House on the Left (Das letzte Haus links, USA 1972), The Texas Chain Saw Massacre (Blutgericht in Texas, USA 1974) oder The Hills Have Eyes (Hügel der blutigen Augen, USA 1977) geschickt ästhetisch repräsentierten und verarbeiteten. Die übernatürliche Bedrohung, die Spukgestalten aus den Schauerfilmen der 1940er und 1950er Jahre wurden hierbei durch eine genuin menschliche Bedrohung ersetzt, der Mensch wurde des Menschen größter Feind. Damit war die Gefahr realistischer grundiert und dichter an der Lebensrealität des Publikums verortet.13 Relevant für die Verknüpfung der Darstellung von Gewalt mit Komik ist im Anschluss daran die auf die sozialpolitisch aufgeladenen Horrorfilme der 1960er und 1970er Jahre folgende Phase, in welcher „der apokalyptische Tenor der ersten Phase des Splatterfilms schwindet und die märchenhafte Fantastik des klassischen Horrorfilms zurückkehrt. Zugleich kehrt mit einer Steigerung der dargestellten Gewalt, der für den Splatterfilm definitorischen Wundästhetik des Körper-Horrors, verstärkt die komische und skurrile Seite des Grotesken zurück. So kann man bei der zweiten Phase des Splatterfilms wieder von einem deutlichen Realitätsschwund sprechen. Das Kino wird wieder zum Rummelplatz und zur Achter- oder besser: Geisterbahn, in der der Zuschauer auf eine geradezu taktile Weise das Spektakel mit den Augen verschlingen darf.“14

Diese Form der Geisterbahn, des Spektakels ohne den eher ernsten politischen Unterton der früheren Phase wird hierbei zum Einfallstor für die Kombination von filmischer Gewaltdarstellung mit Komik. Schon bei Henri Bergson heißt es in seinem grundlegenden Essay über das Lachen: „Es gibt keine Komik außer in der menschlichen Sphäre.“15 Gewalt ist stets ein körperlich fundierter Akt, so dass der Fokus auf Körperlichkeit im Geiste der Körpergenres zum gemeinsamen Nenner von Komik und der filmischen Darstellung von Gewalt wird. Deren komischer Einsatz ist dabei maßgeblich (wenn auch nicht ausschließlich) auf Sam Raimis Film The Evil Dead (Tanz der Teufel, USA 1981) zurückzuführen, welcher im Rahmen einer eher simplen Dramaturgie die Präsentation von Gewalt maßlos überspitzte und sie durch eine fast schon satirische Überhöhung zu einem Schauwert an sich machte. Gleichwohl ist der Film kaum als Komödie angelegt, vielmehr resultiert die humoristische Wirkung maßgeblich aus der exzessiven, bis dato 13 14 15

Vgl. ebd. Ebd., S. 51. Bergson, Lachen, S. 8.

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ungesehenen Übertreibung der Darstellung von Gewalt und kommt folglich eher indirekt zum Vorschein. Dies findet erneut einen Widerhall bei Bergson: „Daher müht sich der tragische Dichter, alles zu vermeiden, was unsere Aufmerksamkeit auf die Materialität seiner Helden lenken könnte. Sobald die Sorge um den Körper dazukommt, ist ein Einsickern des Komischen zu befürchten.“16

Mit Blick auf Film können dabei mehrere, sich teils überschneidende Kategorien herausgearbeitet werden, die den Zugriff auf Gewaltdarstellung und Komik unterschiedlich dimensionieren.

3.1 Gewaltdarstellung als komisches Spektakel Filme dieser Rubrik erheben die Darstellung von Gewalt im Rahmen einer exzessiven Übertreibung um ihrer selbst willen zu einem komischen Spektakel an sich, wobei Momente meist völlig überzogener Gewaltdarstellung selbst als Quelle der Komik dienen. Derartige Filme zeichnen sich immer wieder durch eine morbide Kreativität aus, die mitunter durch sarkastische Kommentare auf der Dialogebene aufgegriffen und gespiegelt wird. In der Kombination von Gewaltdarstellung und Slapstick-Humor wird dabei die ebenfalls auf Körperlichkeit basierende Komik früherer Tage, etwa die Missgeschicke in den Filmen von Charlie Chaplin, konsequent zu Ende gedacht: Das Stolpern und das Hinfallen des Tramp mutieren in Fun-Splatter-Filmen zu versehentlich abgesägten Gliedmaßen und teils unkontrollierbaren Körperzerstörungen.17 Hierbei greift unter anderem das von Henri Bergson mit der Kategorie des Mechanischen18 umschriebene Kriterium des Komischen. Für ihn ist die komische Wirkung an eine mechanische Wirkung gekoppelt: „Stellungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers sind in dem Maße komisch, als uns dieser Körper dabei an einen bloßen Mechanismus erinnert.“19 Denn, so Bergsons Begründung: „Das wahrhaft lebendige Leben soll sich eben nie wiederholen. Da, wo Wiederholung und völlige Gleichheit ist, argwöhnen wir immer einen hinter dem Lebendigen arbeitenden Mechanismus.“20 Das Komische drückt somit „also eine individuelle oder kollektive Unvollkommenheit aus, die unmittelbare Korrektur verlangt. Das Lachen ist eben diese Korrektur. Das Lachen ist eine bestimmte soziale Gebärde, die eine bestimmte Zerstreut-

16 17 18 19 20

Ebd., S. 33. Vgl. Harzheim, Braindead, S. 314. Vgl. Bergson, Lachen, S. 11f./​S. 21ff. Ebd., S. 21. Im Original kursiv. Ebd., S. 24.

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heit von Menschen und Vorgängen unterstreicht und zurückweist.“21 Unter dem Begriff der Zerstreutheit versteht Bergson an dieser Stelle eine „Ungelenkigkeit der Sinne und des Geistes“22, die sich filmisch in solche Momente übersetzen lässt, in denen Figuren die ihnen zugefügten Verletzungen kaum wahrzunehmen scheinen, da diese kaum fatale (und letale) Auswirkungen haben. Wenn der Protagonist Ash (Bruce Campbell) in Evil Dead II (Tanz der Teufel II, USA 1987) auf aberwitzige Weise gegen seine eigene, von dämonischen Kräften besessene Hand kämpfen muss und diese mit einer Kettensäge abtrennt, nur um später ebendiese Kettensäge als Waffe an seinem Armstumpf zu befestigen, dann ist es diese routinierte, quasi automatisierte Handhabung eines Ausnahmezustandes, die sich als Mechanisierung bezeichnen lässt und damit als Quelle des Komischen dient. Solch exzessive Gewaltakte stellen in der filmischen Logik weniger eine nachhaltige Problematik dar, sondern vielmehr ein lediglich latentes Ärgernis, dem man meist recht unproblematisch begegnen kann. Dieser Einfall des Absurden in die Normalität muss im Umkehrschluss jedoch durch eine partielle Re-Normalisierung des Absurden begleitet werden, um den Kontrast des Gezeigten zur vorfilmischen Realität hervorzuheben und zu betonen: „All instances of the comic involve a departure from a norm, whether the norm be one of action, appropriate behavior, conventional dress, or stereotypical features. However, the unlike must be tempered by the like […]. There must in other words be a degree of normality in the abnormal, a degree of the appropriate in the inappropriate, a degree of the logical in the illogical and a degree of sense in the otherwise nonsensical.“23

Auch Braindead (NZ 1992) des Neuseeländers Peter Jackson, der später als Regisseur der TheLord-of-the-Rings-Trilogie (Der Herr der Ringe, NZ/​USA 2001–2003) zu Weltruhm kommen sollte, thematisiert eine solche Mechanisierung24 als Fundament einer Normalisierung des Absurden und damit des Komischen: Das ungeschickte Verhalten des Protagonisten Lionel (Timothy Balme) sowie dessen hoffnungslose Versuche, den Ausbruch eines Zombie-Virus im Familien- und Bekanntenkreis einzudämmen und zu vertuschen, werden mit maßlos überzeichneten Gewaltakten verknüpft, so „dass der Film zusehends von der Wirkung des sichtbaren Schreckens abrückt und zum einen in die komische Kippfigur des Grotesken verschoben wird, zum anderen aber eine inszenatorische Erhabenheit bietet, dass der Zuschauer angesichts des Bilderbeschusses

21 22 23 24

Ebd., S. 50. Ebd., S. 12. Neale/​Krutnik, Comedy, S. 67. Vgl. Meteling, Endspiele, S. 52.

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darüber nur staunen kann. Als einzige Lösung angesichts dieser schnell und seriell geschalteten Unmöglichkeiten an hyperbolischer Gewalt bietet sich dem Kinozuschauer deshalb nur noch das staunende Lachen an.“25

Das über die Jahre zum Kultfilm avancierte Werk, dessen mittlerweile berühmter und eindrucksvoller Showdown darin besteht, Lionel mit einem vor die Brust geschnallten Rasenmäher eine Meute von Zombies zerlegen zu lassen26, wurde jedoch in Deutschland von rechtlicher Seite aus gründlich missverstanden, 1999 durch das Amtsgericht Berlin-Tiergarten aufgrund eines vermeintlichen Verstoßes gegen § 131 des Strafgesetzbuches (Gewaltdarstellung) erstmals beschlagnahmt und damit einem bundesweiten Verbreitungsverbot unterworfen. Dass Braindead jedoch eben nicht nur „blutrünstige Handlungen in einem schwachen Rahmenfilmgerüst in schneller Abfolge“27 zeigt, wie es in einem späteren Beschlagnahmebeschluss heißt, sondern „im Kern die ebenso allgemeingültige wie ernsthafte antiödipale Geschichte eines schwachen Sohnes [erzählt], der sich von seiner übermächtigen Mutter emanzipiert“28, wobei die Gewaltszenen als quasi-rituelle Konfrontation mit einem von vornherein gewaltsamen familiären Umfeld und der Verarbeitung damit verbundener psychologischer Traumata dienen (Lionel wurde als Kind Zeuge des Mordes seines Vaters durch seine Mutter, den er jedoch verdrängte), findet keinerlei Berücksichtigung, da man es offensichtlich nicht vermochte, über die exzessive Oberfläche hinweg zu schauen. Braindead war gleichwohl nicht der erste Film von Peter Jackson, in dem er die Darstellung von Gewalt zu einer Quelle der Komik umfunktionierte: In seinem mit Bad Taste (NZ 1987) selbstreferentiell betitelten Erstlingswerk wird die Erde von Außerirdischen heimgesucht, die auf der Suche nach Menschenfleisch für ihre intergalaktische Fast-Food-Kette sind. Zwar ist der Film nicht so sehr durch den zuvor verhandelten Begriff der Mechanisierung geprägt, jedoch resultiert die Komik auch hier maßgeblich aus dem Triptychon von Übertreibung, Überzeichnung und Absurdität (insbesondere mit Blick auf die vollkommen aberwitzige Prämisse). Als eine Unterkategorie jener Filme, die Gewalt als komisches Spektakel inszenieren, lassen sich die Erzeugnisse der US-amerikanischen Produktionsfirma Troma Entertainment fassen, die ihr Geschäftsmodell mit Filmen wie The Toxic Avenger (Atomic Hero, USA 1984), Class of Nuke ’Em High (USA 1986) oder Tromeo and Juliet (Tromeo & Julia, USA 1996) darin entdeckte, abstruse dramaturgische Voraussetzungen mit einem hohen Maß an Gewaltdarstellung und voll25 26

27 28

Ebd. Dies wird beispielsweise durch Marc-Uwe Kling in seinem Buch „Die Känguru-Chroniken“ im Kapitel „Angriff der Killer-Soziologen“ aufgenommen. Siehe auch den Beitrag von Carolin Haupt in diesem Band. AG Tiergarten, Braindead, S. 9. Harzheim, Braindead, S. 314.

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kommen absurdem Humor zu verbinden, denen jedoch freilich durch ihren Außenseiterstatus ein subversives Moment innewohnte. Als „marginalisiertes Kino, konstituiert durch Filme mit niedrigem kulturellem Kapital“29 war das Ziel ein aktives Verschieben und Überschreiten von Grenzen, womit sich die (auch politische) Bedeutung dieser Filme auf einer dezidierten Meta-Ebene ansiedelt.

3.2 Das Spiel mit Genres und Klischees Jedes Genre ist durch spezifische filmische, narrative, visuelle oder ästhetische Standardsituationen geprägt, die ein Wiedererkennen des Genres und eine entsprechende Einordnung von Filmen erleichtern. Werden bestimmte Klischees, Stereotype oder allgemeiner: Genrekonventionen in ihrer Regelhaftigkeit hervorgehoben, so geschieht dies häufig im Rahmen eines parodistischen Ansatzes, der gewisse Gesetzmäßigkeiten deutlich erkennbar macht. Auch die Darstellung von Gewalt kann im Zuge solch spezifischer Konventionen einer Re-Lektüre durch die Brille der Komik unterzogen werden. Hierin äußert sich ein dezidiert postmoderner Zugang zur Materie: Die komödiantische Unterfütterung von Gewalt dient als Beschäftigung mit und Dekonstruktion von Genreregeln, um bestimmte Gepflogenheiten satirisch aufzunehmen und zu übersteigern. Dabei handelt es sich nicht um eine soziologische, sondern eine kulturelle bzw. spezifisch filmische Auslegung der Postmoderne, die sich nach Jens Eder durch die vier Faktoren Intertextualität, Selbstreferentialität, Spektakularität und Ästhetisierung sowie dekonstruktive Erzählverfahren auszeichnet.30 Insbesondere die ersten beiden Eigenschaften sind hinsichtlich eines selbstreflexiven Umgangs mit Genrekonventionen relevant: Durch das dezidierte Aufgreifen bestimmter Wiedererkennungsmerkmale wird ein „eingeweihtes“ Lachen über das bewusste Ausstellen und Persiflieren ermöglicht, häufig ebenfalls im Zuge des Zusammenspiels von Übertreibung, Überzeichnung und Absurdität. Mit Blick auf die Darstellung von Gewalt eignet sich insbesondere der Zombiefilm aufgrund seiner zahlreichen ästhetischen wie semantischen Regeln und Stereotype sehr gut für einen parodistischen Ansatz. Das in den „ernsthaften“ Ursprungsfilmen vorhandene Potenzial für eine drastische Form der Gewaltdarstellung wird hier in der Regel meist überhöht und dadurch ausgestellt, so beispielsweise in Scouts Guide to the Zombie Apocalypse (Scouts vs. Zombies  – Handbuch zur Zombie-Apokalypse, USA 2015) oder Deathgasm (NZ/​USA 2015), die eine überzeichnete Form der Darstellung von Gewalt offen als komisches Element begreifen und mit der Entfaltung einer Coming-of-Age-Geschichte verknüpfen. Teils werden die Genrekonventionen 29 30

Ritzer, Class of Nuke ’Em High, S. 2. Vgl. Eder, Postmoderne, S. 11.

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in einem entsprechenden Kontext auch offensiv angesprochen: Die Hauptfiguren in Filmen wie Return of the Living Dead (Verdammt, die Zombies kommen, USA 1985), Shaun of the Dead (GB/​ F 2004) und Zombieland (USA 2009) sind sich der klassischen filmischen Regeln des Umgangs mit einer Zombie-Apokalypse durchaus bewusst – wichtigster Grundsatz: Zombies können nur durch die Zerstörung ihres Kopfes getötet werden –, diese Regeln werden daraufhin nicht nur in Dialogen zitiert, sondern auch dem Versuch einer Anwendung unterworfen. Während ebendiese Regeln in Return of the Living Dead jedoch nicht mehr funktionieren, so dass am Ende das Militär eine US-amerikanische Kleinstadt mit einer Atombombe auslöscht, um seine Spuren zu verwischen, verbindet Shaun of the Dead das Zombie-Motiv wie auch sein Namensvorbild Dawn of the Dead (Zombie, USA/​I 1978) mit sozialkritischen Untertönen, indem er das Motiv selbstvergessen durch die Straßen schlurfender Menschen aufnimmt, deren alltägliches, durch bürgerliche Konventionen geprägtes Verhalten in seiner Redundanz bereits „zombiehafte“ Züge aufweist. Die Komik resultiert dabei sowohl aus der intertextuellen Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte als auch einer kreativ-satirischen Beschäftigung mit der Darstellung von Gewalt: So nutzen die zwei Protagonisten unter anderem ihre Schallplatten als Waffe gegen Zombies, wobei sie sich währenddessen (de facto unter Lebensgefahr) darüber unterhalten, welche Records denn nun zu schade zum Werfen seien. Zombieland erweitert die Regeln des Genres schließlich ins nahezu Absurde, wenn der Protagonist Columbus (Jesse Eisenberg) sich selbst insgesamt 33 spezifische Grundsätze auferlegt, um sein eigenes Überleben zu sichern. Nicht nur vermag er diese zu jeder Gelegenheit entsprechend zu zitieren, auch werden sie im Zuge einer ausgiebig-selbstironischen Darstellung von Gewalt vorwiegend ex negativo verdeutlicht, mittels einer Bebilderung, wie man sich gerade nicht verhalten sollte. Doch nicht nur der Zombiefilm versteht sich auf dieses postmoderne Spiel mit der eigenen gewaltdarstellerischen Meta-Ebene. So nahmen beispielsweise Robert Rodriguez (als Regisseur) und Quentin Tarantino (als Drehbuchautor und Darsteller) in From Dusk Till Dawn (USA/​MEX 1996) das Genre des Vampirfilms aufs Korn und entfesselten in dessen letzter halben Stunde ein regelrechtes, jedoch zu keiner Zeit ernst zu nehmendes Inferno, wobei unter anderem Vampire mit Tischbeinen gepfählt werden. Auch hier ist Übertreibung das Mittel der Wahl, verbunden mit selbstreferenziellen Kommentaren auf die (Vampir-)Filmgeschichte. Jenseits davon ist der Film jedoch eher nihilistisch: Es gibt keine Hoffnung auf Erlösung, in der porträtierten quasi-apokalyptischen Welt vermögen Strukturen der (beispielsweise familiären) Solidarität nicht zu überleben. Eine solche Kombination der komisch konnotierten Destruktion von Körpern mit der Destruktion gesellschaftlicher Systeme, Werte und Normen findet sich ebenfalls in Filmen wie Society (USA/​J 1989), Slither (CAN/​USA 2006), Tucker & Dale vs Evil (CAN 2010) oder All Cheerleaders Die (USA 2013). Als die Klassenkampf-Variante des Body-Horrors dreht sich Society, eher eine Satire als eine Komödie, um eine Geheimgesellschaft bestehend aus der reichen bzw. aristokratischen Oberklasse, die im Zuge skurril-abstoßender Rituale sprichwörtlich die 110

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Armen verspeist. In Slither lässt eine außerirdische Invasion die Einwohner einer Kleinstadt zu gleichgeschalteten Mutanten werden, während Tucker & Dale vs Evil im Zuge einer gewaltsamen Konfrontation der US-Stadt- mit der Landbevölkerung die oftmals reaktionäre Moral der so genannten Backwood-(Horror-)Filme31 in den Mittelpunkt stellt: Standardisierte und zum Klischee gewordene Sympathiestrukturen werden hierbei umgekehrt und regelrecht zerfetzt. Die Angst einer scheinbar zivilisierten Stadtbevölkerung vor der vermeintlich hinterwäldlerischen Landbevölkerung, die Carol Clover mit dem Begriff der „Urbanoia“32 umschrieb, wird in Tucker & Dale vs Evil invertiert: Eine Gruppe städtischer Mittelklasse-Jugendlicher unternimmt einen Ausflug aufs Land, wobei Allison (Katrina Bowden), ein Mitglied der Gruppe, nach einem Badeunfall von den beiden dort lebenden, äußerlich dem reaktionär geprägten Südstaaten-Redneck-Klischee entsprechenden, durch ihr Verhalten diesem Vorurteil jedoch entgegenstehenden, de facto sehr gutmütigen und zuvorkommenden Hauptfiguren Tucker (Alan Tudyk) und Dale (Tyler Labine) gerettet wird. Da der Rest der Gruppe diesen Vorgang jedoch nicht mitbekommen hat, lässt er sich von seinen (vermutlich auch medial geprägten) Ressentiments leiten und kommt so auf die Idee, die beiden titelgebenden Protagonisten hätten ihre Freundin entführt. Aufgrund einer Reihe absurd-gewaltsamer und tödlicher Unfälle der Jugendlichen, welche allesamt variablen Missverständnissen entspringen und die dem Backwood-Film meist eigene, sehr drastische Form der Darstellung von Gewalt persiflieren, sind es nun die in den ländlichen Raum „eindringenden“, urban geprägten jungen Menschen, die mit der Zeit zu „unzivilisierten“ gewaltsamen Mitteln greifen, um Allison zu befreien. Immer wieder dient somit eine „Interferenz der Reihen“33 als Quelle der Komik: „Eine Situation ist immer dann komisch, wenn sie gleichzeitig zwei völlig unabhängigen Reihen von Ereignissen angehört und so einen doppelten Sinn hat.“34 Während die Städter die Unfälle ihrer Freunde als böse Absichten von Tucker und Dale interpretieren, können diese beiden sich im Umkehrschluss die wiederkehrenden „Befreiungsversuche“ der Jugendlichen nicht erklären. Die mit beiden Gruppen einhergehenden (auch filmischen) Klischees werden ausgehebelt und in ihr Gegenteil verkehrt, wobei nur das Publikum beide Seiten kennt und als einziges in der Lage ist, diese Interferenz der Reihen zu entschlüsseln. Eine Umkehrung genretypischer Prämissen findet sich auch in All Cheerleaders Die, eine postmoderne Aufarbeitung der meist sehr sexualisierten „Cheerlea-

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„Ernste“ Beispiele für dieses Genre wären Deliverance (Beim Sterben ist jeder der Erste, USA 1972), Day of the Woman (Ich spuck’ auf dein Grab, USA 1978), Wrong Turn (USA 2003) oder die bereits erwähnten Filme The Texas Chain Saw Massacre und The Hills Have Eyes. Clover, Chainsaws, S. 124. Hierbei handelt es sich um ein Kofferwort aus den Begriffen urban (städtisch) und Paranoia. Bergson, Lachen, S. 51. Ebd., S. 55.

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der-Filme“ der 1970er Jahre:35 Hier sind es nun die weiblichen Charaktere, welche die Männer sprichwörtlich verspeisen und auf diese Weise dem Terminus des „sexuellen Hungers“ eine neue Pointe verleihen. Gemeinsam ist all diesen Filmen, wie auch vielen weiteren, thematisch ähnlich angesiedelten Werken des Horrorkinos ohne Konnotation des Komischen, dass sie immer wieder mit einer Dekonstruktion des Bürgerlichen einhergehen. Die Koordinaten des (oftmals suburbanen) Lebens greifen nicht mehr, stattdessen finden sich die Figuren häufig in einer Art Hobbes’schem Urzustand wieder, der erkennen lässt, wie schmal doch die Fassade der Zivilisation ist. Autoritäten haben ihre Deutungshoheit über die Dinge verloren, während die Insignien der durch Mittelschichtfamilien geprägten Vorstädte als erstes fallen und sprichwörtlich de(kon)struiert werden. Auch im Actionkino findet sich die postmodern fundierte Kombination von Komik und (drastischer) Gewaltdarstellung. In den entsprechenden „ernsthaften“ bzw. das Genre maßgeblich prägenden Filmen der 1980er Jahre wurden in den finalen Konfrontationen der Helden mit ihren Gegenspielern letztere in der Regel mit teils fast schon zynischen Kommentaren besiegt, womit die Komik noch der Auflockerung und damit leichteren Konsumierbarkeit des Filmstoffes diente. Mit der Satire Last Action Hero (USA 1993), eine selbstreflexive Version von Arnold-Schwarzenegger-Filmen der 1980er Jahre, der sich in diesem Film (unter anderem) selbst spielt, wurden diese Genrekonventionen zumindest auf der Dialogebene aufgenommen, jedoch noch nicht in nachhaltiger Weise visuell ausgespielt. Der Film stellt eine Beschäftigung mit und Dekonstruktion dieser Konventionen dar, welche die dem Actionfilm in der Regel zugrundeliegende Realitätsferne satirisch aufnahm und überhöhte. Ähnlich verhält es sich mit der britischen Variante Hot Fuzz (GB/​F 2007), der in seiner Darstellung deutlich drastischer wurde und dabei Unterhaltungen zweier Charaktere über die besten One-Liner einband, die als ironischer Kommentar zu äußern seien, nachdem man einen Gegner (möglichst kreativ) ausgeschaltet habe. Und auch Robert Rodriguez und Quentin Tarantino, die Verantwortlichen hinter From Dusk Till Dawn, sind der Kombination einer übertrieben-drastischen Darstellung von Gewalt mit Komik treu geblieben, verknüpft mit Verweisen auf die Filmgeschichte: Dabei stellt jedoch Tarantino in Filmen wie Pulp Fiction (USA 1994), Kill Bill Vol.  1 (USA/​J 2003) oder Django Unchained (USA 2012) einen meist trockenen Humor stets als gleichberechtigtes Element neben die Gewaltdarstellung und lässt ersteren selten aus letzterer resultieren. Bei den von Rodriguez inszenierten Filmen Planet Terror (USA/​MEX 2007), Machete (USA 2010) und dessen Fortsetzung Machete Kills (USA/​RUS 2013) sowie dem aus dem Rodriguez-Tarantino-Gemeinschaftsprojekt Grindhouse (USA/​CAN 2007) hervorgegangenen Film Hobo With a Shotgun (CAN 2011) handelt es sich indes um überaus brutale, aber in diesem Kontext eben 35

Beispiele für diese Strömung wären Filme wie The Cheerleaders (USA 1973), Revenge of the Cheerleaders (USA 1976) oder Cheerleaders’ Wild Weekend (USA 1979).

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auch komisch-selbstreferenzielle Reflexionen sowie Hommagen an das Exploitation- und Grindhouse-Kino der 1970er Jahre, mithin an günstig produzierte Filme, die immer wieder aus meist ökonomischen Gründen im Sinne des Kino der Attraktionen die Darstellung von Gewalt als Schauwert einflochten und nun durch ihre postmodernen Nachfolger mit denselben Mitteln persifliert, überzeichnet und betont in ihrer Künstlichkeit ausgestellt wurden.

3.3 Gewalt und Komik in Natur, Wissenschaft und Naturwissenschaft Auch eine überspitzte Beschäftigung mit – grob gesprochen – naturwissenschaftlichen Themen lässt sich im Rahmen einer Kombination von Komik und Gewaltdarstellung verhandeln. Wenn der menschliche Körper im Mittelpunkt steht, so ist es genau dieser Punkt, das Öffnen und Zerlegen von Körpern, an dem entsprechende Filme ansetzen und ein befreiendes, eventuell gar kathartisches Lachen über die eigene Versehrbarkeit ermöglichen. Das eindrucksvollste Beispiel dieser Rubrik stellt sicherlich Re-Animator (USA 1985) samt seiner beiden Fortsetzungen Bride of Re-Animator (USA 1990) und Beyond Re-Animator (E/​USA 2003) dar, die sich in Anlehnung an die Frankenstein-Geschichte und unter ausgiebiger Persiflage des Mad-Scientist-Klischees satirisch mit den (neuen) medizinischen Möglichkeiten der 1980er Jahre auseinandersetzten. Insbesondere der erste Teil eröffnete durch seine absurden narrativen Ideen und bemerkenswerten Spezialeffekte ein „new chapter in the history of comedy-horror film“36, wobei „der humoristische Aspekt weder als Slapstick daherkommt noch die Gewaltdarstellungen entschärfen will. Vielmehr zieht der Film aus den überspitzten Gewaltdarstellungen erst den Großteil seiner Komik, denn was hier an Blut und Organen geboten wird, ist derart comicgleich und überdreht, dass es schwer fällt, es ernst zu nehmen […].“37 Andere Aspekte wurden durch Filme wie Brain Damage (Elmer, USA 1988), eine schwarzhumorige Parabel auf die zerstörerische Natur des Drogenkonsums, die auf allen Seiten stets mit (Todes-)Opfern einhergeht und auch das soziale Umfeld in Mitleidenschaft zieht, oder Frankenhooker (USA 1990) beleuchtet, eine weitere Variation der Frankenstein-Geschichte, die bissig-satirische Kommentare zu Schönheitswahn und zu Schönheitsidealen abgibt. Hier ist es die titelgebende „Frankenhure“, die von einem wahnsinnigen Jung-Wissenschaftler aus verschiedenen Körperteilen von Prostituierten zusammengesetzt wird und somit als eine Art weibliches Idealbild fungieren soll, was jedoch fehlschlägt: Die perfekte Partnerin kann eben nicht einfach „gebaut“ werden …

36 37

Hallenbeck, Comedy-Horror, S. 142. Rzechak, Re-Animator, S. 294f.

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Auch die Strömung des Tierhorrorfilmes, die sich insbesondere seit den 1970er Jahren mit dem destruktiven Einfluss des Menschen auf Natur und Umwelt auseinandersetzte und in verschiedenen Variationen das Motiv einer „Rache der Natur“ durchspielte, blieb nicht von einer absurd-satirischen Behandlung verschont, welche die umweltpolitischen Gegebenheiten beibehielt, sie aber dennoch auf meist (erneut) absurde Weise zu überspitzen vermochte. Während in Black Sheep (NZ 2006) durch Gefahren der Gentechnik sowie die damit einhergehenden, ausschließlich ökonomischen Interessen Schafe zu Monstern und Menschen zu Mensch-Schaf-Mischwesen werden, ist es in Zombeavers (Zombiber, USA 2014) der Kontakt mit giftigem Sondermüll, der die titelgebenden Biber zu fleischfressenden Bestien mutieren lässt. Beide Beispiele spielen damit, dass ein dezidiert ungefährliches Tier zu einer wahnsinnigen Mordkreatur wird, während im „klassischen“ Tierhorrofilm immer wieder von Natur aus gefährliche Tiere (wie Alligatoren, Haie oder Grizzly-Bären) die Quelle der Gefahr waren. Anders verhält es sich mit Piranha 3D (USA/​J 2010), einem enorm überzeichneten Remake des Originalfilms aus dem Jahre 1978, der dessen Prämisse nochmals überspitzt und sie am Ende sehr konsequent durchspielt, wenn Piranhas einen ganzen Strand attackieren – letztlich in Anlehnung an die erste Rubrik zumindest teilweise ein selbstreferentielles Spiel mit Gewaltdarstellung an sich. Auf einer wiederum anderen Ebene ist hingegen Teeth (USA 2007) angesiedelt, der die auch in der Filmgeschichte immer wieder vorhandene Koppelung weiblicher Sexualität an einen animalischen Gestus38 auf eine konsequente Spitze treibt: Die Protagonistin Dawn (Jess Weixler) besitzt eine nicht sprichwörtliche, sondern reale Vagina Dentata, welche ihr nicht wohlgesonnene Männer während des Geschlechtsaktes kastriert. Neben diesem teils komödiantisch durchgespielten Unterbau ist der Film gleichwohl eine ernsthafte Erzählung über Sexualität, Begehren, Verantwortung und gesellschaftlichen Druck.

4. Komik und Gewaltdarstellung: Die Meta-Ebene Letztlich sind die genannten Filme zu vielfältig, um unter einen allgemeingültigen – und auf inhaltlichen Kritieren beruhenden  – gemeinsamen Deutungs-Nenner subsumiert zu werden. Zwar lassen sich die hier elaborierten Beispiele aus den 1980er Jahren zumindest grob als Teil eines ästhetischen Gegenentwurfs fassen, der den populären medialen Bildern der starken, trainierten, gesunden „Hard Bodies“39, die als ideologisches Äquivalent politischer Zielsetzungen

38 39

Beispiele hierfür wären Cat People (Katzenmenschen, USA 1942) oder Ginger Snaps (CAN 2000). Vgl. das gleichnamige Buch von Jeffords, 1994.

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der Reagan-Administration fungierten40, widersprach und ihnen die Körperzerstörung bzw. -auflösung entgegensetzte41, doch dürfte die damals durchaus innovative Form der Drastik, des dezidierten Zeigens und Hinschauens niemals vollumfänglich den Massengeschmack erreicht haben, da vermutlich nur ein kleiner Teil des Publikum „geschult“ war, mit entsprechenden Darstellungen umzugehen. Und auch wenn (exemplarisch) mit Hilfe von TV-Serien wie The Walking Dead (USA 2010-heute), der filmischen Ästhetik von Regisseuren wie Quentin Tarantino und Robert Rodriguez oder spezifischen Comicverfilmungen wie Deadpool (USA 2016) eine drastische Form der Darstellung von Gewalt massentauglicher geworden ist, so ist sie damit noch nicht als solches massentauglich. Sie ist zwar nicht per se marginalisiert, doch wird zu einem Randphänomen, je drastischer, je heftiger sie sich gibt. Verstößt nun explizite Gewaltdarstellung als solche bereits gegen die Maxime des „guten Geschmacks“, so treibt deren komische Aufbereitung das Prinzip noch deutlich weiter und richtet sich gegen spezifische kulturelle Konventionen und Grundsätze: Über den Schaden anderer und erst recht über ihren Tod lacht man nicht. Doch stehen einer solchen Regulierung die Körpergenres entgegen: Mögen körperliche Reaktionen auf das in einem Film Gezeigte innerhalb gewisser Schranken noch steuerbar sein, so greift ab einer bestimmten Stelle der angesprochene Kontrollverlust. Die Reaktion ist da, der Körper meldet sich, ob man will oder nicht. Skepsis: Wie dünn ist doch auf einmal die Fassade des zivilisierten Subjekts und der durch es geschaffenen gesellschaftlichen Normen, wenn ein scheinbar geschmackloses „Machwerk“ die Kontrolle über fundamentale Wesensmerkmale der eigenen Persönlichkeit erlangt. Der Verknüpfung von Gewaltdarstellung und Komik als gleich zwei somatisch wirksame Kriterien, zusätzlich verbunden mit auf falsch verstandener Pietät basierender, kultureller Empörung, das eine überhaupt aus dem anderen resultieren zu lassen, kann folglich ein allgemeiner, auf das Hinterfragen des Etablierten zielender Sinngehalt zugewiesen werden. In ebendiesem subversiven Gestus liegt ein abstrakter sozialhistorischer Erklärungsansatz jener Verknüpfung, der ihn in die Nähe des von Jeffrey Sconce elaborierten Konzepts des Paracinema rückt. Zwar ist wichtig, dass sich dieses in seiner Reinform nicht auf alle hier behandelten Filme anwenden lässt, doch ist dessen grundlegende Idee einer Verletzung von Geschmacksgrenzen als subversiver Akt ein legitimer Kontext, um der politischen Bedeutung einer komischen Konnotation filmischer Gewaltdarstellung auf die Spur zu kommen. Basierend auf der Annahme von Pierre Bourdieu, dass Geschmack etwas kulturell bzw. gesellschaftlich Konstruiertes zur Betonung von Klassendifferenzen sei42, entwirft Sconce das Bild eines Gegen-

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Vgl. Jeffords, Hard Bodies, S. 24f. Vgl. hierzu den Audiokommentar von Marcus Stiglegger und Kai Naumann auf der deutschen Blu-ray-Edition von From Beyond (USA 1986), OFDb Filmworks (Collector’s Edition), 2013, 1:10:251:11:44. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 104ff.

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kinos, das bereits durch seine Darstellungsformen ein Gegenstück zum etablierten Kulturverständnis bzw. -geschmack bildet: „What makes paracinema unique, however, is its aspiration to the status of a ‚counter-cinema‘. […] paracinematic culture seeks to promote an alternative vision of cinematic ‚art‘, aggressively attacking the established canon of ‚quality‘ cinema and questioning the legitimacy of reigning aesthete discourses on movie art.“43

Es ist eine „Praxis kulturellen Widerstands […], der sich in Differenz zu dominanten ästhetischen Kategorien situiert“44 und sich dem Konzept des guten (sprich: gesellschaftlich anerkannten) Geschmacks als gesellschaftlichem Kontrollmechanismus45 entzieht. Damit einher geht auch eine moralische Grenzüberschreitung46, die in der Kombination von Gewaltdarstellung und Komik letztlich per se angelegt ist. Sie verlässt im Geiste des Dualismus von Übertreibung und Absurdität die gewohnten wie bequemen moralischen Koordinaten und hinterfragt den Status Quo aufgestellter gesellschaftlicher Regeln, Werte und Normen. Was sprichwörtlich zerstört wird, sind nicht nur die Körper der Figuren, sondern eine kulturelle und gesellschaftliche Deutungshoheit über das soziale Regelwerk sowie über die damit verbundenen Fragen, was „geht“ oder was „man zeigen darf “. Eine drastische filmische Darstellung von Gewalt kann daher kaum ideologisch regressiv eingesetzt werden. Entsprechende Filme stellen stattdessen einen subversiv-provokanten Zugang zur Kategorie des kulturellen Kapitals (Bourdieu) dar, oft verknüpft mit einem Infragestellen der sozialen Konstruktion gesellschaftlicher Gegebenheiten und der sie ermöglichenden Prozesse, etwa mit Blick auf soziale Hierarchien. Hier wird Exzess auf einer Meta-Ebene relevant: Die Konstruiertheit von Erzählung wird auf die Konstruiertheit von Welt übertragen. Denn auch moralische Kategorien und damit das Regelwerk, welches die gesellschaftliche Struktur ökonomisch gesehen an ihrem Platz hält, sind nichts anderes als soziale Konstrukte, welche durch die filmische Darstellung von Gewalt mit Blick auf herrschende ideologische Kriterien für gewöhnlich einer Dekonstruktion unterzogen werden. Gerade eine durch entsprechende Filme ermöglichte Prüfung und Neubestimmung moralischer Koordinaten kann ein progressives Experiment sowie ein transgressives Spiel mit Regeln und Normen sein.

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Sconce, Trashing the Academy, S. 374. Ritzer, Class of Nuke ’Em High, S. 6. Vgl. Vale/​Juno, Incredibly Strange Films, S. 4. Vgl. Ritzer, Class of Nuke ’Em High, S. 6.

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Exzess, Attraktion, SubversionZur Wechselwirkung von Gewaltdarstellung und Komik im Spielfilm

Literaturverzeichnis Amtsgericht Tiergarten, Beschluss vom 02.05.2005, Az. 352 Gs 1558/​05. Bergson, Henri, Das Lachen, 2. Auflage, Meisenheim 1948 [1921]. Bordwell, David, Narration in the Fiction Film, Madison 1985. Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 26. Auflage, Frankfurt a. M. 2018 [1979]. Clover, Carol, Men, Women and Chainsaws. Gender in the Modern Horror Film, Princeton 1992. Eder, Jens, Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre, in: ders. (Hrsg.), Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, 2. Auflage, Hamburg 2008, S. 9–61. Gunning, Tom, Das Kino der Attraktionen. Das frühe Kino, seine Zuschauer und die Avantgarde, in: Meteor. Texte zum Laufbild No. 4 (1996), S. 25–34 [1986]. Hallenbeck, Bruce, Comedy-Horror Films. A Chronological History 1914–2008. Jefferson 2009. Harzheim, Harald, Braindead, in: Vossen, Ursula (Hrsg.), Filmgenres. Horrorfilm. Stuttgart 2004, S. 313– 317. Jeffords, Susan, Hard Bodies. Hollywood Masculinity in the Reagan Era, New Brunswick, 1994. Meteling, Arno, Endspiele. Erhabene Groteske in BRAINDEAD, KOROSHIYA 1 und HOUSE OF 1000 CORPSES, in: Köhne, Julia/​Kuschke, Ralph/​Meteling, Arno (Hrsg.), Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, 2. Auflage, Berlin 2006 [2005]. Neale, Steve/​Krutnik, Frank, Popular Film and Television Comedy, 3. Auflage, London 1995 [1990]. Ritzer, Ivo, Parakino, Troma und CLASS OF NUKE ’EM HIGH (1986), Booklet zur Blu-ray-Veröffentlichung von Class of Nuke ’Em High, 3-Disc Ultimate Edition, ’84 Entertainment, 2013. Rzechak, Christian, Re-Animator, in: Vossen, Ursula (Hrsg.), Filmgenres. Horrorfilm, Stuttgart 2004, S. 292–296. Sconce, Jeffrey, Trashing the Academy: Taste, Excess, and an Emerging Politics of Cinematic Style, in: Screen 36/​4, Winter 1995, S. 371–393. Stiglegger, Marcus, Splatterfilm, in: Koebner, Thomas (Hrsg.), Reclams Sachlexikon des Films, 3. Auflage, Stuttgart 2011, S. 672–673. Thompson, Kristin, The Concept of Cinematic Excess, in: Cine-Tracts 2, 1977, S. 54–63. Vale, V./​Juno, Andrea, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Incredibly Strange Films, San Francisco 1986, S. 4–5. Williams, Linda, Filmkörper. Gender, Genre und Exzess, in: montage A/​V 18/​2/​2009, S. 9–30 [1991].

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Normbrüche und gesellschaftliche Tabus

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Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons Claudia Gottwald

Einführung und Geschichte „Wer in der Öffentlichkeit einen Behindertenwitz erzählt, kann mit heftigen Reaktionen rechnen – oft aber von Personen, die gar nicht betroffen sind. Sind Behindertenwitze Diskriminierung oder Integration?“1

So fragt die Aachener Zeitung im Januar 2020. Aber wo liegen die Grenzen des Zeig- und Sagbaren heute? Darf wieder hemmungslos über alles und jeden gelacht werden, wie beispielsweise der Comedian Chris Tall mit seiner bekannten Frage „Darf er das?“2 formulierte? Darüber wird diskutiert und geschrieben, in Zeitschriften, Zeitungen, in Blogs und auf einzelnen Internetseiten, aber auch in der Wissenschaft. In Bezug auf die Frage nach den Grenzen des Sag- und Zeigbaren wird dieser aktuelle Diskurs im Folgenden nachgezeichnet. Wann gilt heute das Lachen über Behinderung bzw. den ‚anderen Körper‘ als legitim? Wann wird es kritisch gesehen? Wann wird es sanktioniert? Da es im vorliegenden Band um Zeig- und Sagbares im Bild geht, liegt der Fokus auf Karikaturen und Cartoons, wenngleich auch andere Darstellungen (z. B. Comedy, Witze) einbezogen werden. Zunächst werden kurz die Begriffe definiert und ein kurzer historischer Überblick gegeben, in den nachfolgenden Teilen wird der Stand der aktuellen Diskussion skizziert. Die Begriffe Karikatur und Cartoon werden häufig synonym verwendet. Auch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache verweist darauf:

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Aachener Zeitung online, Behindertenwitze, 2020. Tall, Randgruppen.

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„Cartoon m. ‚gezeichnete Bildgeschichte, Karikatur‘, Übernahme (20. Jh.) von gleichbed. engl. cartoon, eigentlich ‚Entwurf, Vorlage, Illustration (in einer Zeitung)‘, über frz. carton m. ‚Pappe, Karton, Entwurf ‘ aus ital. cartone m. (s. ↗Karton)“.3

Der Cartoon wird ebenso wie die Karikatur als satirische Zeichnung definiert4. Čuden zufolge ist der Cartoon „Träger von Informationen, er schafft oder wirkt auf soziale Denknormen und Verhaltensmuster ein oder sie zumindest widerspiegelt [sic!], kritisiert sowohl die Gesellschaft als auch das Individuum, er warnt, mahnt, empfiehlt, weist auf Mangel hin.“5.

Diese Definition überschneidet sich deutlich mit der Definition der Karikatur (s. u.). Gebräuchlich sind in Abgrenzung dazu Verwendungsweisen, die den Cartoon und die Karikatur so voneinander trennen, dass die Karikatur als die ‚ernsthaftere‘, kritische Variante, der Cartoon hingegen als harmloser Bildwitz verstanden wird. Analog werden häufig die Satire und Comedy voneinander getrennt: „Der Witz ist für Satire das Mittel, für Comedy der Zweck.“6 Satire gilt dann als das Format mit dem (politischen) Anspruch zu enthüllen, aufzudecken, während Comedy der reinen Unterhaltung und Ablenkung dient7. Der Begriff Karikatur kommt vom italienischen Verb ‚caricare‘ (=überladen) und meint die „satirisch-komische Darstellung von Menschen oder gesellschaftlichen Zuständen“8. Die Karikatur wird häufig der Schönen Kunst gegenübergestellt, weil es ihr darum gehe, das Hässliche zu perfektionieren9. Sie orientiert sich an moralischen und körperlichen Auffälligkeiten. Körperliche Normabweichungen und auffällige Proportionen werden übertrieben dargestellt und aus Auffälligkeiten wird Hässlichkeit. Diese wird dann beispielsweise dazu genutzt, den (politischen) Gegner zu markieren bzw. zu schwächen10. Karikaturen können zwei Stoßrichtungen haben: Schon Platon unterschied in der Politea (388–390 v. Chr.) zwischen dem Lachen über den Starken und Mächtigen und demjenigen über den wehrlosen Schwachen11. Damit lassen sich Karikaturen als Mittel sozialer Ausgrenzung von 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, Cartoon. Eine satirische Geschichte in mehreren Bildern wird dann als Comic (Strip) bezeichnet. Čuden, Cartoons, S. 250f. Hedde, Satire. Zehrer, Dialektik. Meyers Lexikon, Karikatur. Heinrich, Karikatur, S. 24; Hofmann, Karikatur, S. 359. Döring, Katalog, S. 19. Seibt, Einspruch, S. 752.

