Intermedialität - Multimedialität: Literatur und Musik in Deutschland von 1900 bis heute 9783737004985, 9783847104988, 9783847004981

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Intermedialität - Multimedialität: Literatur und Musik in Deutschland von 1900 bis heute
 9783737004985, 9783847104988, 9783847004981

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Raul Calzoni / Peter Kofler / Valentina Savietto (Hg.)

Intermedialität – Multimedialität Literatur und Musik in Deutschland von 1900 bis heute

Mit 14 Abbildungen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0498-8 ISBN 978-3-8470-0498-1 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0498-5 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit finanzieller Unterstu¨ tzung des »Dipartimento di Lingue, Letterature e Culture Straniere« der Universität Bergamo (Italien). Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Lorenzo Perrone, »Come musica«, 2013 Die Herausgeber danken dem Künstler für die Genehmigung zur Abbildung. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Federica La Manna Das Gänsemännchen von Jakob Wassermann . . . . . . . . . . . . . . . .

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Albert Gier Franz Schreker (und andere ›ernste‹ Komponisten) und die Operette

. .

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Valentina Savietto Intermediales Potenzial und musikalisches Pathos. Zu Klaus Manns Musiker-Roman Symphonie Path¦tique . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Frank Weiher Die literarische ›Wiedergabe‹ fiktiver Musik. Über Adrian Leverkühns Kompositionen im Doktor Faustus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglind Bruhn Ming I – Verwundung des Hellen. Die Dichtung von Nelly Sachs in Kompositionen von Walter Steffens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Guglielmo Gabbiadini Intermediale Missverständnisse. Franz Fühmann, die Tradition der Operette und das schiefe E.T.A. Hoffmann-Bild in der Spät-DDR . . . . . 119 Micaela Latini Die Gewalt der Musik. Zu Thomas Bernhards Der Untergeher . . . . . . . 137 Peter Kofler Semiotische und mediale Verflechtungen in den Theaterstücken von Elfriede Jelinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

6 Raul Calzoni ›Moments musicaux‹. W.G. Sebald und die Musik

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . 167

Gustav-Adolf Pogatschnigg Musik und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Walter Busch zum Andenken

Einleitung

Was trennt Literatur und Musik? Was ist das Einende der beiden Künste? Worin besteht das Spezifische ihres Verhältnisses im Zeitraum zwischen 1900 und heute? Solchen und ähnlichen Fragen gehen die in diesem Band versammelten Beiträge nach. Angeregt wurden sie von einem Projekt unseres 2013 verstorbenen Freundes und Kollegen Walter Busch, mit dem er beabsichtigte, die vielschichtigen medialen und semiotischen Beziehungen zwischen Literatur und Musik in Deutschland von der klassischen Moderne bis heute zu analysieren. In seiner Gesamtheit betrachtet ist in diesem Zeitraum aus praktisch-produktiver Sicht eine bemerkenswerte Zunahme und Vielfalt dieser Relationen zu beobachten, welche auf reflexiver Ebene einhergeht mit einer ebenso ins Auge fallenden Veränderung in den theoretischen Positionen, bei denen ein Übergang von der tendenziellen Betonung der Unterschiede zu einem systematischen Herausstreichen der Gemeinsamkeiten von Literatur und Musik festzustellen ist.1 In der ›Einleitung‹ zu Literatur und Musik in der klassischen Moderne konstatiert demnach Joachim Grage zurecht, »[d]ass die literarische Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich immer wieder auf die Musik bezieht, diese thematisiert oder sich in anderer Form zu ihr in Beziehung setzt«.2 Andreas Sichelstiel spricht in seiner Monographie über Musikalische Kompositionstechniken in der Literatur von »einer vor allem in der Moderne zunehmenden poetologischen Orientierung [der Literatur] an der Musik«.3 Parallel zu

1 Vgl. hierzu die grundlegenden Beiträge von Alber Gier : ›»Parler, c’est manquer de clairvoyance«. Musik und Literatur: vorläufige Bemerkungen zu einem unendlichen Thema‹, in Musik und Literatur, hrsg. von Albert Gier und Gerold W. Gruber (Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 1995), S. 9–17 und ›Musik in der Literatur. Einflüsse und Analogien‹, in Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, hrsg. von Peter Zima (Darmstadt: WBG, 1995), S. 61–92. 2 Joachim Grage, ›Einleitung‹, in Literatur und Musik in der klassischen Moderne: Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien, hrsg. von Joachim Grage (Würzburg: Ergon Verlag, 2006), S. 12. 3 Andreas Sichelstiel, Musikalische Kompositionstechniken in der Literatur : Möglichkeiten der

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dieser Mimesis von Musik entwickelt sich, wie Steven Paul Scher in der ›Einleitung‹ zu Literatur und Musik feststellt, »ein radikal zunehmendes Interesse für das Grenzgebiet zwischen den Künsten als fruchtbarer komparatistischer Forschungsgegenstand«.4 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterliegen die musikalischen Entwicklungen bekanntlich dem Einfluss des Wagnerismus, um anschließend in die Ergebnisse der Avantgarde zu münden (Atonalität, Zwölftonmusik, Polytonalität).5 Diese tonkünstlerischen Neuerungen werden in der Folge von zahlreichen und maßgeblichen Schriftstellern des deutschen Sprachraums aufgenommen und umgesetzt, indem sie vielfältige Versuche unternehmen, in ihren Werken nicht nur historische oder fiktive Figuren von Musikern zu schildern, sondern auch spezifisch musikalische Ausdrucksmodi zu übernehmen. In diesem Zusammenhang versucht Federica La Manna in ihrem Beitrag zum Gänsemännchen (1914–1915) Jakob Wassermanns diesen Bildungsroman durch die Auslotung seiner ›musikalischen‹ Qualitäten einer neuen Bewertung zuzuführen. Die stark präsente Ekphrasis, die Erwähnung zahlreicher deutscher Komponisten und die Technik der Synästhesie bilden die Elemente, die es dem allwissenden Erzähler erlauben, den Protagonisten Daniel Nothafft als romantischen Komponisten zu schildern, welcher der Tonkunst bedarf, um seiner existentiellen Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig wird Wassermanns Werk mit dem Mythos der Stadt Nürnberg, mit der Nietzsche-WagnerKontroverse sowie mit dem brennenden Problem des Antisemitismus konfrontiert. Nicht zuletzt eröffnet Nothaffts sinfonisches Schaffen die Perspektive einer neuen menschennahen Musik. Eine menschennahe Musik bietet auch Klaus Manns Symphonie Path¦tique, wie Valentina Savietto in ihrem Beitrag zum ›intermedialen Potenzial und musikalischen Pathos‹ dieses Musiker-Romans beweist. Die Autorin bietet eine neue Lektüre von Manns einzigem Musiker-Roman und vergleicht die intermedialen Bezüge der Originalfassung aus dem Jahre 1935 mit denen der amerikanischen Ausgabe von 1948. Die Absicht ist Klaus Manns Verhältnis zum russischen Komponisten Peter Tschaikowsky anhand musikliterarischer Kategorien zu interpretieren, um auf diese Weise über die herkömmliche HomoLektüre hinauszugelangen. Durch den Vergleich der beiden Ausgaben von Intermedialität und ihrer Funktion bei österreichischen Gegenwartsautoren (Essen: Die Blaue Eule, 2004), S. 25. 4 Steven Paul Scher, ›Einleitung: Literatur und Musik – Entwicklung und Stand der Forschung‹, in Literatur und Musik: Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, hrsg. von Steven Paul Scher (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1984), S. 16. 5 Vgl. hierzu Hans Meyer, Ein Denkmal zu Johannes Brahms (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983), insbesondere die Beiträge zu Richard Wagner (S. 90–106), Gustav Mahler (S. 146–161) und Arnold Schönberg (S. 162–190).

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Manns Symphonie Path¦tique bestätigt sich einmal mehr der Eindruck, dass in der Zeit nach 1945 eine Intensivierung der Wort-Ton-Beziehungen zu verzeichnen ist, die von den Experimenten der Wiener Gruppe bis hin zu Autoren wie Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek führt. So untersucht Micaela Latini in ihrem Beitrag, dessen Titel nicht zufällig an Heinrich von Kleists Legende Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (1808) erinnert, Bernhards Der Untergeher (1983), um diesen Roman sowie die Theaterstücke Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972) und Die Macht der Gewohnheit (1974) in ihrem Verhältnisse zur Musik zu lesen. Tatsächlich bildet dieser Roman zusammen mit Holzfällen (1984) und Alte Meister (1985) eine Art Trilogie über die Künste, in der Bernhard von der zerstörerischen Wirkung erzählt, die in der Gewalt der Musik liegt. Dementsprechend kommt der Figur des Musikers Glenn Gould eine besondere Rolle im Plot des Romans zu, weil er zusammen mit den Nebenfiguren Wertheimer, dem Untergeher, und dem Erzähler-Ich den Verzicht auf das weltliche Leben für die Kunst darstellt. Dem Theater und der Wirkung von Musik und Sprache auf den Körper der Menschen ist auch Peter Koflers Aufsatz zu Elfriede Jelinek gewidmet. Dazu stützt sich der Autor auf zwei Theater-Essays der österreichischen Autorin und Nobelpreis-trägerin, Sinn egal. Körper zwecklos. (1997) und Zu Franz Schubert (1998), um auf dieser Grundlage drei Stücke aus den achtziger Jahren, Clara S. (1981), Burgtheater (1982) und Wolken. Heim. (1988), einer intersemiotischen Lektüre zu unterziehen. Dabei wird gezeigt, wie sich die Musikähnlichkeit dieser radikal alternativtheatralen Texte gerade aus ihrem anti-mimetischen, zeit- und raumverzerrenden Charakter ergibt. Im ›Vorwort‹ zu dem von ihm herausgegebenen Band Intermedialität spricht Jörg Helbig von einer »Tendenz zunehmender Verflechtung unterschiedlicher Medien und Kunstgattungen« sowie davon, dass »immer häufiger neue Hybridformen […] das innovative Potential des Konzepts der Intermedialität in den Vordergrund treten lassen«.6 Greift man zeitlich etwas weiter aus, wird eine Pendelbewegung zwischen Ferne und Nähe sichtbar. So wurde das Verhältnis »von Musik und Sprache seit der Romantik als Sehnsucht begriffen und die Musik als eine Sprache jenseits der Sprache konzeptualisiert, der sich die Literatur annähern, die sie aber nie erreichen kann«,7 während diese Beziehung in der klassischen Moderne wieder auseinander bricht, »auch weil die Auffassung vom Musikalischen sich zu ändern beginnt und viele Musiker das Sprachpara-

6 Jörg Helbig, ›Vorwort des Herausgebers‹, in Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, hrsg. von Jörg Helbig (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1998), S. 8. Zum Begriff der Intermedialität vgl. auch Jörg Robert, Einführung in die Intermedialität (Darmstadt: WBG, 2014). 7 Grage, ›Einleitung‹, S. 13.

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digma als hermeneutischen Schlüssel zum Verstehen von Musik skeptisch beurteilen«.8 Albert Gier beschäftigt sich in seinem Beitrag ›Franz Schreker (und andere ›ernste‹ Komponisten) und die Operette‹ mit dem vielschichtigen Verhältnis mehrerer europäischer Komponisten zur Unterhaltungsform der Operette. Als besonders interessant erweist sich in diesem Rahmen die Zusammenarbeit zwischen Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauß sowie die Erfahrung Franz Schrekers, dessen weibliche Opernfiguren manche Züge zeigen, die eher für die Gattung der Operette typisch sind. Dazu gehören auch die luxuriösen Schauplätze und die sexuelle Anziehungskraft der Frau als femme fatale. Außerdem werden diese Elemente mit Franz Leh‚rs Operettenwerk eng in Zusammenhang gebracht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint sich diese Skepsis jedoch zugunsten einer neuen Verschmelzung wieder deutlich zu verflüchtigen. Auf dieser Linie bietet Guglielmo Gabbiadini einen anregenden Blick auf die E.T.A. Hoffmann-Rezeption in der DDR durch die Erforschung von Franz Fühmanns Engagement gegen ein trivialisiertes Bild des spätromantischen Dichters. Während sich die Mehrheit der DDR-Literaten einer bornierten Vorstellung der hoffmannschen Poetik im Namen des sozialistischen Realismus verschrieb, widmete sich Fühmann in verschiedenen Beiträgen der Rehabilitierung des ›Operetten-Hoffmann‹. Besonders im Rundfunkvortrag versucht er Hoffmanns Nähe zur Musik zu untersuchen und damit zu beweisen, inwiefern seine Figuren thematisch und strukturell aus musikalischen Verflechtungen entstehen. Der intermediale Ansatzes lässt die Komplexität von Hoffmanns Leben und Werk besonders deutlich hervortreten. Diese entscheidende Wende lässt sich in der Nachkriegszeit modellhaft an den nahezu diametral entgegengesetzten Positionen von Theodor W. Adorno und Ingeborg Bachmann darstellen. Bemerkenswert dabei ist, dass Adornos ›Fragment über Musik und Sprache‹ (1956) und Bachmanns Essay über ›Musik und Dichtung‹ (1959) nur drei Jahre auseinander liegen. Adorno vertritt den Standpunkt, »das Verhältnis von Sprache und Musik« sei heute »kritisch geworden«,9 Musik sei zwar »sprachähnlich«, aber letztlich doch »nicht Sprache«.10 Sprachähnlich sei sie »als zeitliche Folge artikulierter Laute«,11 die zwar Bedeutung generieren, eine solche jedoch, die »von der Musik nicht sich ablösen« lasse.12 Musik bildet also Adorno zufolge insofern »kein System aus Zeichen«,13 8 Ebd. 9 Theodor W. Adorno, ›Fragment über Musik und Sprache‹, in Musikalische Schriften I–III (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978), S. 252. 10 Ebd., S. 251. 11 Ebd. 12 Ebd.

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als das von ihr Gesagte nicht in eindeutige Signifikate übersetzt und folglich mitgeteilt zu werden vermag. Zwar gilt, »noch Ausdruckslosigkeit« werde »in Musik zum Ausdruck«,14 die Sprachähnlichkeit von Musik jedoch erfülle sich paradoxer Weise nur, »indem sie von der Sprache sich entfernt«.15 In Anlehnung an Walter Benjamins Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916) formuliert Adorno: Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik eine von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt zugleich und verborgen. Ihre Idee ist die Gestalt des göttlichen Namens. Sie ist entmythologisiertes Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens; der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutungen mitzuteilen.16

Das Meinen der Musik ist für Adorno kein absolutes, sondern ein verschleiertes, es eignet ihm bloß ein Anzeichenhaftes, die Grenzen zwischen Signifikant und Signifikat sind in ihm nur unklar gezogen. Musik verweise vielmehr auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging an die meinenden Sprachen. Und als sollte sie, die beredteste aller Sprachen, über den Fluch des Mehrdeutigen, ihr mythisches Teil, getröstet werden, strömen Intentionen in sie ein. Stets wieder zeigt sie an, was sie meint, und bestimmt es. Nur ist die Intention immer zugleich verhüllt.17

Ausgehend von Adornos Theorien über die Sprachähnlichkeit der Musik lenkt Gustav Adolf Pogatschnigg seine Aufmerksamkeit auf die Frage der ›Übersetzbarkeit‹ von Musik und stützt sich auf das generative Sprachmodell Noam Chomskys, mit dem er über das Übersetzen als Akt der Interpretation reflektiert. Da die Musik ein menschliches Produkt ist, kann sie auch verstehend interpretiert werden. Trotzdem besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den Paaren ›Partitur-Aufführung‹ und ›Original-Übersetzung‹. Während die erste Relation auf einer Äquivalenz basiert, kann eine Textübersetzung das Original niemals ganz erreichen. Außerdem unterstreicht Pogatschnigg die Rolle des Textsinns und der non-verbalen Medien der Musik und der bildenden Kunst. Im Gegensatz zu Adornos theologisch und semiologisch fundierter Trennung von Musik und Sprache geht das Anliegen von Ingeborg Bachmann auf eine Verschwisterung der beiden Künste gerade im zeitlichen Kontext einer noch zu leistenden Verarbeitung kriegerischer und ethischer Katastrophen:

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Ebd. Ebd., S. 255. Ebd., S. 256. Ebd., S. 252. Ebd., S. 252f.

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Aber müssen die Künste wirklich auseinandergehen in einem Augenblick, in dem jedes Verfehlen eine versäumte Rettung ist, jedes Verkennen von Geist in einem ähnlichen Geist die Todtraurigkeit befördert? Unser Bedürfnis nach Gesang ist da. Muß der Gesang zu Ende gehen?18

Der »Verdacht, daß eine Spur von der einen zur anderen Kunst führt«,19 wird nicht zufällig erhärtet durch den Rückgriff auf die Romantik, genauer auf »ein Wort von Hölderlin, das heißt, daß der Geist sich nur rhythmisch ausdrücken könne«.20 Musik und Dichtung erkennen einander also in der gestaltenden Bewegung, in einer »Gangart des Geistes«.21 Längst gehe es nicht mehr um den Primat der einen über die andere, um schmückendes, unwesentliches Beiwerk. »Die Worte«, so die österreichische Lyrikerin, suchen ja längst nicht mehr die Begleitung, die die Musik ihnen nicht geben kann. Nicht die dekorative Umgebung aus Klang. Sondern Vereinigung. Den neuen Zustand, in dem sie ihre Eigenständigkeit opfern und eine neue Überzeugungskraft gewinnen durch die Musik. Und die Musik sucht nicht mehr den belanglosen Text als Anlaß, sondern eine Sprache in harter Währung, einen Wert, an dem sie den ihren erproben wird.22

Ganz anders als Adorno, der sich die Musik im Gegenüber einer ideologisch korrumpierten ›meinenden‹ Sprache nur als »befreit von der Magie des Einwirkens« vorstellen mag, liegt Bachmann gerade an der memorialen, appellativen, utopischen Energie, die einer Verschmelzung von Musik und Sprachkunst entströmt: Miteinander, und voneinander begeistert, sind Musik und Wort ein Ärgernis, ein Aufruhr, eine Liebe, ein Eingeständnis. Sie halten die Toten wach und stören die Lebenden auf, sie gehen dem Verlangen nach Freiheit voraus und dem Ungehörigen noch nach bis in den Schlaf. Sie haben die stärkste Absicht, zu wirken.23

Vorausweisend auf Roland Barthes erkennt Bachmann schließlich in der Gesang und Sprache einenden menschlichen Stimme »den Platzhalter für den Zeitpunkt, an dem Dichtung und Musik den Augenblick der Wahrheit miteinander haben«.24 Wie viel die moderne komparatistische Zeichentheorie – vermutlich ohne es zu ahnen – solchem Denken schuldet, zeigt etwa Ursula Brandstätters Über-

18 Ingeborg Bachmann, ›Musik und Dichtung‹, in Werke, hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, Bd. 4 (München, Zürich: R. Piper & Co. Verlag, 1978), S. 60. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 60f. 23 Ebd., S. 61. 24 Ebd., S. 62.

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zeugung, dass »sich zwischen Musik und Sprache phänomenologische, strukturelle und kommunikationstheoretische Analogien feststellen« lassen.25 Calwin S. Brown unterscheidet in seiner Typologie der möglichen Verbindungen zwischen Literatur und Musik insgesamt sogar sieben Bereiche: Kombination, Ersatz, Analyse, Nachahmung, Interpretation, Einfluss und Parallele/ Analogie.26 Solche und ähnliche Differenzierungen sind in jüngster Zeit innerhalb der Intermedialitätsforschung entwickelt worden und stellen den wissenschaftlichen Untersuchungen zum Wort-Ton-Verhältnis das adäquate Instrumentarium bereit.27 Hier gilt es vor allem an eine Entwicklung anzuknüpfen, die jüngst von einer bloßen Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Musik zur »Frage nach der symbiotischen Sinnbildung von Text und Musik«28 sowie deren Bedingungen29 geführt hat, wie Michael Walter im Vorwort zu Text und Musik unterstreicht. Tritt eine Kunst, ein Medium oder ein Zeichensystem in Beziehung zu einem anderen, kann dies auf direkte oder indirekte Weise geschehen. Direkt durch Kombination, indirekt durch Evokation. Im ersten Fall spricht man Werner Wolf zufolge von offener Intermedialität30 oder Multimedialität, in letzterem von in-

25 Ursula Brandstätter, Musik im Spiegel der Sprache: Theorie und Analyse des Sprechens über Musik (Stuttgart: Metzler, 1990), S. 9. Besonders häufig sind Untersuchungen zu Form- und Strukturparallelen. Dazu schreibt Jörg Helbig: »›Musikalische Form- und Strukturparallelen‹ in der Literatur ergeben sich aus der Verwendung musikalischer Formelemente und Kompositionstechniken oder durch Nachbildung von musikalischen Strukturen. Derartige Analogiebildungen können sowohl in kleineren Texteinheiten zum Tragen kommen (z. B. Kontrapunkt, Leitmotiv, Wiederholung, Variation, Echo, Polyphonie) als auch auf makrostruktureller Ebene durch Anlehnung an musikalische Großformen (z. B. Fuge, Sonate, Sinfonie, Rondo, Kanon, Thema mit Variationen)«, Jörg Helbig, ›Intermediales Erzählen: Baustein für eine Typologie intermedialer Erscheinungsformen in der Erzählliteratur am Beispiel der Sonatenform von Anthony Burgess A Clockwork Orange‹, in Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert, hrsg. von Jörg Helbig (Heidelberg: Winter, 2001), S. 133. Vgl. dazu etwa Lech Kolago, Musikalische Formen und Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts (Anif-Salzburg: Verlag Müller-Speiser, 1997); Horst Petri, ›Form- und Strukturparallelen in Literatur und Musik‹, in Literatur und Musik: Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, hrsg. von Steven Paul Scher (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1984) sowie das 3. Kapitel in Sichelstiel, Musikalische Kompositionstechniken in der Literatur. 26 Vgl. Calvin S. Brown, ›Theoretische Grundlagen zum Studium der Wechselverhältnisse zwischen Literatur und Musik‹, in Literatur und Musik: Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, S. 34–38. 27 Vgl. dazu die Gesamtdarstellung von Irina O. Rajewsky, Intermedialität (Tübingen, Basel: Francke, 2002). 28 Michael Walter, ›Vorwort‹, in Text und Musik: Neue Perspektiven der Theorie, hrsg. von Michael Walter (München: Fink, 1992), S. 7. 29 Vgl. ebd., S. 8. 30 Vgl. Werner Wolf, ›Musicalized Fiction and Intermediality. Theoretical Aspects of Word and Music Studies‹, in Word and Music Studies. Defining the Field: Proceedings of the First

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direkter oder verdeckter Intermedialität.31 Im ersten fügen sich zwei oder mehr Medien und Zeichensysteme zu einem Kunstwerk, man denke etwa an das Theater oder an die Oper, im zweiten bezieht sich ein präsentes Medium bzw. Zeichensystem auf ein abwesendes, man denke hier z. B. an die literarische oder »musikalische Ekphrasis«.32 Zu den Formen, welche diese Bezugnahmen annehmen können, zählt Joachim Paech Brüche, Lücken, Intervalle oder Zwischenräume ebenso wie Grenzen und Schwellen, in denen ihr mediales Differenzial figuriert. Das Verfahren, dieses ›mediale Differenzial‹ wiederum als (Trans-)Form durch die Wiedereinführung der Form beobachtbar zu machen und zu formulieren (oder zu symbolisieren), ist fester Bestandteil der kunstund mediengeschichtlichen Diskurse.33

Eine ausführliche Analyse der Ekphrasis-Technik steht im Mittelpunkt von Siglind Bruhns Untersuchung des Klavierquartetts Ming I–Verwundung des Hellen (1975) von Walter Steffens. Der zeitgenössische Komponist hat im Werk von Nelly Sachs das adäquate Material gefunden, um das jüdische Leiden unter dem Holocaust darzustellen. Die Auseinandersetzung mit der Dichterin überträgt er unter Berücksichtigung von Lautstärke und kontemplativer Melodik in das eigene kammermusikalische Werk. Als Quelle des Quartetts tritt neben Sachs’ Israel (1949) das Gedicht Blau (1979) von Elfriede Szpetecki, einer Lyrikerin, die sich ständig mit der ostasiatischen Kultur befasst hat. Damit erklärt sich auch Steffens Anlehnung an das chinesische Orakel-Buch Yijing, durch dessen Befragung er sich ein tieferes Verständnis von Sachs’ Leben und Werk erhoffte. Die spirituelle Verbindung zu ihr wird schließlich anhand der Elegie Guernica (1978) erläutert, da sie wie das Klavierquartett die menschliche Qual veranschaulicht. Das komparatistische Untersuchungsfeld der vielschichtigen Beziehungen zwischen Literatur und Musik teilt Scher in »drei voneinander klar abgrenzbare Hauptbereiche« ein, und zwar : »Musik und Literatur, Literatur in der Musik und Musik in der Literatur«.34 Im ersten Bereich fügen sich beide Künste zu einem

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International Conference on Word and Music Studies at Graz, 1997, hrsg. von Walter Bernhart, Steven Paul Scher und Werner Wolf (Amsterdam – Atlanta, GA: Rodopi, 1999), S. 42. Vgl. ebd., S. 44. Zur »musikalischen Ekphrasis«, vgl. ausführlich die folgenden grundlegenden Werke von Siglind Bruhn: Musical Ekphrasis: Composers Responding to Poetry and Painting (Pendragon Press: Hillsdale, 2000) und Sonic Transformations of Literary Texts: From Program Music to Musical Ekphrasis (Pendragon Press: Hillsdale, 2008). Vgl. dazu auch Ecfrasi musicali. Parola e suono nel Romanticismo europeo, hrsg. von Raul Calzoni und Marco Sirtori (Bergamo: Sestante, 2013). Joachim Paech, ›Intermedialität: Mediales Differenzial und transformative Figurationen‹, in Intermedialität: Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, hrsg. von Jörg Helbig (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1998), S. 25f. Scher, ›Einleitung‹, S. 10f.

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einzigen Artefakt, zum zweiten »gehören die bekannten Bemühungen um eine ›Literarisierung‹ der Musik, welche gewöhnlich als ›Programmusik‹ bezeichnet werden«,35 während der dritte als einziger »ausschließlich das literarische Medium zum Forschungsgegenstand hat«.36 In seinem Beitrag zu W.G. Sebald richtet Raul Calzoni den Fokus auf Schers Bereich »Musik und Literatur«, um die Prosa dieses Autors unter Berücksichtigung des Begriffs der »wechselseitigen Erhellung von Literatur und Musik« zu analysieren.37 Darüber hinaus bezieht sich Calzoni auf die Theorien der verschiedenen »thematisations« sowie des »showing« und des »telling« von Musik in der Literatur, um zu belegen,38 wie Rhythmus, Variation und bestimmte musikalische Formen, vor allem die Fuge, die Prosa des Autors strukturell beeinflussen und wie sie zur Thematisierung der »totalen Zerstörung« und der »Unvermeidbarkeit des Endes« dienen. Bei aller Ähnlichkeit sind jedoch andererseits die Schwierigkeiten, mit denen sich komparatistische Studien konfrontiert sehen, nicht unbeträchtlich, ist doch Musik im Gegensatz zur Sprache zumindest auf den ersten Blick semiologisch defizitär, denn es fehlt ihrer Darstellung ein Dargestelltes, ihrer Form der Gehalt, ihrer Syntax die Semantik,39 ihren Signifikanten das Signifikat. Musik ist zwar wie Dichtung eine temporale, dynamische, auditive und unter performativem Aspekt eine ephemere,40 zugleich aber auch, anders als diese, eine a-mimetische, referenzlose Kunst.41 Auf diese Probleme hat Ursula Brandstätter in ihrem Band über die Musik im Spiegel der Sprache nachdrücklich hingewiesen. Sie bestehen 35 Ebd., S. 11. Es handelt sich dabei, wie Scher weiter ausführt, um »Musikwerke, die entweder eine direkte Inspiration (meistens durch bloße Titelassoziationen) durch ein bestimmtes literarisches Werk aufweisen (wie z. B. Liszts Faust-Symphonie) oder in denen der Versuch unternommen wird, ein bestimmtes literarisches Modell mit musikalischen Mitteln nachzuzeichnen (wie z. B. Dukas’ L’Apprenti sorcier nach Goethes Ballade ›Der Zauberlehrling‹)«, ebd. 36 Ebd., S. 12. Eine schematische Darstellung der drei Bereiche findet sich auf S. 14 der ›Einleitung‹. Siehe dazu auch das Schema in Wolf, ›Musicalized Fiction and Intermediality‹, S. 52. 37 Vgl. Ulrich Weisstein, ›Die wechselseitige Erhellung von Literatur und Musik: Ein Arbeitsgebiet der Komparatistik‹, Neohelicon, 5 (1978), S. 93–123. 38 Vgl. Werner Wolf, The Musicalization of Fiction: A Study in the Theory and History of Intermediality (Amsterdam: Rodopi, 1999), S. 73f. 39 Dafür eignet der Musik im Gegensatz zur Sprache die Möglichkeit einer simultanen, vertikalen Ordnung der Zeichen. Sichelstiel schreibt dazu: »[…] In der Kombination der jeweils kleinsten selbständigen Einheit (Ton und Phonem) kennt die Sprache keine Möglichkeit einer sinnvollen gleichzeitigen Anordnung. Die Kombinationen erfolgen nacheinander zu Silbe, Wort und Satz, usw. Im Gegensatz hierzu ist in der Musik sowohl eine horizontale Anordnung (Melodik) als auch eine vertikale Anordnung (Harmonik und Kontrapunkt) der Töne möglich«, Sichelstiel, Musikalische Kompositions-techniken in der Literatur, S. 51. 40 Vgl. Kolago, Musikalische Formen und Strukturen, S. 27. 41 Vgl. Andreas Käuser, ›Medialität und Musikalität: Plessner und Adorno‹, in Literatur und Musik in der klassischen Moderne: Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien, hrsg. von Joachim Grage (Würzburg: Ergon Verlag, 2006), S. 29.

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der Autorin zufolge darin, dass Musik sich zum einen in ihrer Begriffslosigkeit »dem sprachanalytischen, also dem an sprachlichen Kategorien und Begriffen orientierten Zugriff« verweigert,42 zum anderen in »der mangelnden Intersubjektivität der Bedeutung von Musik« und schließlich in ihrer defizitären Zeichenhaftigkeit.43 Zudem gebe es »in der Musik keine den Wörtern vergleichbare Einheiten«,44 wie Frank Weiher in seinem Beitrag ›Die literarische ›Wiedergabe‹ fiktiver Musik. Über Adrian Leverkühns Kompositionen im Doktor Faustus’ zeigt. Der Autor geht der Frage nach, inwieweit die Schilderung von Musik, die lediglich im (Kon-)Text eines literarischen Werks existiert, nach Kriterien der Intermedialität betrachtet werden kann. Einen besonderen Schwerpunkt legt er dabei auf das Verhältnis von Musik und Sprache in Leverkühns letzter Komposition, die nicht zuletzt auch eine Summa der musikliterarischen Interessen Thomas Manns darstellt. Während also die Zeichen der Musik auf nichts anderes als auf sich selbst verweisen, besitzt das verbale Zeichensystem die Fähigkeit, sich auf andere Codes zu beziehen, auf Medien und Künste außerhalb seiner selbst zu zeigen. Die Sprache, schreibt Sichelstiel, »hat etwas, was Musik nicht hat – eine Referenzfunktion auf Vorstellungen, die außerhalb des eigenen Lautsystems liegen«.45 Wie jedoch spricht die Sprache über die Musik? Ist ihr Sprechen ein rein metaphorisches? Oder, anders formuliert: »Sind wir«, wie Roland Barthes in ›Die Rauheit der Stimme‹, schreibt, »zum Adjektiv verurteilt?«46 Mit dieser Frage berührt der französische Semiologe das musikkritische Dilemma ›Prädikation oder Unsagbarkeit‹ und versucht es dadurch zu lösen, dass er »den Berührungsstreifen zwischen Musik und Sprache« auf den Signifikanten der Rauheit der Stimme verlagert, und zwar auf jene, die »auf zweierlei ausgerichtet ist, zweierlei hervorbringt: Sprache und Musik«.47 Die menschliche Stimme, präzisiert Barthes, »ist nicht der Atem, sondern durchaus jene Materialität des Körpers, die der Kehle entsteigt, dem Ort, an dem das Lautmetall gehärtet und gestanzt wird«.48 Ihr antwortet eine spezifische Hermeneutik, die eine des Zuhörens ist:49

Brandstätter, Musik im Spiegel der Sprache, S. 34. Ebd., S. 35. Ebd. Sichelstiel, Musikalische Kompositionstechniken in der Literatur, S. 30. Roland Barthes, ›Die Rauheit der Stimme‹, in Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn: Kritische Essays III (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990), S. 270. 47 Ebd., S. 271. 48 Roland Barthes, ›Zuhören‹, in Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 259. 49 Vgl. ebd., S. 253.

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Das Hören einer Stimme eröffnet die Beziehung zum anderen: Die Stimme, an der man die anderen wiedererkennt (wie die Schrift auf einem Briefumschlag), zeigt uns deren Wesensart, deren Freud oder Leid, deren Befindlichkeit an.50

Ihre Faszination geht über, zuweilen gar gegen das Mitgeteilte: »Mitunter«, so Barthes, »beeindruckt uns die Stimme eines Gesprächspartners mehr als der Inhalt seines Diskurses, und wir ertappen uns dabei, daß wir auf die Modulationen und Obertöne dieser Stimme lauschen, ohne zu hören, was sie uns sagt«.51 Und exakt an diesem semantischen Nullpunkt hat der epistemologisch-heuristische Vorsprung der Musik vor der Sprache seinen Grund, denn, so heißt es in Rasch, »[d]ie Betonung ist die Wahrheit der Musik«,52 während der Schriftsteller demgegenüber als jemand erscheint, der »zum Sinn verurteilt« sei.53 Das Besondere am Bedeuten von Musik liegt nicht in der Denotation,54 sondern vielmehr im Bereich der Konnotation. »Was man gemeinhin unter der Aussage von Musik versteht, ist« laut Sichelstiel »zunächst das, was man in der Linguistik als Konnotation bezeichnet – also vor allem Vorstellungen und Gefühle, die sich beim Hören bestimmter Musikpassagen einstellen«.55 Diese allerdings sind für Brandstätter beinahe unbegrenzt: alle Sinne können in der Vorstellung aktiviert werden. Bei vielen Menschen wird beim Hören von Musik am stärksten das visuelle Vorstellungsvermögen angeregt: In der Imagination tauchen Farben, Bilder und Landschaften auf.56

Es ist daher alles andere als Zufall, wenn Barthes die Konnotation u. a. akustisch bestimmt, indem er in ihr funktional »ein gewolltes, sorgfältig ausgearbeitetes ›Geräusch’« erkennt, »das in den fiktiven Dialog von Autor und Leser eindringt«.57 Aber auch hier führt eine Spur von der einen Kunst zur anderen, von der Musik zur Literatur, denn längst sind wir vertraut mit der Pluralität der Stimmen in ihr und dem unaufhaltsamen Gleiten zwischen Signifikant und Signifikat. Raul Calzoni Peter Kofler Valentina Savietto 50 51 52 53 54

Ebd., S. 258. Ebd. Roland Barthes, ›Rasch‹, in Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 302. Ebd., S. 308. »Zeichentheoretisch«, schreibt Hans Emons, »ist Musik eine Kunst ohne Denotat«, in Sprache als Musik (Berlin: Frank & Timme, 2011), S. 12. Allenfalls spielt sie »eine periphere Rolle«, Brandstätter, Musik im Spiegel der Sprache, S. 36. 55 Sichelstiel, Musikalische Kompositionstechniken in der Literatur, S. 32. 56 Brandstätter, Musik im Spiegel der Sprache, S. 39. 57 Roland Barthes, S/Z (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976), S. 13.

Federica La Manna

Das Gänsemännchen von Jakob Wassermann

Der Roman von Wassermann ist ein Bildungsroman, in dessem Zentrum das Leben eines genialen Musikers steht und der in Franken, zwischen den Ortschaften Eschenbach und Nürnberg, spielt. Der Protagonist, Daniel Nothafft, wird von seiner Kindheit bis ins Erwachsenenalter betrachtet, in seinen existenziellen Wanderungen, in seiner Suche nach einer beruflichen, privaten und sentimentalen Sicherheit. Die Geschichte spielt in einem präzisen Zeitraum der deutschen Geschichte, zwischen 1849, dem Jahr der Hochzeit von Daniels Eltern, und dem Jahr 1909, in dem der Roman endet. Sowohl die genauen geographischen Verweise rund um die Stadt Nürnberg, grundlegender Ort in der Gründung der romantischen Mythologie, die Stadt Dürers und des deutschen Kulturguts,1 als auch die chronologische Skandierung der Geschehnisse, die deutsche Gründerzeit und das Aufkommen wirtschaftlicher und industrieller Formen, die die deutsche Provinz revolutionieren, wie das Entstehen der Sozialdemokratie, bilden einen wesentlichen Teil des Romans, der darauf abzielt, ein weites Bild der Gesellschaft zu Ende des Jahrhunderts und besonders zur Jahrhundertwende zu geben, einem Zeitpunkt der rapiden Veränderungen der sozialen Bedingungen und Gewebe hin zu einem rasenden Fortschritt. Das Interesse, das dieser Roman heute im Licht der nachfolgenden ästhetischen und politischen Entwicklungen erwecken kann, basiert im Wesentlichen auf dem metaphorischen Gebrauch der Musik im Inneren der Erzählung. Das Vorhaben Wassermanns ist es, die Sprache und die Form von musikalischen Kompositionen zu gebrauchen, um dem Roman Struktur und dem Protagonisten Scharfsinn und psychologische Tiefe zu verleihen. Die dichte Fusion der 1 Unweigerlich muss man hier auf die Zentralität Nürnbergs im romantischen Mythos, besonders bei Wackenroder, hinweisen. Es ist die Stadt des großen deutschen Meisters Albrecht Dürer, über die sowohl in den Herzensergießungen als auch in den Phantasien über die Kunst gesprochen wird und die vom Autor 1793 auf seinen jugendlichen Streifzügen besichtigt und in den Reiseberichten gut beschrieben wird. Vgl. Wilhelm Heinrich Wackenroder, Opere e lettere. Scritti di arte, estetica e morale in collaborazione con Ludwig Tieck, hrsg. von Elena Agazzi (Mailand: Bompiani, 2014).

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musikalischen Symbologie mit erzählerischen Elementen erlaubt es, in dem Protagonisten des Romans die Personifizierung eines künstlerischen Ideals auszumachen, das, wesentlich wagnerisch und nun vergangen, eine Idee des Musikers vorausahnen lässt, der frei von Ideologien und perfekt in das Leben eingeordnet ist. Der Roman wurde zunächst zwischen dem Frühjahr 1914 und dem Frühjahr 1915 in der Münchner Zeitschrift Neuer Merkur veröffentlicht und dann bei dem prestigevollen Verlag S. Fischer in Druck gegeben, um im Oktober 1915 zu erscheinen. Betrachtet man die Daten der Veröffentlichung, wird deutlich, dass ein Bildungsroman über die Figur eines Musikers zu Ende des vorangegangenen Jahrhunderts in diesem präzisen historischen Moment entschieden außerhalb seiner Zeit stand. Der Krieg, die veränderten Lebensbedingungen, eine neue literarische Sensibilität der Avantgarde und nicht zuletzt die Dekonstruktion des klassischen Romans zugunsten des Entstehens neuer Erzählformen trugen, und tragen heute noch, dazu bei, diese Romanform in einen äußerst engen Raum zu verbannen. Auch wenn die Geschichte des Musikers seinerzeit einen diskreten literarischen Erfolg hatte, vielleicht auch als Buch des Ausbruchs,2 verschwand der Roman einige Jahre später von der literarischen Bühne. Eine kluge Reflexion über dieses Thema wird von Jean Am¦ry vorgenommen, in einem Text, der eben dem Verschwinden zweier Protagonisten der Jahrhundertwende, Wassermann und Zweig, gewidmet ist: Denn schließlich war er ja doch trotz seiner barocken Opulenz am Ende wahrscheinlich der letzte unter den großen konventionellen Romanciers der Deutschen, der letzte auch, der »Unterhaltung« bot, ohne dabei ein Unterhaltungsschriftsteller zu sein.3

Obwohl der Autor mit diesem Roman die Intention verband, noch vor einer Trilogie ein Abbild der deutschen Geschichte von der Reichsgründung an ins Leben zu rufen, gibt es in den Romanen Wassermanns scheinbar keinerlei Sozialkritik, noch eine Analyse der sich rapide verändernden sozialen Strukturen, eben weil, wie Jean Am¦ry weiter herausstellt, man im Falle Wassermanns 2 In einer der Rezensionen kurz nach Erscheinen des Romans unterstreicht Ludwig Hirschfeld gerade diese herausragende Fähigkeit Wassermanns, den Leser in eine Romanwelt fern der hässlichen Realität hineinfallen zu lassen: »Und trotz stellenweisen Widerstrebens gerät man schließlich so sehr in die Stimmung dieser wunderlichen Romanwelt, daß man sich am Schluß erst wieder besinnen muß und sich ein bißchen schämt, vier Stunden lang in stiller Stube über einem Roman gesessen und die Wirklichkeit, die Gegenwart, den Krieg völlig vergessen zu haben. Und wer weiß, ob das nicht das Beste ist, was man heute einem neuen Roman nachsagen kann«, Ludwig Hirschfeld, ›Das Gänsemännchen‹, in Pester Lloyd, 62 (1915), Nr. 336 (3. Dezember 1915), S. 4. 3 Jean Am¦ry, ›Glanz und Elend der Schriftsteller-Stars. Über Jakob Wassermann und Stefan Zweig‹, in Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts, mit einem Vorwort von Gisela Lindemann (Stuttgart: Klett, 1981), S. 165.

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ausschließlich mit Individuen zu tun hat und auch die theoretische und philosophische Struktur nicht sehr solide zu sein scheint. In Wirklichkeit verdient der Text von Wassermann nun aber eine tiefere Analyse, die den Roman nicht nur in Beziehung auf die sozialen und historischen Fragen einer schmerzhaften und existenziell umsturzgeprägten Periode hin untersucht. Der Text stellt trotz seiner unweigerlichen Inaktualität und Ferne zu dem historischem Zeitpunkt, in dem er verfasst wurde, einen äußerst fruchtbaren Stoff heraus, sowohl aus einem rein literarischem Gesichtspunkt, indem er das Vergnügen an einem Roman mit einzigartiger Erzählkraft4 zurückgibt, als auch aus einem ausdrücklich musikalischem Gesichtspunkt, da er nicht nur die Erzählung des Lebens eines Künstlers zum Gegenstand hat und so ein Beispiel vieler zeitgenössischer Künstlerromane ist, sondern indem er versucht, in der Organisation des Stoffes und der Form des Schreibens tatsächlich die Sinfonie einer Existenz wiederzugeben. Die Hauptfigur Daniel Nothafft wird bei seinem Aufwachsen in einem kleinbürgerlichen Milieu in dem Städtchen Eschenbach bei Nürnberg von einem allwissenden Erzähler beobachtet. Der Ort ist ein Zentrum der Textilproduktion und zur Zeit der Geschehnisse stark durch die neuen Industriemaschinen aus Amerika bedroht. Als Daniel noch sehr klein ist, vertraut sein Vater, der sein Ende nahen fühlt, dem Schwager seine ganzen Ersparnisse an, um Daniel damit eine sichere Existenz zu garantieren. Der Schwager Jason Philipp Schimmelweis, ein Buchbinder, gebraucht das Geld jedoch, um ein neues Geschäft zu gründen. So wächst der Protagonist, der nichts von dem Vorgefallenen und der erlittenen Ungerechtigkeit weiß, im Elend auf und ist den eisernen Regeln des Onkels unterworfen, der Daniels offensichliche Neigung zur Musik keinesfalls unterstützen will. Jason Philipps Frau entdeckt den Betrug und zwingt ihren Mann zu dem Versprechen, den Jungen in Zukunft bei sich einzustellen und ihn mit ihrer Tochter Philippine, die von diesem Moment an konstant die Figur von Daniel umgibt, zu verheiraten. Die bis zu diesem Moment sehr komplexe und in ihrem Verlauf traditionelle Handlung entwickelt sich dann auf verschiedenen Schichten – der Roman ist in drei Teile geteilt, von denen ein jeder verschiedene Elemente in Bezug auf die Persönlichkeit und den Charakter der Hauptfigur herausstellt. Als Gymnasiast kann er drei Jahre lang den Musikunterricht besuchen und lernt Kontrapunkt und Harmonik, aber um seine musikalische Bildung weiterzuführen und an den Musikstunden des Professors Andreas 4 Ein exemplarisches Urteil gab Thomas Mann wenige Tage nach dem Tod des Schriftstellers in einem Brief an R¦ne Schickele ab: »Sein Werk hat mir wegen eines gewissen leeren Pompes und feierlichen Geplappers oft ein Lächeln abgenötigt, obgleich ich wohl sah, daß er mehr echtes Erzählerblut hatte als ich«, in Jahre des Unmuts: Thomas Manns Briefwechsel mit R¦ne Schickele, 1930–1940, hrsg. von Hans Wysling und Cornelia Bernini (Frankfurt am Main: Klostermann, 1992), S. 50.

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Döderlein in Nürnberg teilzunehmen, bräuchte er Geld, was er nicht besitzt. Von nun an beginnt er verschiedene Arbeiten zu suchen, führt jedoch ein Leben in Elend und Hunger. Am Ende dieser Zeit beschließt er, die Beziehungen zu seiner Ursprungsfamilie abzubrechen und in Nürnberg Arbeit zu suchen, aber auch hier ist sein Leben in der Anfangszeit extrem einsam und arm. Bis zu dem Moment, an dem er es mühsam schafft, sich einen Weg in die Welt der Musik zu ebnen, und Tonkünstler und Komponist wird. Sein Leben nimmt einen völlig neuen Verlauf, nachdem er zwei Personen begegnet, dem Freund Friedrich Benda, einem jüdischen Wissenschaftler, und dem Versicherungsinspektor Jordan. Dank dem ersteren, einer Person von ausgesprochenem Geist und Scharfsinn, kann er sich als Musiker bekannt machen, wenn der Wissenschaftler auch ein Gefühl des Misstrauens Künstlern gegenüber beibehält.5 Benda macht ihn mit Theaterdirektoren bekannt. Nach kurzer Zeit kann Daniel eigene Musikstücke aufführen lassen und erntet damit auch einigen Erfolg. Daraufhin wird er Kapellmeister und dirigiert eine Wanderoper. Jordan hingegen stellt ihm seine beiden Töchter Lenore und Gertrud vor. Erstere steht ihm sofort zur Seite, auch wenn er in Schwierigkeiten ist; sie hilft ihm, als er ein Zimmermädchen schwängert, und begleitet es zur Geburt zum Haus der Mutter des Musikers, die das Mädchen und das Neugeborene bei sich aufnimmt. Daniel zieht ihr allerdings ihre Schwester Gertrud vor und beschließt diese zu heiraten. Gerade im Moment dieses Entschlusses bemerkt er jedoch, eigentlich ihre Schwester Lenore zu lieben. Hier beginnt der Hauptteil des Romans, der entschieden an ein Feuilleton des 19. Jahrhunderts erinnert: Während die Ehefrau ein Kind erwartet, das den Namen Agnes tragen wird, beginnt Daniel ein Verhältnis mit der Schwester, bewirkt damit die Zersetzung der Familie und wird zum Gespött der Stadt, die ihn von nun an das »Gänsemännchen« nennt, in Anlehnung an eine Statue im Stadtzentrum, die eine Figur mit zwei Gänsen unter dem Arm darstellt.6 Die Situation degeneriert, weil die Ehefrau, die zwar das Verhältnis zwischen Ehemann und Schwester duldet, keinen Frieden findet, bis sie sich zum Freitodentschließt und sich erhängt. Nach diesem dramatischen Ereignis entscheiden Daniel und Lenore zu heiraten. Bei der Geburt ihres Kindes sterben aber Daniels 5 Vgl. Jakob Wassermann, Das Gänsemännchen (Berlin: S. Fischer, 1923), S. 99: »Wie alle Gelehrten hatte er stets ein Mißtrauen gegen die übermächtigen Einflüsse der Kunst gehegt«. 6 Die Statue des Gänsemännchens befand sich bis 1945 auf dem Marktplatz von Nürnberg. Die Bronzeskulptur wurde gegen 1550 von Pankraz Labenwolf angefertigt, der ein Holzmodell von Hans Peisser benutzt und wahrscheinlich im Auftrag der Stadtgemeinde gearbeitet hatte. Der Legende um die Statue zufolge brachte ein Bauer aus der Gegend des Knoblauchslands zwei Gänse zum Markt, um sie dort zu verkaufen. Die Gänse aber, die ihr Schicksal ahnten, begannen so laut zu schnattern, dass der Bauer nach Hause zurückkehren musste. 1797 wurde auch Goethe bei einem seiner zahlreichen Besuche der Stadt von der Statue verzaubert und bat seinen Freund Thomas Seebeck, ihm eine Kopie zu beschaffen.

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Frau und dessen neugeborener Sohn. Nach dieser Aufeinanderfolge dramatischer Ereignisse beginnt der dritte und letzte Teil des Romans, in dem der Protagonist zuerst voller Verzweiflung und vom Schmerz zerstört erscheint. Dann wandert er im Auftrag eines Verlages von Stadt zu Stadt, um sakrale mittelalterliche Musik zu sammeln. Er heiratet eine junge Violinistin, eine treulose Verschwenderin, die, auch auf Betreiben des Zimmermädchens und Nothaffts Kusine Philippine, den Musiker ungestraft betrügt, spurlos verschwindet und ebenso den Sohn Gottfried verlässt. In der Zwischenzeit setzt das Zimmermädchen das Haus in Brand und zerstört damit auch die Sinfoniewerke Daniels. Die letzten Seiten des Romans beschreiben die Verzweiflung Daniels, der, dem Delirium verfallen, immer das Gänsemännchen sieht und mit ihm spricht, was ihn zu einem existenziellen Ausweg führt. Der Roman endet mit der Entscheidung des Musikers, zusammen mit seinen beiden Kindern in seinen Herkunftsort Eschenbach zurückzukehren und Musiklehrer zu werden. Die Handlung des Romans ist in ihren äußeren Aspekten augenscheinlich konventionell und nimmt wieder die üblichen Geschichten und Thematiken des vergangenen Jahrhunderts auf. Sicherlich ist es das Thema der Musik, was diesen Roman auszeichnet. Formal betrachtet ist die Figur des Gänsemännchens, das im letzten Teil auftritt, ein entfremdendes und stark innovatives Element, das dem musikalischen Thema eine größere Dichte gibt. Die Statue war schon zu Beginn des Romans erschienen und hatte unmittelbar die Konturen von Daniels Alter ego angenommen: Als er sich umdrehte und das bronzene Männchen so gleichmütig mit seinen zwei Gänsen unter den Armen stehen sah, mußte er lachen. Was ihn lachen machte, war einesteils die Ruhe des Männchens, dies Abwarten und beständige Da-Sein, andernteils der Gedanke, daß einer so zufrieden aussehen konnte wegen zweier Gänse.7

Die Figur des Gänsemännchens kehrt in der tragischsten Periode von Daniels Leben zurück. In dem Moment, als er nichts mehr hat, woran er sich festhalten könnte, folgt er irgendwie dem Rat des Freundes Benda, der ihn aufgefordert hatte, seinem Schmerz eine starke Stimme zu verleihen. Die Bronzefigur, die Daniel Tag und Nacht in seiner Einsamkeit begleitet, drückt den Schmerz des Musikers aus und reflektiert über die irdischen Dinge. Die Reflexion bezieht sich aber vor allem auf die Rolle des Künstlers, des musikalischen Genies, seine Fähigkeit, das Glück und die Leiden der Existenz zu fühlen. Der Zustand Daniels war in den Worten des Gänsemännchens der eines Menschen, der jeglichen Kontakt mit den irdischen Freuden und Leiden vermeiden wollte, indem er in einer Art abgesonderter Welt lebte: »Alles Leben ist in deine Seele geströmt, und du hast im elfenbeinernen Turm gewohnt. Wohlverwahrt war deine Seele, von 7 Wassermann, Das Gänsemännchen, S. 95f.

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Anfang an wohlverwahrt«.8 Die merkwürdige Figur begleitet Daniel nicht nur in den Momenten der Einsamkeit, sondern umgibt ihn auch immer zu Hause, sie beobachtet ihn, wenn er Gäste hat, kommentiert Situationen und sitzt am Fuß seines Bettes, wenn er schläft. Die Stimme der Bronzestatue legt den Bildungsweg Daniels neu fest, liefert dem Protagonisten und dem Leser den Schlüssel zum Verständnis der Komplexität der Seele Daniels, der nur in diesem Moment des Leidens und des Verlustes danach streben kann, ein Mensch zu werden, und damit dem eigenen Werk und der eigenen Existenz einen Sinn zu geben. Und es ist die Musik, die aus diesem persönlichen Progress einen Vorteil zieht, weil die Musik den anderen Menschen nur etwas geben kann, wenn ihr Schöpfer nicht ein Gefangener in sich selbst ist. In einer der interessantesten und scharfsinnigsten Rezensionen des Textes unterstreicht Lion Feuchtwanger9 den Wert dieser Dialoge mit dem Gänsemännchen am Ende des Werkes, die dort eine harmonische Lösung suggerieren, wo sonst nur Disharmonien auftreten und einen Interpretationsschlüssel nicht nur der Ereignisse um den Protagonisten, sondern auch der der Musik zugrunde liegenden Auffassung geben. Dem Autoren der Rezension zufolge betrifft die zugrunde liegende theoretische Auffassung die Idee der Musik und vor allem die Figur des Künstlers, der mit revolutionärer Kraft aus den Seiten des Romans hervortritt: ein Künstler, der nicht seiner Verantwortung entzogen werden kann und darf, sondern der im Gegenteil vor allem anderen menschlich sein muss: Ich kenne keinen deutschen Roman, der so innerliche Beziehungen zur Musik hat wie dieser, keinen, der mit so heiligen Bemühungen und solchem Erfolg ihr Wesen zu gestalten sucht. Dieses Buch ist voll von Musik, einer Musik, die sich nicht damit begnügt, das unwürdige Volk mit Surrogaten abzuspeisen oder den Himmelsflug durch Veitstänze nachzuahmen, einer aus innerstem Wissen und Gewissen geborenen, wahrhaften Musik, die tief hinabgeht in die Höhlen der Brust und hoch hinauf zu den unsterblichen Dingen.10

Die Musik und die Figur des Künstlers zeigen in diesem Roman vor allem die Charakteristiken des Autors, der, wie Ladislao Mittner es definiert hat, einen »aufrichtigen messianischen, von der Hoffnung auf eine von der ganzen Menschheit vollzogene Versöhnung bewegten Geist aufweist«.11 Die Idee eines existenziellen Fortschreitens hin zum Menschheitsideal wird in dem Text durch eine weite Konstellation von Figuren vorangebracht, die die sich zu Ende des Jahrhunderts jäh vollziehenden sozioökonomischen Veränderungen unter8 9 10 11

Ebd., S. 590. Lion Feuchtwanger, ›Rezension‹, in Die Schaubühne, I (1916), S. 12. Ebd. Ladislao Mittner, Storia della Letteratura tedesca, III: dal Realismo alla sperimentazione (1820–1970), primo tomo (Turin: Einaudi, 1971), S. 1019 (Übersetzung der Autorin).

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streicht12 und zudem den Willen ausdrückt, ein Bild der menschlichen Psychologie zu zeichnen. Einige Figuren zeigen in ihrem existenziellen Werdegang erschütternde und sehnsuchtsvolle Eigenschaften, wie z. B. die Figur der Zingarella. Während seiner Anfangszeit in Nürnberg, als Daniel auf der Suche nach Arbeit und etwas Wenigem zu essen durch die Stadt streift,13 trifft er auf verschiedene Pseudointellektuelle und Künstler, die es zu nichts bringen: Schriftsteller, die nicht schreiben, Bildhauer, die nicht arbeiten, Schauspieler, die seit Jahren beurlaubt sind, unter ihnen auch, von einem Bildhauer begleitet, Anna Seibert, die Zingarella, die in schäbigen Gassen singt und sich prostituiert. Das Mädchen zeigt dem Leben gegenüber Gleichgültigkeit und ein Antlitz,«welches vom Laster und vom Schicksal gezeichnet war«.14 Ohne jegliche Hoffnung auf ein Leben tötet sich das Mädchen wenige Tage nach der Begegnung mit Daniel in den Wassern des Flusses. Der Bildhauer fertigt nun eine Totenmaske an, die die Züge der Frau auf unglaubliche Weise zeigt, sechzehnjährig und mit einem heiteren Lächeln. Daniel schafft es, die Totenmaske der Frau zu erhalten und wird sich nie wieder von dieser Art trauriger und moderner Mignon trennen. Daniels Freund Dr. Friedrich Benda verkörpert die positiven Eigenschaften des jüdischen Intellektuellen, einen Wissenschaftler, der zäh und geduldig die Assimilation anstrebt, aber aufgrund des auf privater und beruflicher Ebene wachsenden Antisemitismus dazu gezwungen ist, wegzugehen und Forschungsreisen anzutreten, bei denen er seinen Beruf als Wissenschaftler im wilden Afrika ausübt, was ihm die Anerkennung als Held und Pionier nur seitens 12 Zahlreiche Stellen im Roman unterstreichen die durch den Gebrauch neuer Maschinen aus Amerika, besonders in der Textilverarbeitung, entstandenen starken Veränderungen und die Maschinen werden zu Ungeheuern, die sich von den Herzen der Menschen ernähren, vgl. hierzu Wassermann, Das Gänsemännchen, S. 11 und ferner S. 392: »Das ist eben die neue Zeit. Ich glaube, sie heißen’s ›fin de siÀcle‹. Nichts soll blühen mehr, alles wird fabriziert. Die Männer sind Amerikaner, greuelhaft ernüchtert vom Erwerbsrausch, die Weiber verlieren den edlen Eigentum des Instikts, die Städte sind zu ungeheueren Dampfmaschinen geworden, alt und jung liegt vor den sogenannten Wundern der Technik auf dem Bauch, als ob es für die Menschheit wirklich etwas zu bedeuten hätte«. 13 Viele Passagen des Romans verweisen auf autobiographische Elemente des Autors in seiner ersten Zeit in Nürnberg, so wie sie in seinem bekannten Werk Mein Weg als Deutscher und Jude dargestellt werden:«Ich geriet in schlechte Gesellschaft; ich hatte unhemmbares Verlangen nach geistigem Umgang und stürzte in die Kloake des Geistes, mich dürstete nach Bestätigung, und ich wurde aus mühselig eroberten Festen geschleudert, ich wünschte mir das Wort, das nicht seinen ganzen Gehalt aus Geld, Schweiß und Plage bezieht und wurde von dem besudelnden getroffen, dem, das Geistesart und Geisteshaltung äfft. Mehr ist schlechterdings nicht zu sagen nötig, um die Existenz zu kennzeichnen, die ich durch Jahr und Tag führte; was sollte es frommen, das häßliche Einzelne wieder hervorzuziehen aus dem Grab der Zeit, die in schmutzigen Kneipen verbrachten Nächte, Ekstasen eines ziemlich ideenlosen Rebellentums, jämmerlichen Selbstverlust, Prahlerei mit Armut, versäumte Pflicht, würgende Not, billige Herausforderung des Bürgers«, Jakob Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude (Berlin: S. Fischer, 1921), S. 40–41. 14 Wassermann, Das Gänsemännchen, S. 52.