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Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons

denjenigen als Mittel sozialer Kritik abgrenzen. Während erstere eine Minderheit als anders markieren und sich gegen gesellschaftlich marginalisierte Gruppen richten, üben letztere moralische Kritik an den Herrschenden und enthalten auch subversive Elemente. Ziel der Karikatur ist aber in jedem Fall, jemanden oder etwas ins Lächerliche zu ziehen, um es oder ihn kleiner, schwächer oder machtloser zu machen. Die Karikatur nutzt also die übertriebene Darstellung, um etwas oder jemanden lächerlich zu machen. Deshalb lässt sich für die Karikatur festhalten: • In der Karikatur ist das Hässliche immer auch das Lächerliche. • Die Karikatur bewegt sich an der Schnittstelle zwischen ästhetischen und funktionalen Normverletzungen12. • Im Zentrum stehen moralische Verwerfungen, die sich häufig in körperlicher Hässlichkeit zeigen. Durch diese Struktur ist die Karikatur nicht unproblematisch, da sie potentiell die Gleichsetzung von körperlicher Abweichung mit moralischer Hässlichkeit festigt. Das gilt allgemein, wenn z.  B. die moralische Verwerflichkeit von Politiker*innen verbildlicht werden soll, aber auch im Speziellen für die Darstellung von Behinderungen bzw. körperlichen Abweichungen in Karikaturen: Physische Hässlichkeit verweist auf moralische Hässlichkeit. Aufgrund der historischen Verknüpfungen von einerseits Hässlichkeit mit Lächerlichkeit und andererseits von Behinderung mit beiden Konzepten (wie es sich unter anderem schon im Mittelalter beim Phänomen der Hofnarren zeigte13) sind körperliche Normabweichungen ein zentrales Stilmittel der Karikatur. Sie haben traditionell meist eine metaphorische Funktion und verweisen auf „moralische Defekte“. So ist beispielsweise die Sichtweise, dass „Idioten“ und „Verbrecher“ „zu einer Familie gehörten“ 14, wie Pelmann es 1884 ausdrückt, Anfang des 19. Jahrhunderts populär. Das ist in Bezug auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Behinderung insofern problematisch als dass Behinderung als körperliche oder kognitive Normabweichung damit gleichzeitig moralisch negativ bewertet wird. Die „Deformation des Körpers [wird in der Karikatur] zur Kennzeichnung des Bösen“15 benutzt. Dazu ein historisches Beispiel:

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13 14 15

Behinderung wird in der Regel als funktionale Normverletzung verstanden, hat aber auch Bezüge zur ästhetischen Normverletzung (Dederich, Ästhetische und ethische Grenzen). Ausführlich: Gottwald, Lachen, S. 72–107. Pelmann, Grenzen, S. 459. Döring, Katalog, S. 22.

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Vom römischen Kaiser Marcus Aurelius Severus Antonius (188–217 n. Chr.), genannt Caracalla gibt es eine römische Bronzestatue aus dem 3. Jahrhundert nach Christus, die ihn offensichtlich karikiert: Sie hatte den Zweck, den Kaiser lächerlich zu machen: Caracalla wird als ‚Zwerg‘ mit Kuchenkorb darstellt. Caracalla gilt als einer der blutrünstigsten Tyrannen der römischen Geschichte. Er soll klein und hässlich – was auch immer das heißt – gewesen sein. Seine Darstellung als ‚Zwerg‘ ist aus zweierlei Gründen kein Zufall: Erstens waren Kleinwüchsige eine lange Zeit so populär, dass sie in vielen komischen Darstellungen zu finden waren16. Der Grund für ihre Beliebtheit im Rahmen von Karikaturen liegt zweitens in ihrer Metaphorik begründet: Durch die Darstellung als Zwerg lässt sich die Situation bzw. Person verkleinern, verharmlosen und ins Lächerliche ziehen. Hier wird das Ziel der Karikatur, jemanden klein zu machen, wörtlich genommen. Dies wird besonders augenfällig, wenn man die karikaturistische Darstellung Caracallas mit traditionellen Büsten, die von ihm auch vorhanden sind, vergleicht: Auf diesen schaut er mit ernstem, grimmigem Blick, der Macht und Herrschaft symbolisiert17. Das Lachen über Behinderung wurde historisch mit Beginn der Aufklärung tabuisiert. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wird postuliert, Menschen mit Behinderung bringe man natürlicherweise Mitleid, aber auch Abscheu und Ekel entgegen18. Sie könnten deshalb nicht lächerlich sein. Das Lachen selbst wurde also reguliert und zivilisiert, da es eine dem humanen, gebildeten Menschen unwürdige Beschäftigung darstelle. Damit einher ging interessanterweise die Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung. Ende des 18.  Jahrhunderts wurden behinderte Menschen selbst als Karikatur betrachtet. Sie wurden als „Caricaturen und Unwesen unserer Gattung“19 gesehen, wie der Philosoph Karl Heinrich Heydenreich in seiner Philosophie über die Leiden der Menschheit von 1798 schreibt: „Vom Cretin läßt sich […] sagen, daß er eine Caricatur des Menschen sei, weil er, dem Wesen nach schon Mensch, doch seiner Erscheinung nach in die Thierheit versunken ist“. 20 Um 1900 fanden sich schließlich kaum komische Darstellungen und Bilder von Behinderung: Behinderung liegt zu diesem Zeitpunkt jenseits der Grenze des Sag- und Zeigbaren in Cartoons und Karikaturen. In den Fliegenden Blättern21, beispielsweise, einer deutschen humoristischen 16

17 18 19 20 21



Karikaturen von kleinwüchsigen Menschen findet man bis Ende des 17. Jahrhunderts. Bekannt geworden sind vor allem die Varie Figure Gobbi von Jacques Callot (Gottwald, Behinderung in der Karikatur). Gottwald, Karikatur. Gottwald, Lachen, S. 163ff. Heydenreich, Philosophie, S. 209. Ebd. Fliegende Blätter Ergebnis einer Analyse der Jahrgänge 1848–1851; 1875, 1877, 1879; 1881; 1883, 1885, 1888, 1983–94; 1897–98; 1901; 1910.

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Wochenzeitschrift, die zwischen 1845 und 1929 erschien, sind kaum komische Darstellungen körperlicher Abweichungen zu finden. Erst Ende des 20. Jahrhunderts ändert sich dies. Mittlerweile gibt es eine unüberschaubare Zahl von Cartoons bzw. Karikaturen und Witzen, ebenso wie es Comedians gibt, die Behinderung thematisieren22. Dies und die Gründe für den Wandel in Bezug auf die Grenze des Sag- und Zeigbaren werden in den folgenden Abschnitten näher betrachtet.

Humor und Empowerment Historisch betrachtet waren Menschen mit Behinderung zwar Objekt von Lachen und Humor, aber nicht deren Urheber. Sie waren in der Regel deren Gegenstand und somit das belachte Objekt und nicht diejenigen, die den Witz machten23. Heute finden sie sich in beiden Rollen wieder. Vor allem aber sind es zunehmend behinderte Menschen, die selbst Urheber von Komik sind. Unter den Cartoonisten am bekanntesten ist sicherlich Phil Hubbe, der mit Multipler Sklerose lebt und seine Cartoons seit 2004 in Büchern mit dem Titel „Behinderte Cartoons“24 veröffentlicht. 2018 erschien der mittlerweile achte Band. Der Erste, der selbst körperlich beeinträchtigt war und Cartoons oder Karikaturen über behinderte Menschen veröffentlichte, war der Amerikaner John Callahan, dessen Autobiografie Don’t worry, weglaufen geht nicht 1992 auf Deutsch erschien. In der Schweiz haben Jupe Hägler (Cartoons) und Reto Meienberg (Text) zwei Bücher zum Thema veröffentlicht25. Auch auf der Bühne hat sich einiges getan in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten: Im englischsprachigen Raum hat sich der Begriff der ‚Sit down-Comedy‘ für Comedians im Rollstuhl gegenüber der ‚Standup-Comedy‘ etabliert. Zahlreiche Comedians mit Behinderung treten auf. Mittlerweile gibt es auch im deutschsprachigen Raum mehrere Comedians, die (ihre) Behinderung zum Thema ihrer Show machen: Rainer Schmidt26, Martin Fromme27, Tan Caglar28,Toby Käp29 oder ganz aktuell Carl Josef, ein 14-Jähriger, der 2019 im ‚Waschsalon‘ auftrat und seitdem in diversen TV-Formaten zu sehen war30. 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Gottwald, Lachen, S. 163ff und 263ff. Ebd. Hubbe, Behinderte Cartoons. Hägler/​Meienberg, Behinderte Menschen; Hägler/​Meienberg, Müssen Behinderte. Informationen zu Rainer Schmidt, https://​www.schmidt-rainer.com/​ Informationen zu Martin Fromme, https://​www.martin-fromme.de/​ Informationen zu Tan Caglar, https://​www.tan-caglar.de/​ Beitrag von Toby Käp, 2019, https://​www.youtube.com/​watch?v=L-9ORsLwOCo Kölner Stadtanzeiger, Carl Josef, 2019.

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Humor ist aktuell dann (relativ) unumstritten, wenn er von Menschen mit Behinderung selbst stammt – wie auch schon die Schlagzeile der Aachener Zeitung in der Einleitung andeutete. Das heißt, sie sind heute nicht mehr Objekt, sondern Subjekt der Witze. Sie entscheiden, worüber gelacht wird und worüber nicht gelacht werden darf. Das zeigt sich auch daran, dass z. B. sowohl Callahan als auch Hubbe darauf verweisen, dass kritische Kommentare ausschließlich von Nichtbehinderten kommen31. Auch Verlage und Redaktionen zeigten sich immer wieder unsicher und zögerlich. Das kann man auch daran erkennen, dass es in den Online-Portalen der großen Tageszeitungen zwar Texte zum Thema ‚Humor und Behinderung‘ gibt, diese aber völlig auf eine eigene Position oder eigenständige kritische Auseinandersetzung mit den Cartoons verzichten. Stattdessen werden in der Regel Interviews (vor allem mit Phil Hubbe) geführt und Statements selbst betroffener Personen in den Vordergrund gerückt. Das Thema scheint zu heikel, um Stellung zu beziehen. So verweist auch Hubbe darauf, dass die eigene Betroffenheit für Nichtbehinderte als Legitimation dient. Freunde hätten ihm gesagt: „Wenn einer sich aufregt, dann kannst du sagen, ich bin selbst betroffen.“.32 Für Menschen mit Behinderung hat das Lachen durchaus eine emanzipatorische Funktion und kann dem Empowerment, also der ‚Selbstermächtigung‘ dienen. Schon der niederländische Soziologe Anton C. Zijderveld stellte fest, dass das Spiel mit Stereotypen die Herstellung einer Gruppenidentität fördern kann: „Wenn nämlich eine Minderheitengruppe in einer Gesellschaft ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein erworben hat, können solche selbsterniedrigenden Witze gerade die bestehende Solidarität bestärken.“33

Die Witze zeigten demnach, dass Stereotypien zunächst verinnerlicht worden seien. Im Lachen werde jedoch die Wirkung umgekehrt, so dass es zur sozialen Kritik werde. Menschen mit Behinderung amüsieren sich dann über Insider-Witze, über die Nichtbehinderte vielleicht nicht lachen könnten, vielleicht aber auch nicht dürften. Der britische kleinwüchsige Soziologe und Comedian Tom Shakespeare geht sogar noch etwas weiter: Er sieht Witze bzw. Kabarett als eine Form, Definitionsmacht zurück zu gewinnen: „Einen Witz zu machen, statt einer zu sein ist eine andere Form der Umkehr“34.

31 32 33 34

Callahan, Don’t worry. Peikert, Umstrittene Karikaturen. Zijderveld, Humor, S. 190. Shakespeare, Joking, S. 52.

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Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons

Insiderwitze haben zudem eine psychologische Funktion: Sie ermöglichen eine Distanzierung der eigenen Einschränkungen. Dies zeigt beispielhaft Abbildung 1 von John Callahan, der selbst eine Tetraplegie hatte (allerdings nicht beatmet werden musste). Auf diesen Effekt verweist auch Hubbe in seinen Interviews.

Abb. 1: John Callahan 199235 Das Insiderlachen kann also Verarbeitung der Behinderung und Empowerment ermöglichen. Aber was ist mit der ‚Außenseite‘? Welche Bedeutung bekommt der Cartoon für den nichtbehinderten Betrachter, für die Mehrheitsgesellschaft? Warum haben nichtbehinderte Menschen eher Schwierigkeiten mit dem Lachen über Behinderung und betrachten es als moralisch verwerflich? Comedian Barbara Lisicki vermutet als Ursache, dass Menschen ohne Behinderung nicht humorvoll mit Behinderung umgehen können, weil sie Angst vor (eigener) Behinderung haben.36 Der britische kleinwüchsige Soziologe und Comedian Tom Shakespeare entdeckt diese Angst sogar noch im Lachen, das die Funktion übernehme, die Angst vor Behinderung zu kompensieren, indem die eigene Verletzlichkeit auf behinderte Menschen projiziert werde37. Selbst Witze zu machen, hat für Shakespeare trotzdem eine Funktion, die darin liegt, zu zeigen, dass Behinderung nicht notwendig bemitleidenswert ist38:

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Callahan, Du störst, S. 53. Lisicki, Nice Face. Shakespeare, Joking, S. 49. Ebd., S. 50.

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Zum einen ist es also positiv, dass die Grenze des Komischen entlang der (vermeintlichen) Grenze zwischen Behinderung und Normalität verläuft, weil es ein Weg ist, Definitionsmacht zurückzugewinnen und Mittel zum Empowerment ist. Frank warnt diesbezüglich jedoch vor einer „it’s all-right-she’s-still-laughing-anxiety“39, die es Menschen mit Behinderung verbiete, auch die schwierigen Seiten und Leid und Schmerz zu zeigen40.

Stoßrichtung des Humors Die Grenzziehung in Bezug auf die Urheber des Witzes und auf Empowerment zeigen schon an, dass eine weitere moralisch relevante Grenze im Humor in Bezug auf dessen Stoßrichtung verläuft. Cartoons und Karikaturen bzw. Comedy und Satire können, wie erwähnt, zwei Stoßrichtungen haben (s. o.). Über Behinderung bzw. über Menschen mit Behinderung zu lachen, ist zunächst ein Lachen ‚nach unten‘, ein Lachen das das Potential hat, auszugrenzen, da diese Gruppe nicht zu den mächtigen, sondern den marginalisierten Personenkreisen zählt. So meint auch der bekannte Aktivist der Behindertenbewegung Raul Krauthausen: „Hörst du Witze auf Kosten von Menschen mit Behinderung, lache bitte nicht nur nicht mit, sondern widerspreche. Mein Standardspruch, der gut funktioniert: Es gibt bessere Witze, über die ich nicht gelacht habe.“41

Ein Beispiel für eine solche Grenzüberschreitung ist ein Beitrag aus der ZDF heute-show von 2018. Die ZDF heute-show hatte sich in einem Ausschnitt über das Stottern des AfD-Politikers Dieter Amman lustig gemacht und entschuldigte sich ein paar Tage später dafür: „Für die ‚heute-show‘ war die Sprachbehinderung von Dieter Aman nicht erkennbar – es war nicht unsere Absicht, uns über diese Behinderung lustig zu machen. Hätten wir davon Kenntnis gehabt, hätten wir den Ausschnitt natürlich nicht gesendet.“42

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41 42

Frank, What’s Pharmakos?, S. 54. Diese Gefahr wird auch im Humor Chris Talls deutlich: Wer nicht über sich selbst lachen könne, habe einfach keinen Humor. Krauthausen, Nichtbehinderte, o.S. https://​twitter.com/​heuteshow/​status/​960549298164379648/​photo/​1

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Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons

Die Satire, die als Mittel der sozialen Kritik an der AfD gedacht war, wurde aufgrund der Sprachbehinderung Ammans zur individuellen Abwertung. Strittig scheint auch ein im Dezember 2019 gesendeter satirischer Beitrag der Sendung ‚extra 3‘ des NRD, in dem eine Rede Trumps mit Gebärden ‚übersetzt‘ wurde. Julia Probst, gehörlose Bloggerin und Aktivistin schreibt dazu: „Gute Satire tritt nach oben, nie nach unten. Es ist keine gute Idee, #Gebärdensprache als Vehikel zu verwenden, um sich über jemanden lustig zu machen, denn erstens wurden wir #Gehörlose jahrzehntelang dafür verspottet und diskriminiert, wenn wir in #Gebärdensprache sprachen.“43 (Probst 2019)

In der Geschichte des Lachens über das Andere war die Stoßrichtung des Lachens als Mittel zur sozialen Ab- bzw. Ausgrenzung mitsamt seiner exkludierenden Folgen vorherrschend44. Auch heute ist die Stoßrichtung der Komik ‚nach unten‘ eine der Grenzen, die definiert werden. So meint auch Jesko Friedrich in Bezug auf die Satire: „Grundsätzlich gilt: Jeder hat das Recht auf satirische Kritik. Christen, Juden, Moslems, Behinderte und Behindernde, Frauen, Männer, Intersexuelle – sie alle taugen zum Feind, wenn sie ein entsprechendes Fehlverhalten an den Tag legen.“45

Satire richtet sich Friedrich zufolge auf eine als verbesserungswürdig empfundene Wirklichkeit. Sie folge damit einem Ideal und frage deshalb immer nach den Verantwortlichen für einen Zustand oder eine Entwicklung. Deshalb ergänzt er: „Satire tritt nicht nach unten. Das arme Würstchen ist nicht der Feind.“46 Marginalisierte Personen oder Gruppen sind, weil sie machtlos sind, ein Tabu der Satire. In Bezug auf Behinderung heißt das: Auch eine Person mit Behinderung kann Thema der Satire oder einer Karikatur sein, nicht aber wegen der Behinderung an sich, sondern aufgrund einer mächtigen Position oder eines gewichtigen Fehlverhaltens. Dieses müsste dann aber auch das Thema sein und nicht die Behinderung an sich, damit soziale Kritik geübt werden kann.

43 44 45 46

https://​twitter.com/​EinAugenschmaus/​status/​1203230416225939456 Gottwald, Lachen. Friedrich, Satire. Ebd.

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Abb. 2: John Callahan 199247 „Satire wird unten erdacht und oben erlitten. Sie lässt die Beherrschten über die Herrscher lachen.“48

Unumstritten ist die Stoßrichtung ‚nach oben‘, bei der es um die Kritik an Mächtigen geht. Privilegiert und damit mächtig ist die nichtbehinderte Mehrheitsgesellschaft mit ihren Einstellungen, Vorurteilen, Stereotypien, unhinterfragten Privilegien und ihren Barrieren räumlicher oder sprachlicher Art. Als legitim wird deshalb Humor erachtet, der, soziale Umstände, Barrieren, Vorurteile und Verhaltensweisen Nichtbehinderter kritisiert und aufs Korn nimmt. Viele Karikaturen und Cartoons zum Thema Behinderung fokussieren so auch nicht Behinderung oder behinderte Menschen, sondern die behindernden gesellschaftlichen Bedingungen, wie auch Abbildung 2 beispielhaft zeigt: Dass Behinderung von Nichtbehinderten als inspirierend empfunden wird, erleben behinderte Menschen immer wieder. Kritisch hat sich dafür mittlerweile der Begriff des ‚Inspiration Porn‘ etabliert, den Stella Young, Komikerin und Journalistin im Rollstuhl erstmals in einer Rede 2014 verwendete49. Der Cartoon von John Callahan treibt dieses Prinzip pointiert auf die Spitze.

Exklusion oder Inklusion? Das Komische hat – ebenso wie Behinderung – einen Bezug zum Normativen, also einen Bezug zur gesellschaftlichen Ordnung und zu gesellschaftlichen Erwartungen. 47 48 49

Callahan, Du störst!, S. 7. Hedde, Satire. Smykowski, Inspiration Porn.

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Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons

„Allen Bestimmungen des Komischen […] ist gemeinsam, daß [sic] das Komische als Deviation, als ‚Abweichung von der Norm‘ begriffen wird […]“50.

Humor ist ein soziales Phänomen, das heißt, er funktioniert nur dort, wo Menschen die gleichen oder zumindest ähnliche normative Erwartungen haben. Komisch ist etwas Erwartungswidriges; dadurch entsteht zum Beispiel bei einem Witz die Pointe. Schon Kinder lachen früh über Normabweichungen, einerseits aus Spaß am Sein und andererseits aus Lust am Tabubruch. Sie probieren unter anderem über Witze, Komik und Humor aus, wo gesellschaftliche Grenzen liegen und lernen so etwas über gesellschaftliche Normen. Komik wird in allen Theorien als eine Reaktion auf einen Normkonflikt oder als eine Reaktion auf eine Abweichung begriffen. Das betrifft die Theorien, die – aufbauend auf Aristoteles (384 v. Chr–322 v. Chr.) – das Komische als ‚unschädliche Hässlichkeit‘ bezeichnen ebenso wie die Überlegenheits- und Aggressionstheorien, als deren Begründer Thomas Hobbes (1588–1679) gilt. Dies gilt für kathartische Theorien oder für das Entlastungslachen genauso wie für die größte Theoriegruppe, nämlich für die Inkongruenz- und Kontrasttheorien infolge von Francis Hutcheson (1694–1746) und James Beattie (1735–1803)51. Deshalb ist die Analyse von Komik und Humor auch geeignet, um gesellschaftliche Ordnungen und Normen sichtbar zu machen: Humor zeigt an, wo moralische Grenzen und Tabus liegen, denn er findet genau an der Grenze statt bzw. überschreitet sie (z. B. in der Pointe beim Witz). Humor ist damit ein Gradmesser des Sag- und Zeigbaren einer Zeit. Diskussionen über seine Grenze verweisen direkt auf gesellschaftliche Normen und Tabus, da Komik mit Tabubrüchen einhergehen kann. Aber welche Folgen hat das? Eine Position besagt, im Humor würden Normen zwar durchbrochen, aber nur, damit sie im anschließenden gemeinsamen Lachen wiederhergestellt und gefestigt werden. Dann würden Komik und Humor der Aufrechterhaltung von Normen und der Festigung von Grenzen dienen. Abweichungen oder Abweichende werden dann entweder durch das Lachen assimiliert, d. h. durch das Lachen, Auslachen und Verlachen dazu aufgefordert, sich anzupassen. Gelingt die Anpassung bzw. Assimilation nicht, droht der (gesellschaftliche) Ausschluss: Die belachte Person wird zum sozialen Außenseiter gemacht. Diese Funktion des Lachens bzw. von Witzen findet sich häufig innerhalb von Gruppen.

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Wirth, Diskursive Dummheit. In dieser Definition könnte man, wie auch in vielen anderen Definitionen, den Begriff der Komik durch den der Behinderung ersetzen. Es hieße dann: Allen Bestimmungen von Behinderung ist gemeinsam, dass Behinderung als Deviation, als ‚Abweichung von der Norm‘ begriffen wird. Dieser Austausch wäre in vielen weiteren Definitionen sowohl von Behinderung als auch von Humor/​Komik möglich. Der Grund ist der oben erwähnte Referenzpunkt des Normativen auf den sich beide Konzepte in ähnlicher Weise richten. Gottwald, Lachen, S. 41–70.

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Ziel des limitierenden Lachens ist es, den Abweichenden zu korrigieren und andere vor Nachahmung zu warnen. Die Rebellion des Komischen ist nur eine scheinbare. In Wahrheit dient das Lachen dann der Aufrechterhaltung des Status Quo52. Tom Shakespeare zufolge kamen Witze über Behinderte erstmals in den 1980er Jahren wieder auf53. 1974 bereits veröffentlichen die Psychiater Peters und Peters ein Buch über den sogenannten Irrenwitz: Sie kommen zu dem Fazit, dass diese Witze eine ausgrenzende Wirkung haben54. Auch in Autobiografien berichten Menschen mit Behinderung in den 1980er Jahren (bis heute) davon, dass sie auf der Straße ausgelacht und verspottet werden. Das ausgrenzende oder assimilierende Lachen ist kongruent zum Lachen ‚nach unten‘. Gründe dürften sich vor allem in Bezug auf die Überlegenheitstheorie finden lassen: Die lachende Majorität kann sich demzufolge durch das Verlachen anderer der eigenen Überlegenheit versichern und sich selbst bestätigen, dass sie sich im abgesicherten Bereich erwarteten Verhaltens bzw. innerhalb der sozialen Normen befindet, also hier: ‚zum Glück nicht von Behinderung betroffen ist‘. Dementsprechend macht es einen Unterschied, ob ein Cartoon oder eine Karikatur soziale Barrieren in den Blick nimmt oder gesellschaftliche Normen kritisiert oder ob ein Jugendlicher mit Behinderung auf dem Schulhof verspottet und ausgelacht wird. „Kein Humor bedeutet auch Ausgrenzung“55, sagt jedoch der Cartoonist Phil Hubbe in einem Interview der Süddeutschen Zeitung. Es gibt also auch die Forderung danach, behinderte Menschen in die Komik einzubeziehen, weil nur das zu Inklusion führe. Meist wird dies mit Humorformen verbunden, die nicht limitierend und exkludierend wirken, sondern Transgression ermöglichen. Im besten Fall also kann Komik bzw. Humor Exklusion und gesellschaftliche Marginalisierung sichtbar machen bzw. Kritik üben. Oder wie Ritter (1940) sagt: „[…] die dem Ernst nicht zugängliche Zugehörigkeit des Anderen zu der es ausgrenzenden Lebenswirklichkeit [wird] sichtbar gemacht.“56

Das gelinge aber nur dann, wenn das Andere noch positiv ins Dasein eingefügt werden könne. Wo dies nicht mehr funktioniere, da sei Lachen nicht mehr möglich: Überträgt man diesen Gedanken auf die Geschichte des Lachens über Behinderung, würde das heißen, dass mit Beginn der Aufklärung bis zu den 1980er Jahren keine Integration des Anderen möglich war. Dies ist

52 53 54 55 56

Ebd., S. 64–67. Shakespeare, Joking. Peters/​Peters, Irre und Psychiater. Zit. nach Pollmer, Kein Humor, o.S. Ritter, Über das Lachen, S. 83.

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Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons

die historische Phase, in der das Lachen über das Andere zum Tabu erklärt wurde. Stattdessen wurde festgestellt, Behinderungen begegne man mit Angst, Ekel, Abscheu oder Mitleid. Behinderte Menschen wurden in dieser Zeit aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in spezielle Institutionen eingeschlossen57.

Abb. 3: Phil Hubbe 200458 Karikaturen und Cartoons können Motor für Transformationen werden und damit das Abweichende in die Ordnung eingliedern, wenn sie es als positiv in das Dasein einfügbar zeigen. Die Cartoons von Phil Hubbe (Abb. 359) fördern dies zum Beispiel alleine durch ihre ansprechende Gestaltung und nicht abschreckende Darstellung der Personen. Inklusion gelingt aber vor allem, wenn das Lachen die Reflexion von Vorurteilen ermöglicht und Barrieren sichtbar macht, wenn Menschen mit Behinderung Wirkmacht haben und die Witze Ängste und Unsicherheiten

57 58 59

Gottwald, Lachen, S. 163–262. Hubbe, Stuhl des Manitu, S. 8. Der Cartoon zeigt außerdem gut, wie der Witz zur sozialen Kritik genutzt werden kann, in diesem Fall zur Kritik am unreflektierten Sprachgebrauch.

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nehmen und reflektieren können. Humor kann dann dazu führen, dass die eigenen Vorurteile und Stereotype hinterfragt werden (siehe Abb. 3). In diesem Sinne sind Behinderungen in Karikaturen und Cartoons zeigbar und dürfen sogar im engeren Sinne als politisch korrekt gelten: 2009 durfte Phil Hubbe seine Cartoons im Sächsischen Landtag ausstellen60, 2017 erschien eine Postkartenserie der Beauftragten der Landesregierung Menschen mit Behinderung sowie Patientinnen und Patienten in Nordrhein-Westfalen mit folgendem Ziel: „Die Postkarten sollen auf Barrieren, diskriminierendes Verhalten und behindertenfeindliche Bedingungen aufmerksam machen. Sie sollen zum Nachdenken anregen, Veränderungen befördern und so dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt und selbstbestimmt am Leben teilhaben können.“61

Hier ein Beispiel aus der Serie, dass räumliche Barrieren aufzeigt und kritisiert: 06_1721 Postkarten 31.08.2006 14:07 Uhr Seite 2

Abb. 4: Ungenannter Zeichner (o. J.)„Der nächste bitte“. Cartoon aus der Postkartenserie der Beauftragten der Landesregierung Menschen mit Behinderung sowie Patientinnen und Patienten NRW62

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MV-Schlagzeilen, Lachen erlaubt. Beauftragte der Landesregierung Menschen mit Behinderung sowie Patientinnen und Patienten NRW, Claudia Middendorf, Mit Humor. Ebd.

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Grenzen der Legitimation des Lachens über das Andere: Behinderung in Karikaturen und Cartoons

Fazit Die Frage nach der Legitimation bzw. den Grenzen Humors über Behinderung, die Streitigkeit des Sag- und Zeigbaren verweist einerseits auf bestehende Marginalisierung und Exklusion von Menschen mit Behinderung, andererseits auf die kritischen und positiven Funktionen von Komik hin zu Teilhabe, Gleichberechtigung und Inklusion. Die aktuelle Diskussion zusammenfassend lässt sich konstatieren: Cartoons bzw. Karikaturen gelten derzeit eher als legitim, wenn Sie folgende Bedingungen erfüllen: • • • • •

Menschen mit Behinderung sind Urheber des Humors. Der Humor dient der Selbstermächtigung/​dem Empowerment. Die Stoßrichtung des Humors geht von unten nach oben. Der Humor ist nicht ausgrenzend. Der Humor ermöglicht Transgression und Inklusion.

Das heißt nicht, dass es nicht Witze unterhalb dieser Grenze gibt, sondern nur, dass bestimmte Formen von Humor toleriert und andere kritisiert oder diskutiert werden. Cartoons, Karikaturen, satirische Beiträge und Witze weiterhin zu betrachten ist deshalb weiterhin lohnend, weil sie Auskunft über gesellschaftliche Bedingungen und gesellschaftlichen Wandel geben können.

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Bildquellen Abb. 1 und 2: Callahan, John: Du störst! Cartoons, Frankfurt a. M. 1992, S. 7; 53. Abb. 3: Hubbe, Phil: Der Stuhl des Manitu. Behinderte Cartoons, Oldenburg 2004, S. 8. Abb. 4: Unbekannter Zeichner: „Der nächste bitte“. Cartoon aus der Postkartenserie der Beauftragten der Landesregierung Menschen mit Behinderung sowie Patientinnen und Patienten NRW. URL: http://​www. lbb.nrw.de/​info_​betroffene/​bestellen_​herunterladen/​mit_​humor_​gesagt/​index.php [Stand: 31.01.2020]

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Mit dem System oder dagegen?

„Taten besiegen Tinte“? Propagandistische Demontagen antifaschistischer Bildsatiren in der NS-Zeit Andrea Albrecht und Jens Krumeich

Abb. 1: Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 151 137

Andrea Albrecht und Jens Krumeich

Die abgebildete Hitler-Karikatur erschien 1933 zunächst in der französischen Zeitschrift Candide und wurde im Sommer desselben Jahres in der in London von der World Alliance for Combating Anti-Semitism herausgegebenen Schrift J’accuse wiederabgedruckt (Abb. 1).1 Die Karikatur stellt eine frühe Thematisierung der nationalsozialistischen Judenverfolgung dar und warnt eindringlich vor ihren Folgen. Angelehnt ist sie sowohl an zeitgenössisch populäre Germania-Abbildungen2 als auch an Darstellungen der deuterokanonischen alttestamentarischen Enthauptung des Holofernes durch Judit.3 In dieser ikonographischen Tradition zeigt unser anonymer Karikaturist vor einer Sonne mit Hakenkreuz zentral den uniformierten Adolf Hitler, wie er das abgeschlagene Haupt eines jüdischen Mannes  – kenntlich an der antisemitischen Stereotypen folgenden Physiognomie  – triumphal zur Schau stellt. Damit wird die Geschichte des die Juden befreienden Tyrannenmords aus dem Alten Testament umcodiert: Denn auch wenn der Judit-Stoff kein Teil des Tanach ist, gilt die Jüdin Judit in der jüdischen Mythologie wie auch der christlichen Ikonographie als Überwinderin des Bösen, die ihr Volk durch ihre Tat befreit.4 Dies wird in der Karikatur subvertiert: Hitler ermordet ‚den Juden‘. Die Bildunterschrift „La première victoire“ ist ein sarkastischer Kommentar zur Judenverfolgung als erstem Erfolg der Nazis und stellt für nicht antisemitisch eingestellte Rezipientinnen und Rezipienten gleichzeitig sowohl eine Warnung vor der auf Extermination der jüdischen Bevölkerung in Deutschland angelegten nationalsozialistischen Politik wie vor möglichen Folgen für den Weltfrieden dar – angedeutet durch das überdimensionierte Schwert. Der Wiederabdruck im Londoner J’accuse, der nach Émile Zolas berühmtem Kommentar zur Rolle des Antisemitismus in der sogenannten ‚Dreyfus-Affäre‘ benannten Schrift, dient der Illustration von so lakonisch wie erschütternd aneinandergereihten Berichten über Übergriffe und Angriffe auf jüdische Bürgerinnen und Bürger in Berlin. Die Herausgeber der Schrift, die mit Traueranzeigen für in Deutschland ermordete Jüdinnen und Juden eröffnet,

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World Alliance for Combating Anti-Semitism, J‘accuse, S. 13. Hier findet sich auch der undatierte Hinweis auf die französische Erstpublikation der Karikatur. Zur Ikonografie sowie zur zeitgenössischen Germania-Rezeption vgl. einführend Gall, Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahrhundert und Wagner, Germania. Zur künstlerischen Rezeption des Judit-Stoffs vgl. u. a. Straten, Das Judit-Thema; Kobelt-Groch, Judith macht Geschichte und Uppenkamp, Judith und Holofernes. Dass die dargestellte Enthauptung bei den Betrachterinnen und Betrachtern der Karikatur weitere (kunst-)historische Assoziationen  –  wie sie etwa in Volker Mergenthalers kulturwissenschaftlicher Studie zu verschiedenen Enthauptungs-Darstellungen Medusa meets Holofernes untersucht werden – hervorgerufen haben könnte, liegt auf der Hand. Vgl. etwa Lange, Die Juditfigur in der Vulgata.

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„Taten besiegen Tinte“? Propagandistische Demontagen antifaschistischer Bildsatiren in der NS-Zeit

in verschiedenen Artikeln die Situation der jüdischen Bevölkerung schildert und bereits explizit Konzentrationslager thematisiert, zielen zum einen darauf, in der englischen Politik und Zivilgesellschaft auf die Brutalität, die Gefahren und möglichen Folgen des Antisemitismus der Nationalsozialisten aufmerksam zu machen; zum anderen formulieren sie einen eindringlichen Appell zum Handeln. Die Devise ist klar: „What is the solution? There is only one left. Fight the Nazis!“5 Die antinazistische Karikatur aus J’accuse fand, inklusive des Hinweises auf die französische Erstveröffentlichung, wenig später auch Eingang in die wahrscheinlich weltweit „erste Sammlung von Hitler-Karikaturen“,6 der wir die obige Abbildung entnommen haben. Dieser Neuabdruck im September 1933 erschien allerdings nicht etwa in England, Frankreich oder den Vereinigten Staaten, sondern ausgerechnet in NS-Deutschland, und zwar nicht als Flugblatt oder billig gedruckte, dissidente Untergrundpublikation, sondern in Form einer bibliophilen, an Ausstellungskataloge7 erinnernden Anthologie. Das vom NSDAP-eigenen Verlag Braune Bücher Berlin unter dem Titel Tat gegen Tinte. Hitler in der Karikatur der Welt8 herausgebrachte Buch wurde, wie unter anderem einer Werbeanzeige zu entnehmen ist, „vor dem Erscheinen vom Führer durchgesehen u. ausdrücklich genehmigt“.9 Ausgewählt, zusammengestellt und herausgegeben wurden Band und Karikaturen von Ernst Hanfstaengl (1887–1975), dem Hitler-Vertrauten aus der gemeinsamen Münchener Zeit, der zwischen 1931 und 1934 Auslandspressechef der NSDAP war, später dann allerdings bei den Nazis in Ungnade fiel und 1937 aus Deutschland flüchten musste.10 Hanfstaengl arbeitete nach Angabe seines Verlegers Carl Rentsch bereits Anfang 1932 an der Kompilation der Karikaturensammlung,11 die dann kurz nach der sogenannten Machtübernahme als Band mit über 70 chronologisch sortierten Bildsatiren antifaschistischer und/​ oder prodemokratischer Provenienz aus Tageszeitungen, Zeitschriften und Satireblättern der

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World Alliance for Combating Anti-Semitism, J’accuse, S. 10 (Hervorhebung im Original). Widmann, [Rez.] Klaus Strohmeyer, S. 12. Vgl. dazu außerdem die Hinweise bei Naumann, Zwischen Tränen und Gelächter, S. 295ff. Vgl. etwa Zuschlag, Entartete Kunst. Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933. Ders., Tat gegen Tinte 1934, S. 180. Zu Hanfstaengls abenteuerlicher Vita vgl. die nicht besonders zuverlässige Autobiographie Hanf­ staengl, Zwischen Weißen und Braunem Haus sowie die reißerische Biographie des britischen Schriftstellers und Journalisten Peter Conradi, Hitler’s Piano Player. Vor dem Hintergrund der fiktiven Anteile dieser auf Authentizität setzenden Veröffentlichungen kann es nicht überraschen, dass Hanfstaengl in den letzten Jahren auch wiederholt selbst zur literarischen Figur wurde, etwa 2013 in Maxim Kantor, Rotes Licht und 2016 in Christian Kracht, Die Toten. Vgl. Rentsch, Zur Einführung 1933, S. 9 und ders., Zur Einführung 1934, S. 9.

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Weimarer Republik sowie des Auslands erschien. Ein durchaus erklärungsbedürftiger Umstand: Während die Nationalsozialisten nicht nur in der ‚Kampfzeit‘, sondern auch nach 1933 in den gleichgeschalteten Zeitungen und Zeitschriften in breiter Front ideologische, insbesondere auch antisemitische Bild- und Textsatiren verbreiteten,12 suchten sie bekanntlich die Distribution von ns-kritischer Komik zu unterbinden. Mit Beginn der NS-Herrschaft wurden linke Satireblätter wie der zeitweilig von Kurt Tucholsky herausgegebene Ulk und der sozialdemokratische Wahre Jacob verboten; ehedem liberale Zeitschriften wie der Simplicissimus gleichgeschaltet oder darauf verpflichtet, „[j]ede Verächtlichmachung oder Verhöhnung sowie Karikatur der mit der heutigen Bewegung in irgendwelchem Zusammenhang stehenden Faktoren […] künftig auf das strengste“ zu vermeiden.13 Auch Karikaturen aus dem Ausland wurden bekämpft: Als etwa in dem von Exilantinnen und Exilanten in Prag in Reaktion auf die Gleichschaltung des Simplicissimus gegründeten Simplicus14 1934 eine Zusammenstellung von ns-kritischen Zeichnungen (mit einem Vorwort von Heinrich Mann) erschien, forderte die deutsche Gesandtschaft in Prag eindringlich die „Abstellung der immer unerträglicher werdenden Pressehetze“.15 Die Frage, wieso es nach 1933 dennoch zum Abdruck ns-kritischer Karikaturen unter der Ägide führender Nationalsozialisten kam, steht im Zentrum unseres Beitrags. Wir versuchen sie exemplarisch anhand von Hanfstaengls Band, dem 1934 (unter Mitarbeit von Rudolf Heß)16 eine Fortsetzung,17 1935 eine Neuauflage18 und sogar noch 1938 anlässlich des ‚Führergeburtstags‘ eine ‚Volksausgabe‘19 folgten, zu beantworten. Dabei werden wir erstens Schlaglichter auf die zeitungswissenschaftliche Diskussion der NS-Zeit zur ‚Greuelhetze‘ beziehungsweise ‚Greuelpropaganda‘ werfen, um die dem Buch zugrundeliegende Ratio zu skizzieren. In einem zweiten Schritt veranschaulichen wir an zwei konkreten, in ihrer Wirkungsästhetik unterschiedlichen Beispielen Hanfstaengls Vorgehen um schließlich drittens einen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte der bei Hanfstaengl praktizierten Remontage- und Demontagestrategie zu geben.

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Vgl. u.  a. Merziger, Nationalsozialistische Satire und „Deutscher Humor“, S.  70–112; sowie Haider/​ Hausjell, Die Apokalypse als Bildgeschichte; Gornik, Anstiftung zum Hass; Liebel, Politische Karikaturen; Keysers, Der Stürmer; Kucharz, Das antisemitische Stereotyp. Zitiert nach Peschken-Eilsberger, Thomas Theodor Heine, S. 112. Vgl. Huß-Michel, Literarische und politische Zeitschriften des Exils, S. 128–130. Zitiert nach Mann, Essays und Publizistik 2009, S. 921. Vgl. Naumann, Zwischen Tränen und Gelächter, S. 296. Hanfstaengl, Tat gegen Tinte 1934. Ders., Hitler in der Karikatur der Welt 1935. Ders., Hitler in der Karikatur der Welt 1938.

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1. ‚Greuelpropaganda‘ in der Zeitungswissenschaft In den Zeitungswissenschaften, die vor allem während der Frühzeit der NS-Herrschaft institutionell gefördert und zum Karrieresprungbrett vieler Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wurden,20 beobachtete man nicht nur das Zeitungswesen des In- und Auslands. Vielmehr betrieb man auch „wissenschaftliche[] Begleitforschung“ für die „propagandistische[] Praxis“21 und diskutierte Fragen nach dem Umgang mit feindlicher Propaganda. Zu Letzterer gehörte die sogenannte „G[reuelpropaganda]“ oder auch ‚Greuelhetze‘, verstanden als „eine besondere Form der Propaganda“, die „bewußt mit Lüge, Verleumdung und Übertreibung“ arbeite und „stets“ versuche „Mitleid zu erwecken“, indem sie „de[n] politische[n] Gegner in der Öffentlichkeit grausamer und unmenschlicher Handlung an[]klagt und dadurch allmählich selbst zum ‚Gegenstand des Grauens‘ []macht“.22 Im Handbuch der Zeitungswissenschaft aus dem Jahr 1940 definiert der Berliner Zeitungswissenschaftler und NS-Propagandist Ernst Herbert Lehmann: „G[reuelpropaganda] bedient sich der Unwahrheit, Entstellung und Fälschung. Sie schreckt auch vor keiner Unanständigkeit, vor keiner Verletzung sittlicher und religiöser Vorstellung zurück, wenn es gilt, das Ansehen des Gegners zu schädigen. G[reuelpropaganda] ist daher geeignet, den Haß der Völker zu schüren, den Krieg mit den Waffen vorzubereiten oder wirksam zu unterstützen.“23

Von nationalsozialistischer Warte aus erläutert Lehmann hier grundlegende Handlungsmuster für den Umgang mit feindlicher Propaganda, wie ihn das Parteiamt von der gleichgeschalteten deutschen Presse erwartete: Denn „[v]on einer verantwortungsbewußten Presse, die der Wahrheit dienen will, muß […] diese Form der Propaganda schärfstens abgelehnt werden“.24 Gleichzeitig hebt er vice versa hervor, dass es „[e]twas grundsätzlich anderes ist […], wenn grauenvolle Hand-

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Vgl. z.  B. Hachmeister, Der  Gegnerforscher; vom Bruch/​Roegele (Hrsg.), Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Viele der in den 1930er Jahren etablierten Zeitungswissenschaftler setzten ihre Arbeit nach 1945 unbehelligt fort, nun aber als Publizisten, Kommunikations- oder Medienwissenschaftler. Bussemer, Propaganda, S.  154. Bussemers These, dass die Nationalsozialisten ab „Mitte der 1930er Jahre plötzlich jedes Interesse an der wissenschaftlichen Begleitforschung zu ihrer propagandistischen Praxis verloren und die zeitungswissenschaftliche Propagandaforschung aktiv bekämpften“ (ebd.), erscheint uns zu pauschal. Lehmann, Greuelpropaganda, Sp. 1361. Ebd. (Hervorhebung im Original). Ebd., Sp. 1361f.

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lungen einzelner Menschengruppen oder Völker auf Wahrheit beruhen. Hier hat die Presse sogar die Verpflichtung, die Öffentlichkeit aufzuklären“.25 Dass Lehmann damit keine Aufklärung über NS-Verbrechen einfordert, liegt auf der Hand. Vielmehr geht es ihm umgekehrt darum, vornehmlich bildsatirische Darstellungen dieser tatsächlichen ‚Greueltaten‘ in der ausländischen „Lügen- und Hetzpresse“,26 mit denen er den Handbuchartikel reichlich illustriert, gegenpropagandistisch als Lügen zu denunzieren und somit die antifaschistischen Akteurinnen und Akteure generell zu disqualifizieren. Wie dieses perfide Vorhaben in der publizistischen Praxis umzusetzen ist, führte Lehmann, der ab 1934 Leiter der Zeitschriftenabteilung am Deutschen Institut für Zeitungskunde der Universität Berlin war und ab 1940 das Hauptreferat „Zeitschriften“ im RMVP innehatte,27 selbst wiederholt vor: So setzte sich Lehmann, der im zitierten Lexikonbeitrag herausstreicht, dass „Photo, Photomontage und Karikatur“ „[b]esonders wirksame Mittel“ der ‚Greuelpropaganda‘ seien,28 in seinem 1939/​40 erschienenen Band Wie sie lügen nicht weniger zum Ziel, als „Beweise feindlicher Hetzpropaganda“ (so der Untertitel des Buchs) zu liefern und hinsichtlich ihres vermeintlichen Wahrheitsgehalts zu widerlegen. Um seine Leserinnen und Leser zu überzeugen, stellt Lehmann zahlreiche Bildsatiren zusammen, um die „Flut der feindlichen Auslandsverleumdungen“, die sich „heute […] über das deutsche Volk ergießt“, als „Beschimpfungen und Lügen“, deren „Ziel […] stets die Vernichtung Deutschlands“ sei, zu demaskieren.29 Lehmann ist nur ein besonders versatiler Theoretiker und Praktiker der nationalsozialistischen Gegenpropaganda. Neben ihm bemühten sich zwischen 1933 und 1945 zahlreiche Zeitungskundler darum, die in der Weimarer Republik zumeist auf der Seite der Linken erfundenen Techniken textueller, satirischer, karikaturistischer und fotographischer Montage und Remontage für NS-Zwecke zu funktionalisieren. Karl Kraus war einer der ersten, der

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Ebd., Sp. 1362 (Hervorhebung im Original). Ders., Wie sie lügen, S. 8. Michel, Von der Fabrikzeitung zum Führungsmittel, S. 289, Anm. 80. Zu Lehmann vgl. außerdem Bohrmann/​Schneider, Zeitschriftenforschung, S. 34–41. Lehmann, Greuelpropaganda, Sp. 1364. An anderer Stelle streicht Lehmann die  –  positiven wie negativen – „großen Wirkungsmöglichkeiten der Karikaturen“ neben ihrer Komik und Fähigkeit, „die Menschen zum Lachen“ zu „reizen“, heraus: „[S]ie können in humorvoller Weise Weltanschauungen kritisieren oder diese in den Schmutz ziehen  –  sie können Staaten verherrlichen oder verunglimpfen – sie vermögen Männer in liebenswürdiger Form populär zu machen oder sie mit erbittertem Haß zu verfolgen. So hat die Karikatur manche Ähnlichkeit mit dem politischen Witz; auch dieser kann dem Volke führende Persönlichkeiten näher bringen – er kann sie aber auch in niederträchtiger Weise verspotten“ (ders., Mit Stift und Gift, o. S.). Ders., Wie sie lügen, S. 6.

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Text-Text- und Text-Bild-Montagen zu politischen Zwecken zu nutzen begann.30 In Kurt Tucholskys und John Heartfields satirischem ‚Bilderbuch‘ Deutschland, Deutschland über alles31 aus dem Jahr 1929 fanden diese Verfahren dann einen ersten, ns-kritischen Höhepunkt. Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman hat in einem ganz anderen Zusammenhang und im Anschluss an Walter Benjamins Reflexionen zur modernistischen ‚Montage‘ den Begriff der ‚Remontage‘ eingeführt, um Verfahren des ausstellenden Zeigens, des Montierens und des Umcodierens zu einer neuen Einheit zu erfassen.32 Der Remonteur selegiert, zerlegt und arrangiert demnach vorgefertigtes Fremdmaterial, stellt dessen intentionalen Gehalt aus, nur um ihn durch eine gegenläufige Intention zu überlagern, aufzuheben oder zu invertieren.33 Zwischen 1933 und 1945 bemühten sich ns-affine Akteurinnen und Akteure, beraten durch die zeitungswissenschaftliche Forschung, darum, diese Darstellungsverfahren für die NS-Propaganda zu appropriieren und letztlich durch die Montage und Remontage von Fremdmaterial kritische Stimmen aus dem In- und Ausland wirkungsvoll zu demontieren.

2. Ernst Hanfstaengls Demontage ns-kritischer Bildsatiren Auch Hanfstaengls Band, an dessen Entstehung der Zeitungswissenschaftler Karl Bömer34 beratend beteiligt war, fand Zuspruch im zeitungswissenschaftlichen Feld: So lobte der einflussreiche Münchener Zeitungswissenschaftler Karl d’Ester (1881–1960)35 den „glücklichen Gedanken des Auslands-Presse-Chefs der NSDAP, aus der ungeheuren Flut von Spottbildern aus der ganzen Welt eine Auswahl zu treffen und sie der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen“.36 Doch wie kann Hanfstaengl mit dem Abdruck antifaschistischer – und teilweise sogar von ihm selbst als ‚Greuelpropaganda‘ eingeschätzter – Bildsatiren auf so positive Resonanz stoßen? Anhand einer Karikatur aus dem Vorwärts von 1931 (Abb. 2) werden wir im Folgenden exemplarisch zeigen, wie Hanfstaengls gegenpropagandistisches Demontageverfahren funktioniert: 30 31 32 33 34

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Vgl. z. B. Kraus, Wer ist der Mörder? Tucholsky, Deutschland, Deutschland über alles. Didi-Hubermann, Wenn die Bilder Position beziehen, S. 131. Möbius, Montage und Collage, S. 280. Der Zeitungswissenschaftler Karl Bömer (1900–1942) war Leiter der Presseabteilung des Außenpolitischen Amtes der NSDAP und Ministerialdirigent im Reichspropagandaministerium (vgl. Klee, Kulturlexikon, S. 59). Vgl. Stöber, Emil Dovifat, Karl d’Ester und Walter Hagemann. d’Ester, [Rez.] Ernst Hanfstaengl, S. 423.

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Abb. 2: Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 42f. „Hitlers Vormarsch“ überschrieb der von Tucholsky geschätzte,37 „auf die Person Hitlers spezialisiert[e]“38 Zeichner und Satiriker Karl Holtz (1899–1978) – zu identifizieren durch das Kürzel ‚zyx‘ am Bildrand unten links – diese am 28. März 1931 in der SPD-Parteizeitung Vorwärts erschienene Bildsatire. Dargestellt ist Hitler auf einem rückwärts statt vorwärts in Richtung Diktatur schreitenden Krebs, was sich ironisch-satirisch auf die scheinbare Arbeitsverweigerung der Nationalsozialisten nach der Reichstagswahl im September 1930 bezieht. 1931 konnte diese Darstellung bei sozialdemokratischen Leserinnen und Lesern offensichtlich noch für erleichtertes Lachen sorgen und die Hoffnung nähren, die Gefahr durch die NSDAP erledige sich von selbst. Die Machtübernahme 1933, die diese Hoffnung zerstört, erlaubt Hanfstaengl den Wiederabdruck der Karikatur, jedoch nur im Verbund mit einer gegenpropagandistischen ‚Lektürehilfe‘.39 Auf der dem Bildzitat gegenüberliegenden Seite legt er zunächst die satirische Intention 37

38 39

„Die Zeichnungen von Karl Holtz sind gut; es kann nicht jeder (George) Grosz sein“, lobte Tucholsky in der Weltbühne 1920 ein von Holtz illustriertes „lustiges kleines Heft“ (Wrobel [d.i. Tucholsky], Der Bürgergeneral, S. 171). Zimmermann (Hrsg.), „Kampf dem Hakenkreuz“, S. 12. Zeitungswissenschaftlich geschult, erklärt Hanfstaengl im Vorwort des Fortsetzungsbands von 1934 die Zielsetzung dieser ‚Lektürehilfe‘: „Der Widerlegung der Karikaturen und der Rechtfertigung Adolf Hitlers dient auch dieses Buch. Außerdem soll dieses Werk dazu beitragen, den deutschen Zeitungsle-

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des Karikaturisten, die ‚Tinte‘, aus, um sie sodann als inzwischen durch ‚Taten‘ und ‚Tatsächlichkeiten‘ falsifizierte Vorhersage zu identifizieren und zu überbieten: „Der Gang der Dinge hat diese Vorhersage widerlegt. Tatsächlich ist Hitler mit seinem nationalsozialistischen Krebs schließlich so schnell vormarschiert, daß die Gegner nicht nur abmarschierten, sondern sich selbst entleibten.“40

Hanfstaengls Konterkarierung ist visuell verankert, insofern der Krebs nicht nur rückwärts kriecht, sondern auch einen Panzer hat, also wehrhaft – zumindest wehrhafter als die suizidalen Gegnerinnen und Gegner – erscheinen mag. Die lebensgefährliche Situation, in der sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten real befinden, kann er somit durch seine Auslegung auf schadenfrohe Weise ins Lächerliche ziehen. In der im Anhang des Bandes aufgeführten Zeitungsliste – die meist die Auflagehöhe, den Erscheinungsort und die politische Einordnung der Zeitungen nennt, aus denen Hanfstaengl seine Bildbeispiele entnimmt – setzt er zudem wie zur Demonstration der historischen Veränderung hinter den Vorwärts ein in Klammern stehendes „erscheint nicht mehr“.41 Die Geschichte hat, so Hanfstaengls Ratio, den Nationalsozialisten gegen ihre nun unterlegenen Gegnerinnen und Gegner Recht gegeben und ermöglicht mithin ein ‚Umlachen‘, also mit Viviane Rouquier gesprochen, eine „inversion de l’humour“:42 Der manifeste Erfolg der Nationalsozialisten erlaubt es Hanfstaengl jedenfalls, die im Band versammelten Karikaturisten einzeln und im Verbund ausgiebig zu verhöhnen. So heißt es im Vorwort des Fortsetzungsbandes: „Da ja inzwischen der tatsächliche Wert und Sinn der von den Karikaturisten entstellten Vorgänge und Maßnahmen Adolf Hitlers in unzähligen segensreichen Auswirkungen offenbar geworden ist, kann den gegnerischen Zeichnern […] die vitriolgetränkte Feder nicht leichter aus der Hand geschlagen werden, als wenn man ihre Karikaturen zur Gegen-

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sern und Zeitungsleserinnen, die von jeher dazu neigen, unfreundlichen Darstellungen der Auslandspresse gegenüber überempfindlich zu sein, bei einer freieren weltgeweiteten Verarbeitung und Umwertung von Gegenwartskarikaturen über Deutschland behülflich zu sein. Politische Karikaturen sind ja schließlich mehr als Tinte und Papier, sind sie doch die in die Form satirischer Spottzeichnungen eingekleideten Mittel im geistigen Machtkampf der Gegenwart. Gerade ein außenpolitisch verhältnismäßig lange unbewandert gebliebenes Volk wie das deutsche bedarf zu seiner politischen Weiterbildung nicht zuletzt der kritisch wertenden Beschäftigung mit diesem Kampfmittel unserer Gegner“ (Hanfstaengl, Tat gegen Tinte 1934, S. 9). Ders., Hitler in der Karikatur der Welt, S. 42. Ebd., S. 174. Rouquier, La caricature antihitlérienne, S. 11.

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überstellung bringt mit den Tatsachen. Erbarmungslos werden sie so durch die Taten Adolf Hitlers der Lächerlichkeit anheimfallen.“43

Die „Sammlung“ sei „umso reizvoller“, so erläuterte der Verleger Carl Rentsch in seiner dem ersten Band 1933 vorangestellten „Einführung“, „als der […] Führer inzwischen so überragend Beweise seiner staatsmännischen Meisterschaft gegeben hat, daß die täglichen Spötter vor aller Welt täglich kläglicher zu den Verspotteten wurden […] – die Karikaturisten zu Karikaturen ihrer selbst. Denn Taten besiegen Tinte.“44 Hanfstaengls und Rentschs zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein erweist sich als nicht unbegründet: Karl Holtz, der als einer der „Hauptzeichner der sozialdemokratischen Presse“ geltende Karikaturist,45 wurde 1933 aufgrund seiner politischen Gesinnung seiner Lebensgrundlage beraubt. Er verdingte sich als technischer Zeichner, Werbegraphiker und Gestalter von Buchumschlägen, bevor er zwischen 1939 und 1945 durchgehend an der Front kämpfen musste.46 Neben auf Komik und Ridikülisierung setzenden Karikaturen wie der beschriebenen kommentiert Hanfstaengl auch Zeichnungen, die Hitler zu einer „Art von Überbestie […] vergrößern!!“47 Dies gilt etwa für das eingangs abgebildete Beispiel aus Candide beziehungsweise J‘accuse. Auch für diesen Typ grotesk gestalteter Zeichnungen, die zum Zweck der satirischen Wirkung das Objekt ins Bizarre überzeichnen, ist Hanfstaengl nicht um eine gegenpropagandistische Strategie verlegen. Er stattet die Karikatur mit einem neuen Rahmen aus:

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Hanfstaengl, Tat gegen Tinte 1934, S. 9 (Hervorhebung im Original). Rentsch, Zur Einführung 1933, S. 9f. Lemhoefer, Karl Holtz (1899−1978). Nach Kriegsende konnte Holtz in der DDR zunächst künstlerisch nicht mehr Fuß fassen und wurde wegen einer im Schweizer Nebelspalter abgedruckten stalinkritischen Karikatur sogar für mehrere Jahre inhaftiert (ebd.). Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung arbeitete Holtz unter anderem für den Eulenspiegel (vgl. u.  a. ebd. sowie Zimmermann (Hrsg.), „Kampf dem Hakenkreuz“, S.  12 u. 22 und Schütte, Karl Holtz. Rede). Nachdem 1974 eine erste Retrospektive von Holtz’ Karikaturen in Potsdam gezeigt wurde, erschien fünf Jahre nach dem Tod des Zeichners eine würdigende Anthologie in der Ost-Berliner Reihe Klassiker der Karikatur im Eulenspiegel-Verlag (Schütte [Hrsg.], Karl Holtz). Angesichts der Veröffentlichung in der DDR wenig überraschend, findet weder im biographischen Nachwort des Herausgebers noch in den daran anschließenden biographischen Daten die Inhaftierung infolge der Stalin-Karikatur Erwähnung (vgl. ebd., S. 117–126). Das Karl-Holtz-Portal widmet sich dem Andenken des Zeichners, indem es unter anderem mit Dokumenten, Zeichnungen, biographischen Daten und einer umfangreichen Bibliographie aufwartet (www.karl-holtz.portal.de [zuletzt aufgerufen am 20.02.2020]). Hanfstaengl, Tat gegen Tinte 1934, S. 15.

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„Tinte: Dieses Bild beschuldigt Hitler der Enthauptung von Juden und liegt bereits auf dem Gebiete der Greuelpropaganda, die von deutschen marxistischen Landesverrätern innerhalb und außerhalb Deutschlands ihren Stoff bezieht. Tat: Der Antisemitismus der Nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland ist eine völlig unblutige Abwehr einer unerträglichen Überfremdung. Den ‚Kopf verlieren‘ Juden in Deutschland höchstens selbst aus Nervosität  – und schlechtem Gewissen.“48

Hanfstaengl nutzt das als ‚Tinte‘ rubrizierte Segment seines gegenpropagandistischen re­ framing somit vornehmlich zu einer Beschreibung und Auslegung, die die Karikaturisten und die Herausgeber von J’accuse als marxistische, also ideologisch motivierte Lügner und ihre Publikation, die der Sorge um das jüdische Leben in Deutschland Ausdruck verleiht, als „Schmähflugschrift“49 disqualifiziert. Der zynische Kommentar50 zielt also nicht nur auf die gegenpropagandistische Widerlegung des Aussagegehalts der Karikatur als „Greuelpropaganda“ und damit als Beleg für eine im feindlichen Ausland kultivierte vermeintliche Lüge über das in Wahrheit gegen Jüdinnen und Juden ganz „unblutig[]“51 vorgehende sogenannte ‚Dritte Reich‘. Sein Kommentar richtet sich auch ad hominem gegen die Karikaturisten, deren Übertreibungen und Verzerrungen nationalsozialistisch gesinnte Leserinnen und Leser nicht auf den Leim gehen sollen. Die dementierende Richtigstellung ist darüber hinaus mit der latenten Drohung gepaart, dass auch hier die karikaturistische Übertreibung Wirklichkeit werden könnte, die Ermordung der Jüdinnen und Juden womöglich doch noch Realität würde, wenn sich die Deutschen nicht anders gegen die „Überfremdung“52 zur Wehr setzen könnten. Gerade dieses Beispiel zeigt deshalb, dass Hanfstaengl mit dem Band auf eine mehrfach codierte Rezeption sowohl innerhalb Deutschlands als auch im Ausland zielte; er betont in militaristisch anmutender Diktion: „So soll denn dieses Buch zu einer Waffe in der Hand der Deutschen und der Deutschfreunde im In- und Auslande werden“.53 Eine vom Verleger als „der Sache des Nationalsozialismus förderliches Weltecho“ beschriebene Sammlung „schmeichelhafte[r]“54 internationaler Rezensionsbelege im Anhang der Fort-

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Ders., Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 150. Ebd., S. 173. Vgl. Herzog, Lachen unter Hitler, S. 74. Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 150. Ebd., S. 150. Ders., Tat gegen Tinte 1934, S. 10. Rentsch, Zur Einführung 1934, S. 7.

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setzung von 1934 zeigt, dass die Bände durchaus die gewünschte positive Resonanz fanden. An gleicher Stelle abgedruckte euphorische Briefe von Leserinnen und Lesern und deutsche Rezensionen demonstrieren,55 dass Hanfstaengls Kalkül zumindest teilweise aufging und sein auslegendes und Stellung nehmendes Wort die satirische Bildwirkung weitgehend neutralisieren konnte. In der Folge wurde die Karikaturensammlung jedenfalls als „[d]as sensationellste Beweisstück für die Weltbedeutung Adolf Hitlers“ und als ein „durch Überwindung seiner Verneiner zur Bejahung und Bewunderung des Kanzlers führendes Buch“ beworben.56 Seiner gegenpropagandistischen Wirkung gewiss, schließt der Band mit einer Geste ostentativer Überlegenheit: Hanfstaengl legt hier (Abb. 3) einem amüsiert lächelnden Hitler in den Mund, dass sich der „Deutsche Leser“ weder im Fall der verlachenden noch der schmähenden antifaschistischen Satire sonderlich empören solle. Vielmehr soll er dem ‚Führer‘ nacheifern, wie er in einer Montage aus Fotographie und Zeichnung auf dem Schutzumschlag des Bandes abgedruckt ist (Abb.  4): „Ihr sah’t die Bilder dieses Buches alle, /​folgt Eurem Führer auch in diesem Falle, /​tut, was er macht, /​lacht, wie er lacht.“57 In Bild und Text wird Hitler hier, wie Martina Kessel analysiert, als eine „über jeden Spott erhaben[e]“ Person inszeniert.58

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Hanfstaengl, Tat gegen Tinte 1934, S. 177–179. Ebd., S. 180. Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 171. Kessel, Gewalt und Gelächter, S. 171. Kessel weist außerdem auf den Wiederabdruck des Coverbildes im Band Lachen unterm Stahlhelm hin. Darüber hinaus betont sie, dass „[v]or allem die Seitenansicht von Hitlers Kopf […] ikonographischen Charakter“ erhalten habe: „Deshalb versuchten auch Mitglieder des Widerstandes, sie zu nutzen. Sie projizierten Hitlers Kopf auf eine Postkarte und verwandelten ihn auf der Rückseite in eine zerfließende Teufelsfratze“ (ebd.). Damit wurde die auf dem Titel und am Buchende von Hanfstaengl inszenierte „Bildikone“ (ebd., S. 170) Hitler bereits während der NS-Zeit selbst wieder ‚remontiert‘.

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Abb. 3: Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 171 Auch bei der Wiederverwendung des Porträtfotos auf dem Schutzumschlag, hier leicht geneigt und in eine Zeichnung eingebettet, ist die visuelle Botschaft deutlich: Ein uniformierter, aber entspannt wirkender Hitler schaut amüsiert von oben auf drei ihn mit Tintenfedern attackierende Zeichner herab, die wiederum durch Kleidung, Accessoires (Frack, Intellektuellenbrille, Schiebermütze) und Physiognomie als bürgerliche, jüdische beziehungsweise sozialistische Oppositionelle ausgewiesen sind, aber allein aufgrund ihrer geringen Größe kaum mehr ernst genommen werden müssen; flankiert wird dies von Rentschs vorangestellter Behauptung, dass „die erhabenen Verkleinerer täglich mehr zu lächerlichen Zwergen“ würden.59 Der Schatten, mit dem die Hitler-Figur 59

Rentsch, Zur Einführung 1933, S. 9.

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hinterlegt ist, wirkt in Kombination mit dem großen Blocktitel „HITLER“ zugleich bedrohlich und gemahnt erneut an die veränderten Machtverhältnisse. Hier zeigt sich, dass satirische Darstellungen immer auch als eine aggressive Ausdrucksform zu verstehen sind. Satire zielt in der Regel nicht auf die Überzeugung oder Veränderung des „Gegner[s]“, sondern auf eine Spaltung der Adressatenschaft: auf ein Bündnis „mit dem Publikum“ gegen das verlachte Objekt.60 Auch hier ist die anvisierte Adressatenschaft Hanfstaengls geteilt: Während die einstigen Gegnerinnen und Gegner nichts mehr zu lachen haben und stattdessen um ihr Leben fürchten müssen, können die nationalsozialistisch gesinnten Leserinnen und Leser nun lachen und höhnen.

Abb. 4: Hanfstaengl, Hitler in der Kariaktur der Welt 1933, Schutzumschlag 60

Spoerhase, Methodenskizze.

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3. Fazit und Ausblick Die Beispiele und der Blick in die zeitgenössische Rezeption von Hanfstaengls Band haben zu zeigen vermocht, dass es auch im nationalsozialistischen Deutschland eine intensive Wahrnehmung von ns-kritischen Karikaturen und Satiren gegeben hat. Anders als in der Forschung mitunter vermutet, war die kontrollierte Publikation solch komischer Artefakte nicht per se gefährlich. Man unterschätzt Hanfstaengls Band jedenfalls, wenn man ihn wie Claudia Schmölders lediglich als „übermütiges Sammelwerk“ abtut.61 Vielmehr hat man es, wie wir in einer etwas forcierten Anlehnung an die Terminologie von Georges Didi-Huberman behaupten möchten, bei Gebilden wie Hanfstaengls Tat gegen Tinte mit propagandistischen ‚Demontagen‘ zu tun, denen ein infames Wirkungskalkül zugrunde liegt. Im Unterschied zu den von Didi-Huberman präferierten Artefakten, die im Zuge der Remontage die Ambivalenz, Ambiguität und Offenheit des Sinns potenzieren, indem sie etwa das Brüchige und Widersprüchliche exemplifizieren und sich subversiv gegen Vereindeutigung sträuben, sind die von uns untersuchten Demontagen durch eine dem Montierten und Remontieren gegenläufige Zielrichtung und eine intentionale Geschlossenheit charakterisiert, die auf ‚Zersetzung‘ des Gegners zielt.62 Dieser destruktive Effekt macht sie für politische Positionsnahmen besonders attraktiv. Dabei handelt es sich bei Hanfstaengls Bänden keineswegs um singuläre Publikationen auf dem NS-Büchermarkt. Vielmehr hat der gegenpropagandistische, re- und demontierende Umgang mit antifaschistischer Satire in den 1930er Jahren Konjunktur: Feindliche ns-kritische Satiren und Karikaturen der Exil- und Auslandspresse fanden ebenso Eingang in eine Vielzahl aufwändig vermarkteter Sammelbände wie in populäre Organe der NS-Propaganda, in denen sie als ‚Greuelhetze‘ beziehungsweise ‚Greuelpropaganda‘ denunziert, entwertet, kommentiert und/​ oder umcodiert wurden.63 Diese Bände zielten auf eine besondere Form der ‚Nachhaltigkeit‘: Sie beabsichtigten nicht nur die Demontage einzelner Karikaturen und ihrer Zeichner, sondern sie wollten die deutsche Leserschaft gegen diese Form der politischen Meinungsbildung und Aufklärung insgesamt immunisieren. Der re- und demontierende Umgang mit den Bildsatiren sollte ‚am Beispiel‘ erlernt und auf andere antifaschistische Objekte übertragen werden, also Schule machen und die Rezeptionshaltung grundsätzlich umlenken. Diese Umlenkung scheint immerhin bis in die ersten Kriegsjahre hinein erfolgversprechend gewesen zu sein.

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Schmölders, Hitlers Gesicht, S. 126. Vgl. Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 315. Zu nennen sind hier als exemplarische Auswahl Bömer, Das Dritte Reich im Spiegel der Weltpresse; Dietrich, Weltpresse ohne Maske; Jung, Gelächter über eine zerbrochene Welt; Lehmann, Wie sie lügen; ders., Mit Stift und Gift; Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (Hrsg.), Unser aller Hitler.

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Nach 1945 ließ sich dies selbstredend nicht fortsetzen, Hanfstaengls Sammlung fand nun eine der ursprünglichen Wirkabsicht der Bildsatiren wieder entsprechende Verwendung:64 Eine Auswahl aus Tat gegen Tinte erschien kurz nach dem Krieg in der Sowjetischen Besatzungszone, wo Hanfstaengls Bücher indiziert waren, in einer um Hanfstaengls Kommentare getilgten Version unter dem Titel Hitler, wie ihn die Welt sah,65 mit dem Ziel einer nun antifaschistischen Rekontextualisierung. 1965 folgte in der Bundesrepublik eine umfangreichere Ausgabe, die Hanf­ staengls Kommentare als Zeitdokumente bestehen lässt, aber wiederum punktuell mit didaktischen Richtigstellungen neutralisiert,66 bevor im Darmstädter Melzer-Verlag 1973 und 1983 eine weitere Neuausgabe mit kommentierendem Vorwort veröffentlicht wird.67 Der sprachlich geführte Deutungskampf um ‚Wahrheit‘ und ‚Unwahrheit‘, ‚Entstellung‘ und ‚Fälschung‘ satirischer Darstellungen hielt also weit über den ursprünglich intendierten Wirkradius hinaus an.

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Vgl. dazu auch Albrecht, „Die Wahrheit folgt der Erfindung auf dem Fuß“, S. 27–30. Wagner (Hrsg.), Hitler, wie ihn die Welt sah. Battenberg (Hrsg.), Marginalien zur Geschichte 1. Zum dort gewählten Vorgehen vgl. Albrecht, „Die Wahrheit folgt der Erfindung auf dem Fuß“, S. 28–30. Hitler in der Karikatur der Welt. Hierbei handelt es sich um Nachdrucke der Volksausgabe. Andrea Albrecht exemplifiziert, dass „[d]er 1958 gegründete Melter-Verlag […] es sich zum Ziel gesetzt“ hatte, „deutschen Lesern die im Dritten Reich verbotenen Bücher wieder zugänglich zu machen und zählte darunter ironischerweise nun auch Hanfstaengls Karikaturensammlung, obgleich diese während der Zeit des Nationalsozialismus nie verboten war“ (Albrecht, „Die Wahrheit folgt der Erfindung auf dem Fuß“, S. 28, Anm. 32).

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Bildquellen Abb. 1.: Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 151. Abb. 2: Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 42f. Abb. 3: Hanfstaengl, Hitler in der Karikatur der Welt 1933, S. 171. Abb. 4: Hanfstaengl, Hitler in der Kariaktur der Welt 1933, Schutzumschlag.

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Karikatur und Widerstand in Iran. Perspektiven einer Visuellen Ethnologie des Politischen Mirco Göpfert

Einleitung Auch wenn ich erwartet hatte, dass Karikatur und Satire in Iran in enger Artikulation mit Fragen des Politischen stehen, unter anderem vermittelt über die Grenzen des Sag- und Zeigbaren, so war ich doch überrascht, mit welcher Vehemenz sich diese Artikulation darbot, als ich 2015 mit meiner Forschung in Iran begann: Im Januar sprach das Iranische Haus der Karikatur von einem „Schwarzen Freitag“ als fünf französische Karikaturisten bei dem Terroranschlag auf Charlie Hebdo in Paris getötet worden waren. Im Februar veranstaltete dasselbe Haus der Karikatur den zweiten internationalen Holocaust Karikatur und Cartoon Wettbewerb. Im Mai wurde die damals 29-jährige Karikaturistin und politische Aktivistin Atena Farghadani zu zwölf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, weil sie Mitglieder des iranischen Parlaments mit Tierköpfen gezeichnet hatte. Im November wurde der iranische Karikaturist Hadi Heidari festgenommen wegen einer Karikatur, die iranische Soldaten im Iran-Irak-Krieg zu beleidigen schien. Zwei Tage nach Heidaris Festnahme wurden die Preise des Aydın Doğan Festivals verliehen, einem der größten internationalen Karikatur und Cartoon-Ereignisse; unter den ersten drei Preisträgern waren mit Mohsen Nouri Najari und Jalal Pirmarzabad zwei iranische Karikaturisten. Charlie Hebdo hatte mit den Mohammad-Karikaturen etwas gezeigt, was nicht gezeigt werden durfte; der Holocaust Karikatur-Wettbewerb sollte zeigen, was nicht gezeigt werden durfte; Atena Farghadani und Hadi Heidari hatten etwas gezeichnet, was nicht gezeigt werden durfte. Aydın Doğan zeigt jedes Jahr, wie präsent iranische Karikaturist*innen in der globalen Karikatur-Szene sind (seit 2014 war nur ein einziges Mal keine iranische Karikaturist*in unter den ersten drei Preisträger*innen). Die rezente iranische Karikatur-Szene ist enorm dynamisch und international sichtbar. Gleichzeitig – oder gerade deswegen – ist die Praxis des Karikierens in Iran durchzogen von politischen Potenzialen, Unterstellungen und Fallstricken. 156

Karikatur und Widerstand in Iran. Perspektiven einer Visuellen Ethnologie des Politischen

In diesem Kapitel versuche ich, zwei Dinge zu tun. Zum einen skizziere ich eine idealtypische Taxonomie des Karikierens in Iran, und zwar anhand einer idealtypischen Unterscheidung dreier Widerstandsformate, die sich in ihrer Gestalt und Amplitude anhand ihres jeweiligen Umgangs mit spezifischen Grenzen des Sag- und Zeigbaren unterscheiden. Zum anderen möchte ich mein gegenstandsbegründetes Interesse an einer Theorie des Widerstands zum Ausdruck bringen, die die Gleichzeitigkeit und komplexen Verschränkungen verschiedener Widerstandsformate mitdenken und artikulieren kann. Hierfür werde ich drei wesentliche Schritte tun. Zunächst werde ich einen kursorischen Überblick über die Geschichte von Satire und Karikatur in Iran geben. Anschließend umreiße ich die jüngere ethnologische Beschäftigung mit dem Widerstandsbegriff, um ein begriffliches Provisorium für eine visuelle Ethnologie widerständiger Praxis zu skizzieren. Schließlich wende ich mich drei idealtypischen Artikulationen von Karikatur und Widerstand in Iran zu: den durch die Praxis der Karikatur vermittelten reformistischen, anti-imperialistischen und nicht-politischen Gestalten von Widerstand. Am Ende bleibt die unangenehme Frage der Wirkmächtigkeit von Widerstand, oder die ihrer sozialen und kulturellen Produktivität.

Historischer Abriss über Satire und Karikatur in Iran Weit verbreitete Stereotype machen es bisweilen notwendig, das Banale zu unterstreichen – so auch hier: Humor und Satire sind weder im Iran noch in anderen mehrheitlich muslimischen (oder als muslimisch bezeichneten) Gesellschaften ein unbekanntes Phänomen oder eines, das erst im 20. Jahrhundert aufgekommen wäre. (Wie sollte es auch anders sein!) Ich selbst bin nicht kompetent, um auf die Humoristen der klassischen arabischen und persischen Literatur einzugehen; dies haben aber andere schon hinreichend getan. Ulrich Marzolph, Philologe aus Göttingen, zeigt in seinem Aufsatz „The Muslim Sense of Humor“ sehr eindrücklich, dass es seit Anbeginn des Islam (also bereits im Koran und den Hadithen) eine theoretische Auseinandersetzung darüber gab, wie und worüber im Islam gescherzt werden sollte, die zu keinem Zeitpunkt die Existenz des Scherzes im Islam geleugnet hätte;1 er zeigt auch, dass jenseits dieser theoretischen Auseinandersetzungen mit Lachen und Scherzen in arabisch- und persischsprachigen Gesellschaften Komik – und zwar in all seinen Facetten: höflich, bissig, intellektuell, schmutzig, usw. – ein nicht wegzudenkender Bestandteil literarischer oder folkloristischer Erzähl-Genres war.2

1 2

Marzolph, Muslim Sense of Humour. Siehe auch Farjami Iranian Political Satirists.

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Mit Aufkommen der Massenpresse im 19.  Jahrhundert wurde Satire (Persisch: tanz)3 zu einem wichtigen Bestandteil der medialen Kommunikation im öffentlichen Raum in weiten Teilen der Welt  – so auch in Iran. Die ersten iranischen Satirezeitschriften erschienen um 1900. Insbesondere im Kontext der konstitutionellen Revolution um 1906 entstand in Iran eine freie Presse, die sich auch satirischer Ausdrucksformen bediente.4 Seither wechselten sich kurze Phasen der Liberalisierung und Öffnung ab mit Zeiten konsequenter Restriktion. Unter der Herrschaft von Reza Shah Pahlavi von 1925–41 war an eine freie Presse kaum zu denken. Gegen Ende der 1940er Jahre und unter der Regierung des Premierministers Mossadegh war eine beachtliche Liberalisierung auch der Presselandschaft zu spüren. In dem von den USA inszenierten Coup von 1953 wurde Mossadegh abgesetzt, Shah Mohammad Reza Pahlavi kehrte gestärkt zurück an die Macht und die Tendenz zu politischem Pluralismus fand ein jähes Ende. 1957 wurde die Geheimdienstorganisation und politische Polizei SAVAK gegründet, eine „iranische Gestapo“, wie sie meine iranischen Gesprächspartner*innen nannten. Die SAVAK infiltrierte nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche, folterte und exekutierte Oppositionelle; an Presse- und Meinungsfreiheit war kaum zu denken; Satire – geschriebene wie gezeichnete – wurde allein des Selbstschutzes der Satiriker*innen wegen immer symbolhafter und allegorischer, verlor damit die Klarheit und Schärfe, die sie noch unter Mossadegh ausgezeichnet hatte.5 Nach der Islamischen Revolution von 1978/​79 hat sich das restriktive Milieu kaum verändert. Erst in den 1990er Jahren wurden Liberalisierungstendenzen spürbar, die auch die satirische Presse wiederbelebten. Unter der Präsidentschaft von Hashemi Rasfanjani von 1989 bis 1997 blieben die Zeichen des Regimes noch ambivalent: „aufbauende Kritik“ war erwünscht; kritische Stimmen wurden weiterhin eingeschüchtert. Wie Katja Föllmer beschreibt, war „die Kritik vor 1997 … nicht unmöglich, aber eingeschränkt. Die Satire stellte sich in dieser Zeit in den Dienst der islamischen und revolutionären Werte, welche die Geistlichen und ranghohen Politiker von der Kritik ausnahm. Satirische Kritik über den Revolutionsführer, die Religion, die Revolution, den Krieg mit Irak, über moralische Fragen, den Laizismus u.v.m. waren tabu.“6

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begriffliches: Katja Föllmer: Begriffsfeld (hagw, hazl, fokâhe…) eher deskriptiv und ohne einheitliche Systematisierung oder Abgrenzung. Überbegriff: „tanz“/​Satire (52–3). Auch Karikaturen wurden gedruckt, spielten jedoch laut Katja Föllmer (2008: 1) eine dem satirischen Text nur untergeordnete Rolle. Föllmer, Satire in Iran, S. 28. Ebd., S. 256.

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Der Sieg der Reformbewegung von Mohammad Khatami 1997 brachte eine Blüte der politischen Satire und Karikatur in Iran, die allerdings nur bis 2005 anhielt. Unter der anschließenden achtjährigen Präsidentschaft des konservativen Mahmud Ahmadinejad folgte die kompromisslose Unterdrückung gerade zuvor gewonnener Freiheiten. Als nach Ahmadinejad der gemäßigte Hassan Rouhani zum Präsidenten gewählt wurde, waren wieder Liberalisierungstendenzen zu erkennen, untermauert durch die kurzzeitigen Hoffnungen, die mit dem Nuklearabkommen von 20157 in großen Teilen der iranischen Bevölkerung aufkamen. Viele meiner Gesprächspartner*innen in Iran nahmen die nun langsam wiederkehrenden Freiheiten zwar gerne an, blieben jedoch skeptisch. Angesichts der Inhaftierung namhafter Karikaturist*innen seither ist dies nicht verwunderlich. Die Karikaturist*innen, mit denen ich seit 2015 in Iran und im Exil gesprochen habe, erscheinen als eine recht homogene Gruppe. Die meisten sind gut ausgebildet, haben studiert, kommen aus vergleichsweise wohlhabenden Familien – Mittelklasse, könnte man sagen – und haben einen spürbaren Sinn für die eigene Kultiviertheit. Ihrer eigenen Darstellung zufolge arbeiteten die einen vornehmlich als Editorial Cartoonists für Zeitungen und Zeitschriften, während die anderen in erster Linie für Festivals und Wettbewerbe zeichneten; die einen arbeiteten vor allem mit „weißem Humor“, der einen zum Lachen bringe, die anderen mit „schwarzem Humor“, der einem das Lachen im Halse feststecken lasse. Schließlich gäbe es jene, die gegen, und jene, die für das Regime Widerstand leisteten.

Widerstand in der Ethnologie Als Fach, das sich im Vergleich zu anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen recht früh mit marginalisierten Gesellschaften und gesellschaftlichen Gruppen weltweit beschäftigt hat, legte die Ethnologie auch recht früh eine gewisse Affinität für Widerstandsphänomene an den Tag. Fragte die Ethnologie des Politischen noch in den 1940er Jahren zwar vor allem nach politischen Strukturen, Ämtern und Institutionen in außereuropäischen Gesellschaften, also letztlich nach der Möglichkeit politischer Organisationsformen jenseits des europäischen Modells des Nationalstaats, so rückte spätestens seit den 1950er Jahren die Frage des Widerstands (oder der Möglichkeit von Widerstand) in den Fokus. Die bis dato ethnologisch „beforschten“ Gesellschaften mobilisierten zum Teil massive Unabhängigkeits-, also Widerstandsbewegungen gegen die Kolonialmetropolen und auch das theoretische Interesse der Politikethnologie verschob sich weg von der Frage nach politischen Systemen hin zur Frage nach politischen Konflikten und strategischem, auch widerständigem Handeln. 7

JCPOA: Joint Comprehensive Plan of Action.

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Den vielleicht nachhaltigsten Impuls für die ethnologische Beschäftigung mit Widerstand lieferte James Scott mit seinem Buch „The Weapons of the Weak“.8 Hier beschreibt er die alltäglichen widerspenstigen Praktiken subalterner Gruppen, insbesondere der meist benachteiligten Landbevölkerung, gegenüber einem hegemonialen Staat oder einer dominanten Elite: lügen, sich verstecken oder weg gehen, sich bedeckt halten, nicht kooperieren, usw. Mit dem Blick auf solche gewissermaßen leisen und unaufgeregten Praktiken der alltäglichen Widerspenstigkeit im Gegensatz zu offen artikuliertem Widerstand und Aufständen in politischen Konflikten, trat auch das subalterne, übermächtigte Subjekt als Akteur*in zurück ins Feld der Geschichte und Politik.9 Diese Banalisierung von Widerstand und Ermächtigung der Subalternen – kombiniert mit einer von Michel Foucault inspirierten Machtsensibilität – stieß auf deutliche Resonanz in der Ethnologie. Kritische Gegenreaktionen kamen prompt. Lila Abu-Lughod kritisiert die Tendenz zur ethnologischen Romantisierung (und damit der reduktionistischen Moralisierung) von Widerstand und schlägt stattdessen vor, Widerstandspraktiken nicht bloß um ihrer selbst willen zu erforschen, sondern als Teil einer historisch umfassenderen und komplexeren Machtdiagnostik. Sie kehrt das Foucault’sche Diktum „Wo Macht ist, ist Widerstand“ um und sagt „Wo Widerstand ist, ist Macht“ und will Machtprozesse so vermittelt über die komplexen Verstrickungen und Formen widerständiger Praxis empirisch erforschbar machen.10 Sherry Ortner schließt sich der Kritik an. Sie bescheinigt der ethnologischen Widerstandsforschung in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren einen Mangel an ethnographischer Dichte und Ernsthaftigkeit  – auch begründet in der romantisierenden Vereinfachung, die Abu-Lughod anmahnt. Aus dem Blick heraus fielen die interne Politik von subalternen Widerstandsbewegungen, die soziale und subjektive Komplexität von Widerstandspraktiken, aber auch die vielschichtigen Verknüpfungen und Entkopplungen zwischen den Herrschenden und Beherrschten.11 Michael Brown geht noch einen Schritt weiter und kritisiert insgesamt den aus seiner Sicht einseitigen Trend in ethnologischer Macht-, Hegemonie- und Widerstandsforschung. Das Gros ethnologischer Widerstandsforschung sei nicht bloß zu wenig ethnographisch; es sei insgesamt deplatziert. Dieser Trend produziere ein recht reduktionistisches Weltbild, womöglich unterfüttert von einem moralisierenden ethnologischen Berufsethos, der letztlich aber die Vielschichtigkeit menschlicher Kreativität und Schaffenskraft aus dem Blick verliere. Was bleibt, sei ein analytisch fragwürdiger Wert des Widerstandsbegriffs.12

8 9 10 11 12

Scott, Weapons of the Weak. Scott, Everyday Froms of Resistance. Abu-Lughod, The Romance of Resistance, S. 42. Ortner, Resistance, S. 190. Brown, On Resisting Resistance.

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Die Kritik an Widerstandsforschung war ähnlich nachhaltig wie der anfängliche Impuls von James Scott. Erst seit den 2010er Jahren findet eine explizite Rehabilitierung des Widerstandsbegriffs und der Widerstandsforschung in der Ethnologie statt, insbesondere in Gestalt einer Forschung zu Widerstandsbewegungen. John Gledhill schließt sich im Grunde der Kritik von Sherry Ortner an, benennt aber „contentious politics“ dezidiert als ethnologisches Forschungsdesiderat.13 Damit nimmt er Abstand von James Scotts alltäglichen Formen unorganisierter Widerständigkeit und wendet sich kollektiven, intendierten und konzertierten Widerstandspraktiken zu.14 Dimitrios Theodossopoulos (2014) argumentiert ebenso explizit für die Rehabilitation der ethnologischen Widerstandsforschung. Ihm zufolge wirkten so manche ethnologischen Zugriffe auf Widerstand pathologisierend und exotisierend, im Grunde durch die meist untertheoretisierte Anwendung des Widerstand-Begriffs (als „Label“) auf verschiedenste Bewegungen und Phänomene. Eine der besonderen Herausforderungen ethnologischer Widerstandsforschung sei die Frage, wie die widerständigen Akteure mit der Unabgeschlossenheit von Widerstand umgehen, also dem üblichen Ausbleiben eines erfolgreichen Endes. Wie wechseln die Akteure aus dem Register des Widerstands hin zu den banalen Angelegenheiten des Alltags? Wie wird die Komplexität und Ambivalenz von Widerstand aus Sicht der Akteure erfahren?15 Anknüpfend an diese Fragen geht es mir darum, zu verstehen, was Widerstand bedeutet in einem Kontext, in dem es an selbstbewussten Widerstandsdeklarationen unterschiedlichster Couleur nicht mangelt, in dem mir bestimmte Widerstandsformen (entgegen der vermeintlich romantisierenden Grundstimmung ethnologischer Widerstandsforschung) als fundamental problematisch erscheinen16 und in dem auch für die Akteur*innen des empirischen Feldes (gewissermaßen à la Foucault) die Unterscheidung zwischen Macht und Widerstand (und der möglicherweise paradoxen Verbindungen) eher eine Frage der Perspektive als von ontologischer Verschiedenheit darstellen.17 Da das Zeigen und Sehen im Zentrum der Praxis des Karikierens steht, egal um welches vermeintliche Kritik, Widerstands- oder Propagandaformat es sich handeln mag, spreche ich von einer Visuellen Ethnologie des Politischen. Timothy Mitchell hat eindrucksvoll gezeigt, welche machtvollen Effekte die Praxis des Zeigens und Betrachtens im Kontext kolonialer Ermächtigung und orientalistischer Imagination entfalten kann, insbesondere im Format der Ausstellung, durch die Wirklichkeitsversprechen des ausgestellten Modells (also die Repräsentation einer exotischen Wirklichkeit), durch die distanzierende Perspektive der Betrachtenden und der Objektivierung

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Gledhill, Introduction. Siehe auch Chandra, Rethinking Subaltern Resistance. Theodossopoulis, On De-Pathologizing Resistance, S. 425–6. Siehe auch Smedal, Resistance as a Problem. Heller, Power, S. 99; zu den paradoxen Effekten subversiver Praxis siehe Bozzini, The Catch-22, S. 42.