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der Engländer einbringt.15 Benda nimmt sich nach der Rückkehr von seinen Reisen seines Freundes mit Intelligenz und Mitleid an. Das vorherrschende Thema des Textes ist die Musik, nicht nur weil die Hauptfigur Musiker und Komponist ist und er sich somit in die Tradition des Künstlerromans einfügt– mit dem nicht ganz gelungenen Versuch, den künstlerischen Werdegang des Protagonisten mit den historischen Ereignissen Deutschlands zu verbinden, wie es auf meisterhafte Weise im Doktor Faustus von Thomas Mann16 geschehen wird – sondern auch, weil die Musik den Text sowohl inhaltlich als auch formal zusammenhält. Die Gestalt von Daniel Nothafft ist komplex wegen ihrer psychologischen Schattierungen, die ihn wesentlich als ein Individuum darstellen, das von dem Willen zur Revanche und einem fast krankhaften Interesse für die großen musikalischen Kompositionen getrieben ist. Er erhält Format auch durch die vielzähligen Andeutungen, die in seinem Handeln und seinen Äußerungen auf Figuren der vergangenen literarischen und muikalischen Bühne verweisen. Die Hauptfigur muss man nach der Konstellation ähnlicher historischer Figuren und Phantasiegestalten bewerten, die ihm vorausgegangen sind, sie kann mithin als Summa von Experimenten in der Musik betrachtet werden. Der Handlungsort Nürnberg ist ein Mittelpunkt in der deutschen Musiktradition, beispielsweise wegen der Meistersinger, und er ist der Ort der romantischen Idylle par excellence, die Stadt Dürers und Hans Sachs’. Vollkommen romantisch ist in seinem äußeren Erscheinungsbild auch die Figur von Daniel, die mit prometheischer Kraft versucht, sich über die bürgerliche Mittelmäßigkeit zu erheben und, mit vollen Händen das eigene Leben ausgebend, den Traum der Musik verfolgt. Genau aus dieser Wiederaufnahme des romantischen Motivs und seines innerlichen Zerfalls entsteht die Wahrhaftigkeit der Figur Wassermanns. Ein Held, der verzweifelt versucht, die höchsten Gipfel der Kunst zu erklimmen, der ein vollkommen romantisches Musikideal erstrebt, kann sich in keinem Moment der realen Erfahrung entziehen und muss sich immerfort mit dem Leben beflecken. Sein Ideal und die 15 Das Thema des Judentums und des zeitgenössischen Antisemitismus war Gegenstand der schon zitierten Autobiographie Wassermanns und wurde von ihm darüber hinaus auch in vielen anderen Werken behandelt. Man verweist hier auf die jüngsten Studien zum Thema und besonders auf Jakob Wassermann. Werk und Wirkung, hrsg. von Rudolf Wolff (Bonn: Bouvier Verlag), 1987; Jakob Wassermann. Deutscher – Jude – Literat, hrsg. von Dirk Niefanger, Gunnar Och und Daniela F. Eisenstein (Göttingen: Wallenstein, 2007) und auf die Einleitung in der von Lorella Bosco herausgegebenen Autobiographie Wassermanns mit dem Titel ›Tedesco ed ebreo: il problema dell’identit— e dell’appartenenza nella riflessione autobiografica di Jakob Wassermann›, in Il mio cammino di tedesco e di ebreo e altri saggi (Firenze: Giuntina, 2006), S. 5–36. 16 Giovanni Di Stefano hat einige Analogien zwischen dem wunderbaren Freskengemälde Manns und dem Werk Wassermanns herausgestellt und neigt dazu, bei dem Autor des Doktor Faustus einen gewollten Versuch der Distanzierung vom Werk des Gänsemännchens zu sehen. Vgl. Giovanni Di Stefano, La vita come musica (Venezia: Marsilio, 1991), S. 199.

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Figur, die einem bei der Lektüre dieses Textes am häufigsten in den Sinn kommt, ist der Joseph Berglinger von Wackenroder, eine Figur in konstantem Kampf »zwischen seinem ätherischen Enthusiasmus und dem niedrigen Elend dieser Erde«,17 die zwischen einer völlig der Musik gewidmeten Existenz und der zu bewältigenden Realität steht, die von einer Auffassung der Musik gekennzeichnet ist, in der diese nur eine zwecklose Unterhaltung des Publikums oder ein notwendiges Mittel darstellt, um Beliebtheit bei den Kollegen zu erwerben. Auch die schuldhaften Liebesverwicklungen erinnern an literarische Vorlagen; klar ist der Verweis auf die privaten Begebenheiten von Gottfried August Bürger und deutlich evoziert durch den Namen einer der von Daniel geliebten Schwestern, Lenore. Daniels Herkunftsort und der Ort, an den er sich am Ende entscheidet, zurückzukehren und auf sein romantisches Ideal zu verzichten, Eschenbach, ist vor allem der Herkunftsort von Wolfram, dem Autor des mittelalterlichen Parsifal. In Wassermanns Roman verläuft der Bildungsweg des Protagonisten, der mit einer Art Zerstörung der romantischen Figur zusammenfällt, durch eine mit musikalischen Bezügen reich ausgestattete Handlung. Das Leben und die Erfahrungen, die er durchläuft, dienen genau dazu, der eigenen Musik Form zu geben, in dem Versuch, eine wahrhafte musikalische Ekphrasis der Existenz zu erschaffen. Beeindruckend sind nicht nur die Passagen, in denen er versucht, mit der Musik zu beschreiben, was mit ihm geschieht, sondern vor allem der kontinuierliche Einsatz der eigenen Existenz für das musikalische Schaffen. In seiner Autobiographie betont Wassermann bei der Beschreibung seiner Wahl der Figur von Daniel: Das Musikerschicksal ist nur Behelf und Vorwand; es war nötig, für alle Klänge und Widerklänge ein intensiv empfangendes Membran zu gewinnen, das zitterndste, zarteste, genaueste Instrument, an dem abzulesen war, wie es um den deutschen Alltag stand, wie die Wirklichkeit sich zur Idee, das Allgemeine zum Besonderen verhielt.18

Wie aus den Worten des Autors erhellt, ist die dem Text zugrunde liegende Idee genau die, eine Figur zu verwenden, die der Existenz gegenüber so durchlässig ist, dass sie selbst zur Membran wird und dazu fähig ist, die Töne und Tonalitäten der Welt auf eine völlig andere Weise einzufangen. Was von dem Autor als »Behelf und Vorwand« definiert wird, entspricht in Wahrheit seinem Bewusstsein von Thematiken, die, von musikalischen Fragen ausgehend, die intellektuellen Kreise Deutschlands zu Ende des vergangenen Jahrhunderts mit großer Virulenz erfasst haben. Es ist sicher unmöglich, sich hier nicht auf das Verhältnis 17 Wilhelm Heinrich Wackenroder, Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger, in Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, in Opere e lettere, S. 284. 18 Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, S. 87.

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zwischen Nietzsche und Wagner und auf Der Fall Wagner19 zu beziehen, die Schrift Nietzsches, die den meistbejubelten Autor der deutschen Szene vehement attackiert. Wagner wird für Nietzsche an einem gewissen Punkt »ein typischer d¦kadent, der sich nothwendig in seinem verderbten Geschmack fühlt, der mit ihm einen höheren Geschmack in Anspruch nimmt, der seine Verderbniss als Gesetz, als Fortschritt, als Erfüllung in Geltung zu bringen weiss«.20 In einer früheren Schrift stellt Nietzsche heraus: Das Leben Wagners, ganz aus der Nähe und ohne Liebe gesehn, hat, um an einen Gedanken Schopenhauers zu erinnern, sehr viel von der Komödie an sich, und zwar von einer merkwürdig grotesken. Wie das Gefühl hiervon, das Eingeständnis einer grotesken Würdelosigkeit ganzer Lebensstrecken auf den Künstler wirken mußte, der mehr als irgendein anderer im Erhabenen und im Über-Erhabenen allein frei atmen kann, – das gibt dem Denkenden zu denken.21

Das Urteil Nietzsches über Wagner erlaubt es Wassermann, die künstlerische Parabel seiner Figur zu formen. Zu Beginn seines musikalischen Werdegangs hatte Daniel ein Werk für Orchester komponiert, das ihn bekannt gemacht und ihm die Möglichkeit gegeben hatte, seine Tätigkeit zuerst als Dirigent einer Wanderoper und dann als Kapellmeister aufzunehmen. Das Werk trug den Titel Vineta und fing »mit einem rhythmisch ruhigen und klagenden Satz an, der sich plötzlich in ein tobendes Presto verwandelte«.22 Vineta, eine in mittelalterlichen skandinavischen Schriften genannte legendäre Stadt, war in der Tat ein Thema musikalischer Werke am Ende des 19. Jahrhunderts.23 Auch dieses Element trägt zur Bestimmung der Figur von Daniel Nothafft als romantischem Komponisten im Gefolge der wagnerischen Epigonen bei. So gesehen würde aus Daniel Nothafft eine Art Dekonstruktion des wagnerischen Mythos vom großen Musiker, ein im Roman in seiner ganzen Existenz betrachteter Künstler, dessen Streben sich auf eine Prometheus gewidmete Sinfonie richtet, die er nie beenden wird, und der allem, was ihn umgibt, un19 Der Einfluss von Nietzsches Werk auf Wagner ist schon seit den 20er Jahren in zahlreichen Arbeiten untersucht worden; z. B.: Anne-Liese Sell, Das metaphysisch-realistische Weltbild Jakob Wassermann (Bern, Univ. Diss., 1932); Walter Goldstein, Wassermann. Sein Kampf um die Wahrheit (Leipizig-Zürich: Grethlein, 1929). In der zuletzt genannten Arbeit stellt der Autor heraus, dass Wassermann fast die Rolle hatte, das Denken Nietzsches einem breiten Publikum bekannt zu machen, vgl. ebd., S. 309. 20 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem (Leipzig: C.G. Naumann, 18922). . 21 Friedrich Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, in Nietzsche Werke, Kritische Ausgabe, hrsg. von Mazzino Montinari und Giorgio Colli (Berlin: De Gruyter, 1967), Bd. 4, S. 12. 22 Wassermann, Das Gänsemännchen, S. 103. 23 Wenn man hier Hypothesen vorschlagen wollte, wäre eine im Besonderen der Beschreibung der Figur Wassermanns ähnlich, nämlich die Symphonische Dichtung für großes Orchester, op. 16 aus dem Jahr 1888 von Hugo Kaun, Komponist in der Tradition der Spätromantik.

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bekümmert gegenüber steht, solange es nicht sein eigenes musikalisches Interesse berührt. Daniel Nothafft wäre aber auch eine antiromantische Figur, weil er in seiner tiefen Kleinlichkeit ebenso die Zerstörung des wagnerischen Mythos darstellt, der, wie in den Texten Nietzsches herausgestellt wird, auch die schändlichen Keime des Antisemitismus in sich trägt. Die im Text zitierte Musik ist jene Wagners, jene Bruckners und nicht zuletzt jene des Protagonisten. Wassermanns Idee musikalisches Material zu benutzen ist kein nur oberflächlicher Behelf, sondern repräsentiert einen wahrhaften Enthüllungsmechanismus; einerseits zeigt er die Kraft der Musik, die durch ihre Verwandlung in Worte das Universum der Emotionen wiedergeben und beschreiben kann, andererseits wird dadurch, in keinesfalls oberflächlicher Weise, den in der deutschen Gesellschaft zunehmenden gefährlichen Veränderungen, besonders dem zunehmenden Antisemitismus, Form gegeben. Die Musik war darüber hinaus ein Thema, das Wassermann aus mehreren Gründen am Herzen lag. Seine Autobiographie war beispielsweise dem teuren Freund Ferruccio Busoni gewidmet, einem Pianisten und Komponisten, der wie der Autor in Identitäten gespalten war.24 Für den Dichter Wassermann ist die Musik ein sehr komplexes und mysteriöses Instrument, wie er in der Schrift In memoriam Ferruccio Busoni hervorhebt: Der Musiker steht, so will es mir scheinen, in einem andern Verhältnis zur Gestalt als der Maler und der Dichter. Sie ist ihm ferner gerückt, verschleierter oder vergrabener ; er muß sie, kommt mir vor, aus verwickelteren Mißverständnissen schälen als jene, aus täuschenderen Verkleidungen lösen, um ihre reine und einziggültige Form zu gewinnen. Deshalb muß er gleichsam immer bis an die äußerste Grenze gehen, Grenze der Menschheit und Grenze der seelischen Selbstbehauptung, und es erklärt sich aus diesem auch, weshalb schöpferische Musiker so häufig an der Grenze der sozialen Welt sich befinden, weshalb sie einsamer, rätselhafter, absonderlicher, schrulliger und rebellischer sind als alle sonst, die sich im Schaffen vergeben.25

Wassermann nimmt in diesem Roman ein gewagtes Experiment vor, nämlich jenes, das musikalische Thema nicht vor allem als musikalischen Behelf zu gebrauchen, sondern vielmehr als Gewebe, in dessen Inneres sich sehr verschiedene Elemente, sowohl inhaltlicher als formaler Natur, einflechten lassen. Das Wort wird zum Instrument der Eroberung, auch des musikalischen Materials. Indem er dem Wort somit eine außergewöhnliche Kraft verleiht, vollführt Wassermann einen doppelten Salto mortale, bei dem er der musikalischen Ek24 1925 widmete Wassermann die Schrift »in memoriam« seinem 1924 verstorbenen Freund Ferruccio Busoni, bei dem er die gleiche innere Spaltung ausmachte: »Nun kam bei Ferruccio Busoni hinzu, daß er außerdem noch leiblich und buchstäblich ein Mensch der Grenze war. Zweien Nationen gehörte er an; bei der einen war seine Erde, bei der andern war seine Luft«, Jakob Wassermann, In memoriam Ferruccio Busoni (Berlin: S. Fischer, 1925), S. 25f. 25 Ebd.

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phrasis des Protagonisten einen Teil seiner eigenen Empfindungen und Charakterzüge anvertraut. In dem Willen, die Musik durch Worte zu beschreiben und damit die Emotionen und Gedanken Daniels mitzuteilen, wird die Figur dazu benutzt, die Idee des deskriptiven Potentials der Musik zu übermitteln. Hatte man sich in der typisch romantischen Ära die Programmmusik als Willen seitens der Partitur auferlegt, die Beziehung zur Poesie zu überwinden, indem sie selbst in einer ästhetischen Überwindung der rein instrumentellen Musik deskriptiv wurde,26 benutzt Wassermann nun dieselbe Vorgehensweise, um seinerseits in den Schoß der Literatur zurückzukehren. Die musikalische Beschreibung, die in dem Text massiv präsente Ekphrasis, zielt einerseits darauf ab, den Gemütszustand und die Gefühle der Figur nahezubringen, andererseits verdeutlicht sie den Charakter der Hauptfigur, die unfähig ist zu kommunizieren und nur nach existenziellen Anregungen für ihr eigenes musikalisches Werk hungert. Die Figuren und die Musik beschreiten parallele Wege. Wenn für Gertrud, die erste Frau Daniels, alle Klänge und Noten in ihrer Imagination zu Gestalten werden, mit einer fast mädchenhaften Emphase – »Bestimmte Töne und Tonverbindungen traten figürlich vor ihr Auge. So zum Beispiel glich das zweigestrichene B des Basses einer schwarzverschleierten Frau; das E der Mittellage einem Jüngling, der die Arme dehnte« –,27 sind es für Daniel die Dinge, die Personen und die Erfahrungen, die zur Musik werden. Bei Gertruds Tod sagt er in der Tat: Jetzt wurde Gertrud zur Melodie. Was sie getan und gewirkt, war Melodie. Ihr Dumpfes wurde wach, ihr Schweigen beredt. Einst hatte er sie und Lenore geschaut, im braunen Kleid die eine, im blauen die andere, Moll und Dur, die Endpunkte seiner Welt. Nun stieg das Moll empor gleich der Nacht über der einsamen Erde und hüllte alles in Trauer.28

Wassermanns Figur, die Züge von Verschlossenheit und Gleichgültigkeit gegenüber der äußeren Welt aufweist, behält jedoch das ganze Werk hindurch die Fähigkeit bei, ihre Erfahrungen und Empfindungen in Form von Musik zu erzählen, und das nicht nur in der komponierten, sondern auch in jener, die dem Leser in einer wahrhaft musikalischen Ekphrasis suggeriert wird, durch die perfekte Beschreibung der der Figur zugrunde liegenden Emotionen in Klängen. Als er sich z. B. der Vertonung der Harzreise im Winter von Goethe widmet, fühlt 26 Vgl. Enrico Fubini, L’estetica musicale dal Settecento a oggi (Torino: Einaudi, 20014), S. 169: »Nur in der Romantik bildet die Programmmusik eine wahrhaft eigene Gattung, vor allem in der Form der sinfonischen Dichtung, die im 19. Jh. so erfolgreich war« (Übersetzung der Autorin). 27 Wassermann, Das Gänsemännchen, S. 222. 28 Ebd., S. 371.

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er »die ungeheure Schmerzgewalt, die ungeheuere Erhabenheit«, und die Musik formt sich fast von allein: Wenn in der zweiten Hälfte die Motive von Menschenstimmen übernommen wurden, diese Stimmen erst einzeln aus dem brodelnden Tonmeer drängten, dann immer williger, sehnsüchtiger, offenbarender sich zum Chor sammelten, war es, als müßten sie ohne diese Befreiung in der Finsterniß ersticken. Erschütternd klang das Pianissimoraunen der Bässe, bevor der Sopran einsetzte: dem Geier gleich, der auf schiere Morgenwolken mit sanftem Fittich ruhend nach Beute schaut, schwebe mein Lied; ein Siegesruf war das Posaunensolo, das dem versunkenen Orchester neues Leben wies. […] Sein Rhythmus war einförmig, nur auf Steigerung berechnet. Es hatte nichts von Verführung, nichts von Tanzgelüsten, keine Billigkeit, nichts was trägem Ohr schmeichelt. Keinen Schmelz, nur Fülle und Außerstes; die Melodie verborgen wie der Kern in harter Schale und nicht bloß verborgen, sondern zerteilt und immer wieder zerteilt; hinabgepreßt, unterirdisch gebunden, um nur ein einziges Mal überwältigend emporzusteigen, emporzujubeln.29

Das Vermögen, musikalische Anregungen durch den gekonnten Gebrauch der Erzählform wiederzugeben, war allerdings nicht ausreichend, um dem Roman in seiner Ganzheit die Wertschätzung all seiner Zeitgenossen einzubringen. Arthur Schnitzler, den eine lange Freundschaft mit Jakob Wassermann verband, schrieb eine Reihe von Reflexionen über den Roman, in denen er kein Element des Textes zu schätzen scheint und ihn als »fragwürdig« betrachtet. Die Figuren, beginnend mit der Hauptfigur, zeigten oft Merkmale der Absurdität, die Gesellschaft sei nur vom Kleinbürgertum in seiner Plattheit und »Philistrosität« repräsentiert. In einem aber zeige Wassermann seine reinsten technischen und erzählerischen Fähigkeiten: Der Versuch, die Kompositionen Daniels dichterisch zu schildern, geschieht manchmal mit so feinen Mitteln, daß wir tatsächlich von der Art seines musikalischen Talents eine leise Vorstellung zu gewinnen glauben. Manchmal freilich gemahnen diese Erläuterungen an den von Journalismus nicht ganz freien Stil der Programmbücher, in denen man uns die Notenbeispiele schuldig geblieben wäre. Das Verhältnis des Autors zur Musik im Ganzen genommen wurde mir an einer Stelle etwas dubios. Es heißt (ungefähr): In diesem Augenblick erkannte Daniel die Schönheit des D-DurDreiklangs. Das ist genauso unsinnig, wie wenn von einem Maler gesagt würde: Er erkannte die Schönheit des Kobaltblau. Oder von einem Dichter : In diesem Augenblick erkannte er die Schönheit des Wortes: Rettich oder Sonne oder Schnadahüpf.30 29 Ebd., S. 284f. 30 Arthur Schnitzler, ›Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen‹, in Aphorismen und Betrachtungen, hrsg. von Robert Otto Weiss (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1967), S. 477f.

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Schnitzler unterstreicht auf diese Weise über die unbestreitbare erzählerische und psychologische Begabung des Autors hinaus einige Grenzen des Textes, wie z. B. die Absicht, die Klangfülle der Gedanken von Daniel Nothafft wiedergeben zu wollen. Der Text erhielt sicherlich viele Kritiken, eine der schärfsten einige Jahre später von Philipp Witkop. Witkop unterstellte eine zu große Nähe zwischen dem Werk Wassermanns aus dem Jahr 1915 und dem großen zehnbändigen Fresko über den Musiker Jean Christoph von Romain Rolland,31 das wenige Jahre vorher erschienen war. Die Handlung des Romans entwickelt sich also mit der Einfügung von musikalischem Material verschiedener Art, von der ekphrastischen Wiedergabe des Klangmaterials über den Verweis auf Autoren und Werke. Wagner, Beethoven und Brahms werden oftmals zitiert, bis zum bewussten und in diesem Fall perfekt gelungenen Gerbrauch von synästhetischen Empfindungen, wie beispielsweise bei der Beobachtung des Töchterchens Eva: »Sein Lachen war die reinste Musik, und in Gang und Gebärden hatte es einen Rhythmus, der hohe Versprechungen auf künftige Freiheit und Anmut gab«.32 Die Aufmerksamkeit des Romans für die psychologische Entwicklung, die komplexe und facettenreiche Charakteristiken hat, wird vom Autor durch die musikalischen Verweise auf meisterhafte Weise wiedergegeben. Daniel ist eine Figur der zahlreichen Widersprüche, der immensen Zärtlichkeit beim gelegentlichen Betrachten der eigenen Tochter bis hin zu dem Bedürfnis nach wirklicher Anerkennung, und seine Kennzeichnung erfolgt durch den Einsatz musikalischer Anklänge: Tief in seiner Seele brauste ein aufgeregtes Meer von Tönen; er horchte nur hin, trotz gelegentlich hervorbrechenden Zornes über ein Mißlingen des Besitzes und künftiger Windstille sicher. Er lebte so in sich selbst versponnen, daß er kaum den Himmel sah, und Häuser und Menschen und Tiere und was zur Notdurft des Daseins gehört, nur wie im Traum.33

Bei der Bestimmung der Figur von Daniel Nothhafft steht sicherlich das Ziel der Komposition großartiger Werke im Mittelpunkt. Sein Streben ist es, große Sinfonien zu komponieren, wie eben jene prometheische, die im letzten Teil des Romans erscheint und dann durch den Brand zerstört wird. Als Daniel sie am Piano anklingen lässt und zu spielen beginnt, werden seine Pupillen ganz groß und ein Feuer brennt in seinen Augen.34 Der vierte Satz, der sich auf die Figur des 31 Vgl. Philipp Witkop, Deutsche Dichtung der Gegenwart (Leipzig: H. Haessel, 1924), S. 96: »Während Romain Rolland seinen Musiker Jean Christoph – allerdings mehr in Reflexionen und Rede als in Gestaltung – zum Typus eines neuen europäischen Menschen entwickelt, verzettelt Wassermanns Nothafft sich in sinnbildlosen, peinstofflichen Außenschicksalen«. 32 Wassermann, Das Gänsemännchen, S. 319. 33 Ebd., S. 332. 34 Ebd., S. 472.

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ewigen Wanderers konzentriert, der vergebens versucht, die Himmelspforte zu erreichen, wurde im schwersten Moment seiner Existenz komponiert und »versprach ein Wunder an Polyphonie zu werden. Ursein, Ursehnsucht, Urschmerz tönten in ihm«.35 Aus diesem Blickwinkel würde auch das Ende des Romans, die Flucht der Hauptfigur in die dörfliche Idylle, um dort als Musiklehrer zu wirken, eine neue Bedeutung annehmen. Es würde dann nicht mehr die definitive Aufgabe der musikalischen Ambitionen und die Niederlage des Musikers darstellen, sondern vielmehr eine Aufgabe nunmehr überholter Stilelemente. Der Mythos des wagnerschen Musikers mit seiner schwerfälligen Last unheilvoller Vorurteile würde endgültig untergehen, um der Idee eines neuen Musikers Platz zu machen, mit einem neuen Ideal der Menschlichkeit, definitiv festgehalten in den Worten des Gänsemännchens: »Es gibt aber eine Verwandlung, und durch die wird einem Absolution. Wende deinen Blick ab vom Phantom und werde erst Mensch, dann kannst du Schöpfer sein«.36

35 Ebd., S. 491. 36 Ebd., S. 595.

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Nach einer verbreiteten Auffassung repräsentieren Komponisten unterhaltender (z. B. Operette) und sogenannter ernster Musik (Oper, Symphonie, Kammermusik…) zwei unterschiedliche Künstlertypen, oder gehören verschiedenen Berufsgruppen an. Der einzige, der in beiden Bereichen ein nach Umfang und Erfolg gleich bedeutendes Œuvre aufzuweisen hat, dürfte Arthur Sullivan (1842–1900) sein, der unter den spezifischen Bedingungen des englischen Musiklebens einerseits seine Savoy Operas (meist auf absurd komische Texte von William S. Gilbert),1 andererseits eine große historische Oper (Ivanhoe), Oratorien, Anthems, Schauspielmusik, eine Symphonie etc. komponierte.2 Anderen Operettenkomponisten wurde gern eine, natürlich unglückliche, Liebe zur Oper nachgesagt,3 die in den meisten Fällen nur in den Köpfen vom bürgerlichen Kunstverständnis geprägter Kritiker existiert (was nicht ausschließt, daß Franz

1 Ob die Savoy Operas als ›Operetten‹ qualifiziert werden dürfen oder nicht, ist eine alte Streitfrage, die ewig unentschieden bleiben muß, weil eine scharfe Trennung zwischen Operette und komischer Oper gattungssystematisch gar nicht möglich ist; das Sinnvollste dürfte sein, beide Genres unter der Kategorie des ›musikalischen Lachtheaters‹ zusammenzufassen. Vgl. dazu Albert Gier, ›William S. Gilberts Dramaturgie des Absurden und ihre Bedeutung für Arthur Sullivans Musik‹, in SullivanPerspektiven: Arthur Sullivans Opern, Kantaten, Orchester- und Sakralmusik, hrsg. von Albert Gier, Meinhard Saremba und Benedikt Taylor (Essen: Oldib-Verlag, 2012), S. 35–51, insbesondere S. 35ff.; Albert Gier, Wär’ es auch nichts als ein Augenblick. Poetik und Dramaturgie der komischen Operette (Bamberg: University of Bamberg Press, 2014), S. 55–61. 2 Zum Werk Sullivans vgl. zuletzt SullivanPerspektiven und SullivanPerspektiven II: Arthur Sullivans Bühnenwerke, Oratorien, Schauspielmusik und Lieder, hrsg. von Albert Gier, Meinhard Saremba und Benedict Taylor (Essen: Oldib-Verlag, 2014). 3 Nur ein Beispiel: Über Jacques Offenbach schreibt Siegfried Kracauer (Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937), Zürich: Schweizer Druck- und Verlagshaus AG, o. J., S. 337), er hätte »den Gegenstand seiner Liebe, die große Oper, immer verfehlt«, was schon deshalb unzutreffend ist, weil die Trennungslinien zwischen Op¦ra-bouffe, Op¦ra comique und Grand Op¦ra anders verlaufen als die zwischen Operette, komischer und ernster Oper im deutschen Sprachraum.

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Leh‚r die Uraufführung seiner Giuditta an der Wiener Staatsoper 1934 als Krönung seiner Karriere empfunden hat).4 Viel weniger bekannt ist das erstaunlich lebhafte Interesse etlicher ernsthafter Komponisten (und auch Librettisten) an der Operette. Nur wenige Beispiele: Daß der achtzehnjährige Georges Bizet sich 1856 an dem Einakter-Wettbewerb beteiligte, den Jacques Offenbach ausgeschrieben hatte, um neue Stücke für sein Th¦–tre des Bouffes-Parisiens zu akquirieren, ist leicht zu verstehen, schließlich mußte sich der junge Mann einen Namen machen. Das Libretto Le Docteur Miracle von Ludovic Hal¦vy, dem Lieblingslibrettisten Offenbachs, und L¦on Battu war den Teilnehmern vorgegeben:5 Da Laurettes Vater, der Podest—, den Hauptmann Silvio nicht als Schwiegersohn akzeptieren will, schleicht dieser sich (ähnlich wie Rossinis Almaviva) verkleidet ins Haus der Geliebten ein: zuerst als Diener, der dem Schwiegervater in spe ein ungenießbares Omelett serviert; dann redet er ihm ein, es wäre vergiftet gewesen, kehrt als falscher Wunderdoktor zurück, um den ›Kranken‹ zu heilen, als Belohnung erhält er Laurette zur Frau. Bizets Musik schließt bei Offenbach an – die Zugnummer der Partitur, ein Quartett über den Satz »Voici l’omelette« im Stil der italienischen Oper,6 nimmt das berühmte Ensemble über »l’homme — la pomme!« im ersten Finale der Belle H¦lÀne vorweg –,7 aber neben parodistischen Tönen gibt es auch lyrische (für das Liebespaar), wie auch bei Offenbach das Idyllische neben dem Satirischen steht. – Auch Jules Massenet komponierte vor seinem ersten Opernerfolg (mit Le Roi de Lahore, 1877) zwei kleine Operetten,8 die im privaten Rahmen eines Kreises von Kunstmäzenen aufgeführt wurden. Um 1900 wird verschiedentlich ein Ausgleich zwischen Operette und musikalischem Drama versucht. Protagonistin in Ruggiero Leoncavallos »Commedia lirica« Zaz— (1900, Text vom Komponisten)9 ist eine Vari¦t¦sängerin (wie Em4 In einem Interview im Neuen Wiener Extrablatt (19. 1. 1934) äußerte er, daß sich damit »der Traum [s]eines Lebens erfüllte«, s. Otto Schneidereit, Franz Leh‚r : Eine Biographie in Zitaten (Berlin: VEB Lied der Zeit Musikverlag, 1984), S. 269. 5 Vgl. Josef Heinzelmann, ›Georges Bizet, Le Docteur Miracle‹, in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters: Oper – Operette – Musical – Ballett, hrsg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, 7 Bde. (München – Zürich: Piper, 1986–1997), Bd. 1 (1986), S. 348. Daß Le Docteur Miracle von den Autoren als »Op¦ra-comique« bezeichnet wird, ist ein schlagendes Beispiel für die Gattungsproblematik (s. o. Anm. 3). 6 Vgl. Heinzelmann, ›Georges Bizet, Le Docteur Miracle‹. 7 Th¦–tre de Meilhac et Hal¦vy de l’Acad¦mie FranÅaise, 8 Bde. (Paris: Calmann L¦vy, o. J.) Bd. 1, S. 211. 8 L’Adorable Bel’-Boul (1874) und B¦rangÀre et Anatole (1876, Buch von Henri Meilhac, der mit Hal¦vy Offenbachs erfolgreiches Librettisten-Tandem bildete, und Pierre Poirsot), vgl. dazu Stefan Schmidl, Jules Massenet: Sein Leben, sein Werk, seine Zeit (Mainz: Schott, 2012), S. 29, 34. 9 Vgl. Egon Voss, ›Ruggero Leoncavallo, Zaz—‹, in Pipers Enzyklopädie, Bd. 3 (1989), S. 475f.

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merich K‚lm‚ns Sylva Varescu in der Cs‚rd‚sfürstin, 1915, Text Leo Stein / Bela Jenbach, und etliche andere),10 die von einer (möglichst ehelichen) Verbindung mit einem Mann der besten Gesellschaft träumt; während in der Operette gewöhnlich die Familie des Liebhabers – letztlich erfolglos – gegen die unstandesgemäße Heirat opponiert, ist Zaz—s Geliebter bereits Ehemann und Vater, weshalb sie letztlich auf ihn verzichtet. Leoncavallos Musik sucht die »Nähe zu Vari¦t¦ und Operette«11 und verwendet auch die gattungstypischen festen Formen, was freilich »anspruchsvolle Harmonik und Instrumentation«12 nicht ausschließt. Die Musik sucht eindeutig den Ansprüchen des zeitgenössischen Opern-, nicht des Operettenpublikums zu genügen. Das Libretto zu Puccinis La Rondine (1917) wurde ursprünglich von den beiden Wiener Operetten-Spezialisten Alfred Maria Willner und Heinz Reichert konzipiert, die Uraufführung hätte im Carl-Theater stattfinden sollen, wo in den Jahren zuvor Erfolgsstücke von Carl Michael Ziehrer, Franz Leh‚r, Oscar Straus oder Leo Fall über die Bühne gegangen waren.13 Die Geschichte hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Verdis Traviata; daß die Wiener Librettisten (deren Entwurf dann von Giuseppe Adami grundlegend verändert wurde)14 ein recht frühes Beispiel einer Verzichtschluß-Operette15 konzipierten, lag wohl daran, daß Puccini vorher kaum Interesse an oder Talent für komische Stoffe gezeigt hatte (was sich mit Gianni Schicchi, 1918, natürlich grundlegend ändern sollte). Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal starrten jahrelang mit einer Mischung aus Widerwillen und Faszination auf die Operette. Hofmannsthal war sich einerseits des »unüberbrückbaren Abgrund[s] zwischen [Straussens] Musik […] und der landläufigen Operette«16 zu »Herrschaften dritten Ranges, 10 Odette Darimonde, die Hauptfigur in K‚lm‚ns Bajadere (1921, Text Julius Brammer und Alfred Grünwald) ist eine Operettendiva, ebenso Manon Cavallini – eine Massary-Rolle – in Eine Frau, die weiß, was sie will von Oscar Straus (1932, Text Alfred Grünwald); Nadja Nadjakowska in Bruno Granichstaedtens Orlow (1925, Text von Ernst Marischka und dem Komponisten) ist Tänzerin im Vari¦t¦, Cloclo Mustache in Leh‚rs Cloclo tanzt in den Pariser Folies BergÀre. AngÀle Didier in Leh‚rs Graf von Luxemburg (1909, Text Willner / Bodanzky / Stein) ist als Opernsängerin eine ungewohnt seriöse Künstlerin; u. a.m. 11 Voss, ›Ruggero Leoncavallo, Zaz—‹, S. 476. 12 Ebd. 13 Vgl. Norbert Christen, ›Giacomo Puccini, La rondine‹, in Pipers Enzyklopädie, Bd. 5 (1994), S. 124ff. Laut Stefan Frey, »Was sagt ihr zu diesem Erfolg«: Franz Leh‚r und die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts (Frankfurt am Main-Leipzig: Insel, 1999), zeige La rondine, daß sich Puccini »durchaus auch von Leh‚r inspirieren ließ«. 14 Da der Weltkrieg eine Uraufführung in Wien unmöglich machte, kam die Oper 1917 in Monte Carlo heraus, vgl. Christen, ›Giacomo Puccini, La rondine‹, S. 125. 15 Vgl. zu diesem Operettentypus Heike Quissek, Das deutschsprachige Operettenlibretto: Figuren, Stoffe, Dramaturgie (Stuttgart-Weimar : J.B. Metzler, 2012), S. 276ff. 16 Brief an Strauss vom 1. April 1923, in Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, hrsg. von Willi Schuh, Serie Musik, 8252 (München: Piper / Mainz: Schott, 1990), S. 490. Zum folgenden auch Gier, Wär’ es auch nichts als ein Augenblick, S. 361f.

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d[en] Leh‚r, Oscar Straus, Wolf-Ferrari«,17 durchaus bewußt. Andererseits störten ihn bei ihrer Zusammenarbeit beständig zwei Dinge: zum einen mangelhafte Diktion und darstellerische Defizite der Opernsänger, denen er die Qualitäten der Operettendiva Fritzi Massary gegenüberstellt, »deren Geist, Beweglichkeit, Reichtum der Nuance dem Innersten meiner eigenen schöpferischen Natur entgegenkommt«;18 zum anderen die Neigung von Strauss, Nuancen des Librettos »mit dicker Musik« zuzudecken,19 weshalb die Sänger dann ohnehin auf verlorenem Posten standen. Nur in Ariadne auf Naxos war es anders: Da die (ursprünglich geplante) »30-Minuten-Oper für kleines Kammerorchester«20 im Anschluß an Hofmannsthals Bearbeitung von MoliÀres Bürger als Edelmann in Max Reinhardts Deutschem Theater hätte gegeben werden sollen, das nicht über einen Orchestergraben verfügte, mußte der Komponist sich mit etwa 30 Instrumentalisten begnügen21, was nuanciertere Sprachbehandlung ermöglichte. Der Dichter hörte denn auch »dies unser gemeinsames Werk von allen aufs Liebste«, wie er einige Jahre später schrieb.22 Als Strauss (dem die Arbeit an der Frau ohne Schatten allmählich sauer wurde) mitten im Ersten Weltkrieg verkündete, »daß ich ein großes Talent zur Operette habe […] Ja, ich fühle mich geradezu berufen zum Offenbach des 20. Jahrhunderts«,23 mußte sich der Dichter bestätigt sehen: Die Ägyptische Helena dachte er sich als »eine Art Operette […] noch mehr Operette als Ariadne«.24 Natürlich dachte Hofmannsthal ebensowenig wie Strauss daran, sich mit den erwähnten »Herrschaften dritten Ranges« gemein zu machen: Der Komponist wünschte sich (zu diesem Zeitpunkt) »eine politisch-satirische Parodie schärfsten Stiles«,25 also eine klassische Offenbachiade; daran hatte der Dichter, für den mythologische Opern »die wahrste aller Formen« waren,26 eher 17 Brief Hofmannsthals vom 10. September 1910, in Strauss, Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 103. 18 Brief Hofmannsthals vom 1. April 1923, ebd., S. 490. 19 Vgl. den (nicht abgeschickten) Brief Hofmannsthals vom 11. Juni 1916 zum Rosenkavalier, ebd., S. 345. 20 Brief Hofmannsthals vom 20. März 1911, ebd., S. 112. 21 Zur Orchesterbesetzung vgl. Bryan Gilliam, ›Der Rosenkavalier – Ariadne auf Naxos – Die Frau ohne Schatten‹, in Richard Strauss Handbuch, hrsg. von Walter Werbeck (StuttgartWeimar : J.B. Metzler, 2014), S. 194. 22 Brief vom 18. Mai 1918, in Strauss, Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 406. 23 Brief an Hofmannsthal vom 5. Juni 1916, ebd., S. 344. 24 Brief an Rudolf Pannwitz vom 8. Dezember 1919, vgl. Albert Gier, ›Vom Leichten und Schweren. Hofmannsthals ironische Antike‹, in Das Fragment im (Musik-)Theater : Zufall und/oder Notwendigkeit? Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2002, hrsg. von Peter Csob‚di, Gernot Gruber, Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Oswald Panagl und Franz Viktor Spechtler (Anif-Salzburg: Mueller-Speiser, 2005), S. 551–563, insbesondere S. 551. 25 Brief an Hofmannsthal vom 5. Juni 1916, in Strauss, Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 344. 26 Hugo von Hofmannsthal, ›Die ägyptische Helena‹ (1928), in Prosa IV: Gesammelte Werke in Einzelausgaben (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1955), S. 460.

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wenig Interesse. Strauss wiederum sah sich offenbar außerstande, dem Wunsch Hofmannsthals nach differenzierterer Sprachbehandlung nachzukommen. So wurde Die Ägyptische Helena ein Wunderwerk, das aber der Operette so fern steht wie nur möglich. 1920 befaßte sich Hofmannsthal mit dem Plan einer ›Operette‹ über den Mythos von Danae27. Strauss scheint das Projekt zunächst nicht interessiert zu haben28 (obwohl er später Joseph Gregor das Buch zur »Heiteren Mythologie« Die Liebe der Danae ausarbeiten ließ, das allerdings kaum noch etwas mit Hofmannsthals Entwürfen gemeinsam hat).29 Die Ausgangssituation: »Alter König einer kleinen Insel, großer Herr, prachtliebend, sehr verschuldet, die ganze Insel verpfändet. Danae, das einzige Kind, muß unbedingt eine reiche Heirat machen«30 spiegelt zweifellos die wirtschaftliche Lage zwei Jahre nach Kriegsende; sie könnte aber auch von Leo Falls Liebem Augustin (1912, Text Bernauer / Welisch / Spero) beeinflußt sein: Hier ist es der Onkel der Thronfolgerin, der als Regent das Ländchen ›Thessalien‹ heruntergewirtschaftet hat und nach einem zahlungskräftigen Bräutigam sucht.31 Arabella, das letzte gemeinsame Werk von Strauss und Hofmannsthal, folgt am entschiedensten einer Operetten-Dramaturgie: Im ersten Akt fühlt sich die mondaine Arabella, die von der großen Liebe träumt (und dringend eine vor27 Dazu Gier, ›Vom Leichten und Schweren›, S. 560–563. Auf dem Konvolutumschlag, der die Notizen zu diesem Projekt enthält, lautet die Gattungsbezeichnung »Operette (Farce?)«, das dem Komponisten (am 30. April 1920, s. Strauss, Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 459f.) übersandte Szenar trägt den Untertitel »Kleine Oper in drei Akten für Richard Strauss«. 28 1920/21 diskutierte Strauss auch mit dem Theaterkritiker Alfred Kerr über das Projekt einer Antiken-Operette, das aber aufgegeben wurde, vgl. Walter Werbeck, ›Zeittafel‹, in Richard Strauss Handbuch, S. XXV; Reinhold Schlötterer, ›Strauss und seine Librettisten›, in Richard Strauss Handbuch, S. 130–145: 136. 29 Vgl. Dörte Schmidt, ›Die Liebe der Danae – Capriccio: »Schwanengesänge« in Zeiten des Krieges?‹, in Richard Strauss Handbuch, S. 282. Schmidt situiert Die Liebe der Danae »zwischen Offenbach und Wagner« (S. 285). Gregor »widerstrebte die operettenhafte Behandlung des Stoffes« (S. 286), die Strauss ausdrücklich forderte, obwohl er »sich dazu entschloss, musikalisch nur wenig direkt Operettenhaftes hören zu lassen« (S. 288) und z. B. formale Angebote des Textbuchs zu couplethafter Gestaltung kaum nutzte. 30 Hugo von Hofmannsthal, ›Danae oder die Vernunftheirat. Kleine Oper in drei Akten für Richard Strauss. Szenarium‹, in Lustspiele III: Gesammelte Werke in Einzelausgaben (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1956), S. 361. 31 In diesem Fall ist Gregors Libretto (Die Liebe der Danae: Heitere Mythologie in drei Akten. Musik von Richard Strauss op. 83 (Mainz: B. Schott’s Söhne – London: Boosey & Hawkes, o. J.), S. 7ff.) sogar noch enger an Falls Buch (Rudolf Bernauer und Ernst Welisch, Der Liebe Augustin. Operette in drei Akten. Musik von Leo Fall, Gesangs-Texte (München: »Harmonie«-Verlag – »Drei Masken«-Verlag o. J., S. 5ff.): Dem Auftritt des »Pfändungskommissärs«, der »Die großen blauen Siegel« auf Möbel und Hausrat klebt, in der Operette entspricht in der Oper die Invasion der Gläubiger, die von König Pollux »nur bares Geld« fordern, da alle Sachwerte (Land, »Gruben«, der Palast…) schon längst verpfändet sind; eine solche Szene war bei Hofmannsthal nicht vorgesehen.

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teilhafte Heirat machen muß, um ihre Familie vor dem Ruin zu retten), von einem Fremden, dem kroatischen Magnaten Mandryka, angezogen, der nach Wien gereist ist, weil er sich in ihr Bild verliebt hat. Beim Fiakerball im II. Akt kommen die beiden sich näher, aber infolge eines Mißverständnisses muß Mandryka annehmen, Arabella hätte ihn betrogen (in Wirklichkeit hat Arabellas Schwester Zdenka, die in Männerkleidung als ›Zdenko‹ agiert, weil die Familie nicht zwei heiratsfähige Töchter standesgemäß unterhalten kann, den Verehrer ihrer Schwester bei sich empfangen). Im III. Akt klärt sich alles auf, Zdenka bekommt ihren Matteo, Arabella verzeiht Mandryka. Die Scheinkatastrophe am Ende des II. Akts32 ist einer der verbreitetsten Operetten-Topoi; das Gerüst der Arabella-Handlung entspricht ziemlich genau dem von K‚lm‚ns Gräfin Mariza (1924, Text Brammer / Grünwald), wenn man davon absieht, daß dort nicht der Protagonist seine Partnerin für untreu, sondern die Dame den Herrn für einen Mitgiftjäger hält. Knapp ein Jahr vor seinem Tod versuchte Hofmannsthal Strauss ein letztes Mal zum Primat der Vokallinie zu bekehren, natürlich war dabei wieder von der Operette die Rede: wenn sich, als ein neuer Stilversuch, nicht absteigender Kräfte, sondern gesteigerter Kunsteinsicht, zu einem Weniger von Musik gelangen ließe, wenn die Führung, die Melodie etwas mehr in die Stimme gelegt und das Orchester, mindestens auf große Strecken, begleitend und nicht sich in der Symphonie auslebend, sich der Stimme subordinieren würde […] so wäre, für ein Werk dieser Art, der Operette ihr Zauberring entwunden, mit dem sie die Seelen der Zuhörenden so voll bezwingt!33

Hofmannsthal selbst, so scheint es, hat sich der Wirkung der geringgeschätzten Kunstform auf die ›Seele‹ wohl zumindest nicht ganz entziehen können. Jacques Ibert (1890–1962), »den man zu den wichtigsten, wenngleich folgenlosesten Vertretern der Zwischenkriegszeit« in der französischen Musik zählen kann,34 knüpft in seinem umfangreichen, vielfältigen Werk u. a. bei Offenbach oder Chabrier an;35 zwei seiner Bühnenwerke tragen die Bezeichnung op¦ra-bouffe.36 Sein bis heute bekanntestes Bühnenwerk, den Einakter Ang¦li32 Vgl. dazu Volker Klotz, Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, erweiterte und aktualisierte Auflage (Kassel: Bärenreiter, 2004), S. 454 und passim; Gier, Wär’ es auch nichts als ein Augenblick, S. 90–93. 33 Brief vom 26. Juli 1928, in Strauss, Hofmannsthal, Briefwechsel, S. 650f. 34 Jens Rosteck, ›Jacques Ibert‹, in Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume, zweite, neubearb. Aufl., hrsg. von Ludwig Finscher, 27 Bde. (Kassel: Bärenreiter / Stuttgart – Weimar : Metzler, 1994–2008), Personenteil, Bd. 9 (2003), Sp. 588; Werkverzeichnis, Sp. 586ff. 35 Vgl. Rosteck, ›Jacques Ibert‹, Sp. 589. 36 Vgl. Rosteck, ›Jacques Ibert‹, Sp. 586; es handelt sich um Gonzague (1931, Text R. Kerdick) und Les Petites Cardinal (1938, zusammen mit Arthur Honegger, Text Albert Willemetz [zu ihm s. u.] / Paul Brach, uraufgeführt im Th¦–tre des Bouffes-Parisiens); Les Petites Cardinal

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que (1927, Text Nino), nennt er »farce«, wohl wegen der an mittelalterliche Schwankerzählungen erinnernden Intrige:37 Ein Mann, der mit einer attraktiven, aber bösartigen Frau geschlagen ist, bietet sie kurzerhand zum Verkauf an; drei Interessenten, ein Italiener, ein Engländer und ein »Neger«, halten es jeweils nur kurze Zeit mit ihr aus, dann wollen sie den Kauf rückgängig machen. Selbst der Teufel bringt sie dem verzweifelten Ehemann zurück;38 ob Ang¦lique durch ihre Stippvisite in der Hölle wirklich geläutert ist, wie sie behauptet, bleibt offen. Die Musik schließt an die Tradition Offenbachs und Lecocqs an: »Der Auftritt des Italieners gibt Anlaß zur Parodie der Rossinischen Opera buffa […]. Synkopierte Jazzrhythmen, Blue notes und Andeutungen orientalischer Klangmuster ergeben eine eigentümliche Mixtur«.39 Die Tradition des Offenbachschen Op¦ra-bouffe bleibt in Frankreich bis zum Zweiten Weltkrieg lebendig: Arthur Honegger schrieb 1930 Les Aventures du roi Pausole (uraufgeführt in den Bouffes-Parisiens) auf ein Libretto von Albert Willemetz, dem produktivsten und erfolgreichsten französischen Operettenlibrettisten der Zwischenkriegszeit40 (nach einer Vorlage des literarischen Erotomanen Pierre Louy¨s); »das in einem exemplarischen Traumland erotischer Männerphantasie angesiedelte Sujet«41 verbindet Frivolität (ein vertrottelter König, der den Ansprüchen der 365 Frauen seines Harems nicht genügen kann; seine Tochter, die sich in eine Frau in Männerkleidern verliebt, ehe ein frecher Page sie eines besseren belehrt…) mit parodistischen Elementen. Honeggers »kompositorische Vielseitigkeit« zeigt sich an der »Souveränität, mit der er scheinbar unvermittelt über Stil und Technik der Operette verfügte«.42 Henri Sauguet (1901–1989) schrieb zu Beginn seiner langen Karriere einen

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(1880) ist eine Sammlung satirischer Erzählungen von Offenbachs Textdichter Ludovic Hal¦vy : die Töchter der Familie Cardinal sind Tänzerinnen, die sich (mit Billigung der Eltern) von reichen Männern aushalten lassen, vgl. Peter Hawig, Transformationen: Lebenswege und Netzwerke der assimilierten Familie Hal¦vy im 19. und 20. Jahrhundert, Offenbach-Studien 207–210 = Bad Emser Hefte 385–388 (Bad Ems: Verein für Geschichte, Denkmal- und Landschaftspflege e.V., 2014), Heft 3, S. 67ff. Vgl. Michel Pazdro, ›Jacques Ibert, Ang¦lique‹, in Pipers Enzyklopädie, Bd. 3 (1989), S. 138ff. Das ist eine Stoffparallele zu Respighis allerdings gar nicht operettenhafter »Commedia lirica« Belfagor (1923) nach Machiavelli, vgl. dazu Albert Gier, ›Musiktheater und Volkserzählung III. Ottorino Respighi / Claudio Guastalla, Belfagor‹, in Souvenirs. Zum 100. Geburtstag von Harri Meier (1905–1990), hrsg. von Harri-Meier-Freundeskreis, Schriftleitung: Horst und Wiltrud Bursch (Bornheim-Bonn: Selbstverlag, 2005), S. 74–78. Pazdro, ›Jacques Ibert, Ang¦lique‹, S. 138. Zu ihm vgl. den Artikel bei Kurt Gänzl, The Encyclopedia of the Musical Theatre, 2 Bde. (Oxford: Blackwell 1994), Bd. 2, S. 1556ff. (mit Werkverzeichnis). Rainer Franke, ›Arthur Honegger, Les Aventures du roi Pausole‹, in Pipers Enzyklopädie, Bd. 3 (1989), S. 107. Franke, ›Arthur Honegger, Les Aventures du roi Pausole‹, S. 106f. – Zu Honeggers und Iberts Gemeinschaftswerk Les Petites Cardinal s. o. Anm. 36 (laut Rosteck stammt der I. Akt überwiegend von Honegger, der II. überwiegende von Ibert).

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»op¦ra-bouffe militaire« Le Plumet du Colonel (1924, ein Akt, Text vom Komponisten); auch der Zweiakter Le Contrebasse (nach Tschechow, Buch Henri Troyat, 1931) trägt die Gattungsbezeichnung »op¦ra-bouffe«.43 Mit Francis Poulencs »Literaturoperette«44 Les Mamelles de Tir¦sias (1947) scheint ein Endpunkt erreicht: »Die inkohärente Dramaturgie« von Guillaume Apollinaires surrealistischem Drama (1917) ließ sich zwar »direkt in die Form der Op¦rabouffe (vor allem im Sinne Herv¦s) einpassen«,45 aber bei der Uraufführung in der Pariser Op¦ra-Comique richtete sich der Zorn des Publikums gegen ein Werk, »in dem es nichts zu verstehen hatte und gegen das es mit Tierlauten protestierte«.46 Die »op¦rettes — grand spectacle« von Francis Lopez (fast immer mit Luis Mariano in der Hauptrolle), die von 1945 bis zum Ende der sechziger Jahre die französischen Bühnen beherrschten,47 bot für Komponisten wie Honegger oder Poulenc keine Anschlußmöglichkeiten mehr. Ernst Krˇenek, der im Lauf seiner Karriere mehr als zwanzig Opern schrieb,48 faßte 1928 eine »tragische Oper« (Der Diktator) und eine »Märchenoper« (Das geheime Königreich) mit der »burlesken Operette« Schwergewicht oder Die Ehre der Nation zu einem Einakter-Triptychon zusammen; in seiner Autobiographie49 erläuterte der Komponist mehr als fünfzig Jahre später, er habe hier in satirischer Form eine Absage an die moderne Zivilisation formulieren wollen: Den Anstoß dazu gab ein Bericht über eine unglaubliche Äußerung, die der damalige deutsche Botschafter in den Vereinigten Staaten anläßlich eines Besuchs von Max Schmeling oder eines derartigen deutschen Übermenschen von sich gegeben hatte. Er hatte gesagt, daß heutzutage Preisboxer die eigentlichen Kulturträger seien, nicht mehr Wissenschaftler oder Künstler. Davon angestachelt schrieb ich eine kleine Operette, die einen dieser Helden, der als »Stolz der Nation« bejubelt und mit einem Ehrendoktorat ausgezeichnet wird, als widerwärtigen Schwachkopf bloßstellt und ihn in den beschämendsten privaten Situationen zeigt. […] [In Schwergewicht] schrieb ich nach Herzenslust Pasodobles […] Tangos, Blues und alle solche Sachen. Die Opern waren für kleines Orchester instrumentiert, und alle hatten sehr wirkungsvolle Vokalpartien.

43 Vgl. Jens Rosteck, ›Henri Sauguet‹, in Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil, Bd. 14 (2005), Sp. 1018–1022. 44 Josef Heinzelmann, ›Francis Poulenc, Les Mamelles de Tir¦sias‹, in Pipers Enzyklopädie, Bd. 5 (1994), S. 60. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Vgl. dazu Claude Dufresne, Histoire de l’op¦rette (Paris: Fernand Nathan 1981), S. 136–162. 48 Vgl. das Werkverzeichnis bei Matthias Schmidt, ›Ernst Krˇenek‹, in Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil, Bd. 10 (2003), Sp. 677. 49 Ernst Krenek [sic], Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne, aus dem amerikanischen Englisch von Friedrich Saathen, revidierte Übersetzung von Sabine Schulte (Hamburg: Hofmann und Campe 1998), S. 633.

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Die Nähe zu Offenbach und dem Op¦ra-bouffe ist offensichtlich. – In England versuchte Ralph Vaughan Williams mit The Poisoned Kiss (1936, Text Evelyn Sharp) an die Tradition der Savoy Operas von Arthur Sullivan anzuknüpfen, allerdings verleihen Text und Musik lyrisch-gefühlvollen Momenten ein klares Übergewicht gegenüber absurder Komik, wie sie in den Libretti Gilberts dominiert.50 Überblickt man die hier angeführten Beispiele (die sich natürlich ohne weiteres vermehren ließen), so zeichnen sich zwei Tendenzen ab: Die meisten Komponisten (und Librettisten), die sich auf das ihnen fremde Gebiet der Operette begeben, denken dabei an Satire, Parodie und burleske Komik im Stil Offenbachs – das gilt für alle Franzosen, für Ernst Krˇenek und auch für Richard Strauss, wenn er mit Hofmannsthal oder Kerr über entsprechende Projekte nachdenkt. Hofmannsthal dagegen liegen Stoffe und Dramaturgie der Wiener Operette nicht völlig fern, wie sich vor allem an Arabella zeigt; Giordano und Puccini rufen das mondaine Personal der (Wiener) Operette auf, um eine unglücklich endende Handlung in Szene zu setzen. Vaughan Williams nimmt eine Zwischenstellung ein, da er eine Geschichte, deren Märchenhaftigkeit und (abgemilderte) Absurdität durchaus nach Paris oder London paßt, auf Wiener Art erzählt. Franz Schreker51 scheint auf den ersten Blick nicht in dieses Bild zu passen: Alle seine neun Opern, zu denen er mit nur einer Ausnahme52 die Libretti selbst schrieb, enden unglücklich, meist mit einer Katastrophe. Viele seiner weiblichen Hauptfiguren (die Titelfigur in Das Spielwerk und die Prinzessin, 1913; Els in Der Schatzgräber, 1920; Lisa in Christophorus oder Die Vision einer Oper, komponiert 1929; auch Irmgard in Flammen, komponiert 1901/02, und Carlotta in den Gezeichneten, 1918, die freilich selbst Opfer sind) verkörpern den Typus der Femme fatale, die in der Operette praktisch keine Rolle spielt (einzige prominente Ausnahme wäre Leh‚rs Giuditta).53 Andererseits ist bei Schreker wie in der Operette sexuelles Begehren das Hauptmotiv allen Geschehens,54 das freilich in 50 Vgl. Albert Gier, ›Ungeküsst sollst du nicht schlafen gehen. The Poisoned Kiss: Ralph Vaughan Williams in der Nachfolge der Savoy Operas‹, in SullivanPerspektiven II, S. 67–87. 51 Vgl. Albert Gier, ›Franz Schreker, compositeur-librettiste‹, in Le monde germanique et l’op¦ra: Le livret en question, hrsg. von Bernard Banoun und Jean-FranÅois Candoni (Paris: Klincksieck 2005), S. 277–293. 52 Das Buch zu Schrekers erster Oper Flammen, die erst in neuerer Zeit (1985, in einer Bearbeitung von Peter P. Pachl; vollständig in Kiel 2001, vgl. Ulrike Kienzle, ›Franz Schreker‹, in Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil, 15 [2001], Sp. 33–43, insbesondere S. 37) uraufgeführt wurde, stammt von Dora Leen. 53 Vgl. Gier, Wär’ es auch nichts als ein Augenblick, S. 208. 54 Überdeutlich in Gretes »leidenschaftlichem Aufschrei« als Reaktion auf das ›Waldweben‹ im Fernen Klang: »Ach Fritz, warum / bist Du fern – / von mir!« (Franz Schreker, Der ferne Klang. Oper in drei Aufzügen [Textbuch] (Leipzig – Wien: Universal Edition o. J.), I. Akt 7. Szene, S. 20).

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der Operette als lustvoll, bei Schreker meist als rätselhaft, bedrückend und chaotisch erfahren wird.55 Begehren artikuliert sich in der Operette56 wie z. B. in Schrekers Christophorus im (Paar-)Tanz: Wenn Lisa im Begriff ist, ihren Mann zu betrügen, singt sie im Duett mit Anselm: Nicht kenn ich mehr Schranken, nicht tanzen will ich, fliegen, schweben, schweben im All, im All. Vergehen, Vergehen – Ah!57

Schreker hat wie die Operettenlibrettisten eine Vorliebe für vornehm-luxuriöse Schauplätze: Der zweite Akt des Fernen Klangs führt uns in »›La casa di maschere‹, ein Tanzetablissement (Rendezvousort der galanten Welt von Venedig) auf einem Eiland im Golf von Venedig«58 – ein Luxusbordell, in dem Grete (oder ›Greta‹, wie sie sich inzwischen nennt) eine umschwärmte (wenn auch von dem Leben, das sie führt angeekelte) Kurtisane geworden ist. Der Ort scheint eine vornehmere Variante der ›Roten Mühle‹, des Moulin Rouge in Paris (damals ein Tanzlokal), das die Touristen in Franz Leh‚rs Mann mit den drei Frauen besingen: Ein Fräulein Gigolett’ / beherrscht dies Königtum, / Ein Tanzgenie voll Grazie, / zum Schein ein wenig dumm. […] Doch brennt sie Herz und Tasche / mit dem Kuß zu Asche / und nach dem Tanze im Boskett, / da zeigt sich Fräulein Gigolett’ / von ihrer allerbesten Seite, / da schmiegt sie sich gar zärtlich an / beweist, daß sie auch küssen kann, / o glaubet mir, wie keine zweite!59 55 Vgl. dazu Gier, ›Franz Schreker compositeur-librettiste‹, S. 277ff.; zum Einfluß Otto Weiningers auf den Komponisten ebd., S. 286f. 56 Vgl. Gier, Wär’ es auch nichts als ein Augenblick (Anm. 1), S. 231–235. 57 Frank Schreker, Christophorus, I. Akt Zweites Bild 4. Szene, zitiert nach dem Beiheft der Aufnahme (Mitschnitt Opernhaus Kiel 2002/03, Dirigent Ulrich Windfuhr): 2 CD 2005, cpo 999 903–2, S. 109 (natürlich spielt hier auch der Liebestod Tristans und Isoldes hinein); den Walzerrhythmus, der sich hier einem Operettenkomponisten reflexartig aufdrängt, hat Schreker bemerkenswerterweise vermieden. – Parallelen lassen sich bis in Details aufweisen: Wenn Lisa in Christophorus ihre Mutterschaft als den Ruin ihrer Schönheit beklagt – »Ah, die Natur, die du / preist, sie ist grausam. / Furchtbar der Fluch, / der uns auferlegt: / zu gebären in Blut, / Leben schenkend / uns selbst vernichtend, / erkennend, wie rasch all die / Schönheit schwindet, / der Leib zerfällt, und / zerbricht wie Glas! / Ich selbst will leben / und jung sein / und schön! / Ich selbst, ich selbst!« (S. 99) – spricht sie recht krud aus, was viele unverheiratete Operettenfrauen so oder ähnlich denken (vgl. Gier, Wär’ es auch nichts als ein Augenblick, S. 281). 58 Schreker, Der ferne Klang, S. 24. 59 Franz Leh‚r, Der Mann mit den drei Frauen. Operette in drei Akten von Julius Bauer. Klavierauszug mit Text (Wien: Ludwig Doblinger Ó 1907), Nr. 6, S. 23ff.

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Zur Unterhaltung der Gäste trägt u. a. der »Chevalier« seine Geschichte von den »Blumenmädchen von Sorrent« vor,60 die einen reizvollen Operettenstoff abgäbe: Eines der Blumenmädchen (»nimmt man der Kleinen / den ganzen Korb – / mit den Blüten gibt sie sich selbst«) hat den Sänger dazu gebracht, sie zu heiraten, und jetzt zahlt sie ihm jede eheliche Untreue durch eine eigene Eskapade heim. Die Musik imitiert zumindest im (vom Damenchor zweimal wiederholten) Incipit – »Wer kennt sie nicht, / die reizenden, kleinen / Blumenmädchen von Sorrent?« –61 typischen Operettenstil. Alvianos Paradiesgarten auf der Insel ›Elysium‹ vor der Küste von Genua gestaltete Schreker – möglicherweise nach dem realen Vorbild der Isola Bella im Lago Maggiore –62 zu einer hochgradig sexualisierten, eher kitschigen Synthese aus Kunst und Natur im Makart-Stil,63 die ein bißchen an das Atelier erinnert, das sich der zu Geld gekommene Maler Ronai in K‚lm‚ns Faschingsfee (1915) einrichtet.64 Der zweite Akt von Christophorus spielt in »einer Art Tanzdiele« mit »ein[em] 60 Schreker, Der ferne Klang, S. 38–41. Blumenmädchen, Obstverkäuferinnen u. ä. Figuren sind bei den Operettenlibrettisten beliebt; in Rund um die Liebe von Oscar Straus (1914, Text Robert Bodanzky / Friedrich Thelen) nimmt Comtesse Stella als Blumenmädchen verkleidet den ihr bestimmten Ehemann unter die Lupe; in Walter Kollos Marietta (1923, Text Willi Kollo / Bodanzky), sind zwei Orangenverkäuferinnen, eine echte und eine falsche, unterwegs; etc. 61 Schreker, Der ferne Klang, S. 38. 62 Dazu Albert Gier, ›Der Duke of Portland auf der Isola Bella. Was Schreker zu den Gezeichneten inspirierte‹, in »Regietheater«: Konzeption und Praxis am Beispiel der Bühnenwerke Mozarts. Mit einem Anhang zu Franz Schreker Die Gezeichneten, Vorträge des Salzburger Symposions 2005, hrsg. von Jürgen Kühnel, Ulrich Müller und Oswald Panagl (Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 2007), S. 408–421, insbesondere S. 417–421. 63 Theodor W. Adorno kritisierte Schreker (recht parteiisch und gehässig) als »Atelierkünstler«, in ›Schreker‹ [1959], in Musikalische Schriften I–III: Klangfiguren (I) – Quasi una fantasia (II) – Musikalische Schriften (III), Gesammelte Schriften, 16 (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997 [11978]), S. 370. 64 Dr. A.M. Willner und Rudolf Oesterreicher, Die Faschingsfee: Operette in drei Akten, Musik von Emmerich K‚lm‚n, Soufflier- und Regiebuch, Nach der Einrichtung des MetropolTheaters in Berlin von Oberregisseur Emil Guttmann (Leipzig-Wien: Josef Weinberger, 1917), S. 25 (Beschreibung des Bühnenbilds zum II. Akt): »Die Bühne stellt einen mit üppig künstlerischem Luxus ausgestatteten Empfangssalon dar […] In der Mitte der Hinterwand ein reiches, von korynthischen [sic] Säulen flankiertes Portal, mit figuralem Giebel. Durch dieses Portal, welches durch eine schwere Seitenportiere verschlossen werden kann, blickt man in das eigentliche Atelier, das heute festlich geschmückt ist; an der Rückwand des Empfangssaales über einer kostbaren Lamperie große Gobelins an den Wänden. […] Zwei hohe Girandols bezeichnen die Mündung der Treppe, deren Marmorballustrade [sic] in geschwungenem Bogen teilweise noch sichtbar ist. […] Künstlerische Einrichtung: Teppiche, Felle, Gobelins, farbige Beleuchtungskörper, großer Onyxkamin, künstlerisch geschnitzte Armstühle in Brokat, gemischt mit modernem Meublement. Indische Vasen, Räucherpfannen, exotische Waffen und Musikinstrumente. An der Wand rechts u. a. ein Tamburin«.

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Klavier und d[em] bei Jazzmusik übliche[n] Schlagwerk, das von einem Neger bedient wird« – »Im Vordergrunde einige kleine Tische mit bequemen Fauteuils, an diesen die typischen Erscheinungen der Besucher derartiger Stätten«. Das Lokal ist aber nicht so unschuldig, wie es scheint: »Die zweite Hälfte der Bühne ist ein düsterer Raum in Rot, mit Ruhebetten für den Genuß von Opium«65 . Unter den Gästen ist ein lesbisches Paar66 (von weiblicher Homosexualität ist in der Operette kaum die Rede).67 Die Sängerin Rosita trägt68 – während gleichzeitig Hartung und Christoph ein Gespräch führen, in dem Sprechen und Sprechgesang miteinander abwechseln – ein Chanson vor, für das Schreker jazzartige Musik geschrieben hat.69 Jazz-Anklänge sind vor allem in den Operetten Emmerich K‚lm‚ns häufig, nicht nur in der Herzogin von Chicago (1928, Text Brammer / Grünwald), wo der Gegensatz von ›Wiener Musik‹ und Jazz zum Thema wird.70 Es soll keinesfalls behauptet werden, daß Schreker sich an allen hier angeführten Stellen bewußt auf die zeitgenössische Operette (oder gar auf bestimmte Werke) bezieht. Man wird es sich eher so vorzustellen haben, daß der Komponist – ähnlich wie z. B. Giordano – ein bestimmtes Ambiente oder bestimmte Situationen auf die Bühne zu bringen wünschte, die für das Publikum attraktiv waren und eben deshalb auch in der Operette häufig vorkamen. Im übrigen könnten Einflüsse in die eine wie die andere Richtung gegangen sein, wie das Verhältnis Schrekers zu Franz Leh‚r zeigen mag:71 Die Malerin Carlotta in den Gezeichneten beginnt ein Portrait des häßlichen Alviano; damit sein Gesicht den hoffnungsvoll-glücklichen Ausdruck zeigt, den sie braucht, gesteht sie ihm ihre Liebe. Sobald es vollendet ist, verliert sie das Interesse an ihm (wenig später wird die herzkranke Frau ein Opfer der sexuellen Unersättlichkeit Tamares). 65 Schreker, Christophorus, S. 112. 66 Ebd., S. 114ff.: Wenn Anselm mit Silia (»Mannweib, mit tiefer Stimme«) flirtet, sagt sie zu ihrer Freundin Mabel: »Kokett wie ein Mädchen! / Man wird normal«. 67 Aber in Eine Frau, die weiß, was sie will von Oscar Straus (1932, Text Alfred Grünwald), wenn Fritzi Massary (im Lied »Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?«) den Klatsch ausbreitet, der über »Frau Ypsilon, die schöne, schlanke Blonde« in Umlauf ist, heißt es: »sie ist auch außerdem ein bißchen andersrum«, vgl. Gier, Wär’ es auch nichts als ein Augenblick, S. 363. 68 Schreker, Christophorus, II. Akt 3. Szene, S. 119ff. 69 Zu den Spuren, die Jazz und verwandte Musikstile in der Kunstmusik der Zwischenkriegszeit hinterlassen haben, vgl. Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, 7) (Laaber : Laaber-Verlag 1996), S. 159–166. 70 Vgl. vor allem Kevin Clarke, »Im Himmel spielt auch schon die Jazzband«: Emmerich K‚lm‚n und die transatlantische Operette 1928–1932 (Hamburg: von Bockel 2007), S. 125–167 und passim. 71 Vgl. auch Albert Gier, ›Franz Schreker und Franz Leh‚r‹, Mitteilungen des Dokumentationszentrums für Librettoforschung, 21 (Februar 2012), S. 6ff.

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In Franz Leh‚rs Operette Wo die Lerche singt bittet der Maler S‚ndor während eines Sommeraufenthalts in der Puszta das Bauernmädchen Margit, ihm Modell zu sitzen; wenn es Zeit wird, nach Budapest zurückzukehren, ist ihr Bild noch nicht fertig, deshalb nimmt er sie kurzerhand mit und macht sie zu seiner Geliebten. Margit hat Schwierigkeiten, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, deshalb entfremdet er sich allmählich von ihr ;72 wenn sich auf ihrem Gesicht endlich wieder einmal der (trotzige) Ausdruck zeigt, den er braucht, um das Bild zu vollenden, ist das zugleich das Ende ihrer Beziehung: Margit kehrt in ihr Dorf, S‚ndor zu seiner früheren Geliebten zurück. Etwas Ähnliches findet man schon in Johann Straußens Carneval in Rom (1873, Text Joseph Braun und Richard Gen¦e): Der Maler Arthur Bryk hat in Tirol ein Bauernmädchen, mit dem er eine kurze Liebschaft hatte, portraitiert und ihr das Bild geschenkt, ehe er nach Rom weitergezogen ist; sie hofft auf seine Rückkehr, er aber denkt längst nicht mehr an sie. Allerdings war hier nicht die Vollendung des Bildes (die Bryk keine besondere Mühe gemacht zu haben scheint) Anlaß für seine Weiterreise, die offenbar von Anfang an so geplant war. Das (ursprünglich für Alexander von Zemlinsky gedachte) Buch der Gezeichneten ist im Frühsommer 1911 entstanden.73 Das deutsche Buch zu Wo die Lerche singt schrieben Alfred Maria Willner und Heinz Reichert nach dem Libretto von Ferencz Markos, die Uraufführung in Budapest fand am 1. Februar 1918, die österreichische Erstaufführung am 27. März des gleichen Jahres statt;74 Die Gezeichneten hatten einen Monat später, am 25. April, in Frankfurt/M. Premiere. Hätte Markos Schrekers Buch kennen können? Der Komponist der Gezeichneten war mit Leh‚r bekannt; 1926 schaute er sich in Berlin Paganini an,75 zur Wiener Erstaufführung von Schön ist die Welt 1931 schickte Leh‚r ihm Karten.76 Ob Schreker mit ihm von seinem Libretto sprach, ob Leh‚r seinen Librettisten davon erzählte, werden wir vermutlich nie erfahren. 1910 wurde in Wien Leh‚rs Zigeunerliebe uraufgeführt (Buch Willner/Bodanzky). Es handelt von der Rivalität zwischen dem Bojarensohn Jonel und seinem Halbbruder, dem Zigeunergeiger Jûzsi, der Jonels Braut Zorika begehrt (und zumindest kurzfristig zu verwirren versteht). Letztlich erweist sich Jonel als der treuere und zuverlässigere Verehrer, und sie kehrt zu ihm zurück. 72 Vorlage für das Libretto war das Rührstück Dorf und Stadt von Charlotte Birch-Pfeiffer, das seinerseits auf einer Erzählung von Berthold Auerbach basiert, s. ebd.; bei beiden ist nicht die Vollendung des Bildes Auslöser für die Entfremdung des Paares. 73 So Lewis Wickes, ›Franz Schreker, Die Gezeichneten‹, in Pipers Enzyklopädie, Bd. 5 (1994), S. 637–641, hier S. 638. 74 Laut Frey, »Was sagt ihr zu diesem Erfolg«, S. 154, schloß Leh‚r die Komposition von Wo die Lerche singt 1916 ab. 75 Vgl. Norbert Linke, Franz Leh‚r (Reinbek: Rowohlt, 2001), S. 85. 76 Vgl. Frey, »Was sagt ihr zu diesem Erfolg«, S. 176f.

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In Schrekers Irrelohe (1924) werben der zügellose Graf Heinrich und Peter, sein Halbbruder (Heinrichs Vater hatte Peters Mutter vergewaltigt), um die Gunst der Försterstochter Eva. Heinrich ringt sich schließlich dazu durch, sie zu heiraten; während der Hochzeitszeremonie wird er von Peter angegriffen und tötet ihn. Der frühere Liebhaber von Peters Mutter, der nach der Vergewaltigung verschwunden war und endlich zurückgekehrt ist, brennt Schloß Irrelohe nieder, um sich zu rächen. Schreker entwickelte, wie er selbst berichtet hat,77 die Handlung ausgehend von dem Namen Irrelohe, der während einer Zugfahrt zufällig in sein Bewußtsein gedrungen war. Seine Geschichten erfand er gewöhnlich selbst, verwendete dabei aber literarische Motive und Versatzstücke, wobei er unterschiedslos auf hohe und Trivialliteratur zurückgriff.78 Könnte ihm der Plot von Zigeunerliebe in den Sinn gekommen sein? Zwei Brüder, die um dieselbe Frau streiten, sind in Literatur und Theater – von Schillers Räubern bis zum Trovatore – natürlich weiß Gott nicht ungewöhnlich; daß es sich dabei um einen legitimen und einen illegitimen Sohn handelt, scheint allerdings eher selten zu sein. Grete im Fernen Klang wird zur Kurtisane, weil ihr Geliebter, der Komponist Fritz, sie verläßt, um seiner künstlerischen Berufung zu folgen, und weil ihre Eltern sie zur Ehe mit einem unmöglichen Mann zwingen wollen. Leh‚rs Giuditta (1935, Text Paul Knepler und Fritz Löhner-Beda) wird Nachtclubtänzerin und Kurtisane, weil ihr Geliebter Octavio sie verläßt, um seinen Pflichten als Offizier nachzukommen; er ist also gewissermaßen ein Don Jos¦, der seinem Leutnant Zuniga nicht Carmens wegen den Gehorsam verweigert. Daß Leh‚rs Librettisten bei Giuditta an den Fernen Klang gedacht haben, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Überhaupt scheinen nachweisbare Abhängigkeiten zwischen Texten weniger wichtig als die Tatsache, daß es ein aus der kulturellen Tradition des Bildungsbürgertums wie aus der Trivialliteratur (einschließlich des, vor allem französischen, Unterhaltungstheaters) gespeistes Reservoir von Topoi, Motiven, Situationen etc. gibt, aus dem auch ambitionierte Künstler (nicht erst im 20. Jahrhundert) regelmäßig schöpfen, wobei der Operette eine nicht unwichtige Vermittlerrolle zukommt.79 So mag auch eine auf den ersten Blick intrigierende Übereinstimmung nicht auf Abhängigkeit, sondern auf Anregung durch gleiche oder ähnliche Prätexte hindeuten: Am 15. März 1913 wurde gleichzeitig in Frankfurt am Main und Wien Schrekers Oper Das Spielwerk und die Prinzessin uraufgeführt. Schreker selbst hat den Sinn des »Spielwerks« erläutert: 77 Vgl. Susanne Rode-Breymann, ›Franz Schreker, Irrelohe‹, in Pipers Enzyklopädie, Bd. 5 (1994), S. 644ff., insbesondere S. 644. 78 Vgl. Gier, ›Franz Schreker compositeur-librettiste‹, S. 289. 79 Dazu auch Gier, Wär’ es auch nichts als ein Augenblick, S. 173f.

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Der »Meister« oder »Gott« oder die »Natur« haben in des Menschen Brust etwas Geheimnisvolles gelegt, etwas seltsam Vibrierendes, gleichsam Tönendes […] Nennt es den »Trieb«, den der Meister in alles, was Lebens sich freut, gelegt, das Schöpfungswunder ewiger Erneuerung – oder nennt es »Sinnlichkeit«, »verderbliche Brunst« – der Ursprung ist es von allem Guten und Bösen, von Seligkeit und Enttäuschung, Glück und Elend, Leben und Tod: das Göttliche und das Teuflische […]80

Meister Florian hat das wunderbare Spielwerk zu erhabenem Zweck konstruiert, aber sein Gehilfe Wolf, so scheint es, hat es pervertiert. Florians Frau Liese wurde Wolfs Geliebte, sein Sohn verfiel den Reizen der Prinzessin, die auf dem Schloß lebt; seine Fiedel und das Spielwerk tönten nur noch Rausch und Sinnestaumel. Schließlich jagte Florian Frau und Sohn davon und ließ das Spielwerk verstummen; seitdem siecht die Prinzessin krank und traurig dahin. (Wie es zur finalen Katastrophe mit Aufruhr, Brand des Schlosses – in dem die Prinzessin und ein Wanderbursche, mit dem sie fliehen wollte, vielleicht umkommen – und der Hütte mit dem Spielwerk kommt, braucht uns hier nicht zu interessieren.) Am 27. Februar 1914 hatte im Wiener Johann Strauß-Theater Carl Michael Ziehrers Operette Das dumme Herz (Text Rudolf Oesterreicher und Wilhelm Sterk) PremiÀre. Hier gibt es ein Walzerlied, in dem erzählt wird, wie »ein Meister Florian, fünfhundert Jahr sind’s her« in langer, mühevoller Arbeit »ein Uhrenwerk« konstruierte, »wie’s keines gab sonst mehr«.81 Wenn die Uhr schließlich »mit ihrer Glocken Pracht« erklingt, graviert er in ihren »Schrein« den Sinnspruch, der den Refrain (Valse lento) bildet: Das Herz ist nur ein Uhrwerk, das stolz den Schöpfer preist, es klingt in vollen Tönen, wenn »Lieb« den Zeiger weist. Das Herz ist nur ein Uhrwerk, des Schöpfers Meisterstück, und du brauchst, soll schön es läuten, nur Glück, ein bisserl Glück!82

Das »bisserl Glück« blieb Florian versagt: Er hat die Uhr für »ein liebes Mädel« gebaut, »doch fand er kein Gehör«. Daraufhin »griff er in die Glockenuhr und hat sie stumm gemacht«, verließ die Stadt, und »Den armen Meister Florian hat keiner mehr gesehn«. Natürlich ist die Aussage banaler als bei Schreker, bei dem das Spielwerk die ambivalente (positive oder zerstörerische) Macht des Eros symbolisiert; Ziehrers Librettisten stellen bloß fest, daß ein erfülltes Leben ohne Liebe nicht möglich und diese ohne »ein bisserl Glück« nicht erreichbar ist (was eine recht 80 Rudolph Stephan Hoffmann, Franz Schreker (Leipzig-Wien-Zürich: E.P. Tal, 1921), S. 23f.; vgl. Gier, ›Franz Schreker, compositeur-librettiste‹, S. 291. 81 Einzeldruck: Das Herz ist nur ein Uhrwerk. Walzerlied aus Carl Michael Ziehrer, Das dumme Herz, Text: Rudolf Osterreicher [sic] und Wilhelm Sterk, Musik: C.M. Ziehrer (Wien: Ludwig Doblinger o. J.), 4 S., Platten-Nr. D. 5279. 82 Ziehrer, Das dumme Herz.

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Albert Gier

kleinbürgerliche Weltanschauung verrät). Schrekers Libretto und dem Liedtext sind allerdings der Name Florian (die Figur vereinigt in sich Züge von Schrekers »Meister« und seinem Sohn) und die Verbindung, die zwischen dem persönlichen Unglück des Protagonisten und dem Verstummen des Spiel- (bzw. Uhr-) werks hergestellt wird, gemeinsam, was nicht leicht als Zufall erklärt werden kann. Sollten die Librettisten bewußt auf Schrekers Oper angespielt haben, die knapp ein Jahr vorher in Wien durchgefallen war? Um den erfolglosen Komponisten zu verspotten oder um sich von dem verständnislosen Publikum zu distanzieren? Sich dazu eine Meinung zu bilden, fällt schwer. Die Beziehungen zwischen Operette und ernster Oper sind offenbar komplexer, als wir gewöhnlich anzunehmen geneigt sind.

Valentina Savietto

Intermediales Potenzial und musikalisches Pathos. Zu Klaus Manns Musiker-Roman Symphonie Pathétique

»Mit schwelgerischem Exhibitionismus wird das zur Melodie, was in unseren Herzen das Verborgenste war. Traurigkeit ohne Grenzen. Seufzer der Lust. Tränenvolle Umarmung. Hinschmelzen der Seele in Zärtlichkeit. […] Musik, Erlösung, Zärtlichkeit und Tod.«1

Mit diesen Worten drückt sich der jüdische und homosexuelle Schriftsteller Richard Darmstädter in Klaus Manns Zeitroman Treffpunkt im Unendlichen (1932) über die Wollust der Musik aus, die er mit den berauschenden Jazz- und Tango-Tönen identifiziert. Musik wird als emotionelles Vehikel bezeichnet, denn sie erweckt nicht nur »eine[] orgiastische[] Sentimentalität«,2 sondern dringt auch in die intimste Dimension der Seele ein und enthüllt die geistigen Bedürfnisse der Figur, sprich jedes Individuums. Obwohl dieser Gedanke anscheinend auf eine romantische Attitüde des Lauschens zurückgreift,3 definiert er sich im Werk eines Autors wie Klaus Mann (1906–1949) als gänzlich produktiv und modern, weil die sehnsuchtsvolle Sentimentalität des fiktionalen Künstlers mit dem Phänomen des Schlagers und der neuen amerikanischen Musik verquickt wird. Zugleich attestiert diese Passage, dass komplexe musikliterarische Verflechtungen im mannschen Werk bestehen, die wegen der überwiegenden Zentrierung der Klaus-Mann-Studien auf den Sexualitäts- bzw. EngagementsDiskurs noch zu entdecken sind. Folglich ziele ich mit diesem Aufsatz darauf hin, einen Beitrag zum wenig untersuchten Bereich ›Klaus Mann und die Musik‹ aus einer intermedialen Perspektive zu leisten.

1 Klaus Mann, Treffpunkt im Unendlichen, mit einem Nachwort von Fredric Kroll (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2007), S. 195. 2 Ebd., S. 194. 3 Vgl. Werner Keil, ›Dissonanz und Verstimmung: E. T. A. Hoffmanns Beitrag zur Entstehung der musikalischen Romantik‹, in E. T. A. Hoffmann: Deutsche Romantik im europäischen Kontext, hrsg. von Hartmut Steinecke (Berlin: Erich Schmidt, 1993 = E. T. A. HoffmannJahrbuch, 1), S. 119–132.

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I.

Valentina Savietto

Symphonie Pathétique: Quellen und Entstehung

In seiner ersten Autobiografie Kind dieser Zeit (1932) legt Klaus Mann, Sohn und Kollege Thomas Manns, den Akzent auf die künstlerischen Voraussetzungen, die sein Schaffen vom väterlichen unterscheiden. Unter den vielen antithetischen Paaren setzt er dem Prinzip des Musikalischen, das seinen Vater und dessen Werk charakterisiert, das Plastische entgegen.4 Dennoch stellt dieses Statement keinen wahrhaftigen Verzicht auf musikalische Interessen dar, wie Bezüge auf moderne Musik schon im Erstlingsroman Der fromme Tanz. Abenteuerbuch einer Jugend (1925), aber auch in Treffpunkt im Unendlichen und noch deutlicher im späteren Werk Symphonie Path¦tique. Ein Tschaikowsky-Roman (1935) beweisen. Den Auftakt zur Niederschrift dieser Künstlerbiografie bildet ein weiteres Stück musikalischer Prägung, nämlich das Kantatenfragment Fluch und Segen, das der Schriftsteller im Dezember 1934 auf Anregung von Therese Giese als »eine[] grosse[] ›Menschheits-Kantate‹«5 entwarf. Auch in diesem Fall verweist das geschilderte Sujet auf den Zusammenhang zwischen Musik und Gefühl, insbesondere tauchen mehrere Motive auf, die für die Konzipierung des Tschaikowsky-Romans ebenso konstitutiv sind wie die menschliche Einsamkeit (»Ich bin einsamer als ein Stein und ein Ding/ denn Stein und Ding wissen doch nicht,/ dass sie einsam [sind]«)6 oder die Idee eines persönlichen bzw. künstlerischen Auftrags (»Der Auftrag ist gegeben,/ schliesst alles ein./ Wir haben nur dies Leben,/ und es schliesst alles ein«).7 Für den Tschaikowsky-Stoff hatte Klaus Mann eine wahrhaftige Vorliebe, er fühlte sich dem russischen Komponisten wegen seiner Homosexualität und seiner künstlerischen Auffassung sehr nah. Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893) war Kosmopolit und hielt sich wegen seiner Musik sowie seiner sexuellen Orientierung für einen Heimatlosen. Diese Aspekte wurden im mannschen Werk besonders stark hervorgehoben und stellen die wichtigsten 4 Vgl. Klaus Mann, Kind dieser Zeit (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2010), S. 231: »Deshalb liebte ich es, das Katholische vor dem Protestantischen zu betonen; das Pathetische vor dem Ironischen; das Plastische vor dem Musikalischen; die ›Vergottung des Leibes‹ vor der ›Sympathie mit dem Abgrund‹ (das heißt: den Eros als Prinzip des Lebens, der Gestalt gegen den Eros als Verführer zum Nichts; den ›Siebenten Ring‹ gegen den ›Tod in Venedig‹). Das Extravagante, Exzentrische, Anrüchige gegen das maßvoll Gehaltene; das irrational Trunkene gegen das von der Vernunft Gebändigte und Beherrschte«. 5 Klaus Mann, Tagebücher, hrsg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1995), Bd. 2: 1934–1935, S. 81 (26. 12. 1934). Vgl. Fredric Kroll, Klaus Täubert, Rudolf Cyperrek, Klaus-Mann-Schriftenreihe (Wiesbaden, Hamburg: Edition Klaus Blahak, Männerschwarm, 1976- ), Bd. 4.1: Repräsentant des Exils: 1933–1934. Sammlung der Kräfte (1992), S. 311–314. 6 Klaus Mann, Fluch und Segen: Fragment einer Kantate aus dem Nachlaß, hrsg. von Uwe Naumann (Schriesheim: Frank Albrecht, 1997), S. 21. 7 Ebd., S. 26.

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Berührungspunkte zwischen dem Schriftsteller und dem Musiker dar, wie man aus Klaus Manns letzter Autobiografie Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht (posthum, 1952) entnehmen kann.8 Außerdem verband der Autor seinen eigenen Zustand als Exilant aus politischer Sicht mit Tschaikowskys Gefühl des Außenseitertums. Während Klaus Mann als Herausgeber der Monatsschrift Die Sammlung und als antifaschistischer Kämpfer beschäftigt war, charakterisierte er den Protagonisten seines Romans als Opfer des strengen und gespannten Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts. Erste Impulse zur Tschaikowsky-Biografie erhielt der Intellektuelle während seiner Amsterdamer Exilphase. Im Januar 1934 besuchte er zusammen mit dem Verleger Fritz Helmut Landshoff ein Konzert im Concert-Gebouw, auf dessen Programm Tschaikowskys 4. Sinfonie in f-Moll op. 36 (1877), das ›dramatische Gedicht‹ Manfred op. 115 (1852) von Robert Schumann sowie verschiedene Stücke von C¦sar Franck standen. Aber Klaus Manns »Lust, über Tschaikowsky zu schreiben«,9 wuchs entschieden, nachdem er anlässlich des Ersten Schriftstellerkongresses der Sowjetunion Moskau und St. Petersburg besichtigt hatte, weil er in diesem Zeitraum mit den Hauptwohnorten des Musikers eng in Berührung kam. Obwohl Klaus Mann aus dieser Erfahrung einen emotionellen Gewinn im Hinblick auf das Tschaikowsky-Thema zog, erwies sich der Kongress selbst als eine schmerzliche Enttäuschung. Klaus Mann zufolge mangelte er an philosophisch-intimen Diskursen, deren Wichtigkeit mit der politischen Tätigkeit in Einklang gebracht werden sollte. Aus diesem Grund entwickelt der Autor in seinen Notizen in Moskau (1934) folgende Gedanken: Ist eine materialistische, optimistische Weltauffassung wirklich die Voraussetzung für den politischen guten Willen? Für die Verwendbarkeit im Dienste der guten Sache? Ist der nicht-materialistische Schriftsteller wirklich schon reaktionär und arbeitet, ohne es zu wissen, im Dienst des Faschismus? – Es gibt heute keine andre Frage, die mich so tief beunruhigt wie diese. […] Vielleicht darf diese kämpfende Generation nur den Optimismus kennen. Aber die nächste […] wird von der Literatur etwas anderes wollen als ein Hoheslied auf die Kollektivierung der Landwirtschaft. Sie wird durstig sein nach

8 Vgl. Klaus Mann, Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht. Mit unbekannten Texten aus dem Nachlass, hrsg. von Fredric Kroll (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2008), S. 457: »Ich liebe […] seine Musik, sie spricht mich an, oft ist sie mir so recht aus der Seele gesprochen. […] Vor Peter Iljitsch indessen war mir nicht bang. Gerade die Fragwürdigkeit seines Genies, die Gebrochenheit seines Charakters, die Schwächen des Künstlers und des Menschen machten ihn mir vertraut, verständlich, liebenswert. […] Wie hätte ich nicht alles von ihm wissen sollen? Die besondere Form der Liebe, die sein Schicksal war, ich kannte sie doch, war nur zu bewandert in den Inspirationen und Erniedrigungen, den langen Qualen und flüchtig kurzen Seligkeiten, welche dieser Eros mit sich bringt«. 9 Mann, Tagebücher, S. 10 (7. 10. 1934).

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anderen Tönen, und sie wird hören wollen Rufe aus einer anderen Tiefe. Ach, ich spüre es doch: ihr wird ein ›Werther‹ geschrieben werden.10

Die Verfassung dieses Aufsatzes, der im Oktober-Heft 1934 der Sammlung veröffentlicht wurde, mag das Brainstorming zum Roman beeinflusst haben, weil Klaus Mann im selben Monat die lyrische Stimmung des TschaikowskyWerks festzulegen begann. Die neue literarische Unternehmung sollte durch Einsamkeit, schluchzende Melodien und die Überwindung weicher Gefühle gekennzeichnet sein; gleichzeitig sollte sie die Schaffenskraft des Protagonisten verdeutlichen, nämlich seine Fähigkeit, seiner Sensibilität eine künstlerische Gestalt zu verleihen. In diesem Sinn knüpfte der Autor die poetische Botschaft seines Romanvorhabens auch an Stefan Georges Prinzip ›über das Leid – siege das Lied‹ an.11 Was Quellen und Vorbereitungsmaterialien anbelangt, stützte sich Klaus Mann auf die spärliche Fachliteratur, die damals über Tschaikowskys Person und Werk vorhanden war, d. h. auf die Biografien von Max Steinitzer und Richard H. Stein sowie auf den biografischen Bericht von Modest Tschaikowsky, die Erinnerungen des Künstlers selbst und einen Teil des Briefwechsels mit Nadeshda von Meck.12 Dennoch hatte der Schriftsteller keinen Zugang zu kritischen Texteditionen und nicht einmal zu Nina Berberovas Biografie, die erst 1936 in russischer Sprache und 1938 in deutscher Übersetzung erschien, ganz zu schweigen von Tschaikowskys Tagebüchern.13 Solche Lücken versuchte Klaus 10 Klaus Mann, ›Notizen in Moskau‹ (1934), in Zahnärzte und Künstler : Aufsätze, Reden, Kritiken 1933–1936 (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1993), S. 213f. 11 Mann, Tagebücher, S. 64 (9. 10. 1934): »Spüre neue Möglichkeit für die Tschaikowsky-Arbeit. Als Novelle – nicht zu lang. Sehr lyrisch. Paris; Petersburg dahinter. […] Bittersüss. Einsamkeit. Der Geliebte. Melodie. Schluchzen all der Melodien – und Bravour. Grosses Konzert, Empfang bei Hofe. Und Einsamkeit. […] Spüre eine Künstlernovelle. Weichheit des Gefühls – in der Form überwunden. Und über das Leid – siege das Lied.« 12 Vgl. Max Steinitzer, Tschaikowsky (Leipzig: Reclam, 1925); Richard H. von Stein, Tschaikowskij (Berlin: Deutsche Verlag-Anstalt, 1927); Modest Tschaikowsky, Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowskys, üb. von Paul Juon, 2 Bde. (Moskau, Leipzig: P. Jurgenson, 1901–1903); Peter Iljitsch Tschaikowsky, Erinnerungen eines Musikers, hrsg. und üb. von Heinrich Stümcke (Leipzig: Reclam, 1922). Die deutsche Übersetzung des ganzen Briefwechsels zwischen Tschaikowsky und seiner Gönnerin Nadeshda von Meck erschien 1938 im Paul List Verlag. Siehe Catherine Drinker Bowen, Barbara von Meck, Geliebte Freundin: Tschaikowskis Leben und sein Briefwechsel mit Nadeshda von Meck, aus dem Englischen von Wolfgang F. Groeder (Leipzig: List, 1938). 13 Siehe Nina Berberova, Tschaikowsky : Geschichte eines einsamen Lebens, aus dem Russischen von Leo Borchard (Berlin: G. Kiepenheuer, 1938). Die Tagebücher wurden 1923 auf Russisch veröffentlicht und 1945 ins Englische übersetzt, während die deutsche Übersetzung erst 1992 von Ernst Kuhn herausgegeben wurde. Vgl. Peter Tschaikowski, Die Tagebücher, hrsg. von Ernst Kuhn, Übersetzung und Zwischentexte von Hans-Joachim Grimm (Berlin: Kuhn, 1992). Vgl. auch Oswald Panagl, ›Der Künstlerroman als psychohygienisches Verfahren: Symphonie Path¦tique von Klaus Mann‹, in Ton – Sprache: Komponisten in der deutschen Literatur, hrsg. von Gabriele Brandstetter (Bern u. a.: Verlag Paul Haupt, 1995), S. 189.

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Mann durch die Untersuchung der musikalischen und ästhetischen Erneuerungen verschiedener russischer und westeuropäischer Komponisten der Zeit zu schließen. Er machte sich z. B. Notizen über das Volkslied und die von Alexander Nikolajewitsch Serow schon unterstrichene Bedeutung des Kosmopolitismus in der Musik.14 Damit gewann der Romanhintergrund präzise Konturen, sodass das Werk als detailliertes kulturgeschichtliches Porträt des »ausgehende[n] neunzehnte[n] Jahrhundert[s]«15 fungieren konnte. Nach dieser musikwissenschaftlichen Vorbereitungsphase widmete sich der Autor der Niederschrift seines ›Werther‹ zwischen März und Juli 1935. Bereits im Oktober konnte das Buch im Querido Verlag erscheinen. Auf die Komponistenbiografie reagierten Freunde und Bekannte sehr positiv. Heinrich Mann beispielsweise lobte seinen Neffen für die feine historische Rekonstruktion und dessen Fähigkeit, »den Lebensbestand eines Alternden genau wieder[ge]geben«16 zu haben, und Bruno Frank erkannte in der Darstellung des historischen Kontextes die Aktualität der Exilfrage und hielt Klaus Manns künstlerische Leistung für klug und vielsagend, denn im Roman sei »eine Ahnung von fürchterlich kommenden Dingen, eine Witterung wie von Brand- und Blutgeruch«17 deutlich spürbar. Im amerikanischen Exil befasste sich Klaus Mann erneut mit seinem Tschaikowsky. Im Sammelband Distinguished Visitors (1940) bearbeitete er das 9. Kapitel des Romans, insbesondere die Episode von Tschaikowskys Reise nach New York, und fügte Passagen aus anderen Kapiteln hinzu. Diese Bearbeitung trägt den Titel Symphonie der neuen Welt und präsentiert sich als die Schilderung von Tschaikowskys amerikanischer Erfahrung, die mit derjenigen des böhmischen Komponisten Antonin Dvorˇ‚k verglichen wird. Trotz vieler Ähnlichkeiten mit dem russischen Kollegen, wie der Mischung von slawischem Pathos und westlicher Feinheit in der Kompositionstechnik oder der Scheu vor der Öffentlichkeit, wird der Böhme zu Tschaikowskys Gegenfigur, weil er sich der amerikanischen Musikwelt gut anpasste und sogar zum entscheidenden Förderer ihrer Afro-Komponente wurde, aber auch weil er Vater war und sich darum bemühte, Kunst und Leben, sprich Familie, miteinander zu versöhnen. In 14 Vgl. Klaus Mann, Symphonie Path¦tique: Ein Tschaikowsky-Roman, mit einem Nachwort von Fredric Kroll (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2010), S. 168: »›En musique on doit Þtre cosmopolite‹. Diese Weisheit ist von Alexander Sserow, den die Herren ›Novatoren‹ als einen der ›Initiatoren‹ russischer Musik anzuerkennen immerhin freundlich genug sind«. Der Text wird künftig in diesem Aufsatz unter der Sigle SP mit Angabe der Seitenzahl zitiert. Siehe die Archivmappe KM M 16 im Klaus-Mann-Archiv (Monacensia). 15 Klaus Mann, ›Selbstanzeige: Symphonie Path¦tique‹, in Zahnärzte und Künstler, S. 379. 16 Brief von Heinrich Mann an Klaus Mann vom 18. 12. 1935, in Klaus Mann, Briefe und Antworten: 1922–1949, hrsg. und mit einem Vorwort von Martin Gregor-Dellin (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1991), S. 240. 17 Bruno Frank, ›»Symphonie Path¦tique«‹, Das Neue Tage-Buch, 4.1, Heft 13 (1936), S. 309.

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seinem Prosastück betont Klaus Mann auf der einen Seite, dass »Musik zu produzieren […] für ihn [Dvorˇ‚k] eine selbstverständliche Verrichtung des täglichen Lebens, ein Symptom für Gesundheit und Glück [ist]«,18 auf der anderen, dass seine »Musik aus Liebe zum Leben geschrieben ist, während seine [Tschaikowskys] großen Adagios von einer todessüchtigen Seele entworfen sind – im Schatten des Todes, als eine traurige Hommage an Seine dunkle Majestät«.19 Dennoch scheint der Intellektuelle von der Tschaikowsky-Gestalt wie von einer Art Doppelgänger beinahe verfolgt zu sein, weil er seinen Musiker-Roman nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder aufnahm, diesmal um ihn ins Englische umzuarbeiten.20 Diese Neufassung, die im vorletzten Lebensjahr Klaus Manns entstand und unter dem Titel Pathetic Symphony. A Novel about Tschaikowsky im Allen, Towne & Heath Verlag (New York) erschien, war ausdrücklich für den amerikanischen Markt bestimmt, da eine englische Version von Hermon Ould (Victor Gollancz Verlag, London) schon seit 1938 vorhanden war. Die Notwendigkeit einer Eigenübersetzung lässt sich dadurch erklären, dass der Autor sich keineswegs auf einen Sprachwechsel beschränken wollte, vielmehr beabsichtigte er, sein Werk auf struktureller Ebene völlig neu zu gestalten.

II.

Symphonie Pathétique vs. Pathetic Symphony

Sowohl die Originalversion des Tschaikowsky-Romans als auch die amerikanische Veröffentlichung sind mit Verfahren der Word and Music Studies zu untersuchen, da sie auf musikalische Kompositionstechniken hindeuten, die zum poetologischen Prinzip der Textgestaltung werden. Insbesondere imitiert die amerikanische Neufassung die Großform der Sinfonie, indem die musikliterarische Nachahmung auf der Makro- bzw. Signifiant-Ebene, d. h. im Aufbau durchgeführt wird, während die deutsche Ausgabe formale Analogien auf der Mikro- bzw. Signifi¦-Ebene präsentiert, die sich hauptsächlich durch Leitmotive, Anklänge oder ›Widerhalle‹ entfalten und den Inhalt beeinflussen.21 18 Klaus Mann, ›Symphonie der neuen Welt: Peter Tschaikowski, Anton†n Dvorˇ‚k‹, in Distinguished Visitors: Der amerikanische Traum, hrsg. und mit einem Nachwort von Heribert Hoven, üb. von Monika Gripenberg (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1996), S. 187. 19 Ebd., S. 192f. 20 Die Komplexität dieser Selbstübersetzung kann innerhalb der vielfältigen mannschen Produktion nur mit der Niederschrift von The Turning Point (1942) bzw. Der Wendepunkt (1949 fertiggestellt) in Beziehung gebracht werden. Hier handelt es sich aber um die gegensätzliche Operation, weil der Autor seinen Text in englischer Sprache auf Deutsch übersetzte. Vgl. Susanne Utsch, Sprachwechsel im Exil: Die ›linguistische Metamorphose‹ von Klaus Mann (Köln u. a.: Böhlau, 2007), S. 343–364. 21 Vom intermedialen Gesichtspunkt aus versteht man unter ›Analogie‹ die bewusste Nach-

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Manns Symphonie Path¦tique ist symmetrisch strukturiert. Der Roman gliedert sich in 10 Kapitel, die in zwei perfekte Hälften geteilt sind; sowohl der erste als auch der zweite Teil enden mit der Darstellung einer sinfonischen Komposition – Tschaikowskys Sterbeszene, die eigentlich den Roman schließt, kann als Deutung und Erfüllung des geheimen Programms der 6. Sinfonie in hMoll op. 74 (1893) interpretiert werden. Der Höhepunkt der ersten fünf Kapitel wird in der Beschreibung der 5. Sinfonie in e-Moll op. 64 (1888) erreicht, die den »guten Trotz[]«, den »großen Widerstand[]« (SP 182) symbolisiert und als Konkretisierung einer künstlerischen Pflicht geschaffen wird. Die 5. Sinfonie repräsentiert »die Symphonie des Aufbegehrens, dessen männliche Entschlossenheit mächtiger ist als die Schwermut« (SP 182), und versinnbildlicht die musikalische Übertragung eines ethischen Auftrags, den Tschaikowsky sich selbst erteilt, um der homoerotischen Versuchung zu widerstehen. Er fühlt sich hauptsächlich von einem Strichjungen des Zirkus Medrano in Paris angezogen, der ihn an seinen Jugendfreund Apuchtin erinnert und als dessen Figuration erscheint; überdies tritt der Dichter Apuchtin mehrmals als ›böser Engel‹ und am Romanende als Sterbender auf. Am Ende des ersten Teils konstituiert sich Tschaikowskys Selbstbefehl, »all die Schmerzen, mit denen man schon vertraut war […] in Musik [zu verwandeln]« (SP 147), gleichzeitig als künstlerischer und moralischer Triumph. Die letzten fünf Kapitel, vor allem die Schlussszene, sind ihrerseits von der Evokation der 6. Sinfonie und ihrer Stimmung geprägt. Obwohl der Protagonist fühlt, dass er seinen künstlerischen Auftrag erfüllt hat, setzt der Romanschluss den Akzent nicht mehr auf eine siegreiche, sondern auf eine tragische bzw. ›pathetische‹ Atmosphäre. Dieses Element verstärkt die These, dass der Roman intermedial wirkt, da sowohl die literarische Darlegung der Symphonie Path¦tique als auch die Komposition selbst die Verquickung von künstlerischer Schaffens- und Lebenskraft deuten, aber auch deren Erschöpfung. Bekanntlich betrachtete Tschaikowsky sein letztes Werk als die Kompositionsform des Requiems, was die erstmalige und moderne Entscheidung für ahmung einer originär musikalischen Kompositionsform im literarischen Werk. Diese Imitation kann auf der signifi¦-Ebene, d. h. in der Struktur, oder der signifiant-Ebene, d. h. in der Form eines Textes, umgesetzt werden. Eine andere mögliche Klassifikation basiert auf den Komponenten des semiotischen Dreiecks: Dem sprachlichen Ausdruck (dem ›Signifikanten‹) würde die Wortmusik entsprechen; dem Begriff (dem ›Signifikat‹) entsprächen musikalische Form- und Strukturparallelen, d. h. alle Versuche, die Struktur als die ›Idee‹ der Musik für die Literatur fruchtbar zu machen; schließlich kann die Kategorie der verbal music mit dem bezeichneten Gegenstand (dem ›Referenten‹) verbunden werden. Vgl. Albert Gier, ›»Parler, c’est manquer de clairvoyance«. Musik in der Literatur : vorläufige Bemerkungen zu einem unendlichen Thema‹, in Musik und Literatur : Komparatistische Studien zur Strukturverwandtschaft, hrsg. von Albert Gier und Gerold W. Gruber (Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang, 1995), S. 14ff. Siehe Andreas Sichelstiel, Musikalische Kompositionstechniken in der Literatur : Möglichkeiten der Intermedialität und ihrer Funktion bei österreichischen Gegenwartsautoren (Essen: Die blaue Eule, 2004), S. 144–154.

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einen langsamen Satz als Finale sowie das melodische Zitat aus dem orthodoxen Totenoffizium Mit den Heiligen lass ruhen, Christus, die Seelen Deiner Diener erklärt.22 Außerdem gewinnt die Struktur des deutschen Textes an Geschlossenheit dank der Wiederkehr einiger Nebenfiguren wie des teuflisch aussehenden Agenten Siegfried Neugebauer (eigtl. Dmitri Augustwitsch Friedrich), der ähnliche Züge trägt wie der Kellner, der das Glas Cholerawasser serviert, oder der elsässischen Hebamme Fanny Dürbach, die zuerst in Tschaikowskys Erinnerungen auftaucht und im zweiten Teil des Romans vom Komponisten Besuch bekommt. Dazu spielt auch Tschaikowskys kostbarer Talisman, eine von Nadeshda von Meck geschenkte Uhr mit einer eingelegten Abbildung der Jungfrau von Orl¦ans, eine leitmotivische Rolle und symbolisiert dadurch das Vergehen der Zeit sowie die Nähe des Todes. Tschaikowsky gelingt es, sie vor der räuberischen Begier des Pariser Strichjungen zu retten und diesen Triumph in der 5. Sinfonie metaphorisch zu thematisieren; in Maidanovo wird sie ihm jedoch tatsächlich entrissen, was als entscheidendes Verhängnis und klare Todesahnung geschildert wird. Die Wechselbeziehung zwischen literarischem Aufbau und ›musikalischem‹ Inhalt vertiefte Klaus Mann in seiner amerikanischen Übersetzung, die sich als komplette Neugestaltung präsentiert. Im Gegensatz zur Originalfassung ist Pathetic Symphony zyklisch gestaltet und ahmt das im Titel erwähnte Sujet in stringenter Weise nach. Die Handlung entwickelt sich aus vier ›sinfonischen‹ Sätzen, welche direkt an die Einteilung von Tschaikowskys 6. Sinfonie anknüpfen. Allegro non troppo, der erste Satz des amerikanischen Textes, beginnt nicht mehr in medias res wie Symphonie Path¦tique, die mit der Darstellung von Tschaikowskys Ankunft in Berlin am 29. Dezember 1887 einsetzt, sondern mit Material, das sich ursprünglich im vierten Kapitel befand, d. h. mit den Erinnerungen des Musikers an sein Leben vor 1887, im Besonderen mit der gescheiterten Ehe mit Antonina Iwanowna Miljukowa aus der Perspektive seines Bruders Anatol. Im zweiten Satz Allegro con grazia werden die ersten drei Kapitel der deutschen Version mit dem fünften amalgamiert; ihnen entsprechen Leben und Werk der Hauptfigur bis hin zur Komposition der 5. Sinfonie. Der folgende Satz, Allegro molto vivace, gibt Kapitel 6 bis 9 wieder und veran22 Vgl. Heinz von Loesch, ›Tschaikowskys Path¦tique: Lebenssymphonie oder schwules Bekenntniswerk? Ein kurzer kommentierter Literaturbericht‹, in Musik und Biographie: Festschrift für Rainer Cadenbach, hrsg. von Cordula Heymann-Wentzel und Johannes Laas (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004), S. 345. Im Roman wird der Bezug auf die Gattung des Requiems anhand eines Dialogs zwischen dem Komponisten und dem Großfürsten Konstantin Konstantinowitsch erwähnt: »›Euer Hoheit kennen meine letzte Symphonie noch nicht‹, sagte der Komponist. ›Wenn ich nun auch noch die Dichtung meines Freundes Apuchtin in Musik setzen wollte – ich müßte mich wiederholen.‹ ›Ist Ihre neueste Symphonie denn ein Requiem?‹ wollte der Großfürst wissen. ›Ja‹, sagte der Komponist Tschaikowsky« (SP 337).

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schaulicht Tschaikowskys Liebe für seinen Neffen Wladimir Dawidow (Bob), seinen wachsenden Ruhm und die Reise nach Amerika. Die letzten zwei Kapitel des deutschen Textes sind im vierten Satz Adagio Lamentoso umgearbeitet, hier werden der Abbruch der Beziehung zur Mäzenin Nadeshda von Meck und die Entstehung der 6. Sinfonie beschrieben. Neben diesen Korrespondenzen in der Makrostruktur bestehen auch im Romaninhalt verschiedene musikliterarische Parallelen. In Bezug auf den ersten Satz von Pathetic Symphony untersucht Fredric Kroll, der Nestor der KlausMann-Forschung, inwieweit der Schriftsteller Tschaikowskys Allegro non troppo auch in Einzelheiten widerspiegelt: »Die grübelnde Unrast des Anfangs, den Tobsuchtsanfall der Durchführung, die zärtlich-wehmütige Entspannung des Schlusses haben Text und Musik gemeinsam«.23 In ähnlicher Weise kann das literarisch verarbeitete Thema von Tschaikowskys Weltruf und seiner AmerikaTournee im dritten Satz als eine Anspielung auf den großen Marsch vom Allegro molto vivace erörtert werden. Sobald der Komponist enthusiastisch gefeiert wird, ist sein Leben schon tödlich untergraben, gleichermaßen »gehört der Sturz von den hohen Violinen zu den tiefen Posaunen am Schluß des scheinbar jubelnden Marsches schon wesentlich zum klagenden Finale«,24 und noch mehr beeinflusst die melancholische Stimmung der 6. Sinfonie die Darstellung von Tschaikowskys Tod. Diese Betrachtungen ermöglichen es, in Pathetic Symphony eine Kreisstruktur zu erkennen, die mit einer chromatischen Metaphorik gekoppelt ist. Die romanhafte Biografie fängt mit einer dunklen Konnotation an, stellt manche ›hellen‹ Momente des Sieges vor und stürzt die Handlung am Ende wieder in eine finstere Atmosphäre. Diese Farbgebung ist schon in Symphonie Path¦tique evident. Hier wird das Muster ›Dunkel-Hell-Dunkel‹ auch auf der Mikroebene wiederholt: Im ersten Kapitel befindet sich die Hauptperson in einem dunklen Hotelzimmer, das sie für die Dauer einer kurzen Kutschenfahrt in ein aus Schnee und Sonne blitzendes Berlin verlässt, danach kehrt sie wieder in ihr verdunkeltes Hotelzimmer zurück. Zu diesen formalen Feinheiten kommt die sprachliche Imitierung der Satzüberschriften hinzu. Klaus Mann imitiert das Tempo der sinfonischen Sätze durch »ein zeitdehnendes, zeitraffendes und zeitdeckendes Erzählen«,25 das er im deutschen Text entwickelt und in der amerikanischen

23 Fredric Kroll, Klaus Täubert, Rudolf Cyperrek, Klaus-Mann-Schriftenreihe (Wiesbaden, Hamburg: Edition Klaus Blahak, Männerschwarm, 1976- ), Bd. 4.2: Repräsentant des Exils: 1935–1937. Im Zeichen der Volksfront, hrsg. von Fredric Kroll und Klaus Täubert (2006), S. 518. 24 Ebd., S. 519. 25 Diese drei Kategorien stammen von Eberhard Lämmert. Vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens (Stuttgart: Metzler, 1991), zit. in Christoph Vratz, Die Partitur als Wortgefüge:

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Fassung vertieft. Dementsprechend zeigt der Schriftsteller, dass das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit zum Strukturprinzip der verbal music wird.26 Besonders relevant ist die Zeitanordnung in der Beschreibung der 6. Sinfonie, in der die Erzählstimme die Parallelität von Erzählverlauf und musikalischem Tempo hervorhebt: Der erste, getragene Satz schien das Publikum fast zu langweilen; desgleichen das Allegro con grazia, dessen langsamer Rhythmus enttäuschte. Das gar zu gehetzte, wild vorwärtsgetriebene Tempo des dritten Satzes rief im Saale eine gewisse Beunruhigung hervor : man rückte auf den Stühlen, tauschte verwunderte Blicke. Der letzte Satz, das Adagio lamentoso, übte auf das Auditorium dieselbe befremdende Wirkung, die es bei der ersten Orchesterprobe auf die Musiker gehabt hatte. Es wehte ein Hauch aus diesem schmerzensvollen Finale, der keine Dankbarkeit, keinen Enthusiasmus aufkommen ließ: bei solchem Abschieds- und Klageton, der schon fast aus einer anderen Welt zu kommen schien, fröstelte es das kunstverständige Publikum von St. Petersburg […]. (SP 341)

Insgesamt sind diese formalen Affinitäten ein Beweis dafür, dass Klaus Mann nicht nur vom Komponisten Tschaikowsky sehr viel hielt, sondern dass er auch seine Person hoch schätzte und sich seinem Schicksal und dem Bekenntnis seiner Seele durch Kunstmittel nahe fühlte. Das intermediale Potenzial beider Textversionen erlaubt, Klaus Manns Huldigung genauer zu verdeutlichen, weil er seine Hommage an den russischen Künstler sowohl in einzelnen Aspekten als auch in der Gesamttextgestaltung ausdrückt. Solche Analogien verlangen eine tiefere Untersuchung der vielen Übereinstimmungen im literarischen und musikalischen Werk, die sich schon im Romantitel beobachten lassen.