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des Betrachteten mit dem Ziel, das fremde Ding „wirklich“ zu erfahren und zu verstehen.18 Im Falle der Karikatur verhält es sich zwar ein wenig anders, da das Dargestellte kein Wirklichkeitsversprechen ausdrückt, sondern eine zaghafte Wahrheitsoption. Es geht den Karikaturist*innen nicht um wirklichkeitsgetreue Repräsentation, sondern um die Möglichkeit des Zugangs zu einer Wahrheit jenseits eines visuellen Naturalismus. Nicht der blanke Realismus soll Zugang zur Wahrheit verschaffen, sondern die schreiende Fiktion. Doch diese fiktional vermittelte Wahrheitsoption ist nicht weniger machtvoll (oder widerständig) als der Realismus der Ausstellung. Als pragmatischer, heuristischer Zwischenschritt soll eine vorläufige Arbeitsdefinition auf der Basis eines recht breiten sozialwissenschaftlichen Konsenses dienen, wie ihn Jocelyn Hollander und Rachel Einwohner herausgearbeitet haben: Widerstand sei erstens eine Handlung und zweitens richte sie sich gegen etwas, ist Opposition, oppositionelle Reaktion.19 Also was tun Karikaturist*innen in Iran? Und gegen wen oder was ist das gerichtet?

Karikatur und Widerstand in Iran Viele Karikaturist*innen in Iran beschreiben sich selbst auf die eine oder andere Art als Widerständler*innen. Wie verlockend dieses Label auch sein mag, hinsichtlich der Karikatur-Szene in Iran ist es partiell irreführend, zumindest nicht ganz selbstevident. Die nun folgende Taxonomie ist ein vorläufiger Versuch, die Praxis des Karikierens in Iran anhand von drei unterschiedlicher Formen zu skizzieren, und zwar in enger Anlehnung an die Beschreibungen der Karikaturist*innen selbst. Diese Taxonomie stellt eine recht grobschlächtige Idealtypisierung dar, die zwar hilfreich bei der Annäherung an das Phänomen Karikatur in Iran sein mag, allerdings in Auseinandersetzung mit einzelnen Karikaturist*innen angesichts der Einfachheit des Modells nur begrenzten Wert besitzt. Die meisten Karikaturist*innen lassen sich nicht eindeutig dem einen oder anderen Typ zuordnen, sondern bewegen sich zwischen den Formen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, und würden sich selbst ebenfalls nur in idealtypisierender Selbstbeschreibung einer der folgenden Formen zuschreiben.

Reformistischer Widerstand Zu Beginn meiner Beschäftigung mit Karikatur und Satire in Iran, erwartete ich, dass die große Mehrheit der Karikaturist*innen eine dem Regime gegenüber kritische oder ablehnende Position einnimmt. Und in der Tat, viele Karikaturist*innen, die ich kennengelernt habe, würden 18 19

Mitchell, Colonizing Egypt. Hollander/​Einwohner, Conceptualizing Resistance, S. 538.

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sich als Reformist*innen bezeichnen und waren in der einen oder anderen Weise in die „Grüne Bewegung“ involviert, einen politischen Massenprotest 2009 gegen die umstrittene Wiederwahl des Hardliners Mahmoud Ahmadinejad zum Präsidenten. Sie beschreiben sich selbst als Aktivist*innen oder Artivist*innen in ihrem künstlerischen Widerstand gegen das iranische Regime oder seine repressiven Exzesse. Karikatur ist für sie ein Medium der Kritik, des Protests, der aktivistischen Kunst. Im Kern ihrer Tätigkeit als Karikaturist*innen steht das Verhältnis zu den Regeln des Sag- und Zeigbaren in Iran – als Rahmen Ihres Tuns und als Thema der Auseinandersetzung. Hadi Heidari ist einer der wohl berühmtesten reformistischen Karikaturist*innen in Iran. Er ist Karikaturist und Satire-Ressortleiter der Zeitung Shahrvand oder „Bürger“. Er bezeichnet sich selbst als politisch und auch andere nennen ihn politisch. Viele seiner Zeichnungen thematisieren aus einer reformistischen Perspektive gegenwärtige politische Prozesse in Iran, deuten beispielsweise auf den ambivalenten Charakter demokratischer Parlamentswahlen hin (zu der nur zugelassen wird, wer der Prüfung durch den konservativen Wächterrat der Islamischen Republik besteht). Darüber hinaus thematisieren seine Bilder ganz explizit die Grenze des Sag- und Zeigbaren, z. B. mit der Schere als Symbol der staatlichen Zensur. 2015 wurde Hadi Heidari inhaftiert für eine Karikatur, die eine Reihe von Männern zeigte, einer hinter dem anderen, in der jeder dem Vordermann eine schwarze Augenbinde anlegte. Die iranische Justiz war der Ansicht, dass dies zu sehr nach dem Stirnband iranischer Soldaten im Iran-Irak-Krieg aussah, das sich die jungen Männer gegenseitig umbanden, bevor sie in die Schlacht zogen, und damit suggerierte, dass sie blind in den Krieg ziehen würden. Hadi Heidari verbrachte ein Jahr im Gefängnis. Die eingangs erwähnte Atena Farghadani ist eine weitere zeichnende Aktivistin, die die Grenze des Sag- und Zeigbaren im Iran überschritten hatte. 2015 wurde sie zu zwölf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt wegen einer Karikatur, die iranische Parlamentsabgeordnete mit Affen- und Kuhköpfen zeigte, während sie über einen Gesetzesentwurf abstimmten, der freiwillige Sterilisation verbieten und den Zugang zu Verhütungsmitteln erschweren würde. Ihr Strafmaß wurde später auf 18 Monate verringert. Im Gegensatz zu der recht ambivalenten und symbolhaften Bildsprache von Hadi Heidari und Atena Farghadani stehen die bisweilen recht expliziten Bilder von Mana Neyestani. Der regimekritische Karikaturist und Graphic Novelist Neyestani lebt mittlerweile im französischen Exil. Er war 2006 inhaftiert worden, nachdem eine seiner Karikaturen zu erheblichen Protesten unter iranischen Azeri führte, die sich durch sein Bild beleidigt fühlten. Infolge der Proteste gab es heftige Zusammenstöße mit der Polizei, bei denen 19 Menschen starben. Bei einer kurzfristigen Haftunterbrechung floh Neyestani mit seiner Frau ins Ausland, schließlich nach Frankreich. Seit Neyestani in Paris lebt, ist seine Bildsprache sehr viel expliziter geworden  – bis hin zur zeichnerischen, sogar offen despektierlichen Darstellung der Supreme Leader Khomeini und Khamenei. 163

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Bei allen dreien – Heidari, Farghadani und Neyestani – geht es um die Grenzen des Sag- und Zeigbaren in Iran und um Kritik am Regime. Der Klerus, die politische Elite (oder besser: politische Institutionen wie das Parlament), sind vom Zeigbaren ausgenommen, gleichzeitig sind es gerade sie, die im Zentrum der Kritik stehen. Karikaturist*innen im Iran lernen, damit umzugehen; zu provozieren ohne sich zu gefährden. Sie benutzen Symbole, die vom Betrachter gedeutet werden; Auslassungen und Leerstellen, die vom Betrachter gefüllt werden. Iranische Karikaturist*innen im Ausland – wie Neyestani – sind diesen Einschränkungen nicht unterworfen, machen sie aber genauso zum Gegenstand ihrer Bilder – nur noch expliziter. Zwar behaupten manche, dass durch den Mangel an Zwang zur Mehrdeutigkeit (also Ambivalenz als Selbstschutz) und durch die nunmehr expliziten Darstellungen bei Neyestani und anderen die künstlerische Qualität dieser Karikaturen leide (weil das Karikieren ohne Grenzen des Sag- und Zeigbaren so einfach würde), doch das schmälert nicht den außerordentlichen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad dieser Karikaturist*innen in Iran wie auch in der iranischen Diaspora-Community weltweit.

Anti-imperialistischer Widerstand Darüber hinaus gibt es in Iran einen Typ von Widerstands-Karikatur und eine Gruppe von Karikaturist*innen, die sich lautstark als Widerständler*innen bezeichnen, die mich als naiven Iran-Neuling aber zunächst irritierte. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass das Format des Widerstands, das sich hinter der Künstlervereinigung mit dem Namen „Widerstandskunst“ verbirgt (Persisch: honar moghâvemat), ein anderes ist als das der Widerständler*innen, die ich in Iran erwartet hatte. Widerstand im Sinne der Widerstandskunst meint, so die Organisation selbst: „defense against all tyrannies and violations, defense against all evils and darkness, … means defense against all exclusiveness, oppression and injustice, … means defending human dignity and freedom, means defense against villainy, terror and aggression …“20

Soweit scheint das von der Organisation artikulierte Verständnis von Widerstand noch einigermaßen konsensfähig, auch über politische Positionen hinweg. Übersetzt wird diese abstrakte Position in konkreten Karikatur-Wettbewerben und Ausstellungen, beispielsweise gegen die bisweilen wahnwitzigen politischen Forderungen und Taten eines Donald Trump, gegen die 20

Sadegh Abdoli, POSTER COMPETITIONS, aufgerufen am 24.02.2020, http://​www.posterpage.ch/​ compet/​13resi.htm.

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bisweilen an Zynismus grenzende Einwanderungspolitik der Europäischen Union, auch gegen den international mehrheitlich verurteilten Siedlungsbau Israels im Westjordanland. Doch die Definition von Widerstand geht weiter und nimmt noch expliziter Stellung gegen die Auswüchse des amerikanischen Imperialismus: „Resistance … means defense against the Great Satan [i.e. the United States], means defending holy Quds and Palestinian oppressed nation in the land of prophets, … means displaying the frequent oppressions in Guantanamo and Abu Ghraib, the secret and terrifying prisons of Capitalist world, means defending humans throughout the world. “

Diese Passage stammt aus der Ankündigung des „Dritten Internationalen Kunst Festivals des Widerstands“ (International Art Festival of Resistance) von 2013.21 Die für diese Veranstaltung verantwortliche Künstlervereinigung „Widerstandskunst“ ist auch Mit-Organisatorin diverser Karikatur- und Cartoon-Wettbewerbe, darunter der „International Holocaust Cartoon Contest“. Dieser Wettbewerb wurde zum ersten Mal 2006 und als explizite Antwort auf die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands Posten veranstaltet.22 2016 fand der zweite Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb statt; die Vorbereitungen hierfür begannen, nachdem Charlie Hebdo nach dem Terroranschlag weitere Mohammed-Karikaturen veröffentlichte. Bei diesem Wettbewerb ging es um ein Preisgeld von insgesamt 50 000 US-Dollar, und damit um mehr als das Doppelte des Preisgeldes beim „Oscar“ der Karikatur, der Aydin Dogan International Cartoon Competition in der Türkei, und zog außerordentliche internationale Aufmerksamkeit auf sich. In Interviews auch mit europäischen Pressevertreter*innen betonten die Organisatoren stets, dass der Wettbewerb keinesfalls den Holocaust leugnen, sondern bloß die Frage stellen solle, weshalb die unschuldige palästinensische Bevölkerung die Konsequenzen des von Nazi-Deutschlang begangenen Holocaust tragen müsste. Wieso, so die Organisatoren, erlaube der frühere Holocaust (durch Nazi-Deutschland, gegen Juden) nun einen zweiten Holocaust (durch Israel, gegen Palästinenser)?23 Darüber hinaus solle dieser Wettbewerb ins Gedächtnis rufen, dass auch „der Westen“, der sich ständig als Verteidiger der Meinungs- und Redefreiheit geriere, der nicht müde werde, den Iran für die öffentliche Zensur zu rügen, für die Begrenzung der Meinungs- und Redefreiheit,

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Ebd. O. A., Iranian TV Report, aufgerufen am 24.02.2020, https://​www.memri.org/​tv/​iranian-tv-report-international-holocaust-cartoon-contest-tehran. Ziv, HE BIGGEST LOSER, aufgerufen am 24.02.2020, https://​www.newsweek.com/​opening-holocaust-cartoon-contest-exhibition-tehran-provokes-continued-461286.

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für die vielen Grenzen des Sag- und Zeigbaren, dass selbst dieser Westen solche Grenzen habe. Wieso würden denn sonst „Wissenschaftler“ wie Robert Faurisson juristisch belangt, wenn sie mit „seriöser Analyse“ versuchen, ein historisch „akkurates“ Bild der Geschehnisse in Auschwitz zu darzustellen? (Faurisson ist seit 1991 in Frankreich mehrmals wegen Holocaust-Leugnung gerichtlich verurteilt worden.) Wieso denn sonst würden in Europa Karikaturist*innen festgenommen, die unliebsame Bilder zeichneten? Als Beispiel wurde meist der Fall Zeon angeführt. Zeon, ein französischer Karikaturist, wurde 2015 kurzzeitig festgenommen wegen eines – mit seinen eigenen Worten – „anti-zionistischen“ Cartoons (mit dem Vorwurf der antisemitischen Hetze). Im Jahr nach seiner Festnahme gewann Zeon den Holocaust-Wettbewerb; Preisgeld: 12 000 US-Dollar. Die Organisatoren des Holocaust-Karikaturen Wettbewerbs sahen die Veranstaltung also auch als direkte Reaktion auf die Rede- und Zeigeverbote im „Westen“.

Nicht-Politischer Widerstand Neben den politisch motivierten Karikaturen des reformistischen und anti-imperialistischen Widerstands standen Karikaturist*innen, die eigentlich gar nicht widerständig sein wollten, weder in der einen, noch in der anderen Form; Karikaturist*innen, die gar nicht politisch sein wollten. Bei Karikatur gehe es um „bloße Berichterstattung“, um eine Kreuzung aus Anthropologie und der sauren, aus getrockneten Früchten hergestellten Süßigkeit „Lavâshak“ oder um „Kunst“. Die Aussage, dass Karikatur bloß Berichterstattung sei, geht in Iran auf den berühmten Karikaturisten Ardeshir Mohasses zurück. Der von vielen als Vater der iranischen Karikatur des 20. Jahrhunderts bezeichnete Mohasses sagte von sich selbst (in einem Gespräch mit dem Dichter Esmail Khoi): Ich bin bloß ein Reporter. Karikatur, Kunst, verändert nichts. „The only think that one can say is that artists in each period of history leave a record so that people in the future will know about their time“.24 Der Karikaturist Rezaei25 sagte mir etwas ganz Ähnliches, fügte jedoch hinzu, dass diese Art der Berichterstattung dem Publikum immerhin weh tun sollte: „My pictures should give you a shock, like a needle that goes through the layers of fat and then it touches your nerves. “ Die Beschreibung von Karikatur als Ensân-shenasi bâ ezâfe-ye lavâshak, also als Ethnologie gekreuzt mit einer sauren Süßigkeit, lässt etwas mehr Raum für Leichtigkeit und Lachen: Karikatur resultiere, so der Karikaturist Massoud, aus der aufmerksamen Beobachtung des Menschen, der Erforschung seiner Kultur, sei letztlich also eine pointierte Beschreibung der Dissonanzen des menschlichen Lebens, der conditio humana oder des gesellschaftlichen status quo. Dergestalt 24 25

Neshat/​Nodjoumi, Ardeshir Mohassess, S. 35. Die Namen meiner Gesprächspartner*innen sind anonymisiert.

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bringe Karikatur zum Nachdenken, manchmal auch zum Lachen, rüttele aber in jedem Fall die eingeschlafenen Lebensgeister wach wie der beherzte Biss in eine Zitrone. Letztlich, da sind sich die beiden genannten Beschreibungen mehr oder minder einig, handele es sich bei Karikatur um Kunst. Und Kunst definiere sich gerade dadurch, dass sie nicht politisch sei. Die Karikaturistin Neda sagte mir, dass viele Karikaturist*innen in Iran diesem Anspruch aber nicht gerecht würden. Karikatur müsse mehr, müsse größer sein als das. Es solle nicht darum gehen, für oder gegen jemanden oder etwas zu sein. Karikaturist*innen sollen unabhängig sein, den Schmerz des Menschen spüren, aus diesen alltäglichen politischen Spielereien ausbrechen. Das Politische sei ein Feld binärer antagonistischer Beziehungen und ideologischer Positionen. Karikatur müsse größer sein als das, müsse Kunst sein. Karikaturist*innen dieses Types geht es also nicht so sehr um Widerstand, weder gegen die Grenze des in Iran Sag- und Zeigbaren, noch gegen diejenigen, die diese Grenzen setzen (oder zu setzen meinen). Es geht auch nicht darum, Dissonanzen aus der Gesellschaft aufzulösen, sondern darum, sie zu verstärken. Es gehe um Beschreibung, nicht Veränderung; um Berichterstattung, nicht Aktivismus. Diesen Karikaturist*innen geht es darum, sich nicht von (wie Rezaei sagte: „vulgären“) schwarz-weiß Oppositionen vereinnahmen zu lassen. Es gehe darum, sich nicht vom Politischen vereinnahmen zu lassen. Doch das ist nicht leicht. Beispielsweise mit dem bereits erwähnten Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb fand einer der höchstdotierten internationalen Karikatur- und Cartoon-Wettbewerbe der vergangenen Jahre statt. Die recht niedrigschwelligen Teilnahmevoraussetzungen (z. B. Übersendung einer digitalen Version des Bildes und nicht des Originals; nicht notwendige Englisch-Sprachkenntnisse), das hohe Preisgeld und die wirtschaftlich prekäre Situation vieler Karikaturist*innen stellten hohe Anreize für die Teilnahme auch derjenigen dar, die sich nicht mit dem Kern der Wettbewerbs-Botschaft identifizierten. Durch die Veröffentlichung der Liste der Teilnehmenden auf der Website der Wettbewerbsorganisation, wie es auch bei anderen Widerstands-Kunst-Festivals in Iran üblich ist, gleicht die Teilnahme am Wettbewerb einem politischen Bekenntnis; die Nicht-Teilnahme aber ebenso. Und ebendiese Politisierung wider Willen, die Vereinnahmung durch das Politische, beschrieben viele Karikaturist*innen als besonders schmerzhaft. Die Beschreibung von Karikatur als Reportage, Ethnologie plus saure Süßigkeit oder als Kunst verweist auf den Versuch vieler Karikaturist*innen, sich dem Zwang der politischen Positionierung (für oder wider dieses oder jenes) zu widersetzen – mitunter erfolglos. Denn die Kraft der Unterscheidung zwischen dem, was politisch ist, und dem, was es nicht ist, liegt augenscheinlich nicht bei den Karikaturist*innen. Die Entscheidung für oder gegen die Teilnahme an problematischen Karikaturwettbewerben, für oder gegen das Erscheinen bei besonderen Festivals, lässt keinen neutralen, dritten Ort zu. Hier wird deutlich, dass bereits die Unterscheidung zwischen dem, was politisch, und dem, was es nicht ist, ein fundamental 167

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politischer Akt ist.26 Und es ist eine Unterscheidung, die nur in sehr begrenztem Maße in der Hand der Karikaturist*innen liegt. Daher ist es auch nur in sehr begrenztem Maße für Karikaturist*innen möglich, sich dieser Vereinnahmung zu widersetzen.

Die Produktivität von Widerstand Wenn die drei skizzierten Formen als idealtypische Manifestationen von Widerstand in Iran betrachtet werden sollen und Widerstand vorläufig als oppositionelle Handlung verstanden wird,27 um welche Art von Handlungen handelt es sich und wogegen sind sie gerichtet? Reformistischer Widerstand wendet sich gegen das als repressiv wahrgenommene iranische Regime, und er tut dies in der bildlichen Thematisierung ebendieser Repression und in der punktuellen, häufig unbeabsichtigten Überschreitung der Grenze dessen, was in Iran noch gesagt und gezeigt werden darf. Anti-imperialistischer Widerstand wendet sich gegen die vermeintlichen Allmachtansprüche amerikanischer und „zionistischer“ Couleur und tut dies mit der bildlichen Denunziation ebendieser Machtansprüche sowie mit der ostentativen Überschreitung der angeblich „im Westen“ geltenden Rede- und Zeigeverbote. Es handelt sich also in beiden Fällen um politisch-diskursive Interventionen – Reaktionen – gegen als ungerecht und unrechtmäßig wahrgenommene Macht- und Herrschaftsansprüche. Doch wie effektiv sind diese letztlich reaktiven Widerstandsformate, wie produktiv? Die reformistischen Karikaturist*innen und Karikaturen sind vielfach eine direkte Reaktion auf die Rede- und Zeichenverbote in Iran. Doch durch diese Karikaturen und Karikaturist*innen wird die Repression durch das Regime, die sie anprangern, überhaupt erst sichtbar, spürbar, möglich. Ihre Produktivität, so könnte man sagen, ergibt sich nicht aus der eigenen Reaktivität, sondern aus den Reaktionen, die sie provozieren. Und auch der anti-imperialistische Widerstand, beispielsweis in Gestalt des Holocaust-Karikaturen Wettbewerbs, ist reaktiv, soll Antwort sein – auf den Imperialismus der USA und des Zionismus, auf die Doppelzüngigkeit des „Westens“. In der Reaktion ebendieses Westens aber, also der öffentlichen Empörung und der moralisierenden Überlegenheitsrhetorik, wird eine Antwort provoziert, die genau dem erwarteten Überlegenheitsgebaren entspricht. Und ebendieses anklagbare Gebaren ist ein wesentlicher Baustein eines (gewünschten) kollektiven Imaginären, welche das für die Revolution grundlegende Weltbild aufrechterhält – „to keep their revolution alive“, wie es Narges Bajoghli in ihrem Buch über staatliche Medienproduzent*innen

26 27

Comaroff, The End of Anthropology, Again, S. 530. Hollander/​Einwohner, Conceptualizing Resistance, S. 538.

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in Iran schreibt.28 Also noch einmal, produktiv sind diese widerständigen Interventionen nicht durch die eigene Reaktivität (also als Antwort auf etwas), sondern durch die Reaktionen, die diese Interventionen vielleicht nicht immer heraufbeschworen aber doch erst möglich gemacht haben. Sowohl die reformistische, als auch die anti-imperialistische Karikatur sind demnach in gewissem Maße reproduktiv: Sie Aktualisieren durch die evozierten Reaktionen das eigentliche Ziel der Kritik. Mit dem nicht-politischen Widerstand in Gestalt von „bloßer Berichterstattung“ oder „hehrer Kunst“ verhält es sich anders. Nicht-politische Karikatur ergibt sich nicht in einer Antwort oder Reaktion auf Macht, sondern gerade im Versuch, die Antwort zu verweigern. In dem Versuch, sich der Vereinnahmung durch das Politische zu widersetzen und sich nicht in politische schwarz-weiß Dichotomien des Dafür oder Dagegen einsortieren zu lassen, sind Karikaturist*innen häufig mit der Unmöglichkeit ihres Anliegens konfrontiert. Häufig gibt es keine Nicht-Antwort. Wird die Liste der Teilnehmenden am Holocaust-Karikaturen Wettbewerb veröffentlicht, dieser so hochpolitisierten und hochdotierten Veranstaltung, so bleibt – zumindest auf der Oberfläche  – kein Raum jenseits des Für oder Wider. Mit anderen Worten, der nicht-politischen Karikatur geht es nicht um die Grenze des Sag- und Zeigbaren, sondern um den Ort des Sagens und Zeigens. Es ist die Suche nach einem Ort, von dem aus jenseits des Politischen gesprochen und gezeichnet werden kann. So wenig aussichtsreich diese Suche in so hochpolitisierten Kontexten zu sein scheint, vielleicht liegt gerade hier die leise Möglichkeit von Karikatur, auch jenseits der Reproduktion a priori festgelegter Positionen produktiv zu sein. Der Karikaturist Rezaei verglich die Wirkmächtigkeit von Karikatur in Iran mit der fast unbemerkten, schleichenden Veränderung der Kleidungsgewohnheiten von Frauen in Iran, die seit den 1980er Jahren eine stetig liberalere Tendenz aufweise – doch nicht wegen einer politisch oder aktivistisch erwirkten Lockerung der Kleidungsvorschriften, sondern durch Beharrlichkeit. Nicht durch konzertierte Aktionen, sondern durch Jahre und Jahrzente individueller Akte der (vermutlich nicht einmal als beharrlich wahrgenommenen) Millimeterarbeit (die vermutlich vielfach nicht einmal als Arbeit wahrgenommen wurde): das unbemerkt langsame Verschieben des Kopftuches nach hinten, die schleichende Erweiterung der Palette an Stofffarben und -mustern, der allmähliche und allmählich farbenfrohere Gebrauch von Make-Up, die steigende Beliebtheit von Schönheitsoperationen. Ich bin sehr zurückhaltend, was Rückschlüsse auf die kausale Ursächlichkeit von aggregierten Individualakten nicht-politischer Widerständigkeit angeht, die vielleicht auch gar nicht so heißen wollen. Doch erscheint es mir durchaus plausibel, dass die „weapons of the weak“ – hier: die „weapons of the weak cartoonists“ – durchaus mehr sein können als Verzögerung und Verstecken, dass nämlich in den diskursiven Verschiebungen, die sie ermöglichen, auch Räume für Veränderung entstehen. 28

Bajoghli, Iran Reframed, S. x.

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Schlussbemerkung Die drei skizzierten Idealtypen des Karikierens in Iran sind steril und isoliert betrachtet wenig aufschlussreich; erst ihr Nebeneinander und ihre Verkettung ergeben Sinn. Eine Visuelle Ethnologie des Politischen, die sich der Brüche, Widersprüche und Verschiebungen annehmen würde, müsste fragen, wie sich Karikaturist*innen zwischen und quer von diesen Idealtypen bewegen? Was passiert, wenn Donald Trump zur erklärten Zielscheibe der anti-imperialistischen „Widerstandskunst“ in Iran wird, ebendiese Künstlervereinigung zum Karikaturen-Wettbewerb zu „Trumpism“ aufruft, reformistische Karikaturist*innen Trump aber ebenso verabscheuen? Und was bedeutet es, wenn der Druck der politischen Positionierung so groß wird, dass sich mehr und mehr Karikaturist*innen dem (mindestens zum Anschein) entziehen wollen? Karikaturen  – ob reformistisch, anti-imperialistisch oder nicht-politisch  – sind produktive Interventionen in der Welt, keine Frage. Doch ihre Produktivität ergibt sich nicht aus der Reaktion, die sie darstellen, aus der Abgrenzung, die sie treffen, aus der Antwort, die sie geben. Sie besteht gerade aus den Widerständen, die sie provozieren. Auch jenseits von Satire und Karikatur wirft dies die Frage auf, wie eine praxeologische Widerstandstheorie aussehen kann, die ebendiese Verkettung und die Resonanzen zwischen verschiedenen Widerstandsformen mitdenkt. Dieser Beitrag soll eine Einladung in diesem Sinne sein.

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Karikatur und Widerstand in Iran. Perspektiven einer Visuellen Ethnologie des Politischen

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Skandale und andere Grenzüberschreitungen

Provokation oder Kampf um republikanische Werte? Charlie Hebdo und die Grenzen des Sag- und Zeigbaren im sogenannten „Karikaturenstreit“ Carina Gabriel-Kinz Im Jahr 2006 kam es im Zuge des sogenannten „Karikaturenstreits“ zu heftigen Debatten und gewaltsamen Ausschreitungen mit Todesopfern, die eine globale Dimension und eine bislang ungekannte Intensität und Gewaltbereitschaft erreichten. Der Beginn des Bilderstreits geht auf die konservative dänische Tageszeitung Jyllands-Posten zurück, die sich laut Angaben des damaligen Chefredakteurs Flemming Rose dazu veranlasst sah, Karikaturen des Propheten Mohammed zu publizieren. Vor dem Hintergrund kulturell bedingter Auseinandersetzungen in Dänemark und einer restriktiven Politik der dänischen Konservativen fürchtete die Zeitung eine gewisse Neigung zur Selbstzensur unter Künstlern, wenn es darum ging, den im Islam geheiligten Propheten zu zeichnen. Durch die Veröffentlichung habe sie, laut Aussage des Chefredakteurs, dieser befürchteten Form der Selbstzensur entgegenwirken wollen. Rose bezog sich in einer Erklärung auf das Vorhaben des Autors Kåre Bluitgen, ein Kinderbuch zum Islam zu veröffentlichen, in dem auch der Prophet Mohammed verbildlicht werden sollte. Da Bluitgen jedoch angeblich keine Zeichner für sein Vorhabe habe begeistern können,1 da sich diese nicht über das auch im Islam kontrovers diskutierte Abbildverbot Mohammeds hinwegsetzen wollten, veranstaltete Jyllands-Posten einen Wettbewerb. Die Zeitung forderte zu Zeichnungen des Propheten auf. Zwölf zuvor eingereichte Bilder wurden letzten Endes am 30. September 2005 in Jyllands-Posten abgedruckt. Etwa zwei Monate später kam es dann zu den gewaltsamen Ausschreitungen in einigen muslimischen Ländern2 und der Karikaturenstreit entwickelte parallel eine mediale Dimension, die in heftigen Debatten um die Mohammed-Bilder mündete.3

1

2 3

Auf die Abläufe im Karikaturenstreit weisen verschiedene Studien hin, beispielsweise vgl. Platthaus, Das geht ins Auge, S. 411ff. Vgl. ebd., S. 411ff. Vgl. Reimann, Dänische Zeitung „Jyllands-Posten“.

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Den im laizistischen Frankreich geführten Debatten kommt im Karikaturenstreit eine Ausnahmestellung zu, da sich die französische Gesellschaft stark mit der strikten Trennung von Staat und Kirche identifiziert und das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Respekt vor religiösen Gefühlen noch einmal anders bewertet(e) als säkularisierte Länder, die keine radikale Trennung von Staat und Kirche für sich beanspruchen.4 Während in Staaten wie Deutschland, Großbritannien oder den USA vor allem Diskussionen um den Abdruck der dänischen Mohammed-Karikaturen vorrangig waren, verlief die Debatte in Frankreich noch einmal heftiger, da das Satiremagazin Charlie Hebdo eigene Mohammed-Karikaturen publizierte. Vor dem Hintergrund der in Frankreich seit 1905 vorherrschenden Trennung von Staat und Kirche nahmen nicht nur französische Tageszeitungen, sondern vor allem auch Satiremagazine den Karikaturenstreit zum Anlass, die Grenzen von Satire auch in Hinblick auf die öffentliche Relevanz von Religionen zu verteidigen. Nicht nur das Satiremagazin Charlie Hebdo, sondern auch das deutlich stärker rezipierte Blatt Le Canard enchaîné brachte sich in die Debatte um die Mohammed-Karikaturen ein und sorgte mit weiteren „Provokationen“ für Aufruhr. Le Canard enchaîné druckte zwar keine weiteren, eigens entworfenen Mohammed-Karikaturen ab, nannte sich jedoch in Anlehnung an den Roman von Salman Rushdie „The Satanic Verses“ „journal satanique“.5 Charlie Hebdo ging deutlich weiter, indem es nicht nur die dänischen Mohammed-Karikaturen in Gänze abdruckte, sondern darüber hinaus eigene Mohammed-Karikaturen veröffentlichte. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass sich ein dezidiert linkes französisches Satiremagazin scheinbar an eine konservative dänische Tageszeitung anlehnte, die vor dem Hintergrund einer laufenden Migrationsdebatte in Dänemark und einer migrationskritischen Politik Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Dabei ist nicht nur dieses Vorgehen einer westlichen Satirezeitschrift im Karikaturenstreit einzigartig, sondern auch die Reichweite und die Aufmerksamkeit, die Charlie Hebdo damit über die Grenzen der französischen Öffentlichkeit hinaus erzielte. Charlie Hebdo nahm mit dem Abdruck der dänischen und der Publikation eigener Mohammed-Bilder entscheidenden Einfluss auf die Geschehnisse rund um den Karikaturenstreit, wie sich beispielsweise an den Protestaktionen und den zahlreichen Verbrennungen der hiesigen Charlie Hebdo-Ausgabe in muslimischen Ländern zeigt.6 Mit dem Fokus auf die Inhalte und die transnationale Wirkung der Charlie Hebdo-Ausgabe zum Konflikt verfolgt dieser Beitrag zwei Ziele: Erstens soll im Vergleich mit dem deutschen 4

5 6

Zu den verschiedenen Staat-Kirchen-Modellen und der Ausnahmestellung Frankreichs in Europa vgl. Brugger, Von Feindschaft über Anerkennung zur Identifikation, S. 253–283. Die Wichtigkeit der Laizität für die französische Gesellschaft zeigt sich beispielsweise in einer aktuellen Umfrage von IFOP. Demnach sehen rund 78 Prozent der französischen Gesellschaft diese als bedroht an, vgl. IFOP pour Le Journal du Dimanche, Les Français, la laїcité et la lutte contre l’islamisme, Oktober 20019. Vgl. Le Canard enchaîné, S. 509. Vgl. Platthaus, Das geht ins Auge, S. 411f.

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Satiremagazin Titanic der andersartige Umgang mit Mohammed-Karikaturen in Charlie Hebdo und die Besonderheiten des französischen Blattes herausgestellt werden. Titanic bietet sich insofern als Vergleichsmedium an, als dass die Traditionen sowohl von Charlie Hebdo als auch von Titanic auf eine neuartige Komikkultur zurückzuführen sind, die ihren Ursprung in den 1960er Jahren hat. Beide machten es sich zudem seit jeher zur Aufgabe, Religionen und vor allem deren Vertreter satirisch zu kommentieren.7 Gerade aus dieser Tradition heraus, verspricht die Frage danach, wie diese beiden Zeitschriften die Diskussionen um den Abdruck der Mohammed-­Karikaturen satirisch verarbeiteten und welche Rolle sie selbst in der Debatte einnehmen, besondere Rückschlüsse. Auf der anderen Seite lassen sich entscheidende Momente des gegenseitigen Beobachtens der Satirezeitschriften herausstellen, die sich wesentlich auf das Selbstverständnis auswirk(t)en. Da es im Karikaturenstreit vor allem um die Visualisierung des Propheten ging, steht in der Analyse die visuelle Satire der Zeitschriften Charlie Hebdo und Titanic im Vordergrund. Texte werden ausschließlich dann herangezogen, wenn sie zum tiefergehenden Verständnis der Bilder beitragen und Text und Bild unmittelbar aufeinander verweisen. Indem der Beitrag zweitens auch die Debatte(n) um die weiteren „Provokationen“ in Charlie Hebdo in Frankreich wie auch in Deutschland in den Blick nimmt, wird die Reichweite der Wirkung von satirischen Bildern in einer transnationalen Öffentlichkeit aufgezeigt. Darüber hinaus lassen sich gleichsam über einen verflechtungsgeschichtlichen Ansatz nationale Unterschiede hinsichtlich der in Printmedien geführten Diskussionen um die französischen Mohammed-Karikaturen aufzeigen und darüber Rückschlüsse auf die wahrgenommenen Grenzen religionsbezogener Satire in den nationalen Öffentlichkeiten ziehen, die zum Teil ähnliche Bezüge aufweisen. Eine histoire croisée zwischen Frankreich und Deutschland ist vor allem deshalb interessant, weil das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in beiden Ländern zwar verschieden ist,8 man sich jedoch trotzdem aufmerksam beobachtet und aufeinander Bezug nimmt. Anders als zahlreiche Studien, die den Karikaturenstreit zu allererst mit den dänischen Mohammed-Bildern in Verbindung bringen, da sie den Anstoß für eine globale Debatte darstellten, konzentriert sich dieser Beitrag auf die Inhalte und die (trans)nationale Wirkung der französischen Mohammed-Karikaturen. Denn sie stehen am Anfang einer Reihe weiterer „Provokationen“ von Charlie Hebdo, die sich auf Darstellungen des Propheten Mohammed beziehen. Diese gipfelten letzten Endes in dem gewaltsamen Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo am

7 8

Vgl. ebd., S. 425; Mazurier, L’Anticléricalisme, S. 33–44. Während es sich bei Frankreich um einen laizistischen Staat handelt, der die strikte Trennung von Staat und Kirche vorsieht, ist der Einfluss, vor allem der christlichen Religion auf die deutsche Politik und auf die deutsche Gesellschaft, in der säkularen Republik verschieden. Zu den konkreten Unterschieden vgl. Brugger, Von Feindschaft über Anerkennung zur Identifikation, S.  253–283; zu den historischen Hintergründen auch Dittrich, Antiklerikalismus in Europa.

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7. Januar 2015 und sind daher für aktuelle Debatten um die Grenzen religionsbezogener Satire von besonderer Bedeutung.9

Zwischen der Verteidigung republikanischer Werte und weiterer Provokation: Der Karikaturenstreit in Charlie Hebdo und Titanic Mit dem Abdruck der dänischen Mohammed-Bilder in weiteren europäischen Medien weitete sich der Konflikt um die Mohammed-Karikaturen entscheidend aus. Am 10.  Januar 2006 publizierte das norwegische Magazinet die dänischen Karikaturen, am 1. Februar folgten weitere Zeitschriften aus Italien, Spanien, Deutschland und Frankreich, woraufhin es zu heftigen Ausschreitungen im Nahen Osten, in Asien und in Afrika kam und europäische Botschaften mitunter zum Ziel von Aufständischen wurden.10 Dabei wurden Debatten um das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Respekt vor religiösen Gefühlen von den Fragen begleitet, inwiefern Medien die dänischen Bilder für illustrative Zwecke nutzten, um lediglich zu einer Veranschaulichung der Debatteninhalte beizutragen, oder aber durch Publikation der Bilder bewusst Partei ergriffen. In Frankreich geriet vor allem die ehemalige französische Tageszeitung France Soir in den öffentlichen Fokus, da die Zeitung die dänischen Bilder Anfang Februar 2006 als eine der ersten Medien Frankreichs abdruckte. Der Chefredakteur von France Soir, der den redaktionellen Beschluss verantwortete, wurde daraufhin vom Hauptinvestor entlassen. Dieses Ereignis entwickelte sich zum französischen Politikum, was die Frage nach dem Stellenwert des Islams in der französischen Gesellschaft im Allgemeinen und dessen Einfluss auf die Medien im Besonderen mit ins Zentrum der Debatte rückte. In Deutschland entschieden sich hingegen nur wenige

9

10

Sicherlich ist zu konstatieren, dass die Debatte um die dänischen Mohammed-Karikaturen und die französischen Bilder des Propheten in Charlie Hebdo verschwimmen. Die Forschungsliteratur zum Karikaturenstreit des Jahres 2006 legt jedoch in erster Linie den Schwerpunkt auf die Debatten um die dänischen Bilder. Die Diskussionen um Charlie Hebdo wurden in erster Linie mit Blick auf das islamistische Attentat im Januar 2015 und danach beleuchtet. Retrospektiv betrachtet, stehen die Debatten im Januar 2015 zu denen des Jahres 2006 in enger Verbindung, weshalb auch die Satire von Charlie Hebdo und anschließende Debatten vor allem um das französische Satiremagazin stärker berücksichtigt werden müssen, vgl. in Auswahl Jäger, Der Karikaturenstreit im ‚Rechts-Mitte-Links-Diskurs‘, S. 319–336; Ata, Der Mohammed-Karikaturenstreit in den deutschen und türkischen Medien; Nevert, Les caricatures de Mahomet. Der vergleichende Ansatz wird dabei häufig verfolgt. Das gegenseitige Beobachten in den nationalen Debatten wird dabei kaum berücksichtigt, auch die satirischen Bilder als Diskursgegenstand eher am Rande beleuchtet. Vgl. Cartoon Controversy Timeline, S. 228.

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Zeitungsredaktionen für die Illustration der dänischen Bilder in der Berichterstattung über den Karikaturenstreit, obwohl der Deutsche Presserat die Beschwerden „zahlreiche[r] Leser“, die wegen des Abdrucks der dänischen Mohammed-Karikaturen in der Tageszeitung Die Welt erschienen waren, als unbegründet einstufte: „Die Beschwerdekammer des Deutschen Presserats sieht in der Veröffentlichung der Karikaturen und des Kommentars keinen Verstoß gegen die publizistischen Grundsätze des Pressekodex; er erklärt die Beschwerde für unbegründet. Weder die in die Artikel eingebauten Karikaturen noch der dazu verfasste Kommentar verletzt [sic!] die im Pressekodex gezogenen Grenzen. Die Zeichnungen visualisieren den Kern des nachrichtlichen Textes, in dem es um die Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung der Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten geht. Die bildlichen Darstellungen greifen das zeitgeschichtlich aktuelle Thema ‚religiös begründete Gewalt‘ mit den für Karikaturen typischen Mitteln kritisch auf. Damit werden weder die Religionsgemeinschaft noch ihr Stifter und ihre Mitglieder geschmäht oder allgemein herabgesetzt. Kritik die auch durchaus scharf sein kann müssen auch Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder ertragen. Auch für Satire und Karikaturen gibt es Grenzen. Sie sind allerdings weit zu ziehen.“11

Die deutsche Kontrollinstanz für Printmedien räumte religionsbezogener Satire 2006 weite „Grenzen“ ein, wie sie auch Charlie Hebdo für sich beansprucht(e). In der Ausgabe von Charlie Hebdo zum sogenannten Karikaturenstreit wurden nicht nur die dänischen Mohammed-Karikaturen abgedruckt, sondern auch eigens dafür gezeichnete Bilder veröffentlicht.12 Im Prozess gegen Charlie Hebdo begründete der damalige Chef-Redakteur Philippe Val, dass es der Redaktion dabei nicht um eine Solidarisierung mit der konservativen dänischen Jyllands-Posten ging, sondern um die Solidarisierung mit dem Chef-Redakteur von France Soir: „Il [Val] a justifié la publication des dessins par ‚solidarité‘ avec le directeur de France Soir, limogé pour les [les images de Mahomet] avoir publiés, et assuré qu’il avait reçu un accueil

11 12

Artikel vom Deutschen Presserat, „Mohammed-Karikaturen zulässig“ (2006). Als Vorkämpferin im Kampf um weite Grenzen der Kunst- und Meinungsfreiheit, die vor allem in einer laizistischen Gesellschaft wie der französischen gelten müssten, steht die Enttabuisierung der Verbildlichung Mohammeds im Zentrum der Charlie Hebdo-Agenda. Folglich klagten die Pariser Moschee und l’AGRIF gegen Charlie Hebdo wegen dreier in der Ausgabe zum Karikaturenstreit abgedruckter Mohammed-Bilder, vgl. Platthaus, Das geht ins Auge, S. 421ff. Das Interesse an der Ausgabe zeigte sich insbesondere auch in einer enorm gesteigerten Auflagenzahl. Die regelmäßige Auflage von rund 100000 Exemplaren hatte sich in etwa vervierfacht.

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favorable de L’Express et du Nouvel Observateur, lorsqu’il leur avait demandé de les publier à leur tour.“13

Auch wenn sich Val mit diesem Kommentar deutlich von Jyllands-Posten distanzierte, stellten die in der Charlie Hebdo-Ausgabe vom 8. Februar 2006 veröffentlichten Mohammed-Karikaturen dennoch zum Teil konkrete intermediale Bezüge zu den dänischen Bildern her. Sie offenbarten allerdings auch einen eigenen Fokus, der klar in die französische Kultur eingebettet ist und sich beispielsweise deutlich von der Vorgehensweise der deutschen Satirezeitschrift Titanic unterscheidet.14 Charlie Hebdo adressierte mit den Bildern Glaubensgemeinschaften, mit dem Islambezug aber vor allem gläubige Muslime, mit dem Ziel, traditionelle französische Werte wie die Laizität anzuerkennen und auch eine weitreichende in der französischen Kultur verankerte Satiretradition,15 die auch Religionen verlachen darf, zu akzeptieren. Ebenso richtete sie sich an die französische Gesellschaft, um gegen einen öffentlichkeitswirksamen und auf die Gesellschaft einflussnehmenden Islam vorzugehen. Zwei Hauptargumente in den Karikaturen stechen dabei ins Auge: Erstens zog Charlie Hebdo mit verschiedenen Karikaturen die Frage nach der Abbildbarkeit Mohammeds ins Lächerliche, womit sie die Absurdität dieser Frage für eine französische Gesellschaft betonte, die sowohl für die Trennung von Staat und Kirche als auch für weite Grenzen der Meinungsfreiheit, gerade auch mit Blick auf Religionen, stehe. Zweitens akzentuierte die französische Satirezeitschrift die Gleichheit aller Religionen im laizistischen Frankreich und appellierte für deren Gleichbehandlung. Eine Zeichnung von Tignous bezieht sich auf die umstrittene Karikatur des dänischen Zeichners Kurt Westergaard und auf die zahlreich geäußerte Kritik an dem Bild. Westergaards Zeichnung stellt den Kopf Mohammeds dar, der mit klassischen Stereotypen eines orientalischen Äußeren versehen ist. Am Turban befindet sich eine Zündschnur und auch die Form der Kopfbedeckung erinnert an eine Bombe. Diese Form der Visualisierung des Propheten wurde vor allem als pauschalisierende Darstellung des Islams als homogen terroristische Vereinigung wahrgenommen, die wiederum keine Unterschiede zwischen radikalen gewaltbereiten Islamisten und gemäßigten friedvollen Muslimen wie auch weiteren mache.

13

14

15

Gurrey, M. Chirac condamne ‚toute provocation‘, 10.02.2006, S.  4. Für die Wiedergabe wesentlicher Inhalte des Prozesses vgl. Weston, A-t-on le droit de rire de tout?, S. 517–530. Zur weiteren Analyse der beiden Ausgaben vgl. auch: Gabriel-Kinz, Der Streit um die Mohammed-Karikaturen [im Erscheinen]. Vgl. Platthaus, Das geht ins Auge, S. 422.