Sprachliches Musizieren in literarischen Texten zwischen Romantik und Gegenwart (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002), S. 140; siehe auch S. 139–146. 26 Der Begriff verbal music als Unterkategorie der ›Musik in der Literatur‹ wurde von Steven Paul Scher im Band Literatur und Musik (1984) geprägt und von Albert Gier mit dem semiotischen Dreieck, insbesondere mit dem Bereich des Referenten, in Verbindung gebracht. Verbal music bezeichnet das Motiv- bzw. Thema-Werden der Musik in einem literarischen Text, sie ist »die literarische Annäherung an wirklich vorhandene oder fiktive Musik, mit dem Ziel, ein Äquivalent des Musikerlebens zu schaffen. Die Formen von verbal music sind vielfältig […]. Das Spektrum reicht von der gleichsam protokollarischen Aufzeichnung der individuellen Reaktion auf ein bestimmtes Musikstück bis zu Romanen wie dem Doktor Faustus Thomas Manns.« Albert Gier, ›Musik in der Literatur : Einflüsse und Analogien‹, in Literatur Intermedial: Musik – Malerei – Photographie – Film, hrsg. von Peter V. Zima (London: Turnshare Ltd., 2009; orig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995), S. 70f. Vgl. Gier, ›»Parler, c’est manquer de clairvoyance«‹, S. 14ff.

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III.

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Der Romantitel

Ausgehend vom Titel Symphonie Path¦tique bzw. Pathetic Symphony begreift man, dass es Klaus Manns Absicht war, das emotionale Schöpfungsverfahren der Hauptfigur auf sein eigenes Werk anzuwenden. Aus diesem Grund lehnt er sich an die Kennzeichnung von Tschaikowskys letzter Sinfonie an, um seinem eigenen Roman ein ähnliches Programm zu verleihen; außerdem suggeriert er mit dieser Operation eine präzise metaästhetische und metamediale Reflexion.27 Die Bezeichnung Path¦tique, die nach der Uraufführung in St. Petersburg am 16. 10. 1893 erfunden wurde, stammt nicht von Peter Iljitsch, sondern von seinem Bruder Modest, mit dem der Komponist bei der Verfassung vieler Libretti zusammenarbeitete.28 Diese treffende Qualifizierung erlaubte es Tschaikowsky, das Kolorit seiner Komposition auszudrücken und zugleich ihr wahres Programm geheim zu halten, nämlich die Darstellung seiner schmerzlichen, doch nur ›platonischen‹ Liebe zu dem sehr verehrten Neffen Bob, dem der Künstler die Path¦tique widmete.29 Überdies entdeckte der Musikwissenschaftler Hugo Riemann (1849–1919), dass Tschaikowsky bei der Erfindung des Hauptmotivs seiner Sinfonie auf Beethovens Klaviersonate Nr. 8 in e-Moll op. 13 (1799), die Grande Sonate Path¦tique, zurückgegriffen hatte.30 Unter Berücksichtigung dieser besonderen Entstehungsbedingungen ist die gleiche Betitelung von Klaus Manns Roman und Tschaikowskys Werk sehr wichtig, weil schon diese paratextual thematization zum künstlerischen Hauptgedanken der Musikerbiografie führt, nämlich zur Fähigkeit Tschaikowskys bzw. seinem ›Zaubertrick‹, das Leiden am Leben in Töne zu verwandeln.31 Folglich wird die Kunst zum Objekt, das der menschlichen Existenz einen Sinn 27 Zum Begriff der metaästhetischen und -medialen (Selbst)Reflexion siehe Werner Wolf, The Musicalization of Fiction: A Study in the Theory and History of Intermediality (Amsterdam, Atlanta: Rodopi, 1999), S. 48ff. 28 Vgl. Modest Tschaikowsky, Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowskys, hrsg. von Alexander ˇ ajkovErhard und Thomas Kohlhase, dt. Üb. von Paul Juon, Neuausgabe des Erstdrucks, C skij-Studien, 13/II (Mainz: Schott, 2011), S. 628f. 29 Tschaikowsky wurde sein Leben lang von der eigenen Homosexualität geplagt und versuchte, jedem Verdacht mit der Scheinehe zu Antonina Einhalt zu gebieten. Trotzdem fühlte er eine große Leidenschaft für seinen Neffen, die über Familienliebe hinausging. Aus moralischen, aber auch rechtlichen Gründen weigerte er sich, ein ›gefährliches‹ Verhalten zu zeigen, und wurde vielmehr zum Vertreter eines ›Ethos des Nicht-Besitzens‹, das sich in Schöpfungskraft verwandelte. In der Romankonstellation wird er daher als Muster des ›guten‹ und produktiven Homosexuellen repräsentiert, dessen Gegenspieler mit dem lüsternen Dichter Apuchtin zu identifizieren ist. Vgl. Kroll, Täubert, Im Zeichen der Volksfront, S. 500–505. 30 Vgl. Tschaikowsky, Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowskys, S. 629. 31 In Anlehnung an G¦rard Genette definiert Werner Wolf als paratextual thematization jeden musikalischen Verweis in den Paratexten eines literarischen Werks, d. h. im Titel, im Vorwort oder in den Anmerkungen. Vgl. Wolf, The Musicalization of Fiction, S. 56.

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verleiht. Laut Biograf Constantin Floros betrachtete Tschaikowsky das Komponieren als Therapie. Nicht nur sah er in der Kunst »die einzige Möglichkeit, sich von der bedrückenden Wirklichkeit zu befreien«,32 sondern die Arbeit schien ihm auch als einziges Mittel gegen seine Neurose, was mit Klaus Manns Porträt des Musikers als typische Ausprägung des psychopathologischen Künstlertums übereinstimmt.33 Im Roman erfährt Tschaikowsky, dass ein Kunstwerk nur aus dem Schmerz entstehen kann. Demnach begreift er die Musik als dessen Auslegung sowie als Chiffre des »lyrische[n] Sich-Verströmen[s] des Gefühls« (SP 147). Sobald die Freundschaft mit seiner Gönnerin abbricht, fühlt sich der Russe ernsthaft betrogen und reagiert mit der Erfindung einer neuen Komposition: Was verschafft mir allen diesen Glanz und so viel üppige Ehrung? Die kleine Tatsache, daß ich meine Schmerzen und Erniedrigungen in Töne verwandeln kann. Ja, Nadeshda, ich weiß das Geheimnis, ich verstehe mich darauf, ich kann alles verwandeln, es ist eine artige Alchimie, ein Zaubertrick, es ist gar nicht schwer und macht sehr viel Spaß. Auch aus der enormen Unannehmlichkeit, die du mir angerichtet hast, meine liebe infame Nadeshda, werde ich Melodien zaubern […] und sie werden mir wieder Ruhm bringen, man wird mich wieder bekränzen und als großen Künstler feiern. (SP 247)

Tschaikowskys Erfolg bei der Nachwelt wird von dieser letzten Arbeit, der Path¦tique, bestätigt, die er als göttlichen Auftrag konzipiert, als ob er nur um dieses Kunstwerks willen am Leben bliebe und zum Märtyrer seiner Komposition würde: »Hier ist Einer damit beschäftigt, den Sinn seines Lebens in Töne zu formen – dies, und nichts anderes war seit eh und je seine Pflicht und der ihm vorbestimmte Auftrag. Wenn der Auftrag erledigt ist, kommt die Erlösung« (SP 335). Zusammenfassend gibt die im Romantitel angekündigte Sinfonie der Handlung erst dann einen Schluss, wenn sie tatsächlich komponiert wird. Deswegen ist die Erwähnung des vom Attribut path¦tique/pathetic begleiteten Substantivs Symphonie/Symphony aus intermedialer Perspektive grundlegend, weil dieses Wort sich auf dieselbe musikalische Form bezieht, die auf die Anordnung der Makrostruktur der amerikanischen Fassung einwirkt, und für beide Ausgaben wie in einer Kreisstruktur Anfang (Titel) und Ende (Abschluss des Romans) darstellt. 32 Constantin Floros, Peter Tschaikowsky (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2006), S. 85. 33 Vgl. Sasha Kiefer, ›Im »Land des neunzehnten Jahrhunderts«: Literarische Topographie und romantischer Künstlermythos in Klaus Manns Tschaikowsky-Roman Symphonie Path¦tique‹, in Auf der Suche nach einem Weg: Neue Forschungen zu Leben und Werk Klaus Manns, hrsg. von Wiebke Amthor und Irmela von der Lühe (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2008), S. 114.

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IV.

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Die Mikroebene

Der Verweis auf die sinfonische Großform im Romantitel kann nicht nur zur Analyse des Gesamtaufbaus dienen, sondern auch zu jener der intersemiotischen Mikrostrukturen, die Klaus Mann hauptsächlich in die Originalausgabe einfügte. Insbesondere ließ er sich vom geheimen Programm der Path¦tique und ihren melodischen Hauptlinien inspirieren, um einige musikliterarische Techniken zu entwickeln, die den Zweck hatten, Tschaikowskys »melodische Konfession zu artikulieren, die sanghafte Beichte in Worte zu fassen«.34 Durch Leitmotivik, mise en abyme, Medienwechsel und remediation,35 die zusätzlich zur verbal music im Roman häufig verwendet werden, versuchte der Autor, seine Prosa ästhetisch aufzuwerten und seine Tschaikowsky-Biografie zum besten seiner bislang verfassten Erzählwerke zu machen.36

IV.1

Die Ekphrasis

Claus Clüver versteht unter dem Begriff ›Ekphrasis‹ »the verbal representation of a real or fictitious text composed in a non-verbal sign system«37 und rechnet ihn den intermedialen Strategien zu. Im Tschaikowsky-Roman kombiniert die Erzählstimme die historische Darstellung mit dem psychologischen Profil des Künstlers. Zahlreiche Passagen sind von musikalischer Ekphrasis geprägt. An diesen Stellen wird die strukturelle Darlegung einer Komposition mit ihrem Entstehungsprozess in Zusammenhang gebracht. Im Roman sind alle Werke Tschaikowskys aus den Jahren 1887 bis 1893 erwähnt, außerdem dienen die Erinnerungen des Protagonisten sowie die häufigen Flashbacks der Rekonstruktion seiner vorherigen Werke und deren Rezeptionsgeschichte. Beispiels34 Mann, Der Wendepunkt, S. 457. 35 Unter ›Remedialisierung‹ versteht man einen Prozess der Verschmelzung verschiedener Medien, aus dem ein neues Medium entsteht. Ein Beispiel für diesen Vorgang ist die Entstehung der Oper bzw. des Melodrams aus der Fusion von Theater und Musik, insbesondere im 19. Jahrhundert. Vgl. Werner Wolf, ›(Inter)mediality and the Study of Literature‹, CLCWeb: Comparative Literature and Culture, 13, Issue 3 (2011), S. 6. 36 Die hohe literarische Qualität des Romans erkannte der Onkel Heinrich Mann im schon zitierten Brief vom 18. 12. 1935: »Lieber Klaus, Dein Tschaikowsky ist ein wahrhaft erstaunliches Buch, einer solchen literarischen Überraschung kann ich mich kaum erinnern. […] Dies war nun die Hauptarbeit um Dein dreißigstes Jahr«, Mann, Briefe, S. 239f. 37 Claus Clüver, ›Ekphrasis Reconsidered: On Verbal Representation of Non-Verbal Texts‹, in Interart Poetics: Essays on the Interrelations of the Arts and Media, hrsg. von Ulla Britta Langerroth u. a. (Amsterdam, Atlanta: Rodopi, 1997), S. 26. Vgl. hierzu Christina Schaefer, Stefanie Rentsch, ›Ekphrasis: Anmerkungen zur Begriffsbestimmung in der neueren Forschung‹, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 114, Heft 2 (2004), S. 132–165. Siehe auch Irina O. Rajewsky, Intermedialität (Tübingen, Basel: A. Francke, 2002), S. 196.

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weise parodiert die Hauptfigur den Musikkritiker Eduard Hanslick, der sein Violinkonzert in D-Dur op. 35 (1878) mit einem scharfen Urteil – der Bezeichnung »stinkende Musik« (SP 45) – diskreditierte. Wichtige ekphrastische Episoden erscheinen in der Beschreibung der 6. Sinfonie oder der ersten OrchesterSuite in d-Moll op. 43 (1879), die der Musiker selbst im Gewandhaus zu Leipzig dirigierte: Der erste Satz – ›Introduzione e Fuga‹ – machte vor allem den Bläsern viel Mühe. Gleich zu Anfang hatten die beiden Fagotte das einleitende Thema unisono zu bringen, die hohen Töne wollten nicht rein werden. […] Während des zweiten Satzes, dem ›Divertimento‹, […] dachte Tschaikowsky. ›Das ist ein gelungenes Stück, […] es ist etwas Neuartiges. Ja, es ist etwas Neues, wie ich unsere Volksmelodien – unsere traurigen, geliebten Melodien – mit dem deutschen Walzerrhythmus verbinde. Das ergibt mehr als nur die ›Valse Triste‹, es ergibt den Tragischen Walzer. Das ist Anmut und Klang – ein anmutsvolles Klagelied […].‹ […] Als man zum dritten Satz, der ›Marche miniature‹ kam, […] musizierte nur ein kleiner Teil des Orchesters: zwei Flöten nebst Piccolo, zwei Klarinetten, zwei Oboen, vierfach geteilte Violinen, Triangel, Glockenspiel. (SP 66f.)38

Dieser Stelle entnimmt man auf der einen Seite, dass Emotionalität ein konstitutives Merkmal von Tschaikowskys Schöpfungsprozess ist, da er nach der Probe »Tränen der Rührung, des Stolzes, des Heimwehs und der Müdigkeit« (SP 69) vergießt; auf der anderen erfährt der Leser, auf welche Prinzipien der Russe seine musikalische Recherche stützte, und zwar auf die Entwicklung volkstümlicher Elemente sowie auf die westliche Harmonielehre. Klaus Mann benutzt das Ekphrasis-Verfahren, um die tiefen Vernetzungen und die musikalischen Konjunkturen des Romans auf aufschlussreiche Weise zu veranschaulichen, wie der Hinweis auf Tschaikowskys Positionierung zwischen russischem Repertoire und abendländischer Kunstmusik im obigen Zitat beweist. Die Frage nach dem Russisch-Sein des Protagonisten ist nicht nur Chiffre seines künstlerischen und psychologischen ›Nirgends-Hingehörens‹, sondern stellt auch einen Kernpunkt der heutigen Tschaikowsky-Forschung dar, wie Richard Taruskin in seinen Studien über die russische Identität osteuropäischer Musik erklärt.39 Klaus Mann leistet einen wichtigen Beitrag zu dieser Besonderheit Tschaikowskys, indem er seine Vaterlandslosigkeit vom musikalischen Standpunkt aus als seine intime Stileigenschaft und vom persönlichen aus als seinen charakteristischen Daseinszustand betrachtet. Dieser Aspekt taucht vor allem im Hinblick auf die 6. Sinfonie und ihre Affinität zur Trauermusik auf, da diese Komposition inhaltlich eine innerliche Beichte repräsentieren sollte und 38 Vgl. Russian Anthology, ›Tschaikovsky, Psychology, and Nationality : A View from the Archives‹, 19th Century Music, 35, Nr. 2 (2011), S. 156–159. 39 Vgl. Richard Taruskin, ›Non-Nationalists and Other Nationalists‹, 19th Century Music, 35, S. 132–143.

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formal mit den wichtigsten Merkmalen der sinfonischen Struktur brach. Die Verbindung zwischen künstlerischem und innerlichem Exil-Gefühl legt Klaus Mann im Wendepunkt dar : Ein ›Vaterlandsloser‹, mein großer, rührender Freund Peter Iljitsch war es in mehr als einem Sinn. Nicht nur sein Eros isolierte ihn, machte ihn zum Außenseiter, fast zum Paria; auch die Art seines Talents, sein künstlerischer Stil war zu gemischt, zu schillernd, zu kosmopolitisch, um irgendwo goutiert zu werden. In Rußland galt er als ›westlich‹: die Kritiker vermißten in Tschaikowskys mondäner Melancholie die barbarische Vitalität eines Mussorgsky ; die Deutschen warfen ihm ›asiatische Wildheit‹ vor, wozu noch […] ein störender französischer Einfluß kam. In Paris hingegen fand man ihn zu ›germanisch‹: ein Nachahmer Beethovens, viel weniger ›typiquement russe‹ als der beliebte Rimski-Korsakow. Er war ein Emigrant, ein Exilierter, nicht aus politischen Gründen, sondern weil er sich nirgends zu Hause fühlte, nirgends zu Hause war. Er litt überall.40

Dieser Auszug attestiert die emotive Auseinandersetzung des Schriftstellers mit der Hauptfigur sowie die Zentralität des (geistigen) Exil-Diskurses. Darauf lenkte Klaus Mann seine Aufmerksamkeit nicht nur durch Ekphrasis, sondern auch anhand zahlreicher Erzähltechniken musikalischer Prägung, mit denen die Ekphrasis verschmilzt, im Besonderen mit der reichen Leitmotivik des Romans.

IV.2

Die Leitmotive

In Symphonie Path¦tique wird das Heimatlossein des Protagonisten durch das Leitmotiv des ›Wo-anders-Seins‹ zur Sprache gebracht, das ab dem Romananfang als die ausdrucksvollste Formel des Textes erscheint und seine Unrast sowie seinen Wunsch nach ständiger räumlicher Abwechslung symbolisiert. Dieses Motiv verbindet sich mit weiteren Formulierungen, die an die Imitation der Musikform Wagnerscher Prägung denken lassen, aber auch an die Erzählkunst eines Thomas Mann. Von Anfang an taucht das Leitmotiv von Tschaikowskys ›sanft grübelndem Blick‹ auf, das oft von der Beschreibung seines ›üppig-vollen Munds‹ begleitet wird, sowie der ›dicken, weichen und sehr roten Lippen‹ oder des ›geröteten, schweißnassen Gesichts‹. Solche Körperzüge konnotieren den Hintergrund des Musiker-Romans als lyrisch-melancholisch und heben die Brüchigkeit der Hauptfigur bzw. ihre Nervosität hervor; gleichzeitig charakterisieren sie den Protagonisten als Homosexuellen, sodass das Werk als eine »Pathographie der Homoerotik«41 betrachtet werden kann. Gerade die sexuelle Orientierung, die 40 Mann, Der Wendepunkt, S. 458. 41 Panagl, ›Der Künstlerroman‹, S. 191.

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als eine der wichtigsten Ursachen von Tschaikowskys Heimatlosigkeit gedeutet wird, ist in der für Wladimir Dawidow bestimmten Liebesformel ›Der Tag ohne dich ist die Sünde‹ chiffriert. Diese bereichert die Leitmotivik im zweiten Teil der Künstlerbiografie und wird mit dem Motiv ›Man soll der Mutter folgen‹ verquickt. Besonders dieser Imperativ, der ab dem 4. Kapitel erscheint, versinnbildlicht den Todestrieb des Komponisten. Neffe und Mutter gehören zu einer einzigen Gefühlskonstellation, ihre Figuren verschmelzen miteinander in der Vision des Todesengels, die Tschaikowsky am Ende des Romans im Fieberwahn heimsucht. Diese Szene verkettet sich mit einer komplexen Motiv-Variation, die sich gerade aus der Engelsfigur entwickelt. Diese taucht in den ersten Kapiteln in der Gestalt eines Gipsengels auf oder im Zusammenhang mit dem Verführer Apuchtin, dann gewinnt sie beim Treffen mit dem Strichjungen bestimmtere Konturen, weil das Engel-Motiv entweder als böser Engel oder als Todespage auftritt. Im zweiten Teil verwandelt sich dieses Bild in einen blasphemischen mütterlichen Todesengel, der den Musiker in den Kompositionsakt der 6. Sinfonie einweiht. Nach der Cholera-Verseuchung versucht sogar der Geisteskranke, sich mit dieser lästerlichen Figur geschlechtlich zu vereinen. Wie im Fall der ›musikalischen‹ Leitmotivik besitzen diese literarisch verarbeiteten Motive eine Referenzfunktion außerhalb des eigentlichen Literaturmediums.42 Insbesondere dient diese Technik in Symphonie Path¦tique zur Festigung des Verhältnisses zwischen Autor und Figur, weil Klaus Mann auf die Maskierung seiner eigenen Lebensproblematik hinzielt, indem er Tschaikowskys Homosexualität, seinen künstlerischen Selbstzweifel, seine Heimatlosigkeit und seinen Todeswunsch thematisiert und motivisch schildert. Zu den behandelten Themen kommt schließlich ein neues Motiv hinzu, das Lied von den Verlorenen Gesichtern, dessen Bedeutung darin besteht, dass der Verfasser im Reiz dieser lyrischen Form versuchte, »die Macht der Musik und die Überredungskraft der Literatur miteinander [zu] vereinigen.«43

IV.3

Intramediale Bezüge

Die Anspielung auf das Lied von den Verlorenen Gesichtern stellt sich als fruchtbarer intertextueller Verweis vor und erweckt ein großes musikliterarisches Interesse.44 Das Zitat erscheint als Paraphrase eines 1934 verfassten Ge-

42 Vgl. Sichelstiel, Musikalische Kompositionstechniken, S. 137–143. 43 Klaus Mann, ›Essay‹, Pariser Tageszeitung (23. 06. 1937), zit. im Nachwort zu Fluch und Segen, S. 61. 44 Obwohl die Intertextualität sich unter die intramedialen Phänomene einreiht, weil sie keine Überschreitung der Mediengrenzen impliziert, sondern innerhalb des literarischen Medi-

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dichts und thematisiert die Erinnerung an alle verstorbenen Freunde oder Verwandten, sowohl für Klaus Mann als auch für Tschaikowsky, da dieser im Lied seine Gedanken über die Vergangenheit ausdrückt. In diesem Sinn verknüpft sich das Lied von den Verlorenen Gesichtern mit dem Todeswunsch des Musikers, seiner Untauglichkeit und der Angst vor der Vergänglichkeit. Durch den Vergleich zwischen seinem Monolog und Klaus Manns Gedicht zeigt sich, bis zu welchem Grad der Autor seinen Schmerz um die vielen befreundeten Selbstmörder auf die autobiografische Figur überträgt:45 Symphonie Path¦tique Es ist das Lied von den verlorenen Gesichtern. Es ist das Lied von den Gesichtern, die untergetaucht sind oder weggeglitten, entglitten, entschwunden, so daß ich sie nicht mehr halten noch fassen kann. […] Mein Leben zerfällt in Episoden und Fragmente, es ist zerfressen und zerstört von der Vergänglichkeit. Entglitten, gründlich verschwunden und in die Tiefe versunken […]. Ich bewege mich wie zwischen lauter Schatten. Es gibt nur Tote um mich herum. […] Ich taumle und […] falle – […] in diesen Abgrund, aus dem das Lied von den verlorenen Gesichtern steigt. (SP 277f.) Lied von den Verlorenen Gesichtern Euer Lächeln und eure Stimmen, Dass wir gleich Blinden nach ihnen tappen Und gleich Tauben nach ihnen horchen Und finden sie nicht mehr – Verloren, wehe, verloren. […] Mit welcher Schlauheit Wähltet ihr euch die Waffen […] Die Gebärde des Hochmuts Oder den Blick der Verfinsterung, […] Mit wie viel Schlauheit Stahltet ihr davon! Mit welch vertraulichem Nicken Trefft ihr euch drüben, ihr, nun versammelt im Frieden –

ums steht, soll dieser Bezug auf eine hybride Gattung wie das Lied auch aus der intermedialen Perspektive untersucht werden. Vgl. Rajewsky, Intermedialität, S. 12f. 45 Hier wird eine kurze Liste von Klaus Manns verstorbenen Freunden wiedergegeben: Ricki Hallgarten (1932), Gertrud Wissing-Frank (1933), Wolfgang Hellmert (1934), Ren¦ Crevel (1934). In diesem Zusammenhang soll beachtet werden, dass Klaus Mann sich gerade im Jahr 1934 ernste Gedanken über den Selbstmord als reale Alternative machte. Vgl. Friedrich Albrecht, ›Symphonie Path¦tique‹, in Klaus Mann der Mittler : Studien aus vier Jahrzehnten (Bern: Peter Lang, 2009), S. 199.

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Ihr Entflohnen, Erleichterten, Ihr Geborgnen, Verlornen.46

Unter Bezug auf die intermedialen Verflechtungen des Romans lässt sich beobachten, wie das Lied von den Verlorenen Gesichtern zur »melancholischen Grundmelodie der Todessehnsucht«47 Tschaikowskys wird und gleichzeitig als eigenständiges Motiv fungiert. Dieses erscheint als Variation des Abschiedsbzw. Todesthemas, besonders in Anbetracht der letzten Sinfonie, und verbindet sich mit einem zweiten Selbstzitat Klaus Manns, welches das Jenseits als vertraute Gegend charakterisiert. Im Essay Radikalismus des Herzens (1932), der zum Andenken an Ricki Hallgarten verfasst wurde, behauptet der Intellektuelle: Der Tod ist mir eine vertrautere Gegend geworden, seit ein so inniger Vertrauter meines irdischen Lebens sich ihm, dem Tode, der mir einst so fremd tat, freiwillig anvertraut hat. Wo ein Freund wohnt, kennt man sich doch schon etwas aus, ehe man selber hinkommt.48

Auf ähnliche Weise drückt sich der Komponist im letzten Kapitel aus: So viele meiner Freunde haben sich dort versammelt. Sie machen mir die fremde Gegend vertraut. Ich fühle mich schon ganz dort zu Hause. Wo die Freunde sich aufhalten, da sind wir doch comme tout — fait chez nous. (SP 333f.)

Zum Schluss wird das Lied von den Verlorenen Gesichtern dann mit der Variante der ›vertraut gewordenen Gegend‹ vernetzt. Diese Konjunktur nimmt Tschaikowskys nahe bevorstehenden Tod vorweg, sodass ›die vertraute Gegend‹ zum endgültigen Ort der Erlösung wird: »Im langsamen letzten Satz singt der Sterbensmüde sich selber das Requiem. Denn sein Herz lechzt nach der dunklen Gegend, wo so viele seiner Lieben sich versammelt haben. Dort wird er die verlorenen Gesichter wiederfinden« (SP 335). Aus diesem Grund bestimmen sich diese intertextuellen Elemente als wahrhaftige Leitmotive, die zur musikliterarischen Strukturierung von Symphonie Path¦tique beitragen, was die Zuordnung des Liedes von den Verlorenen Gesichtern zum gesamten Motiv-Repertoire des Romans legitimiert.

46 Klaus Mann, Lied von den Verlorenen Gesichtern, in Fluch und Segen, S. 52–55. 47 Alexa-D¦sir¦e Casaretto, Heimatsuche, Todessehnsucht und Narzißmus in Leben und Werk Klaus Manns (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2002), S. 160. 48 Klaus Mann, ›Ricki Hallgarten: Radikalismus des Herzens‹, in Die neuen Eltern: Aufsätze, Reden, Kritiken 1924–1933 (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1992), S. 411.

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IV.4

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Die mise en abyme

In Klaus Manns Künstlerbiografie ist ein weiteres intermediales Verfahren zu beobachten, das auf der Mikroebene Anwendung findet, und zwar die Remedialisierung von Literatur und Musik. Diese verwirklicht sich als Folge des herrschenden Projektionsprinzips, auf dem die Beziehung zwischen Autor und Figur basiert. In der biografischen Gattung scheinen »die Grenzen zwischen der Schilderung und Auslegung eines fremden Daseins und einem autobiographischen Unternehmen […] zu verfließen«,49 was mit Klaus Manns Behauptung, der Tschaikowsky-Roman sei »ein autobiographisches Buch«50 und sogar sein bestes, übereinstimmt. Durch die Projektionsmethode wird es möglich, besonders den Abschnitt über Tschaikowskys Oper Pique-Dame op. 68 (1890) im 6. Kapitel der deutschen Fassung zu analysieren. Zusätzlich zur detaillierten Darlegung des Werks, also der Ekphrasis-Technik, die in der Beschreibung des Drei-KartenMotivs durch »drei dumpfe[], von den Kontrabässen gezupfte[] Töne[]« (SP 212) gipfelt, realisiert der Schriftsteller eine komplexe mise en abyme, die sich durch einen Medientransfer auszeichnet. Die autobiografische Lektüre wird nun auf Tschaikowsky angewandt, denn der Komponist fühlte sich der Hauptfigur von Puschkins homonymer Erzählung (1834) sehr nah: »Hermanns Tragödie rührte ihn, weil sie ihm ganz und gar verständlich war« (SP 211). Diese Worte erinnern an die vielen Aussagen Klaus Manns über den Russen, in denen die Affinität zwischen beiden unterstrichen wird, wie folgende Beispiele zeigen: »Ich hatte das Gefühl, ihm ganz nahe zu sein, während ich schrieb«,51 oder »Ich wählte mir diesen Helden, weil ich ihn liebe und weil ich ihn kenne: ich weiß alles von ihm«.52 Der Autor stellt im Roman die Hypothese auf, dass der Pique-DameStoff seinen ›Menschenbruder‹ reizte, weil er Hermanns Passion für das Kartenspiel teilte und sie mit der eigenen Leidenschaft für Wladimir verglich: Diese tragische und schicksalshafte Passion des jungen Helden […] – die blinde Passion für den Spieltisch. Denn Tschaikowsky – sehr erfahren in der Verschwendung des Gefühls – wußte, daß es beinah gleichgültig ist, für welches Trugbild man die Leidenschaft sinnlos aufwendet und nutzlos opfert. (SP 210f.)

Außerdem antizipiert das Kartenspiel Tschaikowskys tödliches Spiel mit dem Glas ungekochten Wassers, weil es damals ein weit verbreiteter russischer Brauch war, die Entscheidung über das eigene Leben der göttlichen Instanz zu überlassen und so diskret und unauffällig aus dem Leben zu scheiden.53 49 50 51 52 53

Panagl, ›Der Künstlerroman‹, S. 175. Mann, Tagebücher, S. 117 (13. 07. 1935). Mann, ›Selbstanzeige‹, S. 379. Mann, Der Wendepunkt, S. 457. Dieser russische Brauch heißt Zagiba. Darüber schreibt Tschaikowskys Biograf Richard H.

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Trotz dieses wichtigen Berührungspunktes ist Tschaikowskys Verhältnis zur Protagonistin Lisa ebenfalls zu untersuchen, da der Russe in seinen Opern eher dazu neigte, sich in weiblichen Figuren widerzuspiegeln als in männlichen.54 Pique-Dame ist Tschaikowskys dritte Oper, deren literarischer Hintergrund Puschkin entnommen wurde. Vor diesem Werk hatte der Komponist an Eugen Onegin op. 24 (1879) und Mazeppa (1884) gearbeitet, in denen die wichtigen Frauenfiguren Tatjana und Maria spielen.55 Im Tschaikowsky-Roman wird betont, dass der Künstler selbst sich für wesentliche Änderungen des Handlungsverlaufs entschied und eigene Texte für die Gestaltung von Lisa verfasste, vor allem was die Szene ihres Freitodes anbelangt. Aus diesem Grund stellte sich der Musiker mit Pique-Dame nicht nur als Opernkomponist vor, sondern auch als Mit–Librettist, obgleich das endgültige Libretto von seinem Bruder Modest angefertigt wurde.56 Da der Komponist seine Opernsujets aufgrund einer tiefen affektiven Verwandtschaft auswählte, spürte er im Fall der Pique-Dame das intime Bedürfnis, Lisa als zentrale Figur zu schildern, weil sie die große Erfahrung der Liebe macht. Dennoch ist sie ihr verweigert, weil Hermann die Protagonistin für Geld und sozialen Aufstieg verlässt. In der Folge verwandelt sich Lisas blinde Leidenschaft in eine moralische Heimsuchung, die das Mädchen am Tod der Gräfin mitschuldig macht. Gerade im Schuldgefühl, mit dem sich die unglückliche Liebe mischt, besteht Tschaikowskys wichtigste Neuerung im Vergleich zu Puschkin. In ihrer Verzweiflung nimmt Lisa Hermanns Schuld auf sich und sieht keinen anderen Ausweg als den Selbstmord, um ihre Sünde zu büßen. Der Freitod ist die Konsequenz ihrer übertriebenen Liebe wie ihres schlechten Gewissens, das sich gewissermaßen mit Tschaikowskys belastender Homosexualität und der Frustration über seine gescheiterte Ehe verknüpft. Eine weitere Erfindung des Komponisten ist die Todesursache, Lisas Ertrinken in einem Petersburger Kanal. Dieses Detail offenbart, inwieweit der Musiker seine Selbstmordwünsche auf die Opernfigur projizierte. 1877 beschloss er nach der Hochzeitsreise mit Antonina, »Gott zu provozieren, ob Er ihn nicht wollte Stein: »Der Russe […] glaubt, nur eine erlaubte Probe zu machen, wenn er Cholerawasser trinkt. Stirbt er, so hat ihn Gott nicht gesund werden lassen […]. Bleibt er am Leben, so ist dies ein sichtbares Zeichen, daß Gott noch Großes mit ihm vorhat.«, zit. in Fredric Krolls Nachwort zu Mann, Symphonie Path¦tique, S. 386. 54 Hier lehne ich mich an die neuesten Ergebnisse der Tschaikowsky-Forschung an. Vgl. Kadja Grönke, Frauenschicksale in Cˇajkovskijs Pusˇkin-Opern: Aspekte einer Werke-Einheit, ˇ ajkovskij-Studien, 5 (Mainz u. a.: Schott, 2002). C ˇ ajkovskijs Liza (Pikovaja dama): eine Projektionsfigur‹, Archiv für 55 Vgl. Kadja Grönke, ›C Musikwissenschaft, 59, Heft 3 (2002), S. 167–185. 56 Vgl. ebd., S. 173. Siehe auch dies., ›Enttäuschung im Übermaß: Lisas Verzweiflung und Flucht in den Tod in Tschaikowskis Oper Pikowaja dama‹, in Verzweiflung als kreative Herausforderung: Psychopathologie, Psychotherapie und künstlerische Lösungsgestalt in Literatur, Musik, Film, hrsg. von Hermes A. Kick und Günter Dietz (Berlin: Lit Verlag, 2008), S. 237–247.

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sterben lassen […]. Er eilte nachts an den Moskwa-Fluß […]. Seine zuversichtliche Hoffnung war, sich eine Lungenentzündung zu holen und an ihr unauffällig zu sterben« (SP 155). Die Wassermetaphorik bezeichnet den Todestrieb des Protagonisten, weil vergiftetes Wasser auch das Mittel ist, das den Tod von Tschaikowskys Mutter Alexandra verursacht und mit dem Leitmotiv ›Man soll der Mutter folgen‹ verbunden ist. Dieses wird wörtlich befolgt, weil der Künstler genau wie seine Mutter stirbt. In Bezug darauf kommentiert der Erzähler : Alexandra Andrejewna Tschaikowsky hatte sterben wollen. […] Zum direkten, offenen Selbstmord hätte sie sich nicht entschlossen, denn sie war fromm. Aber niemals hatte Gott verboten, ein Glas Wasser zu trinken. Es lag bei Ihm, ob Er es vergiftet lassen sein wollte oder nicht: man selber hatte jedenfalls nichts Böses hineingetan, die Entscheidung blieb Ihm durchaus vorbehalten. (SP 141)

Nach der Bestellung unabgekochten Wassers spürt Tschaikowsky den widerlichen Geschmack der lauwarmen Flüssigkeit, vor der sich seine Mutter auch ekeln musste und mit der sie sich freiwillig infizierte. In erlebter Rede äußert sich die Hauptfigur dazu: »Meine liebe Mutter. Auch du warst tapfer und hast brav geschluckt. Widerspenstigen Kindern, die ihre Medizin nicht nehmen wollen, sagt man: Sei artig und denke an deine Mutter! Ihr sollst du immer folgen!« (SP 348) Nachdem das Glas Wasser ausgetrunken ist, berichtet die Erzählstimme lakonisch: »Die letzte Entscheidung blieb der höchsten Instanz vorbehalten. Sie hätte verfügen können, wie damals, nach einem gewissen eisigen Bad im Moskwa-Fluß, als sie die frevelhafte Provokation mit einem Schnupfen beantwortete. Diesmal reagierte sie anders« (SP 349). Fernerhin bestimmt Wasser den Tod zweier Nebenfiguren: Zuerst denjenigen eines Unglücklichen, der während der Reise nach New York aus dem Schiff ins Meer springt und ertrinkt;57 zweitens denjenigen des eitlen Apuchtin, »de[s] arge[n] und verführerische[n] Engel[s]« (SP 326) aus Tschaikowskys Jugend, der an Wassersucht stirbt. Abschließend ist die Projektionshypothese sowohl für Klaus Mann als auch für den realen Tschaikowsky aufschlussreich. Für beide entspringt die Schöpfungskraft einer geistig-gefühlsbetonten Projektion auf autobiografische Figuren, durch welche die eigenen Lebenserfahrungen, Hoffnungen und Komplexe mittels affektiver Veranlagung zum ausgewählten Sujet künstlerisch verarbeitet werden.58 Der gesamte Projektionsvorgang der Oper Pique-Dame entwickelt sich aus mehreren intermedialen Phasen. Das Ausgangsmaterial ist Puschkins Novelle, der Tschaikowsky den Stoff für seine vorletzte Oper entnimmt. Diese 57 Der Komponist sympathisiert mit diesem Menschen und betrachtet seinen Selbstmord keineswegs als »das bitterste Ärgernis« (SP 275) bei Gott, sondern als Einweihung in ein vertrautes Geheimnis. ˇ ajkovskijs Liza‹, S. 179. 58 Vgl. Grönke, ›C

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Gattung ist das Ergebnis einer Medienkombination, denn im entstehenden Produkt sind drei als distinkt wahrgenommene Medien – Theaterkunst, Literatur und Musik – materiell präsent.59 Klaus Mann seinerseits nimmt in seiner Tschaikowsky-Biografie keinen Bezug auf die russische Erzählung, sondern greift nur auf das musikalische Bühnenwerk zurück, sodass seine Beschreibung der Pique-Dame von einem zweiten Medientransfer charakterisiert wird.60 Diese neue Remedialisierung bringt den Pique-Dame-Stoff in den literarischen Bereich zurück, gleichzeitig prägt sie ihn definitiv durch Musik, da die Novelle unter der Form ihrer Opernbearbeitung in einem Musiker-Roman skizziert wird. Bemerkenswert ist außerdem, dass Tschaikowsky sich seinem Werk zu einem kritischen Zeitpunkt widmete. In den 1890er Jahren erreichte er den Höhepunkt seiner Lebenskrise, weil er sich mit seiner von ihm getrennt lebenden Frau Antonina wieder auseinandersetzen musste und den Tod vieler Freunde erlebte, dazu verlor er die Unterstützung von Nadeshda von Meck, wahrscheinlich infolge ihrer Entdeckung seiner verheimlichten Homosexualität. Parallel zu Tschaikowskys Schwierigkeiten befand sich Klaus Mann 1935 in einer ungünstigen Lage. Am 5. August wurde das letzte Heft der Sammlung veröffentlicht, was ein schwerer Schlag für den Herausgeber war, weil diese Zeitschrift während seines europäischen Exils eine große antifaschistische Unternehmung bedeutet hatte. Übrigens war der Schriftsteller vom Exilleben degoutiert, er musste sich täglich vor vielen »lebenstechnischen Probleme[n] von quälender Kompliziertheit« ekeln, »wozu der psychologische Druck, die seelische Spannung kam« sowie »die hilflose, verzweifelte Angst vor einem Verhängnis, das man immer unabwendbarer, immer unentrinnbarer werden sah«.61 Die Berührungspunkte zwischen Tschaikowsky und Lisa einerseits, Klaus Mann und Tschaikowsky andererseits zeigen, dass die Episode der Pique-Dame den ganzen Roman im Mikrokosmos veranschaulicht. Die ganze Handlung hindurch bemüht sich der Verfasser um »eine Rückverwandlung der Musik Tschaikowskys in Sprache, die Verwandlung der Töne in Worte«62 und verwirklicht seine Absicht unter Berücksichtigung von Tschaikowskys Persönlichkeit, seinen Schwächen und seiner musikalischen Farbgebung. Darüber hinaus wurde die Homosexualität des Musikers in Symphonie Path¦tique im Vergleich zu den damals verfügbaren Biografien sehr betont. Dieser Aspekt kann in Anbetracht des besonderen Entstehungskontextes erklärt werden. 1934 verfasste Klaus Mann den Aufsatz Homosexualität und Faschismus, in dem er ein Muster des guten und produktiven Homosexuellen gegen die neuerliche Kri59 Vgl. Rajewsky, Intermedialität, S. 201. 60 Ein Medientransfer ist die »Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts […] in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium«, ebd. 61 Mann, Der Wendepunkt, S. 461. 62 Kroll, Täubert, Im Zeichen der Volksfront, S. 525.

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minalisierung der Homoerotik unter dem Sowjetregime vorschlug. Die Homosexuellen sollten nicht ›ausgerottet‹, sondern im Namen »eines neuen Humanismus«63 integriert und gefördert werden. Dieser sozialistische Humanismus war auch das Ideal, mit dem der Aktivist den Faschismus bekämpfte. Deshalb sollte das Beispiel des fiktionalen Tschaikowsky der Erläuterung des künstlerischen Potenzials sowie der kulturellen Fruchtbarkeit aktiver Homosexueller dienen.64 Dennoch soll Symphonie Path¦tique nicht lediglich als das literarische Pendant von Homosexualität und Faschismus begriffen werden, weil der Roman jenes intime Bedürfnis nach lyrischer und geistiger Konsistenz erfüllt, der Klaus Manns engagiertes Werk hingegen geringen Platz einräumt. Folglich repräsentiert diese psychologisierende Dimension keine Ausnahme, sondern eine komplementäre Tendenz der mannschen Ästhetik,65 wie die poetische Bedeutung der Novelle Vergittertes Fenster (1937) über den Willen zum Tod des Bayernkönigs Ludwig II. ebenfalls beweist.66

63 Klaus Mann, ›Homosexualität und Faschismus‹, in Zahnärzte und Künstler, S. 242. Mit der Idee der Ausrottung der Homosexuellen spielt Klaus Mann ironisch auf Maxim Gorki an. Im selben Aufsatz zitiert er die entsprechende Äußerung des russischen Schriftstellers, dem er sich deutlich entgegenstellt: »Man rotte alle Homosexuellen aus – und der Faschismus wird verschwunden sein!« (S. 237). Vgl. Gert Mattenklott, ›Die Wunde Homosexualität: Klaus Mann‹, Das Argument: Studienhefte, 42 (1980), S. 13. 64 »Es mag sein, daß das Leben eines, der Knaben, Jünglinge oder junge Männer liebt, noch reicher an Schmerzen und Verwirrungen, an Entsagung, Bitterkeit, Einsamkeit und Enttäuschung ist als das eines sogenannten Normalen. Die Schmerzen haben sich zuweilen […] in eine hoffnungslose Verzweiflung [umgesetzt]; zuweilen aber auch in eine große Produktion. Über die Welt hat diese Veranlagung […] gewiß nicht besonders viel Unglück gebracht, sondern eher die Beglückung durch viele Schöpfungen, die an Glanz und Macht nicht dadurch verlieren, daß sie geboren wurden aus Schmerzen – wie jede Schöpfung von Rang.« Mann, ›Homosexualität und Faschismus‹, S. 240. 65 Der Literaturwissenschaftler Friedrich Albrecht unterstreicht die wechselseitige Ergänzungsfunktion von Symphonie Path¦tique und Mephisto. Roman einer Karriere (1936), weil Klaus Mann in beiden Romanen gesellschaftliche Verhältnisse schildert und ihre fragwürdigen Züge betont. In dieser Perspektive konzipierte er den Tschaikowsky-Roman nicht so sehr als Antithese der Nazizeit, sondern als Vorahnung ihres makabren Pomps, dessen Ursprung auch im hochkapitalistischen und bourgeois-prosperierenden Milieu des späten 19. Jahrhunderts zu suchen ist. Vgl. Friedrich Albrecht, ›Symphonie Path¦tique‹, S. 187f. Siehe auch Klaus Mann, ›Selbstanzeige: Mephisto‹, in Zahnärzte und Künstler, S. 408. 66 Vgl. Mann, Der Wendepunkt, S. 508f. Bemerkenswerterweise drückt sich die TschaikowskyFigur mit Verständnis und Empathie über den Bayernkönig aus: »Was hatte ein Arzt da zu suchen? Dieser König war vielleicht gar nicht so sehr verrückt. Er wollte nur seinen Frieden. Wenn einer seinen Frieden will, dann sagen die anderen, er sei verrückt« (SP 122).

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V.

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Fazit

Die intermediale Untersuchung von Symphonie Path¦tique dokumentiert die wichtige Rolle, die dieser Ansatz für die Klaus-Mann-Forschung als neues Interpretationsparadigma spielt, weil die Wechselbeziehung zwischen Autor und Gesamtwerk sowie sein künstlerisches Verfahren durch eine solche Analyse auf ausschlaggebende Weise vertieft werden kann.67 Im Fall von Symphonie Path¦tique ist die Entscheidung für die Gattung des Musiker-Romans maßgebend, nicht nur weil diese Musikerbiografie ein Einzelfall im Erzählwerk Klaus Manns ist, sondern auch weil der Intellektuelle sich damit bemühte, musikalische Strukturen literarisch zu imitieren und formale Parallelen der Wort- und Tonkunst anzuwenden. Zum Schluss sollen diese Erzähltechniken mit der Beziehung zwischen seiner Psychodynamik und derjenigen des dargestellten Künstlers in Einklang gebracht werden. In der Fiktionalisierung wirklicher Musik und kompositorischer Prozesse findet Klaus Mann den Inbegriff seines Schriftstellertums. Die Biografie Tschaikowskys symbolisiert die intimste ›Melodie‹, die der Autor seit seinem Debüt in den 20er Jahren suchte. In diesem MusikerRoman siegt der künstlerische Impuls als Überlebensstrategie über die »Heimsuchungen des Eros«68 sowie über den quälenden Selbstzweifel und die materielle Not des Exillebens.

67 Vgl. Werner Wolf, ›Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung der Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs The String Quartet‹, AAA: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik, 21, Heft 1 (1996), S. 85–116. 68 Mann, Der Wendepunkt, S. 458.

Frank Weiher

Die literarische ›Wiedergabe‹ fiktiver Musik. Über Adrian Leverkühns Kompositionen im Doktor Faustus

In seinem ›Fragment über Musik und Sprache‹ konstatiert Adorno: »Im Gegensatz zum Erkenntnischarakter von Philosophie und Wissenschaft verbinden sich in der Kunst die zur Erkenntnis versammelten Elemente durchweg nicht zum Urteil«.1 Er leitet dies aus der Überlegung ab, dass Sprache und Musik zwei unterschiedliche Interpretationsbegriffe zugrunde liegen: Musik und Sprache verlangen diese gleichermaßen und ganz verschieden. Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren: Musik machen. […] Darum gehört die Idee der Interpretation zur Musik selber und ist ihr nicht akzidentell. […] Diese erheischt Nachahmung ihrer selbst, nicht Dechiffrierung. [Musik erschließt sich] niemals einer Bedeutung, die sich unabhängig von ihrem Vollzug deutet.2

Musik ist, anders als Sprache, die sich, in der Schrift ihre gesamte Bedeutung erfassend fixieren lässt, nur dann Musik, wenn sie erklingt. Deshalb ist Interpretation der Musik inhärent und nicht akzidentell. Auch wenn Adornos Auffassung der Interpretation von Sprache als Dechiffrierung, vor allem dann, wenn es sich um literarische Werke handelt, diskussionswürdig ist,3 schafft seine Auffassung bezüglich der Interpretation von Musik eine Sensibilität dafür, wie wesentlich der Akt des Musikmachens für diese Kunstform ist. Musik tritt nur für die Zeit in Erscheinung, in der sie produziert wird; auch wenn sich natürlich durch Speichermedien diese Zeit des Musizierens fixieren und anschließend unbegrenzt oft wiederholen lässt. Papier ist geduldig, Musik ist dies ihrem Wesen nach nicht. Wenn es im Folgenden um die ›Wiedergabe‹ von Musik in einem literarischen Werk gehen soll, nämlich um die Kompositionen Adrian Leverkühns in Thomas 1 Theodor W. Adorno, ›Fragment über Musik und Sprache‹, in Gesammelte Schriften, Bd. 16: Musikalische Schriften I–III (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978), S. 251. 2 Ebd. 3 Vgl. hierzu u. a. Frank Weiher, ›Die dichterische Bedeutung Richard Wagners für Thomas Mann‹, in Richard Wagner – ein einmaliger Rezeptionsfall, hrsg. von Berta Raposo (Heidelberg: Winter, 2014), S. 187–218, insbesondere das Kapitel Über Deutung und Interpretation, S. 210–218.

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Manns Doktor Faustus, ist der Verweis auf Adorno deshalb hilfreich, weil die erwähnten gegensätzlichen Aspekte von Sprache und Musik für den Untersuchungsgegenstand beide von Bedeutung sind: Denn wir haben es ja mit Musik und Sprache in einem Kunstwerk zu tun. Aber – und hierin liegt das folgenreiche Problem – gleichzeitig haben wir es mit einem Kunstwerk zu tun, das ausschließlich aus Sprache besteht, so dass die typisch musikalischen Aspekte, die Adorno erwähnt, durch die Kunstform des literarischen Werks von vornherein negiert werden. Literatur ist keine Musik und kann keine Musik sein. Da die Wiedergabe von Musik immer ein schwieriger und kniffliger, gleichzeitig ein bedeutender Aspekt in vielen großen Werken der Literatur spätestens seit der Romantik ist, verdient die Intermedialitätsforschung vom literaturwissenschaftlichen Standpunkt betrachtet hohe Aufmerksamkeit. Einen Schlüsselbegriff innerhalb des intermedialitätstheoretischen Forschungsfeldes bildet hierbei die Evokation, also die literarische Wiedergabe derjenigen musikalischen Werke, die namentlich genannt werden, die der Leser kennt und die somit an seiner eigenen Hörerfahrung und Erinnerung partizipieren. Evokation ist auch in erster Linie das Prinzip, nachdem Thomas Mann seine literarischen Schilderungen von Musik gestaltet. Von Hanno Buddenbrooks Wagnerparaphrasen am Klavier über die Novelle Tristan bis hin zu Hans Castorps Vorzugsplatten im Zauberberg verdankt sich die Treffsicherheit musikalischer Schilderungen der Evokation beim Leser, der wieder zum Hörer vorm inneren Ohr wird.4 Nun kann der Doktor Faustus zu einem großen Teil diesen Weg der Evokation nicht gehen, weil er die fiktiven Werke eines fiktiven Komponisten schildert, die der Logik der Romanhandlung folgend auch noch avantgardistisch und somit bisher im wahrsten Sinne ›unerhört‹ sind. Es sollte in der Thomas Mann-Forschung inzwischen Konsens sein, dass eine Deutung des Doktor Faustus mit rein auf Adorno zurückgehenden Paradigmen nicht möglich ist. Nicht zuletzt Hans Rudolf Vaget hat auf die großen Probleme der Zusammenarbeit Manns mit Adorno ausdrücklich hingewiesen.5 Es trafen bei Mann und Adorno immer wieder zwei komplementär ausgerichtete Weltvorstellungen aufeinander, die sich letztlich auf den fundamentalen Gegensatz Hegel – Schopenhauer zurückführen lassen. Zum ›Bruch‹ der Beziehung kommt es schließlich, wenn die Geister Manns und Adornos sich völlig an der Interpretation Wagners scheiden. Hier sieht Adorno, der Nietzsches bewusster und rein polemischer Fehldeutung des Ring des Nibelungen aus Der Fall Wagner auf 4 Vgl. hierzu zuletzt Weiher, ›Die dichterische Bedeutung‹, S. 197–199. 5 Zum Verhältnis Manns zu Adorno und zur Zusammenarbeit bzgl. des Doktor Faustus vgl. Hans Rudolf Vaget, Seelenzauber (Frankfurt am Main: S. Fischer, 2006), insbesondere das Kapitel ›Philosophisch alarmierende Musik: Thomas Mann und Adorno‹, S. 279–413.

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den Leim geht,6 am Schluss der Götterdämmerung nur den Rückfall in Pessimismus und Resignation, wo Thomas Mann, richtig und treffsicher, das Potential der Erlösung und die gefeierte Utopie der finalen Motive und Akkorde erfasst. Noch in der Einführung in die Musiksoziologie gibt Adorno dem Finale der Götterdämmerung mit den Worten Ausdruck: Wagners Tonfall bekundet die soziale Tendenz, Arbeit und Anstrengung der eigenen Vernunft zugunsten der schlagenden und überredenden Gewalt zu verleugnen und Freiheit zurückzunehmen ins trostlose Einerlei des Naturkreislaufs.7

Der Linkshegelianer Adorno versteht hier den Linkshegelianer Wagner nicht, denn dieser – ungetrübt von allem Pessimismus Schopenhauers – ist Wagner im Finale der Götterdämmerung geblieben. Der Salonmarxist, der in der Musiksoziologie die Theorie eines idealen Hörers entwarf, der sämtliche mögliche Modulationen eines Themas beim ersten Hören evoziert, ist für die Tonsprache des Barrikadenkämpfers von 1848 taub. Man ist geneigt, der Auffassung des Musikologen Stefan Mickisch zuzustimmen: »Adorno hatte kein Gefühl für Wagner, ja man muß vielleicht sogar sagen, kein Gefühl für Musik«.8 Zeitlebens war Thomas Manns Zugang zur Musik ein anderer als der intellektuelle Adornos. Als Hörer und Theaterbesucher, allerdings auch als dilettierender Klavierspieler, erschloss sich für Mann die Sphäre der Musik; und hierbei lag der Fokus stets auf der Oper und dem Lied, weniger im Bereich der Symphonien und der Kammermusik, die wiederum für Adorno die musikalischen Formen schlechthin bedeuteten. Manns musikalische Leidenschaft war das romantische und spätromantische Repertoire, wo bei Adorno Beethoven und die Zweite Wiener Schule im Zentrum standen. Hieraus folgt auch, dass Thomas Mann, der für seine Gestaltungsgabe und Treffsicherheit bei der Wiedergabe von Musik berühmt ist, sein Augenmerk auf Musik richtet, die in einem dramatischen bzw. epischen Kontext steht, während Adorno sich auf die Logik des musikalischen Prozesses, innerhalb eines Werks so gut wie auch musikgeschichtlich, fokussiert, so dass die sogenannte ›absolute Musik‹ den Schwerpunkt und das Ideal seiner Auseinandersetzung bildet. Diese Differenz blieb nicht ohne Folgen für die Zusammenarbeit am Doktor Faustus, wo Adorno schnell zum Berater Manns in musikalischen und musikgeschichtlichen Fragen avancierte. 6 Vgl. grundlegend zur Korrektur des in der Forschung meist unter verkehrten Vorzeichen gegenwärtigen ›Bruchs‹ Friedrich Nietzsches mit Person und Werk Richard Wagners: Manfred Eger, Nietzsches Bayreuther Passion, (Freiburg: Rombach Druck- und Verlagshaus, 2001). 7 Theodor W. Adorno, Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, in Gesammelte Schriften, Bd. 14 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978), S. 245. 8 Stefan Mikisch, ›Empfehlungen zur »Wagnerliteratur«‹, online unter http://www.mickisch.de/ index.php?id=105 [Stand: 05. 03. 2015].