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Abb. 1: Eine der umstrittensten Mohammed-Bilder, die 2005 in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten erschienen sind. „Auf den umstrittenen zwölf Mohammed-Zeichnungen in Dänemarks Tageszeitung ‚Jyllands-Posten‘ ist der Prophet und Religionsstifter unter anderem als finsterer Terrorist mit Bombe im Turban [dargestellt] […] Eine Botschaft, die auch unter gemäßigten Muslimen Zorn auslöste, weil hier nicht nur Mohammed verunglimpft, sondern mit ihm der Islam insgesamt dem Terrorismus gleichgestellt wurde.“16

Die von vielen Seiten geäußerte Kritik an der Darstellung wird in der Charlie Hebdo-Ausgabe mit einer Karikatur von Tignous auf die Spitze gebracht und ins Lächerliche gezogen. Dargestellt wird der Prophet17 mit einem Sprengstoffgürtel am Körper, der ein Bild von der Karikatur

16

17

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (lpb-bw), Der Karikaturenstreit, https://​ www.lpb-bw.de/​karikaturenstreit. Ob es sich bei der Darstellung um einen gewaltbereiten Islamisten oder aber um den (gewaltbereiten) Propheten selbst handelt, ist nicht eindeutig. Da der Prophet jedoch in weiteren Karikaturen derselben Ausgabe dargestellt wird und die Karikatur von Tignous auf die Darstellung von Kurt Westergaard verweist, der eindeutig den Propheten zeigt, ist davon auszugehen, dass auch hier Mohammed verbildlicht wird. Eine andere Lesart wäre, dass es sich bei der dargestellten Figur um einen Islamisten handelt, der selbst mit einem Sprengstoffgürtel bewaffnet auf die Karikatur von Kurt Westergaard verweist und dabei deutlich macht, dass entscheidend sei, ob Mohammed den Sprengstoff auf dem Kopf oder am Körper trägt. Die Absurdität der Argumentation radikaler Muslime hinsichtlich der Mohammed-Karikaturen würde dabei betont. Vor dem Hintergrund der Debatten wäre auch diese Lesart denkbar.

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Westergaards über den Kopf hält. In Kombination mit dem ergänzenden Textbeitrag „Si le dessinateur avait mis la bombe autour de la taille de Mahomet … – … on n’aurait rien dit!“18 wird die Kritik ad absurdum geführt. Würde die Zeichnung ernst genommen, so die Aussage der Text-Bild-Kombination, würde es einen erheblichen Unterschied darstellen, ob der Prophet mit einer Bombe auf dem Kopf oder aber mit einem Sprengstoffgürtel am Körper dargestellt wird. Die ironische Aussage des Zeichners Tignous bezieht sich jedoch darauf, dass es generell keine Rolle spielen dürfe, ob Mohammed mit einer Bombe auf dem Kopf oder mit einem Sprengstoffgürtel am Körper gezeichnet wird, da in demokratischen Gesellschaften, vor allem aber im laizistischen Frankreich, das Recht auf Meinungsfreiheit dem Respekt vor dem Glauben deutlich überstellt sei. Das Verlachen der Frage, ob und wie Mohammed gezeichnet werden darf, lässt sich in der Ausgabe an weiteren Karikaturen nachvollziehen und stellt eines der Hauptargumente der Satireredaktion in Bezug auf die Karikaturenstreit-Debatte dar. Mohammed wird beispielsweise als Skelett oder mit einer Burka bekleidet gezeichnet. Zwar ist der Prophet in diesen Bildern nicht mehr als menschliche Gestalt zu erkennen, der der Zeichnung beigefügte Text verdeutlicht jedoch, dass die Darstellungen eindeutig auf den Propheten verweisen und dessen Abbildverbot kritisch verlachen.19 Ein weiterer Bildkomplex thematisiert die Bedeutung der Trennung von Staat und Kirche für alle Glaubensgemeinschaften in Frankreich gleichermaßen. Dabei fokussieren die Zeichnungen nicht allein den Islam, sondern auch das Christentum, das Judentum und den Buddhismus. Beispielsweise werden die vier Religionen als menschliche Gestalten dargestellt, die mit klassischen Stereotypen versehen auf die entsprechende Religion verweisen: In einer Sprechblase wird die Frage aufgeworfen, ob den Religionen bewusst sei, dass in Frankreich die Trennung von Staat und Kirche vorherrsche. Die Haltung der vier Personen wird ebenfalls über Sprechblasen als bejahend dargestellt.20 Es wird deutlich, dass Charlie Hebdo dabei keinen Unterschied zwischen dem Islam, dem Christentum, dem Judentum oder dem Buddhismus als Glaubensgemeinschaften macht und Religionen im Allgemeinen aus dem öffentlichen Raum verbannen wollte und noch immer will. In der Gesamtbetrachtung der Bilder tritt das Hauptargument zutage, dass in einer laizistischen Gesellschaft religiöse Institutionen und Vertreter nicht den Stellenwert in der Öffentlichkeit für sich beanspruchen dürften, wie es im Zuge des Karikaturenstreits geschehen sei. Die Kritik am öffentlichen Stellenwert von Religionen in Frankreich wird auch in der Argumentation des Anwalts von Charlie Hebdo, Richard Malka, im Zuge des Prozesses gegen Charlie Hebdo deutlich:

18

19 20

Die deutsche Übersetzung des Textes lautet: „Hätte der Zeichner die Bombe um die Hüfte Mohammeds dargestellt … – … hätte man nichts gesagt!“ Vgl. Charlie Hebdo, Nr. 712 (2006), S. 4. Vgl. ebd., S. 4.

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„Wollen Sie (die Gegenseite) Gleichberechtigung in Frankreich? Dann müssen Sie sich wie alle anderen Religionen verspotten lassen. Oder wollen Sie Sonderrechte für den Islam? Das kann die Republik nicht zulassen.“21

Die zwei in der Ausgabe besonders hervortretenden Bildargumente verweisen auf eine sich im ausgehenden 19.  Jahrhundert und im 20.  Jahrhundert entwickelnde Tradition, die ihren Ursprung in den Auseinandersetzungen zwischen laizistischen Republikanern und kirchennahen Monarchisten während der Dritten Republik hat.22 Eine wesentliche Rolle in den Auseinandersetzungen spielte die radikale Linke.23 Die Ausgabe von Charlie Hebdo verweist eindeutig auf diese Tradition. Die Redaktion des französischen Satireblatts, die sich selbst in der politischen Linken verortet, verteidigte die in dieser Zeit errungenen Rechte und Freiheiten ohne Kompromiss. Offenbar verstanden die Mitwirkenden Frankreich im Jahr 2006 vor allem als Erbe einer Dritten Republik, die radikale Formen der Meinungsfreiheit und eine strikte Trennung von Staat und Kirche als kulturelle Errungenschaften zu schützen habe und zwar jenseits gesellschaftlicher Entwicklungen und Umbrüche. Charlie Hebdo bezog damit offensiv Stellung im Konflikt und bemühte sich um eine Enttabuisierung der Darstellbarkeit Mohammeds. Indem die französische Satirezeitschrift diese für sich wahrgenommenen gesellschaftlichen Missstände offenlegte und an gesellschaftliche Gruppen wie auch die französische Öffentlichkeit appellierte, knüpfte sie an klassische Satireformen, die ihre Wurzeln im Aufklärungszeitalter haben, an.24 Titanic bezog sich stattdessen eher auf die komischen Elemente des gesamten Konfliktes und überspitzte sie zu einer belustigenden Satire. Anders als Charlie Hebdo druckte Titanic lediglich zwei  – die umstrittensten  – der dänischen Mohammed-Karikaturen in der Dauerrubrik ‚Humorkritik‘ ab und rahmte sie kritisch. Dabei erörterte sie die beiden Bilder und kritisierte insbesondere die Karikatur von Kurt Westergaard: „Die eine, die Mohammed mit einer Bombe im Turban zeigt, deren Lunte glimmt, ist unkomische Dutzendware; das Bildmotiv ist altbacken und die Aussage unsinnig, denn als Selbstmordattentäter treten ja gerade nicht die religiösen Führer in Erscheinung, sondern die von ihnen Verführten […].“25

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23

24 25

Richard Malka zitiert und übersetzt nach: Platthaus, Das geht ins Auge, S. 429. Neben zahlreichen weiteren Studien zu dem Narrativ der „Deux France“, vgl. Schneider, Die Farbe der Religion, S. 117–139. Zur Rolle der Linken im Kampf um die Laizität vgl. Mollenhauer, Symbolkämpfe um die Nation, S. 202– 230. Vgl. Vetter-Liebenow, Schluss mit lustig. Karikatur und Satire in schwierigen Zeiten, S. 23–40. Titanic, Nr. 3 (2006), S. 50.

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Darüber hinaus publizierte die Titanic-Redaktion in der Ausgabe Karikaturen, in der andere Religionen verlacht werden, die zumindest teilweise in einigen vorher erschienenen Ausgaben veröffentlicht wurden. Die Überschrift „Religionen unter spitzer Lupe“ macht bereits deutlich, dass Titanic die gewaltsamen Reaktionen auf die dänischen Mohammed-Karikaturen als deutlich überzogen bewertete, da nicht allein der Islam, sondern auch andere Religionen in der Satire vielfach verspottet wurden. Titanic veröffentlichte zudem weitere Mohammed-Karikaturen, in denen bewusst Stereotype, die in den umstrittenen Karikaturen verwendet wurden, dekonstruiert werden.

Abb. 2: „Mohammed-Bild“ in Titanic Dargestellt sind nach westlicher Manier gekleidete Männer, die mit dem Vornamen Mohammed versehen sind. Da auf klassische Merkmale, wie eine religiöse Kleidung, auf Bart, Turban und dunkle Haut verzichtet wurde, entschlüsselt sich dem Betrachter erst durch die textuelle Ergänzung, dass es sich um Abbildungen Mohammeds, des Propheten, handeln soll. Nicht nur bildlich, sondern auch im beigefügten Text wird deutlich, dass sich Titanic von dem Abdruck ‚klassischer‘, stereotypisierender Karikaturen distanziert: „Daß Karikaturen vom Wesen her stets überzeichnen und verzerren, ist bei den schlichten ‚Mohammed-Karikaturen‘ schön zu sehen. Im Gegensatz zu den Satiremagazinen Jyllands-Posten, Canard Enchainé [sic!], Charlie Hebdo und Die Welt, die sich in den ver-

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gangenen Wochen mit gezeichneten Bildern des Propheten preiswert Aufmerksamkeit verschafften, entschließen wir uns daher zu fairer, realistischer Darstellung: Und greifen zu Fotos: Mohammed bei einem guten Glas Wein; mit einem Strauß Blumen für seine Frau; mit einem Glas Schweinebraten [sic!][…]“26

Dies zeigt sich auch an weiteren Beiträgen wie den in Titanic abgedruckten, mitunter latent veränderten Kunstwerken verschiedener Kunstepochen, in denen es ursprünglich nicht um die Darstellung Mohammeds ging. Auf den Bildern, beispielsweise „Das Frühstück im Grünen“ (1863) von Edouard Manet,27 sind menschliche Personen oder Fantasiefiguren abgebildet. Titanic suggeriert, dass es sich dabei um Abbildungen des Propheten handele und kommentiert die Darbietung in absolut ironischer Form folgendermaßen: „Was kaum einer weiß: Die dänischen Karikaturen sind lediglich das bislang letzte Glied einer Kette gezielter Provokationen, mit denen ungläubige Künstler seit Jahrhunderten systematisch versuchen, die religiösen Gefühle der Muslime zu verletzen.“ Das bereits erwähnte Kunstwerk „Frühstück im Grünen“ wird dabei folgendermaßen kommentiert: „Doch die Idylle trügt. Das Bild, das unter dem Titel ‚Die Verliererin im Flaschendrehen‘ in die Kunstgeschichte einging, heißt eigentlich ‚Mohammed erhält von Allah zwei Jungfrauen als Weihnachtsgratifikation‘ und wurde von Edouard Manet in der erklärten Absicht geschaffen, Muslime in aller Welt zu beleidigen.“28

Ähnlich wie schon die Abbildungen verschiedener Paare in westlichem Kontext, bei denen den Männern der Name Mohammed zugeschrieben wird, verzichtete Titanic auf die stereotypisierte Darstellung des Propheten. Stattdessen entfremdete sie Kunstwerke oder Bilder aus ihrem ursprünglichen Entstehungskontext und deutete sie auf den Karikaturenstreit zugeschnitten um. Lediglich die jeweilige Textbeigabe verweist den Rezipienten darauf, dass es sich um Bildnisse Mohammeds handeln soll. Die Anspielung auf das Abbildverbot des Propheten wird nur dann verstanden, wenn der Betrachter der deutschen Sprache mächtig ist. Das Bild lässt sich durch diese Vorgehensweise weniger einfach dem eigentlichen Publikationsrahmen entreißen und ist weniger polemisierbar. Eine offensiv ausgerichtete, appellative Funktion wie in Charlie Hebdo ist in diesem Satireformat nicht erkennbar, was mitunter auch auf die Tradition eines absurden Humors in Titanic zurückzuführen ist.29

26 27

28 29

Ebd., S. 66. Das Kunstwerk wurde bereits in Pardon in mitunter stark veränderten Varianten abgedruckt, vgl. Pardon, Nr. 10 (1972), S. 52. Titanic, Nr. 3 (2006), S. 16ff. Zur Tradition von Titanic vgl. vor allem Zehrer, Dialektik der Satire.

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Die Titelseiten der beiden Ausgaben zum Karikaturenstreit entsprechen dem Muster der zuvor erwähnten Beiträge. Dem Cover der Zeitschrift wird hier ein besonderer Stellenwert beigemessen, da es sich dabei um das Aushängeschild einer Zeitschrift handelt. Anders als Titanic, die auch auf dem Titelbild auf den Abdruck von Mohammed-Karikaturen verzichtete, zeigte Charlie Hebdo eine Zeichnung des Propheten. Die Zeichnung von Cabu stellt einen weinenden Mohammed dar, der sich die Hände vor das Gesicht hält. In einer Sprechblase steht: „C’est dur d’être aimé par des cons …“30. Die Karikatur ist mit dem Titel „Mahomet débordé par les intégristes“31 versehen. Da der Prophet mit einem von den Händen bedeckten Gesicht dargestellt wird, thematisiert die Zeichnung zwar indirekt das Abbildverbot. Dennoch verzichtete die Redaktion nicht auf die Darstellung Mohammeds. Dass diese Provokation von der Redaktion intendiert war, bestätigte Cabu in einem später geführten Interview.32 Auf Inhaltsebene bleibt dennoch zu konstatieren, dass sich die Karikatur in erster Linie gegen Fundamentalisten – dies wird in der Textbeigabe expliziert –, nicht aber gegen die gesamte islamische Glaubensgemeinschaft richtete.33 Trotzdem wurde das Titelbild als Tabubruch gewertet, weshalb islamische Einrichtungen in Frankreich wie die Große Moschee in Paris wegen dieser und zweier weiterer Karikaturen34 gegen die Redaktion juristisch vorgingen. Zum einen wurde wegen des Charlie Hebdo-Covers geklagt, zum anderen waren der Abdruck zwei der dänischen Mohammed-Bilder Gegenstand des Prozesses.35 Die Gerichtsverhandlung fand Anfang des Jahres 2007 statt und wurde zugunsten der Charlie Hebdo-Redaktion entschieden. François Hollande, der als Zeuge im Prozess vorgeladen war, bezeichnete den Ausgang des Prozesses als „historischen Sieg“.36

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Die deutsche Übersetzung des Textes lautet: „Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden …“. Die deutsche Übersetzung der Überschrift lautet: „Mohammed von Fundamentalisten überrannt“. Vgl. Interview mit Jean Cabut im Film von Daniel Leconte, Je suis Charlie (2015). Diese Argumentation war auch maßgeblich für den Freispruch von Charlie Hebdo im Prozess gegen das Satireblatt im Jahr 2007, vgl. Granchet, Les caricatures de Charlie Hebdo devant la justice, S. 66. Zwar hatten auch andere Zeitungen wie France Soir und L’Express die Bilder abgedruckt, dennoch wurde vor allem gezielt das Satireblatt verklagt, da hier wegen dessen marginaler Stellung in der französischen Presselandschaft eventuell mit existentiellen Schäden für die Redaktion zu rechnen war, vgl. Platthaus, Das geht ins Auge, S. 422. „Les musulmans de France ont bien accueilli l’intervention du président, qu’ils jugent apaisant. Le CFCM envisage de porter plainte contre les journaux qui ont publié les caricatures, ce que M. Boubakeur aurait initialement préféré éviter. Seule réaction politique, celle de Jean Glavany (PS, Hautes-Pyrénées), qui a jugé ‚très grave de mettre sur un même plan des caricatursites […] et ceux qui lancent des fatwas au nom de l’intégrisme et de l’obscurantisme‘,“ Gurrey, M. Chirac condamne ‚toute provocation, 10.02.2006, S. 4; vgl. auch Granchet, Les caricatures de Charlie Hebdo devant la justice, S. 55–70. Vgl. François Hollande im Film von Leconte, Je suis Charlie (2015).

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Abb. 3: Titelseite der umstrittenen Ausgabe von Charlie Hebdo Ein anderer Umgang mit dem Karikaturenstreit ist abermals in der deutschen Satirezeitschrift Titanic nachzuvollziehen. Diese verzichtete auch auf der Titelseite auf einen stereotypisierten Abdruck von Mohammed-Karikaturen und eine Klage blieb infolgedessen aus.37 Die Redaktion entschied sich beim Cover für einen eigentlich bereits überkommenen „Peniswitz“38 und ordnete männlichen Geschlechtsteilen unterschiedlicher Größe jeweils über Textbeigaben eine Religion zu.39 Der Islam wurde dabei mit dem kleinsten, das Christentum wiederum mit dem größten männlichen Geschlechtsteil assoziiert. Laut Titanic-Redaktion ging es dabei vor allem darum, Machtverhältnisse aufzuzeigen.40 Diese Lesart ist jedoch ledig-

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39 40

Auch beim Deutschen Presserat wurde keine Beschwerde wegen der Titanic-Ausgabe eingereicht. Der aktuelle Chefredakteur von Titanic Moritz Hürtgen, sagte im Zuge eines Interviews des SPIEGEL, dass Peniswitze längst überkommen seien: „SPIEGEL: Auf Peniswitze? Hürtgen: Nein, die sind out. Damit es auch in die Zeit passt und sich nicht nur Penisträger damit identifizieren können, würde ich es ganz neutral als Bumshumor bezeichnen,“ Rainer, „Titanic“-Chefredakteur im Interview, https://​www.spiegel.de/​kultur/​eine-klage-vom-papst-zaehlt-mehr-als-jeder-shitstorm-a-935b074a3530-45e3-8e8e-003460d35aa8?paymentState=success&orderId=WFMd2UC2E6c204B3e5y0k1m069y7a5W1&orderDetails=%7B%22items%22%3A%5B%7B%22productId%22%3A%22B_​yD6Ab3246 277602251%22%2C%22amount%22%3A1%7D%5D%7D. Titanic, Nr. 3 (2006), Titelseite. Vgl. Gardes, La réaction ‚mesurée‘ de Titanic, S. 473–486.

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lich mit dem Wissen um die Intention der Redaktion nachzuvollziehen. Andernfalls könnte die visuelle Satire auch dahingehend verstanden werden, dass der Islam, gerade weil er mit einem besonders kleinen Phallus in Verbindung gebracht wird, besonders leicht zu provozieren sei. Die verschiedenen Perspektiven auf die Titelseite verdeutlichen dabei die Mehrdeutigkeit der Titanic-Satire, die offenbar eine Art „Metaposition“ in Hinblick auf die Ereignisse einnimmt. Diese lässt es nicht zu, die Satirezeitschrift eindeutig auf einer Seite des Konfliktes zu verorten. Unterschiede manifestieren sich folglich nicht unbedingt in der Bewertung der Satire und somit in den im Karikaturenstreit wahrgenommenen Grenzen des Sag- und Zeigbaren, sondern vielmehr im Selbstverständnis der Satiriker. Diese interpretierten den mit Satire verbundenen gesellschaftlichen Auftrag unterschiedlich, was sich auch daran zeigt, wie sie mit dem Tabu, Mohammed abzubilden, umgingen. Die französische Geschichte diente für Charlie Hebdo in zweierlei Form als Vehikel: Erstens trägt die in der Dritten Republik verankerte Trennung von Staat und Kirche zu einem radikaleren Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche bei. Zweitens genießen Satire und Karikatur als Formen der Gesellschaftskritik eine deutlich höher anerkannte Stellung als in Deutschland. Wird Charlie Hebdo als ein in der französischen Kultur tief verwurzeltes Medium verstanden, erklären sich auch Selbstzuschreibungen der Redaktion, die sich als dezidiert linkspolitisch begriff41 und die Verteidigung der Meinungsfreiheit und der Laizität als Grundsäulen der demokratischen Republik als Aufgabe der politischen Linken verstand. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Charlie Hebdo die Darstellung Mohammeds auf religiöser Ebene interpretierte und in der intendierten Enttabuisierung von Karikaturen des Propheten keinen per se rassistischen, sondern einen demokratischen Akt zugunsten freiheitlicher Werte verstand und bis heute versteht. Die Satireform von Charlie Hebdo ähnelte dabei einem politischen Aktivismus, wie er jüngst auch Satirikern wie Jan Böhmermann im Kampf gegen die AfD und die politische Rechte zugesprochen wird.42 Titanic verfolgte nicht nur ein anderes Komikformat, sondern interpretierte das Tabu stattdessen auch auf einer kulturellen Ebene, die den Islam als religiöse und kulturelle Minderheit begreift, die bereits vor 2006 in westlichen Gesellschaften in der Kritik stand und vor dem Hintergrund des anwachsenden islamistischen Terrorismus mitunter einen schweren Stand hat. Damit ließe sich die Verweigerung einer stereotypisierten Darstellung Mohammeds erklären, auch wenn die gewaltsamen Ausschreitungen in zahlreichen Beiträgen der Titanic-Ausgabe kritisiert werden.

41 42

Vgl. Platthaus, Das geht ins Auge, S. 411ff. Der SPIEGEL-Autor Alexander Kühn schreibt über Jan Böhmermann: „Der Aktivist Böhmermann hat sich vor den Satiriker geschoben.“, vgl. Kühn, Der Narr macht ernst, S. 88.

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Abb. 4: Titelseite der Titanic-Ausgabe zum Karikaturenstreit Auch die Titelseite der Titanic-Ausgabe zum Anschlag auf das französische Satiremagazin macht noch einmal deutlich, dass das Attentat für Titanic nicht als Argument zum Abdruck von Mohammed-Karikaturen galt. Stattdessen zeigt das Wimmelbild einen Platz in Paris, auf dem sich zahlreiche Personen befinden, die scheinbar am Pariser Leben teilnehmen. Dargestellt sind kleine Karikaturen, beispielsweise von François Hollande, Nicolas Sarkozy mit Carla Bruni wie auch Angela Merkel. Auch Jesus und die Darstellung eines Juden sind zu finden. Die Titelseite wird ähnlich einem Suchbild mit dem Textbeitrag „Wo ist Mohammed? (Gute Frage eigentlich)“ untertitelt.43 Bei der genauen Betrachtung der dargestellten Figuren fällt auf, dass keine wie in Charlie Hebdo stereotypische Darstellung zu finden ist, was sich mitunter auch mit der in Titanic dargestellten Haltung zu Charlie Hebdo nach dem Anschlag auf die Redaktion im Januar 2015 deckt, bei dem viele Redaktionsmitglieder getötet wurden: „Ich muß zugeben, daß nach meinem Gefühl nur immer jeder dritte Charlie Hebdo-Witz so richtig saß; […] Bei vielen TITANIC-Kollegen lösten Cartoons von Charlie Hebdo, so provokant sie gemeint waren, meist eher Stirnrunzeln als Gelächter aus. […] Jetzt, da wir alle ein bißchen Charlie sind, und sich jeder für einen mutigen Satiriker hält, wird dieser in die Jahre gekommene Stil wohl wieder den Ton angeben, werden formal radikalere Formate [wie Titanic] hingegen wieder als ‚meta‘ und ‚ausweichend‘ abgewertet werden.“44 43 44

Titanic, Nr. 2 (2015), Titelseite. Ebd., S. 51.

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Die Ausgabe von Titanic macht dabei zweierlei deutlich: Erstens wurde Charlie Hebdo über nationale Grenzen hinaus im Feld der deutschen Satire beobachtet. Und zweitens grenzte sich die Titanic-Redaktion deutlich von der Charlie Hebdo-Satire ab. Während sich die Redaktion von Charlie Hebdo eindeutig als Vorkämpferin im Kampf um die strikte Trennung von Staat und Kirche in Frankreich ebenso wie um das höchste Gebot der Meinungsfreiheit verstand, nahm Titanic die Mohammed-Karikaturen und etwaige Debatten um die Bilder zum Anlass, Stereotype, mit denen Muslime in Verbindung gebracht und die zunehmend aus einem rassistischen Diskurs rechtspopulistischer Parteien bedient werden, zu dekonstruieren. Stattdessen verlachte sie auf einer Metaebene alle am Konflikt beteiligten ‚Parteien‘, ausgehend von radikalen Fanatikern, die ihren Glauben mit Gewalt verteidigen, wie auch die Haltung des Westens in politischen und kulturellen Auseinandersetzungen mit der muslimischen Welt.

Die öffentliche Bewertung der Mohammed-Karikaturen in Charlie Hebdo in Frankreich und Deutschland Auch die in einschlägigen deutschen und französischen Printmedien diskutierten Reaktionen auf die beiden Ausgaben fielen entsprechend der unterschiedlichen Vorgehensweisen divergent aus: Während Titanic in deutschen wie auch ausländischen Medien kaum größere Beachtung fand, weitete sich die Diskussion um den Abdruck von Mohammed-Karikaturen wegen der Ausgabe von Charlie Hebdo aus – auch in Medien-Debatten jenseits der französischen Öffentlichkeit. Da Titanic lediglich auf zwei dänische Mohammed-Karikaturen Bezug nahm, diese zwar im Heft abdruckte, aber innerhalb der Humorkritik kritisch rahmte, und der Karikaturenstreit sonst eher in Gänze kritisiert und weniger offensiv wie in Charlie Hebdo verhandelt wurde, wurde sie insgesamt deutlich weniger provokativ wahrgenommen. Stattdessen diente sie in der deutschen Berichterstattung, wenn überhaupt, als ein Vergleichsmedium für die Ausgabe von Charlie Hebdo, um dessen provokative Satire herauszustellen.45 Der „satirische Kampf “ der französischen Zeitschrift verursachte in jüngeren Diskussionen Empörung, denn der Abdruck von Mohammed-Karikaturen wurde und wird noch immer nicht einheitlich als Symbolakt im Sinne der Meinungsfreiheit verstanden, sondern mitunter als von einer französischen bzw. westlichen „Ingroup“ heraus gestifteten Fremdenfeindlichkeit gegenüber muslimischen Gruppen, die in westlichen Gesellschaften eine Minderheit darstellen. Dies ist vor allem darauf zurückzu-

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Der französische Literaturwissenschaftler Jean-Claude Gardes stellt in seinem Beitrag hingegen andersherum die „gemäßigte“ Haltung von Titanic hinsichtlich des Karikaturenstreits heraus, vgl. Gardes, La réaction ‚mesurée‘ de Titanic, S. 473–486.

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führen, dass die Stereotypisierungen von Muslimen als gewaltbereite Fanatiker wesentlich aus einem rechtspopulistischen Milieu stammen. Die Mohammed-Karikaturen wurden von eben diesem Milieu nicht im Sinne weiter Grenzen von Meinungsfreiheit, sondern in Anlehnung an die bereits laufende Migrationsdebatte, in der der soziale Ausschluss von Migrierenden aus muslimischen Ländern gefordert wird, instrumentalisiert. Vor diesem Hintergrund lassen sich verschiedene Haltungen zu den Mohammed-Karikaturen aus den Bereichen Journalismus, Satire und Politik herausarbeiten. Im Zentrum der Debatte zum Karikaturenstreit standen neben der belustigenden Bilder Mohammeds wesentlich die Rolle des Journalismus und die generelle Wirkung von derartigen Darstellungen. Dabei wurde von deutscher Seite beispielsweise der mediale Zusammenhalt betont, denn verschiedene Medien hätten sich durch den Abdruck der dänischen Bilder solidarisch gezeigt. „Doch die Attacken sorgten auch für einen bemerkenswerten Schulterschluss der bedrohten Medien. Als kalkulierte Geste der Solidarität wurden die Zeichnungen von 150 Zeitungen in 60 Ländern nachgedruckt – dabei war selbst im Mutterland Voltaires diese Entscheidung nicht ohne Risiko: Der Chefredakteur des ‚France Soir‘ wurde gefeuert, nachdem das Boulevardblatt die Bilder veröffentlicht hatte – Grund genug für ‚Charlie Hebdo‘, die Zeichnungen publik zu machen.“46

Der SPIEGEL wertete die Verbundenheit der Medien im Kampf um die Meinungsfreiheit positiv, wenngleich er Charlie Hebdo als das Blatt entlarvte, das während des gesamten Konflikts durch die Gestaltung der umstrittenen Titelseite bewusst Provokation suchte. Dies zeigt sich vor allem daran, dass die Ausgabe des französischen Satireblattes im Artikel als „Tabubruch“ dargestellt wurde, die selbst Spannungen im laizistischen Frankreich herbeiführte.47 Darüber hinaus brachten sich Schriftsteller in die Debatte ein, die spätestens seit Salman Rushdies „Die satanischen Verse“ (1988) mitunter ebenfalls in der Kritik standen. Der algerisch-französische Schriftsteller Salim Bachi beispielsweise verfasste mit weiteren Autoren wie Jean-Yves Cendrey, Didier Daeninckx, Paula Jacques, Pierre Jourde, Jean-Marie Laclavetine, Gilles Leroy, Marie NDiaye, Daniel Pennac, Patrick Raynal, Boualem Sansal einen Artikel zur Verteidigung des Rechtes auf 46 47

Simons, Das Recht auf Lächeln, S. 128. Ebd., S.  128. Vor diesem Hintergrund konstatiert Der SPIEGEL die Aufmerksamkeit und den ökonomischen Vorteil, die dem Satiremagazin in Frankreich durch die Ausgabe zum Karikaturenstreit zukamen: „Frankreichs Bürger hatten sich im Streit ‚Religion gegen Satire‘ offenbar längst für die Meinungsfreiheit entschieden – per Abstimmung am Zeitungskiosk. ‚Charlie Hebdo‘ kommt im Schnitt auf eine verkaufte Auflage von 60 000 Exemplaren; der inkriminierte Mohammed-Titel des Satireblatts fand 400 000 Kunden.“

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Meinungsfreiheit und auf Religionskritik.48 Sie verwiesen darauf, dass das Recht auf freiheitliches Leben nicht vom jeweiligen Glaubensbekenntnis abhänge. Was im Jahr 2006 in Frankreich passiert sei, sei befremdlich gewesen und nicht mehr zeitgemäß. Und deshalb sei das Recht auf „blasphème“ in einer freiheitlichen Gesellschaft umso mehr zu verteidigen.49 In dem Zusammenhang erinnerten sie auch an den islamkritischen Roman von Salman Rushdie, der eine globale Empörungswelle insbesondere in muslimischen Ländern auslöste und eine Fatwa gegen den britischen Autor mit iranischen Wurzeln zur Folge hatte.50 Über den deutsch-französischen Vergleich lässt sich herausstellen, dass das Recht auf Meinungsfreiheit in Frankreich gerade von Satirikern, Autoren und Journalisten nochmal vehementer verteidigt wurde als in Deutschland oder auch in anderen Ländern. Beispielsweise in Großbritannien und den USA entzündete sich zwar medial ebenfalls eine Debatte um den Abdruck der Mohammed-Karikaturen, anders als in Deutschland und in Frankreich, verzichteten US-amerikanische und britische Medien jedoch auf einen weiteren Abdruck der als blasphemisch wahrgenommenen Bilder.51 Satiriker sowohl in Frankreich als auch in Deutschland äußerten sich zu der Veröffentlichung weiterer Mohammed-Karikaturen unterschiedlich. Der damalige Chefredakteur von Charlie Hebdo, Philippe Val, verteidigte selbstredend die von ihm verantwortete Ausgabe und attackierte dabei verbal den französischen Staatspräsidenten: „Philippe Val, le directeur de Charlie Hebdo, s’est dit, lors d’une conférence de presse, ‚choqué‘ par les propos présidentiels et s’est défendu de toute provocation. ‚L’exercice de la liberté d’expression ne peut pas être considéré comme une provocation. Ce n’est pas parce que les gens ne la supportent pas qu’il faut y renoncer‘, a-t-il déclaré devant des journalistes français et étrangers. Il a justifié la publication des dessins par ‚solidarité‘ avec le directeur 48 49

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51

Bachi u. a., Des écrivains face à la caricature, 14.02.2006, S. 21. „On nous demande de porter un jugement esthétique, moral et sentimental, là où il n’est question que des principes fondamentaux pour nos démocraties: le droit des femmes et des hommes à vivre libres n’est certainement pas le credo des religions, et il ne le sera jamais. Il ne s’agit pas seulement d’être libre de se tromper. La vérité, c’est que nous sommes libres de blasphémer. Il y a quelque chose d’assez déconcertant, en France, en 2006, dans le fait de devoir rappeler qu’on a droit au blasphème,“ vgl. Bachi u. a., Des écrivains face à la caricature, 14.02.2006, S. 21. Vgl. Weidner im Gespräch, „Rückblickend ist die Fatwa ein epochales Ereignis“, Beitrag vom 12.02.2019 im Deutschlandfunk, https://​www.deutschlandfunkkultur.de/​stefan-weidner-ueber-salman-rushdie-rueckblickend-ist-die.1270.de.html?dram:article_​id=440834. „La presse française ne s’est pas censurée dans cette affaire. Plusieurs quotidiens ont reproduit les caricatures publiées d’abord dans un quotidien danois, notamment France Soir et Libération. Des hebdomadaires comme Le Nouvel Observateur ou Charlie Hebdo ont publié ces caricatures ou vont le faire.“ Le Monde avec AFP, Londres, Paris et Washington, 3.02.2006, https://​www.lemonde.fr/​europe/​article/​2006/​02/​03/​londres-paris-et-washington-appellent-au-respect-des-croyances-des-musulmans_​ 737853_​3214.html.

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de France Soir, limogé pour les avoir publiés, et assuré qu’il avait reçu un accueil favorable de L’Express et du Nouvel Observateur, lorsqu’il leur avait demandé de les publier à leur tour […]“,52

so Le Monde am 10. Februar 2006. Auch die als Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen im Iran angekündigten Karikaturen zum Holocaust wollte Val veröffentlichen, jedoch nicht, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen, sondern um satirisch gegen die Holocaustleugnung vorzugehen.53 Dass sich die französischen Karikaturisten hinsichtlich des Abdrucks der Mohammed-Karikaturen keinesfalls einig waren, wird aus einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich, der die Verschärfung der Debatte in Frankreich kommentierte: „Auch Le Canard enchaîné beherrscht die Kunst der satirischen Gotteslästerung. Die ebenfalls am Mittwoch erscheinende Zeitung (450 000 Exemplare) taufte sich in ‚satanische Gazette‘ um. Staatspräsident Jacques Chirac war umgehend um Schadensbegrenzung bemüht. Er kritisierte in einer öffentlichen Erklärung ‚alle Provokationen‘. Der Karikaturist des ‚Monde‘, der sehr subtil reagiert hat und bewußt darauf verzichtet, Mohammed zu zeichnen, hat in einem Interview das ‚Recht auf Selbstzensur‘ für sich in Anspruch genommen.“54

Der deutsche Cartoonist Ralf König wurde für seine Arbeiten zum Karikaturenstreit im Juni 2006 auf dem Internationalen Comic-Salon in Erlangen mit dem „Max-und-Moritz-Preis“ geehrt.55 Er hatte sich generell auf die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen, nicht speziell auf die französischen Bilder bezogen. In der Laudatio heißt es: „Ralf König ist dem Versuch, eine grafisch artikulierte Meinung durch gewalttätige Proteste zu unterdrücken, seinerseits mit grafisch artikulierter Meinung entgegen getreten. Als homosexueller Künstler, der die Homosexualität zum Hauptthema seiner Arbeit erhob, hat Ralf König stets selbst in einem repressiven und Diskriminierungen ausgesetzten Klima gewirkt. Der Zuspitzung des Zensur-Falls Mohammed zu witziger Kritik liegen bei König also soziale und persönliche Erfahrungen zugrunde, die ihn die Feder gegen jede Art von 52 53

54 55

Gurrey, M. Chirac condamne ‚toute provocation‘, 10.02.2006, S. 4. „Le directeur de Charlie Hebdo a par ailleurs annoncé qu’il publierait les dessins du concours de caricatures sur l’Holocauste, organisé en Iran. ‚Cette fois, ce ne sera pas au nom de la liberté d’expression, mais pour lutter contre le négationnisme‘, a-t-il précisé, tandis que la Licra exprimait son ‚dégoût profond‘, vis-à-vis de ce concours,“ Gurrey, M. Chirac condamne ‚toute provocation‘, 10.02.2006, S. 4. A[ltwegg], Satanische Satiriker, S. 46. Vgl. Website von Ralf König.

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Meinungsunterdrückung erheben lassen. Seine Arbeit impliziert die Forderung, dass in einer freien Gesellschaft auch die so genannte Verletzung religiöser Gefühle ausgehalten werden muss.“56

König hatte selbst verlautbaren lassen, dass der Westen „gegenhalt[en] und seine demokratischen Werte ohne Wenn und Aber und Entschuldigungen verteidig[en] [müsse], [sonst] ist’s bald vorbei mit Presse- und Meinungsfreiheit.“57 In seiner visuellen Satire zum Karikaturenstreit verzichtete er aber auch weitgehend auf Mohammed-Karikaturen. Lediglich eine Zeichnung deutet die Abbildung des Propheten an. Ein Zeichner steht an der Tafel und beginnt die Zeichnung des Propheten. Die Bildfolge, die typisch für Cartoons ist, dokumentiert dabei den Prozess des Zeichnens. Indem König das wesentliche Bild auslässt und im letzten Bild die Zeichnung modifiziert darstellt, spielt er lediglich auf die Abbildung an. Es handelt sich dabei um eine visuelle Leerstelle, das Bild erscheint lediglich im Kopf des Betrachters. Im letzten Bild schaut dem Zeichner eine muslimische Frau mit Kopfbedeckung über die Schulter, weshalb er schnell noch die Zeichnung, die eigentlich eine Mohammed-Karikatur werden sollte, abwandelt. Stattdessen versieht er den gezeichneten Kopf mit einem Indianerhut. Unter der Zeichnung stand bereits „MOH“, das auf „Mohammed“ anspielen sollte. Im letzten Bild vervollständigt der im Bild dargestellte Zeichner das Wort und es steht „MOHANIKANER“ geschrieben.58 Politiker unterschiedlicher Lager aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den USA appellierten hingegen an die Verantwortung des Journalismus und der Satiriker im Konflikt.59 So auch der damalige konservative Staatspräsident Jacques Chirac: „Pour sa troisième intervention publique sur l’affaire des caricatures de Mahomet, qui enfièvre le monde musulman, Jacques Chirac a haussé le ton, mercredi 8 février en conseil des ministres, jour de la publication par Charlie Hebdo des douze dessins controversés: ‚Je condamne toutes les provocations manifestes, susceptibles d’attiser dangereusement les passions‘, a dit le chef de l’Etat. Il a demandé au gouvernement d’être ‚particulièrement vigi56 57

58

59

Vgl. ebd. Ralf König zitiert nach: Pl[atthaus], Ralf König, https://​www.faz.net/​aktuell/​feuilleton/​debatten/​ralfkoenig-die-schrift-auf-der-wand-1302226.html. Die Bildfolge ist auf der Website von Ralf König einsehbar, http://​www.ralf-koenig.de/​karikaturenstreit.html. „La Grande-Bretagne s’est désolidarisée des pays où les caricatures ont été publiées, jugeant que cela témoignait d’un ‚manque de respect‘. ‚Je pense que la nouvelle publication de ces caricatures n’était pas nécessaire‘ […] a estimé le ministre des affaires étrangères britannique, Jack Straw […]“, Le Monde avec AFP, Londres, Paris et Washington, 03.02.2006, https://​www.lemonde.fr/​europe/​article/​2006/​02/​ 03/​londres-paris-et-washington-appellent-au-respect-des-croyances-des-musulmans_​737853_​3214. html.

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lant sur la sécurité‘ des ressortissants francais à l’étranger. Le président a rappelé la position balancée, entre liberté d’expression et respect des croyances, adoptée le 3 février à l’issue d’une rencontre avec le président du Conseil francais du culte musulman (CFCM), Dalil Boubakeur. […] Il a enfin exhorté à un esprit de ‚responsabilité‘.“60

Auf deutscher Seite standen die dänischen Mohammed-Bilder im Zentrum der Debatte und wurden vor allem von Politikern kritisiert. Führende Politiker und Politikerinnen wie Horst Köhler, Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier verurteilten die Ausschreitungen auf das Schärfste, räumten aber auch Verständnis für die Verletzung religiöser Gefühle ein.61 In Frankreich wurde die Gerichtsverhandlung, die die Schuldigkeit von Charlie Hebdo juristisch bewerten sollte und die im Februar 2007 angesetzt war, anders als noch der Karikaturenstreit selbst zum Spektakel politischer Stellungnahmen. Nicht nur der Politiker der Linken François Hollande (Parti socialiste) pflichtete dem Satireblatt bei und äußerte sich als Zeuge im Prozess. Sogar Sarkozy, der in den Ausgaben von Charlie Hebdo ein häufig verwendetes Motiv darstellte und der selbst regelmäßig gegen das Blatt geklagt hatte, stellte sich auf die Seite der Satiriker.62 Im Prozess positionierte er sich zugunsten des französischen Blattes, indem er die französische Satiretradition und deren Wichtigkeit für die Meinungsfreiheit betonte. Mit Blick auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen ist der Einsatz von Nicolas Sarkozy (UMP) ebenso wie der von François Hollande63 – eigentlich politische Rivalen – für die bissige Satire von Charlie Hebdo als öffentlichkeitswirksame Wahlkampagne zu verstehen. Medial wurde der Prozess als Schaulaufen verschiedener Politiker im französischen Präsidentschaftswahlkampf 2007 gewertet: „Bei der Klage islamischer Organisationen gegen das französische Satireblatt ‚Charlie Hebdo‘ ging es um den Schutz hehrer Grundrechte, um Rassismus und Religion ebenso wie um geschicktes Finassieren im laufenden Präsidentschaftswahlkampf.“64

Die Veröffentlichung bezeichnete Chirac als „provocation“ und sprach sich für eine ausgewogene Haltung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Respekt vor Glaubensrichtungen aus. Innenpolitisch waren die Mohammed-Karikaturen vor dem Hintergrund einer seit dem Ende des Algerienkriegs und der Kolonialzeit anhaltenden Migrationsdebatte zu sehen. Erst 60 61

62 63

64

Gurrey, M. Chirac condamne ‚toute provocation‘, 10.02.2006, S. 4. Vgl. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (lpb–bw), Der Karikaturenstreit, https://​www.lpb-bw.de/​karikaturenstreit. Vgl. Platthaus, Das geht ins Auge, S. 421ff. Hollande kandidierte zwar nicht selbst als Kandidat, setzte sich aber dennoch für eine erfolgreiche Kampgane der Parti Socialiste ein. Simons, Das Recht auf Lächeln, S. 128.

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im Jahr 2005 brachen soziale Unruhen in den Vororten einiger Großstädte – den sogenannten Banlieues – aus, etwa in Paris, Rouen oder Marseille. Franzosen, vornehmlich mit nordafrikanischem Migrationshintergrund randalierten, um auf soziale Unterschiede, Diskriminierung und somit auf die prekäre Situation der Menschen in den Banlieues aufmerksam zu machen. In diesem Kontext hatte vor allem der damalige Innenminister und spätere Staatspräsident Nicolas Sarkozy die Menschen in den Vororten als Gesindel bezeichnet.65 Auch hatte sich die rechtspopulistische Partei Front National zunehmend dem Thema Migration zugewendet, womit sie mit Jean-Marie Le Pen erhebliche Wahlerfolge verbuchen konnte. Im Jahr 2002 war der Parteivorsitzende in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen eingezogen, den er dann mit nur 17,79 Prozent der Stimmen gegen Jacques Chirac verlor.66 2007, noch unter der Führung von Jean-Marie Le Pen, stellte sich der Front National gegen das französische Satiremagazin, wenngleich es islamkritische Karikaturen abdruckte.67 Spätestens im Jahr 2015, nach dem grausamen Attentat auf die Charlie Hebdo-Redaktion, nutzte der rechtsextreme Front National die Gewalttat, um Muslime im Allgemeinen zu stigmatisieren und das bereits skeptische Meinungsbild in der französischen Gesellschaft hin zu einer generellen Islamfeindlichkeit zu beeinflussen. Der deutsche SPIEGEL kommentierte dieses Phänomen folgendermaßen: „‚Charlie Hebdo‘ hat plötzlich seltsame neue Freunde gewonnen. Mehrere Hundert FN-Anhänger sind an diesem Sonntag auf dem Marktplatz von Beaucaire zusammengekommen. Das Dorf in Frankreichs Südosten ist eine Bastion der Rechten. Auch aus den umliegenden Dörfern sind einige FN-Fans angereist.“68

Auch in Deutschland nutzte die rechtsextreme und verfassungsfeindliche Gruppierung „Pro NRW“ einige Jahre später die Karikatur von Kurt Westergaard zu Propagandazwecken und antimuslimischer Hetze.69 Die Debatte um den Abdruck der Mohammed-Karikaturen ist also vor einem gegen Migration agierenden, stetig zunehmenden Rechtspopulismus zu sehen ebenso wie vor dem Hintergrund einer wachsenden Skepsis gegenüber einer muslimischen Minderheit in beiden Ländern, die spätestens seit dem Anschlag auf das World Trade Center im September 2001 mit einem religiös motivierten Terrorismus in Verbindung gebracht wur65 66 67 68

69

Vgl. Hüser, Die sechs Banlieue-Revolten im Herbst 2005, S. 15–54. Vgl. Camus, Der Front National, S. 109–136. Vgl. Platthaus, Das geht ins Auge, S. 421. Salloum, Frankreich und der Front National, SPIEGEL online, 11.01.2015, https://​www.spiegel.de/​politik/​ausland/​charlie-hebdo-marine-le-pen-spaltet-frankreich-a-1012426.html. Pro NRW darf islamkritische Karikaturen zeigen, in: Die Welt, 07.05.2012, https://​www.welt.de/​politik/​ deutschland/​article106268827/​Pro-NRW-darf-islamkritische-Karikaturen-zeigen.html.

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de und noch immer wird.70 In Anlehnung an eine in Frankreich weiterhin wachsende Skepsis gegenüber dem Islam nicht nur als Religion, sondern auch als politischer Bezugspunkt in der „islamischen Welt“ muss die Haltung konservativer ebenso wie linker Politiker zugunsten weiter Grenzen der Satire verstanden werden. Dabei wird vor allem eines deutlich: Bereits im Jahr 2006, als sich Charlie Hebdo für die Laizität und die Meinungsfreiheit als Grundsäulen einer liberalen französischen Gesellschaft starkmachte, wurde Charlie Hebdo und dessen islamkritische Satire von einer politischen Rechten für die eigenen Ziele gegen eine zunehmende Migration instrumentalisiert. Auch nach 2006, als Charlie Hebdo weitere Mohammed-Karikaturen veröffentlichte, waren es vornehmlich rechte bis hin zu rechtsextremen Politikern, die sich im Diskurs hinter das französische Satiremagazin stellten. „Charlie Hebdo wurde von unterschiedlichen Gruppen zu einem Symbol gemacht und als solches instrumentalisiert. Bilder wurden zu aus dem Kontext gerissenen Zerrbildern, mit deren Hilfe sich entsprechend verzerrte Wahrnehmungen und Weltbilder transportieren ließen: Charlie als Märtyrer der Freiheit, als Ventil für rechtspopulistische Propaganda, als Stellvertreter-Beispiel für allgegenwärtige Rassismen, als Kriegserklärung an ‚den‘ Islam.“71

Noch vor 2006 war insbesondere die katholische Kirche das Ziel satirischen „Angriffs“. Als seit 2006 dann der Schutz einer „fremden“ Religion und einer kulturellen Minderheit diskutiert wurde, wurden auch gesellschaftliche Werte anders verhandelt. Dabei zeigt sich deutlich, dass über die Mohammed-Karikaturen verschiedene Haltungen zum Schutz des „Eigenen“ und des „Fremden“ sichtbar werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch eine politische Linke verorten, wie beispielsweise die LINKE im deutschen Bundestag, die sich für engere Grenzen der Meinungsfreiheit und einen verantwortungsvollen Journalismus zugunsten des Respekts vor kulturellen Minderheiten in westlichen Gesellschaften einsetzte: „Es steht außer Frage, dass die Pressefreiheit ein Grundrecht und ein unverzichtbares Gut des freiheitlich-demokratischen Staates ist. Jedoch gehört ebenso die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der religiösen Überzeugung zu den Grundrechten. Zudem hat jede Freiheit dort ihre Grenze, wo sie die Würde des Anderen vorsätzlich verletzt. Durch die Karikaturen sind Hunderte Millionen Muslime in ihrer religiösen Überzeugung und ihrer Menschenwürde tief verletzt worden. Dies müssen wir ernst nehmen […] Islam-

70

71

Die wachsende Skepsis gegenüber Mitbürgern mit Migrationshintergrund vor allem aus muslimischen Ländern zeigt sich deutlich im Meinungsbild der Franzosen: vgl. Liehr, Frankreich, S. 98. Schröer, Charlie als Symbol, S. 48.

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feindlichkeit hat in den westlichen Ländern leider eine lange Tradition. Muslime werden oft unsachlich und verzerrt dargestellt.“72

Es zeigt sich auch, dass die Grenzen von Satire und das damit eng verknüpfte Konzept der Meinungsfreiheit maßgeblich davon abhängen, ob es um das Verlachen „eigener“ oder „fremder“ Tabus geht. Sowohl für Frankreich als auch für Deutschland ist dahingehend eine Gemeinsamkeit festzustellen: Die von der Satire beanspruchte Meinungsfreiheit wird in den Diskussionen vor allem als Vehikel verstanden, um bestehende Normen, Werte und Tabus zu hinterfragen und gesellschaftliche Transformationsprozesse voranzubringen. Trägt diese, wie im Falle der Mohammed-Karikaturen, zum Schutz der „eigenen“ kulturellen Identität vor den Einflüssen einer „fremden“ Kultur bei, wird sie gerade von einer politischen Rechten verteidigt, die sich gegenüber Migration aus muslimischen Ländern skeptisch verhält. Richtet sich hingegen die von der Satire genutzte Meinungsfreiheit gegen bestehende Werte der „eigenen“ Kultur, werden von derselben (politischen) Rechten engere Grenzen des Sag- und Zeigbaren gefordert. Dies zeigt sich insbesondere in zahlreichen Haltungen zur Papst-Satire von Titanic, die nicht nur öffentliches Aufsehen erregte, sondern das interkulturelle Konkurrenzverhältnis zwischen christlichen und muslimischen Gläubigen sichtbar macht. In der Juli-Ausgabe des Jahres 2012 wurde Papst Benedikt im Zuge der „Vatileaks-Affäre“73 mit besudelter Soutane abgebildet. Bei der umstrittenen Titelseite handelt es sich um eine Fotomontage, die sowohl Urin- als auch Kotflecken auf dem Gewand suggerierte. In der Folge erhielt die Titanic-Redaktion Beschwerdebriefe, die die Unverständlichkeit ihrer Verfasser dahingehend zum Ausdruck brachte, dass religiöse/​kulturelle Minderheiten in Deutschland einen größeren Schutz genießen würden als die christliche Religion bzw. Kultur. Darüber hinaus bezeugt etwa die folgende Beschwerde, dass der Islam als Bedrohung für eine „westliche“ Kultur wahrgenommen wurde. „Es gehört kein Mut dazu, über ihn [den Papst] Witze zu machen. Aber Mut gehört dazu, den Islam mit allem was dazugehört bloßzustellen, bloßzustellen als menschenverachtende Ideologie, als fataler geistiger Irrweg! Wenn Sie das machen, dann würde ich vor Ihnen den Hut ziehen. Und sie würden sich auch für die Meinungsfreiheit in unserer Demokratie und damit auch für unsere Demokratie einsetzen, die durch den Islam bedroht ist.“74

72

73 74

Stellungnahme der Linksfraktion im Bundestag, 20.02.2006, https://​www.linksfraktion.de/​themen/​ nachrichten/​detail/​dialog-auf-gleicher-augenhoehe/​. Vgl. Titanic, Nr. 7 (2012), Titelseite. Die Titanic-Bibel, S. 129.

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Eine Besonderheit der französischen Debatte manifestiert sich vor allem in einer Kritik an der politischen Linken aus dem linken Milieu selbst. Eine wichtige Funktion nahm dabei die dem linken Spektrum zuzuordnende französische Tageszeitung Libération ein: „Ne parlons pas de Chirac. C’est malheureusement devenu une quasi-habitude chez lui de parler quand il faut se taire et de se taire quand il faut parler. Où est la gauche de la défense des libertés fondamentales? On ne l’a pas beaucoup entendu du soutenir Charlie Hebdo. Comment peut-alle prétendre gouverner la France sans prononcer des paroles fortes sur une question aussi décisive? Bourdieu, réveille-toi! Où est le temps où, pour accueillir Rushdie sur le plateau d’Arte, tu te trouvais en compagnie de Derrida, Susan Sontag ou Toni Morrison?“75

Die Journalisten von Libération fragten danach, weshalb sich eigentlich die politische Linke in dem Wertekonflikt derart zurückhielt, die sie als Verteidigerin der Grundrechte gegenüber einem konservativen Jacques Chirac versteht, von dem keine andere Haltung zu erwarten gewesen sei. Libération entschied sich zwar selbst gegen den Abdruck der dänischen Mohammed-Karikaturen, stellte sich dennoch eindeutig hinter Charlie Hebdo: „Alors, oui, merci, Charlie. Face à ces renoncements en cascade, merci de ne céder ni à la peur, ni à la confusion, ni au rempli. Merci de témoigner que la France n’est pas seulement cet assemblage de volontés molles. C’est ausi cet esprit des Lumières que vous incarnez. Merci, Charlie, de défendre en ces temps troubles l’honneur du journalisme. Et, puisque la grandeur de ce métier est de porter la plume dans la plaie, j’émets le voeu que les confrères fassent de vous les lauréats du prix Albert-Londres.“76

In der Debatte um die Mohammed-Karikaturen 2006 offenbart sich eine Identifikationskrise der Linken in Frankreich. Während sich der eine Teil hinter die Satirezeitschrift Charlie Hebdo stellte und das Recht auf Meinungsfreiheit und Blasphemie im laizistischen Frankreich vehement verteidigte, hielt sich eine andere Seite weitgehend zurück. Zeitgenössisch wurde dieses Phänomen mit Blick auf die anstehenden Präsidentschaftswahlen begründet. Wird die Debatte um Mohammed-Karikaturen jedoch auch nach 2006 weiterverfolgt, zeigt sich eine deutlich gespaltene Haltung der Linken; und dies gilt sowohl für Deutschland als auch für Frankreich. Während die eine Seite sich weiterhin hinter Satirezeitschriften wie Charlie Hebdo stellte und weite Grenzen des Sag- und Zeigbaren als eines der wichtigsten Grundrechte demokratischer 75 76

Leconte, „Merci ‚Charlie Hebdo‘“, S. 32. Ebd., S. 32.

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Gesellschaften versteht, etablierte sich parallel eine Haltung, die ebenfalls aus dem linkspolitischen Milieu stammt und die Mohammed-Karikaturen als rassistisch und fremdenfeindlich begreift. Vor diesem Hintergrund ist auch die Kritik an weiteren Künstlern wie der Cartoonistin Franziska Becker zu verstehen, die im Zuge einer Preisverleihung wegen ihrer islamkritischen Cartoons als rassistisch und fremdenfeindlich bezeichnet wurde. Bereits 2006 deutete sich vor allem in Frankreich an, dass die Debatten um die Mohammed-Karikaturen an tiefgreifende Identitätsfragen anschließen. Außerdem lässt sich beobachten, dass sich das Spektrum der politischen Linken dahingehend ausdifferenziert, was in kulturell heterogenen Gesellschaften als sag- und zeigbar gilt.

Die französischen Mohammed-Karikaturen: Bilanz und Ausblick Anhand der Debatten um religionsbezogene Satire wird deutlich, dass die Grenzen des Sag- und Zeigbaren und die Meinungsfreiheit mit Blick auf den Schutz des „Eigenen“ und des „Fremden“ 2006 unterschiedlich ausgelegt wurden. Rechte Haltungen verschoben sich zugunsten weiter Grenzen von Meinungsfreiheit, wenn der Schutz „fremder“ Kulturen im „eigenen“ Kulturraum zum Diskussionsthema wurde. Umgekehrt wurde die Meinungsfreiheit wiederum dem Schutz der „eigenen“ Kultur unterstellt. Innerhalb der politischen Linken werden zwei Linien erkennbar: Einerseits wurde das Recht auf Satire gegen jedweden religiösen Glauben verteidigt – so etwa auch in der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die sich als Vorkämpferin im Kampf um die Meinungsfreiheit verstand. Andererseits wurde die kulturelle Öffnung im Sinne gesellschaftlicher Liberalisierung verteidigt und vor diesem Hintergrund Mohammed-Karikaturen generell als islamfeindlich und rassistisch verurteilt. Das Augenmerk wurde dabei auf das im Islam verankerte Tabu gelegt, das von westlichen Medien gebrochen wurde. Der Tabubruch der von einer gesellschaftlichen Mehrheit heraus in eine kulturelle „Outgroup“ hineinwirkte, wurde als Affront und als Provokation verstanden. An den Debatten um religionsbezogene Satire werden somit kulturelle Identitätsfragen deutlich, die sich wiederum auf die Grenzen des Sag- und Zeigbaren auswirken. Darüber hinaus bleibt zu konstatieren, dass es sich beim Karikaturenstreit zwar um eine globale öffentliche Debatte handelte, die jedoch aus tiefergehendem Blickwinkel einige nationale Unterschiede offenbart. Über nationale Grenzen hinaus war die Frage nach dem Abdruck der dänischen Mohammed-Bilder und auch weiterer Karikaturen des Propheten in der medialen Berichterstattung und in der Satire zentral. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich manifestiert sich darin, wie sich Satire einerseits auf den Karika198

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turenstreit bezog, die gewöhnlich als grenzüberschreitend wahrgenommen wird, und welche Funktion sie andererseits für den weiteren Verlauf des Konfliktes einnimmt. Gerade die in Deutschland geführte mediale Debatte um den Abdruck der Mohammed-Karikaturen während des ‚Karikaturenstreits‘ macht zweierlei deutlich: Zum einen verteidigten deutsche Medien zwar das Recht auf Meinungsfreiheit und stellten sich so auf dieselbe Seite wie Medien in Frankreich. Zum anderen grenzten sich Satiriker teilweise deutlich vom Abdruck weiterer Mohammed-Karikaturen in Frankreich ab, indem die französischen Satiremagazine kritisch beäugt wurden. Die Debatte in deutschen Printmedien erhärtet den Eindruck, der bereits durch die Auswahl der Inhalte und der Darstellungsmittel in der Titanic-Ausgabe zum Vorschein kommt. Die deutsche Öffentlichkeit diskutierte zwar die Wichtigkeit der Meinungsfreiheit für demokratische Gesellschaften, Journalisten und Medien hielten sich beim Abdruck der dänischen Karikaturen dennoch weitgehend zurück. Gerade wenn Fragen nach der Entstehung von Empörung und nach den Mechanismen von gewaltbereiten Kollektiven in modernen Konflikten aufgeworfen werden, müssen mediale Faktoren noch stärker in den Blick genommen und Fragen nach der Rolle von Medien als Akteure in globalen Konflikten häufiger gestellt werden. Durch technische Innovationen kommt es zu einem schnelleren Informationsfluss, neuen Möglichkeiten der medialen Mobilisierung sowie zur Entkontextualisierung und Neurahmung von Medieninhalten. Dies war auch für den Konflikt im Jahr 2006 ausschlaggebend.77 In zukünftigen Studien, die nach Veränderungen des Sag- und Zeigbaren fragen und dabei das Verhalten verschiedener Teilöffentlichkeiten in den Blick nehmen, muss somit auch der Hintergrund einer globalen Öffentlichkeit Berücksichtigung finden. Insbesondere die französischen Mohammed-Karikaturen, die nicht allein auf 2006 beschränkt blieben, sondern seit dem sogenannten Karikaturenstreit immer wieder (trans-)nationale Debatten bis hin zu gewaltsamen Protesten über Ländergrenzen hinaus hervorriefen, stellen hinsichtlich der Beschäftigung mit den aktuellen Grenzen des Sag- und Zeigbaren sowie medialen Mechanismen einen wichtigen Untersuchungsgegenstand dar. Zwar wurden die Karikaturen des Propheten nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo zu Beginn des Jahres 2015 mitunter als Symbole westlicher Meinungsfreiheit im Kampf gegen islamistischen Terrorismus begriffen, dennoch blieb auch der Vorwurf des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit, der angeblich von dem Satireblatt ausgehe, weiterhin bestehen.78 Sich mit den aktuellen Grenzen von Satire zu beschäftigen, bedeutet vor allem auch, sich religionsbezogener Satire mit Blick auf Kategorien des „Eigenen“ und des „Fremden“ zu widmen. Die Historikerin Martina Kessel konstatiert:

77 78

Vgl. Debatin, The Cartoon Debate, S. 13–23. Vgl. Wilde/​Packard, Charlie Hebdo.

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„Menschen handeln mit Spott und Gelächter Ehrbegriffe aus, lösen oder verschärfen Spannungen. Die Entscheidung, wer mit wem über wen oder was lachen darf, verweist auf die ‚heiligen Kühe‘ einer Gesellschaft, auf Überzeugungen oder Werte, die nicht karikiert werden dürfen.“79

Satire ist daher ein Ort der Sichtbarmachung von Tabus, von umstrittenen Konventionen, von im Wandel begriffenen Werten wie auch von kulturellen Konfliktthemen, die auf die Definition der „eigenen“ und der „fremden“ Identität zurückzuführen sind. Gerade die zunehmenden Diskussionen um die Grenzen des Sag- und Zeigbaren, die aktuell häufig den Bereich der Komik betreffen, verweisen auf identitätsbezogene Unsicherheiten in der Definition dessen, was als das „Eigene“ und das „Fremde“ verstanden wird. Durch den Karikaturenstreit wird deutlich, dass das im Islam diskutierte Abbildverbot des Propheten zu einem westlichen Tabu wird. Dabei geht es anders als in der islamischen Kultur primär nicht um den Schutz der Heiligkeit Mohammeds, sondern vielmehr um den Schutz religiöser, vor allem auch kultureller Minderheiten in westlichen Gesellschaften. Ein genuin religiöses Tabu wird zu einem weltlichen Tabu und diese zwei Ebenen treten in den Debatten um die Mohammed-Karikaturen bis heute in Konkurrenz zueinander. Gerade die überspitzte und provokative Form der Bildsatire spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle, weshalb schnell von Schmähung und Blasphemie gesprochen und die Grenze religionsbezogener Satire als verletzt angesehen wird.

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Provokation oder Kampf um republikanische Werte? Charlie Hebdo und die Grenzen des Sag- und Zeigbaren

Weston, Jane, A-t-on le droit de rire de tout ? La défense de la laïcité par Charlie Hebdo dans le contexte de l’affaire des caricatures danoises, in: Gardes, Jean-Claude (Hrsg.), Caricature et religion(s) (Ridiculosa 15), Brest 2008, S. 517–530. Wilde, Lukas R.A./​Packard, Stephan (Hrsg.), Charlie Hebdo: Nicht nur am 7. Januar 2015!, online-Publikation der Gesellschaft für Comicforschung, Juli 2018. Zehrer, Klaus Cäsar, Dialektik der Satire. Zur Komik von Robert Gernhardt und der „Neuen Frankfurter Schule“, Bremen 2001.

Bildquellen Abb. 1: Mohammed-Bilder, in: Görlach, Auf Gute Nachbarschaft, 05.01.2010, https://​www.theeuropean.de/​ alexander-goerlach/​771-der-widerstreit-zweier-lebensentwuerfe. Abb. 2: „Mohammed-Bild“, in Titanic, Nr. 3 (2006), S.  66, https://​www.titanic-magazin.de/​heft/​klassik/​ 2006/​maerz/​making1/​, aufgerufen am 12.03.2020, um 20.32 Uhr. Abb. 3: Titelseite der umstrittenen Ausgabe von Charlie Hebdo, in: Charlie Hebdo, Nr. 712 (2006), Titelseite, Abbildung aus Granchet, Les caricatures de Charlie Hebdo devant la justice, S. 65. Abb. 4: Titelseite der Titanic-Ausgabe zum Karikaturenstreit, in: Titanic, Nr. 3 (2006), https://​www.titanic-magazin.de/​heft/​klassik/​2006/​maerz/​, aufgerufen am 12.03.2020, um 20.25 Uhr.

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Die parasitäre Komik gegenwärtiger Mediensatire: Neo Magazin Royale Nils Jablonski

Lärmende Eiertänze: Tucholskys Semiotik der Satire Dem Sag- und Zeigbaren in der Satire scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein  – sofern man Kurt Tucholskys Frage, die er in und mit seinem 1919 im Berliner Tageblatt erschienenen Artikel stellt, als eine rhetorische liest: „Was darf Satire?“, fragt er und antwortet darauf mit einem so knappen wie provokanten Fazit am Ende seiner Ausführungen: „Alles!“1 Anders als es die normativ gestellte Frage im Titel des Artikels erwarten lässt, erweist sich Tucholskys Zeitungsbeitrag jedoch nicht als regelpoetische Anleitung, die für eine satirische Behandlung angemessene Gegenstände und Verfahrensweisen erläutert und empfiehlt. Vielmehr liefert Tucholsky eine grundlegende Reflexion über die gesellschaftspolitische Funktion der Satire in Bezug auf ihre Rezeption: Den Satiriker versteht er als „gekränkt[en] Idealist[en]“, der „zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz“ vollführe, wobei ihm und seiner „Kunst“ nichts weiter als „bürgerliche Nichtachtung“ und ein „empört[es] Fauchen“ entgegengebracht werden.2 Den Grund für diese Gering- bis Nichtachtung der Satire sieht Tucholsky in einer Verwechslung von Dargestelltem und Darstellendem.3 Versteht man unter letzterem nicht die Person, die das Satirische vermittelt, bietet sich aufgrund der von Tucholsky vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen satirischer Inhalts- und Ausdrucksseite die Möglichkeit einer semiotischen Betrachtung. In Bezug auf das Sag- und Zeigbare in der Satire lässt sich also zwischen Dargestelltem und Darstellendem, satirischen Signifikaten und satirischen Signifikanten unterscheiden. Worauf bezieht sich also Tucholskys Frage, die aufgrund eines unvollständigen Modalverbkomplexes elliptisch bleibt? Vervollständigt man sie zu „Was darf Satire behandeln?“, dann 1 2 3

Tucholsky, Was darf Satire?, S. 44. Ebd., S. 43f. Vgl. ebd., S. 43.

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verweist sie auf das Dargestellte, die satirischen Signifikate also. Sie finden sich allenthalben in der Welt, der außersatirischen Wirklichkeit, wenn man so sagen will, und diese ist  – laut Tucholsky – in der Wahrnehmung des Satirikers immer „schlecht“ und es ist dieses „Schlechte“, wogegen der „characktervoll[e] Künstler[], der um des Guten willen kämpft“, anrennt, gewissermaßen: Sturm läuft.4 Auf die so probehalber vervollständigte Frage muss daher genau jene Antwort gegeben werden, die am Ende des Artikels steht: „Was darf Satire behandeln? Alles!“ Dem Sag- und Zeigbaren in der Satire sind in Bezug auf das Dargestellte also offenbar keine Grenzen gesetzt, weil die satirischen Signifikate sich als grenzenlos erweisen. Anders verhält es sich mit dem Darstellenden, den Mitteln und Verfahren, aus denen  – wenn man sie als Signifikanten versteht  – nach Tucholsky überhaupt erst die satirische „Kraßheit“ resultiert.5 Die elliptische Frage „Was darf Satire?“ muss, um die Funktion des Darstellenden zu erfassen, durch ein Vollverb ergänzt werden, das nicht die satirische Tat betrifft, sondern die satirische Tätigkeit: „Was darf Satire machen?“ Hierauf wieder mit der emphatischen Proklamation „Alles!“ zu antworten, wäre insofern falsch, als es genau jene Verwechslung von Dargestelltem und Darstellendem bedeuten würde, die Tucholsky als Problem der Satirerezeption identifiziert. Zu fragen, was Satire machen darf, heißt deshalb, die Frage danach zu stellen, wie sie es macht. Es die Frage nicht nach der Melodie, zu der die Satiriker*innen ihren ‚Eiertanz‘ aufführen, sondern es ist die viel grundlegendere Frage nach dem Rhythmus und dem Takt eines solch satirischen Tanzes. Was also macht die Satire? Laut Tucholsky „bläst [sie] Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird“.6 Bekanntlich steht für Friedrich Schiller der „tragische Dichter, so wie überhaupt jeder Dichter, nur unter dem Gesetz der poetischen Wahrheit“7 – und dies gilt offenbar genauso für die Satirikerin und den Satiriker, denn Tucholskys ‚aufgeblasener‘ Wahrheit der Satire eignet jene ästhetische Wirkung, die Schiller der poetischen Wahrheit der Dichtung zuspricht: „[E]s ist die poetische, nicht die historische Wahrheit, auf welche alle ästhetische Wirkung sich gründet. Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, daß etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, daß es geschehen konnte, also in der innern Möglichkeit der Sache. Die ästhetische Kraft muß also schon in der vorgestellten Möglichkeit liegen.“8

Ähnliches gilt für die Satire, die Wirklichkeit nicht einfach darstellt, sondern zwecks einer zumeist komisierenden Wirkung verfremdet. Deshalb muss sie laut Tucholsky „übertreiben“ und

4 5 6 7 8

Ebd. Ebd. Ebd. Schiller, Ueber die tragische Kunst, S. 272, Hervorhebung im Original. Schiller, Über das Pathetische, S. 448, Hervorhebung im Original.

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„ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht“ erscheinen.9 Dadurch begründet sich auch die kakophone Melodie des satirischen Eiertanzes, der stets eine öffentliche und damit politische Angelehenheit ist, denn „[d]ie Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist“, wie es gleich zu Anfang des Artikels heißt.10

Vom satirischen Lärm zur parasitären Komik Satirisch tätig zu sein, bedeutet vor allem also eines: Lärm zu machen. Dieser stellt seinerseits eine Grundbedingung aller Satire dar, was bereits die Titel der mithin bekanntesten Satirezeitschriften des 19. Jahrhunderts veranschaulichen: Le Charivari, das 1832 von Charles Philipon gegründete Schwesterblatt zu seiner Zeitschrift La Caricature, trägt den Lärm insofern indirekt, aber ganz und gar programmatisch im Namen, als dieser auf das griechische ‚Karebaria‘ zurückgeht, was ‚Kopfschmerz‘ bedeutet. Der Begriff ‚Charivari‘ bezeichnet im Französischen nämlich einen seit dem Mittelalter in Europa verbreiteten Brauch, die Hochzeit von älteren Männern mit jüngeren Frauen oder von Witwen mit jüngeren Männern durch einen ohrenbetäubenden Lärm zu begleiten. In Frankreich bilden die Charivaris seit dem 19. Jahrhundert eine neue Traditionslinie: Durch lärmende Störungen der Nachtruhe artikuliert das Volk seine Kritik an verfassungsmäßig geschützten Volksvertretern.11 Analog zum französischen ‚Charivari‘ bezeichnet ‚Kladderadatsch‘ in der Berliner Mundart einen besonders lauten Lärm. Diesen macht das 1848 erstmalig in Berlin (und zwischenzeitlich mit Verlagsort in Leipzig und Eberswalde) erscheinende gleichnamige Periodikum insofern, als es im deutschsprachigen Raum zum populärsten Witzblatt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avanciert. Auch im 1896 erstmals erscheinenden Simplicissimus manifestiert sich der satirische Lärm genauso indirekt – das aber nicht im Titel, der sich auf die im 17. Jahrhundert von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen geschaffene Romanfigur bezieht. Der satirische Lärm des Simplicissimus artikuliert sich auf der bildlichen Ebene im stummen Bellen seines – mit Tucholsky gesprochen – ‚Wappentiers‘, der von Thomas Theodor Heine entworfenen roten Bulldogge.12 Ähnlich wie im Fall der Simplicissimus-Bulldoge klingt der satirische Lärm auch im Titel der englischen Zeitschrift Punch indirekt an und mit, denn der Begriff ‚punch‘ bezieht sich einer9 10 11

12

Tucholsky, Was darf Satire?, S. 42. Ebd., S. 43. Vgl. Koch/​Savage, Le Charivari, S. 17. Der Charivari-Lärm hat seinen Resonanzraum zudem im Innern der Zeitschrift mit der Rubrik ‚Carillon‘, was ‚Glockenläuten‘ bedeutet. Dort werden satirisch-kritisch behandelte, aber keinesfalls erfundene Nachrichtenmeldungen gebracht (vgl. Jablonski, Humor- und Satirezeitschriften, S. 337). Vgl. Tucholsky, Was darf Satire?, S. 43.

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seits auf die dem Verlachen preisgegebene Figur des Hanswursts in der Commedia dell’Arte,13 andererseits bezeichnet er als Verb den Vorgang des festen Zuschlagens mit der Faust und als Substantiv entsprechend den Schlag selbst. Dass Komik  – gerade wenn es sich um satirische handelt – trotz ihrer Realisation in den Registern des Symbolischen und Imaginären immer auf handfeste Konsequenzen im Realen abzielt, zeigt sich daher im englischen Ausdruck ‚Punch-Line‘, womit die Pointe eines Witzes gemeint ist:14 Der komische Stimulus führt im Lachen zu einer körperlich dergestalt heftigen Reaktion, dass diese physische Konsequenz vom Ergebnis her mit einem Faustschlag in die Magengegend verglichen wird. Anhand einer solchen Metaphorisierung der satirischen Wirkung wird deutlich, weshalb Helmut Arntzen in der Aggressivität – neben der Gegenständlichkeit und dem Moralistischen – eine der drei Konstituenten der Satire erkennt, schließlich sei sie  – als Kommunikationssystem – immer sprachliche oder visuelle „Sublimation“ von „körperlich[er] Gewalt“.15 Allerdings darf keinesfalls vergessen werden: Komik ist kein notwendiges Kriterium der Satire, wohl aber ihre am häufigsten erzielte Wirkung bzw. das geläufigste Mittel für den satirischen Zweck – man denke nur an die etablierten Verfahrensweisen der Satire, zu denen Ironie, Parodie oder Travestie im sprachlichen und die ebenfalls auf übertreibende Verfremdungen zielende Karikatur im bildlichen Bereich zählen. In dieser komischen Wirkung der Satire liegt jenes Paradoxon begründet, auf das Tucholsky hinweist, wenn er in seinem Zeitungsbeitrag feststellt, dass Satire als „durchaus negative Sache“ erscheine, zugleich aber „eine durchaus positive Sache“ sei.16 Diese – mit Klaus Cäsar Zehrer gesprochen – ‚Dialektik der Satire‘ gründet auf das Lachen,17 denn die Punch-Line der Satire will nicht kathartisch-befreiend, sondern schmerzhaft sein – allerdings weniger körperlich, als vielmehr intellektuell. Insofern erklärt sich auch Arntzens Definition der Satire als sprach- bzw. bildästhetische „Konstruktion von ‚Verkehrtem‘ als Destruktion“ der „Darstellung einer ‚verkehrten‘ Welt“18. Die Destruktion der in und mit der Satire entworfenen ‚verkehrten Welt‘, von der Arntzen spricht, zielt immer auf Kritik, die die Satire an ihrem Dargestellten  – also der ‚verkehrten Welt‘  – übt, indem sie diese gewissermaßen performativ überhaupt erst durch die satirische Darstellung hervorbringt. Ein dergestalt indirekter ‚satirischer Angriff ‘ soll Missstände in der nicht-verkehrten, also der realen Welt aufzeigen, um sie – oft mit Hilfe komisierender Verfremdungen – zu kritisieren. Satire erweist sich somit als ein überaus komplexes ästhetisches Phä-

13 14 15 16 17 18

Vgl. Jablonski, Humor- und Satirezeitschriften, S. 332. Vgl. Stichwort ‚punch‘, in: Oxford Advanced Learner’s Dictionary, S. 1027. Arntzen, Satire, S. 346. Tucholsky, Was darf Satire?, S. 42. Vgl. Zehrer, Dialektik der Satire. Arntzen, Satire, S. 348.

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nomen, weil sie auf so kunstvollen Umwegen wie denen der Komik Kritik üben will und diese Kritik stets ‚versteckt‘ in der – von Arntzen zur Satire-Definition erklärten – Konstruktion von Verkehrtem als Destruktion. Angesichts eines solchen Zwecks ist Satire laut Zehrer „nie absichtslos, sondern tendenziös“.19 Sie ist also auf bzw. genauer gegen etwas gerichtet. Tucholskys Frage muss also um eine zweite ergänzt werden: Wogegen ist Satire gerichtet? Und die Antwort ist erneut eindeutig: Satire richtet sich potenziell gegen alles und gegen jeden – und dazu zählt Tucholsky sowohl „den prügelnden Unteroffizier, […] den stockfleckigen Bürokraten, […] den Rohrstockpauker und […] das Straßenmädchen“ als auch „den fettherzigen Unternehmer und […] den näselnden Offizier“.20 Satire ist deshalb alles andere als „Viel Lermens um nichts“, um den Titel der Shakespeare-Komödie in der Übersetzung des aufklärerischen Schriftstellers Christoph Martin Wieland zu zitieren.21 Der Lärm ist der Satire inhärent und gleichsam gilt: Die Satire ist dem Lärm inhärent. Hierin liegt das parasitäre Moment ihrer – nicht immer, aber doch zumeist – komischen Wirkung: „Lärm kann“, wie Michel Serres feststellt, „keine Erscheinung sein“, denn „jede Erscheinung hebt sich von ihm [dem Lärm, N.J.] ab, erscheint auf dem Grund, wie ein Feuer im Nebel, wie jede Mitteilung, jeder Schrei, jeder Ruf, jedes Signal sich aus dem Lärm heraushebt, der die Stille einnimmt, um zu sein, um wahrgenommen, um erkannt, um ausgetauscht zu werden. In dem Moment, in dem eine Erscheinung sich manifestiert, verläßt sie den Lärm. […] Folglich kommt er […] aus dem Sein selbst. Er setzt sich fest in den Subjekten, wie in den Objekten, im Beobachter und im Beobachteten, er durchzieht die Beobachtungsmittel und -werkzeuge, seien sie logischer oder materieller Natur, gebaute Kanäle oder Sprachen […].“22

Was der französische Philosoph und Kommunikationstheoretiker hier in seinen an der Lektüre von Honoré de Balzacs Erzählung Sarrasine ausgerichteten Reflexionen über das „Geschrey“ darlegt, ist die informations- und medienthoeretische Grundannahme, dass jeder Kommunikation ein Rauschen ihrer jeweiligen Kommunikationskanäle zugrunde liegt. Dieses Grund-Rauschen bleibt der Wahrnehmung solange entzogen, bis es nicht länger – wie es Roland Barthes in seinem Essay „Das Rauschen der Sprache“ ausdrückt – als „das Geräusch des perfekt funktionierenden Geräuschlosen“ erscheint.23 Das heißt: Wenn die Kommunikation gestört wird,

19 20 21 22 23

Zehrer, Dialektik der Satire, S. 200. Tucholsky, Was darf Satire?, S. 43. Vgl. Shakespeare, Viel Lermens um Nichts. Serres, Geschrey, S. 22. Barthes, Das Rauschen der Sprache, S. 88.

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tritt das ihr zugrunde liegende Rauschen als Störung in Erscheinung. Die Satire wäre eine solch manifest werdende Erscheinung des kommunikativen Grund-Rauschens als Störung, sodass sich Artzens Definition der Satire als ‚Konstruktion von Verkehrtem als Destruktion‘ um eine informations- bzw. medientheoretische Perspektive erweitern lässt. Begreift man die Satire als eine solch manifest werdende Störung eines kommunikativen Systems, dann lässt sie sich in Bezug auf dieses System als Parasit beschreiben. Laut Serres gilt nämlich: „Kein System ohne Parasit.“24 An der grammatikalisch scheinbar fehlerhaften Flexion des Substantivs wird deutlich, dass Serres den Parasiten nicht als das an einem Wirt schmarotzende Tier entwirft, sondern als Denkfigur zur Beschreibung kommunikativer Systeme. Entsprechend gilt nach Serres für jede Kommunikation, dass „[d]as Hintergrundrauschen […] der Grundraum“ ist und „der Parasit der Grund des Kanals, der durch diesen Raum führt“.25 Metaphorisch macht er das Rauschen ‚greifbar‘, das durch seine Störung als Lärm wahrnehmbar wird.26 Serres veranschaulicht diese Kommunikationssituation durch ein einfaches Schema (Abb. 1).27

Abb. 1 Er beschreibt diese Kommunikationssituation, die aus insgesamt vier Elementen besteht, wie folgt: „Gegeben seien also zwei Situationen und ein Kanal, der beide verbindet. Der Parasit, der sich dem Fluß der Relation aufpfropft, ist in der Position des Dritten.“28 Im Folgenden wird nun gezeigt, inwiefern sich diese schematische Beschreibung eines kommunikativen Rauschens auf die Kommuniktionssituation der Satire übertragen lässt. Am Beispiel von Neo Magazin Royale kann so gezeigt werden, dass es sich bei der medienreflexiven Komik des televisiven Satire-Formats um eine genuin parasitäre handelt.

24 25 26 27 28

Serres, Der Parasit, S. 26. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 85. Ebd., S. 84.

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Neo Magazin Royale: Der Parasit im System Fernsehen Im Mai 2016 erlebt die bundesdeutsche TV-Landschaft einen Skandal, als die im Programm von ZDFneo laufende Satire-Sendung Neo Magazin Royale einen Beitrag mit dem Titel „Verafake“ bringt, der nicht etwa das Turiner Grabtuch Christi als Fälschung offenbart, sondern die fragwürdigen Casting-Praktiken der RTL-Dating-Show Schwiegertochter gesucht in den satirisch-kritischen Blick nimmt. Dafür hat die Neo Magazin Royale-Redaktion zuvor zwei Schauspieler als Kandidaten in die von Vera Int-Veen moderierte Sendung eingeschleust, ohne dass das Team der Produktionsfirma Warner Bros. Internationl diese vorsätzliche Täuschung erkannt hätte. Entsprechend wurde am 10. April 2016 die Episode mit dem fingierten Vater-Sohn-Gespann René und Robin aus dem Ruhrgebiet auf dem Privatsender ausgestrahlt. Einen Monat später macht Jan Böhmermann, der Moderator von Neo Magazin Royale, in seiner Sendung auf dem zum Zweiten Deutschen Fernsehen gehörenden Digitalsender die Aktion öffentlich – und bringt dadurch den Privatsender, wie die FAZ am 13. Mai 2016 berichtet, angesichts der oberflächlichen redaktionellen Arbeit des Schwiegertochter gesucht-Teams „in die Bredouille“.29 Der Name des Beitrags erscheint jedoch weniger eine Kritk an der Produktion der Casting-Sendung zu formulieren, als vielmehr einen ganz unverhohlenen Angriff auf deren Moderation. Dies macht bereits Böhmermanns Anmoderation deutlich, die als kurzes Gespräch mit Ralf Kabelka, dem damaligen Side-Kick der Sendung, gestaltet ist: „Ich hab’ viel nachgedacht, Ralf. Ich hab’ in den letzten vier Wochen viel nachgedacht über eine Frau. Eine ganz spezielle Frau. Über eine wichtige, mächtige Frau. Eine Frau, ja, eine füllige Frau. […] Die mit den Sakkos immer. Richtig: Es geht um Vera Int-Veen, meine Damen und Herren. Ich hab’ nachgedacht über Vera Int-Veen, die humorvolle Humanistin aus der Eifel. Ich hab’ die letzten vier Wochen nichts anderes gemacht, als Schwiegertochter gesucht geguckt. Schwiegertochter gesucht – ich weiß nicht, ob sie das kennen – ist eine der besten Sendungen im deutschen Fernsehen. Ich sitze manchmal davor und denke: Was sind denn das für Kandidaten? Haben sie die irgendwie morgens auf dem Weg zur Holzwerkstatt mit dem Kescher weggeschnappt bei RTL? So ganz merkwürdige Leute, wo ich denke, also als Zuschauer – ich würde denken, dass das eventuell Leute am Rande zur geistigen Behinderung sind. Aber das kann ich mir nicht vorstellen.

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Verliebt in einen Eisenbahnfreund, in: faz.net, 13.05.2016.

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Schauen sie mal, meine Damen und Herren, das sind die aktuellen neuen Schwiegersöhne bei Schwiegertochter gesucht. “30

Diese Eröffnung erfolgt mit einer forcierten Verwechslung, da die Beschreibung jener Sakkos tragenden Frau, über die Böhmermann in letzter Zeit nachgedacht habe, mit den Attributen ‚speziell‘, ‚mächtig‘ und ‚füllig‘ sich als Anspielung auf Bundeskanzlerin Angela Merkel verstehen ließe. Dass dies nicht so ist, macht das Setdesign im Studio deutlich, weil im Hintergrund rechts neben Böhmermann, der an seinem Schreibtisch sitzt und aus einer Halbnahen gezeigt wird, ein gerahmtes Porträtfoto von Vera Int-Veen hängt, um die es eigentlich geht (Abb. 2).

Abb. 2 Der satirische Angriff auf die RTL-Moderatorin beginnt auf der persönlichen Ebene: Die Anspielung auf ihre Statur sowie ihre Kleidung stehen damit in der Traditionslinie der Invektive, einer seit der antike geläufigen Form der Satire, die als Schmährede sowohl allgemein politisch als auch spezifisch persönlich ausgerichtet sein kann.31 Jedoch werden die humorigen Geschütze nicht gegen die Person Vera Int-Veens in Stellung gebracht, sondern gegen ihre mediale Persona, da sie als Moderatorin das Gesicht der RTL-Sendung Schwiegertoch-

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Der 16 Minuten und 41 Sekunden lange Beitrag ist auf dem YouTube-Kanal von Neo Magazin Royale zugänglich unter der URL https://​www.youtube.com/​watch?v=mG_​Fyc-nyOs. Dieses wie alle weiteren Zitate aus dem Beitrag erfolgen aufgrund der Kürze ohne Angabe des Timecodes. Vgl. Stichwort ‚Invektive‘, in: Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, S. 303.

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ter gesucht ist. Darauf verweist das Epitheton, das Böhmermann zur Charakterisierung Int-Veens gebraucht, denn alliterierende Beschreibungen wie „die humorvolle Humanistin“ sind eines der sprachlichen Markenzeichnung der Dating-Show, deren Kandidanten bei ihrer Vorstellung mit ebensolchen einprägsamen Attribuierungen gekennzeichnet werden. Es sind daher auch genau die Teilnehmer dieser Sendung, auf die Böhmermann als nächstes zu sprechen kommt: Indem er sie als „ganz merkwürdige Leute“ bezeichnet, die angeblich „am Rande zur geistigen Behinderung“ stehen, scheint Böhmermann zunächst den Bereich der Political Correctness zu verlassen. Das erweist sich allerdings nicht als rhetorischer Selbstzweck, um aus einem möglichen Verlachen der Kandidaten komisches Kapital zu schlagen, denn im Folgenden geht es um eine satirische Kritik an den Casting-Praktiken von Schwiegertochter gesucht. Darauf verweist die Frage nach den Produktionsbedingungen bei RTL, weil es, so Böhmermanns überspitzte Mutmaßung, erscheint, als würden die Kandidanten „morgens auf dem Weg zur Holzwerkstatt mit dem Kescher weggeschnappt“ und damit gewissermaßen zur Teilnahme an der Show gezwungen. Nach diesem Auftakt folgt als Einspieler die Kandidaten-Vorstellung aus der Schwiegertochter gesucht-Episode vom 10.  April 2016, den Böhmermann anschließend kommentiert: „Das sind die neuen Kandidaten bei Schwiegertochter gesucht, meine Damen und Herren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht. […] Es gibt ja Leute – ich hab’ das gehört auf dem Flur hier bei uns in der Firma, da tuscheln die Leute: Es kann sein, dass RTL und Vera Int-Veen bewusst Leute aussuchen, die ein kleines bisschen minderbemittelt sind und die einfach da seit zehn Jahren vor die Kamera zieht [sic!], die fertig machen, die ausnehmen, denen keine Kohle zahlen. Aber das muss doch alles mit rechten Dingen zugehen“,

fragt Böhmermann abschließend an seinen Side-Kick gewandt, der erwähnt, dass Int-Veen eine Journalistin sei und Jura studiert habe, weshalb sie, so nun wieder Böhmermann, als große Hundefreundin auch Menschen lieben müsse. Diese komische Inkongruenz zwischen Tierliebe und Philanthropie bildet die Ouvertüre für die nun folgende satirische Kritik, die den bloßstellenden Voyeurismus der Dating-Sendung entlarvt, indem der für all diese Casting-Show-Formate typische Anspruch prekären Entertainments, dessen unfreiwillige Komik auf dem Vorführen und Verlachen seiner Protagonist*innen gründet, ausgenutzt wird: Wie Böhmermann offenlegt, ist einer der Kandidaten ein Fake. Robin, der ‚einsahme Eisenbahnfreund‘ aus dem Ruhrgebiet, wurde mitsamt seinem falschen Vater von Neo Magazin Royale in die RTL-Sendung eingeschleust. Dass dies bislang unentdeckt geblieben ist, belegt Böhmermann durch einen weiteren Einspieler, der die persönliche Vorstellung von ‚Robin‘ und seinem Vater ‚René‘ in Schwiegertochter gesucht zeigt (Abb. 3). 212

Die parasitäre Komik gegenwärtiger Mediensatire: Neo Magazin Royale

Abb. 3 Durch ein anschließendes Video-Telefonat mit den beiden, wird nicht nur ihre Identität als professionelle Schauspieler offengelegt, sondern auch die Intention der satirischen Aktion. Laut Böhmermann soll dieser Fake „dokumentieren, was RTL und Vera Int-Veen seit zehn Jahren für eine Scheiße mit Menschen abziehen, die sich nicht wehren können.“ Die Satire folgt also einem hehren Ziel, das insofern politisch zu sein vorgibt, als sie denjenigen eine Stimme verleiht, die – so das hier entworfene Narrativ – von dem mit zwielichtigen Praktiken arbeitenden Privatsender und seiner Moderatorin ‚unterdrückt‘ werden. Die Täter/​Opfer-Konstellation, die Böhmermann mit der Formulierung der Intention von „Verafake“ konstruiert, darf nicht etwa als Beleg für einen bei Neo Magazon Royale vorherrschen Philanthropismus genommen werden, der  – so hat es die Anmoderation des Beitrags in der Sendung schließlich suggeriert – Schwiegertochter gesucht abgeht. Das Spiel mit diesem Antagonismus ist wesentlicher Bestandteil der satirischen (Selbst-)Inszenierung, denn sowohl Neo Magazin Royale als auch Schwiegertochter gesucht verfolgen trotz ihres unterschiedlichen intellektuellen Anspruchs dasselbe Ziel: die Unterhaltung ihrer jeweiligen Zuschauer*innen. Jedoch erfolgt sie auf unterschiedliche Weise und durch Mittel, die ihrerseits von verschiedener ‚Redlichkeit‘ sind. Genau das wird im Folgenden durch einen weiteren Einspieler deutlich gemacht, der den aufklärerischen Impetus dieser Satire herausstellt. Während Stand- und Bewegtbilder der deutschen TV-Moderator*innen Jörg Pilawa, Maybrit Illner, Markus Lanz, Johannes B. Kerner und Vera Int-Veen zu sehen sind, spricht eine tiefe männliche Stimme in einem getragenen Tonfall, der die sinistre Stimmung der insgesamt mit einem dunklen Filter belegten Einstellungen unterstützt: „Lustige Sprüche klopfen, investigative Fragen fragen, der nette Kerl von Nebenan sein, die Massen begeistern, jeden Tag bleiben Moderatoren dabei auf der Strecke. Wir haben

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uns gefragt: Wie können wir diesen Menschen helfen? Die Neo Magazin-Fernsehnothilfe“.