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Thomas Manns steht im Doktor Faustus, der das, so auch der Untertitel, Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt, vor einer schweren Herausforderung, die schnell Züge des Problematischen trägt: Mann, von der spätromantischen und vor allem wagnerschen Musikästhetik geprägt, muss aus Gründen der historischen Verortung seines Komponisten im frühen 20. Jahrhundert für Adrian Leverkühn eine Kompositionstechnik wählen, die den Wagnerismus durch eine völlig neue Tonsprache zu überwinden versuchte: die Zwölftonmusik der Zweiten Wienerschule. Fiktion und historische Realität verbinden sich hier auf folgenreiche Weise – und dies ist, wie überhaupt die Wahl der Zwölftontechnik als Kompositionsprinzip Leverkühns, in mehrfacher Hinsicht problematisch: 1. Im Roman leitet Adrian seine Kompositionstechnik aus der Tonfolge h – e – a – e – es ab, dies ist die Chiffre für Hetaera Esmeralda, jener Prostituierten, bei der Adrian sich mit Syphilis infiziert und die somit seine Inspiration in Gang setzt. Diese Infizierung ist auch Initiation und Sinnbild des Teufelspakts. Gleichzeitig aber ist diese Kompositionstechnik ja in realiter erfunden worden. Ohne Hetaera Esmeralda, ohne Syphilis und ohne Teufelspakt, eben von Arnold Schönberg. So sah sich denn Schönberg genötigt einen fiktionalen Lexikonartikel zu verfassen, der Adrian Leverkühn – und hierdurch letztlich Thomas Mann – als Erfinder der Zwölftontechnik auswies. Mann ruderte zurück und veröffentlichte den Roman fortan mit einer Erklärung, die darauf hinwies, dass Leverkühns Kompositionstechnik in weiten Teilen Schönberg verpflichtet sei. Man muss diesen Sachverhalt vor allem von seinem (roman)ästhetischen Kontext erfassen: Fiktionalität und Realität kreuzen sich durch diesen Umstand gewissermaßen auf zweiter Ebene erneut und gehen eine ungünstige Mischung ein, denn der realen Zwölftonmusik haftet nun der Makel des Dämonischen und Krankhaften an. Schönberg hätte auf der einen Seite froh sein müssen, dass er nicht mit Leverkühns Komponistenkarriere in Verbindung gebracht wird; auf der anderen Seite fürchtete er verständlicher Weise um seinen Ruhm. Die Angst vor dem ausbleibenden Ruhm aber markiert das zweite Problem an Leverkühns Kompositionen. 2. Leverkühn ist kein Ästhetizist.9 Er ist dies ebenso wenig wie Ludwig van Beethoven oder Richard Wagner. Ganz klar steht bei ihm, wie bei den beiden anderen, eine humanistische und utopische Botschaft im Vordergrund des Werks.10 Diese Botschaft aber richtet sich an die Menschheit, an das Volk. Und hiermit kommt das Problem des Akademismus ins Spiel. 9 Anders zuletzt: Luca Crescenzi, ›Abschied vom Ästhetizismus. Deutschlands ethische Wende und die musikalische Symbolik des Doktor Faustus‹, in Thomas Mann Jahrbuch, 27 (2014), S. 95–107. 10 Vgl. hierzu Tim Lörke, Die Verteidigung der Kultur : Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2010), S. 237.

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Es ist wiederum Adorno, der das Problem des Akademismus in den musikalischen Diskurs insoweit einführt, dass er in der Einführung in die Musiksoziologie darauf hinweist, dass Musik eines gewissen Typus – er selbst macht es an Johannes Brahms fest – derart um sich selber kreist, um Form, Variation etc., so sehr ihr Augenmerk auf die innermusikalische Struktur lenkt, dass sie vom Hörer nicht mehr verstanden wird. Dem Genie nach dem Muster des 19. Jahrhunderts wie etwa Brahms, so Adornos Auffassung, ist dieser Umstand gleichgültig, während Beethoven in massive Selbstzweifel gerät, wenn seine späten Streichquartette nicht verstanden werden. Ohne es zur Kenntnis zu nehmen, vertritt Adorno hier die Auffassung Richard Wagners, die ihn auf das Wort ›absolute Musik‹ brachte. ›Absolute Musik‹ war nämlich für Wagner solche, die lediglich um ihrer selbst willen geschrieben wird, Musik als Selbstzweck, als ›L’art pour l’art‹. Während für Wagner selbst Musik stets Mittel des dramatischen – Thomas Mann würde sagen – des epischen Ausdrucks sein musste. Durch die Kompositionstechnik der Zweiten Wienerschule, die ja eine komplett neue Musiksprache ins Leben ruft, wird das Problem des Akademismus aber gleichsam auf die Spitze getrieben, indem hier Form, Variation und innermusikalische Struktur der musikalischen Logik derart inhärent sind, dass sich die Logik dieser Musik nicht erschließt, wenn man ihre Regeln nicht kennt. Adorno rechtfertigt dies, indem er die historische Logik der Musikgeschichte, ihre Weiterentwicklung ins Feld führt; der historischen Prozesslogik zufolge dürfte und könnte es einen Komponisten wie Giacomo Puccini etwa gar nicht geben. Der Eindruck, Adrian Leverkühn sei ein Ästhetizist – und diesen Eindruck vermittelt der Roman durchaus – verdankt sich also nicht dem Ästhetizismus, sondern dem Akademismus seiner Tonsprache. Er steht im Kontext einer Kunst bzw. Ästhetik, die sich immer deutlicher vom Volk und hierdurch von der humanistischen Verständigung entfernt. Es ist seinerzeit bereits Richard Wagner, der durch sein Alter Ego Hans Sachs in den Meistersingern von Nürnberg vor dieser Entwicklung der Kunst warnt: Vernehmt mich recht! Wie ihr doch tut! Gesteht, ich kenn die Regeln gut; und dass die Zunft die Regeln bewahr, bemüh ich mich selbst schon manches Jahr. Doch einmal im Jahre fänd ich’s weise, dass man die Regeln selbst probier, ob in der Gewohnheit trägem Gleise ihr’ Kraft und Leben nicht sich verlier. Und ob ihr der Natur noch seid auf rechter Spur, das sagt euch nur,

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wer nichts weiß von der Tabulatur. [….] Drum möcht’ es euch nie gereuen, dass jährlich am Sankt-Johannes-Fest, statt dass das Volk man kommen lässt, herab aus hoher Meisterwolk ihr selbst euch wendet zu dem Volk. Dem Volke wollt ihr behagen; nun dächt ich, läg es nah, ihr ließt es selbst euch auch sagen, ob das ihm zur Lust geschah! Dass Volk und Kunst gleich blüh und wachs, bestellt ihr so, mein ich, Hans Sachs!11

Die hier von Sachs befürchtete Diskrepanz von Volk und Kunst, die durch eine Entfremdung bzgl. des Akts des Verstehens verursacht wird, schlägt mit der Tonsprache der Zweiten Wienerschule voll durch. Adornos Forderung, alle Kunst müsse Kritik sein, beißt sich genau an diesem Punkt die Zähne aus, denn was weitestgehend nicht verstanden wird, kann nicht dem hohen aufklärerischen Anspruch der Kritik genügen. Mit der neuen Musiksprache ist die »hohe Meisterwolk«, von der Sachs spricht, zum normativen Diktum der Neuen Musik geworden. Dieser normative Status verdankt sich Normen und Regeln, die die Zunft selbst aufgestellt hat, er verdankt sich der Tabulatur. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist die Zwölftonmusik im schlechten Sinne des Wortes elitär ; und dieser Umstand führt bei Adrian Leverkühn dazu, dass man ihn des Einsamkeitshochmuts bezichtigen kann; sein Akademismus ist mit Ästhetizismus leicht zu verwechseln. Genau an diesem Punkt erweist sich die Romankonzeption Thomas Manns als eine clevere Lösung, indem zwischen Adrians Musik und dem Publikum, das in diesem Fall ja ausschließlich die Leser sind, der Erzähler Serenus Zeitbloom vermittelt. Um es auf den Punkt zu bringen: seine Kompositionstechnik schildert Adrian in einem Gespräch mit Serenus selber ; die Schilderung von Adrians Kompositionen hingegen lässt sich der pädagogische Erzähler, Philologe und Humanist Zeitbloom nicht nehmen. Man muss an diesem Punkt zwischen Adrians Kompositionstechnik und Adrians Kompositionen streng unterscheiden. Seine Kompositionstechnik ist die der 12-Tontechnik, es ist Konstruktive Musik. Trotzdem stellen, wie in der Forschung durchaus auch zu lesen ist, Konstruktion und Inspiration im Fall Leverkühns keine Gegensätze oder Antipoden dar. Wenn nun Thomas Mann sagt, sein Roman »sei schließlich selber das wovon 11 Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg: Textbuch – Libretto, hrsg. von Karl-Maria Guth (Berlin: Hofenberg, 2015), 1. Akt, 3. Szene, S. 27f.

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er handelte – Konstruktive Musik«,12 dann darf man hinter dieser Formulierung eine kleine Unsauberkeit von Seiten Manns vermuten: das Erklingen der Reihe, also der 12 Töne, derer sich der Komponist im Folgenden bei seiner dodekaphonischen Komposition bedient, verwechselt Mann – was bei seiner klassischromantischen Musikvorliebe absolut nachvollziehbar ist – mit dem Motiv einer klassischen Komposition und somit schließlich mit der Leitmotivik Richard Wagners, derer Mann sich seit den Buddenbrooks und inzwischen virtuos bedient. Der symphonische Einfluss, vor allem der Beethovens, auf die Leitmotivik Wagners wird häufig unterschätzt. Seine Leitmotive sind ja keine Marker, die ab und an erklingen, wie diejenigen glauben, die als Beispiel für Wagners Leitmotivik immer das Walhall-Motiv in Sieglindes Erzählung im ersten Akt der Walküre nennen, sondern die Leitmotivik ist eben das strukturbildende Element von Wagners Kompositionen ab dem 3. Tannhäuser-Akt. Diese ›Verwechslung‹ Manns wird auch augenfällig an der Notenfolge, aus welcher heraus Adrian seine 12-Tontheorie entwickelt und die gleichzeitig als Klangfolge sämtliche seiner Kompositionen prägt: h – e – a – e – es, Hetaera Esmeralda. Die inspirierende Prostituierte, die Adrian infiziert, ist Teil des Romans, seiner Leitmotivik und so haben die Töne h – e – a – e – es nur innerhalb des Romangefüges, innerhalb des Textes diese konkrete Bedeutung; außerhalb des Romans sind h – e – a – e – es einfach die Töne h – e – a – e – es; übrigens auch dann schon vom Notensystem ins Buchstabensystem übertragen. Man sieht an diesem Beispiel, dass Kunst zu einem großen Teil darin besteht, Bedeutungen zu generieren; aus diesem Grund ist die Dechiffrierungsmethodik mancher Literaturwissenschaftler so unergiebig. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist es auch völlig unerheblich, wer die realen Vorbilder für Adrian Leverkühn – sowohl als Person, als auch in Bezug auf seine Kompositionen – sind. Die Geschlossenheit der fiktionalen Welt ist entscheidend; gerade für den Doktor Faustus, eben weil dieser Roman so tut, als hätte es Schönberg nicht gegeben, setzt er doch an seine Stelle den fiktiven Komponisten Adrian Leverkühn. Nur so geht die Logik des Romans, nach der Adrians Kunst Ergebnis syphilitischer Infektion, genialischer Entgrenzung und des Pakts mit dem Teufel ist, auf. Um hier gleich einem Missverständnis vorzubeugen: mit der Geschlossenheit der fiktionalen Welt des Romans ist nicht gemeint, dass für den Roman die Kriterien des Ästhetizismus gelten würden. Im Doktor Faustus unternimmt Mann eben jene Erforschung der deutschen Seele, die ihm während der HitlerDiktatur auf den Nägeln brennt; das ist vor allem ein moralisch-humanistisches 12 Thomas Mann, ›Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans‹, in Essays, in Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 6 (Frankfurt am Main: S. Fischer, 2009), S. 455.

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Unternehmen. Und im moralisch-humanistischen Kontext steht auch Adrians Werk, das dem Leser durch den pädagogischen Erzähler Zeitbloom vermittelt wird. Diese hermeneutische Werkvermittlung zwischen der Komposition und dem Leser wird besonders eindrucksvoll an Adrian Leverkühns letztem Werk deutlich: der Fausti Weheklag, jener Komposition, die auch intertextuell den Bogen zwischen dem alten Volksbuch vom Faust und dem Roman Thomas Manns eindringlich spannt. Jener Faust, der, anders als der Goethes, vom Teufel geholt und nicht von Gretchen erlöst wird. Adrians letzte Komposition ist, ich zitiere Zeitbloom: eine Formveranstaltung von letzter Rigorosität, die nichts Unthematisches mehr kennt, in der die Ordnung des Materials total, wird[.] […] Sie dient jedoch nun einem höheren Zweck, denn, o Wunder und tiefer Dämonenwitz! – vermöge der Restlosigkeit der Form eben wird Musik als Sprache befreit. […] Der Schöpfer von Fausti Wehklage kann sich, in dem vororganisierten Material, hemmungslos, unbekümmert um die schon vorgegebene Konstruktion, der Subjektivität überlassen, und so ist dieses sein strengstes Werk, ein Werk äußerster Kalkulation, zugleich rein expressiv.13

An dieser Stelle wird die Diskrepanz zwischen Kompositionstechnik und Komposition offensichtlich: durch Vollendung der Konstruktiven Musik wird diese insoweit überwunden, als dass jetzt der expressive Ausdruck wieder möglich ist. Erst wenn das Regelwerk vollkommen beherrscht wird, beherrscht es selbst nicht mehr den Künstler, der sich nun wieder hemmungslos der Subjektivität überlassen kann. Die Musik selbst wird in diesem Prozess befreit – als Sprache. Für diesen Gedankengang ist bedeutsam, dass Adrian Leverkühn mit seiner letzten Komposition Beethovens Neunte Symphonie widerrufen will. Er will nicht das humanistische Lied an die Freude anstimmen, sondern in der Fausti Weheklag nimmt der Schöpfer, wie es im Roman heißt, Abschied von der Schöpfung. In dem »orchestralen Schlußsatz der Kantate, in den der Chor sich verliert, und der wie die Klage Gottes über das Verlorengehen seiner Welt, wie ein kummervolles ›Ich habe es nicht gewollt‹ des Schöpfers lautet«.14 Auf der Oberfläche bildet Adrians letzte Komposition in der Tat die Kontrafraktur zu Beethovens Neunter, indem ein orchestraler Schlußsatz das Ende bildet, während bei Beethoven das humanistische Finale den Einsatz des Chores, der menschlichen Stimme, der Sprache und somit des Textes als Höhepunkt verwendet. »In Beethovens Neunter erlöst sich die Musik von sich selbst!« hat der Musikdramatiker Richard Wagner, dessen Musik immer im semantischen 13 Thomas Mann, Doktor Faustus, hrsg. von Ruprecht Wimmer (Frankfurt am Main: S. Fischer, 2007), S. 706f. 14 Ebd., S. 710f.

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und dramatischen Kontext steht, pathetisch und erlösungsfixiert, wie es seine Art war, über die Neunte Symphonie befunden. Adrians letztes Werk geht denselben Weg. »[V]ermöge der Restlosigkeit der Form eben wird Musik als Sprache befreit«. Nur braucht Adrian, und das ist der Witz, den nicht versteht, wer meint, seine letzte Komposition wäre die Kontrafraktur der Neunten, hierfür nicht mehr den Einsatz des Chores, da seine Musik selbst Sprache geworden ist. Das schwerwiegende Problem intermedialitätstheoretischer Überlegung, wie sich über Musik adäquat sprechen und erzählen ließe, ebenso wie der intermedial gap, ist an dieser Stelle des Faustus überwunden, eben weil Musik Sprache wird und die mediale Differenz sich hierdurch aufhebt. Dieser Weg war durch den Umstand, dass es sich bei einem Roman um ein rein sprachliches Phänomen handelt, bereits vorgegeben. Thomas Mann geht diesen Weg konsequent zu Ende und lässt die Sprache, sein künstlerisches Medium, über die Musik triumphieren, weil die Musik ihre Vagheit dann einbüßen muss, wenn die Dringlichkeit der historischen Situation zur Positionierung und zur Aussage zwingt. Dieses Zugeständnis an die Literatur zu Ungunsten der Musik war allerdings für Thomas Mann kein Akt der Selbstüberwindung; zumal Adrian musikgeschichtlich betrachtet eine Kompositionstechnik wählt, zu der Mann zeitlebens der Zugang versperrt blieb. Es geht dem Roman nicht darum, wie diese Musik als Sprache, die konkret und logisch verstanden werden kann, aussehen würde und welchen Kompositionsprinzipien sie verpflichtet wäre. Das Verhältnis von Sprache und Musik, vor allem in ihren Differenzen, bleibt der Intermedialitätsforschung auch trotz des Doktor Faustus und der letzten Komposition Adrian Leverkühns erhalten. Entscheidend ist, dass Leverkühns Musiksprache in seinem letzten Werk eine klare, logisch erfassbare Botschaft hat, eine Botschaft, die in ihrer verständlichen Mitteilung eine klare und eindeutige Deutung zulässt. Es gibt keine Differenz zwischen Leverkühns Musik und deren Schilderung durch den Erzähler Serenus Zeitbloom, die lediglich eine unter möglichen Interpretationen seiner Musik darstellen würde, weil Leverkühns Kompositionen lediglich Textpassagen eines Romans sind. Hiermit sei nicht in die Richtung verwiesen, die – wie dies etwas Manfred Frank getan hat – annimmt, Leverkühn selbst sei lediglich eine Fiktion Zeitblooms und es gäbe ihn quasi auch innerhalb des Romans nicht. Wer immer wieder positivistisch nach Bezügen von Leverkühns Kompositionen zur Musik Schönbergs sucht, als Vorbilder reale Komponisten bemüht, der verfehlt diese tiefere Ebene der Romankonzeption, die aller Krise der Kunst zum Trotz eben doch das geschlossene Kunstwerk präsentiert. Es entbehrt nicht einiger Ironie, dass Adorno, dessen künstlerisches Ideal in der Moderne nicht mehr das vollendete geschlossene Werk war – wohl auch, weil es ihm historisch unmöglich erschien –, sondern das Fragment, Thomas Mann

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dazu riet, dass Leverkühns letzte Komposition kein Fragment bleiben solle, sondern er Leverkühn erst dann der geistigen Umnachten anheimfallen lasse, wenn dieser sein letztes Werk vollendet habe. Und so konnte Thomas Mann die Vollendung des fiktiven Werks Leverkühns und die Vollendung des geschlossenen Kunstwerks Doktor Faustus motivisch und semantisch verknüpfen. Hierdurch wird Thomas Manns Identifikation mit der Künstlervita Leverkühns ausdrücklich verstärkt. Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck […] gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht. Hört nur den Schluß, hört ihn mit mir : Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cellos, das letzte Wort, der letzte verschwendende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingende im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.15

In exakter Analogie gestaltet Thomas Mann das Ende des Romans, dessen Erzählzeit mit den großen Rückschlagen Deutschlands zum Ende des Zweiten Weltkrieges zusammenfällt: Heute stürzt es [Deutschland] von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem andern ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung. Wann wird es des Schlundes Grund erreichen? Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tagen? Ein einsamer Mann faltet seine Hände und spricht: Gott sei eurer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland.16

Die Krise der Kunst, die im Roman auch als historisch und ästhetisch bedingt reflektiert wird, wird überwunden durch das Werk. Thomas Sprecher bringt diesen Aspekt in seinem letzten Jahr in einer Festschrift für Ruprecht Wimmer erschienen Aufsatz mit dem Titel »Doktor Fausts – eine offene Wunde« auf den Punkt, wenn er bezüglich des Teufelspakts, den der Künstler schließt, feststellt: Letztlich aber gibt der Künstler sein Leben her. Der Abschluss des Teufelspaktes ist ein verzögerter Suizid. Der Künstler bekommt dafür ein extraordinäres Werk. Er opfert sich also nicht dem Teufel, sondern dem Werk. […] Gegen sein schlimmes Ende kann der Künstler ein Werk in die Waagschale werfen. Das Werk kostet das Leben, das nur Mittel zum Zweck ist, und doch auch ein Sieg über den Tod.17 15 Ebd., S. 711. 16 Ebd., S. 738. 17 Thomas Sprecher, ›Doktor Faustus – eine offene Wunde‹, in Thomas Manns »Doktor Faustus«

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Natürlich kann man der hier vollzogenen Fixierung auf das Kunstwerk auch Segmente des Ästhetizismus vorwerfen. Dieser Vorwurf beträfe das ohnehin schwere Verhältnis von Ethik und Ästhetik: aber das ist eine andere Geschichte.

– Neue Ansichten, Neue Einsichten, hrsg. von Heinrich Detering, Friedhelm Marx und Thomas Sprecher (Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2013), S. 58.

Siglind Bruhn

Ming I – Verwundung des Hellen. Die Dichtung von Nelly Sachs in Kompositionen von Walter Steffens

Der Komponist Walter Steffens belegt im Bereich der musikalischen Ekphrasis den Spitzenplatz. Sein Werkverzeichnis1 dokumentiert mehr als einhundert Kompositionen der Gattung, die er mit den Begriffen Bildvertonungen oder Musikalische Bildreflexionen bezeichnet. Neben seiner lebenslangen Beschäftigung mit musikalischen Antworten auf Werke bildender Kunst gilt sein Interesse auch der Literatur – Gedichten, Erzählungen und Dramen –, die er alternativ in Vokalkompositionen vertont oder in nicht-vokalen Werken »transmedialisiert«. 1934 in Aachen geboren hat Steffens die Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges als Kind in ihrem ganzen Schrecken erlebt. Die drei Themen, denen er sich als Künstler innerlich besonders verpflichtet fühlt, beschreibt er als Konsequenz dieser Kindheitserlebnisse: menschliche Grausamkeit gegenüber Mitmenschen (insbesondere den Holocaust, aber auch andere Formen der Quälerei und Vernichtung), die Beziehung der Opfer zu den Tätern der an ihnen verübten Gewalttaten, und die Rolle der Kunst als Vermittlerin des Unaussprechlichen. In seinem Werkverzeichnis, das seit seiner Emeritierung als Kompositionsprofessor an der Musikhochschule Detmold ein kräftiges Wachstum verzeichnet, fällt die beträchtliche Anzahl von Kompositionen zum Leid der Juden ins Auge. Vorrangig darunter sind drei Werke: Eli, eine Oper auf Nelly Sachs, ›Mysterienspiel über das Schicksal des Volkes Israel‹ (1966), Moses, ein Orchesterwerk (1988), und Die Judenbuche (1993), ein Musikdrama nach der Kriminalnovelle der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkenden deutschen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Das Klavierquartett Ming I, das im Zentrum dieses Aufsatzes steht, bringt die verschiedenen Stränge von Steffens’ künstlerischen Interessen zusammen. Wie der Untertitel des Werkes andeutet, entwarf der Komponist das Werk als musikalische Antwort auf zwei Gedichte – eines von Elfriede Szpetecki, das andere von Nelly Sachs. Um zu dieser zweiten Dichterin einen möglichst tiefen geistigen Zugang zu finden, befragte Steffens zudem das I Ging (oder Yijing, wie der Titel 1 Vgl. http://www.walter-steffens.de/musik-nach-bildern.html.

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im heute amtlichen chinesischen Pinyin transkribiert wird), den »Klassiker der Wandlungen«, mit dessen Hilfe die Chinesen seit vorchristlichen Zeiten Hinweise auf ihr Schicksal und die ihnen gemäßen Lebensentscheidungen sowie Einsicht in ihnen unverständliche Ereignisse zu erlangen suchen. Dieses Buch erhielt dank der modernen Übersetzung durch den deutschen Theologen, Chinamissionar und Sinologen Richard Wilhelm (1873–1930) in der Mitte des 20. Jahrhunderts viel Aufmerksamkeit und erlangte großen Einfluss besonders auf deutsche Künstler.2 Als Steffens das Yijing zu Nelly Sachs befragte, gelangte er zu dem Hexagramm mit der Bezeichnung »m†ng †«, dessen Bedeutung Richard Wilhelm als »Die Verwundung des Hellen« übersetzt. Beeindruckt dadurch, dass die altchinesische Erläuterung des Zeichens offensichtlich das Wesentliche über die ihn schon lange faszinierende Dichterin auszusagen vermag, wählte der Komponist den chinesischen Begriff zusammen mit Wilhelms Übersetzung als Titel seines Quartetts.3 Thematisch behandelt die Komposition Ming I – Verwundung des Hellen drei Dimensionen jüdischen Leidens: Die unsichere Heimat des historischen Volkes Israel, das unsägliche Leiden europäischer Juden unter der Schreckensherrschaft der Nazis und das individuelle Schicksal der deutschjüdischen Dichterin Nelly Sachs. Als Werk der Instrumentalmusik, das seine inhaltliche Inspiration aus der Dichtung bezieht, gehört das Klavierquartett zur Gattung der musikalischen Ekphrasis. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, findet das Vertrauen des Komponisten auf die Weisheit der Orakel, die Korrespondenz von Makro- und Mikrokosmos und die grundlegende Bedeutung der Magie für ein intuitives Verständnis tiefgründiger Wahrheiten ihren Ausdruck sowohl auf der geistigen als auch auf der kompositorischen Ebene. Steffens ist überzeugt, dass jeder tyrannische Akt absichtlicher Vernichtung oder gleichgültiger Tötung das äußere Merkmal eines unterschwellig brodelnden Bösen in der menschlichen Natur ist. Diese Grundhaltung seines Schaffens manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass beträchtliche Segmente aus dem musikalischen Material des Klavierquartetts in einem anderen Kontext erneut zum Tragen kommen. Es handelt sich auch hier um eine Komposition, die menschlichem Leiden mit einem der musikalischen Ekphrasis zuzurechnenden Instrumentalwerk nachspürt: Guernica – Elegie für Bratsche und Orchester nach dem Gemälde von Pablo Picasso (1978). Die Art, wie der Komponist die Figuren in Picassos berühmtem Bild in die Komponenten seiner Musik spiegelt, fügen 2 Richard Wilhelm, I Ging: das Buch der Wandlungen (Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1924 und Köln: Anaconda, 2007). 3 Ming I–Verwundung des Hellen, op. 33, Klavierquartett nach Gedichten von Elfriede Szpetecki und Nelly Sachs, war eine Auftragskomposition des Herforder Klavierquartetts. Steffens beendete die Komposition im September 1975; die Uraufführung fand im darauffolgenden Monat in der Stadt Herford statt.

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der poetisch inspirierten Ekphrasis in Ming I eine weitere Interpretationsebene hinzu.

I.

Überblick über Form und Hauptmerkmale des Quartetts

Die Partitur von Ming I umfasst acht Seiten. Die Musik besteht aus zwei Abschnitten von sehr unterschiedlichem Umfang, von denen jeder in sich zweiteilig ist. Die 22-taktige Eröffnung steht durchgehend im 5/4-Takt. In langsamem Tempo (ƒ = 52) und einer Stimmung, die Steffens als »sehr verinnerlicht, in ruhender Ordnung« definiert, hat dieser Abschnitt eine Spielzeit von gut zwei Minuten. Im ersten Segment präsentiert die Bratsche ein zweistimmiges Motiv : Über einem Orgelpunktton stellt die Oberstimme eine viertönige Linie auf, die in der Unterstimme eine Septime tiefer jedoch identisch in Gestalt und Rhythmus imitiert wird.

Abbildung 1: Das erste zweistimmige Motiv (c-b-des-h)

In T. 5 und 9 treten Geige bzw. Cello mit leicht variierten Imitationen der zweistimmigen Einheit hinzu. Das Klavier fasst die drei Einsätze mit einem langsamen Abstieg zusammen, und alle Instrumente vereinigen sich schließlich in einem sehr leisen D-Dur-Dreiklang (T. 11–12). Im zweiten Segment des ersten Abschnitts stellt umgekehrt das in Oktaven spielende Klavier ein Motiv auf. Dieses wird nach sieben Viertelschlägen von den drei Streichinstrumenten in Oktavparallele imitiert, bevor es nach weiteren neun Vierteln an das Klavier zurückgereicht wird. Auch dieses Segment endet in einem sehr leisen D-DurDreiklang. Diesen erreichen die Streicher schon in T. 18, während das Klavier noch sein Motiv erweitert und erst in T. 22 in den auflösenden Akkord einmündet. Inwiefern die beiden Motive des Eröffnungsabschnitts auch symbolisch bedeutsam sind, soll später näher beleuchtet werden. Der zweite Abschnitt des Quartetts, der aus dem zuletzt erwähnten leisen DDur-Abschluss sehr plötzlich ausbrechen soll, ist seinem Wesen nach kontemplativ. Die Musik ist weder metrisch noch rhythmisch festgelegt. Das Notenbild besteht hier überwiegend aus schwarzen Notenköpfen. Alle vier Instrumente spielen ihre Tonfolgen in weitgehender Freiheit, wobei sie ihre Bewegungsgeschwindigkeit lediglich an den vom Komponisten in die Stimmen eingezeichneten Fünf-Sekunden-Markierungen und ihre lokale Beziehung zueinander an

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einigen verbalen Hinweisen orientieren. Wie der kürzere Eröffnungsabschnitt umfasst auch dieser längere zweite Abschnitt zwei miteinander korrespondierende Hälften, die sich jedoch in Tempo, Melodik und Harmonik unterscheiden: A) Tempo: Die auf Partiturseite 2 oben beginnende Markierung in Fünf-Sekunden-Blöcken gilt für zunächst 182 Sekunden. Für das letzte Drittel der Seite 4 wird sie zugunsten einer kurzen Passage ganz ohne Tempoangaben ausgesetzt. Auf Seite 5 beginnt eine zweite, diesmal 181 Sekunden umfassende Strecke in Fünf-Sekunden-Blöcken. Ihr folgt im letzten Drittel der Partiturseite 8 erneut eine kurze Passage ohne vorgezeichnete Zeiteinteilung. B) Melodik: In der ersten Hälfte dieses kontemplativen zweiten Werkabschnittes entwickeln die Streichinstrumente einige Motive, die zwar hinsichtlich Kontur, vertikaler Ausrichtung und Beziehung zueinander klar definiert sind, nicht jedoch in ihrem individuellen Rhythmus und dem für jede Note zu wählenden Oktavregister. Die zweite Hälfte, die erneut aus einem D-Dur-Dreiklang erwächst, beschleunigt sich dagegen kontinuierlich, von langsamen Notenwerten über flirrende Tremoli zu zwei Passagen »wilder« aleatorischer4 Gegenüberstellungen. C) Harmonie: Der vertikale Zusammenklang, der durch den Klavierpart bestimmt wird, beschränkt sich in der ersten Hälfte auf sechs Töne, die wiederholt – in beträchtlichem Abstand und in unterschiedlicher Reihenfolge – sehr leise angeschlagen werden. Da alle Töne für die Dauer von 182 Sekunden vom Haltepedal des Klaviers kumulativ übereinander geschichtet und verlängert werden, ergibt sich der Effekt eines ätherischen Klangteppichs. Während der ohne Tempomarkierungen notierten Ergänzungspassage fügt das Klavier in einem kurzen melodischen Ausbruch mit starken Akzenten die übrigen sechs Halbtöne hinzu. Das so erreichte vollständige Zwölftonaggregat unterliegt als chromatisch verdichteter neuer Klangteppich der folgenden 181-Sekunden-Strecke. Hier wächst die Lautstärke von meno piano (Sekunde 1) über mezzoforte (Sekunde 72) zu forte und sforzatissimo (Sekunde 100). Der Höhepunkt des Segmentes bei Sekunde 180, anlässlich dessen alle 12 Halbtöne aktiv geschichtet werden, wird unmittelbar anschließend zu Beginn der zweiten ohne Tempomarkierungen komponierten Passage übertroffen durch einen mit allergrößter Wucht (fffz) ausgeführten Unterarm-Anschlag, dessen etwa viereinhalb Oktaven überspannender chromatischer Cluster dann langsam verklingt. In diese mächtige Resonanz hinein spielen die drei Streichinstrumente, vertikal unabhängig voneinander, äußerst leise und langsame Linien. Der Komponist 4 In der Musik spricht man von Aleatorik (von lateinisch alea = Würfel), wenn jeder Stimme nur einige Töne vorgegeben sind, mit denen der jeweilige Interpret hinsichtlich Reihenfolge, Rhythmus und Tempo nach eigener Inspiration verfahren soll.

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markiert lediglich mit weißen Notenköpfen die wechselnde Führung durch das eine oder andere Instrument. Da die Gesamtspielzeit des Quartetts, die mit »ca. 10 Minuten« angegeben ist, einen Eröffnungsabschnitt mit gut 2 Minuten sowie zwei kontemplative Passagen mit jeweils kaum über 180 Sekunden (oder : je gut 3 Minuten) umfasst – mit anderen Worten: da die zeitlich ungefähr definierten Segmente eine Gesamtdauer von gut 8 Minuten erreichen – verbleibt für jede der beiden im Notenbild kurzen Passagen ohne Tempoangabe etwa 1 Minute. Das setzt eine überraschend ausgedehnte Aleatorik voraus und deutet an, dass auch diese Passagen die außergewöhnliche Ruhe ausstrahlen sollen, die das ganze Werk charakterisiert.

II.

Die außermusikalischen Quellen

Die beiden Dichterinnen, auf deren Werke Steffens sich mit seinem Klavierquartett bezieht, bestimmen die Komposition in sehr verschiedener Weise. Die heute weitgehend unbekannte Elfriede Szpetecki5 teilte mit Steffens sowohl die Liebe zur Ekphrasis als auch ein Interesse an der ostasiatischen Kultur. Ihre bekannteste Veröffentlichung, durch die Steffens auf sie aufmerksam wurde, ist eine Sammlung sehr bewegender Gedichte zu Werken des expressionistischen Bildhauers Ernst Barlach;6 bei einem ihrer von großem Medieninteresse begleiteten letzten öffentlichen Auftritte las sie für die Deutsch-japanische Gesellschaft zu Lüneburg eigene Adaptationen japanischer tanka und haiku.7 Nach Aussage des Komponisten ließ er sich beim Entwurf von Material und Charakter des Klavierparts in den kontemplativen Abschnitten von Ming I durch Szpeteckis Gedicht ›Blau‹ anregen: 5 Elfriede Szpetecki wurde 1921 im Grenzland zwischen Sachsen und Böhmen geboren. Nachdem sie während des Zweiten Weltkrieges wie so viele Menschen aus Deutschlands Osten ihre Heimat verloren hatte, ließ sie sich in Hamburg nieder, wo sie bis kurz vor ihrem Tod im Jahre 2005 als Schriftstellerin, Künstlerin, Lehrerin und Vortragende wirkte. 6 Elfriede Szpetecki, Und alles Sein wird Lauschen: Gedichte nach Plastiken von Ernst Barlach (Hamburg: Christians, 1979, Nachdruck 1986). Zwei weitere Gedichtsammlungen Szpeteckis, die mir für diese Arbeit zugänglich waren, sind Bau Dir ein Haus mit Wänden aus Lächeln und Tritt durch das Tor der Worte (Hamburg: Christians, 1981, Nachdruck 1998). Ilse Hensel, eine Freundin und Lyrikerkollegin aus Elfriede Szpeteckis Hamburger Zeit, half mir großzügig mit allgemeinen Information sowie mit den drei genannten Publikationen. Zwei im Selbstverlag verlegte Sammlungen, deren eine den Erinnerungen Walter Steffens zufolge das für das Klavierquartett herangezogene Gedicht ›Blau‹ enthält, konnten leider nicht eingesehen werden. 7 Szpeteckis Verbindung zu Japan war eng: Wie ihre Freundin Ilse Hensel mir in einem privaten Telefongespräch mitteilte, sind ihre Barlachgedichte sowie eine weitere Lyriksammlung ins Japanische übersetzt worden und sollen in dem Land, dessen Dichtung sie selbst so liebte, hoch geschätzt werden.

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›Blau‹ Weiße Gipfel umsäumen gläserne Einsamkeit. Siehst du den Stern dort? er birgt kristallene Träume und ist ferner mir nicht als der Gipfel, da sie erstarrt. Weißt du, dass man in einer vergangenen Sprache für die Farbe deiner Augen das Wörtchen für Himmel geliehn?

Szpeteckis Gedicht deutet zunächst vieles nur an, ohne es zu deuten. Ist der in der ersten Strophe angesprochene Ort deswegen einsam, weil die schneebedeckten Berge ringsum Zugang und Ausweg versperren? Wirkt die Einsamkeit gläsern, weil sie eisig und hart ist, oder weil sie besonders fragil ist, indem alles, was sie umschließt, jedem eindringenden Blick schutzlos ausgesetzt ist? Sind die kristallenen Träume, die der am Himmel sichtbare Stern birgt, ebenfalls klar und durchsichtig oder vielmehr hart und starr? Bezieht sich das grammatisch überraschende Pronomen sie in »da sie erstarrt« auf »die Träume« oder auf »die Einsamkeit«? (Steffens in die Partitur übertragener Auszug aus dem Gedicht zeigt, dass er das Letztere vermutet.) Erscheint der Stern trotz seiner tatsächlichen physischen Distanz dem Herzen der Dichterin emotional vielleicht deshalb näher als die Bergspitzen, weil er als Lichtquelle freundlicher erscheint als die in Kälte erstarrte Einsamkeit um sie herum? Die ersten zwei Strophen evozieren eine Atmosphäre von Trostlosigkeit und Traumversunkenheit. Daher überrascht die dritte Strophe mit ihrer Wendung zu einem Gesprächspartner. Allerdings wird die sanft in die Szene einbezogene Person über ihre Augenfarbe hinaus nicht konkret. Das lyrische Ich erinnert lediglich daran, dass das Blau der Pupille vormals als Widerschein der Farbe des Himmels galt – zu einer Zeit, da die Menschen noch Trost in der Religion fanden und auf ein Weiterleben nach dem Tod hofften. Steffens bezieht sich auf Szpeteckis Gedicht nicht nur inhaltlich, sondern auch, indem er einige sprachliche Äußerlichkeiten als kompositionstechnische Mittel einsetzt. So legt er, wie eine Skizze des Klavierquartetts Ming I zeigt, der Abfolge und relativen Dichte der wiederholt angeschlagenen Töne im Klavierpart des zweiten Großabschnitts die Verteilung der Buchstaben in den einzelnen Gedichtzeilen zugrunde.8 Bezüglich der Stimmung des Stückes entnimmt er dem Gedicht über die trostlose Isoliertheit vier Schlüsselbegriffe. In dem Augenblick, 8 Die Einzelheiten dieser Methode sind irrelevant für die Wertschätzung der Komposition, erscheinen jedoch interessant insofern, als sie an Prozesse erinnern, die für die Orakelbefragung charakteristisch sind.

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da das Quartett vom motivisch bestimmten und metrisch geordneten Eröffnungsabschnitt in die improvisationsähnliche Fläche der kontemplativen Passagen übergeht, schreibt er über den Klavierpart: »gläserne«, traumhafte Einsamkeit, die erstarrt. Indem Steffens das vorherrschende Bild des Gedichtes mit den Träumen anreichert, die die Dichterin in dem Stern über sich verortet glaubt, fügt er der »gläsernen Einsamkeit« einen Funken Hoffnung hinzu. Die Musik, die er als eine Art klingendes Hexagramm für den Klavierpart dieses Segmentes erzeugt, indem er die Buchstaben in Szpeteckis Gedicht quasi als Schafgarbenstängel verwendet, spiegelt sowohl die inhaltliche als auch die formale Ebene dieses poetischen Exzerptes: sowohl das Wesen der von der Dichterin vorgestellten Bilder als auch die vom Komponisten hinzugefügte Versöhnung des vertikal weit entfernten Himmelskörpers mit der horizontalen, prinzipiell zugänglicheren Ebene der Gebirgseinsamkeit. Der Klangteppich, den das Klavier unter der musikalischen Meditation über die »gläserne Einsamkeit« ausbreitet, ist gekennzeichnet durch eine fast perfekte vertikale Symmetrie. Die sechs Töne in der ersten Hälfte dieses Abschnittes bilden über und unter der zentralen reinen Quinte h-fis jeweils ein Tritonusplus-Halbton-Paar, wobei als einzige Abweichung von der genauen Spiegelung der Spitzenton des eine Oktave höher versetzt ist. Wenn Steffens dann für die zweite Hälfte des rhythmisch freien Raumes die übrigen sechs Töne ergänzt, fügt er sie dem ersten vertikalsymmetrischen Klang mittels gespiegelter Erweiterungen um Tritonus / Quint / Tritonus hinzu. Die Oktavhochversetzung des höchsten Tones wird hier lautmalerisch mit der Rolle des am Himmel erblickten aber doch als tröstlich nah erlebten Sterns betraut.

Abbildung 2: Der Klangteppich im »Raum der gläsernen Einsamkeit«

Das zweite im Untertitel der Komposition Ming I genannte Gedicht ist von Nelly Sachs. 1891 in Berlin als Tochter wohlhabender jüdischer Kauflaute geboren, erfuhr Sachs im Verlauf der Dreißigerjahre durch die Naziherrschaft zunehmende Einschränkungen und lebte in ständiger Furcht vor der Deporta-

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tion. Nachdem die berühmte schwedische Autorin Selma Lagerlöf sich für sie eingesetzt hatte, erhielt sie schließlich zusammen mit ihrer alten Mutter in Schweden Asyl. Mit dem letzten Passagierflug, der Deutschland 1940 verlassen durfte, erreichten die beiden ihre neue Heimat. Dort verdiente Sachs den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter zunächst mit Übersetzungen schwedischer Lyrik – Übertragungen aus einer Fremdsprache, die sie gerade erst zu lernen begonnen hatte – und lebte in bedrückender Armut, bis ihre eigene Dichtung allmählich Anerkennung fand. 1966 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, aber eine klinische Depression und eine unüberwindliche Verfolgungsangst schränkten ihr Leben bis zu ihrem Tod im Jahr 1970 wesentlich ein. Steffens bezeichnet Nelly Sachs’ Persönlichkeit und Schicksal im allgemeinen und ihre Dichtung im besonderen als vorrangigen Katalysator für sein Klavierquartett, und dies in mehr Weisen als nur durch das Gedicht ›Israel‹, das er herausgreifend erwähnt. Der Komponist war dem Werk der Dichterin schon vor seinem 30. Lebensjahr begegnet. Sein Symphonisches Fragment für großes Orchester, Männerchor und Altsolo von 1962 basiert auf drei Gedichten aus Sachs’ Sammelband Flucht und Verwandlung von 1959. Im Zusammenhang mit der Arbeit an dieser Komposition wechselte er mehrere Briefe mit der Dichterin. Einige Jahre später, als er bereits etwa die Hälfte seiner Oper auf den Text von Sachs’ Mysterienspiel Eli vollendet hatte9 – dies war eine Auftragsarbeit für die Neueröffnung der Oper in Dortmund – erfuhr er, dass die Dichterin in Reaktion auf die Opernbearbeitung desselben Textes durch den finnisch-jüdischen Komponisten Moses Pergament einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Äußerst alarmiert reiste er nach Stockholm, um Sachs in ihrem Exil aufzusuchen. Dort erläuterte er ihr, wie er ihr Mysterienspiel verstand und welche ästhetische Herangehensweise er in seiner Vertonung anstrebte. So erhielt er schließlich ihr ausdrückliches Einverständnis, die Oper zu vollenden.10 Steffens’ Eli wurde am 5. März 1967 am Theater Dortmund uraufgeführt und ein großer Erfolg. 9 Nelly Sachs’ Eli: Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels entstand in Stockholm in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges sowie in den ersten Monaten danach (Abschlussdatum 9. November 1945). Am 23. und 26. Mai 1958 erfuhr das Werk eine erste öffentliche Aufführung als Hörspiel in der Reihe »Radio Essays« des Süddeutschen Rundfunks. Die Bühnenpremiere folgte am 14. März 1962 durch die Städtischen Bühnen Dortmund. Zu Walter Steffens’ Oper siehe das Kapitel ›Eli – das Mysterienspiel vom Leiden Israels als Oper‹, in Walter A. Berendsohn, Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals (Darmstadt: Agora Verlag, 1974), S. 177–184 und Siglind Bruhn, ›Die musikalische Deutung schmerzlichen Erinnerns. Walter Steffens’ Oper Eli nach dem Mysterienspiel von Nelly Sachs’, in Lichtersprache aus den Rissen. Nelly Sachs – Werk und Wirkung, hrsg. von Ariane Huml (Göttingen: Wallstein, 2008), S. 215–235. 10 Dieses Einverständnis ist schriftlich niedergelegt in einem Brief vom 6. Dezember 1965 an den Leiter der Kulturbehörde der Stadt Dortmund. Einen Durchschlag verwahrt die Königliche Bibliothek Stockholm unter der Signatur L 90:2.

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Als Steffens, wieder mehrere Jahre später, den Auftrag für ein Klavierquartett erhielt, wandte er sich erneut dem Werk von Nelly Sachs zu. Das Gedicht, das er als Gegenstück zu Elfriede Szpeteckis ›Blau‹ wählte, stammt aus Sachs’ zweiter Gedichtsammlung. Deren Titel Sternverdunkelung mag ihm als Gegenentwurf zu Szpeteckis Vision eines Traum bergenden und Trost spendenden Sterns erschienen sein. ISRAEL, namenloser einst, noch von des Todes Efeu umsponnen, arbeitete geheim die Ewigkeit in dir, traumtief bestiegst du der Mondtürme magische Spirale, die mit Tiermasken verhüllten Gestirne umkreisend — in der Fische Mirakelstummheit oder mit des Widders anstürmender Härte. Bis der versiegelte Himmel aufbrach und du, Waghalsigster unter den Nachtwandlern, getroffen von der Gotteswunde in den Abgrund aus Licht fielst. ISRAEL, Zenit der Sehnsucht, gehäuft über deinem Haupte ist das Wunder wie Gewitter, entlädt sich im Schmerzgebirge deiner Zeit. ISRAEL, erst zart, wie das Lied der Vögel und leidender Kinder Gespräche rinnt des lebendigen Gottes Quelle heimatlich aus deinem Blut —11

Wie viele andere Gedichte aus der Feder von Nelly Sachs trägt auch das von Steffens gewählte keinen Titel. Und das Wort »Israel« muss in zweierlei Weise als Refrain verstanden werden. Als Anrufung, die im Druck durch Großbuchstaben hervorgehoben ist, eröffnet der Name jede der drei Strophen des Gedichtes. Zugleich beschließt das Gedicht selbst den zweiten Abschnitt in der Sammlung Sternverdunkelung und fungiert dabei einerseits als Coda zum symmetrisch strukturierten Hauptteil und als Echo einiger seiner inneren Merkmale. In der Funktion als Echo greift die dreifache Stropheneröffnung »Israel« des ab11 Nelly Sachs, ›Israel‹, in Sternverdunkelung: Gedichte (Amsterdam: Bermann-Fischer, 1949), S. 42. Dieser zweiten Sammlung ging 1947 der Band In den Wohnungen des Todes voraus.

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schließenden Gedichtes das zweifache, refrain-ähnliche »O Israel« in Nr. 2 und den gleichlautenden dreiteiligen Refrain in Nr. 6 auf. Als Coda bildet das Gedicht das wie nachträglich hinzugefügt wirkende elfte Stück einer Folge von Gedichten, die ausnahmslos dem Volk Israel gewidmet sind und deren erste zehn im Muster 2 + 3 + 3 + 2 angelegt sind: Nr. 1 und 2 handeln von den Gründervätern, Nr. 3, 4 und 5 von den Propheten, Nr. 6, 7 und 8 von Israels Hoffnung, Selbsthass und Leiden, und Nr. 9 und 10 von Israels ruhmreichen Königen.12

Die zweiteilige Anfangsstrophe des Gedichtes spricht vom allmählichen Hervortreten eines Volkes, der Transformation eines unauffälligen levantinischen Stammes zum erwählten Volk Gottes. Sachs sieht Israel zunächst als Embryo unmittelbar vor seiner Geburt, als Larve, die von den Kräften des Schicksals für ihre Bestimmung vorbereitet wird. In diesem Stadium ist Israel ein Astrologe, der hofft, durch Zeichen am Himmel Weisheit und Einsicht zu gewinnen. Dann öffnet sich der schweigende Himmel und Israel wird in die ihm zugedachte Rolle hineingeworfen, zeigt sich von der direkten Begegnung mit dem Göttlichen überwältigt, ist jedoch nicht bereit zu weichen. Mit einem Wechsel des Bildes definiert Sachs den halbbewussten Zustand der Vorväter als den besonderen Traum, der zum Gründungsmythos des Volkes wird: als den berühmten nächtlichen Kampf, in dem Jakob mit dem Engel Gottes ringt, verletzt wird und als Israel – »der mit Gott kämpft« – aus dem Kampf hervorgeht (Gen 32: 23–28). Jetzt ist Israel nicht nur durch sein Leid, sondern auch durch seine Einsicht auserwählt. In der zweiten Strophe steht »Israel« weder für eine Person noch für ein Volk, sondern für die tiefste Form einer Sehnsucht. Das Wunder göttlichen Auserwähltseins, das eine Kuppel über dem Kopf derjenigen errichtet, die es vereint, ist heimlich bereits belastet mit der Anspannung, die zu scheinbar unendlichem Schmerz führen wird. In der dritten Strophe ist die Quelle Gottes, die doch bestimmt ist, Jakobs Nachkommen eine Heimat zu stiften – einen Ort und zugleich ein Gefühl der Identität und der Zugehörigkeit – nur ein zarter Fluss, schön aber höchst fragil. In Steffens’ Partitur für Ming I finden sich an fünf Stellen Zitate aus diesem 12 Die Symmetrie erstreckt sich sogar auf Wortwahl und Stil der Titel für die einzelnen Gedichte. Die Gedichtpaare an beiden Enden des zehnteiligen Blockes tragen Personennamen (»Abraham«/»Jakob« bzw. »David«/»Saul«), während dies in den beiden Dreiergruppen im Inneren nur auf jeweils ein Gedicht zutrifft.

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Gedicht. Ebenso wie bei den Auszügen aus Szpeteckis Gedicht fallen alle in den metrisch freien zweiten Abschnitt: – »Israel« steht über dem Motiv, mit dem die Bratsche den zweiten Abschnitt einleitet. – Von der Gotteswunde getroffen markiert den Moment, wo die Streicher 25 Sekunden nach Eintritt in die zweite Hälfte des zweiten Abschnittes in Tremoli und plötzliche Akzente ausbrechen. – Abgrund aus Licht charakterisiert den dynamischen Höhepunkt des kontemplativen Abschnittes, wobei das unvermittelte ff fast exakt auf das Zentrum der sprunghaften zweiten Hälfte des zweiten Abschnittes, mittig zwischen der Stretto-Ergänzung der ersten aleatorischen Passage und den Beginn der zweiten Passage, fällt. – Israel »erst zart« inspiriert den pppp-Anfang der Beitrages, den die drei Streichinstrumente zum letzten Ergänzungssegment leisten. – »Quelle« und, etwas später, »Blut« bestimmen die allerletzten Momente der Komposition. Während der anfangs brutal klingende chromatische Unterarmcluster des Pianisten langsam verklingt, tröpfeln die Töne der Streicher ganz leise – Geige und Bratsche in kaum hörbaren Pizzicati, das Cello in langsamen Flageoletts – bis alle Musik verstummt. Die Musik, die Steffens den Auszügen aus den beiden Gedichten zuordnet, lädt zu einer ersten Deutung der durch Überblendung verschmolzenen poetischen Botschaft im langen zweiten Abschnitt von Ming I ein. Da sind zunächst die Worte von Szpetecki, die die gesamte etwa achtminütige musikalische Entwicklung erschließen als musikalisches Bild für eine »gläserne«, traumhafte Einsamkeit, die erstarrt. Der ersten Hälfte des Abschnitts, in der das Klavier auf sechs ganz leise im Inneren des Saitenkastens gezupfte Töne beschränkt bleibt, ist das zentrale Wort aus Sachs’ Gedicht, »Israel«, zugeordnet. Im Lichte dessen, was der Name dort alles umfasst, scheint dieser verbale Zusatz zum Notenbild nahezulegen, dass die flüsternd wiederholten Anschläge Ausdruck einer allumfassenden Erfahrung zu sein beanspruchen. Im Verlauf der 182-SekundenFläche bewegen sich die drei Streichinstrumente fast ausschließlich innerhalb der Grenzen von nur vier Tonfolgen. Jede von ihnen wird durch die Bratsche eingeleitet und in einer Mischung aus Imitation, leichter Veränderung, Vergrößerung und gelegentlicher Rückwärtsbewegung weitergeführt. In einer Lautstärke, die sich hauptsächlich innerhalb der Grenzen zwischen pianissimo und mezzoforte bewegt, streben die drei Streicherstimmen nach einem Maximum an Nuancenreichtum. Dazu verändern sie immer wieder die Art der Klangerzeugung (arco/pizzicato, con/senza sordino, sul ponticello, etc.) sowie die Intensität einzelner Töne (diese können ohne Betonung schnell vorbeihuschen, unter der Bezeichnung choraliter mehr Gewicht haben, als flötende

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Abbildung 3: Das melodische Material in der ersten Hälfte des langen zweiten Abschnitts

Obertöne für jeweils einige Sekunden gehalten werden, etc.). Erscheint Israel in der langen ersten Halbstrophe von Sachs’ Gedicht als ein Stamm, der mit einer deutlichen Ausrichtung auf den Himmel lebt, aber noch nicht erfahren hat, dass es nur einen Gott geben kann, so charakterisiert Steffens ihn musikalisch als sowohl zuversichtlich vereint als auch durch allerlei eigenwillige Variationen individualisiert. Für die letzten 20 Sekunden dieser Passage erhebt sich die Bratsche mit einem mächtigen Crescendo bis fortissimo über das kontinuierliche pianissimo ihrer Partnerstimmen und benutzt dann zwei Versionen der Tonfolge [b], um einen herrlichen Bogen zu bauen, dessen ausgedehnte Gipfelregion eine Anspielung auf Sachs’ »Zenit der Sehnsucht« sein könnte. Die bislang im Saitenkasten des Flügels gezupften sechs symmetrisch angeordneten Töne werden nun auf die Tastatur versetzt und bilden dort, ergänzt um die sechs übrigen Töne und in neuerlich selbstbewusstem forzato, die zwölftönige Version des vertikal gespiegelten Klanges. »Der versiegelte Himmel brach auf«, wie es bei Sachs heißt. Ebenso wie Jakob-Israel von Gott auserwählt und nach einem beherzten Ringkampf anerkannt wird, nimmt die symmetrisch angelegte Harmonie eine Bedeutung an, die solche Akkorde in der Musik Olivier Messiaens charakteristischerweise auszeichnen: »wie oben, so unten.« Israel wird leben in der sicheren Überzeugung, nach Gottes Ebenbild geschaffen zu sein. Die Rückkehr der Streicher zum leisen D-Dur-Dreiklang kündet einen weiteren Neubeginn an. Im Verlauf der nun folgenden 181-Sekunden-Fläche klingen alle Instrumente wesentlich emotionaler und engagierter als zuvor. Die beiden poetischen Hinweise in diesem Abschnitt der Partitur, Von der Gotteswunde getroffen und Abgrund aus Licht, entstammen der zweiten Hälfte der historisch orientierten ersten Strophe in Sachs’ Gedicht. Das Drama des Gründungsereignisses der Israeliten, das hier im doppelten Kontrast von Gottes tröstenden und drohenden Kräften angedeutet ist (Gott / Wunde, Licht / Abgrund), wird musikalisch ausgelotet durch eine wilde Gegenüberstellung aleatorischer Gruppen und einen plötzlichen fortissimo -Ausbruch. Der Fall in den »Abgrund aus Licht« erreicht mit dem brutalen fffz-UnterarmCluster auf der Tastatur des Flügels quasi seinen Aufschlagspunkt; mit ihm endet

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die in Fünf-Sekunden-Blöcken gemessene Klangfläche. Die explosive Attacke wird ergänzt durch eine Antwort der Streicher, die in allerzartestem Flüstern (pppp) dem Schock und der Betroffenheit Ausdruck zu verleihen scheinen. In einer Mischung aus vorgegebenen Tonfolgen und aleatorisch behandelten Segmenten, aus langsamen, melodisch intensiv gestrichenen Komponenten und schnell gezupften Gruppen greifen die drei fast gänzlich inkongruent bleibenden Stränge Einzelheiten des zuvor zur Charakterisierung von Israel Gehörten auf. In diesem letzten Ergänzungssegment enthält die Partitur eine größere Anzahl poetischer Zitate als jemals zuvor in diesem Werk: Steffens schreibt Israel »erst zart« über die ersten Töne und »Quelle« sowie »Blut« über die Töne kurz vor dem Schluss des Stückes. Er übersetzt den Verweis auf »des lebendigen Gottes Quelle«, die »erst zart … rinnt«, in eine Gegenüberstellung von raschen improvisatorischen Pizzicati der Geige mit einer unbestimmten Mischung aus schnell gezupften und langsam gestrichenen Noten der Bratsche und sehr hohen, sehr ruhigen Flageoletts des Cellos. Bei »Blut«, das bei Sachs die Verwandtschaft aller Nachkommen des Gründervaters Jakob-Israel meint, dämpft das Klavier den Rest seines bereits weitgehend verklungenen Clusters, während die Streichinstrumente ihr voneinander unabhängiges Spiel in weiterhin konsequenter Nicht-Koordination vollenden. Die Musik bietet so ein lebhaftes Bild des Bedauerns, das man in der letzten Strophe von Sachs’ Gedicht erkennen kann: Bedauern, dass Israel sich noch nicht zuversichtlicher zeigt, sich noch nicht deutlicher verwirklicht hat und seiner geistigen Aufgabe noch nicht besser gewachsen ist.

III.

Die Erkenntnisse aus dem Yijing

Wie oben erläutert, finden sich literarische Zitate fast ausschließlich im umfangreichen zweiten Abschnitt der Partitur. Die Integration der beiden Gedichte in das Klavierquartett stellt somit den zweiten Schritt der Inspirationsverarbeitung dar. Die außermusikalische Quelle, die sich als entscheidend für den ersten Abschnitt erweisen sollte, war gänzlich anderer Natur. Wie schon erwähnt, hatte Steffens sich im Lauf vieler Jahre wiederholt zur Dichtung von Nelly Sachs hingezogen gefühlt, nicht zuletzt, weil er zutiefst berührt war von ihrer Entschlossenheit, der Trauer und dem Schmerz ihrer jüdischen Leidensgenossen trotz ihrer eigenen zunehmend fragilen Gesundheit eine Stimme zu verleihen. Seine innere Verbindung zu ihr war so stark, dass er sie nach eigener Aussage in den Jahren nach ihrem Tod 1970 mehrmals »gesehen« haben will. Alle Begegnungen mit ihr – die physischen, die literarischen und die visionären – interpretierte er als wesentliche Orientierung für sein Werk und seine eigene geistige Entwicklung.

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Als Steffens den Auftrag für ein Klavierquartett erhielt und beschlossen hatte, sich dazu erneut mit einem Gedicht von Nelly Sachs zu beschäftigen, spürte er die Notwendigkeit, sie als Mensch besser zu verstehen, bevor er mit dem Entwurf grundlegender musikalischer Ideen beginnen konnte. Mehr noch als die Erfahrung ihrer Angst vor Deportation und ihrer Flucht vor den Nazis wollte er das Wesen der Dichterin verstehen.13 So entschloss er sich zu einer formellen Befragung des Yijing. Eine gründliche Einführung in das Yijing ist im Rahmen dieses Aufsatzes natürlich nicht möglich, doch einige dafür entscheidende Gedankenprozesse müssen kurz erläutert werden, damit klar wird, was Steffens sich von der Befragung erhoffte und wie er das Gefundene deutete. Wie Steffens aus Richard Wilhelms kommentierter deutscher Übersetzung wusste, begann die Geschichte des Yijing ca. 2400 v.u.Z., als die ursprünglichen Trigramme erfunden und bald darauf zu Hexagrammen kombiniert wurden. Jedes Trigramm besteht aus drei Linien, die den Konzepten yin und yang entsprechen, den universellen Prinzipien, die nach chinesischer Überzeugung allem Existierenden zugrunde liegen. Ungebrochene Linien stehen für yang, die männliche oder aktive Kraft, gebrochene Linien für yin, den weiblichen oder passiven Aspekt. Drei Linien, deren jede durchgehend oder gebrochen sein kann, bilden acht verschiedene Trigramme;14 die Summe der möglichen Kombinationen von je zwei Trigrammen ergibt 64 Hexagramme. Das Buch der Wandlungen bietet Hinweise für die Interpretation der Hexagramme als orakelhafte Antwort auf eine zuvor formulierte Frage. Es ist mehr als nur ein Wahrsage-Handbuch, insofern die Trigramme und Hexagramme in der chinesischen Kultur als Symbolsystem angesehen werden, das ernsthaft Suchenden das metaphysische Wesen des Universums und seiner Funktionsweisen erklären kann. In der Frühzeit galt die Orakelbefragung als eine Kommunikation mit dem Göttlichen; man glaubte, dass das Ergebnis des Würfelns oder Münzwerfens von den Göttern entschieden würde. Im modernen westlichen Umfeld bietet sich das suggestiv Geheimnisvolle des Textes und der mit ihm verbundenen Praxis besonders für dekonstruktive Deutungen. Irene Eber schreibt in ihrer Einleitung zu Lectures on the I Ching, der englischen Übersetzung von Richard Wilhelms berühmten Vorlesungen: »Its very abstruseness suggests an intriguing richness of multiple meanings«.15

13 Diese Einzelheiten verdanke ich mehreren langen Gesprächen mit Walter Steffens, in seinem Heim am 13.–15. August 2006 und am Telefon am 23. Januar 2008. 14 In der uns vertrauteren binären Schreibweise: [1] 0 0 0, [2] 0 0 1, [3] 0 1 0, [4] 0 1 1; [5] 1 0 0, [6] 1 0 1, [7] 1 1 0, [8] 1 1 1. 15 Richard Wilhelm, Lectures on the I Ching, transl. Irene Eber (Princeton: Bollingen Series, Princeton University Press, 1979), S. xi.

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Alle Tri- und Hexagramme haben Namen, die auf wesentliche Aspekte ihrer Bedeutung verweisen. Zu jedem Hexagramm gehört ein kurzer einführender Paragraph, der diesen Namen kommentiert, ein »Urteil«, das eine generelle Zusammenfassung der Implikationen enthält, sowie eine sechsteilige Erläuterung zur Bedeutung jeder der sechs Linien nach ihrer vertikalen Stellung im allgemeinen und ihrem Zusammenhang mit diesem Hexagramm im besonderen. Ein zweiter Band innerhalb des »Buches der Wandlungen« enthält diverse Schichten von Kommentaren und philosophischen Überlegungen.16 Das Buch genießt hohes Ansehen als einer der fünf konfuzianischen Klassiker.17 In welcher Weise ein Hexagramm für eine gegebene Situation relevante Aussagen macht, beruht auf der Annahme, dass der komplexe Zähl- und Wählprozess den besonderen und einmaligen Zustand von Geist und Gemüt des Suchenden zum Zeitpunkt der Orakelbefragung widerspiegelt. Dabei liegt die Betonung nur selten auf bereits existierenden oder für die nahe Zukunft erwarteten Gegebenheiten – also dem, was die westliche Welt am meisten bewegt – sondern meist auf der Frage, wie deren Bedingungen durch kluge Grundsatzentscheidungen geändert oder beeinflusst werden könnten. Die Hexagramme werden also nicht als Hinweise auf bestehende Umstände gelesen, sondern als Anregungen zu transformativen Tendenzen; daher der Untertitel »Das Buch der Wandlungen«. Richtig gedeutet erlaubt jeder Augenblick mit seiner Eigenheit und Wandlungsmöglichkeit eine adäquate oder inadäquate Verhaltensweise. Wie Wilhelm in der Einleitung zu seiner deutschen Übersetzung des Yijing erklärt, geben westliche Orakel und Wahrsagemethoden den Suchenden meist Hinweise auf demnächst zu erwartende Entwicklungen, während das Yijing ihnen Ratschläge gibt, was sie tun oder lassen können, um die positive Kraft eines besonderen Zeitpunktes zu stärken und seine negativen Potentialitäten zu schwächen. Im chinesischen Verständnis sind Menschen nicht passive Empfänger sondern aktive Mitgestalter ihres Schicksals. In jeder Situation repräsentieren yin and yang mit ihren vielfältigen Bedeutungsnuancen nicht Gegensätzlichkeiten, sondern ergänzende und einander stützende Eigenschaften. Für den westlich geschulten Verstand ist dies bei bestimmten Eigenheiten leichter 16 Laut Wilhelm führt das chinesische Schrifttum die Autorschaft des Yijing auf vier Weise zurück: Fu Hsi, König Wen, den Herzog von Zhou, und Konfuzius. Fu Hsi, einem legendären Helden aus mythologischer Zeit, wird die Erfindung der Trigramme zugeschrieben. König Wen aus der Zhou-Dynastie, der von 1171–1122 v.u.Z. regierte, soll die Hexagramme entwickelt haben, der Herzog von Zhou († 1094) die Urteile verfasst und Konfuzius einen Großteil der Kommentare geschrieben haben. Sowohl diese kurze Zusammenfassung als auch die noch folgenden Bemerkungen zu den Hexagrammen gehen zurück auf Wilhelm, IGing. 17 Zu den »Fünf Klassikern« gehören außerdem die Bücher Shijing, das Buch der Lieder, Shujing, das Buch der Urkunden – eine Sammlung von kommentierten Gesetzen und Erlassen, Liji, das Buch der Riten, und Chunqiu, die Frühlings- und Herbstannalen.

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zu verstehen als in anderen. So ist das Paar Licht/Schatten hilfreich. Auch Deutungen des yin–yang-Gegensatzes als Materie-Geist oder als Natur-Verstand vermitteln eine Ahnung von der gegenseitigen Abhängigkeit. Ein Gefühl für die acht Trigramme stellt sich relativ leicht ein, wenn man jedes in drei Weisen übersetzt: mit einem Element, einer Familienposition und einem Attribut. Die Deutung im Sinne einer Stellung im Familienzusammenhang dient dabei als Gedächtnisstütze, die hilfreich ist, sowie man sich vergegenwärtigt, dass im chinesischen Verständnis Söhne eine engere Beziehung zu ihrer Mutter haben, während Töchter dem Vater näher stehen. Die Deutung in Hinblick auf die acht Elemente und die ihnen zugeschriebenen Eigenheiten bietet einen ersten Schritt in das Geheimnis der Hexagramm-Weissagung. – Die beiden grundlegenden Trigramme bestehen aus drei identischen Linien: dreifach yang (Vater) steht für den Himmel und das Schöpferische, die Stärke; dreifach yin (Mutter) steht für die Erde und das Empfangende, die Hingebung. – Die Stellung der ihrer Mutter nahestehenden Söhne zeigt sich in der aufsteigenden Position einer einzelnen yang-Linie: Starkes yang unter zwei yin (der 1. Sohn): der Donner und das Erregende, die Bewegung. Starkes yang zwischen zwei yin (der 2. Sohn): das Wasser, und das Abgründige, die Gefahr. Starkes yang über zwei yin (der 3. Sohn): der Berg und das Stillehalten, die Ruhe. – Die Lieblingskinder des Vaters, die drei Töchter, sind durch die aufsteigende gebrochene Linie bestimmt: Hingebendes yin unter zwei yang (die 1. Tochter): das Holz und das Sanfte, der Wind. Hingebendes yin zwischen zwei yang (die 2. Tochter): das Feuer und das Haftende, das Leuchten. Hingebendes yin über zwei yang (die 3. Tochter): der See und das Heitere, die Fröhlichkeit.

Steffens, der sich autodidaktisch mit der traditionellen Methode der YijingBefragung vertraut gemacht hatte, ersuchte also das chinesische Orakel um Erkenntnisse zum geistigen Wesen der Dichterin Nelly Sachs. Das Ritual führte ihn zu Hexagramm Nr. 36, das den chinesischen Namen ›Ming I‹ trägt. Es besteht aus den beiden Trigrammen für Feuer und Erde. Name und Grundkommentar

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lauten in Richard Wilhelms Übersetzung: ›Verwundung des Hellen‹ und ›Das Licht ist in die Erde hineingesunken: das Bild der Verfinsterung des Lichts‹.

Abbildung 4: ›Ming I‹, Hexagramm Nr. 36 im Yijing Verwundung des Hellen

Der diesem Hexagramm zugeordnete Kommentar passt in gespenstischer Weise zu Nelly Sachs und der Überschattung ihres ganzen Lebens durch den Holocaust und die dunklen Mächte, die in Hitler personifiziert waren. Steffens fand in den Erläuterungen den Satz: »… hier ein finstrer Mann an maßgebender Stelle, durch den der Tüchtige und Weise geschädigt wird.«18 Das »Urteil« zu diesem Hexagramm – d. h. die Empfehlung für zuträgliches Verhalten und Handeln unter den gegebenen Umständen – gipfelt in dem Satz: »Fördernd ist es, in der Not beharrlich zu sein.«19 Dies half dem Komponisten, die Haltung der Dichterin tiefer und vollständiger zu verstehen und zu würdigen. Das erste Zeichen der chinesischen Bezeichnung für dieses Hexagramm, m†ng, bedeutet hell oder Helligkeit; das zweite, † (y† in heutiger Pinyin-Umschrift) wird in modernen chinesischen Wörterbüchern übersetzt als verwunden, ausradieren, ausmerzen.20 Wilhelms Übertragung der Hexagrammdeutung als »Verwundung des Hellen« erinnert in beklemmender Weise an Sternverdunkelung, den Titel einer Gedichtsammlung von Nelly Sachs. In ihrer Dissertation über dieses Hexagramm als einen Aspekt des Bösen im Yijing deutet Ariane Rump die Botschaft, die die Weisen Chinas seit der Antike in diesem Symbol enthalten sehen, als »diesen Schicksalsschlägen gegenüber, die uns besonders heftig im Geschehen ›Die Verwundung des Hellen‹ entgegentreten, Distanz zu gewinnen und in gewissem Sinne vielleicht auch Antwort zu finden.«21

18 Wilhelm, I Ging, Bd. I, S. 104. 19 Ebd. 20 Weitere Übersetzungen von m†ng sind Licht, morgen, Unterscheidungsvermögen und vollkommen; zu den sekundären Konnotationen von y† gehört Verfall oder Verwesung sowie Fremdling oder Feind. 21 Ariane Rump, Die Verwundung des Hellen als Aspekt des Bösen im I Ching (Cham, Schweiz: Gut-Druck, 1967), S. 87.

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Das Yijing-Kapitel zu Hexagramm Nummer 36 schließt mit einer Beobachtung, die im Kontext des jüdischen Schicksals zur Nazizeit so überwältigend scheint, dass sie Steffens’ Glauben an die überzeitliche Weisheit der Divination bestätigte: Hier ist der Höhepunkt der Finsternis erreicht. Die finstere Macht war erst so hoch gestellt, dass sie alle Guten und Lichten verletzen konnte. Zum Schluss jedoch geht sie an ihrer eigenen Finsternis zugrunde, denn das Böse muss in dem Augenblick stürzen, da es das Gute vollkommen überwunden und damit die Kraft aufgezehrt hat, der es bisher seinen Bestand verdankte.22

So wurde die Antwort des chinesischen Orakels auf die Befragung eines deutschen Komponisten nach der seelischen Befindlichkeit der Dichterin Nelly Sachs zur dritten geistigen Grundlage des Klavierquartetts, die er der künstlerischen Integration der beiden Gedichte letztlich voranstellte.

IV.

Symbolismus in Steffens’ musikalischer Interpretation der »Verwundung des Hellen«

Das Urteil für das Hexagramm m†ng †, »Fördernd ist es, in der Not beharrlich zu sein«, darf also im Zusammenhang mit dem ersten Abschnitt in Steffens’ Klavierquartett gelesen werden. Dieser Abschnitt zeichnet sich aus durch ein langsames Tempo, ein stetiges Metrum in 5/4-Takten sowie durch eine Stimmung, die der Komponist als »sehr verinnerlicht, in ruhender Ordnung« beschreibt. Ausgehend von einem dreioktavigen C im Klavier wendet sich die Musik bald zum D-Dur-Dreiklang, der als tonaler Anker des ganzen Werkes immer wieder aufgesucht wird. Im ersten Einsatz der Streicher erklingt die zentrale Oktave in der Bratsche – dem Instrument, das hier wie im zweiten Abschnitt als Führer der melodischen Stimmen agiert. Motiv 1, wie schon kurz angedeutet, entfaltet sich in zweistimmiger Polyphonie. Die Bratsche beginnt mit einem einzelnen Ton, fügt jedoch wenig später per Doppelgriff die darüber liegende Oktave hinzu. Der höhere Ton zeichnet sodann die melodische Kontur vor. Erst wenn deren Abschlusston erreicht ist und für die Dauer von vier Schlägen geklungen hat, erhebt die Bratsche den unteren Strang ihres zweistimmigen Satzes um einen Ganzton und imitiert von diesem Ton aus die zuvor im oberen Strang ausgeführte Kontur. Wenn die Geige zur Bratsche hinzutritt, setzt sie auf dem ›dominantischen‹ g ein, wie es für den zweiten Einsatz einer Fuge aus dem 18. Jahrhundert charakteristisch wäre. Von dort aus imitiert sie die metrischen und rhythmischen Vorgaben der Bratsche. 22 Wilhelm, I Ging, Bd. I, S. 106.

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Abbildung 5: Das Grundmotiv des Klavierquartetts in quasi-fugischer Imitation Ming I, T. 1–8, Viola imitiert von Violine: Motiv 1 mit vier Einsätzen auf c, d, g und a.

Der imitatorische Satz mit insgesamt sechs gestaffelten Einsätzen erinnert an Fugen-Expositionen, wie wir sie besonders von Johann Sebastian Bach kennen. Das hier gewissenmaßen als Fugensubjekt verwendete Motiv – c-b-des-h im ersten Einsatz – bestätigt den vermuteten historischen Bezug: Die Kontur erweist sich bei genauem Hinschauen und -hören als ein variiertes Zitat einer sehr berühmten Tonfolge: des »Kopfes« des dritten Subjektes im letzten Stück aus Bachs Kunst der Fuge. (Dieses Subjekt tritt in dem als »Contrapunctus XIV« bezeichneten polyphonen Stück ab T. 193 hinzu). Der viertönige Kopf dieses Subjektes buchstabiert für alle Musiker, die mit den deutschen Tonbezeichnungen vertraut sind, den Namen seines Komponisten. Die Tonfolge b-a-c-h hat in den darauffolgenden Jahrhunderten zu zahlreichen deutlich erkennbaren und noch mehr transponierten oder anderweitig verschleierten TonbuchstabenVerneigungen vor dem großen Meister geführt.23 Die Ableitung, die Steffens in Ming I als Eröffnungsmotiv einsetzt, kann als transponierte Permutation beschrieben werden: Ming I, Motiv 1 = c-b-des-h einen Halbton tiefer = h-a-c-b mit vertauschten Ecktönen = b-a-c-h

Die Fortsetzung, mit der Bach den chromatischen Cluster seiner Namensbuchstaben erweitert, bevor er das dritte Subjekt seines Contrapunctus XIV mit einer Kadenzformel abrundet, liefert Steffens die Töne der ersten Imitation. Diese erhebt sich aus dem unteren Oktavton der zweigeteilten Instrumentalstimme:

23 In einer Überblicksstudie, die im 1985 erstellten Katalog zur 300-Jahr-Feier von Bachs Geburtstag veröffentlicht wurde, zählt Ulrich Prinz 409 Werke von 330 Komponisten aus dem 17. bis 20. Jahrhundert auf, die das BACH-Motiv verwenden. Vgl. 300 Jahre Johann Sebastian Bach, hrsg. von Ulrich Prinz (Tutzing: Schneider, 1985), S. 389–419.

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Abbildung 6: Das BACH-Thema und sein modifiziertes Zitat in Ming I oben: J. S. Bach, Die Kunst der Fuge, letztes Thema unten: Walter Steffens, Ming I, Motiv 1 (hier zum Vergleich transponiert)

Das zweite Motiv des ersten Abschnittes ist ganz anders gesetzt: Seine drei Einsätze erklingen in Oktavparallelen und jeweils auf d, dem Ankerton des Quartetts, der auch Bachs Kunst der Fuge als Grundton dient. Hier bewegt sich Steffens’ Textur also fern jeder Anspielung auf den Fugenstil. Melodisch jedoch ist dieses zweite Motiv mit dem ersten verwandt: Es greift die Töne des zweiten Motiv-1-Einsatzes auf und schließt auf dem Anfangston des dritten Motiv-1Einsatzes:

Abbildung 7: Die Verwandtschaft von Motiv 1 und 2

In Kommentaren zu »Contrapunctus XIV«, der durch Bachs plötzlichen Tod unvollendet blieb, wird die enge chromatische Kontur gewöhnlich als ein Ausdruck der großen Demut und spirituellen Bescheidenheit ihres Komponisten gedeutet, als Zeichen seiner Überzeugung, dass der Mensch im Angesicht des Schöpfers klein und unbedeutend ist. Mit zwei fallenden Halbtonschritten evoziert das Subjekt zudem die aus der musikalischen Rhetorik bekannten »Seufzermotive« und kann somit als Klage identifiziert werden. In Anbetracht der Kreuzform, die sich durch die Verbindungen von Ton 2–3 und Ton 1–4 (im

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Original wie in Steffens Permutation) ergibt, wird der Schmerz, der in dieser Klage zum Ausdruck kommt, mit dem Leiden Christi in Zusammenhang gebracht und im weiteren Sinne mit dem Leiden jedes aufgrund eines Vorurteils oder auch nur aus Indifferenz unschuldig gequälten oder getöteten Menschen. Indem Steffens den ersten Abschnitt seines Klavierquartetts Ming I aus zwei Motiven bildet, die auf dieses ausdrucksstarke und musikhistorisch bedeutungsträchtige melodische Symbol Bezug nehmen, zieht er eine musikalische Parallele zwischen der individuellen Erfahrung der Dichterin Nelly Sachs, dem Leiden der europäischen Juden unter dem Holocaust und im weiteren Sinne der Qual aller Menschen, deren Leben innerhalb einer grausamen politischen Ideologie als nicht schätzens- und schützenswert angesehen wird.

V.

Guernica, Elegie für Bratsche und Orchester

1974, ein Jahr bevor er den Kompositionsauftrag des Herforder Klavierquartetts erhielt und Ming I schrieb, hatte Steffens begonnen, ein Werk für Bratsche und Orchester zu entwerfen, das den Bombenangriff auf die baskische Stadt Guernica in Erinnerung rufen sollte. Der Untertitel beschreibt die Komposition als »Elegie für Bratsche und Orchester in reflektierender Annäherung an das Bild von Pablo Picasso«. Um sich auf Ming I zu konzentrieren, unterbrach Steffens die Arbeit an diesem ekphrastischen Musikwerk und vollendete das einsätzige Bratschenkonzert erst 1978.24 Guernica wurde 1979 in Herford von der Nordwestdeutschen Philharmonie unter der Leitung von Janos Kulka mit Reiner Schmidt als Solisten uraufgeführt und ist seither eines der am meisten gespielten Werke des Komponisten.25 Der verschränkte Entstehungsprozess hat Spuren in beiden Werken hinterlassen. Die Arbeit an einem Konzert mit solistischer Bratsche mag dafür verantwortlich sein, dass diesem Instrument auch in Ming I die Einführung aller thematischen Komponenten anvertraut ist: In T. 1–4 präsentiert die Bratsche das erste Motiv des Eröffnungsabschnitts, in T. 22ff etabliert sie die führende Figur des zweiten Abschnitts, und zudem obliegt es ihr, im ersten metrisch freien Segment nach der 182-Sekunden »Kontemplation« den ausdrucksvollen unbegleiteten Bogen zu schlagen. Darüber hinaus teilt die musikalische Reflexion zu Picassos Gemälde Ausschnitte seines thematischen Materials mit dem Werk nach Gedichten von Elfriede Szpetecki und Nelly Sachs. Als Antwort auf meine 24 Walter Steffens, Guernica, Elegie für Bratsche und Orchester, Op. 32, »In reflektierender Annäherung an das Bild von Pablo Picasso« (Frankfurt: Wilhelm Hansen, 1979). 25 Tonaufnahme 2009 (CD LAB 7084, »Walter Steffens: Guernica and Other Paintings, http:// www.laborrecords.com/lab7084.html).

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etwa 30 Jahre später gestellte Frage, wie eine Komposition, deren Titel, Metaphorik und Quelle zunächst keine Gemeinsamkeit nahelegt, ihre Botschaft mit musikalischen Komponenten vermitteln kann, die in ganz anderem Zusammenhang entworfen worden waren, erklärte Walter Steffens mir sichtlich überrascht: »Aber emotional und spirituell drücken die beiden Werke doch dasselbe aus«.26 Und tatsächlich liefert die geistige Verwandtschaft der beiden Kompositionen den Schlüssel auch für einen Einstieg in Steffens’ Interpretation von Picassos Guernica. »Ming I« oder »Verwundung des Hellen« schien dem Komponisten nicht nur Nelly Sachs’ Lebenssituation zu beschreiben, nachdem sie dem Schrecken der Naziherrschaft nur knapp und in letzter Minute entkommen war, sondern auch das grausame Schicksal der Bewohner der baskischen Stadt Guernica. Der Aufbau von Steffens’ Elegie für Bratsche und Orchester kann charakterisiert werden als ein konzeptuelles Palindrom mit diversen Asymmetrien. Der grundlegende Bauplan besteht aus sieben um ein Zentrum angeordneten Abschnitten: A B C D C’ B’ A’.27 Die Eröffnung ist als Einzige ganz und gar lautmalerisch: Die Musik erzeugt hier das Geräusch näherkommender Flugzeuge. Nach einem fast unhörbaren Beginn mit sehr leisen Orgelpunkttönen im tiefsten Register gewinnt das Orchester erst sehr allmählich an Tonhöhe und Lautstärke. Interessanterweise erzeugt Steffens diesen Effekt, den Hörer und Kritiker immer wieder als zutiefst verstörend beschrieben haben, mit Hilfe visueller Suggestion. Indem er das berühmte Foto mit den drei Jagdbombern, das ein baskischer Priester an dem Schicksalstag geschossen hat, als Collageobjekt in seine Partitur einbaut, lädt der Komponist die Instrumentalisten ein, die bedrohlichen Formen durch aleatorisches Spiel klanglich umzusetzen.

Abbildung 8: Fotografie der näherkommenden Bomberschwadron, aufgenommen am 26. 4. 1937 von Padre Eusebio Arronategui

Innerhalb dieser Improvisation spezifiziert Steffens lediglich den sehr allmählichen Anstieg in den ersten 17 und das betäubende Crescendo in den folgenden vier Takten. Dieser Abschnitt A muss als unmittelbares musikalisches Abbild des todbringenden Anflugs auf die Stadt Guernica gehört werden.28 (Abbildung 9 zeigt die zweite Partiturseite mit T. 13–21) 26 Aus einem Gespräch mit der Autorin am 14. August 2006. 27 A: T. 1–22, B: T. 23–47, C: T. 48–88, D: T. 89–93, C’: T. 94–118, B’: T. 119–143, A’: T. 144–183. 28 Die historischen Fakten zur Zerstörung der ältesten und kulturtragenden Stadt der Basken sind gut dokumentiert. Im Februar 1936 hatte die linksgerichtete Koalition des Frente Popular den

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Abbildung 9: Walter Steffens, Guernica, Partiturseite 2 rechtsgerichteten Frente Nacional in demokratischen Wahlen geschlagen. Im Juli unternahmen faschistische Generäle einen Putschversuch, der jedoch scheiterte. Darauf entbrannte 1936–39 ein Bürgerkrieg, den die von Hitler und Mussolini unterstützten Faschisten unter der Führung von General Francisco Franco letztlich gewannen. Im Zuge dieser Unterstützung flogen deutsche Bomber der Legion Condor am 26. 4. 1937 einen totalzerstörerischen Angriff auf die Stadt Guernica. Guernica wurde so zum Symbol für faschistische Brutalität.

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Die Abschnitte B bis B’ der Komposition entsprechen sodann den Szenen, die Picasso in seinem berühmten Bild verewigt. Auf diese greift Steffens’ onomatopoetische Nachbildung der herannahenden Flieger zudem insofern voraus, als die vor allem geräuschhafte Instrumentenbehandlung eine musikalische Entsprechung zum auffälligen Fehlen – oder Vermeiden – jeder Farbe in Picassos Darstellung erzeugt. Picasso hatte am 28. April 1937 von dem Bombenangriff gehört. Bereits am 1. Mai machte er erste Skizzen. Das riesige Gemälde, mit Ölfarben auf eine 3,5 m hohe und 7,77 m breite Leinwand gemalt, war am 4. Juni fertig und wurde noch im selben Monat im spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung gezeigt, wo es die Hauptattraktion der Eingangshalle darstellte. Mit seinem Farbenspektrum von schwarz, weiß und grau spricht der Künstler nicht nur grafisch sondern auch symbolisch: Er spielt an auf Zeitungsfotos und frühe Filmclips der Zeit, wobei zugleich die Kritik mitschwingt, dass gerade die durch karge Farben suggerierte Objektivität in der damaligen Medienberichterstattung bedauerlich vernachlässigt wurde. Doch noch etwas anderes erzeugen Picassos Farbeffekte: Zeugen eines Bombenangriffes erzählen oft von der ungeheuerlichen, die Augen blendenden Lichtintensität jeder Explosionen. Ausstellungsbesucher, die Picassos Gemälde in voller Größe und guter Beleuchtung gesehen haben, berichten von einem ähnlichen Effekt.29 All dies ist in den äußeren Abschnitten der Komposition ins Hörbare übertragen.

Abbildung 10: Pablo Picasso, Guernica, 1937

Die inneren Abschnitte der Elegie können als Erfahrungen der Opfer gehört werden. Die menschlichen und tierischen Figuren füllen im Gemälde einen Raum, den Picasso mit einem Hintergrund von Kacheln auf dem Boden und

29 Siehe dazu Jean-Louis Ferrier, De Picasso — Guernica. G¦n¦alogie d’un tableau (Paris: DenoÚl, 1985), S. 11f.

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unverbundenen Wänden mit einzelnen Fenstern nur andeutet.30 Eine Analyse der Musik zeigt, dass Steffens das Bild von rechts nach links liest, wie es die Ausrichtung der meisten Körper und aller Augen auf den Stier links im Bild nahelegt. Die Abfolge der musikalischen Einheiten zum Zentrum des Werkes hin beschreibt einen zunehmenden Verlust an (zunächst tonaler, dann auch metrischer) Ordnung. Der Guernica-Abschnitt B, dessen Musik dem Eröffnungssegment von Ming I entspricht, ist traditionell notiert. In Abschnitt C wird die vorgegebene Ordnung eines Taktgefüges aufgegeben zugunsten von improvisatorischen Kontemplationen aus dem zweiten Großabschnitt von Ming I. Abschnitt D, dessen Musik dem ersten der beiden strukturell analogen freimetrischen Ergänzungen in Ming I entnommen ist, dient in Guernica als kurzes Mittelstück. Hier ermutigt Steffens alle Musiker zu einem etwa halbminütigen aleatorischen Spiel auf der Basis einer kleinen Anzahl jeder Instrumentengruppe zugeteilter Töne. Die Überlagerung beziehungsloser Tempi und Rhythmen wird kurz unterbrochen durch eine Erinnerung an den beruhigenden D-Dur-Dreiklang des ersten Binnenabschnittes. Als Liegeklang ankert dieser Dreiklang anschließend die neuerliche Aleatorik. Hiermit beginnt der palindromische Rücklauf: Ein rhythmisch improvisatorischer Abschnitt C’ führt über eine traditionell notierte Passage B’ (mit nur noch schwachen Anklängen an den Trost des reinen D-Dur) zum abschließenden Abschnitt A’, der die beiden Motive, die Steffens in Ming I aus Bachs Signatur ableitet, mit vereinzelten Echos der Flugzeuggeräusche verschränkt. Die Tatsache, dass der Komponist der Lautmalerei im Schlussabschnitt weit weniger Raum gibt als in dessen palindromischem Gegenstück, erscheint nur logisch: Die sich vom Ort ihrer Zerstörung entfernenden Jagdbomber haben einen gänzlich anderen Effekt als die sich ihrem Ziel drohend und unabwendbar nähernden. Die unregelmäßig symmetrische Anlage von Steffens’ Komposition kann ohne Berücksichtigung der Verwandtschaft mit dem Klavierquartett Ming I als ideelle Entsprechung zur Struktur in Picassos Gemälde gehört werden. Dabei lässt sich jeder durch Wechsel der Notationspräzision deutlich unterschiedene musikalische Abschnitt einer bildlichen Facette zuordnen. 30 Der Kunstkritiker Herschel B. Chipp erläutert dazu: »Although some writers continue to argue that this is either an interior or an exterior scene, it seems apparent that the background and foreground shapes, like a stage set, actually suggest both in different places. Thus Picasso, by indicating at one place one view and at another place another, tells us that there is no single, simple interpretation. Just as the illumination is both sun and electric (indoor) light, the time both day and night, the place both inside and outside, so the observer is not confined to a specific position in space or even a single level of reality but is imaginatively free to perceive the theme in its widest implications«, Herschel B. Chipp, Picasso’s Guernica: History, Transformations, Meanings (Berkeley, CA: University of California Press, 1988), S. 135.

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Abschnitt B mit seinem deutlichen tonalen Anker überzeugt als Gegenstück zu der panisch fliehenden Frau am rechten Rand von Picassos Gemälde. Ihr Gesicht mit dem vorgestreckten Kinn scheint ihrem Körper vorauszulaufen; ihre übergroßen Füße machen trotz des schrecklich geschwollenen Knies Riesenschritte. Sie scheint zuversichtlich, dass sie eine Chance zum Überleben hat, und entschlossen, sich in Sicherheit zu bringen – eine Haltung, die musikalisch dem wiederholten Aufsuchen des ankernden D-Dur-Klanges inmitten eines ansonsten atonalen Ablaufs entspricht. Steffens’ Abschnitt C mit seinem spürbaren Verlust an gesichertem Boden und seinem statischen Hintergrund, aus dem kein Ausweg möglich erscheint, mag auf die Frau oben rechts verweisen, die Picasso mit gequält in die Luft geworfenen Armen malt, eine Geste der Hoffnungslosigkeit, die nur zu verständlich ist, da sie in ihrem zusammenfallenden Haus zu verbrennen droht. Der oszillierende zentrale Abschnitt steht vermutlich für die Frau mit der Lampe, die in Picassos Gemälde so etwas wie eine Mittelachse markiert. Sie zeigt ein übergroßes weibliches Gesicht, das sich durch ein Fenster hereindrängt, und den über ihren Kopf und die Bildmitte hinweg ausgestreckten rechten Arm. Dieser trägt eine Öllampe, deren Licht ein großes Areal erleuchtet. Das Dreieck aus Licht endet in einer abrupten vertikalen Linie nahe der Bildmitte. Es wird reflektiert in den weißen Gliedern des zerstückelten Kriegers, dessen Körperteile – ein abgetrennter Kopf sowie Unterarme mit Händen – über den Boden links im Bild zerstreut sind. Seine eine Hand, die sich nach der Frau rechts ausstreckt, hält noch den Griff eines abgebrochenen Schwertes sowie eine Blume in der Faust, die andere, nach links gestreckte, krampft sich wie in Todesqual. In der Musik wird dieser Repräsentant all der Toten, die die Jagdbomber zurücklassen, durch die Integration in den Schlussabschnitt (A’) mit seiner Kombination aus Fliegergeräusch und melodischen Klagen interpretiert. Abschnitt C’, die unmittelbar auf das zentrale Segment folgende improvisatorische Fläche auf der Basis aleatorischer Notengruppen, kann Picassos Darstellung eines tödlich verwundeten Pferdes zugeordnet werden. Dieses Tier, eines der bevorzugten kreatürlichen Modelle dieses Künstlers, findet sich auch im Gemälde nahe der Mittelachse. Wie Rudolf Arnheim bemerkt, dient das leidende Pferd Picasso wiederholt als Emotionsträger.31 Von Wunden bedeckt und von einer Lanze durchstochen wirft es seinen Kopf zurück und stößt mit dolchartiger Zunge einen Todesschrei aus. Da seine Beine bereits zu versagen drohen, kann es ebenso wenig entkommen wie die brennende Frau – eine Entsprechung, die Steffens’ Musik durch die Wiederkehr der sechs statisch wie-

31 Rudolf Arnheim, The Genesis of a Painting: Picasso’s Guernica (Berkeley, CA: Univ. of California Press, 1962), S. 42 und 44.

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derholten Töne wiedergibt, die er im Jahr zuvor mit Szpeteckis »gläserner Einsamkeit« verbunden hatte. Bevor ich mich dem einzigen noch nicht behandelten musikalischen Abschnitt und seiner Bedeutung im Licht von Picassos Gemälde zuwende, möchte ich auf einen einzigartigen Einschub eingehen. Er erklingt am Ende des Abschnitts B’ und basiert auf einem bestechenden Selbstzitat aus dritter Quelle. Es handelt sich um eine hebräische Hymne, die Steffens in derselben Tonart und Instrumentierung bereits in seiner 1965–67 komponierten Oper Eli verwendet. In dieser Vertonung von Nelly Sachs’ »Mysterienspiel vom Leiden Israels« umgibt die instrumental dargebotene Hymne die zentrale Szene. Für alle, die wissen, dass die nicht artikulierten aber implizit mitklingenden Worte vom Propheten Elias sprechen, der zusammen mit dem Messias bald kommen wird, bietet die Hymne innerhalb der trostlosen Welt der Oper Eli ein Zeichen der Hoffnung, selbst für die Opfer des Holocaust. Indem die musikalische Passage von der Oper Eli in die Bratschen-Elegie Guernica transferiert erklingt, spielt die Hymne indirekt auch auf den Protagonisten des Mysterienspiels an, den unschuldigen Knaben Eli, den ein Soldat Hitlers willkürlich zu Tode geknüppelt hat. Dies wiederum erlaubt eine Verbindung mit der Mutter-Kind-Gruppe ganz links in Picassos Bild, einer barbusigen Frau, die auf dem Boden kauert, den schlaffen Körper ihres toten Kindes auf dem Schoß hält und in schmerzlichem Verlust schreit. Der besondere Klang dieses Einschubs beleuchtet quasi rückblickend auch die Beziehung zwischen dem vorausgehenden Guernica-Abschnitt B’ und einer weiteren prominenten Figur in Picassos Gemälde. Die Hymne erklingt im Unisono dreier Posaunen – einer in der klassischen Musik fast ausnahmslos symbolisch verwendeten Besetzung. Seit Luther in seiner Bibelübersetzung das Wort »Posaune« für den Schofar gewählt hat, das rituelle Blasinstrument der Israeliten, das u. a. beim Fall von Jericho erklingt, in der Johannes-Offenbarung von Engeln als Ausdruck von Gottes Zorn gespielt wird und auch das Jüngste Gericht einberufen soll, war dieses Instrument zum Klangsymbol eines richtenden Gottes geworden. Komponisten, die im christlichen Kontext arbeiten, setzen die Posaune besonders gern im dreistimmigen Unisono ein, um auf den dreieinigen Gott zu verweisen.32 Mit der Symbolik dieses Klanges gibt Steffens 32 Vgl. dazu die Posaunen-Einsätze in Mozarts Ausgabe von Händels Messias sowie in seinem eigenen Requiem, im Schluss von Beethovens Neunter Sinfonie, Berlioz’ Grande messe des morts etc., aber auch z. B. in dem Choral »Es sungen drei Engel ein süßen Gesang«, mit dem Hindemith die Ouvertüre seiner Oper Mathis der Maler eröffnet. Bei dem altisraelischen Instrument handelt es sich um ein aus Widder- oder Kuduhorn gefertigtes rituelles Musikinstrument, das nach Meinung einiger Rabbiner seinen Vorläufer in dem Horn des Widders hat, den Abraham anstelle seines Sohnes Isaak opfern durfte. In der King-JamesBibel wird das Instrument übrigens mit trumpet übersetzt; entsprechend unterschiedlich ist

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ein Urteil ab über die einzige noch nicht zugeordnete Figur in Picassos Gemälde. Blick und Schrei der Frau mit dem toten Kind in Picassos Bild sind auf den triumphierend wirkenden Stier gerichtet, die einzige Figur im Bild, die intakt und offensichtlich schmerzfrei ist. Dieses Bild lässt sich ohne weiteres dem musikalischen Abschnitt B’ zuordnen, auf den das Zitat aus der Oper Eli zurückblickt. Das Fehlen jeglicher aleatorischer Unsicherheit in der Musik entspricht der Selbstsicherheit des Stieres, der vom Leid um ihn herum nicht betroffen scheint. Derweil deuten die Tatsache, dass Steffens die berührenden Klagen aus dem symmetrisch entsprechenden Abschnitt B in den Schlussabschnitt A’ verschiebt und ganz auf die im ersten B-Abschnitt so tröstlichen DDur-Klänge verzichtet, auf die unsympathische Strenge und Kompromisslosigkeit des Stieres. Durch das Klangsymbol des dreistimmigen Posaunen-Unisonos im Einschub deutet Steffens eine göttliche Verurteilung dieses arroganten und bulligen Tieres an. Die frei symmetrische Anlage der musikalischen Komposition entspricht somit der Makrostruktur des Gemäldes, die aus rein bildimmanenter Sicht auf mindestens zwei Weisen gedeutet werden kann. Die diagonalen Linien, die auf einer Bildseite vom gebrochenen Nacken des toten Kindes und auf der anderen vom geschwollenen Knie der fliehenden Frau ausgehend zur Spitze der von der Frau getragenen Lampe führen, haben etliche Kunsthistoriker veranlasst, Ähnlichkeiten mit einem griechischen Tempelfries zu sehen. Diese Deutung wird in den symmetrisch ausgestreckten Gliedern bestätigt: dem Arm und der übergroßen Hand des Kriegers unten links und dem Hinterbein und übergroßen Fuß der fliehenden Frau unten rechts. Andere Kunsthistoriker assoziieren ein mittelalterlich christliches Vorbild, das des Triptychons, das sich in der Gruppierung der Figuren anzudeuten scheint. Dessen imaginärer rechter Seitenflügel enthält drei äußerst bewegte Figuren: die brennende Frau, die fliehende Frau und die ihre Lampe durch eine Öffnung stoßende Frau. Im Gegensatz dazu zeigt der imaginäre linke Seitenflügel mit dem Stier, der hockenden Mutter mit ihrem toten Kind und dem zerfetzten Krieger eine auffallende Statik. Die größte Figur, nahe der Mittelachse des Bildes, ist Picassos Allegorie für das »leidende Volk«, das tödlich verwundete Pferd. Es ist mit beiden Seitenflügeln verschlungen, insofern jede der Außengruppen mit einem einzelnen Arm in die Mitte hineinragt: oben die Frau mit der Lampe, unten der zerstückelte Krieger mit dem zerbrochenen Schwert und der Blume in der Faust. Unter diesem Blickwinkel liegt es nahe, die imaginäre Mitteltafel in Picassos »Triptychon« als eine säkulare Entsprechung traditioneller Kreuzigungsdarstellungen zu lesen. Diese etwas die Instrumentationsgeschichte in der englischen Musik. In der lateinischen Vulgata ist an den erwähnten Stellen von tuba die Rede. Französische Komponisten wiederum kennen auch in der Bibel in diesen Versen nur Posaunen und instrumentieren entsprechend.

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gewagte Interpretation wird von zwei bildlichen Komponenten gestützt, die keine Entsprechung in musikalischen Abschnitten finden. Die eine ist ein kleiner Vogel, der nahe der Zunge des leidenden Pferdes mit einem Messer an die Wand genagelt zu sein und in Todesqual zu schreien scheint. Die andere ist die elektrische Birne in einem mandelförmigen Lampenschirm umgeben von schwarzen und weißen Strahlen, die in ihrer Platzierung oberhalb des leidenden Pferdes und seines (Seelen-?)Vogels an eine säkulare Variante des Gottesauges in vielen mittelalterlichen Gemälden denken lässt.

VI.

Die externen Quellen des Ming I und ihre Rolle in Guernica

Die inneren Entsprechungen zwischen Steffens’ musikalischen und Picassos bildlichen Komponenten werden durch ausdrückliche Informationen seitens der Künstler bestätigt. Im Falle von Picassos Gemälde stammen diese Informationen aus einem Interview mit Jerome Seckler, das im März 1945 in der amerikanischen Zeitschrift New Masses erschien. Hier gesteht der Maler, dass seine Bilder zwar normalerweise nicht symbolisch sind, dass jedoch Guernica eine Ausnahme bildet und in den Einzelfiguren ausdrücklich allegorisch zu lesen ist. Das Pferd repräsentiert das Volk, erklärt er dazu; der Stier steht nicht unbedingt für den Faschismus im Speziellen, sondern vielmehr für jede Art Brutalität und Dunkelheit – und somit für den autoritären Tyrannen, die Figur des Bösen im Hexagramm Nr. 36 aus dem Yijing, dessen Musik einige der beklemmendsten Klänge dieser Komposition über das Leiden in der Stadt Guernica liefert. Um die spirituelle Verbindung nachzuzeichnen, die Steffens zwischen dem in Nelly Sachs’ Gedicht evozierten Leiden Israels und dem in Picassos Gemälde visuell beschworen Leiden der Basken in Guernica sieht, habe ich die in die Partitur des Klavierquartetts Ming I eingeschriebenen Worte den entsprechenden Segmenten in Steffens’ Guernica unterlegt. Mein Ziel war dabei, die dem Komponisten zugeschriebene Interpretation von Picassos Gemälde im Licht der zentralen Gedanken in den Gedichten von Elfriede Szpetecki und Nelly Sachs zu lesen. Das erste der Zitate in Steffens’ Partitur von Ming I betrifft die Musik, die in Guernica zu Beginn des Abschnitts C erklingt. Im Klavierquartett schreibt Steffens »Israel« über die Kontur, mit der die solistische Bratsche diesen rhythmisch unbestimmten zweiten Binnenabschnitt eröffnet. Sofern meine Deutung der Beziehung zwischen Musik und Bildinhalt stimmig ist, wird das Leiden des Volkes, für das der Komponist ein so starkes Mitgefühl empfindet, hier mit Picassos Darstellung der in einem zerfallenden Haus zu Tode brennenden Frau assoziiert. Im palindromisch entsprechenden Guernica-Abschnitt

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C’ übernimmt die erste melodische Geste aus dem Quartett die Konnotation Von der Gotteswunde getroffen, ein Bild, das den Bezug zwischen diesem Abschnitt und Picassos sterbendem Pferd (und vielleicht sogar meine vorsichtige Deutung dieses Tieres als eines säkularen Vertreters des Gekreuzigten) zu bestätigen scheint. Beide Abschnitte entwickeln sich vor dem oben erläuterten Hintergrund unregelmäßig wiederholter Töne in Harfe und Celesta, die Steffens’ Worte in der Partitur von Ming I als »gläserne«, traumhafte Einsamkeit, die erstarrt identifiziert. B’ (die neun Takte, die der aus der Oper Eli zitierten Hymne vorausgehen) basiert auf Material, das – geht man nach den Worten aus Nelly Sachs’ Gedicht, die der Komponist an dieser Stelle dem Klavierquartett unterlegt – einen Abgrund aus Licht beschreibt. Die Verwendung des Bildes vom Abgrund als Metapher für unmoralisches Verhalten kann ohne Bedenken dem Stier zugeschrieben werden, Picassos Allegorie von Brutalität und Dunkelheit. Das »Licht«, das diesen Abgrund ominös beleuchtet, könnte auf die Frau mit der Lampe verweisen, die einzige andere Figur im Gemälde, die nicht zu leiden scheint. In der Summe unterstreichen all diese Deutungen und Lesarten die verschiedenen Verweise auf leidende Menschen. Steffens’ »Elegie« ist ihrem Titel nach eine facettenreiche Klage über den Tod und die Zerstörung, die die Nazis über die Bevölkerung der Stadt Guernica gebracht haben. In Aussageabsicht und Intensität entspricht diese Komposition dem verzweifelten Schrei in Picassos Bild. Zugleich erklingt in der Musik jedoch auch ein Echo der Leiden des vorrangigen Opfers der Nazis, des jüdischen Volkes. Der Bratsche, die in diesem ungewöhnlichen Instrumentalkonzert als Solistin eingesetzt ist, sagt man nach, sie habe die »menschlichste« Stimme unter den Orchesterinstrumenten. Ihre Klangnuancen vertiefen den ergreifenden Eindruck, den beide hier erläuterten Werke von Walter Steffens hinterlassen.

Guglielmo Gabbiadini

Intermediale Missverständnisse. Franz Fühmann, die Tradition der Operette und das schiefe E.T.A. Hoffmann-Bild in der Spät-DDR

I.

Einleitendes zu E.T.A. Hoffmann in der DDR

Mit größter Verlegenheit, wenn nicht gar mit Bekundungen blanken Unmuts sah man im Kulturbetrieb der DDR der Siebziger Jahre dem Herannahen von E.T.A. Hoffmanns (1776–1822) zweihundertjährigem Jubiläum anno 1976 entgegen, insbesondere nachdem die Akademie der Künste zu Berlin beschlossen hatte, eine Gedenkveranstaltung zu Ehren des spätromantischen Schriftstellers auszurichten.1 Denn sich mit E.T.A. Hoffmann in der DDR wissenschaftlich auseinandersetzen und gar seinen zweihundertsten Geburtstag in der Sphäre der Öffentlichkeit feiern zu wollen, stellte sowohl auf hermeneutischer Ebene als auch im Bereich allgemein-intellektueller Tätigkeit und kulturpolitischen Engagements ein brisantes und zugleich riskantes Unterfangen dar.2 Klagen waren an der Tagesordnung, sobald von Hoffmann die Rede war. Es handelte sich nicht um einen Autor des literarischen Untergrunds der DDR. Hoffmann war keineswegs ein mysteriöser Autor, dem sich nur ein kleiner Kreis ›aufrührerischer‹, ja parteikritischer Intellektueller in subversiver Absicht verschrieben hatte. Im Gegenteil: Seine Werke – zumindest ihre Titel – waren einem breiteren Publikum weithin bekannt.3 Jedoch war diese Bekanntheit eindeutig 1 Zur Dokumentation: Arbeiten mit der Romantik heute, hrsg. von Heide Hess und Peter Liebers (Berlin: Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik, Arbeitsheft 26, 1978), S. 6. Siehe ferner : Zu einigen Positionen der Romantik-Forschung in der DDR und zur Rezeption der Romantik in der DDR-Literatur, hrsg. von Horst Hartmann (Potsdam: Pädagogische Hochschule »Karl Liebknecht«, 1980), S. 7–10. 2 Hierzu: Elena Agazzi, ›Letteratura e critica nella DDR. Il caso di Franz Fühmann‹, Studi Linguistici e Filologici Online 8.2 (2010), S. 183–204 und Elena Agazzi, ›La discesa ad inferos come cifra del trauma e come incontro con il mito nella cultura della DDR. Franz Fühmann e il suo dialogo con il mondo romantico nell’opera incompiuta Im Berg (1983)‹, in Navigare il Lete. La responsabilit— della memoria, hrsg. von Roberto Salizzoni (Turin: Trauben, 2011), S. 31–45. 3 Hierzu Bernd Leistner, ›Neuere DDR-Literatur und die klassisch-romantische Tradition‹, in Kulturelles Erbe zwischen Tradition und Avantgarde. Ein Bremer Symposium, hrsg. von Thomas Metscher und Christian Marzahn (Köln u. a.: Böhlau, 1991), S. 413–425.

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negativ gefärbt und sie entsprach mitnichten einer eigentlich kritischen Auseinandersetzung mit seinem Werk. Als Paradebeispiel einer nicht-realistischen Stilrichtung spätromantischer Herkunft war Hoffmann im kulturpolitischen Milieu der Spät-DDR mithin verfemt und immer wieder wurden seine Schriften öffentlich drangsaliert. Trotz der zahlreichen Ausgaben, die ausgerechnet in den siebziger Jahren erschienen,4 pflegten nur die wenigsten DDR-Bürger Hoffmann loyal, d. h. unitarisch zu lesen, denn mit seinem Namen verbanden sich grundsätzliche, tief eingewurzelte Vorurteile, schwerwiegende ästhetische Vorbehalte und hartnäckige Ablehnungen, und zwar zunächst ausgehend von den Verfechtern und Fürsprechern des Sozialistischen Realismus.5 Im Rückblick auf die siebziger Jahre schrieb bspw. Peter Hacks (1928–2003): Ein romantischer Autor ist ein Autor, dessen mißratenste Werke in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Zuge einer unfreundlichen Übernahme des Sozialismus durch revisionistische Literaten dem DDR-Publikum ans Herz gelegt wurden.6

Gegen Hoffmann hatte auch die populäre Kultur schon lange eine ›intermediale‹7 Einheitsfront gebildet, und zwar geschah dies unter Rückgriff auf alte Lieder und Schlager von Klavierhumoristen, die dem Publikum von der Lektüre der Hoffmann’schen Werke ausdrücklich abrieten. Man denke hierbei an das Lied Laß Dir nix von Hoffmann erzählen, welches bereits in der Kabarett- und Tingeltangelszene der Weimarer Republik8 – nicht zuletzt dank der Stimme eines Paul O’Montis (1894–1940) oder eines Hermann Leopoldi (1888–1959)9 – außerordentlich berühmt wurde und noch weit in die siebziger Jahre hinein nachwirken

4 Man denke bspw. an: E.T.A. Hoffmann, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Hans-Joachim Kruse (Berlin u. a.: Aufbau-Verlag, 1976–1988). 5 Hierzu: Rainer Rosenberg, ›Zur Geschichte der Literaturwissenschaft in der DDR‹, Zeitschrift für Germanistik, N.F. I/2 (1991), S. 247–256. 6 Peter Hacks, Zur Romantik (Berlin: Eulenspiegel, 2008), S. 96. 7 Zum Begriff der Intermedialität siehe u. a. Jörg Robert, Einführung in die Intermedialität (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014); sowie Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, hrsg. von Jörg Helbig (Berlin: Schmidt, 1998). In Bezug auf E.T.A. Hoffmann: Valentina Savietto, ›Johannes Kreisler : modulazioni fra letteratura e musica. Un’analisi intermediale‹, in Ecfrasi musicali. Parola e suono nel Romanticismo europeo, hrsg. von Raul Calzoni und Marco Sirtori (Bergamo: Bergamo University Press – Sestante edizioni, 2013), S. 43–57. Ferner : Ricarda Schmidt, Wenn mehrere Künste im Spiel sind. Intermedialität bei E.T.A. Hoffmann (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2006), bes. S. 11–20. 8 Zur Bedeutung der Weimarer Republik im Deutschland der Nachkriegszeit: Raul Calzoni, La letteratura tedesca del secondo dopoguerra. L’et— delle macerie e della ricostruzione (1945–1961) (Rom: Carocci, 2013), S. 65–92. 9 Vgl. Leopoldies: Hermann Leopoldi in frühen Aufnahmen [Tonträger], 2 CDs (Preiser Records, 2009).

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sollte. »Der ist nicht comme il faux«, heißt es kurz und bündig im Refrain über Hoffmann. Noch tiefer ins kollektive Gedächtnis hatte sich zudem die nicht gerade schmeichelhafte Bezeichnung »Gespenster-Hoffmann« eingegraben. Auf die Formulierung hatte auch Walter Benjamin (1892–1940) in seiner Berliner Kindheit um Neunzehnhundert aufmerksam gemacht. »Verboten nämlich«, so schreibt Benjamin, waren mir die Schriften, von denen ich mir reichlichen Ersatz für die verlorene Märchenwelt versprach. Zwar blieben mir die Titel – »Die Fermate«, »Das Majorat«, »Heimatochare« – dunkel. Jedoch für alle, die ich nicht verstand, hatte der Name »Gespenster-Hoffmann« und die strenge Weisung, ihn niemals aufzuschlagen, mir zu bürgen.10

Als diskursive Matrix von gravierenden Trivialisierungen und Rezeptionsmissverständnissen, die zur Konturierung und Verfestigung eines einseitigen, ja schiefen Hoffmann-Bildes beitrugen, sind jedoch in erster Linie Jacques Offenbachs Les contes d’Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen) zu bezeichnen, ein »Op¦ra fantastique« mit einem Libretto von Jules Barbier (1825–1901), das am 10. Februar 1881 im Pariser Op¦ra Comique posthum uraufgeführt wurde und in den nachfolgenden Jahrzehnten einen beispiellosen Erfolg zeitigte.11 Dank der musikalischen Einprägsamkeit und Schönheit der Arien und Melodiebögen der Komposition hatte sich mit den Contes d’Hoffmann europa- und weltweit ein beliebtes und dennoch stark vereinfachtes Hoffmann-Bild rasch verbreitet.12 Hoffmann galt fortan als ein liederlicher, operettenhafter Zauskopf, ein kränklicher Säufer, dem man am ehesten gesunde Skepsis und schiere Missachtung entgegenbringen sollte. Und dies war in der DDR besonders deutlich der Fall. Die häufigen Aufführungen der Contes, vor allem im Ost-Berlin der siebziger Jahre, trugen entscheidend dazu bei, das Interesse an Leben und Werk des ›wirklichen‹ Hoffmann durch das Vergnügen am Klischee eines melancholischen und verzweifelten Dichterlings zu ersetzen. Der Name Hoffmann rief in der DDR ganz bestimmte Assoziationen hervor, die nicht gerade zur intensiven Lektüre seiner Werke aufmunterten. Dachte man an Hoffmann, so kam bei den meisten Lesern nur ein suspekter, krankhafter Gespenster-Beschwörer zu Gesicht, den man lieber beiseite lassen und sicher nicht lesen sollte. 10 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hrsg. von Tillman Rexroth (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972), S. 284. 11 Andrew Lamb, ›Offenbach, Jacques‹, in The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, 2. Auflage, Bd. 14 (London: Macmillan, 2002), S. 347–352. 12 Hierzu Maria Teresa Giaveri, ›Hoffmann a Parigi‹, in Les Contes d’Hoffmann. Opera fantastica in un prologo tre atti e un epilogo (Milano: Edizioni del Teatro alla Scala, 2012), S. 89–99.

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II.

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Rundfunk und Selbstidentifikation: Franz Fühmanns Versuch einer Ehrenrettung Hoffmanns

Nur wenige einflussreiche Stimmen versuchten diesen Sachverhalt zu ändern. Zu den prominenten und loyalen Hoffmann-Lesern der Spät-DDR gehörte in erster Linie Franz Fühmann (1922–1984).13 Zusammen mit einigen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren – darunter Anna Seghers (1900–1983) und Christa Wolf (1929–2011) – nahm er sich vor, den verschiedenen Verdikten der Hoffmann-Gegner und vor allen Dingen ihren »krassen Fehlurteilen« entgegenzuwirken. Das Ziel war geradezu die Ehrenrettung Hoffmanns.14 Dabei hatte er es freilich nicht leicht. Im Rahmen eines regen Streits um die Romantik und dezidiert gegen den Versuch seitens mancher Schriftsteller wie Peter Hacks, die Romantik als reaktionäre Kulturbewegung zu erledigen,15 äußerte Fühmann zum 200. Geburtstag Hoffmanns polemische Gedanken, die unter Künstlern und Kunstwissenschaftlern kontroverse Meinungen hervorriefen und rege Diskussionen entfachten.16 Die Dichtung Hoffmanns stellt laut Fühmann keineswegs eine Realitätsflucht dar, kein weltloses Schwelgen unter abwegigen Hirngespinsten sei in seinen Werken zu beobachten. Ganz im Gegenteil: Was man als Gespenster und Kopfgeburten einer überhitzten Einbildungskraft anprangerte, sei vielmehr das dichterische Resultat einer scharfsinnigen sozio-anthropologischen Analyse, die Hoffmann angesichts des allgemeinen Umbruchs durchführte, welcher seine Zeit kennzeichnete. Angstvisionen der Moderne; Allegorien der entfremdeten, absurden Welt: Das liege in letzter Instanz Hoffmanns exotisch-exzentrisch anmutenden Gestalten zugrunde. Missverständnisse und Fehldeutungen seien geradezu unvermeidlich, wenn man Hoffmanns Texte auslegt, ohne die Komplexität ihrer Gestalten zu berücksichtigen. Verwirrend genug gehe es bei Hoffmann zweifellos zu. Doch jene Verwirrung zeuge von einer beispiellosen

13 Hierzu Eberhard Mannack, ›Franz Fühmann als Interpret Hoffmannscher Erzählungen‹, in Dialektik des Anfangs, Spiele des Lachens, Literaturpolitik in Bibliotheken. Über Texte von Heiner Müller, Franz Fühmann, Stefan Heym, hrsg. von Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr (Bonn: Bouvier, 1986), S. 129–141 und Sigrid Kohlhof, Franz Fühmann und E.T.A. Hoffmann. Romantikrezeption und Kulturkritik in der DDR (Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 1988). Weitere Studien zu einzelnen Aspekten werden im Laufe der Darstellung genannt. 14 Hierzu Klaus Rek, ›Eine Wahlverwandtschaft. Fühmann und seine Rezeption E.T.A. Hoffmanns‹, Text+Kritik, 202/203 (2014), S. 56–69, besonders S. 59. 15 Hacks, Zur Romantik, S. 97: »Das erste Auftauchen der Romantik in einem Land ist wie Salpeter in einem Haus, Läuse auf einem Kind oder Mantel von Heiner Müller am Garderobenhaken eines Vorzimmers. Ein von der Romantik befallenes Land sollte die Möglichkeit seines Untergangs in Betracht ziehen«. 16 Hierzu: Heide Hess, Peter Liebers, ›Vorbemerkung‹, in Arbeiten mit der Romantik heute, S. 6.