Nachdem der Satire-Beitrag durch Böhmermanns Anmoderation noch wie eine Invektive gegen die RTL-Moderatorin gewirkt hat, wird diese kommunikative Ausgangssituation nun in ihr Gegenteil verkehrt: Die in Anlehnung an gemeinnützige Organisationen wie die Kindernothilfe erfundene ‚Fernsehnothilfe‘ folgt also dem ganz und gar humanistischen Auftrag, sich um Moderator*innen zu kümmern, die angeblich dem Druck des harten Showbusiness nicht haben standhalten können und bisweilen in prekäre Existenzen gedrängt worden seien. Visuell sollen das zwei Standbilder von Kerner und Int-Veen belegen, die den einen in einer Gruppe von Geflüchteten und die andere als Bettlerin in einer Fußgängerzone zeigen. Offenkundig handelt es sich bei diesen montierten Bildern um Fakes. Die Neo Magazin Royale-Fernsehnothilfe folgt damit dem typischen Mechanismus satirischer Darstellung: Sie entwirft eine verkehrte Welt, denn keine*r der gezeigten Moderator*innen befindet sich in der ihnen unterstellten Notlage, die jedoch als wirkliche ausgegeben und angesichts der vermeintlich real existierenden Ungerechtigkeit zum Gegenstand der Kritik wird. Die Verfahren hierfür sind das Fingieren (einer Hilfsorganisation) und die Übertreibung (in Bezug auf die prekären Existenzen der TV-­ Moderator*innen). Ein weiteres zentrales Verfahren der Satire ist die Parodie, eine zumeist komisierende Verfremdung in Form einer „verspottend[en], verzerrend[en] oder übertreibend[en] Nachahmung“.32 Parodien folgen der Logik der Substitution, d. h. die äußere Gestalt des Nachgeahmten bleibt gewahrt, wird jedoch mit einem anderen Inhalt versehen (insofern stellt die Parodie das Gegenstück zur Travestie dar). Als Parodie erweist sich auch Böhmermanns „Verafake“, denn das Kunstwort, mit dem die Einschleusung der falschen Kandidaten in die RTL-Castingshow bezeichnet wird, gibt der ersten Episode des ebenfalls von Neo Magazin Royale erfundenen Formats Team Royaleraff – Reporter Undercover ihren Titel. Dabei handelt es sich um eine Parodie entsprechender Investigativ-Sendungen, wie sie sich sowohl im Programm des öffentlich-rechtlichen als auch des privaten Fernsehens finden. Der Titel der Neo Magazon Royale-Erfindung spielt dabei auf die RTL-Sendung Team Wallraff – Reporter Undercover an, ein Enthüllungsformat, bei dem sich Reporter*innen mit falscher Identität beispielsweise in Firmen einschleusen, um dort arbeitsrechtliche Mängel aufzudecken. Mit „Verfake“ wendet Neo Magazin Royale also die Mittel des durchaus reißerisch Skandale inszenierenden RTL-Formats gegen eine andere Show des Senders. Das geht aus Böhmermanns Kommentar hervor, als er den satirischen Fake als Fake offenlegt:

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Stichwort ‚Parodie‘, in: Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S. 494.

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„Zwei Schauspieler, meine Damen und Herren, liebes RTL und liebe Vera. Zwei Schauspieler, die eingeschleust wurden bei Schwiegertochter gesucht, um mal ein bisschen zu zeigen der Öffentlichkeit [sic!], was da eigentlich hinter den Kulissen so passiert, um Missstände in der Welt und in Deutschland aufzudecken. Das kennen sie ja vielleicht, dafür hat RTL das Team Wallraff. Aber wir haben uns gedacht: Wer deckt eigentlich die Missstände bei RTL auf? Genau: Wir. Das Team Royaleraff.“

Als Einspieler folgt die Episode der fingierten Neo Magazin Royale-Investigativ-Sendung. Dabei werden alle parodistischen Register gezogen und die für diese Enthüllungsformate üblichen Verfahrensweisen gebraucht: Interview-Szenen aus der Post-Produktion im Schnitt, die Böhmermann als Reporter in legerer Alltagskleidung hinter den Kulissen zeigen (Abb. 4), Kommentare der als verdeckte Kandidaten auftretenden Schauspieler und Einstellungen, die sie bei der Vorbereitung auf ihre Rolle zeigen, sowie die Vorbereitung für den Empfang des Dreh-Teams von RTL in der extra dafür angemieteten und eingerichteten Wohnung. Passend dazu dann schließlich die im Vierer-Splitscreen präsentierten Aufnahmen der dort versteckten Kameras (Abb. 5) sowie per Gedächtnisprotokoll nachgesprochene Telefonate mit den Redakteur*innen von Schwiegertochter gesucht.

Abb. 4 Die parasitäre Komik dieser Mediensatire liegt nun weniger in der satirischen Tat selbst, also dem Umstand, dass zwei falsche Kandidaten in die RTL-Show eingeschleust worden sind, als vielmehr in der satirischen Tätigkeit, weil hier das Fernsehen komische Kritik am Fernsehen und seinen Produktionsbedingungen übt und dazu die in anderen TV-Formaten etablierten Verfahrensweisen für die eigenen, satirisch-komischen Zwecke nutzt. Genau das wird in der 215

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„Verafake“-Episode der fingierten Enthüllungs-Sendung Team Royaleraff thematisiert und buchstäblich als satirische Aktionskunst in Szene gesetzt. Entsprechend fungiert der Beitrag als ein Making-of, das den Prozess der Produktion von „Verafake“ dokumentiert und unterhaltend aufbereitet. Dabei wird, wie schon zuvor in Böhmermanns Kommentaren zwischen den verschiedenen Einspielern, immer wieder der große Aufwand betont, den man für eine überzeugende Täuschung des Redaktionsteams von Schwiegertochter gesucht betrieben habe.

Abb. 5 Investigativ erscheint die Aktion insofern, als sie tatsächlich unlautere Praktiken beim Casting offenlegt: Vor Drehbeginn werden etwa die vertraglichen Dokumente im Gespräch mit den Kandidaten nicht wahrheitsgemäß ausgefüllt und auch deren Identität nicht sachgemäß geprüft. Dieses unprofessionelle Vorgehen, das Böhmermanns „Verafake“ als satirisch forcierten Skandal ausstellt, führt für den Privatsender zu einem peinlichen medialen Echo: So titelt ein Beitrag auf der Website des Bayerischen Rundfunks: „Böhmermann pinkelt RTL ans Bein“.33 Die Metapher erweist sich als hochgradig medienreflexiv, schließlich stellt sie die ZDFneo-Sendung in eine historische Fluchtlinie mit dem Simplicissimus: Böhmermann erscheint durch den Titel des BR-Beitrags als ebenso ungenierter Urinist wie das Wappentier der Satirezeitschrift, das die Titelillustration der achten Ausgabe des ersten Jahrgangs von 1896 in entsprechender Pose zeigt, um so die Zensurmaßnahmen gegen das Periodikum so humorig wie selbstreflexiv zu kommentieren (die Pinkelei erfolgt nämlich an das Bein eines

33

Fries, Böhmermann pinkelt RTL ans Bein, in: br.de, 13.05.2016.

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Die parasitäre Komik gegenwärtiger Mediensatire: Neo Magazin Royale

Soldaten, der seinen Säbel gegen eine Litfaßsäule erhebt, an der ein Werbeplakat des Simplicissimus hängt).34 Parasitär ist die satirische Komik von Böhmermanns „Verafake“ also deshalb, weil sie sich aus dem Dispositiv des Fernsehens speist, jenem System, dem auch die Sendung Neo Magazin Royale angehört. Böhmermann macht seine falschen Kandidaten buchstäblich zu Gästen von Schwiegertochter gesucht und stört mit der Offenlegung dieses Fakes die RTL-Sendung durch einen satirischen Lärm, den er mit der Inszenierung dieser Offenlegung in seiner eigenen Show noch verstärkt. Da „Verafake“ die – als durchaus fragwürdig entlarvten – Mechanismen dieses medialen Dispositivs zum Zweck der Komikerzeugung nutzt, gilt für die ZDFneo-Sendung und ihren Host, was Serres als grundlegende parasitäre Disposition der an kommunikativen Situationen beteiligten Instanzen herausstellt: „Wir schmarotzen von unseresgleichen und leben mitten unter ihnen.“35

Meta-Parasitismus: „Prism is a Dancer“ und Böhmermanns Schmähkritik Die Satire von Neo Magazin Royale verbleibt aber nicht bei einem solch einfachen Parasitieren der ‚ersten Stufe‘, sondern nutzt das gesamte Potenzial einer medienreflexiven Komik aus, die sich in diesem Fall aus dem Dispositiv ‚Fernsehen‘ speist: Manifestiert sich das allen Kommunikationssystemen zugrunde liegende Rauschen nämlich durch das Auftreten eines Parasiten als Störung, bringt der so wahrnehmbar werdende Lärm „ein neues System hervor“, das sich laut Serres durch „eine Ordnung von höherer Komplexität“ auszeichnet.36 Wird das zur Erzeugung von Komik genutzt, kann von einem ‚Meta-Parasitismus‘ gesprochen werden. Dieser gründet auf den Tausch der Positionen in dem zuvor gezeigten Kommonikationsschema, dessen Veränderungen Serres durch die folgende Modifikation veranschaulicht (Abb. 6):37

34

35 36 37

Eine Abbildung der Titelseite findet sich online unter der URL https://​www.literaturportal-bayern.de/​ journal?task=lpbblog.default&id=1136. Serres, Der Parasit, S. 23. Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 85.

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Abb.6 In Neo Magazin Royale avanciert dieser hier angezeigte Positionswechsel der kommunikativen Aktanten zu einer weiteren Möglichkeit für die Erzeugung parasitärer Komik. Anschaulich machen das die unter dem Titel „Prism is a Dancer“ ausgestrahlten Sonderepisoden der Sendung. Deren Macher nutzen den Umstand, dass die Eintrittskarten für die Late-Night-Show derart begehrt sind, dass man sich auf sie bewerben muss. Das eröffnet die Möglichkeit, die Gäste im Vorfeld aufgrund ihrer Online-Präsenzen auf den unterschiedlichen Social-Media-Seiten zu ‚stalken‘. Dieses Wissen um die eigenen Gäste wird dann in die Show eingebunden und zu deren eigentlichem Gegenstand, indem die unreflektierte Offenheit, mit der sich die Geladenen in der Welt des Internets präsentieren, für komische Zwecke genutzt wird. Wenn man den Parasiten – im allgemeinen Sinn – als einen Gast begreift, „der die Gastfreundschaft mißbraucht“,38 dann sind im Fall von „Prism is a Dancer“ die Vorzeichen der Gastlichkeit verkehrt und die Komik resultiert aus einem Meta-Parasitismus: Der Wirt erscheint hier als Parasit und die Gäste werden zu dessen satirischer Speise. Auch der sog. Böhmermann-Skandal um die Schmähkritik am türkischen Staatspräsidenten lässt sich als meta-parasitäre Komik begreifen: Die von Böhmermann in seiner Sendung vom 31. März 2016 vorgetragene Invektive erweist sich nicht als Kritik an Recep Tayyip Erdoğan und seiner Politik, denn in einer medienreflexiven Perspektive wirkt der türkische Präsident vielmehr wie ein satirisches ‚Bauernopfer‘ im Kampf um die mediale Aufmerksamkeit. Diese liegt vor Böhmermanns Schmähkritik bei extra 3: Am 17. März 2016 wurde in der Satire-Sendung des Norddeutschen Rundfunks nämlich ein Beitrag mit dem Titel „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ gebracht  – eine satirische Kontrafaktur auf den 1984 veröffentlichen Nena-Song „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“.39 38 39

Ebd., S. 20. Der Song ist auf dem YouTube-Kanal von extra 3 zugänglich unter der URL https://​www.youtube. com/​watch?v=R2e2yHjc_​mc.

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Die parasitäre Komik gegenwärtiger Mediensatire: Neo Magazin Royale

Diese humoristisch als veritable Satire zu bezeichnende Kritik am türkischen Regierungschef führte zu diplomatischen Verwicklungen und Irritationen: Nachdem umgehend der deutsche Botschafter in der Türkei einbestellt wurde, erfolgte die Reaktion der Bundesregierung darauf erst mehrere Tage später in Form einer Pressekonferenz. Dies wird in der extra 3-Sendung vom 30. März 2016 aufgegriffen, als sich Moderator Christian Ehring – gänzlich satirisch – bei Präsident Erdoğan für die erfolgreiche Zusammenarbeit bedankt und ihn sogleich zum Mitarbeiter des Monats kürt, weil er die satirische Wirklichkeit (die Darstellung einer verkehrten Welt als Destruktion) zur realen Wirklichkeit macht: „[Wir] sind Erdoğan dankbar. Die Zusammenarbeit hat ja wunderbar funktioniert: Wir haben einen Song gemacht, in dem wir kritisiert haben, dass Erdoğan die Pressefreiheit einschränkt. Und er reagiert darauf, indem er die Pressefreiheit einschränken will. Da waren wir uns natürlich sofort einig: Recep Tayyip Erdoğan ist extra 3-Mitarbeiter des Monats. “40

Das ist die Ausgangssituation, die Böhmermann einen Tag später in seiner Sendung parasitierend nutzt, um eine politisch unbedeutende Affäre zu einem handfesten Skandal auszuweiten. Sowohl die Reaktion der Bundesregierung als auch deren Thematisierung in der extra 3-­Sendung vom 30. März hätten das Kapitel nämlich abschließen können. Darauf will Ehring jedenfalls hinaus, wenn er in seinem Kommentar zu der von türkischer Seite unverhältnismäßig erscheinenden Beschwerde satirischen Frieden mit Erdoğan schließt (damit de facto aber den satirischen Angriff fortsetzt): „Deeskalieren. Lasst uns bitte gemeinsam zur Vernunft kommen! Wir haben kein Interesse daran, mehr Öl ins Feuer zu gießen. Zumal Erdoğan auch mehr Öl hat als wir. Und wenn er wirklich Öl vom IS kauft, wie es manche behaupten, hätte er sehr viel mehr Öl als wir. Wir sind auch wirklich bereit, gnädig darüber hinweg zu sehen, dass Erdoğan offenbar extra 3 guckt, aber keine Gebühren zahlt. Egal. Geschenkt, interessiert uns nicht. Schwamm drüber. Wir wollen uns heute mehr auf die Gemeinsamkeiten besinnen. Wir sind ein kleines Satire-Magazin, er ist der größte Komiker seines Landes. Wir könnten so viel von einander lernen. Ich meine, Herr Erdoğan, wir wollen Sie als Zuschauer nicht verlieren. Das wäre schade. Aber wenn es Ihnen nicht gefällt, was wir machen: Sie müssen das nicht schauen. Müssen Sie nicht. Es ist eigentlich ganz einfach in Deutschland: Wenn Sie Kritik hören wollen, dann gucken Sie extra 3. Wenn Sie keine Kritik hören wollen, treffen Sie die Bundeskanzlerin.“

40

Die Episode der Sendung ist auf dem YouTube-Kanal von extra 3 zugänglich unter der URL https://​ www.youtube.com/​watch?v=ISH337jW21U&t=91s.

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Ehring nutzt die abklingende bilaterale Affäre letztlich für eine finale Doppelfinte gegen die Außenpolitik der Bundesregierung und deren ‚Flüchtlingsdeal‘ mit der Türkei sowie gegen Erdoğan und dessen autoritären Regierungsstil: „Jetzt möchte ja der türkische Präsident, dass das Video gelöscht wird. Das geht leider nicht. Es ist das Internet. Das kann man nicht löschen. Was wir aber anbieten können, das wäre ein kleiner, schmutziger Deal. So wie das auch beim Thema Flüchtlinge funktioniert hat, so würden wir jetzt anbieten: Für jeden Gag, den türkische Satiriker machen dürfen über den Präsidenten, nehmen wir von extra 3 einen Erdoğan-Gag zurück. Denken Sie mal drüber nach. Ich hoffe ja noch, dass alles gut wird. Ich hoffe wirklich, dass sich am Ende alles in Wohlgefallen auflöst. Vielleicht hatte er auch nur ein Problem mit Nena …“

Indem der türkische Präsident als säumiger GEZ-Zahler zum Parasiten am Deutschen Fernsehen erklärt wird und die von extra 3 angebotene ‚Abrüstung‘ eine implizite Solidaritätserklärung mit den Satiriker*innen in der Türkei darstellt, erscheint diese Komik nicht nur als hochgradig medien-, sondern vor allem als selbstreflexiv: Implizit modifiziert Ehring die von Tucholsky gestellte Frage danach, was Satire dürfe, um darüber zu reflektieren, an wen Satire sich eigentlich richtet. Die Anwort ist eindeutig: An jede und an jeden – entscheidend ist dabei nur, wer sich von der satirischen Kritik angesprochen fühlt oder nicht. Aus diesem Grund kommt auch Tucholsky zu dem Schluss, dass die Satire „ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht“ ist, denn „[e]s leiden die Gerechten mit den Ungerechten“ unter ihrer Kritik.41 Anders als die extra 3-Satire ist Böhmermanns Schmähgedicht über Präsident Erdoğan ganz explizit an diesen gerichtet und keinesfalls als jene politische Kritik zu verstehen, wie sie Ehring formuliert. Dies liegt an der satirischen Form der Invektive, die einen Angriff auf persönlicher Ebene darstellt. Böhmermann gebraucht dabei insbesondere nationalistische und rassistische Stereotype, die durch das Verfahren der Übertreibung bewusst transgressiv und aggressiv wirken und so nicht nur die Political Correctness, sondern auch das rhetorische Aptum verletzen: Gemäß diesem gilt nämlich, dass ein „Künstler […] sein Werk nicht in völliger Freiheit [gestaltet], sondern in einer Auseinandersetzung zwischen seiner Freiheit und dem mehr oder minder großen Zwang der gesellschaftlichen Normen“.42 Vor diesem Hintergrund lässt sich die satirische Komik von Böhmermanns Schmähgedicht weniger als Prüfstein für die verfassungsmäßig geschützte Freiheit der Kunst auffassen – ein Argument, dass seitens Böhermanns im Skandal um die Invektive immer wieder gebracht wurde –, sondern viel eher als eine Form von Infrakomik. Laut Rolf Lohse ist sie „in hohem Maße lachkulturreflexiv, weil sie Grenzlinien zwischen den gewohnten Lachgegenstän41 42

Tucholsky, Was darf Satire?, S. 43. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, S. 28.

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den und den Dingen, über die man nicht lacht, berührt, unterläuft, umspielt und ins Bewußtsein heben kann“.43 Aus diesem Grund erscheint das durch das Schmähgedicht erzeugte Echo – gemessen an der medialen Aufmerksamkeit im Vergleich zu derjenigen des extra 3-Beitrags – als ein lärmender Orkan. Damit erfüllt Böhmermann zwar den Anspruch, den man der Satire unterstellen darf, jedoch erweist sich die humoristische Qualität seines Schmähgedichts gegenüber der musikalischen Parodie von extra 3 lediglich als laues und lausiges Lüftchen. Aufgabe der Komik-Theorie ist es allerdings nicht, als Kunstrichterin aufzutreten, um Werturteile abzugeben. Sie analyisiert komische Verfahrensweisen und erklärt deren Verwendung in diskursiven und diskursgeschichtlichen Zusammenhängen. Insofern lässt sich die Schmähkritik in einer historischen Perspektive verorten, die unmittelbar an Tucholskys Reflexionen anschließt: Unterstellt man dem Moderator von Neo Magazin Royale, dass er die elliptische Struktur und damit die rhetorische Falle der ‚satirischen Gretchenfrage‘ erkannt hat, dann ergänzt er sie auf seine eigene Weise zu: „Was darf Satire sich herausnehmen?“ Im Fall der in Neo Magazin Royale präsentierten Mediensatiren und deren parasitärer Komik ist die Antwort klar: Alles! Das aber um den Preis der bewusst intendierten Polarisierung – die dann wiederum selbst zur Generierung von Komik genutzt wird. Damit geht die parasitäre Komik letztlich über in Autophagie – eine, wie Jacques Derrida in seiner Theorie des Parasiten darlegt, Sonderform eines Verlangens, das über den Hunger hinausgeht und somit an der Grenze zur Selbstdestruktion steht.44 In diesem Sinne darf man Böhmermann und den Zuschauer*innen seiner Satire-Sendung einen guten Appetit wünschen.

Literaturverzeichnis Primärquellen Shakespeare, William, Viel Lermens um Nichts. Ein Lustspiel, übers. von Christoph Martin Wieland, in: ders., Theatralische Werke in 21 Einzelbänden, hrsg. von Hans und Johanna Radspieler, Bd. 14, Zürich 1993. Neo Magazin Royale, 12. Mai 2016, ZDFneo, Beitrag „Neo Magazin Royale-Fernsehnothilfe: Schwiegertochter gesucht #Verafake“, https://​www.youtube.com/​watch?v=mG_​Fyc-nyOs (letzter Aufruf 07.01.2020). Fries, Teresa: „Böhmermann pinkelt RTL ans Bein“, in: br.de, 13.05.2016, https://​www.br.de/​puls/​themen/​ popkultur/​verafake-neo-magazin-royale-boehmermann-100.html (letzter Aufruf 07.01.2020). Simplicissimus, 1. Jg., Nr.  8, 23.  Mai 1896, Titelblatt, https://​ www.literaturportal-bayern.de/​ journal?task=lpbblog.default&id=1136 (letzter Aufruf 07.01.2020).

43 44

Vgl. Lohse, Annäherungen, S. 318. Vgl. Derrida, Die Signatur aushöhlen, S. 39.

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extra 3, 30. März 2016, NDR, https://​www.youtube.com/​watch?v=ISH337jW21U&t=91s (letzter Aufruf 07.01.2020). extra 3, 17.  März 2016, NDR, Beitrag „Song: Erdowie, Erdowo, Erdogan“, https://​www.youtube.com/​ watch?v=R2e2yHjc_​mc (letzter Aufruf 07.01.2020). Verliebt in einen Eisenbahnfreund, in: faz.net, 13.05.2016, https://​www.faz.net/​aktuell/​feuilleton/​medien/​ rtl-in-erklaerungsnot-boehmermanns-verafake-14232414.html (letzter Aufruf 07.01.2020).

Sekundärquellen Arntzen, Helmut, Satire, in: Ästhetische Grundbegriffe. Studienausgabe, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel, Bd. 5: Postmoderne bis Synästhesie, Stuttgart/​Weimar 2010, S. 345–364. Barthes, Roland, Das Rauschen der Sprache [1975], in: ders., Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV), übers. von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 42006, S. 88–91. Derrida, Jacques, Die Signatur aushöhlen – eine Theorie des Parasiten [1990], in: Pfeil, Hannelore (Hrsg.), Eingriffe im Zeitalter der Medien, Bornheim/​Roisdorf 1995, S. 29–41. Jablonski, Nils, Humor- und Satirezeitschriften, in: Wirth, Uwe (Hrsg.), Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/​Weimar 2017, S. 331–339. Koch, Ursula E./​Savage, Pierre-Paul, Le Charivari. Die Geschichte einer Pariser Tageszeitung im Kampf um die Republik (1832-1882), Köln 1984. Lausberg, Heinrich, Elemente der literarischen Rhetorik [1963], München 31967, S. 28. Lohse, Rolf, Beim Käse hört der Witz auf. Annäherungen an den Nullgrad des Komischen, in: Block, Friedrich W./​Lohse, Rolf (Hrsg.), Wandel und Institution des Komischen. Ergebnisse des Kasseler Komik-Kolloquiums, Bielefeld 2013, S. 315–330. Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English [1948], hrsg. von H. S. Hornby, Oxford/​New York 6 2000. Schiller, Friedrich, Über das Pathetische [1793], in: ders., Theoretische Schriften. Text und Kommentar, hrsg. von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a. M. 2008, S. 423–451. Schiller, Friedrich, Ueber die tragische Kunst [1792], in: ders., Theoretische Schriften. Text und Kommentar, hrsg. von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt a. M. 2008, S. 251–275. Serres, Michel, Geschrey [1981], in: Hombach, Dieter (Hrsg.), ZETA 01/​Zukunft als Gegenwart, Berlin 1982, S. 19–33. Serres, Michel, Der Parasit [1980], übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a .M. 62016. Tucholsky, Kurt, Was darf Satire? [1919], in: ders., Gesammelte Werke in 10 Bänden, hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 42–44. Wilpert, Gero von, Sachwörterbich der Literatur [1955], Stuttgart 41964. Zehrer, Klaus Cäsar, Dialektik der Satire. Zur Komik von Robert Gernhardt und der „Neuen Frankfurter Schule“, Osnabrück 2002.

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Die parasitäre Komik gegenwärtiger Mediensatire: Neo Magazin Royale

Bildquellen Abb. 1 und 6: Serres, Der Parasit, S. 26, 20. Abb. 2–5: Standbilder aus NEO MAGAZIN ROYALE, Mai 2016

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Grenzüberschreitender Humor im Pass-, Schrift- und Weltbild in Marc-Uwe Klings Känguru-Trilogie Carolin Haupt

1 Einleitung Die literaturwissenschaftliche Perspektive dieses Beitrags setzt einen erweiterten, mitunter von der rein bildlichen Darstellung losgelösten Bildbegriff voraus. Das dem Tagungsband übergeordnete Thema Grenzen des Sag- und Zeigbaren  – Humor im Bild verhandelt er nachfolgend in drei Kategorien als Ausdrucksformen von Humor im 1) Passbild, 2) im Schriftbild sowie 3) im Weltbild. Die zwei Erstgenannten beziehen sich auf paratextuelle Komponenten; zuallererst auf die Umschlaggestaltung der drei Bände der Känguru-Trilogie Marc-Uwe Klings. Schriftbild meint neben der in der Trilogie gängigen Praxis auktorialer Anmerkungen in Form von Fußnoten auch typografische Abnormitäten des Haupttextes. Weltbild umfasst zum einen die Weltanschauung der zwei Protagonisten mit Fokus auf die aus deren Freundschaft hervorgehende, eigenwillige Humor-Dynamik. Da Marc-Uwe als Erzähler die Vermittlungsinstanz zwischen fiktionalem Geschehen und realem Leser darstellt, wird zum anderen sein Erzählen über die Welt sowie diese Welt selbst unter Weltbild aufgeschlüsselt. Allen drei Kategorien ist das Grenzüberschreitende in vielfältiger Ausprägung wesentlich. „Humor“ liegt ihnen sowohl als gegenüber dem Komischen aufgeschlossene Haltung als auch als Gelassenheit des jeweiligen Initiators zugrunde1.

1

Vgl. Kindt, Humor, S. 7.

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Grenzüberschreitender Humor im Pass-, Schrift- und Weltbild in Marc-Uwe Klings Känguru-Trilogie

Die Känguru-Trilogie ist eine Sammlung chronologisch angeordneter Kurzgeschichten2, in denen der sich selbst als Anarchist bezeichnende Kleinkünstler Marc-Uwe3 von der Begegnung und dem Zusammenleben mit einem anthropomorphen, kommunistischen Känguru erzählt. Eine enge Verknüpfung von Diegese und Paratexten bewirkt die für die Trilogie charakteristische – mit Gérard Genette gesprochen – „unrein[e]“ Fiktionalität4. Fakt und Fiktion, Erzähltes und Reales scheinen ineinanderzufließen. Nicht zuletzt wegen des autobiografischen Charakters verschwimmt diese Grenze. Der homodiegetische Erzähler Marc-Uwe sieht sich in der Rolle des Chronisten, der das Zusammenleben mit dem Känguru wahrheitsgetreu wiedergibt. Unmittelbarkeit stellt neben dem hohen Anteil direkter Figurenrede die Erzählerrede im Präsens her. Der Titel Die Känguru-Chroniken, so suggeriert die Erzählung, ist gleichermaßen rhematisch wie thematisch zu verstehen; er benennt die vermeintliche Gattung wie faktuale inhaltliche Ausrichtung der Textsammlung. Dieser Lesart bedient sich dieser Beitrag, um die drei oben benannten Humor-Kategorien in der Logik der Erzählung herauszuarbeiten. Die Trilogie ist Bestandteil einer medienübergreifenden Inszenierung. Die Fülle an Material, die Klings Känguru-Werk mittlerweile umfasst5, lässt sich nicht im Rahmen dieses Beitrags einfangen. Die Auswahl der Primärtexte beschränkt sich daher auf die Bände Die Känguru-Chroniken (2009)6, Das Känguru-Manifest (2011) und Die Känguru-Offenbarung (2014) in gedruckter Form. Hörbücher, Podcasts, Online-Produktionen, Spiele sowie die Känguru-Apokryphen (2018) – eine nicht chronologische Sammlung von Kurzgeschichten – werden zugunsten der Übersichtlichkeit ausgeklammert. Die nicht minder interessante Aufgabe, das Känguru-Narrativ ganzheitlich in seiner netzartigen Ausprägung zu untersuchen, muss an anderer Stelle geleistet werden.

2

3

4 5 6

Von Kurzgeschichten anstelle von Kapiteln zu sprechen, erscheint mir sinnvoll, da die Handlung in Die Känguru-Chroniken weitgehend episodenhaft dargestellt wird. Zwar gewinnen die Folgebände Das Känguru-Manifest und Die Känguru-Offenbarung auf Handlungsebene an Komplexität und Finalität, da sie zunehmend auf das Ende des Dreiteilers hinarbeiten, formal entsprechen sie aber weiterhin in vielen Merkmalen denen der Kurzgeschichte, insbesondere hinsichtlich ihres sprachexperimentellen Charakters (vgl. Saupe, Kurzgeschichte, S. 416). Zur Vermeidung von Missverständnissen unterscheide ich im Folgenden den realen Autor (MarcUwe) Kling von dessen Erzählerfigur Marc-Uwe. Genette, Paratexte, S. 317. Vgl. Kling, Offizielle Website, 21.10.2020, https://​www.marcuwekling.de. Soweit nicht anders angegeben, zitiert dieser Beitrag die 33. Auflage der Känguru-Chroniken, welche wiederum der in 2013 erschienenen, aktualisierten und überarbeiteten 21. Auflage entspricht.

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2 Humor im Passbild In allen drei Bänden zeigt der Umschlag jeweils vier Schwarz-Weiß-Porträts der Protagonisten, die dem Anschein nach in einem Fotoautomaten aufgenommen, per Scherenschnitt voneinander getrennt und anschließend stümperhaft auf dem Buchdeckel fixiert wurden. Die Aufnahmen geben einen Hinweis auf den Handlungsort, denn solche Schwarz-Weiß-Fotoautomaten sind typisch für die Trendbezirke der Stadt Berlin7, in denen die Trilogie überwiegend angesiedelt ist. Während Passbildautomaten gewöhnlich für Porträtaufnahmen aufgesucht werden, die, um ihrem Zweck als Passbilder zu genügen, konkrete Anforderungen erfüllen müssen, werden diese Fotoautomaten zum Vergnügen genutzt. Das Erlebnis der Aufnahme ist mindestens so wichtig, wie der fertige Fotostreifen, handelt es sich doch meist um Schnappschüsse und Erinnerungen an ausgelassene Momente. Diese auf außerordentlich kreative Weise  – bevorzugt zu mehreren  – in den engen Kabinen festzuhalten, ist oberste Maxime der Nutzer. Dass sich Marc-Uwe und Känguru dazu entschließen, einen dieser Automaten für Ihre Autorenporträts aufzusuchen, liegt an ihrer Bequemlichkeit. Der Vorgang selbst ist ein notwendiges Übel, kein Vergnügen: Weil sie zum Treffen mit ihrem Lektor im Hauptsitz der Ullstein Buchverlage Autorenporträts mitbringen sollen, setzen sich beide, trotz des vom Verlag vor Monaten bereitgestellten Budgets von 500 Euro, buchstäblich in letzter Minute in einen Zwei-Euro-Automaten. Wie kurzentschlossen die Aktion war, zeigt die Mahnung des Kängurus an den Lektor, als dieser irritiert den Fotostreifen entgegennimmt: „‚Nicht aufs Bild fassen‘, sagt das Känguru. ‚Die sind noch feucht.‘“8. Eben jene Aufnahmen – so suggeriert die Erzählung – zieren entsprechend lustlos und nachlässig das Buchcover des real vorliegenden ersten Bandes (vgl. Abb. 1).

7

8

Den identitätsstiftenden Charakter der Fotoautomaten für Berlin bezeugt ein eigens angelegter Beitrag auf berlin.de – Das offizielle Hauptstadtportal, der die „(coolen) Fotoautomaten“ als „Kult“ mit dem besonderen Erlebnis bewirbt. Er listet zudem alle Adressen der in den Bezirken Prenzlauer Berg, Mitte, Kreuzberg und Friedrichshain aufgestellten Automaten (vgl. o. A., Bilder vom (coolen) Fotoautomaten, 16.01.2020, https://​www.berlin.de/​kultur-und-tickets/​tipps/​1844202-1678259-fotoautomaten-in-berlin.html.). Kling, Das Känguru-Manifest, S. 57. Tatsächlich steht in der Oranienburger Straße 35/​36, ca. 5 Gehminuten vom Hauptsitz der Ullstein Buchverlage GmbH in der Friedrichstraße 126, einer der Fotoautomaten (vgl. o. A.: Bilder vom (coolen) Fotoautomaten).

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Grenzüberschreitender Humor im Pass-, Schrift- und Weltbild in Marc-Uwe Klings Känguru-Trilogie

Abb. 1: Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Chroniken (Umschlag) Die vier Fotos wurden ungeachtet der abgegriffenen, eingerissenen und geknickten Ränder provisorisch mit Malerkrepp auf ihre grellgrüne Unterlage geklebt. Das Schnappschussartige zeigt sich im struwweligen Auftreten des Autors, der – womöglich in Eile oder aus Desinteresse – vor der Aufnahme nicht einmal seine Tasche ablegte oder wenigstens deren Tragegurt zurechtrückte. Die komische Wirkung des Umschlags resultiert aus dessen Bruch mit verlegerischen Konventionen, der sich wiederum inkongruent zu den Erwartungen des Rezipienten an ein ernsthaftes, mit gebührender Sorgfalt ausgewähltes Autorenporträt – ohne Känguru – verhält. Stattdessen strotzen Zustand und Inhalt der Fotos demonstrativ vor Gleichgültigkeit. Die unerhörte Liederlichkeit, in der Autor und Känguru ihrem Publikum in aller Einigkeit im Passbild entgegenlächeln, ist Ausdruck ihres selbstbewussten Humors. Das außer-, weil unordentliche Autorenporträt versteckt sich nicht im Klappentext oder auf der Buchrückseite. Im Gegenteil: Es tritt der gesamten Öffentlichkeit aus zukünftigen Lesern und Nicht-Lesern offen entgegen. In dieser Sache teilen die Protagonisten eine Unbeschwertheit gegenüber den unbequemen Anforderungen der Welt. „Donʼt judge a Book by its Cover“ gilt hier absichtlich nicht. Dass sie auf ihren Betrachter sympathisch und komisch wirken, bedingt die Rahmung der Fotos durch die knallige Hintergrundfarbe, die als stilistischer Marker komischer Literatur das bildliche Aufbegehren vom ausgestreckten Mittelfinger zum Augenzwinkern mit herausgestreckter Zunge verharmlost: Alles nur Spaß. Damit präsentiert 227

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Die Känguru-Chroniken den Rezipienten noch vor Aufschlagen des Buches den ersten Witz, der je nach Publikum wahlweise als Appetizer oder Appetitzügler fungiert. Gemäß Sigmund Freuds Erkenntnis zu den sozialen Aspekten des Witzes: „Jeder Witz verlangt so sein eigenes Publikum, und über die gleichen Witze zu lachen ist ein Beweis weitgehender psychischer Übereinstimmung.“9. Obwohl die Fotos erahnen lassen, dass sich hier zwei Gleichgesinnte gefunden haben, wirkt die Collage in ihrer Zusammenstellung disparat. Das 3-zu-1-Verhältnis der Porträts lässt das Foto des Kängurus wie einen Eindringling wirken, womit es Bezug zur Handlung herstellt: Von Beginn an tritt das Känguru als rebellischer Störkörper im Leben des Erzählers auf. In „Das Känguru von gegenüber“, dem Auftakt des ersten Bandes, stellt es sich freundlich als neuer Nachbar vor und fragt nach ein paar Eiern für Eierkuchen. Das harmlose Zusammentreffen eskaliert als das Känguru allmählich weitere Zutaten, Küchengeräte und sogar Zugang zur Küche Marc-Uwes erbittet, wo ihm dieser schließlich selbst die Eierkuchen mit dem zuvor auf Wunsch des Kängurus eingekauften Hackfleisch zubereitet10. Dass es neben dem Autor auf dem Buchcover abgebildet wird, könnte drei Gründe haben. Angesichts seines Charakters liegt die Vermutung nahe, dass es sich schlicht selbst in die Fotokabine einlud und Marc-Uwe dem, wie so oft, nachgab. Weil das Känguru die Hauptfigur der Erzählung ist und der Lektor sie beide auf das Geld für das Fotoshooting anspricht, könnte das Känguruporträt zweitens auf den Wunsch des Verlages zurückzuführen sein. Drittens meldet es sich aus Unzufriedenheit über Marc-Uwes Chronistentätigkeit oft in Fußnoten zu Wort, in denen es den Haupttext kommentiert und mitunter korrigiert. Über diesen für einen fiktionalen Text unüblichen, gleichsam rebellischen wie komischen schriftstellerischen Akt (vgl. Humor im Schriftbild) betätigt es sich inoffiziell als Co-Autor und erlangt als solcher Berechtigung, abgebildet zu werden. Trotz des egoistischen und manipulativen Charakters des Beuteltieres entwickelt sich zwischen ihm und Marc-Uwe eine enge Freundschaft, die sich in der Umschlaggestaltung des zweiten Bandes, Das Känguru-Manifest, ausdrückt (vgl. Abb. 2).

9 10

Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, S. 169. Vgl. Kling, Die Känguru-Chroniken, S. 11–13.

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Grenzüberschreitender Humor im Pass-, Schrift- und Weltbild in Marc-Uwe Klings Känguru-Trilogie

Abb. 2: Marc-Uwe Kling: Das Känguru-Manifest (Umschlag) Bemerkenswert ist neben dem ausgeglichenen Verhältnis der Porträts die offensichtliche Freude der Dargestellten am Posieren vor der Kamera. Marc-Uwe, der auf seinen drei Porträts des ersten Bandes kaum die Mundwinkel verzieht, ist nun sichtlich darum bemüht zu lächeln und sein Outfit – Anzug, Hemd und Hut – zurechtzurücken. In der Erzählung weicht seine anfängliche Lethargie, die sich zum Beispiel in andauernder Langeweile äußert, unter Einfluss des Kängurus partiell einem gewissen Aktionismus. Vermutlich befeuert der mit dem Auftauchen des Kängurus einhergehende schriftstellerische Erfolg den Willen, sich als Autor angemessen zu präsentieren. Das zeigt sich überdies an der Qualität der Fotos: Zwar stammen diese noch immer aus dem Schwarz-Weiß-Automaten, ihr Zustand hat sich dafür merklich gebessert. Zwei von ihnen scheinen sogar gänzlich unbeschädigt. Ob der erneute Gang in den Zwei-Euro-Automaten ähnlich motiviert war wie der erste, oder ob sich der Verlag zähneknirschend für ein einheitliches Design entschied, geht aus der Erzählung nicht hervor. Gleiches gilt für den Einfluss des Verlages auf die Entscheidung des Autors, sich zurechtzumachen. Insofern lässt sich das Design hier nicht unbedingt als wiederholte Rebellion deuten. Die Freude am Posieren ist hingegen unbestreitbar und Medium der Komik dieses Umschlags: Nachdem Marc-Uwe und Känguru sich anfangs betont nachlässig gaben, scheitern nun beide daran, sich bemüht in Szene zu setzen. Da Marc-Uwe sich auf einem seiner Fotos noch den Hut zurechtrückt und das Känguru zu nah an der Kamera steht, erscheinen mit gutem Willen bloß zwei der Porträts akzeptabel. Unter Berücksichtigung der angerissenen Ränder bleibt schließlich das untere Porträt des Autors als einziges übrig, welches als konventionell gelungen bezeichnet werden 229

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könnte. Angelehnt an Aristoteles weisen die übrigen Abbildungen allesamt harmlose Verfehlungen auf, die beim Betrachter Lachen provozieren11. Ob diese Verfehlungen intendiert sind, die Protagonisten also erneut das Gelingen der Porträtaufnahmen manipulieren, ist ungewiss. Die vom Rezipienten wahrgenommene Sein-Sollen-Diskrepanz geht einher mit einem Überlegenheitsgefühl, welches sich aus der Annahme speist, im Gegensatz zu diesen (absichtlich) „schlechten Menschen“12 würde einem selbst eine derart simple Aufgabe gelingen. In diesem Sinne sind die Protagonisten hier entweder komische Gegenstände13, die im Versuch, den Anforderungen der Welt zu genügen, scheitern, oder Produzenten der Komik, die einerseits ihren Betrachter zum Lachen einladen, andererseits aber anarchische Überlegenheit gegenüber ihrem Verlag demonstrieren.

Abb. 3: Marc-Uwe Kling: Das Känguru-Manifest (Umschlagrückseite) Einen unerwarteten Komikmoment bietet der Umschlagrücken, auf den sich ein einzelnes Foto des Kängurus verirrte (vgl. Abb. 3). Das insgesamt dritte, durchaus passable Känguru-Porträt durchbricht die harmonische Gestaltung der Vorderseite und steht als humoristisches Ungehorsam in der Tradition des ersten Bandes. War das Känguru wie Marc-Uwe zuvor womöglich

11 12 13

Vgl. Aristoteles, Poetik, 1449a33–1449a39. Ebd., 1449a33. Zur Unterscheidung komischer Gegenstände und Produzenten vgl. Horn, Das Komische im Spiegel der Literatur.