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Durchdringungskraft, die bestimmte Strukturen der Wirklichkeit besser erfasst als manche Postulate einer vermeintlich realistischen Poetik. 1976 ergreift Fühmann anlässlich einer Rede in der Akademie der Künste der DDR öffentlich das Wort und bricht eine Lanze für seinen spätromantischen Lieblingsautor : Hoffmann hat das Bewußtsein und den Mut aufgebracht, sich jenen unhellen und wenig anheimelnden Kräften zu stellen, von denen man gern die Augen abwendet, falls man ihre Existenz nicht prinzipiell leugnet, und man wird ihm wohl nicht ganz gerecht, wenn man sein Werk nur in Auswahl wahrnimmt, also mit ihm gerade das tut, was mit der Wirklichkeit nicht getan zu haben Hoffmanns Größe wie Besonderheit ausmacht. Man kann Hoffmann ohne Hoffmann schlecht haben, man umarmte sonst eine Chimäre, doch auch das wäre gar nicht hoffmannesk, denn seine Gespenster sind real und nicht illusionär.17

Aus weiteren persönlichen Lektüre-Experimenten, Entdeckungen, Vorträgen und Gesprächen Fühmanns, die im Sommer 1973 einsetzten,18 erwuchs ein laut Wulf Segebrecht19 »außerordentlich wirksame[r] Essayband«, der unter dem Titel Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann beinahe zur selben Zeit in Rostock (1979)20 und Hamburg (Lizenzausgabe, 1980)21 erschien. Der Band enthält folgende Arbeiten: (1.) Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste der DDR; (2.) Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann. Ein Rundfunkvortrag; (3.) Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann; (4.) Anhang: ›Ignaz Denner‹; und (5.) ›Klein Zaches genannt Zinnober‹. Ein Nachwort. Die fünf Essays, deren Grundgedanken sich bereits im Filmexpos¦ über die ›Möglichkeiten einer filmischen Aneignung von Werk und Leben E.T.A. Hoffmanns‹22 skizziert finden, dokumentieren Fühmanns gründliche Erforschung und seine weitgespannte Auseinandersetzung mit dem spätromantischen 17 Franz Fühmann, ›Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste der DDR‹, in Werkausgabe, 2. Auflage, Bd. 6: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981 (Rostock: Hinstorff, 1986), S. 218. 18 Franz Fühmann an Kurt Batt, 29. August 1973. Zitiert nach: Franz Fühmann, Briefe 1950–1984. Eine Auswahl, hrsg. von Hans-Jürgen Schmitt (Rostock: Hinstorff, 1994), S. 123. 19 Wulf Segebrecht, ›Hoffmann, erzählt. Sein Ich und sein Werk im Vervielfältigungsglas neuerer Prosa‹, E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992–1993), S. 184–198, hier S. 192. 20 Franz Fühmann, Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann (Rostock: Hinstorff, 1979). 21 Franz Fühmann, Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1980). 22 Franz Fühmann, ›Möglichkeiten einer filmischen Aneignung von Werk und Leben E.T.A. Hoffmanns‹, in Werkausgabe, 2. Auflage, Bd. 8: Simplicius Simplicissimus, Der Nibelunge Not und andere Arbeiten für den Film (Rostock: Hinstorff, 1986), S. 317–416.

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Schriftsteller. Darin versucht er, dem trivialisierenden Bild vom »GespensterHoffmann« entgegenzuwirken. Durch die Hervorhebung der höchsten künstlerischen Qualität der hoffmannschen Texte sowie ihrer mehrfachen, durchaus realistischen Alltags- und Gegenwartsbezüge trägt er entscheidend dazu bei, das Klischee vom abwegigen Phantasten und exzentrischen Träumer Hoffmann zu revidieren und neue Wege der Interpretation seines Œuvres freizulegen. Die fünf Hoffmann-Studien bilden in ihrer Gesamtheit einen organischen Makrotext und stützen sich auf ein System von inneren Bezügen und rhetorisch durchkalkulierten Reprisen, das von der erstaunlichen Komplexität und rigorosen Konsequenz der fühmannschen Denkschmiede zeugt und darüber hinaus seine hermeneutische Scharfsicht beweist. In einem Brief an Fühmann vom 27. Juni 1979 brachte Christa Wolf ihre ersten Eindrücke von der Lektüre der Hoffmann-Studien zum Ausdruck und stellte dabei insbesondere ihre zweifache Bewandtnis heraus: Einerseits handle es sich um bedeutende kultur- und literaturgeschichtliche Untersuchungen, andererseits trete ihre werkbiographische Motiviertheit überaus deutlich zutage.23 Christa Wolf traf damit ins Schwarze: [E]s ist ja nicht nur die Hoffmann-Lektüre, die sie hervorgebracht hat, es ist ja Deine Teil-Identifikation mit einem Mann, einem Autor, der im Grenzbereich zwischen zwei Wert-Systemen leben muß, die einander beeinflussen, aber nicht aufheben, geschweige durchdringen können.24

Fühmann bewegt sich in der Tat, wie er selbst schrieb, »jenseits des abgesteckten Geländes der etablierten Germanistik«.25 Er arbeitet nach einem eigenen Koordinatensystem und plädiert unentwegt für eine neuartige Herangehensweise an die Literatur, welche sich weitgehend auf anthropologisch ausgerichtete Beobachtungen und – vor allen Dingen – auf das explizite Heranziehen der Musik und des Musikalischen als Instrumente der Interpretation stützt. Ein intermedialer Ansatz ist bei Fühmanns Analysen von entscheidender Signifikanz. Besonders deutlich wird dies im »Rundfunkvortrag« über Hoffmann, den Fühmann unter dem Titel ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹ im Januar 1976 im Studio von Radio DDR II hielt.26 Mit dem Rund23 Christa Wolf an Franz Fühmann, 27. Juni 1979. Zitiert nach: Christa Wolf und Franz Fühmann, Monsieur – wir finden uns wieder. Briefe 1968–1984, hrsg. von Angela Drescher (Berlin: Aufbau, 1995), S. 95–99. 24 Wolf, Fühmann, Monsieur, S. 96. 25 Fühmann, ›Möglichkeiten einer filmischen Aneignung‹, S. 350. Zur Essayistik Fühmanns: Giusi Zanasi, ›Die Spirale der Wandlung: Bemerkungen zu Franz Fühmanns Erfahrung mit Dichtung‹, in Die Literatur der DDR 1976–1986, hrsg. von Anna Chiarloni, Gemma Sartori und Fabrizio Cambi (Pisa: Giardini, 1988), S. 207–215. Ferner : Domenico Mugnolo, »›Era il nostro tramonto«. Franz Fühmann fra Essay e autobiografia‹, in Il saggio. Forme e funzioni di un genere letterario, hrsg. von Giulia Cantarutti, Luisa Avellini und Silvia Albertazzi (Bologna: il Mulino, 2007), S. 199–218. 26 Zur Entstehungsgeschichte des Rundfunkvortrags: Swantje Rehfeld, »… seltsames Knistern

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funkvortrag, der aufgrund seiner intermedialen Beschaffenheit im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht, legt Fühmann einen Hörtext vor, der für ein breites, nicht rein akademisches Publikum bestimmt ist. Der Autor zielt weniger auf Konfrontation mit Hoffmann-Gegnern, sondern zeigt sich vielmehr bestrebt, die Hörer zu einer »Neuentdeckung« der hoffmannschen Prosa durch textnahe Analysen zu motivieren.27 Im Vergleich bzw. im Unterschied zum erwähnten Text der Akademie-Rede ermöglicht das Medium des Rundfunks eine medienspezifische Varianz des Aussagepotentials zum Thema E.T.A. Hoffmann und Romantikrezeption.28 Um wesentliche Aspekte des »fragwürdigen Nachruhms«29 zu entkräften, den Hoffmann in seiner Wirkungsgeschichte erlangt hatte, bedient sich Fühmann einer intermedialen Analyse ante litteram, mit dem Anspruch, die Interaktion von Literatur und Musik im Werk Hoffmanns und vor allem in seinem Nachleben zu erhellen. Sein Werben für eine Neulektüre Hoffmanns zielt also nicht vordergründig auf die literaturgeschichtliche Berichtigung eines hermeneutischen Missverhältnisses, sondern – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – auf die Aufklärung einer Reihe von intermedialen Missverständnissen, die im Austausch zwischen Interpretation und musikalischer Verarbeitung der hoffmannschen Texte im Lauf der Jahrzehnte entstanden waren. Als Mitstreiter an Hoffmanns Seite ist Fühmann darum bemüht, durch das Instrumentarium einer intermedialen Untersuchung das (seiner Ansicht nach) schiefe Hoffmann-Bild der Zeit so weit wie möglich zurechtzurücken und den Stellenwert seiner Werke anzuheben.

III.

Fühmanns Ansätze zu einer intermedialen Textanalyse

Bereits im Titel des fühmannschen Höressays ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹ wird die wesentliche Bedeutung des Musikalischen bei Hoffmann mit Nachdruck hervorgehoben. Fühmann macht seine Hörer darauf aufmerksam, dass Hoffmann laut Taufschein »Wilhelm« und nicht »Amadeus« hieß.30 Mit der Ersetzung seines dritten Vornamens durch den Namen seines Vorbilds Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) hatte Hoffmann dezidiert in das

27 28 29 30

unter Bindestrichen«. Franz Fühmanns produktive Rezeption E.T.A. Hoffmanns (Trier : Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2007), S. 168–174. Ebd., S. 177. Ebd., S. 210. Franz Fühmann, ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann. Ein Rundfunkvortrag‹, in Werkausgabe, 2. Auflage, Bd. 6: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981 (Rostock: Hinstorff, 1986), S. 250. Ebd., S. 240.

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Selbstverständnis und gewissermaßen in die Gestaltung seiner eigenen künstlerischen Identität eingegriffen und dabei die Rolle der Musik eindeutig ins Zentrum gerückt. Fühmann stellt nun beide Namen nebeneinander : Wilhelm und Amadeus bilden ein Paar, das die Komplexität der Persönlichkeit Hoffmanns in sich birgt. Die bewusste, für manche Hörer gewiss irritierende Abweichung von der erwarteten Trias »Ernst Theodor Amadeus« entspricht bei Fühmann einer polemischen Absicht. Er kritisiert damit den vereinfachenden Gebrauch jener »Doppelexistenz« in der Rezeptionsgeschichte, die sich in der Gegenüberstellung Wilhelm/Amadeus verdichtet: [D]iese Doppelexistenz hat zu jener Operettenfigur beigetragen, als die Hoffmann in unsern Tagen lebt. Amadeus und Wilhelm, Künstler und Beamter, das zwingt ja förmlich zum Weiterspinnen: Phantasie und Aktenstaub, kühner Traumflug und schale Wirklichkeit, und was dieser beliebten Gegensatzpaare einer Gartenlaubenästhetik mehr sind. Herzblut und Tinte bietet sich da, oder Dämonen und Paragraphen, das liest sich auch nicht übel, und die Legenden wuchern hoch und überdecken Hoffmanns wahre Bedeutung […].31

Die Unterscheidung in Künstler und Beamten lehnt Fühmann als borniert ab, zeugt sie doch lediglich von der Kurzsichtigkeit der meisten Kritiker und Biographen, die lauter »Missverständnisse und Gerüchte«32 hervorgebracht hätten. Bemüht um die Überwindung einer solchen manichäischen Trennung, die Hoffmanns »wahre Bedeutung« überdecke, versteht Fühmann die Verbindung zwischen Wilhelm und Amadeus nicht als Relation im Modus eines bloßen Nebeneinanders (tags Kammergerichtsrat, nachts Künstler), sondern vielmehr als das Band einer komplexerer Zusammengehörigkeit. Metaphern aus dem Bereich der Verwandtschaftsbeziehungen werden wiederholt verwendet, um jene Beziehung möglichst adäquat zu veranschaulichen. Denn Amadeus und Wilhelm, schreibt Fühmann, standen in Hoffmann nicht in einem Verhältnis des Dr. Jekyll und Mr. Hyde zueinander, sie waren Brüder, manchmal auch feindliche, doch zumeist arbeiteten sie einander zu. Beide sind sie jener Hoffmann, der unser sein sollte.33

Damit will Fühmann dem gängigen Klischee vom pedantischen Beamten und wahnsinnigen Dichter entgegenwirken, jenem Klischee also, das dem Bild des »Operetten-Hoffmann« zugrunde lag. Mit dieser Bezeichnung, offenbar angelehnt an die landläufige, negativ konnotierte Variante »Gespenster-Hoffmann«, bezieht sich Fühmann in erster Linie auf Offenbachs Contes d’Hoffmann, obwohl 31 Ebd., S. 240f. 32 Ebd., S. 241. 33 Ebd., S. 243.

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er den Namen des Komponisten nie explizit erwähnt. Zielscheibe seiner Kritik ist insbesondere das seiner Ansicht nach unverzeihlich verkürzte HoffmannBild, das die Contes kolportieren. Denn in Offenbachs Werk komme ein melancholischer und verzweifelter Dichter zu Gesicht, ein von der Syphilis zerfressener Säufer und Dauerkranker von schwacher Konstitution, der mit dem wirklichen Hoffmann nur wenig zu tun habe. Mit seinem Op¦ra fantastique habe Offenbach aus Hoffmann gewissermaßen einen Boh¦mien gemacht, der sich seinen ungelösten Verpflichtungen im bürgerlichen Leben entziehen möchte. Zudem – und das ist laut Fühmann besonders gravierend – finden sich im Libretto der Contes fälschlicherweise drei seiner berühmtesten Erzählungen – Der Sandmann, Die Abenteuer der Silvesternacht und Rat Krespel – in ebenso viele biographische Anekdoten umgewandelt, die der fiktive Hoffmann zu Beginn der Oper in der »Taverne de Ma„tre Luther [!]« gegenüber seinen Trinkkumpanen zum Besten gibt. Hierbei wird Hoffmann – so Fühmanns Befund – zu einem Taugenichts herabgewürdigt, der in einer Welt von Gespenstern seinen Rückzug sucht und sich aufgrund seiner vermeintlichen Unfähigkeit, sich im realen Leben und innerhalb seiner Gefühlswelt zurechtzufinden, den kühnsten Phantastereien ergibt. In den drei Akten der Contes werden die Episoden von Olympia, Giulietta und Antonia inszeniert – und zwar alle drei so, als handle es sich jeweils um Kapitel aus Hoffmanns Biographie. Im Epilog beendet der fiktive Hoffmann die Erzählung seiner unglücklichen Liebesgeschichten. In Stella sieht er die drei Frauengestalten seines Lebens vereint. Doch die Zeit der Abenteuer ist nunmehr vorbei. Dem Dichter erscheint die Muse: Sie allein kann ihm den Frieden und die Heiterkeit geben, die er vergebens in der großen Welt gesucht hat.34 »Hier bietet sich an«, bemerkt Fühmann mit denkbar resoluter Stimme, »den Operetten-Hoffmann mit dem originären zu vergleichen«,35 was in einer früheren Sendung von Radio DDR II bereits versucht worden war.36 Dennoch, so wird gleich präzisiert, »liegt [es] mir auch fern, Hoffmanns reale Biographie gegen die des Librettos auszuspielen«, denn natürlich ist es das gute Recht einer jeden Adaption, zu ändern, umzubauen, neu zu gestalten, auch zu vereinfachen und zu komprimieren, meinetwegen auch zu vergröbern, doch es kommt auf den Geist an, in dem dies geschieht. […] Mich kränkt nicht die Abwandlung von Hoffmanns Lebenslauf; Literatur ist keine Beihilfe für den Geschichtsunterricht, und es ist ihr gutes Recht, auf historische Fakten zu pfeifen. Was mich kränkt, ist die Albernheit, mit der dies geschehen ist.37

34 35 36 37

Vgl. Hoffmanns Erzählungen, hrsg. von Kurt Pahlen (München: Goldmann, 1980), S. 22–25. Fühmann, ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹, S. 250. Ebd. Ebd.

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Die Tonlage ist die einer Abrechnung. Offenbachs Werk habe eine trivialisierende Verstellung des Hoffmann-Bilds verursacht. Nicht der Verlust an historischer Werktreue sei das Gebrechen dieser Opern-Adaptation, sondern die Verdrängung der rätselhaften Widersprüchlichkeit, d. h. der literarischen Komplexität, welche die Hauptgestalten von Hoffmanns Original charakterisiert.38 Um sein kritisches Vorhaben zu konkretisieren, geht Fühmann zunächst auf die musikalische ›Trivialisierung‹ des »Klein Zaches«-Motivs ein, die sich aus dem Dialog zwischen Offenbachs Hoffmann und den Studenten im ›Prolog‹ der Contes ergibt. Dort erscheint Klein Zaches als der Zwerg »Klein Zack«. »Klein Zaches genannt Zinnober,« schreibt Fühmann, sei eine höchst komplizierte Gestalt einer höchst komplizierten Übergangsperiode, ein Stück Mythos, das uns teuer sein sollte und doch im breiten Publikum nur in der läppischen Figur des Zwergs Klein Zack fortlebt, der da am Hof von Eisenack in seinem Frack ticktack und klickklack macht, Repräsentant jenes fragwürdigen Nachruhms, der erfreulicherweise in den letzten Tagen schon öfter attackiert worden ist und den weiter um ein winziges abzubauen das einzige Ziel dieses Vortrags sein soll.39

Mit glänzender Sprachkraft vermag Fühmann die Musikalität der offenbachschen »Klein Zack«-Melodie durch ein System von auf Verschlusslaute ausgehenden Reimen (-ck) zu evozieren. Damit bezieht er sich unmissverständlich auf die berühmte Passage aus dem ›Prolog‹ der Contes, wo es um den »läppischen« Kümmerling (»avorton«) geht, auf den nun ein ironisch-missachtendes Licht fällt (die auf die Konsonantenkombination -ch ausgehenden Wörter werden im Gesang so ausgesprochen, als handelte es sich dabei um die Konsonantenkombination -ck): Êtudiants C’est la l¦gende de Kleinzach! Hoffmann Va pour Kleinzach! Il ¦tait une fois — la cour d’Eisenach… Êtudiants … — la cour d’Eisenach! Hoffmann … un petit avorton qui se nommait Kleinzach! Êtudiants … qui se nommait Kleinzach!

38 Zur Widersprüchlichkeit komplexer Charaktere im Lichte von Fühmanns Analysen: Jürgen Krätzer, ›Vom »Stocken des Widerspruchs« oder Etwas über die Erfahrung der Herr-undKnecht-Dialektik bei Franz Fühmann‹, Berliner Debatte 4 (2001), S. 43–51. 39 Fühmann, ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹, S. 250.

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Hoffmann Il ¦tait coiff¦ d’un colbac, Et ses jambes faisaient clic clac! Clic clac! Clic clac! Voil—, voil— Kleinzach! […] Il avait une bosse en guise d’estomac… […] Ses pieds ramifi¦s semblaient sortir d’un sac! […] Son nez ¦tait noir de tabac, Et sa tÞte faisait cric crac! Cric crac! Cric crac! Voil—, voil— Kleinzach!40

Offenbachs Arbeit an der Figur des Kleinzach erscheint im Lichte der fühmannschen Analyse als ein Beispiel von schlechter Adaptation, bei der die literarische Vielschichtigkeit des Originals ersatzlos verloren geht. Erreicht wird jedoch der Höhepunkt der fühmannschen Argumentation erst im Vergleich zwischen dem ersten Akt der Contes (die Antonia-Episode) und deren Vorlage, Hoffmanns Erzählung Rat Krespel, die in den Serapions-Brüdern als erste vorkommt.41 Die Ablehnung eines vereinfachenden Hoffmann-Klischees und die Ergründung eines komplexeren, eigentlich dialektischen Menschenbilds erhellen mit paradigmatischer Kraft Bemerkungen aus Fühmanns Analyse der Erzählung. Hoffmanns Krespel wird der Serapionsrunde als »einer der allerwunderlichsten Menschen« vorgestellt und die Aufmerksamkeit fokussiert sich auf einen »seiner allernärrischsten Streiche«.42 Im Rundfunkvortrag wird der Text kurz zusammengefasst: Krespel lässt sich dergestalt ein Haus errichten, dass die Maurer ganz ohne Pläne und Zeichnungen auf einem markierten Platz ein Fundament ausschütten und anschließend die Mauern hochziehen müssen, ohne Tür- und Fensteröffnungen, zwei Stockwerke hoch. Darauf beginnt Rat Krespel von der Straße aus auf sein Haus zuzugehen, und dort, wo er es am Bequemsten erreichen kann, lässt er die Eingangstür einschlagen, dort, wo er 40 Offenbach, Les Contes d’Hoffmann, S. 13–14 (deutsche Übersetzung: »Es ist die Legende des Kleinzach! / Nun gut mit Kleinzach! Es war einmal am Hof von Eisenach / ein kleiner Kümmerling namens Kleinzach! / Er trug einen Kalpak und seine Beine machten klick klack, da ist Kleinzach! / Er hatte einen Buckel anstatt eines Magens / seine verzweigten Füße schienen wie aus einem Sack herausgefallen / Seine Nase war schwarz wie Tabak, sein Kopf machte crick crack, da ist Kleinzach!«). 41 E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 4: Die Serapions-Brüder, hrsg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. (Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 2001), S. 39–71. 42 Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 39.

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den schönsten Ausblick vermutet, ein Fenster, und darum herum die Innenraumwände usw. Schließlich steht ein Haus da, das zwar sehr kurios anmutet, in dem es sich aber bestens wohnen lässt.43 »Und nun«, bemerkt Fühmann, geschieht etwas ganz Eigenartiges: In dem Maße, wie die Erzählung fortschreitet, beginnt sich diese ganz einlinig scheinende Kauzgestalt nach zwei Dimensionen hin zu ändern oder, sagen wir besser : nach zwei Wesensfarben: sie wird heller und düsterer zugleich, und zwar manchmal beides im selben Satz, und beides verstärkt das Schrullenhafte und läßt uns seine Pole ahnen: den des Weisen und den des Wahnsinnigen. Dadurch wird das Bild des Rats immer klarer konturiert, doch zugleich immer geheimnisvoller : es ist ein Wunder an Erzählkunst.44

Krespel erscheint »zugleich« als Weiser und als Wahnsinniger. Zwei entgegengesetzte Kräfte durchziehen seine Subjektivität, deren Opposition das Geschehen bis zum Ende der Erzählung bestimmt. Auf folgende rätselhafte Paradoxie komme es an: Bei der Identitätsgestaltung der literarischen Figur schließen sich Gegensätze keineswegs aus, sondern setzen einander vielmehr voraus, »sie halten einander in gegenseitiger Anziehung wie zwei Körper im All, oder sind Berg und Tal einer Welle, die einander zu Nichts aufheben können«.45 Damit gewähren Figuren wie Rat Krespel Einblick in Fragen von nicht geringer Unübersichtlichkeit, die bei trivialisierenden Adaptationen einfach eskamotiert werden. An dieser Stelle zeichnet sich die Idee einer in sich strukturell gespaltenen Figur ab, die einem dauerhaften Identitätskonflikt ausgesetzt ist. Nach einem solchen dialektischen Menschenbild ist die (fiktive oder wirkliche) Biographie des Einzelnen kein Nebeneinander oder Nacheinander individualgeschichtlicher Ereignisse, sondern muss als ein komplexes, in sich widerstreitendes »Zugleich« heterogener Faktoren verstanden werden. Davon fehle bei Offenbachs Hoffmann jede Spur – so Fühmanns Befund. Ausgerechnet in der Darstellung »psychische[r] Phänomene wie die Gespaltenheit des Ichs, das Gegenbild seines eigenen Selbst, seinen Doppelgänger und Schatten«46 sei Hoffmann dagegen unübertrefflich gewesen und hierbei spielt die Intermedialität eine entscheidende Rolle: Fühmanns Überlegungen zur Verbindung von Sprache und Musik innerhalb der Krespel-Erzählung dienen der Erforschung dieses komplexen Identitätsmodells. Dabei stellt er fest, dass die Musik bei Hoffmann keineswegs nur als Thema oder als Vehikel von thematischen Einheiten und Elementen dient. Ihre Funktionalisierung erstreckt sich 43 Fühmann, ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹, S. 251. 44 Ebd. 45 Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens, in ders., Werkausgabe, Bd. 3 (Rostock: Hinstorff, 1986), S. 370. 46 Fühmann, ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹, S. 241.

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vielmehr auf eine tiefer gehende Schicht: Die Musik erweist sich als entscheidender strukturbildender Faktor bei der Gestaltung der heterogenen Persönlichkeit des Protagonisten Krespel und seines skurrilen Verhaltens. Nur musikinhärente Kategorien ermöglichen den Zugang zu Krespels Rätseln. Denn seine zerrissene Persönlichkeit – so Fühmanns Intuition – erweist sich als literarische Entsprechung einer »Dissonanz«, er ist gleichsam die Inkarnation einer musikalischen Dissonanz. Über ihn bemerkt bereits Serapionsbruder Theodor : »Sein Ton war bald rauh und heftig schreiend, bald leise gedehnt, singend, aber immer paßte er nicht zu dem, was Krespel sprach«.47 Auf die Frage: »Was macht denn unsere Antonie[,] lieber Rat?« […] schnitt [Krespel] ein Gesicht, als wenn jemand in eine bittere Pomeranze beißt, und dabei aussehen will, als wenn er süßes genossen; aber bald verzog sich dies Gesicht zur graulichen Maske, aus der recht bitterer, grimmiger, ja wie es mir schien, recht teuflischer Hohn herauslachte.48

Die Erwähnung Antonies hatte »eine Seite [!] berührt«, die »in Krespels Innerm widrig dissonieren mußte«.49 Fühmanns Beitrag zu einer intermedialen Kritik konkretisiert sich in der Intuition, nach der die Musik nicht allein das Thema eines Erzählstoffes bildet, sondern zugleich auch sein strukturierendes Element, die Logik seiner Konstruktion. Die komplexesten Figuren bei Hoffmann sind nicht nur in thematischer, sondern auch in struktureller Hinsicht intermedial angelegt. Bei Krespel erscheint das musikalische Phänomen der Dissonanz als authentischer Niederschlag bzw. als Quintessenz seiner Persönlichkeit.

IV.

Ambivalenz als Signatur der Kunst

Das Problem der musikalischen Verarbeitung der Erzählung in Offenbachs Contes besteht nach Fühmann darin, dass sie es beim »Sonderling« belässt und das auslösende Moment des Identitätskonflikts tilgt. Demnach geht bei Offenbach die ambivalente Natur der Krespel-Figur verloren, eine Ambivalenz, die gerade in der literarischen Vorlage am deutlichsten zur Geltung kommt. Bemerkenswert ist u. a. die Bildlichkeit, die Fühmann bemüht, um die Untiefen komplexer Charaktere wie Krespel und ihre ›verstörende‹ Ausstrahlungskraft möglichst adäquat auszuloten: Zuerst ein Sonderling, über den man nur schmunzelt, dann mischt sich Befremden wie Wohlgefallen ins Bild, gleichermaßen zuerst, dann überwiegt allmählich das Befrem47 Hoffmann, Die Serapions-Brüder, S. 43. 48 Ebd., S. 44. 49 Ebd.

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den, zumal wenn man von seiner Passion erfährt, alte Violinen zu zerschneiden und die Stücke dann wegzuwerfen; früher hat er noch Geigen gebaut, jetzt zerschneidet er nur. Wir erfahren entzückt seine Güte zu Kindern, und gleichzeitig werden wir gerade hier verstört, denn nun kommt die Rede auf ein Mädchen, eine begnadete Sängerin […]. Das Mädchen ist Krespels Tochter Antonie, deren Begabung auch ihr Fluch ist: Ein organischer Defekt verleiht ihrer Stimme Seraphim-Klang und würde sie zugleich unfehlbar töten, wenn sie die Anstrengung des Gesangs auf sich nähme, jedoch, und das ahnt oder weiß der Weise – aber das unterschlägt die Operette –, sie muß auch sterben, wenn sie nicht singt.50

Die Figur Antonies vereint – vom Standpunkt der intermedialen Auslegung Fühmanns her betrachtet – Liebe, Musik und Tod. Offenbach habe hingegen dies »schrecklich missbraucht« und die drei Komponenten »zusammengeschüttet«.51 Dort aber, wo sie vereint sind, trete der Widerspruch als Kunstgestalt zutage und zwinge den Leser, sich ihm zu stellen und standzuhalten. Die Musik als Thema, ja als Synekdoche für die Kunst, wird von Fühmann als etwas Bedrohliches aufgefasst, als eine Forderung, der man gewachsen sein muss, um nicht zu scheitern, und »an der zu scheitern die gesamte Existenz erschüttert«.52 Erkennt man diesen auf die Musik zurückführbaren Widerspruch in der Kunst im Allgemeinen und in dieser Figur insbesondere, so erscheint eine solch erschütternde Erfahrung als etwas, »das ins Leben einbricht«,53 als eine Forderung und Herausforderung, der man sich stellen muss. Hier scheide sich Kunst von allen ihren Surrogaten: von Kitsch, von Mache, von Bluff, von Betrug, von Dilettantismus, von Kunstgewerbe. Unerträglich an den Contes d’Hoffmann sei deswegen ihre übertriebene Konzilianz.54 Eines Abends glaubt Krespel Gesang zu hören und weiß nicht recht, ob er wacht oder träumt, er will aufstehen, ist aber wie gelähmt, und die Wand vor seinen Augen wird gläsern. Er sieht Antonie den Bräutigam umarmen, und das Mädchen schweigt, er sieht sie schweigen, und ihre Stimme erklingt weiter. Nun weiß Krespel mit Gewissheit, dass er träumen muss, doch am nächsten Tag ist Antonie tot, und ihre Geige liegt so zersprungen am Boden, dass ihr Geheimnis sich nicht mehr erforschen lässt. »Hat Antonie gesungen? Man weiß es nicht«, so Fühmann weiter : Eben diese Unbestimmtheit, dieses Offensein mehrerer Möglichkeiten gehört zum Einzigartigen von Hoffmanns Kunst […]. Wir begegnen diesem Zug bei Hoffmann immer wieder, und das Unerträgliche der Operette besteht nun gerade in ihrem platten Eindeutigsein, und zwar unfehlbar immer im Läppischsten. – Antonie, Verzeihung: Antonia stirbt natürlich ganz eindeutig im und am Singen; Krespel ist ein bornierter, 50 51 52 53 54

Fühmann, ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹, S. 251f. Ebd., S. 252. Ebd., S. 253. Ebd. Ebd.

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belfernder Hausgockel […]; Antonia ist ein alberner Backfisch, der nicht kapiert, daß er nicht singen soll, und es auch gar nicht kapieren kann, weil der Papa es nur schurigelnd verbietet, und natürlich treibt sie auch nur das Verlangen nach Ruhm, sie möchte halt gar so gerne berühmt sein; und Hoffmann – ach, Freunde, laßt uns schweigen! –: ein sogenannter Lebemann. Natürlich ist er im Libretto Antonias Bräutigam. Er will dem Mädchen zuliebe Advokat werden und ihr ein sicheres Bürgerglück bieten. – Laßt uns schweigen. Oder besser : Laßt uns Hoffmann lesen!55

Am Beispiel der Contes d’Hoffmann entwickelt Fühmann einen intermedial gestützten Gegenentwurf zur vereinseitigenden Rezeptionspraxis E.T.A. Hoffmanns, welche die Besonderheit des Originals, nicht zuletzt seine intermediale Veranlagung, offenbar ignoriert. Barbiers Libretto und Offenbachs Musik werden also gleichsam zu Pappkameraden, auf die Fühmann im Hinblick auf eine Neuentdeckung Hoffmanns umstandslos schießt – und tatsächlich geraten sie unter schweren Beschuss. Denn ihm zufolge hätten sie Hoffmann in einen Schriftsteller verwandelt, der seine Inspirationsquelle im Alkohol sucht und den Rausch zur treibenden schöpferischen Kraft seiner poetischen Fiktionen macht. Die romantische Liebe selbst sei lediglich als eine Ausgeburt von Hoffmanns letzter Verzweiflung dargestellt. Fühmanns Kritik richtet sich also nicht gegen das Prinzip der Adaptation56 – wie ließe sich sonst seine eigene Vorliebe für Adaptationen und Nacherzählungen von Mythen- und Sagenstoffen erklären? Er wendet sich vielmehr entschieden gegen eine stilistische Trivialisierung der literarischen Komplexität: »Wer Hoffmann auf die Bühne stellt, muß wissen, muß zumindest ahnen, mit welcher Größe er es da zu tun hat und mit welchem Maß man sein Zweitwerk nun notwendig messen muß!«57 Während sich die Ereigniskette einer erzählten Geschichte leichter an intermediale Variationen anpassen lässt, besteht bei der weitaus komplexeren Identitätsstruktur der hoffmannschen Figuren die Gefahr, dass die Darstellung im Übergang von einem Medium zum anderen des eigentlichen Zusammenhangs und der ursprünglichen Tiefe verlustig geht. Soviel konnte Fühmann aus dem Vergleich mit den Contes d’Hoffmann ableiten. Und genau das zeichnet seine Position als kritischen und scharfsinnigen Denker gegenüber anderen namhaften Kommentatoren aus, wie etwa Siegfried Kracauer (1889–1966), der bspw. in seinem in der Emigration geschriebenen und publizierten Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Amsterdam 1937) schlechterdings das

55 Ebd., S. 253f. 56 Zum Verfahren der Adaptation: Linda Hutcheon, A Theory of Adaptation. 2. Auflage (London und New York: Routledge, 2013). 57 Fühmann, ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹, S. 250.

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Gegenteil behauptet hatte.58 Die Bedeutung der Contes bestehe für Kracauer darin, daß sie die dunklen Untergründe bloßlegte, denen die Operetten entwuchsen, und so deren Tiefe aufwies. Erst ›Hoffmanns Erzählungen‹ schenkten der Leichtigkeit volles Gewicht, mit der die Offenbachiaden den Alpdruck verscheuchen, unter dessen Last die Menschen immerwährend zu ersticken drohen.59

Bei Fühmann, der Kracauers Werk wohl wahrgenommen hatte,60 heißt es dagegen: »eine alberne Operette hat dieses Publikumsbild so gefestigt, wie das Operetten nun einmal zu tun pflegen, besonders dann, wenn ihre Musik zum Nachträllern einlädt«.61 Die Distanz zwischen Kracauers geheimnisvollem »Alpdruck« und Fühmanns »Nachträllern« könnte größer nicht sein. Es geht dabei um zwei Perspektivierungen des offenbachschen Œuvres, die sich gegenseitig bekämpfen.

V.

Welche Operette?

Es ist schließlich besonders auffällig, dass Fühmann immer vom »OperettenHoffmann« spricht, obwohl die Contes d’Hoffmann an sich keine Operette stricto sensu sind, sondern ein »Op¦ra fantastique«. Sicher wurden sie lange (und immer noch) allgemeinhin als Operette aufgefasst und dennoch hat die Fühmann-Forschung lange herumgerätselt, weswegen sich Fühmann an dieser Stelle vertan haben könnte. Bereits Veit Laser verwies darauf, dass es sich bei diesem Werk um eine Oper, und nicht um eine Operette handelt.62 In offenkundiger Verlegenheit spricht Swantje Rehfeld in Bezug auf Fühmann von »sprachlicher Eigenwilligkeit«.63 Entweder habe er sich der unkorrekten Genrebezeichnung aus rhetorischen Gründen bedient, um die pejorative Aussage seines Lesevergleichs zu stützen, oder es sei ein Lapsus gewesen, »möglicherweise seiner musikgeschichtlichen Unkenntnis zuzurechnen«.64 Das Problem lässt sich wahrscheinlich nicht endgültig beheben. Es soll jedoch 58 Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Mit 27 Abbildungen, hrsg. von Karsten Witte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976). 59 Ebd., S. 350. 60 Ein Exemplar befindet sich in Fühmanns Arbeitsbibliothek (Zentral- und Landesbibliothek Berlin). Für freundliche Auskunft über die Bibliothek Fühmanns danke ich Herrn Volker Scharnefsky (ZLB). 61 Fühmann, ›Ernst Theodor Wilhelm Amadeus Hoffmann‹, S. 246. 62 Veit Laser, Die theologische Relevanz der Poetologie Franz Fühmanns (Marburg: Tectum, 2000), S. 56. 63 Rehfeld, »… seltsames Knistern unter Bindestrichen«, S. 177. 64 Ebd.

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an dieser Stelle zumindest versucht werden, einen dritten Weg einzuschlagen und dabei die folgende Konjektur zu formulieren: Vermutlich handelt es sich dabei nicht unbedingt um einen »Lapsus« seitens Fühmann, sondern vielmehr um eine Überschneidung oder Verdichtung heterogener Elemente. Denn es kann sein, dass Fühmann in Bezug auf Offenbach vom »Operetten-Hoffmann« spricht, weil ihm auch ein anderes Werk vorschwebt, die nach dem Vorbild der Contes d’Hoffmann komponiert wurde und in der DDR damals große Erfolge feierte. Gemeint ist Eduard Künnekes (1885–1953) Die lockende Flamme, eine »Große Operette« in acht Bildern, uraufgeführt 1933 im Berliner Theater des Westens.65 Der Text dieser Operette kam aus der Feder des Leh‚r-Librettisten Paul Knepler (1879–1967) sowie aus derjenigen von Ignaz Michael Willeminsky (1884–1955). Im Mittelpunkt der eher oberflächlich konstruierten Handlung stehen der Dichter E.T.A. Hoffmann und der Schauspieler Ludwig Devrient.66 Die Librettisten bringen das halbe literarische Leben Berlins auf die Bühne, von Friedrich de la Motte Fouqu¦ bis Ludwig Tieck. Die Zahl der dramatis personae ist dabei auf nur sechs beschränkt: das Freundespaar Hoffmann und Ludwig Devrient, das niedere Paar Lisbeth (Tochter des Weinwirts Lutter) und Magister Tinte (Hoffmanns Faktotum), sowie das Traumpaar der beiden spanischen Tänzer Dolores und Jacinto. Hoffmann und Devrient durchleben im Libretto eine glanzlose Liebesgeschichte. Dolores ist die »lockende Flamme«, die dem Dichter im Kaminfeuer erscheint, die im zweiten Bild leibhaftig hereinlodert und die, nachdem sie das Freundespaar entflammt hat, schließlich mit Jacinto entflieht. So entsinnt sich das Freundespaar in der historischen Weinstube Lutter & Wegner der lockenden Flamme, die noch einmal aus den Dämpfen des Punschs aufzüngelt, mit dem sich die beiden Verschmähten trösten. Künneke schrieb dazu eine breit ausschweifende, streckenweise sehr temperamentvolle Musik, von der sich im Repertoire der Rundfunksender bis heute nur zwei Einzelnummern gehalten haben: »Lisbeths Couplet« (»Ganz Berlin ist heut’ in Rage, / Heut’ ist Künstlerball bei Kroll«) und das große Tenorlied »Ich träumte mit offenen Augen, / Ich träumte Geliebte von dir ; / Komm doch, du herrliches Wesen, / Ach komm doch, Geliebte, zu mir«.67 Die komplexen Identitätsarchitekturen der hoffmannschen Figuren hatten 65 Vgl. Otto Schneidereit, Eduard Künneke, der Komponist aus Dingsda (Berlin: Henschel, 1978), S. 165–168. Ferner : Viola Karl, Eduard Künneke (1885–1953). Komponistenportrait und Werkverzeichnis (Berlin: Ries& Erler, 1995), S. 19–23. 66 Vgl. Thomas Molzahn, ›Ein Märchen ist ein Träumen der holden Phantasie… Der »Gespenster-Hoffmann« als Hauptfigur einer Operette von Eduard Künneke‹, E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 6 (1998), S. 120ff. Molzahn bespricht die Handlung der Lockenden Flamme, ohne sich jedoch dabei auf Fühmann zu beziehen. 67 Vgl. Ernst-Jürgen Dreyer, Einführung, Beiheft zu: Eduard Künneke, Die lockende Flamme [Tonträger], Kölner Rundfunkchor, Kölner Rundfunkorchester, Peter Falk (Königsdorf: Capriccio, 1996), S. 6–9.

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auch bei Künneke keine Spur hinterlassen. So war es gerade diesem Komponisten beschieden, die intermedialen Missverständnisse in Bezug auf Hoffmann ein für allemal umzusetzen. Künneke verfestigte damit das spätestens von Offenbach geprägte Hoffmann-Bild, das in Fühmanns Sicht ein einseitiges und zu Unrecht schmälerndes Profil des Schriftstellers darstellt. Auf diesem Bild fußte die Bekanntheit des spätromantischen Autors auf dem Gebiet der DDR bis in die siebziger Jahre und erst durch Fühmanns zielstrebige, auf intermediale Fragen fokussierte Intervention konnten Hoffmanns Bild und seine Werke in der SpätDDR zusehends rehabilitiert werden.

Micaela Latini

Die Gewalt der Musik. Zu Thomas Bernhards Der Untergeher

I. Der Untergeher (1983) ist der ausdrücklich der Musik gewidmete Roman Thomas Bernhards, der mit Alte Meister, 1985 (den bildenden Künsten gewidmet), und Holzfällen, 1984 (dem Theater), eine Art Trilogie der Künste bildet.1 Es handelt sich um einen teilweise autobiographischen Roman, eine Art Verflechtung aus Dichtung und Wahrheit. In der Wirklichkeit besuchte Bernhard von 1955 bis 1957 die berühmte Salzburger Musikhochschule, das Mozarteum, traf aber Glenn Gould, das Vorbild des Protagonisten des Romans Der Untergeher, niemals persönlich. Tatsächlich war der kanadische Klavierspieler nur anlässlich zweier Konzerte, am 10. August 1958 und am 25. August 1959, in Salzburg, das heißt nach dem Besuch Bernhards und außerhalb der in der Erzählung angegebenen Zeitspanne.2 Aber sein plötzlicher Tod muss den Anstoß für den Roman gegeben haben. Und in der Tat geht aus den Seiten von Der Untergeher ein besonderes Charakterbild Glenn Goulds hervor, eher nach der Silhouette des berühmten Klavierspielers geschildert – das heißt nach der Legende, nach dem Mythos – als nach der Wirklichkeit seiner Person,3 und stark charakterisiert von den typisch bernhardschen Tonalitäten. Es ist kein Zufall, wenn die Kunstfigur des Glenn bei Bernhard an ein einziges Werk gebunden ist, an seine Interpre-

1 Das ist zum Beispiel, die Theorie von Gregor Hens, Thomas Bernhards Trilogie der Künste. Der Untergeher, Holzfällen, Alte Meister (Camden House: Rochedster, 1999). 2 Vgl. zu diesen Parallelismen: Renate Langer, ›Nachwort‹, in Thomas Bernhard, Der Untergeher, in Thomas Bernhard Werke, Bd. 6, hrsg. von Renate Langer (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006), S. 153–188. 3 Zum Klavierspieler Glenn Gould siehe: The Glenn Gould Reader, ed. by Tim Page (Toronto: Lester & Orpen Dennys, 1984) und die Untersuchungen von Katie Hafner, A Romance on Three Legs. Glenn Gould’s Obsessive Quest for the Perfect Piano (New York: Bloomsbury Pub Plc, 2008), Michel Schneider, Glenn Gould. Piano solo. Aria et trente variations (Paris: Gallimard, 1989), Michael Stagemann, Glenn Gould. Leben und Werk (München: Piper, 2007) und Otto Friedrich, Glenn Gould. Eine Biographie (Reinbek: Rowohlt, 1991).

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tation der Goldberg Variationen von Johann Sebastian Bach; das heißt, dass der Roman nur einen Aspekt seiner Musik herausgehoben hat.4 Aber gehen wir von einem Brennpunkt aus: Im Mittelpunkt von Der Untergeher steht die Musik, die par excellence dem Absoluten geweihte und von der Nebensächlichkeit des Lebens getrennte Kunst, zumindest nach dem Clich¦, das sich in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts gebildet hat. In dieser Literaturszene hat die Figur des Musikers eine hervorgehobene Position inne, weil er den Verzicht auf das weltliche Leben für die Kunst darstellt. Genau das geschieht im Plot von Bernhards Roman mit dem Musiker Glenn Gould, aber auch, in anderer und nur vorübergehender Form, mit den anderen beiden Protagonisten in Bernhards Roman, Wertheimer, dem Untergeher, und dem Erzähler-Ich. Die drei Studienkameraden begegnen einander im Unterricht bei Vladimir Horowitz5 in Salzburg und binden sich durch eine Art intellektuelle Freundschaft aneinander, indem sie sich mit Haut und Haaren der künstlerischen Dimension widmen. Eine Art rücksichtsloses Exerzieren am Klavier, voller Selbstdisziplin, unbeugsam, in Einklang mit ihrem Klavierradikalismus.6 In dieser Disziplin sind sie allerdings selbst die Opfer. Für die drei jungen Musiker übersetzt sich diese totalisierende Aktivität in eine klare Trennung von der Welt, in eine extreme Form der Kunst der Idiosynkrasie und der Isolation. Aber nur Glenn strebt wirklich danach, ganz in die Musik einzutreten. Er ist derjenige von den dreien, der sofort als Genie hervorsticht, als Wunderkind, das nicht nur fähig ist, die anderen beiden, sondern auch den Lehrer zu übertreffen. Und das, weil, mit Worten, die auf Kants Kritik der Urteilskraft (1790) verweisen, seine ästhetische Genialität kein Konzept braucht, nicht den Regeln unterliegt, 4 Vgl. Manfred Mittermayer, ›Ein musikalischer Schriftsteller. Th. Bernhard und die Musik‹, in Sprachmusik. Grenzgänge der Literatur, hrsg. von Gerhard Melzer und Paul Pechmann (Wien: Sonderzahl, 2003), S. 63–88, insbesondere S. 67, und Michael P. Olson, ›Thomas Bernhard, Glenn Gould and the Art of Fugue: Contrapuntual Variations in »Der Untergeher«‹, Modern Austrian Literatur, 24, 3–4 (1991), S. 73–83. 5 Vgl. zu Vladimir Horowitz: C. Schonberg, Horowitz. Ein Leben für die Musik (München: Albrecht Knaus, 1992). 6 Vgl. die Studien Gudrun Kuhns zur Musik bei Bernhard: »Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger«. Musikästhetische Überlegungen zur Prosa Thomas Bernhards (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1996), S. 213–223 und Thomas Bernhard. Schallplatten und Noten (Salzburg: Bibliothek der Provinz, 1999). Vgl. hierzu Barbara Diederichs, Musik als Generationsprinzip von Literatur. Eine Analyse am Beispiel von Thomas Bernhard ›Der Untergeher‹ (Diss. Giessen 2000), Lisbeth Bloemsaat-Voerknecht, ›Thomas Bernhard und die Musik: Der Untergeher‹, in Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten, hrsg. von Joachim Hoell und Kai LuehrsKaiser (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995), S. 195–206, Lisbeth Bloemsaat-Voerknecht, Thomas Bernhard und die Musik, (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006), insbesondere S. 177–226. Vgl. auch Markus Scheffler, Kunsthass im Grunde (Heidelberg: Winter, 2007), insbesondere S. 295–316, Axel Diller, Ein literarischer Komponist? Musikalische Strukturen in der späten Prosa Thomas Benrhards, (Heidelberg: Winter, 2011), S. 246–273. In Italien vgl. Thomas Bernhard e la musica, hrsg. von Luigi Reitani (Roma: Carocci, 2006).

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sondern sie schafft.7 Das Erzähler-Ich erklärt es folgendermaßen: »Wertheimers Natur war der Natur Glenns vollkommen entgegengesetzt […] er hatte eine Kunstauffassung, Glenn Gould brauchte keine«.8 Wegen dieser Einzigartigkeit war es – wie das »Erzähler-Ich« betont – Glenn, der Horowitz zu seinem Lehrer gemacht hat, nicht Horowitz, der aus Glenn das Genie gemacht hat: »Glenn machte aus Horowitz in diesen Salzburger Monaten den idealen Lehrer für sein Genie durch sein Genie, dachte ich«.9 Natürlich wird die Figur Glenn Gould von Bernhard, außer anhand seiner Persönlichkeit, auch in perfekter Affinität zu den Protagonisten seiner Romane geschildert, die sich bemühen, aus ihrem Werk die fremden Elemente zu entfernen, sich einen anderen Raum zu erobern, jenen utopischen der Kunst, gegenüber der Dimension des Lebens.10 Das Erzähler-Ich beschreibt Glenn mit den folgenden Worten: Er war der rücksichtsloseste Mensch gegen sich selbst. Er gestattete sich keine Ungenauigkeit. Nur aus dem Denken entwickelte er seine Rede. Er verabscheute Menschen, die nicht zuende Gedachtes redeten, also verabscheute er beinahe die ganze Menschheit […] Er kaufte sich das Haus im Wald […] Er und Bach bewohnten dieses Haus in Amerika bis zu seinem Tod. Er war ein Ordnungsfanatiker.11

Aus diesem Grund schließt sich Glenn in eine freiwillige Isolation, in ein Sich-insich-selbst-Sammeln, das sich auch in seiner typisch zusammengesunkenen Haltung am Klavier ausdrückt. So liest man, Glenns freiwillige Klausur betreffend, in Der Untergeher : 7 Laut Kants Kritik der Urteilskraft: »Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt« (§ 46). Es handelt sich um eine Fähigkeit des Gemüts, welche auf unerklärbare Art und Weise die Regel hervorbringt. Das Genie ist nämlich – erklärt Kant weiter – die Fähigkeit des ästhetischen Gedankens, und damit meint man »diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adequat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann« (§ 49). Vgl. dazu Beadley Murray, ›Kant on Genius and Arts‹, The British Journal of Aesthetics, 47, 1 (2007), S. 199–214. 8 Bernhard, Der Untergeher, S. 78. 9 Ebd., S. 76. Hier erinnert Bernhard an Ludwig Wittgensteins These über den Genius: »Genie ist das, was macht, dass wir das Talent des Meisters nicht sehen können«, Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, in Werkausgabe, Bd. 8, Über Gewissheit und andere Werke, hrsg. von Georg Henrik von Wright (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994), S. 311. 10 Zum Thema der freiwilligen Isolation wird verwiesen auf Renate Fueß, ›Wo hab ich jemals einen Kontakt haben wollen? Vom Mythos des Einsamen in der Bergwelt und seinem Ausverkauf‹, Literaturmagazin, 12 (1981), S. 78–92, Juliane Vogel, ›Die Ordnung des Hasses. Zur Misanthropie im Werk Thomas Bernhards‹, in Statt Bernhard, hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler (Wien: Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei, 1987), S. 153–169 und Wendelin Schmidt-Dengler, ›Der Verrammelungsfanatiker‹, in Der »Heimatdichter« Thomas Bernhard, hrsg. von Pia Janke und Ilja Dürhammer (Wien: Holzhausen, 1999), S. 157–167. 11 Bernhard, Der Untergeher, S. 24.

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Er (Glenn) habe sich in seinem Haus verrammelt. Auf lebenslänglich. Den Wunsch nach Verrammelung haben wir drei lebenslänglich immer gehabt. Alle drei waren wir die geborenen Verrammlungsfanatiker, Glenn hatte seinen Verammlugsfanatismus am weitesten vorangetrieben.12

Von den drei Verrammelungsfanatikern wird jedoch Glenn der einzige sein, der wirklich jegliche Verbindung zur Welt kappt, während Wertheimer und Horowitz, wenn auch auf unterschiedliche Art, dazu verurteilt sind, im Netz der Wirklichkeit hängen und gefangen zu bleiben.

II. Dieses sich Entfernen vom Leben, vom Chaos der Welt, stellt für viele der bernhardschen Figuren den notwendigen, aber nicht zureichenden Zustand für das künstlerische Schaffen dar. Im Gegensatz zu vielen bernhardschen Protagonisten, die beim krampfhaften Versuch, ihr Vorhaben zu realisieren, scheitern, gelingt Glenn die Vollendung seiner Kunst. Wie der Protagonist von Korrektur (1982), Roithamer, erntet auch Bernhards Glenn den höchsten Erfolg in seiner Kunst, aber die Folgen seines Genies werden für ihn und für die, die ihm am nächsten stehen, tödlich sein. In völliger Isolation entwickelt Glenn Gould sein Genie, aber auch ¢ in einer Art Kreuzschritt ¢ seinen Tod, und mit ihm, in einem für die bernhardsche Dynamik typischen Domino-Effekt, den Selbstmord Wertheimers. Tatsache ist, dass man, ob Selbstmörder oder nicht, immer Selbstmord begeht, um die Aufgabe des Lebens zu verfolgen. Auch ohne Selbstmord geht man immer dem Tod entgegen, weil man leben will, und deshalb geht man einer Art Selbstmord entgegen, wo der Tod gehegt wird, indem man sich danach sehnt, sein Leben zu korrigieren. Der Untergeher ist also nicht nur Wertheimer, sondern auch Bernhards Glenn, der sich Bach opferte und den Goldbergvariationen seine ganze Energie widmete, seine ganze Existenz. Glenn huldigte dem Tod, indem er seine Kunst vervollkommnete, während Wertheimer Glenns Tod nicht ertrug. Er konnte den »Untergang der Götter« nicht dulden. Wie das Erzähler-Ich in Der Untergeher erklärt, war der auslösende Grund für den Selbstmord Wertheimers nämlich nicht die Tatsache, dass seine geliebte Schwester ihn verlassen hatte, um in die Schweiz zu ziehen, sondern seine Unfähigkeit zu ertragen, dass Glenn einen Schlaganfall erlitten hatte, als er nunmehr den Höhepunkt seiner Kunst erreicht hatte. Bei genauer Betrachtung passt die Definition »Untergeher – Asphaltgeher«, wie der erste Titelvorschlag lautete,13 oder auch »Mann, der fällt«, um den Titel eines Werkes des amerikanischen 12 Ebd., S. 19. (Hervorhebung im Original, M.L.). 13 Ebd., S. 27.

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Schriftstellers Don DeLillo14 ins Gedächtnis zu rufen – sowohl zu Wertheimer als auch zu Glenn, dem Amerikaner, der in Bernhards Fiktion tot neben dem Klavier zu Boden fiel. Auch Glenn scheiterte also, wie sein Leichnam unter jenem Instrument beweist, in das er sich sein Leben lang verwandeln wollte.15 In seinem Scheitern jedoch brachte er seine Kunst auf höchstes Niveaus und erwirkte damit die Ewigkeit seines Werkes. Man braucht nur an die Übergänge zu denken, an die das Erzähler-Ich in seinen künstlerischen Darbietungen erinnert, eine Art dreifacher Verwandlung: Tier-Krüppel-schöner Mensch: Kaum saß er am Klavier, war er auch schon in sich zusammengesunken gewesen, dachte ich, er sah dann aus wie ein Tier, bei näherer Betrachtung wie ein Krüppel. Bei noch näherer Betrachtung aber wie der scharfsinnige, schöne Mensch, der er gewesen war.16

Um aber die Ausdrücke in Fragen zu verkehren: Auch Wertheimer war auf seine Art ein Klaviervirtuose, und wenn das Schicksal ihn nicht mit Glenn, dem Genie, zusammengeführt hätte, wäre er sicherlich ein exzellenter, vielleicht gar weltberühmter Klaviervirtuose geworden. Wenn aber Wertheimer die Existenz des Genies Glenn akzeptierte, schaffte er es nicht, dessen Tod zu ertragen, ein offensichtliches Zeichen menschlicher Unvollkommenheit. Wie man in Der Untergeher lesen kann: »er schämte sich nach Glenns Tod, noch am Leben zu sein, sozusagen das Genie überlebt zu haben, das peinigte ihn das ganze letzte Jahr, wie ich weiß«.17 Angesichts der Perfektion, dem Außerordentlichen gibt es für Thomas Bernhard zwei Antwortmöglichkeiten: die dessen, der sich auflehnt, indem er die menschliche Dimension unterstreicht, und die dessen hingegen, der sich dem Außerordentlichen opfert, im krampfhaften und unsinnigen Versuch, den Höhepunkt der Kunst zu erreichen.18 Wenn das Erzähler-Ich, nachdem es sich des Genies Glenns bewusst wurde, auf jegliche künstlerischen Ambitionen verzichtet, schlägt Wertheimer, da er weder dem Leben noch der Kunst Form geben kann, den Weg des Wetteiferns mit dem Genie ein, und, indem er auf seine eigene Natur verzichtet, tritt er in die Gedankenwege des anderen ein und 14 Don DeLillo, ›Counterpoint: Three Movies, a book, and an old photograph‹, Grand Street, 73 (2004), S. 36–53. 15 Zum Scheitern des Genies vgl. Anne Thill, Die Kunst, die Komik und das Erzählen im Werk Thomas Bernhards. Textinterpretationen und die Entwicklung des Gesamtwerkes (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011), S. 420–470. 16 Bernhard, Der Untergeher, S. 23. 17 Ebd. 18 Unter diesem Gesischtpunkt kommt die Position des Untergeher (die Suche nach der perfekten Musik) der von Die Macht der Gewohnheit sehr nahe. Vgl. dazu Willy Riemer, ›Thomas Bernhard’s Der Untergeher. Newtonian Realities and Deterministic Chaos‹, in A Companion to the Works of Thomas Bernhard, hrsg. von Matthias Konzett (Camden House: Boye, 2002), S. 209–222 und Gernot Gruber, ›Marginalien zur Musik-Metapher‹, in Der »Heimatdichter« Thomas Bernhard, S. 169–173.