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gescheiterter Lachgegenstand, demonstriert es mit diesem Akt seine Handlungsfähigkeit als Produzent des Komischen. Die Diegese folgt einem ähnlichen Prinzip: Für gewöhnlich ist die Freundschaft der beiden von Konkurrenzkämpfen geprägt, die sich vorwiegend darum drehen, die eigene intellektuelle Überlegenheit herauszustellen. Diese Dynamik durchzieht den Humor des Duos mit Überlegenheitskomik, d. h. sie provozieren situativ das Lachen über ihre Gegenüber, ohne dass diese es bemerken. Ziele ihrer Angriffe sind bevorzugt uniformierte Staatsdiener und Gatekeeper, wie Kartenkontrolleure in Zügen und Kinos14. Das Lachen über diese auffällig humorlosen, prototypischen Figuren entlarvt für den Leser systemische Widersprüche. Im Unterschied zum Betrachter des Umschlages praktizieren Marc-Uwe und Känguru absichtlich ein feindseliges, satirisches Lachen. In beiden Fällen wirkt Komik identitätsstiftend; formt affirmativ ein Gemeinschaftsgefühl für alle, die denselben Humor teilen, und arbeitet subversiv gegen alle Kräfte, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören sollen. Eine Überhöhung der Protagonisten bleibt aus, weil sich insbesondere das Känguru hin und wieder in Absurditäten verstrickt, wodurch es selbst zum komischen Gegenstand für die Leserschaft gerät. Insofern gestaltet der Humor der beiden das Cover zwar nicht wie in Die Känguru-Chroniken aktiv mit, wird darin aber verbildlicht.

Abb. 4: Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Offenbarung (Umschlag) 14

Vgl. Kling, Die Känguru-Chroniken, S. 103f. sowie Kling, Die Känguru-Offenbarung, S. 95f.

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Obwohl er bereits in Die Känguru-Chroniken auftritt, ist der humorlose Pinguin einzig auf dem Umschlag des dritten Bandes zu sehen (vgl. Abb. 4). Die wenigen Informationen, die den Leser über ihn erreichen, stammen meist aus der Figurenrede und sind daher von der ablehnenden Haltung des Kängurus gefärbt. Im zweiten Band angestellte Nachforschungen des Kängurus im Hausmüll des Pinguins, die die Reste von Teewurst – dem exakten Gegenteil der vom Känguru heiß geliebten Schnapspralinen – zutage fördern, bekräftigen die Protagonisten zu glauben, dass es sich beim Pinguin um den Antagonisten des Kängurus handeln muss15. In tiefster Überzeugung, der Pinguin habe „einen bösartig-kapitalistischen Weltvernichtungsplan“16, den es zu vereiteln gelte, bricht das Känguru in Die Känguru-Offenbarung zu einer weltumspannenden Verfolgungsjagd auf. Marc-Uwe begleitet es als Konsequenz einer verlorenen Runde „Schnick, Schnack, Schnuck“.17 Erst später erfahren sie, welchen Plan die Pinguine tatsächlich verfolgen: den Bau eines weltumspannenden Flughafens, damit sie endlich fliegen können18. Sich für das Cover mit seinem Widersacher in eine Fotokabine zu drängen, blieb dem Känguru glücklicherweise erspart, denn – so geht aus der Erzählung hervor – das Pinguin-Foto ist ein Passfoto, welches das Känguru aus dessen Wohnung stahl, um es als Fahndungsfoto einzusetzen. Es wurde auf Wunsch des Lektors auf den Umschlag aufgenommen19. Trotzdem verrät der Gesichtsausdruck der Protagonisten Unzufriedenheit. Das Känguru fokussiert die Kamera überrascht bis angriffslustig, der Autor wirkt eher müde und schicksalsergeben – Beschreibungen, die sich mühelos auf die Gemütsverfassung beider Protagonisten durch den dritten Band hindurch übertragen lassen. Vor allem der vom Känguru zum Aufbrechen genötigte Marc-Uwe ist bis dahin einer wohligen Kiezseeligkeit verfallen und entsprechend unmotiviert. Die physische Qualität der Fotografien ähnelt mit einem gerissenen Rand und einer geknickten Ecke der in Das Känguru-Manifest, wenngleich sie durch größere Überlappungen und schiefe Ausrichtung flüchtig arrangiert scheinen. Das Sujet teilt die hektische Grundstimmung der Collage; vom einstigen Bemühen um ansehnliche Porträts ist weder in der Kleidung des Autors noch in der Komposition der Fotos etwas zu spüren. Komisch wirkt der Umschlag wegen des Arrangements der zwei linken Fotos, welches dem Autor die Ohren des Kängurus aufsetzt. Das Aufsetzen der Ohren erinnert an karnevaleske Verkleidungsriten, die zwei von Michail Bachtin20 beschriebene Charakteristika des Karnevals – Mesalliance und Profanation – vereinen: Es ist eine zum Zweck der Komik erniedrigende, nicht standesgemäße Vereinigung zweier unglei-

15 16 17 18 19 20

Vgl. Kling, Das Känguru-Manifest, S. 91–94. Kling, Die Känguru-Offenbarung, S. 177. Vgl. ebd., S. 181. Vgl. ebd., S. 279. Vgl. ebd., S. 65–72 sowie 166. Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 48f.

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cher Parteien.21 Zwar ist auch hier die Urheberschaft unklar, doch angesichts des heimlich auf die Umschlagsrückseite des zweiten Bandes platzierten Känguru-Porträts, für das das Känguru als dringend tatverdächtig gilt, wäre auch hier anzunehmen, dass es Einfluss auf die Auswahl und Anordnung der Fotos hatte. So wäre nicht nur der Verbleib des vierten Automatenfotos erklärt, denn dieses sortierte das Känguru vermutlich aus, sondern ebenso die ungewöhnliche Wahl des Ohrenfotos und dessen Platzierung. Insofern wäre das Känguru Urheber dieses von Konkurrenzdenken motivierten, auf Erniedrigung und Verlachen seines Mitbewohners aufbauenden Komikaktes. Das Zusammenspiel der Autoren-Fotos und des Pinguin-Porträts ist eine zweite Quelle des Komischen – erst recht, weil das Pinguin-Porträt nicht komisch intendiert ist. Über die gleichsam ungeschickten wie gleichgültigen Versuche Marc-Uwes und Kängurus, sich vor der Kamera zu präsentieren, wurde oben ausführlich gesprochen. Die Produktionsbedingungen des Pinguin-Porträts sind demgegenüber antithetisch: Die Porträtaufnahme als Medium wurde bewusst gewählt, sorgfältig durchgeführt und die Pose kontrolliert eingenommen. Den drei unbeholfenen Fotos gegenüber wirkt dieses seiner Korrektheit wegen übertrieben ernst und daher lächerlich.

3 Humor im Schriftbild Die literarische Form der Kurzgeschichte bietet einen großen Freiraum für schriftstellerische Experimente, den die Känguru-Trilogie zum Spiel mit unreiner Fiktionalität nutzt. Lange vor dem im zweiten Band stattfindenden Gespräch zwischen Erzähler, Känguru und Lektor streiten Känguru und Marc-Uwe über den Wahrheitsgehalt seiner Geschichten. Marc-Uwe, der sich als Chronist versteht, widerspricht vehement dem Vorwurf des Kängurus, die Geschichten seien „Nur Lügen!“; er schreibe „ja immer gleich alles mit“.22 Weil das Känguru ihn daraufhin auf die Probe stellt und ihm etwas diktiert, von dem er sich weigert es zu notieren (die direkte Rede wird im Band mit einer Reihe von Satzendepunkten zensiert), eskaliert der Streit. Als das Kän21

22

Laut Bachtin ist der Karneval ein temporärer Ausnahmezustand, der die Gesetzmäßigkeiten der Klassengesellschaft außer Kraft setzt. Frei von jeglicher Furcht vor Restriktion und Sanktionierung geben die Menschen die Distanz zueinander auf und treten in „freie[n], intim-familiäre[n], zwischenmenschliche[n] Kontakt“ (ebd., S. 48). Im Zuge dieser neu gewonnenen Freiheit werden „alle Werte, Gedanken, Phänomene und Dinge“ (ebd., S. 49) enttabuisiert und – seien sie noch so gegensätzlich – „vereinigt, vermengt und vermählt“ (ebd.). Bachtin nennt dies „karnevalistische Mesalliance“ (ebd.). Ebenfalls essentiell für den Karneval ist die systematische Schändung und Erniedrigung – Profanation – die insbesondere im ritualisierten Sturz des Karnevalskönigs zum Ausdruck kommt (vgl. ebd., S. 49 sowie 52). Kling, Die Känguru-Chroniken, S. 70.

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guru schließlich über den Tisch springt, um Marc-Uwe den Stift zu entreißen, bricht die Kurzgeschichte mitten in der Erzählerrede ab: „‚Schreibst du immer noch?‘, fragt es. ‚Ja‘, sage ich. ‚Hör auf damit!‘, sagt das Känguru. ‚Nö‘, sage ich. ‚Hör auf ‘, sagt das Känguru. ‚Ich schreibe: ‚Hör auf ‘, sagt das Känguru‘, sage ich. ‚Hör auf oder ich komm rüber und nehm dir den Stift weg.‘ ‚Ui. Da hab ich aber Angst‘, sage ich. Das Känguru hüpft vom Tisch auf mich zu und versu“23

Das Eingreifen des Kängurus auf Handlungsebene führt zu einer überraschenden typografischen Abnormität des Haupttextes. Über schriftstellerische Grenzüberschreitungen wie diese suggeriert der Text Unmittelbarkeit zwischen fiktionalem Autor und realem Leser, die alle tatsächlich zwischengeschalteten Stationen der Literaturdistribution ausklammert. Der komische Effekt im Schriftbild wird also, wie so oft in der Trilogie, von der scheinbaren Abwesenheit eines Korrektivs getragen. Versuche des Lektors, im dritten Band via Fußnoten qualitativ Einfluss auf den Text zu nehmen, laufen entweder ins Leere24 oder provozieren schriftstellerischen Ungehorsam. So reagiert Marc-Uwe auf dessen Kommentar, „Nachspiel“25 biete auf Seite 393 das perfekte Ende der Trilogie, mit einem nach Umblättern auf Seite 394 sichtbar werdenden Schlussabschnitt. Die halbleere Buchseite 393 lässt keinen Zweifel, dass dies eine vom Lektor unabsichtlich provozierte Trotzreaktion des fiktionalen Autors darstellt. Die für fiktionale Texte unübliche Praxis des Fußnotenapparates ist ein gängiges Mittel des Komischen in der Trilogie, welches, wie „Nachspiel“ demonstriert, partiell über das einfache Begleiten des Haupttextes hinausgeht und eine durchaus enge, interaktive Beziehung zu ihm herstellt26. Erstmals werden Sie in „Warzenschwein“27 in der unveränderten Ausgabe der Kän-

23 24 25 26

27

Ebd., S. 71. Vgl. Kling, Die Känguru-Offenbarung, S. 313. Ebd., S. 389–394. Genette schreibt den Fußnoten als Paratext eine „im allgemeinen weniger explizite und weniger enge Beziehung“ zum „eigentliche[n] Text“ zu (Genette, Palimpseste, S. 11). Kling, Die Känguru-Chroniken (2009), S. 47–48. Ab der 21., aktualisierten und überarbeiteten Auflage der Känguru-Chroniken setzt das Känguru die erste Fußnote in „Should I Stay Or Should I Go?“ (Kling, Die Känguru-Chroniken, S. 94–96) um eine Aussage Marc-Uwes zu kommentieren. Ein kausaler Zusammenhang wie in der ursprünglichen Fassung von Warzenschwein besteht nicht.

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guru-Chroniken verwendet: Mittels „dumme[r] Sprüche und witzige[r] Wortverdrehungen“28 versucht das Känguru Auskunft über das Versteck der Schnapspralinen zu erpressen, bis MarcUwe schließlich vor lauter „physische[r] Schmerzen […] eine gnädige Ohnmacht umfängt“29. Es scheint, als nutze das Känguru die Gunst der Stunde, sich selbst ungestört mit seiner Sicht auf das Erzählte in einer Fußnote zu Wort zu melden. Wie bei der im vorangegangenen Abschnitt ausführlich besprochenen Umschlaggestaltung sowie dem abrupten Ende der Kurzgeschichte „Zensur“ wird hier der Eindruck vermittelt, die Protagonisten hätten direkten Einfluss auf die finale Gestaltung von Haupt- und Paratexten. Dass der Verlag oder gar der Autor selbst im Nachhinein die Interventionen des Kängurus korrigieren, wird als Szenario ausgeklammert – redaktionell eine weitere harmlos-komische Abnormität. Das Känguru-Manifest führt den Einsatz des Fußnotenapparates ins Lächerliche, indem es der gängigen Vorbemerkung „Nach einer wahren Begebenheit“30 eine Fußnote beifügt, die ihrerseits von einer mit Fußnote versehenen Fußnote ergänzt wird. Der sich auf drei Fußnotenebenen aufgliedernde Kommentar relativiert den Wahrheitsgehalt der Erzählung und stiftet eher Verwirrung als zum Erkenntnisgewinn der Rezipienten beizutragen: „1 Teile der Geschichte spielen allerdings in der Zukunft.1.1 1.1 Jetzt könnte man natürlich fragen, wie passt das zusammen? Man könnte aber auch akzeptieren, dass die Behauptung dadurch schwer zu widerlegen ist.1.1.1 1.1.1 Man könnte vielleicht sagen, die Geschichte spielt nach einer wahren Begebenheit.“

Das fortwährende Kommentieren und Korrigieren seiner Aussagen zeugt von der Unsicherheit bzw. Unzulänglichkeit des Erzählers Marc-Uwe, stellt aber auch eine Form des Tabubruchs und der Freiheit zum Verspieltsein dar, die Charakteristika der Überlegenheitskomik sind31. Zugleich parodiert er die Fußnote als vorwiegend wissenschaftliches Instrumentarium, deren eigentliche Funktion darin besteht, den Haupttext zu begleiten und zugunsten der Verständlichkeit zu ergänzen. Sabine Zubarek schreibt in „Funny Footnotes“ zur Funktion der Fußnote allgemeingültig: „Wenn nämlich Kommentarfunktionen wie Fußnoten oder andere beigefügte Paratexte […] verwendet werden, so bedeutet dies, dass […] der Text an sich nicht als ein abge-

28 29 30 31

Kling, Die Känguru-Chroniken (2009), S. 47. Ebd., S. 48. Kling, Das Känguru-Manifest, S. 7. Vgl. Horn, Das Komische im Spiegel der Literatur, S. 124.

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schlossener funktioniert, also auf zusätzliches Textmaterial angewiesen ist, in sich also immer schon einen Mangel trägt und Unvollkommenheit bzw. Unabgeschlossenheit markiert. “32

Im angeführten Beispiel nehmen sich die Fußnoten strukturell gegenseitig ihre Glaubwürdigkeit, denn kämen sie ihrer Aufgabe erfolgreich nach, bedürfte es keiner weiteren Fußnotenebene respektive Ergänzung. Inhaltlich relativieren sie sich wiederum, sodass „Nach einer wahren Begebenheit“ temporär verstanden werden soll, die Erzählung also zeitlich einer wahren Begebenheit nachgestellt ist, ohne mit dieser notwendigerweise zusammenzuhängen. Letztlich negieren die Fußnoten die über Lesekonventionen des Rezipienten geprägten Erwartungen an eine faktuale Handlung. Das humorige Schriftbild greift überdies von der Erzähl- auf die Handlungsebene über. In „Perspektivische Verzerrungen“33 löst das Schmarotzertum des Kängurus einen Streit über Marc-Uwes schriftstellerische Begabung aus. Die Wahl, aus Perspektive des Ich-Erzählers zu schreiben, so der Vorwurf des Kängurus, sei Ausdruck mangelnden Könnens. Marc-Uwe variiert daraufhin mehrfach Zeit, Modus und Stimme der Erzählung, mittels derer er das Geschehen um ihn herum einschließlich des Verhaltens der Charaktere steuert. Für den Leser ist der Übergriff einer Figur von der Handlungsebene heraus auf die Erzählerrede und zurück ein unerwarteter, humoristisch intendierter Ungehorsam. Gegenüber dem Känguru lässt Marc-Uwe wiederum kräftig die Muskeln spielen, indem er seine Überlegenheit als Erzähler und Chronist eindrucksvoll demonstriert. Selbstredend führt er so das Wesentliche der Gattung Chronik als „besonders sachgemäße Ausformung des geschichtlichen Stoffes“34 ad absurdum. Dank der losen inhaltlichen Verknüpfung in Die Känguru-Chroniken bleiben derart phantastische Momente folgenlos für die Handlung. Der Erzählstil Marc-Uwes vermittelt einen filmszenischen Eindruck. Die Geschichte „Im Weltinnenraum des Kapitals“35 leitet er etwa mit dem optisch gerahmten Warnhinweis ein „Warnung: /​Das folgende Kapitel endet mit einem Cliffhanger /​und einem dramatischen Tusch.“ Die Warnung weist als Werkzeug des Films auf zwei weitere filmische Instrumente hin, die einerseits die diegetische Ebene (Cliffhanger), andererseits die akustische Ebene (Tusch) betreffen. Die Pointe der Kurzgeschichte ist nicht die absurde Erweiterung des Textes um eine vermeintlich akustische Erzählebene, sondern die dem „dramatischen Tusch“ beigefügte Fußnote des Chro-

32 33 34 35

Zubarik, Funny Footnotes, S. 315. Kling, Die Känguru-Chroniken, S. 64–66. Melville, Chronik, S. 305. Kling, Die Känguru-Offenbarung, S. 218–223.

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nisten sowie die Fortsetzung in der nachfolgenden Geschichte. Die Fußnote, die sich um eine Begriffsklärung von „Cliffhanger“ bemüht, schließt mit folgender Anmerkung: „Man bricht eine scheinbar sehr spannende und dramatische Szene mitten in der Handlung ab, um das Publikum bei der Stange zu halten. Oft erweist sich die Szene dann zu Beginn der Fortsetzung übrigens als gar nicht so spannend und dramatisch.“36

Der „dramatische“ Cliffhanger besteht in diesem Fall in einem verschwundenen Ausgang einer unterirdischen Shopping-Mall. Was den Leser nach umblättern der Buchseite erwartet, lässt sich treffend mit Immanuel Kant als „plötzlich[e] Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“37 bezeichnen: „Wir haben dann doch noch einen Ausgang gefunden. Ein mit gelben Steinen gepflasterter Weg führte uns unterirdisch bis zum Flughafen, […]“ erzählt Marc-Uwe wie beiläufig; die zuvor von ihm im Leser aufgebaute Spannung ebenso ignorierend wie die Phantastik des intertextuell auf L. Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz (1900) referierenden Pflastersteinweges. Auch Zeitsprünge und Handlungslöcher dienen dem Erzähler dazu, unbegründet plötzliche Szenenwechsel vorzunehmen, um die Protagonisten aus kritischen Situationen entkommen zu lassen, etwa wenn Marc-Uwe und Känguru aus einem Großraumbüro mit unzähligen Pinguinen flüchten müssen. Plötzlich springt die erzählte Zeit zehn Minuten vor und die Protagonisten dialogisieren über die unglaubwürdige Flucht, die nicht erzählt zu werden brauche, „da es eh keiner glauben würde“38. Ähnlich wie in der oben beschriebenen Liederlichkeit im Passbild stellt der Erzähler hier dreist sein liederliches Erzählen zur Schau und generiert gerade wegen der spielerischen Selbstreferenzialität Komik. Seinen Leser konfrontiert Marc-Uwe so jedes Mal mit unerwarteten Erzählbrüchen. Ob er diese Stilmittel nutzt, um, wie ihm das Känguru oft vorwirft, mangelndes Talent zu kaschieren, ist unerheblich. Entscheidend ist ihr bewusster, auf komische Wirkung zielender Einsatz und das performative Aufbegehren gegen schriftstellerische Konventionen.

4 Humor im Weltbild Dass zwei auf den ersten Blick derartig verschiedene Charaktere wie Marc-Uwe und Känguru Freunde werden, ist wesentlich für die Trilogie. Wie am Beispiel der Überlegenheitskomik nachzuvollziehen ist, lebt ihr Humor von der (ironischen) Abgrenzung zueinander und zu anderen. 36 37 38

Ebd., S. 223, FN 9. Kant, Kritik der Urteilskraft, §54, S. 273. Kling, Die Känguru-Offenbarung, S. 279.

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Einen seltenen Moment der Nähe und eine weitere Facette der eigenwilligen Humor-Dynamik des Duos zeigt die Kurzgeschichte „Guten Tag, Kollege!“39, in der Marc-Uwe und Känguru ihre Kindheit in unterschiedlichen Staats- und Wirtschaftssystemen erinnern. Die Migrationsbiografie des Kängurus ist vielseitig: Geboren während der letzten Kriegsmonate in Vietnam,40 immigrierte es gemeinsam mit seiner Mutter als Vertragsarbeiter in die DDR.41 Nach deren Auflösung zog es in den ehemals westdeutschen Berliner Bezirk Kreuzberg, wo es nun in einer Wohngemeinschaft mit Marc-Uwe lebt. Australien als Herkunftsland seiner Vorfahren ist für das Känguru kaum von Bedeutung. Nichtsdestotrotz verrät sein Äußeres die australischen Wurzeln, weswegen es Opfer rassistischer Diskriminierung wird.42 Für die Freundschaft zu MarcUwe ist die persönliche Migrationserfahrung des Kängurus, der politische Systemwechsel und die damit verbundene Migration von der DDR in die BRD relevant. Sie liefert ihm nebenbei die Begründung seines als Kommunismus getarnten, radikal gelebten Schmarotzertums. „Guten Tag, Kollege!“ zeigt das gemeinsame Erinnern von Kindheitserlebnissen, das die unterschiedliche Herkunft der Protagonisten exzeptionell verhandelt. Das Känguru bekommt vom Rauchen eines Joints Heißhunger und will diesen mit einem angegessenen Schokoladenweihnachtsmann aus seinem Beutel stillen. Dann erinnert es sich, früher die Verpackungen der Schokoweihnachtsmänner gesammelt und mit anderen Kindern getauscht zu haben. Marc-Uwe fällt daraufhin ein, dass er früher ein Stickeralbum haben wollte, um mit anderen Kindern Sticker tauschen zu können. Weil seine Eltern ihm keines kaufen wollten, musste er sich mit einer selbstgebastelten Alternative behelfen, in der er nur die „Schreib mal wieder“-Aufkleber der Bundespost, „Ein Herz für Kinder“-Aufkleber und die Adressaufkleber seines Vaters sammeln konnte. Die anderen Kinder mochten deshalb nicht mit ihm tauschen: „‚Es muss hart gewesen sein, im Kapitalismus aufzuwachsen‘, sagt das Känguru. ‚Ihr durftet ja nicht mal ohne Gängeleien ins schöne Mecklenburg fahren, um Urlaub zu machen.‘ ‚Nee‘, sage ich. ‚Immer nur in die Südsee. Jedes Jahr in die Südsee.‘ ‚Das muss genervt haben.‘ ‚Das hat genervt‘, sage ich. ‚Aber es war auch nicht alles schlecht im Westen …‘ ‚Zum Beispiel hattet ihr Farben‘, sagt das Känguru. ‚Ja, und wir hatten in Einkaufszentren riesige Container mit unfassbar vielen kleinen, giftigen Plastikbällen, wo man seine Kinder loswerden konnte. Was ich damals schon an

39 40 41 42

Kling, Das Känguru-Manifest, S. 31–35. Kling, Die Känguru-Offenbarung, S. 252. Kling, Das Känguru-Manifest, S. 34. Vgl. Kling, Die Känguru-Chroniken, S. 73–75 sowie Kling, Das Känguru-Manifest, S. 259.

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Weichmachern gelutscht habe  … Na ja, wie dem auch sei, ich fand mein Stickeralbum trotzdem super. Ich habe das sogar noch in einer Kiste auf dem Schrank.‘ ‚Ich hab die Weihnachtsmänner bestimmt auch noch irgendwo‘, sagt das Känguru und beginnt tief unten in seinem Beutel zu graben.“43

Der Dialog behält die bekannte „Im Osten war alles schlecht“-Grammatik als Vorlage, tauscht in dieser aber die Vokabeln aus, sodass nun der im Kapitalismus aufgewachsene Marc-Uwe derjenige ist, der über Mangel in seiner Kindheit klagt, während das in der von Gütermangel gezeichneten DDR aufgewachsene Känguru seine Vergangenheit die gesamte Kurzgeschichte hindurch milde erinnert, ohne sie zu verklären. Marc-Uwes erlebter Mangel basiert auf den durch seine Eltern bestimmten Restriktionen; ihnen kam die Rolle der Gatekeeper zu, die über Marc-Uwes Zugang zu Gütern entschieden. Komisch ist der Dialog, weil der von ihm beklagte Mangel nicht von Warenknappheit bestimmt wurde, sondern im Fall der Südseereisen von der Einfallslosigkeit – einer harmlosen Verfehlung – der Eltern, die ihre Reisen selbst vermutlich als Jahreshöhepunkt erlebten. Das Bällebad wiederum steht der subjektiv erlebten Güterknappheit als Extrem gegenüber und kann als Paradebeispiel des Überflusses gesehen werden: Während die Kinder in der DDR mangels Alternative Verpackungsmüll tauschten, gab es im kapitalistischen Westen „unfassbar“ viele Spielbälle, in denen buchstäblich gebadet werden konnte. Absurderweise war ausgerechnet der in fröhlichen Farben lockende, an sich harmlos anmutende Spielbereich ein Ort unsichtbarer Gefahr und – im Erleben Marc-Uwes – ein Ort der Verbannung. Wie zuvor im Erzählen von seinem Stickeralbum und den Südseeurlauben ist diese Erinnerung von Vorwürfen gegenüber seinen Eltern gefärbt, die sich nach seinem Erleben in der Vielzahl an Auswahlmöglichkeiten wiederholt falsch entschieden. Folglich richtet der Dialog zwischen den Zeilen ein kritisches Auge auf jede der beiden Seiten und nimmt gleichermaßen Zentralverwaltungswirtschaft und Kapitalismus ins Visier des satirischen Angriffs. Die unschöne Kindheitserinnerung Marc-Uwes beantwortet das Känguru mit Ironie, auf die Marc-Uwe unvermittelt selbstironisch und satirisch eingeht. Der Dialog wäre als solcher nicht führbar, wäre nicht eine entscheidende Voraussetzung gegeben: Beide Charaktere gehören zum selben sozialen Milieu, d. h. erst in der gemeinsamen Lebenswirklichkeit, dem Teilen von Werten, Prinzipien, Mentalität und Bildungsstand wird ihre Freundschaft ermöglicht. Obwohl sie sich wegen ihrer Herkunft politisch fern sein sollten, teilen sie ein gemeinsames Weltbild, innerhalb dessen sich ihr von Satire und (Selbst-) Ironie gezeichneter Humor entwickelt. Die Welt, die Kling zeichnet, nähert sich einer postnationalen Dystopie an, in der staatliche Grenzen für Personen, nicht aber für Konzerne und deren Güter gelten. Auf der einen Seite

43

Kling, Das Känguru-Manifest, S. 33.

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durchläuft das Känguru vor jedem Flug „verdachtsunabhängige Intensivkontrollen“44, auf der anderen Seite lösen sich die Metropolen, die die Protagonisten auf ihrer weltumspannenden Jagd nach dem Pinguin bereisen, in der Uniformität und Beliebigkeit globaler Marken und Großkonzerne auf. Sie sind es, die sich die Welt untereinander aufteilen. Starbucks, McDonaldʼs, Nordsee oder eine geschlossene Schlecker-Filiale erscheinen als wiederkehrende Kulissen von Berlin über Vietnam und sogar unter Deck eines Schiffes.45 Auf der Erzählebene trägt der Chronist Marc-Uwe seinen Teil bei, indem er, der Einfachheit halber, wie er auf Nachfrage des Kängurus zugibt, jeden, der ihnen auf ihrer Weltreise begegnet „zufälligerweise“46 Deutsch sprechen lässt. Gegenüber der im ersten Band beschworenen Wahrheitstreue seiner Chroniken ist dies ein offen eingestandener Fehler – eine von vielen Offenbarungen des dritten Bandes –, dessen Muster zur Nachlässigkeit der Protagonisten passt. Marc-Uwes in der Erzählerrede ausgelebter Humor kumuliert in der Ausnahmeregelung, die er für den Umgang mit fremdsprachiger Figurenrede einräumt: „‚Außer ich finde es aus irgendeinem Grund witziger, dass sie nicht deutsch sprechen.‘“.47 Einen solchen Grund bietet ihm die Anfang 20-jährige Sarah, auf die beide wiederholt treffen. Sie ist zufälligerweise Deutsche, spricht als Karikatur einer Globetrotterin aber ausschließlich und „sehr schnell“48 US-amerikanisches Englisch. Ihre nicht ins Deutsche übersetzte Figurenrede ist eine Aneinanderreihung kurzer Hauptsätze und oft inhaltsleerer, schrill vorgetragener Phrasen49. Als Sarah herausfindet, dass Marc-Uwe ebenfalls „zufälligerweise Deutsch [spricht]“,50 wechselt sie die Sprache, behält dieses gekünstelte Muster jedoch bei. Als Figur reagiert Marc-Uwe in dieser Situation wie so oft genervt, zumal sich herausstellt, dass Sarah ebenfalls in Berlin lebt und sich dort unbedingt mit ihm treffen möchte51. Komiktheoretisch liegt die Pointe hier klar in der plötzlichen Erkenntnis des Lesers, Sarahs augenscheinlich übertriebener Sprachstil ist nicht die Imitation US-amerikanischer Umgangssprache in Wortwahl und Syntax, sondern buchstäblich die Übersetzung ihres eigenen Sprachstils. Der Nutzen des manipulativ intendierten Überraschungsmoments für den Erzähler ist ungleich größer, denn das gemeinsame Erleiden ihres Wortschwalls vorab schafft Empathie auf Seiten des Lesers, sodass die Pointe zwar ein schadenfrohes Lachen über MarcUwe provoziert, der Leser aber weiterhin seiner Sichtweise wohlgesonnen ist. Während der Er-

44 45 46 47 48 49 50 51

Vgl. Kling, Die Känguru-Chroniken, S. 73. Vgl. Kling, Die Känguru-Offenbarung, S. 235 sowie 265. Ebd., S. 220. Ebd. Ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 274. Ebd., S. 275. Vgl. ebd.

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zähler also fortlaufend bemüht ist, den Leser auf seiner Seite zu halten, „opfert“ Kling als Autor seine Protagonisten hin und wieder als unzulängliche Lachgegenstände. Auf die Spitze treibt der Erzähler die Uniformierung der erzählten Welt in der Begegnung der Protagonisten mit einer Gruppe dem Widerstand gegen die Pinguine angehörender Kängurus, die dem Känguru nicht nur in Sachen Musikgeschmack, politischer Gesinnung, Boxgeschick und Rauschmittelkonsum gleichen, womit die scheinbar einzigartigen Persönlichkeitsmerkmale des Kängurus zum rassistischen Stereotyp verkommen, sondern sich darüber hinaus in der willkürlichen Vergabe ihrer Decknamen – Kevin, Howie, A.J., Nick und Brian (die Vornamen der Backstreet Boys) – verlieren. Sie wissen schlicht irgendwann nicht mehr, wer sich ursprünglich welchen Namen ausgesucht hatte. Mit ihrem Einverständnis nennt sie der Chronist am Ende allesamt Kevin,52 womit er den ebenfalls „zufällig“ deutsch sprechenden Kängurus in seinem Erzählen zunächst die nationale Identität und über die Vereinheitlichung der Namen schließlich ihre personale Identität nimmt. Schlussendlich verlieren sich die Kängurus in der Negierung ihres Selbst: Wenn alle Kevin sind, ist niemand Kevin; eine satirische Notiz des Autors vom sich freiwillig in der Beliebigkeit auflösenden Individuum, die dem Wunsch nach Selbstverwirklichung (s. Backpackerin Sarah) und Authentizität (s. Autorenporträts) gegenübersteht. Als zeitgenössische Satire weist der dritte Band so auf das fortschreitende Verschwinden individueller und nationaler Identitäten im Kontext von Globalisierung hin – in Anlehnung an Robert Musil ließe sich zugespitzt formulieren: auf eine Entwicklung hin zu Menschen und Staaten ohne Eigenschaften53.

52 53

Vgl. ebd., S. 299–302. Erste Vorboten der dystopischen Entwicklung vom freiwilligen Auflösen des Selbst in der Uniformität stellen in der Trilogie Bedienstete in Uniform dar. In „Theorie und Praxis“ (Kling, Die Känguru-Chroniken, S. 73–75) gerät das Känguru am Flughafen Berlin Schönefeld in eine Sicherheitskontrolle. Den vom Erzähler als „outgesourcte[n], lohngedumpte[n] Sicherheitsdienstleister“ beschriebenen Gatekeeper fragt das Känguru, als er es auswählt, „Was willst du von mir, Mann ohne Eigenschaften?“ (ebd., S. 74), womit es das Auflösen seiner Persönlichkeit sprachlich markiert. Alle uniformierten Charaktere der Trilogie definieren sich ausschließlich über die von der Uniform bestimmten Funktion und ihrer unhinterfragten Autoritätshörigkeit. Über diese Charaktere kann gelacht werden, weil sie ohne Sinn und Verstand dem Protokoll folgen – weshalb das Känguru in „Theorie und Praxis“ schließlich auf dem Gepäckband liegt, um seinen Beutel röntgen zu können („Der Beutel […] muss aufs Band“, ebd.) –, oder sich blindäugig von vorgetäuschter Autorität beeindrucken lassen – effektvoll dargestellt in persona des Wehrdienstleistenden Krapotke, den Marc-Uwe in „Der Hauptmann vom Wannsee“ ohne Uniform davon überzeugt, selbst Hauptmann zu sein, woraufhin dieser bereitwillig jeden noch so unsinnigen Befehl ausführt (vgl. Kling, Das Känguru-Manifest, S. 209–215).

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Carolin Haupt

5 Fazit Der Fokus dieses Beitrags auf das Medium Buch als ein Träger der Känguru-Geschichten gibt den Blick auf die literaturproduktive und -distributive Konventionen unterwandernde Komik frei. Sei es im Ignorieren von Verlagsvorgaben, im verbalen Raufen der Freunde Marc-Uwe und Känguru, im Verlachen prototypischer wie unzulänglicher Charaktere (zu denen die Protagonisten mitunter selbst gehören) oder im selbstironischen Zynismus des Erzählers: Die Komik der Trilogie lebt vom bewussten Austesten und Überschreiten von Grenzen. Rebellion und Widerstand begegnen der Leserschaft nicht nur offensichtlich auf Handlungsebene in Gestalt des kommunistischen Kängurus; sie durchziehen die Trilogie (para)textuell von der ersten bis zur letzten Seite. Para- und Haupttext, Umschlag und Erzählung – Zeigen und Sagen – ergänzen sich umfassend in ihrem (komischen) Wirken. Erst in dieser Konzentriertheit können auch nichtsprachliche respektive bildliche – hier im weiteren Verständnis auf pass-, schrift- und weltbildlicher Dimension gefasste  – Komponenten am narrativen Prozess teilhaben. Zu den erzähltechnischen Stärken der Känguru-Trilogie zählt ihr spielerischer bis anarchischer Umgang mit Autorenschaft, der den Erzählungen einen unbeschwerten, nahbaren und trotz phantastischer Elemente (s. das sprechende Känguru, auf wundersame Weise erscheinende, gelbgepflasterte Auswege oder das gottgleiche Eingreifen des autodiegetischen Erzählers auf die Handlungsebene) glaubwürdigen Charakter verleiht. Sich als Leser auf dieses Spiel einzulassen, bedeutet Erzähler und Figuren als autarke, handlungsmächtige Persönlichkeiten zu begreifen, deren Wirken über die Diegese hinaus, in den Paratext hineinreicht. Die im Zuge dieses Beitrages beschriebenen, in Pass-, Schrift- und Weltbild hervortretenden Formen des Humors sind ein erster Ansatz, die in der Känguru-Trilogie angelegten Komikformate sowie die zugrundeliegende(n) Humor-Strategie(n) zu erfassen und können deshalb nur exemplarisch verstanden werden. Nicht nur aufgrund seiner medial vielfältigen Aufbereitung in Form von Büchern, Hörbüchern oder Spielen, intertextueller Beziehungen und ausgeprägter Selbstreferenz bietet das Känguru-Narrativ reichlich Stoff für (literatur-) wissenschaftliche Studien. Auch die komische Qualität der Texte in Form, Wirkung und Funktion ist ein gleichsam ergiebiges wie interessantes Forschungsfeld mit reichlich Raum für Entdeckungen.

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Grenzüberschreitender Humor im Pass-, Schrift- und Weltbild in Marc-Uwe Klings Känguru-Trilogie

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Carolin Haupt

Bildquellen Abb. 1: Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Chroniken, Umschlag, Berlin 2010 (2009). Abb. 2 und 3: Marc-Uwe Kling: Das Känguru-Manifest, Umschlag und –rückseite, Berlin 2014 (2011). Abb. 4: Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Offenbarung, Umschlag, Berlin 2014.

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Autorenportraits Andrea Albrecht ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Heidelberg. Nach dem Studium der Mathematik, Germanistik und Philosophie in Bremen, Hamburg und Göttingen und der Promotion in Göttingen (Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800, Berlin 2005) war sie zunächst an der University of California, Berkeley, dann als Emmy Noether-Fellow an der Universität Freiburg. Nach ihrer Habilitation zur kulturellen Repräsentation des Mathematischen wurde sie an die Universität Stuttgart berufen. Seit Herbst 2017 forscht und lehrt sie im Bereich Literaturgeschichte der Moderne, Literatur und Wissen, Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus und Fachgeschichte der Germanistik in Heidelberg. Frank Becker, Dr. phil., ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Er gehört zum Leitungsgremium des DFG-Graduiertenkollegs 1919 „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage: Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ und ist Mitglied der DFG-Forschungsgruppe 2600 „Ambiguität und Unterscheidung. Historisch-kulturelle Dynamiken“ an der Universität Duisburg-Essen. Für die Habilitationsschrift „Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913“ erhielt er den Werner-Hahlweg-Preis (Zweiter Preis) und den Nachwuchs-Forschungspreis der Universität Münster. Carina Gabriel-Kinz ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Grenzen des Komischen? Satire und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland und Frankreich am Beispiel der Zeitschriften Pardon/​Titanic und Hara-Kiri/​Charlie Hebdo (1960/​1962–2017)“ an der Universität Kassel (Fachgruppe Geschichte, Lehrstuhl Geschichte Westeuropas 18.–20. Jahrhundert) tätig. Sie promoviert zu den unterschiedlichen Sagbarkeitsregeln in Deutschland und Frankreich ab den 1990er Jahren am Beispiel religionsbezogener Satire und fokussiert damit vergangene sowie aktuelle Wechselwirkungen zwischen den Bereichen Gesellschaft und Komik. Sie studierte Geschichte, Romanistik (Französisch) und Germanistik in Deutschland und Frankreich an der Universität Kassel und der Université de Lorraine. Antonia Gießmann-Konrads, Dr. phil., hat Neuere und Neueste Geschichte, Deutsche Philologie und Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster studiert. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen. Sie promovierte 2018 über das Thema „England im politischen Humor deutscher Witzblätter und ihrer Karikaturen (1853–1902)“. Forschungsschwerpunkte sind Visual History, Mentalitäts- und Mediengeschichte, Humortheorie/​Geschichte des Humors, Nationalismus im 19. Jahrhundert und die Geschichte der deutsch-britischen Beziehungen. Mirco Göpfert ist Professor am Institut für Ethnologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschung liegt primär im Bereich einer Sozial- und Kulturanthropologie des Politischen. Der inhaltliche Fokus betrifft zum einen das Phänomenfeld Sicherheit, Verbrechen und Staat, zum anderen die Verschränkung von Macht, Wissen und Ästhetik, insbesondere bei der Untersuchung des Komischen als epistemische Praxis der politischen Gegenwart. Er ist Autor des Buches „Policing the Frontier: An Ethnography of Two Worlds in Niger“ (Cornell University Press, 2020) und Mitherausgeber des Bandes „Police in Africa: The Street-Level View“ (Hurst, 2017). Claudia Gottwald, Dr. phil., ist Sonderpädagogin und als Studienrätin im Hochschuldienst an der TU Dortmund, Fachgebiet Entwicklung und Erforschung inklusiver Bildungsprozesse tätig. Sie lehrt und forscht dort zu kulturwissenschaftlichen, historischen und ethischen Fragen im Kontext von Behinderung. Ihre Doktorarbeit verfasste sie zum Thema „Lachen über das Andere“ (2009, transcript).

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Autorenportraits

Dietrich Grünewald, Dr. phil. habil., bis WS 12/​13 Univ.-Prof. an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, Institut für Kunstwissenschaft, seit der Emeritierung Konzentration auf die Bereiche Bildgeschichte und Karikatur. Zahlreiche Publikationen, u. a. (Hrsg.): Visuelle Satire. Berlin 2016; Friedrich Schiller. Avanturen des neuen Telemachs, Berlin 2018; Loriot und die Zeichenkunst der Ironie. Berlin 2019. Carolin Haupt, M.A. ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität Gießen (Institut für Germanistik, AB Literatur) tätig und untersucht im Rahmen ihrer Promotion am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur und Kulturtheorie Formen und Funktionen des Komischen sowie die literarische Ausgestaltung von Komik in Marc-Uwe Klings Känguru-Büchern. Seit April 2020 ist sie Mitglied des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) Gießen. Nils Jablonski, Dr. phil., Studium der Fächer Germanistik und Kunst sowie der angewandten Literatur- und Kulturwissenschaft in Dortmund und Zürich. Seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUniversität in Hagen. Davor wissenschaftlicher Mitarbeiter und Studienkoordinator an der TU Dortmund. Dort 2018 Promotion mit einer medienästhetischen Untersuchung des materialen Topos der Idylle in Literatur, Film und Fernsehen (erschienen 2019 bei Metzler). Mitglied des DFG-Netzwerks „Politiken der Idylle“, der Forschungsgruppe des Kasseler Komik-Kolloquiums sowie der AG Genre der Gesellschaft für Medienwissenschaft. Weitere Forschungsbereiche: populäre und visuelle Kultur, Interkulturalität und Gender, (experimentelle) Lyrik, Tourismus, Reiseliteratur und ambulantes Aufzeichnen. Weitere Informationen: https://​ www.fernuni-hagen.de/​literatur/​medienaesthetik/​team/​nils.jablonski.shtml Martin Knauer, Dr. phil. habil., apl. Professor an der Universität Münster, Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, der Kunstgeschichte und des Staatsrechts in Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Historische Bildforschung, Kunst- und Kulturgeschichte der frühneuzeitlichen Kriege, Symbolpolitik und Herrscherrepräsentation in der europäischen Sattelzeit. Jens Krumeich ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg. Nach dem Studium der Philosophie und Germanistik in Stuttgart und Luxemburg und dem Staatsexamen an der Universität Stuttgart in den Fächern Philosophie/​Ethik und Deutsch mit einer fachgeschichtlichen Arbeit über den Germanisten Fritz Martini arbeitet er zur Zeit an einem Promotionsprojekt zu Theorie und Praxis des Komischen von der NS-Zeit bis in die frühe Adenauer-Ära (ca. 1933 bis 1955). Er wird seit 2019 mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Fachund Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, Komiktheorie und literarische Satire, die deutsche Literaturgeschichte von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit sowie die Gegenwartsliteratur. Jakob Larisch, M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und promoviert dort zum Thema Filmzensur. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Motive und Hintergründe filmischer Gewaltdarstellung, das Verhältnis von Film und Recht in Deutschland sowie die politisch-ideologischen Dimensionen des Kinos. Regina Schleicher, Dr. phil. ist Romanistin und seit 2019 tätig in der Lehre an der Universität Duisburg-Essen. Sie promovierte 2007 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main über Antisemitismus in politischen Karikaturen im 19. Jahrhundert und befasst sich mit kultur- und literaturwissenschaftlichen Themen sowie mit Aspekten ihrer Vermittlung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Politik und Karikatur seit dem 19. Jahrhundert, Inter- und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht sowie Lesen und Schreiben mit digitalen Medien. Clemens Schwender, Prof. Dr., studierte Germanistik, Philosophie, Psychologie und Medienwissenschaft an der TU Berlin. Er promovierte über die Geschichte der Gebrauchsanleitung und habilitierte über Medien und Emotionen. Seit 2019 ist er Lehrbeauftragter an der Filmuniversität Babelsberg. Seine Forschungsinteressen beinhalten Individualkommunikation am Beispiel von Feldpost im Zweiten Weltkrieg, Massenkommunikation am Beispiel der Medialisierung von Nachhaltigkeit und ästhetische Präferenzen bei der Programmauswahl.

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Antonia Gießmann-Konrads, Dr. phil., studierte Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Deutsche Philologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen beschäftigt.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40417-9

Grenzen des Sag- und Zeigbaren

Frank Becker, Dr. phil., ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität DuisburgEssen. Aktuell forscht er zur Geschichte der politischen Kultur, zu historischem Zukunftshandeln und zum Umgang von Gesellschaften mit Ambiguität.

Becker / Gießmann-Konrads

Dieser interdisziplinär angelegte Band versammelt unterschiedliche Perspektiven auf das im Humor Sag- und Zeigbare. Gerade hieraus entstehen innovative Perspektiven für die Erforschung visuellen Humors: Wie verändern sich die Grenzen des Sagund Zeigbaren im Zeitverlauf? Nationale, kulturelle und epochenspezifische Besonderheiten werden dabei genauso thematisiert wie die Herstellungspraktiken von Satire – im Horizont der Frage, wann „Humor im Bild“ in Konflikte mit seiner politischsozialen Umwelt geriet.

Frank Becker Antonia Gießmann-Konrads (Hrsg.)

Grenzen des Sag- und Zeigbaren Humor im Bild von 1900 bis heute