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löscht so sich selbst aus. Es ist kein Zufall, dass Wertheimer – wie sich das »Erzähler-Ich« erinnert – jegliche Spur seines Buches, einer Art Autobiographie, die den Titel Der Untergeher getragen hätte, löschen wollte: Ein Buch hätte er veröffentlichen wollen, aber dazu ist es nicht gekommen, weil er sein Manuskript immer wieder geändert hat, so oft und so lange geändert, bis von dem Manuskript nichts mehr dagewesen ist, die Veränderung seines Manuskripts war nichts anderes, als das völlige Zusammenstreichen des Manuskripts, von dem schließlich nichts anderes als der Titel Der Untergeher übriggeblieben ist.19

In einer Art Korrektur des Werkes, die auch eine Korrektur des Lebens ist, hat Wertheimer Schritt für Schritt an der Selbstauslöschung gearbeitet und sich so den Weg für die endgültige Auslöschung vorbereitet, den Selbstmord: »Keine Spuren hinterlassen, ist ja auch einer seiner Aussprüche. Ist der Freund tot, nageln wir ihn an seinen eigenen Aussprüchen, Äußerungen fest, töten ihn mit seinen eigenen Waffen«.20 Das Wetteifern mit dem Genie, die Anziehungskraft der Vollkommenheit werden fatale Auswirkungen auf Wertheimer haben. Wie das Hauptmotiv in Thomas Bernhards Alte Meister (1986) zeigt, kann der Mensch die Perfektion nicht ertragen, und deshalb geht er unter. In diese tödliche Falle ist laut dem Erzähler-Ich Wertheimer geraten: Es gibt ja nichts Entsetzlicheres, als einen Menschen zu sehen, der so großartig ist, dass seine Großartigkeit uns vernichtet und wir diesen Prozeß anschauen und aushalten und schließlich und endlich auch akzeptieren müssen, während wir tatsächlich nicht an einen solchen Prozeß glauben, noch lange nicht, bis er uns zur unumstößlichen Tatsache geworden ist, dachte ich, wenn es zu spät ist für uns.21

Genau das ist Wertheimer passiert, der so von der Nacheiferung des Anderen erdrückt wurde und sich dazu verurteilt hat, der Untergeher zu sein.

III. Sowohl das »Erzähler-Ich« als auch Wertheimer haben keinerlei Zweifel und erkennen in Glenn vorbehaltlos das Genie, das sogar dem Lehrer Horowitz überlegen ist.22 So liest man im Untergeher : »Und bei Glenn war es von vornherein klar, dass er ein Genie ist. Unser amerikanisch-kanadisches Genie«.23 Und noch: 19 20 21 22 23

Bernhard, Der Untergeher, S. 50. Ebd., S. 51. Ebd., S. 75. Ebd., S. 31. Ebd.

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Als wir den Unterricht bei Horowitz beendet hatten, war es klar, daß Glenn schon der bessere Klavierspieler war als Horowitz selbst, plötzlich hatte ich den Eindruck gehabt, Glenn spiele besser als Horowitz und von diesem Augenblick an war Glenn der wichtigste Klaviervirtuose auf der ganzen Welt für mich, so viele Klavierspieler ich auch von diesem Augenblick an hörte, keiner spielte so wie Glenn, selbst Rubinstein, den ich immer geliebt habe, war nicht besser.24

Daher die kristallklare Gewissheit: Niemand ist wie er. Es gibt einen erschütternden, völlig zufälligen Moment (einen kairos), der in der von Bernhard in diesem Roman gezeichneten Geschichte der Musik den endgültigen Untergang Wertheimers als Künstler und seinen Eintritt in die Welt des Ehrgeizes darstellt.25 Das bedeutet, dass er zwar ein exzellenter Klaviervirtuose wird, nicht aber ein Genie. Dieser verhängnisvolle Augenblick manifestiert sich im Vergleich mit dem Klavier spielenden Genie: Wertheimers Verhängnis war, gerade in dem Augenblick am Zimmer dreiunddreißig des Mozarteums vorbeigegangen zu sein, in welchem Glenn Gould in diesem Zimmer die sogenannte Aria spielte. Wertheimer berichtete mir von seinem Erlebnis, daß er, Glenn spielen hörend, vor der Tür des Zimmers dreiunddreißig stehengeblieben sei bis zum Ende der Aria (…) 1953 hat Glenn Gould Wertheimer vernichtet.26

Und weiter, in der charakteristischen und wohlbekannten Wiederholungskunst Bernhards, aus den Erinnerungen des Erzähler-Ichs, das daran denkt, wie schockiert Wertheimer war, als er Glenn spielen sieht und hört: »Wertheimer […] war stehengeblieben an der Tür, unfähig, sich zu setzten […] hatte die Augen geschlossen, das sehe ich noch ganz genau, dachte ich, redete nichts mehr«.27 Dieser Moment bedeutet das Ende der virtuosen Karriere Wertheimers.28 Was Bernhard in der Erzählung mit dem Titel Goethe schtirbt (1982) über das Genie Goethe schreibt, passt exakt auch zu Glenn Gould in Der Untergeher. Aus den Worten des bernhardschen Goethe in der literarischen Fiktion der Erzählung Goethe schtirbt: »Was ich dichtete, ist das Größte gewesen zweifellos, aber auch das, mit welchem ich die deutsche Literatur für ein paar Jahrhunderte gelähmt habe. Ich war, mein lieber (…) ein Lähmer der deutschen Literatur«.28 So lähmte in Der Untergeher das Genie Glenns Wertheimer, den schwächsten der drei Freunde, indem es ihn in eine Spirale des Ehrgeizes fallen ließ, in einen Nacheiferungskoller, und von hier in eine Krankheit zum Tode. 24 25 26 27 28

Ebd., S. 7. »Glenn war das Genie, Wertheimer war nichts als Ehrsgeiz […]«, ebd., S. 96. Ebd., S. 136–137. Ebd., S. 76. Thomas Bernard, Goethe schtirbt, in Thomas Bernhard Werke, Bd. 11, hrsg. von Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003), S. 406.

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Diesbezüglich kommentiert das Erzähler-Ich die zerstörerische Wirkung, die in der Gewalt der Musik liegt:29 Während die Goldbergvariationen doch nur zu dem Zweck komponiert worden sind, die Schlaflosigkeit Leidenden erträglich zu machen, dachte ich, haben sie Wertheimer umgebracht. Zur Gemüthsergetzung waren sie ursprünglich komponiert worden und haben fast zweihundertfünfzig Jahre danach einen hoffnungslosen Menschen, eben Wertheimer, umgebracht, dachte ich auf dem Weg nach Traich. […] Wäre Wertheimer vor achtundzwanzig Jahren nicht am Zimmer dreiunddreißig im ersten Stock des Mozarteums vorbeigegangen […] er hätte sich nicht achtundzwanzig Jahre später in Zizers bei Chur erhängt […].30

Ab diesem von der Begegnung mit dem Genie dargestellten Wendepunkt beschließt das Erzähler-Ich, jegliche künstlerischen Ambitionen aufzugeben, sein Klavier der absolut unfähigen und wenig musikbegabten Tochter eines Lehrers aus Altmünster zu schenken und so sein (sündteures) Steinwayklavier zu einem Abstieg dem Ende entgegen zu verurteilen. Das wiederum heißt, die Kunst für das Leben sterben zu lassen, dort, wo Glenn das Leben für die Kunst sterben ließ. Wertheimer hingegen macht sich auf einen Weg ohne Rückkehr im Wetteifer mit dem Genie und daher im Verlassen der Kunst des Lebens. Der Lebenskünstler ist für Bernhard jenes menschliche Wesen, das, obwohl es sich im verzweifelten Zustand der Existenz befindet, seine eigene Unabhängigkeit und Freiheit schützt und pflegt. Wie das Erzähler-Ich in Bezug auf Wertheimer behauptet, »wollte [er] Künstler sein, Lebenskünstler genügte ihm nicht«.31 In diesem Sinne versuchte Wertheimer sein Leben lang, sich selbst zu entschlüpfen, in seinem Streben nach dem Genie. Jedoch scheitern wir, wie Bernhard betont, »in diesem Versuch, lassen uns immer wieder auf den Kopf schlagen, weil wir nicht einsehen wollen, dass wir uns nicht entschlüpfen können, es sei denn durch den Tod«.32 Eine unterschiedliche Position nimmt das überlebende Erzähler-Ich ein, das seine Distanz zum gescheiterten Wertheimer bestätigt, nachdem es sich zuvor schon von Glenn distanziert hat: ich wollte immer ich selbst sein, Wertheimer aber war immer jenen zugehörig, die ständig und lebenslänglich und bis zur fortwährenden Verzweiflung, ein anderer, wie sie immer glauben mussten, Lebensbegünstigter sein wollen.33

29 Vgl. Lutz Koepnick, ›Goldberg und die Folgen. Zur Gewalt der Musik bei Thomas Bernhard‹, Sprachkunst, 23 (1992), S. 267–290. 30 Bernhard, Der Untergeher, S. 137 (Hervorhebungen im Original, M.L.). 31 Ebd., S. 93 (Hervorhebung im Original, M.L.). 32 Ebd., S. 81. 33 Ebd.

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Was Wertheimer, der Untergeher, nicht verstehen wollte, kann in folgender Formel zusammengefasst werden: »Jeder Mensch ist ein einmaliger Mensch, und tatsächlich, für sich gesehen, das größte Kunstwerk aller Zeiten«.34 Aber diese Verweigerung des Lebens selbst hat die Existenz und die Kunst Glenn Goulds gekennzeichnet. Im Grunde hat auch er, in einer Gesellschaft, in der die Einzigartigkeit des Einzelnen auf seinen Tauschwert reduziert ist, zugunsten des Werks auf das Leben verzichtet und ist also aus der menschlichen Haut geschlüpft, um zum Instrument selbst zu werden, für die Künstlichkeit.

IV. Im Verlauf der Handlung rekonstruiert das Erzähler-Ich in Bernhards Roman das Untergehen Wertheimers vor dem von ihm erkannten Genie Glenns. Im Gegensatz zum Erzähler-Ich ist der Untergeher in die Gedankenabläufe Glenns eingetreten, in seinen labyrinthartigen geistigen Aufbau. Bei besserem Hinsehen jedoch wird die Figur des Glenn von Bernhard anhand des Mythos Gould gezeichnet, wie in einem Status vorübergehender Perfektion, immer im Schwebezustand zwischen Wahnsinn, Genie und Künstlichkeit. Nicht zufällig wird das Genie an einigen Stellen des Romans als der wichtigste Klaviervirtuose definiert, wie ein von seiner Kunst Besessener und Sklave eines »Klavierradikalismus«.35 Die klassische Verbindung zwischen Genie und Wahnsinn wird von Bernhard an verschiedenen Stellen des Romans aufs Neue behandelt, und erinnert vielleicht an ein zentrales Motiv in der Philosophie Arthur Schopenhauers.36 Man liest zum Beispiel über Glenn: »Er war in der Zwischenzeit der hellsichtigste aller Narren geworden. Er hatte den Gipfel seiner Kunst erreicht und es war nur eine Frage der allerkürzesten Zeit, dass ihn der Gehirnschlag treffen mußte«.37 Und 34 Ebd., S. 83–84. 35 Ebd., S. 8. 36 Es bezieht sich klarerweise auf die von Arthur Schopenhauer im dritten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) über das Genie vorgebrachten Überlegungen, einem Text von höchster Wichtigkeit für das Werk Bernhards. Vgl. Stephan Atzert, Schopenhauer und Thomas Bernhard. Zur literarischen Verwendung von Philosophie (Freiburg: Rombach, 1999), S. 167–182, Martin Huber, ›Vom Wunsch, Klavier zu werden. Zum Spiel mit Elementen der Schopenhauerschen Musikphilosophie in Thomas Bernhards Roman »Der Untergeher«‹, in Die Musik, das Leben, und der Irrtum. Thomas Bernhard und die Musik, hrsg. von Otto Kolleritsch (Wien-Graz: Universal Edition, 2000), S. 100–110, und Martin Huber, »›Diese Musik möge (…) kein Ende nehmen«. Zur Schopenhauerschen Tönung von Bernhards Schreiben über Musik‹, in Sprachmusik, S. 107–118. Vgl. auch Reinhild Steingröver, ›Der Hellsichtigste aller Narren. Diskurs über das Genie‹, in Thomas Bernhard. Die Zurichtung des Menschen, hrsg. von Alexander Honold und Markus Joch (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999), S. 83–91. 37 Bernhard, Der Untergeher, S. 18.

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weiter : »Manchmal nähern wir uns, nähern uns sogar ganz extrem diesem Ideal, sagte er, und genau dann glauben wir, verrückt zu werden, fast den Wahnsinn erreicht zu haben«.38 Aber in Bernhards Untergeher fällt die Stufe des Wahnsinns mit dem »Sex Appeal des Anorganischen« zusammen, um einen bekannten Ausdruck Walter Benjamins zu verwenden.39 Wenn Wertheimer sich nämlich damit quält, Glenn werden zu wollen, steht das von Letzterem verfolgte Ziel paradoxerweise genau im Einklang mit seinem gequälten und unversöhnlichen Wesen, die Perfektion der Maschine in sich zu erreichen, die Möglichkeit selbst, Fehler zu machen, zu überwinden, über die Natur hinauszugehen. Dieses Darüberhinausgehen ist die »andere Welt«, in der sowohl die Wahnsinnigen als auch die Genies leben: eine Art künstliches Paralleluniversum. Diese Dimension strebt Glenn an, der in seiner Sehnsucht nach Vollkommenheit ein Klavier hätte werden wollen, ein Instrument, welches das Werk Bachs automatisch und perfekt ausführt und dabei jene Fehlermöglichkeit vernichtet, die jedoch für die künstlerische Arbeit notwendig ist. In diesem Sinne wird Glenn von Bernhard als erbitterter Feind der Natur dargestellt: Die Natur ist gegen mich, sagte Glenn in derselben Anschauungsweise wie ich, der ich auch diesen Satz immer wieder sage, dachte ich […] Unsere Existenz besteht darin, fortwährend gegen die Natur zu sein und gegen die Natur anzugehen, sagte Glenn, so lange gegen die Natur anzugehn, bis wir aufgeben, weil die Natur stärker ist als wir, die wir uns zu einem Kunstprodukt gemacht haben aus Übermut. Wir sind ja keine Menschen, wir sind Kunstprodukte, der Klavierspieler ist ein Kunstprodukt, ein widerwärtiges […]40

V. Der Wunsch, »Klavier zu werden« bedeutet, eine Perspektive absoluter Künstlichkeit umarmen zu wollen, gegenüber jener natürlichen Dimension, die das gelebte Leben formt. In diesem Sinne ist die von Glenn durchgeführte Handlung besonders bedeutungsvoll, die Esche (die Natur) umzuschneiden, die ihm vor dem Fenster seines Hauses die Sicht verstellte. So wollte Glenn, indem er die Kunst des Umschneidens der geistigen Eschen im höchsten Grade ausübte, seine Kunst der Flucht vor der menschlichen Natur vervollkommnen. Einer wesentlichen Stelle in Der Untergeher vertraut Bernhard das Motiv »Wir sind keine Menschen, wir sind Kunstprodukte« an: 38 Ebd., S. 74 39 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in Gesammelte Schriften, Bd. V.1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991), S. 130. 40 Bernhard, Der Untergeher, S. 74 (Hervorhebungen im Original, M.L.).

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Im Grunde wollen wir Klavier sein, sagte er, nicht Menschen sein, sondern Klavier sein, zeitlebens wollen wir Klavier und nicht Menschen sein, entfliehen dem Menschen, der wir sind, um ganz Klavier zu werden, was aber misslingen muss, woran wir aber nicht glauben wollen, so er. Der ideale Klavierspieler (er sagte niemals Pianist!) ist der, der Klavier sein will, und ich sage mir ja auch jeden Tag, wenn ich aufwache, ich will der Steinway sein, nicht der Mensch, der auf dem Steinway spielt, der Steinway selbst will ich sein. Manchmal kommen wir diesem Ideal nahe, sagte er, ganz nahe, dann, wenn wir glauben, schon verrückt zu sein, auf dem Weg quasi in den Wahnsinn, vor welchem wir uns wie vor nichts fürchten […] Lebenslänglich habe ich Angst, zwischen Bach und Steinway zerrieben zu werden, und es kostet mich die größte Anstrengung, dieser Fürchterlichkeit zu entgehen, sagte er. Das Ideal wäre, ich wäre der Steinway, ich hätte Glenn Gould nicht notwendig, sagte er, ich könnte, indem ich der Steinway bin, Glenn Gould vollkommen überflüssig machen.41

Wenn Wertheimer sich verzehrt und zerstört, um dem Genie gleichzukommen, sehnt sich jener hingegen danach, der Steinway selbst zu werden, und so die Grenzen des Versagens (das heißt des Menschlichen) zu überschreiten. Wie man in Bernhards Theaterstück Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972) über die Protagonistin liest, die in der Fiktion der Bühne die »Königin der Nacht« aus Mozarts Zauberflöte darstellen muss: ein vollkommen künstlerisches Geschöpf ein solcher zu einem vollkommenen künstlerischen Geschöpf ein solcher zu einem vollkommenen künstlerischen Geschöpf gerwordenener Menschen da ja kein Mensch mehr.42

Die weibliche Figur hat sich hier selbst auf einen Unterhaltungsmechanismus reduziert, auf eine Marionette in den Händen der Konsumgesellschaft. Ähnliches gilt für Glenn, der sich, indem er Glenn Gould wurde, in eine Kunstmaschine verwandelte, sich in die Künstlichkeit tauchte, in die Unausführbarkeit jeglicher Art von Spontaneität: »Schließlich hätten Menschen wie Glenn sich am Ende zur Kunstmaschine gemacht, hätten mit einem Menschen nichts mehr gemein, erinnerten nur noch selten daran, dachte ich«.43 Die gleiche Dynamik greift in dem Theaterstück Die Macht der Gewohnheit (1974) ein, wo man lesen kann: 41 Ebd. S. 74f. 42 Thomas Bernhard, Der Ignorant und der Wahnsinnige, in Werke, Bd. 15, Dramen I, hrsg. von Manfred Mittermayer und Jean-Marie Winkler (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, S. 237). Für eine Analyse dieses Theaterstückes Bernhards, auch im Zusammenhang mit Der Untergeher, vgl. Bloemsaat-Voerknecht, Thomas Bernhard und die Musik, S. 71–127, Thill, Die Kunst, die Komik und das Erzählen im Werk Thomas Bernhards, S. 131–149 und Schmidt-Dengler, ›Der Verrammelungsfanatiker‹, S. 162f. 43 Bernhard, Der Untergeher, S. 83.

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Durch diese Tür kommen Ihre Opfer herein Herr Caribaldi Ihre Instrumente Herr Caribaldi Nicht Menschen Instrumente.44

In der bernhardschen Figur Glenn verkörpert sich eines der Paradoxe der Werke Bernhards: der Wunsch nach einer intellektuellen und künstlerischen Vollkommenheit ist so stark, dass seine Resultate pathologisch sind, deformiert, pervers, bis sie den Zusammenbruch der Kunst selbst bewirken. Ebenso liest man in Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972): »Das Genie ist eine Krankheit«.45 Der von Bernhard in Der Untergeher beschriebene, fehlgeschlagene Versuch zur Künstlichkeit überzugehen, steht einem zentralen Motiv von Kafkas Erzählung In der Strafkolonie (1914) nahe, in dem klar ausgedrückt wird, wie der Wunsch, eins zu werden mit der eigenen Schöpfung, immer gebieterischer wird. Das Thema wird von Bernhard in Frost (1963) erneut behandelt: Wie das Gehirn plötzlich nur mehr Maschine ist, wie es noch einmal alles exakt herunterhämmert, womit es Stunden und Tage, ja Wochen vorher geschlagen, malträtiert worden ist […] Als zöge ein zwergenhafter Diktator, unsichtbar, wenigstens für den Menschen unnahbar, an einem ungeheueren Mechanismus, der alles und alles in Gang setzt, in fürchterlicher verheerender Lärmentwicklung, gegen die man aber nicht vorgehen kann.46

Kafkas Bild des unsichtbaren, zwergenhaften Diktators ist die perfekte Antwort auf die Erbarmungslosigkeit und Ungeheuerlichkeit, die Glenn in seinem Kampf gegen die Natur verwendet, um reine Künstlichkeit zu werden. Aber das Genie, das wohl verzweifelt versucht, den Fehler, die Natur, zu bekämpfen, muss schließlich unter dem Gewicht der Natur selbst untergehen, da er in die Sackgasse der Künstlichkeit geraten ist. So lässt Bernhard das Erzähler-Ich des Romans sagen: Das ganze Leben laufen wir dem Dilettantismus davon und er holt uns immer wieder ein, dachte ich und wir wünschen nichts mit einer größern Intensität, als dem Dilettantismus zu entkommen lebenslänglich, und sind immer wieder von ihm eingeholt.47 44 Thomas Bernard, Die Macht der Gewohnheit, in Werke, Bd. 16, Dramen II, hrsg. von Manfred Mittermayer und Jean-Marie Winkler (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2005), S. 28. 45 Bernard, Der Ignorant und der Wahnsinnige, S. 275. Vgl. Mark M. Anderson, ›The Theater of Bernhard’s Prose‹, in A Companion to the Works of Thomas Bernhard, hrsg. von Matthias Konzett (Woodbridge: Boydell & Brewder, 2002), S. 119–133. 46 Thomas Bernard, Frost, in Werke, Bd. 1, hrsg. von Martin Huber und Wendelin SchmidtDengler (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003), S. 309f. 47 Bernhard, Der Untergeher, S. 69.

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Der Dilettantismus hat hier mit der Möglichkeit zum Fehler zu tun, mit diesem für die Kunst typischen dem Versagen Ausgesetztsein. So wird nicht nur die Natur geschändet, sondern auch der Geist. Dies liest man in einem wichtigen Abschnitt des Romans: Die großen Denker haben wir in unsere Bücherkästen gesperrt, aus welchen sie uns, dachte ich, für immer zu Lächerlichkeit verurteilt, anstarren, sagte er, dachte ich […] Tag und Nacht höre ich das Gejammer der großen Denker, die wir in unsere Bücherkästen gesperrt haben, diese lächerlichen Geistesgrößen als Schrumpköpfe hinter Glas […] Alle diese Leute haben sich an der Natur vergriffen, sagte er, das Kapitalverbrechen am Geiste haben sie begangen […] Unsere Bibliotheken sind sozusagen Strafanstalten, in welche wir unsere Geistesgrößen eingesperrt haben, Kant naturgemäß in eine Einzelzelle wie Nietzsche, wie Schopenhauer, wie Pascal, wie Voltaire, wie Montaigne, alle ganz Großen in Einzelzellen, alle andern in Massenzellen, aber alle für immer und ewig, mein Lieber, für alle Zeit und in der Unendlichkeit.48

Wenn Wertheimer keine Spuren von sich hinterlassen wollte, aus Angst, zu einem Aphorismus gemacht zu werden, hinterließ Glenn hingegen eine geniale Interpretation von Bach, die ihn de facto unsterblich machte und gleichzeitig die Sterblichkeit des Anderen hervorhebt: Glenns Goldbergvariationen hatte ich mir übrigens vor meiner Abreise nach Chur in meiner Wiener Wohnung angehört, immer wieder von vorne. War währenddessen immer wieder von meinem Fauteuil aufgestanden und in meinem Arbeitszimmer aufund abgegangen in der Vorstellung, Glenn spielte die Goldbergvariationen tatsächlich in meiner Wohnung, ich versuchte während meines Hinundhergehens herauszufinden, worin der Unterschied besteht zwischen der Interpretation auf diesen Platten, und der Interpretation achtundzwanzig Jahre vorher unter den Ohren von Horowitz und uns, also Wertheimer und mir, im Mozarteum. Ich stellte keinen Unterschied fest […] ich hörte ihn die Goldbergvariationen spielen und dachte, dass er geglaubt hat, sich mit dieser Interpretation unsterblich gemacht zu haben, möglicherweise ist ihm das auch gelungen.49

Wir nähern uns so einem Brennpunkt des Romans, und zwar dem Schluss. Nach dem Tod Wertheimers begibt sich das Erzähler-Ich nach Traich, auf Wertheimers Landgut, und entdeckt hier dank den Erzählungen des Hausknechtes Franz, dass der verstorbene Freund in den Tagen unmittelbar vor der Abfahrt nach Chur und dem Selbstmord in den Sälen seines Wohnsitzes ein Fest veranstaltet hatte, zu dem er alle seine Freunde von auswärts eingeladen hatte. Aber bei diesem Fest für seinen (nicht kundgetanen) Abschied hatte er völlig falsch Klavier gespielt, auf einem verstimmten Klavier. Wertheimer hatte nämlich für den Anlass ein Instrument für Dilettanten nach Traich bringen lassen, ein Ehrbar-Klavier ohne 48 Ebd., S. 62. 49 Ebd., S. 56 (Hervorhebungen im Original, M.L.).

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jeglichen Wert, und auf diesem Instrument hatte er Bach und Händel gespielt, indem er einen äußerst unangenehmen Lärm hervorbrachte, der alle in die Flucht schlug. Wie aus den letzten Seiten des Romans hervorgeht: »einen völlig wertlosen, einen entsetzlich verstimmten Flügel […], ein völlig wertloses Instrument, ein entsetzlich verstimmtes Instrument«.50 Die Handlungsweise Wertheimers versteht man nur, wenn sie als Ausdruck extremer Konsequenz interpretiert wird: er wollte seine eigene Natur als Untergeher radikalisieren, sein eigenes Versagen, indem er es bis zu den extremsten Folgen steigerte und seine Kunst mit der Hilfe des verstimmten Klaviers zugrunde richtete. Wie wir am Ende des Romans lesen, wiederholt das Erzähler-Ich genau in diesem Moment eine der letzten Handlungen Wertheimers und wendet sich einer phonographischen Wiedergabe von Glenns Goldbergvariationen zu: »Ich bat den Franz, mich für einige Zeit in Wertheimers Zimmer allein zu lassen und legte mir Glenns Goldbergvariationen auf, die ich auf Wertheimers Plattenspieler liegen gesehen hatte, der noch offen war«.51 Das, was von so viel Kunst übrigbleibt, ist die technische Reproduzierbarkeit, und in dieser ganz besonderen Lektüre hat Bernhard sicher die Lehre der Frankfurter Schule beerbt.52

50 Ebd., S. 150. 51 Ebd. 52 Vgl. Elamr Budde, ›Fülle des Wohllauts oder d¦cadence im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit‹, in Die Musik, das Leben, und der Irrtum, S. 10–20.

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Semiotische und mediale Verflechtungen in den Theaterstücken von Elfriede Jelinek

»Da ist dieser Raum, und Geschickte stellen Geschicke von ins Geschirr gespannten zweibeinigen Kreaturen dar«.1 So verfremdend übersetzt Elfriede Jelinek die Position des dramatischen oder aristotelischen Theaters in einem kleinen, Sinn egal. Körper zwecklos. betitelten Text von 1997, den ich neben dem in unmittelbarer zeitlicher Nähe dazu stehenden Aufsatz Zu Franz Schubert (1998) zum Ausgangspunkt meines Weges machen möchte. Gleich darauf jedoch wird unmissverständlich klargelegt, dass diese Position auf eine Weise überwunden ist, die zu einer radikalen Zertrümmerung aller überkommenen Bestimmungen von Theater führt.2 So will die Autorin zunächst, dass die genannten »Geschickten«, traditionsgemäß die Personen darstellenden Schauspieler, »etwas ganz anderes tun«.3 Und dieses Etwas ist schlicht »kein Theater«,4 denn diesen Schauspielern wird beides untersagt, sie dürfen weder Darsteller noch Personen sein. Selbst die Sprache, die sie sprechen, ist kein aus längst memorierten Texten gewebter »Königsmantel«,5 unter den sich flüchten ließe. Vielmehr gilt: »Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht«.6 1 Elfriede Jelinek, ›Sinn egal. Körper zwecklos‹, in dies., Stecken, Stab und Stangl, Raststätte oder Sie machens alle, Wolken.Heim. Neue Theaterstücke, 3. Auflage (Göttingen: Steidl Verlag, 2004), S. 7. 2 Stefan Krammer schreibt, Jelinek habe »die Herausforderung angenommen, ein ›anderes‹ Theater, besser gesagt ein ›anderes‹ Drama, zu entwickeln, indem sie bewusst gegen Theatertraditionen anschreibt, diese gleichsam zu überwinden trachtet, um neue Zugänge zum Theater selbst zu ermöglichen«, Stefan Krammer, »›Ich will ein anderes Theater« – Jelineks Theatertexte zwischen Tradition und Innovation‹, in Elfriede Jelinek: Tradition, Politik und Zitat, hrsg. von Sabine Müller und Cathrine Theodorsen (Wien: Praesens-Verlag, 2008), S. 109. 3 Jelinek, ›Sinn egal‹, S. 8. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 9 (Hervorhebung im Original, P.K.). Vgl. dazu auch Bärbel Lücke, ›Elfriede Jelineks ästhetische Verfahren und das Theater der Dekonstruktion: Von Bambiland/Babel über Parsifal (Laß o Welt o Schreck laß nach) (für Christoph Schliengensiefs Area 7) zum Königinnendrama Ulrike Maria Stuart‹, in Elfriede Jelinek: »Ich will kein Theater«. Mediale Überschreitungen, hrsg. von Pia Janke (Wien: Praesens-Verlag, 2007), S. 65f.

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Und das Medium ihres Sprechens ist der von Maske und Kostüm entblößte Körper. In homonymischem Spiel: »Wie unter dem Pflaster der Strand, so unter dem Pflaster die nie heilende Wunde Sprache«.7 Jelinek bezeichnet die Schauspieler als »Sprachschablonen«8 oder »Sprachmaschinen«,9 deren Sichtbarkeit mit der Dauer ihres Sprechens zusammenfällt.10 Sie sind Materie, Fleisch, das einer rücksichtslosen physikalischen Metamorphose unterzogen wird, »aufgehängt in der Räucherkammer, im Schacht einer anderen Dimension, die nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Theater ist«.11 In dieser ontologischen Zwischenwelt12 wird ihnen in Form sich fügender Zitate »ein fremdes Sagen« untergeschoben,13 das sie in »ihre eigene Botschaft«14 verwandelt, in zweidimensionale Textcollagen,15 aus denen »es« spricht.16 Und dies ist es, was sie, so die Dramatikerin, zu »Zeugen meiner Anklage gegen Gott und Goethe, mein Land, die Regierung, die Zeitungen und die Zeit solo«17 werden lässt. 7 Jelinek, ›Sinn egal‹, S. 8. 8 Elfriede Jelinek, ›Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater : Gespräch mit Elfriede Jelinek‹, in Autorinnen: Herausforderungen an das Theater, hrsg. v. Anke Roeder (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989), S. 143. 9 Elfriede Jelinek im Interview mit Wolfgang Reiter, zit. in Pia Janke, Werkverzeichnis Elfriede Jelinek (Wien: Edition Praesens, 2004), S. 406. 10 »Für mich bestehen die Figuren nur aus Sprache. Solange sie sprechen, sind sie da, und wenn sie nicht mehr sprechen, sind sie für mich verschwunden«, Jelinek im Interview mit Wolfgang Reiter, zit. in Janke, Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 143. 11 Jelinek, ›Sinn egal‹, S. 9. 12 In Anknüpfung an Jelineks zerstörerischer Identifikation von Schauspieler und Sprechen schreibt Bärbel Lücke: »[…] insofern, als das Sprechen nicht mehr Logos, göttliches Wort, ist […], sind sie [die Schauspieler, P.K.] nicht im Sinne eines metaphysischen Seins. Sie ›sind‹, aber es handelt sich […] um eine Ontologie des Zwischen, was den ontologischen Status der Schauspieler und der von den Schauspielern gespielten Figuren ebenso wie die auf der Bühne geschaffenen Orte betrifft: Sie sind im Zwischenraum des Seins«, Lücke, ›Elfriede Jelineks ästhetische Verfahren und das Theater der Dekonstruktion‹, S. 65f. (Hervorhebungen im Original, P.K.) 13 Jelinek, ›Sinn egal‹, S. 9. 14 Ebd. 15 Klaus Kastberger bezeichnet sie darum als »Diskurskonglomerate«, ›Medien‹, in JelinekHandbuch, hrsg. von Pia Janke (Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler, 2013), S. 303. Und Christina Schmidt schreibt in ›Chor der Untoten: Zu Elfriede Jelineks vielstimmigem Theatertext »Wolken.Heim.«‹, in Zum Zeitvertreib: Strategien – Institutionen – Lektüren, Bilder, hrsg. von Alexander Karschnia [u. a.] (Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2005), S. 229: »Diesem Akt des Stimmeverleihens wohnt ein Riss inne: zwischen Sprache und Körper, zwischen Text und Stimme«. 16 In ›Ich will kein Theater‹ erklärt Jelinek, die Schauspieler konstituierten »sich nur durch das Sprechen, und sie sprechen, was sie sonst nicht sprechen. Es spricht aus ihnen. Sie haben kein Ich, sondern sie sind alle Es – auch im Freudschen Sinn«, Jelinek, ›Ich will kein Theater‹, S. 151. Evelyn Annuß bezeichnet sie darum als »Verlautbarungsorgane«, ›Totenauberg; Raststätte oder Sie machens alle‹, in Jelinek-Handbuch, S. 149. 17 Jelinek, ›Sinn egal‹, S. 10.

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Jelineks ›anderes Theater‹ sträubt sich mit allen seinen Zeichen und Medien gegen die Repräsentation.18 Es ist ein Theater der De-Figuration, des reduzierten Raums und der verzerrten Zeit.19 Genau darin, genau in dieser radikalen Verweigerung, Leben abzubilden20 und eine Welt zu bedeuten, trifft es sich jedoch mit der Musik, der Kunst ohne Mimesis und Referenz.21 Diese und weitere Musikähnlichkeiten gilt es zunächst generell sowie, daran anschließend, an ausgewählten Stücken aufzuzeigen. Jelineks Nähe zur Musik zeigt sich nicht nur in ihren Theaterstücken, sondern in ihrer gesamten literarischen Produktion. »Vielleicht ist es nicht unwichtig zu sagen«, äußert die Autorin in einem 2003 veröffentlichten Gespräch mit Anke Roeder, »dass ich mit Sprache komponiere, weil ich von der Musik komme, dass sie letztlich auf der Lautlichkeit, dem Klang beruht, den Stimmen«.22 »Zusammenfassend«, schreibt Gerhard Fuchs, erscheint die Partizipation am Reich der Musik für Elfriede Jelinek (wie der Sinn ihrer Texte) mehrfach codiert: als persönliche Teilnahme, als Thema, als Bauprinzip, als motivische Klammer, als Titel- und Textallusion, als Strukturanalogie und als parallele Artikulationsform, die in Aufgabenstellung und Kompositionstechnik viele Berührungspunkte aufweist.23

18 »Sich gegen das Theater als Repräsentation der Realität, als Abbild einer urbildhaften Wirklichkeit wendend, unterwandert Jelinek mit ihren Texten die formtypischen Gestaltungsmittel des Dramas und treibt dabei sukzessive die Reduktion der dramatischen Kategorien wie Handlung, Dialog und Figuren voran«, Krammer, »›Ich will ein anderes Theater‹«, S. 110. 19 »Die Stücke Jelineks«, schreibt Antje Johanning, »stehen im Zeichen einer signifikanten Zeitlosigkeit, die sich in der zunehmenden Auflösung historischer Kategorien andeutet. Diese Entwicklung läßt sich parallel zur Dekomposition der Handlung und Fragmentarisierung der Figuren verfolgen«, Antje Johanning, KörperStücke: Der Körper als Medium in den Theaterstücken Elfriede Jelineks (Dresden: Thelem, 2004), S. 73. 20 Vgl. Lücke, ›Elfriede Jelineks ästhetische Verfahren‹, S. 67. In dem bereits zitierten Interview Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater macht Jelinek deutlich: »Den Wunsch, Leben zu erzeugen auf dem Theater […] lehne ich ab. Ich will genau das Entgegengesetzte: Unbelebtes erzeugen. Ich will dem Theater das Leben austreiben. Ich will kein Theater«, Jelinek, ›Ich will kein Theater‹, S. 153. 21 Vgl. Andreas Käuser, ›Medialität und Musikalität: Plessner und Adorno‹, in Literatur und Musik in der klassischen Moderne: Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien, hrsg. von Joachim Grage (Würzburg: Ergon Verlag, 2006), S. 29 und Hans Emons, Sprache als Musik (Berlin: Frank & Timme, 2011), S. 12. 22 Anke Roeder, ›Fremde Stimmen. Das theatrale Textverfahren der Elfriede Jelinek: Ein Gespräch mit der Autorin‹, in Theater ohne Grenzen, hrsg. von Peter M. Boenisch [u. a.] (München: Utz, 2003), S. 486. 23 Gerhard Fuchs, »›Musik ist ja der allergrößte Un-Sinn«: Zu Elfriede Jelineks musikalischer Verwandtschaft‹, in Sprachmusik: Grenzgänge der Literatur, hrsg. von Gerhard Melzer und Paul Pechmann (Wien: Sonderzahl-Verlag, 2003), S. 184.

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Karl Ivan Solibakke führt dazu weiter aus: Der Wort-Ton-Nexus tangiert bei Jelinek klar umrissene Bereiche der Textherstellung, die sich von einzelnen Anspielungen auf musikalische Werke, Komponisten oder klangliterarische Textfragmente bis hin zu Isomorphien zwischen Kompositionstechniken und Textstrukturen erstrecken.24

Das »Rätsel« Franz Schubert25 zu umkreisen stürzt sich Jelineks Denken in ein paradoxes Bild, »ein Bächlein«, das »gleichzeitig fließt und da ist« und eben darum »nichts fragt und nichts beantwortet«.26 Derart fremd und unerhört sind die Kompositionen des österreichischen Romantikers – Jelinek nennt sie »die nichtsgewisseste Musik, die ich kenne«27 – (Ähnliches gilt übrigens für Gustav Mahler), dass man sich in ihnen nichts weniger als heimisch fühlen kann. Selbst durch eine Beschränkung auf den autoreferentiellen Charakter der Musik und der Geschlossenheit ihres Zeichensystems wäre diesem Rätsel nicht beizukommen. Zwar sähe man auch bei Schubert, wie das und das beschaffen ist und wie er es gemacht hat, damit es so und so klingt. Aber auch wenn alle diese Eigenschaften benannt werden können, das was entsteht, ist trotzdem nichts was einen Namen hat. Ist jedenfalls nicht die Summe beschreibbarer musikalischer Parameter.28

Was uns als Zuhörer von Schuberts Musik erfasst und uns »selber enteignet«,29 indem es uns alle Gewissheiten entreißt, »ist«, so Jelinek weiter, »die Tatsache, daß etwas da ist, das uns gleichzeitig weggenommen ist«.30 »Das was fehlt«, heißt es am Ende, »ist die Hauptsache, und es ist nicht etwas ausgespart, sondern gerade daß es fehlt, macht es ja aus!«.31 Dieses anwesende Abwesende nun stürzt 24 Karl Ivan Solibakke, ›Musikdiskurse in ausgewählten Theatertexten Elfriede Jelineks‹, in Elfriede Jelinek, hrsg. von Jacques Lajarrige (Rouen: Universit¦ de Haute-Normandie, 2004), S. 191. 25 Jelinek, so Fuchs, beschäftige »sich in bezug auf konkrete Komponisten und deren Werke […] vor allem mit Schubert. Liedtexte des Komponisten werden in der Prosa und den Dramen als wichtige Subtexte und Verweispartikel eingesetzt«, Fuchs, »›Musik ist ja der allergrößte Un-Sinn«‹, S. 178. Zur Rolle dieses Komponisten in der Dramentrilogie Macht nichts vgl. Pia Janke, ›Elfriede Jelinek und die Musik: Versuch einer Bestandsaufnahme‹, in Sprachmusik: Grenzgänge der Literatur, S. 195f., zu jener in Winterreise Maria-Regina Kecht, ›er nicht als er (zu, mit Robert Walser); Das Schweigen; Der Wanderer; Winterreise‹, in Jelinek-Handbuch, S. 171. 26 Elfriede Jelinek, ›Zu Franz Schubert‹ [1998], www.elfriedejelinek.com (30. 01. 2015), S. 1. 27 Jelinek, ›Zu Franz Schubert‹, S. 1. »Schuberts Musik«, schreibt Kecht, »ist für Jelinek Ausdruck höchster »Nichtsgewissheit«, in welcher sich die verstörende Erfahrung des eigenen Fremdseins manifestiert«, Kecht, ›er nicht als er (zu, mit Robert Walser)‹, S. 174. 28 Jelinek, ›Zu Franz Schubert‹, S. 1. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 3.

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uns in ein »Vakuum«,32 in dessen Leere wir erleben, wie sich der Lauf der Zeit für Augenblicke umkehrt, wie wir »mit dieser Zeitpeitsche aus Klang zerbrochen« und uns unmerklich »für immer entfremdet« werden.33 Was uns im wörtlichen Sinn an Schuberts Musik desorientiert, sei der Umstand, dass sie in einer Zeit ohne Raum erklingt und daher jegliche Begegnung verunmöglicht.34 Bereits hier ist zu ahnen, wie eine solch ineffable Musik zum Modell für ein theatrales Sprechen werden kann, das umso politischer wird, seine Zuschauer umso ungesicherter durch »ein raum- und zeitloses Kontinuum«35 treibt, je mehr es sich gewohntem Sinn entzieht und sich zum reinen Medium des Abwesenden und Verdrängten macht, das in ihm als solches zu unheimlicher, schockierender Anwesenheit gelangt. Eine paradoxe Einheit von Sukzession und Simultaneität kennzeichnet das Theater. In der Synchronie der Medien und der Zeichensysteme realisiert sich die Kongruenz von Darstellendem und Dargestelltem. Ähnlich ist es in der Musik. Auch sie ist, wie das Theater, eine Zeitkunst, auch sie kennt und nutzt die Überlagerung der Töne und Stimmen. In einem wesentlichen Punkt allerdings unterscheidet sie sich vom Theater wie von der Literatur allgemein. Sie ist eine Darstellung ohne Dargestelltes, Form ohne Gehalt, Syntax ohne Semantik, Signifiant ohne Signifi¦. Im ›Fragment über Musik und Sprache‹ schreibt Theodor W. Adorno: Musik als ganze empfängt die Intentionen, nicht indem sie sie zu einer abstrakteren, höheren Intention verdünnt, sondern indem sie im Augenblick, da sie zusammenschießt, zum Anruf des Intentionslosen sich anschickt. […] Daraus erwächst ihr die Versuchung, aus eigener Machtvollkommenheit allem Sinn sich zu entziehen: sich zu gebärden, als wäre sie in der Tat der Name unmittelbar.36

Andererseits gilt jedoch: »[…] noch Ausdrucklosigkeit wird in Musik zum Ausdruck«.37 Die Sprachaffinität der Musik allerdings, so Adorno, »erfüllt sich, indem sie von der Sprache sich entfernt«38 In ihrer Bestimmung von Musik geht Elfriede Jelinek allerdings noch einen 32 33 34 35

Ebd., S. 1. Ebd. Ebd., S. 2. Johanning, KörperStücke, S. 73. Jelineks formale Entwicklung verdeutlicht für Gerhard Scheit, »dass es in einem gewissen Sinn gar keine Vergangenheit mehr gibt, weil die Trennung zwischen ihr und der Gegenwart unmöglich geworden scheint: die Wahrheit einer Gesellschaft, die auf den Resultaten des Nationalsozialismus gründet«, Gerhard Scheit, ›Nationalsozialismus‹, in Jelinek-Handbuch, S. 286. 36 Theodor W. Adorno, ›Fragment über Musik und Sprache‹, in Gesammelte Schriften, Bd. 16 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978), S. 254f. 37 Ebd., S. 255. 38 Ebd., S. 256.

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Schritt weiter. Zuhören, wie die Zeit vergeht:39 Dieser Definition von Musikrezeption eignet eine metatemporale Dimension. Musik sei, heißt es in der ironisch-bitteren Hommage an ihren Orgellehrer Leopold Marksteiner, »eine Hörbarkeit des Zeitablaufs«.40 Ein Ablauf, der übrigens von Beginn an weniger von normativen als von körperlichen Rhythmen diktiert wird. So erzählt Jelinek etwa von ihrem Unterricht bei Marksteiner : »Ich bin beim Spielen ja unentwegt immer schneller geworden, als wäre mir mein eigener Pulsschlag vorausgeeilt«.41 Und in einem Aufsatz über Olga Neuwirths Oper Bählamms Fest ist zu lesen, Musik sei »die Kunst der Gleichzeitigkeit aller Möglichkeiten und allen Geschehens, weil sie die Zeit aufhebt, indem sie Zeit vergehen läßt. Also die Zeit sitzt da und sieht sich selber zu, wie sie als Schiff vorübertreibt (und vergeht, aber nicht verschwindet, in sich aufgehoben wie sie ist), von sich selbst als Strömung getragen«.42 Im permanenten Jetzt dieses Zuhörens ereignet sich das Heraustreten aus ihrem Fluss in die stillgestellte Vertikale einer uneingeschränkten Verfügbarkeit, die Jelineks Theater alle Möglichkeiten einer Umstrukturierung nach rein musikalischen Ordnungsprinzipien bietet. In diesem Sinn äußert sich die Autorin in einem Gespräch mit Stefanie Carp: Das in fremden Zungen reden, so wie der Heilige Geist über den Köpfen der Gläubigen schwebt, das verwende ich im Theater eigentlich immer, um den Sprachduktus zu brechen in verschiedene Sprachmelodien und Sprachrhythmen, weil ich mit Sprache immer eher kompositorisch umgehe. Das ist wie bei einem Musikstück mit verschiedenen Stimmen, die enggeführt werden oder dann auch im Krebs oder in der Umkehrung vorkommen. Es ist im Grunde ein kontrapunktisches Sprachgeflecht, das ich versuche zu erzeugen.43

Diese Musikalisierungen von Theater möchte ich nun in drei Stücken von Elfriede Jelinek aus den 80er Jahren nachweisen: Clara S., Burgtheater und Wolken.Heim. Zunächst also zu Clara S.: Da finden wir noch – zumindest gibt der Nebentext Anlass für eine solche Annahme – »Personen«, der Ort der Handlung ist »Der Vittoriale bei Gardone, die Villa D’Annunzios« und auch die dargestellte Zeit ist exakt bestimmt mit »1929, Spätherbst«.44 Der Untertitel des Stücks informiert, 39 »Die Zeit vergeht, und in der Musik hört man ihr zu, wie sie vergeht«, Elfriede Jelinek, ›Die Komponistin‹, Emma 6 (1987), S. 33. 40 Elfriede Jelinek, ›Die Zeit flieht: für meinen Orgellehrer Leopold Marksteiner‹ [1999], www.elfriedejelinek.com (30. 01. 2015), S. 1. 41 Jelinek, ›Die Komponistin‹, S. 34. 42 Elfriede Jelinek, ›Musik und Furcht: einige Überlegungen zu »Inseln« von Olga Neuwirth‹, www.elfriedejelinek.com (30. 01. 2015), S. 2. 43 Elfriede Jelinek, ›Ich bin im Grunde ständig tobsüchtig über die Verharmlosung: Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek‹ [1996], www.elfriedejelinek.com (30. 01. 2015), S. 2. 44 Elfriede Jelinek, Clara S. musikalische Tragödie, in Theaterstücke (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992), S. 80 (Hervorhebungen im Original, P.K.).

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dass es sich um eine Musikalische Tragödie handelt. Dieser könne laut Antje Johanning »vordergründig auf die ›Vernichtung‹ weiblicher Kreativität bezogen werden, hintergründig als Anspielung auf Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik und damit auf den ›dionysischen Geniekult‹«.45 Das am 24. September 1982 im Großen Haus der Bühnen der Stadt Bonn mit der Regie von Hans Hollmann uraufgeführte Stück46 ist jedoch für Ute Nyssen das erste, mit dem Jelinek ihr dekonstruktivistisches Verfahren methodisch anwandte […], ein Spiel mit gesellschaftlichen Versatzstücken unterschiedlicher Epochen, eine Versuchsanordnung, deren erkenntniskritischen Schlüssel der Feminismus lieferte.47

Die Personen sind zwar historisch: Clara, Robert Schumanns Frau, sucht mit ihrem geistig umnachteten Mann48 und der kleinen Tochter Marie Schutz und finanzielle Hilfe beim faschistischen Weiberhelden und Dichter Gabriele d’Annunzio. Aus den am Ende des Stücks gelieferten Quellenangaben erhellt jedoch die Schablonenhaftigkeit der Figuren, die zum Sprachrohr von gekonnt zugerichteten Prätexten wie etwa Clara Schumanns Tagebüchern, d’Annunzios Romanen oder der feministischen Untersuchung von Ria Endres mit dem Titel Am Ende angekommen werden;49 zusätzlich wird die Konstellierung von Clara 45 Johanning, KörperStücke, S. 105. 46 Vgl. Janke, Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 83. Zu diesem Stück vgl. allgemein Karl Ivan Solibakke, ›Musik‹, in Jelinek-Handbuch, S. 307; Dagmar von Hoff, ›Was geschah, als Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften; Clara S.; Krankheit oder Moderne Frauen‹, in Jelinek-Handbuch, S. 133f., sowie Christa Gürtler, ›Elfriede Jelinek und die Musikerinnen‹, in Kunst und Musik in der Literatur : Ästhetische Wechselbeziehungen in der österreichischen Literatur der Gegenwart, hrsg. von Roman Koprˇiva und Jarislav Kov‚rˇ (Wien: Praesens Verlag, 2005), S. 171–175; zu einzelnen Inszenierungen vgl. u. a. Verena Mayer und Roland Koberg, elfriede jelinek: Ein Porträt (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006), S. 136ff.; Ute Nyssen, ›Jelinek spielen: Einige Beispiele‹, in Elfriede Jelinek: »Ich will kein Theater«, S. 113ff. und Ulrike Oettinger, ›im Gespräch mit Pia Janke‹, in Elfriede Jelinek: »Ich will kein Theater«, S. 131f. 47 Nyssen, ›Jelinek spielen: Einige Beispiele‹, S. 113. 48 Jirˇ† Munzar hebt hervor, »dass Jelinek am meisten Schubert und Schumann zitiert und evoziert, also zwei Künstler, bei denen Tod und Pathologie eine große Rolle spielen«, Jirˇ† Munzar, ›Elfriede Jelineks Musikerinnen und die Bürger-Künstler-Problematik‹, in Kunst und Musik in der Literatur, S. 166. 49 Vgl. Jelinek, Clara S., S. 128. In ihrem theaterpoetologischen Text mit dem Titel »Ich schlage sozusagen mit der Axt drein« präzisiert Jelinek: »In ›Clara S.‹ habe ich noch mehr ›fremdes‹ Material eingebaut: die (noch größtenteils unveröffentlichten) Tagebücher der Haushälterin und Gefährtin d’Annunzios, A¦lis Mazoyer, um die Konstellation in Gabriele d’Annunzios frauenstrotzendem Haushalt zu beschreiben; die Tagebücher Clara Schumanns; eine moderne Untersuchung über die männliche Kultur und den ihr innewohnenden Todestrieb, nämlich Ria Endres‹ ›Am Ende angekommen‹; schließlich ausgewählte Stellen aus eigenen Romanen d’Annunzios. Die Konfrontation von idealistischem Denken des 19. Jahrhunderts und ›dekadenter‹ frühfaschistischer Ideologie, bei der sich zeigt, wie weibliche Kreativität im Patriarchat immer wieder zugrundegehen muß, dieser Zusammenprall bildete für mich den

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Schumann mit d’Annunzio ermöglicht durch einen »Zeitsprung […], denn zum Zeitpunkt der Handlung war Robert Schumann weit über ein halbes, Clara fast ein halbes Jahrhundert tot«,50 ein Umstand, der schließlich selbst den dargestellten wie den darstellenden Raum ins Wanken bringt. Musikausübung steht in Clara S. im Zeichen einer Genealogie der Gewalt. Im einleitenden Nebentext des 1. Teils finden wir die »kleine Marie«, die auf dem Konzertflügel »penetrant und durchdringend Finger- und Trillerübungen« des Wiener Klavierpädagogen Carl Czerny übt.51 Dabei ist ihr Körper in das berüchtigte »Logiersche Gestell« gespannt,52 eine von dem Kasseler Musikpädagogen Johann Bernhard Logier im Jahr 1814 entwickelte Übungsmaschine zur Modellierung der Finger, deren Benutzung bereits ihren Vater Robert Schumann die Pianistenkarriere gekostet hatte.53 Zusätzlich ist der Rhythmus der Ausführung vom mechanischen Ticken des Metronoms diktiert. Diese Gewalt entlädt sich am Ende des 2. Teils zunächst physisch in der Ermordung Roberts durch Clara,54 im Epilog verbal gegen die »totale Abstraktion

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Reiz bei der Montage der verschiedenen Denk- und Sprachebenen«, Elfriede Jelinek, »›Ich schlage sozusagen mit der Axt drein‹«, Theaterzeitschrift 7 (1984), S. 15. Christa Gürtler betont also zurecht: »Wie in allen Theaterstücken Elfriede Jelineks sind die Figuren [in Clara S.] Träger von Sprachflächen und Diskursen, die widersprüchlich sind und keinen Rollencharakter formen«, Gürtler, ›Elfriede Jelinek und die Musikerinnen‹, S. 174. Zit. in Janke, Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 84f. Marlies Janz schreibt: »In Clara S. werden zwei Zeitebenen montiert, indem eine Begegnung zwischen Clara Schumann (1819–1896) und dem italienischen Dichter Gabriele d’Annunzio (1863–1938) konstruiert wird. Eine solche Begegnung hat nie stattgefunden, und die Montage der verschiedenen Zeitebenen deutet schon darauf hin, daß das Stücke den Genie-Kult des 19. Jahrhunderts in einen direkten Zusammenhang zu bringen versucht mit dem Faschismus«, Marlies Janz, Elfriede Jelinek (Stuttgart, Weimar : Verlag J. B. Metzler, 1995), S. 53. Jelinek, Clara S., S. 81 (Hervorhebungen im Original, P.K.). Ebd. (Hervorhebungen im Original, P.K.). Vgl. Jean-Charles Margotton, ›La musique comme pouvoir – Ý propos de La Pianiste d’Elfriede Jelinek‹, Êtudes m¦di¦vales 8 (2006), S. 269. Jelinek, Clara S., S. 122. Über das genaue Motiv des Mordes äußert sich Elfriede Jelinek in einem Interview mit Christa Gürtler: »Clara S. erwürgt Robert in dem Moment, in dem er das System der Genialität, dem sie sich geopfert hat, unterläuft, ein lächerliches Werk eines anderen als sein eigenes ausgibt. Sie bringt ihn nicht um, weil er nicht mehr kann, da könnte sie ihre Rolle spielen als Krankenschwester, Betreuerin, Muse, sondern in dem Moment, wo er das System in Frage stellt – das System in Frage stellen kann nur der Herr, nicht der Knecht. Denn nur der Herr hat die Macht, es auch wieder abzuschaffen. In dem Moment, wo er ihre Aufopferung als Popanz und Farce entlarvt, muß sie ihn töten«, Christa Gürtler, ›Elfriede Jelinek – Über die Anmaßung, das Vaterwort durch das Tochterwort abzulösen‹, Elisabethbühne-Magazin 102 (1996), S. 14 (Kursiv im Original, P.K.). In diesem Sinn heißt es auch schon im Programmheft zur Uraufführung: »Im Stück wird Clara zur Mörderin an ihrem Mann in dem Augenblick, da dieser, in der fröhlichen Freiheit des Wahnsinns, sich über diese ehernen Regeln [der Originalität, der Kühnheit und des Neuen] hinwegsetzt und ein fremdes Werk für sein eigenes ausgibt«, zit. in Janke, Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 84.

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Musik«55 und schließlich musikalisch durch ein in dionysischem Paroxysmus ausgeführtes Salonstück. »Das Universum der Tonkunst«, keucht Clara, »ist eine Landschaft des Todes. Weiße Wüsten, Eis, gefrorene Flüsse, Bäche, Seen! Riesige Scheiben Arktis, durchsichtig bis zum Grund, keine Tatzenspur des Raubtiers Eisbär. Nur geometrisch angeordnete Kälte. Schnurgerade Frostlinien. Totenstille. Alle zehn Finger kann man stundenlang dagegen pressen, und das Eis zeigt keine Spur eines Abdrucks«.56 Und dabei spielt sie, sterbend, »so laut, daß man nichts mehr versteht. […] Endlich, nach einer wahnwitzigen Steigerung der Musik, sinkt Clara vom Hocker. In diesem Augenblick Totenstille«.57 Doch überraschend spannt sich von dieser tragischen, gewaltgeprägten Kontextualisierung eine dünne Brücke zu der jegliche musikalische Semiologie überwindenden, lustgeprägten, körperlichen Schumann-Rezeption von Roland Barthes. Diese Brücke geht, so möchte ich behaupten, von den falsch gespielten Dreiklängen Maries aus.58 »In ihrem vollen Umfang hörbar wird die Musik Schumanns«, so Barthes in Schumann lieben, »nur für den, der sie, selbst schlecht, spielt. […] Dringt doch die Musik Schumanns weiter vor als bis ans Ohr : Sie dringt durch die Schläge ihres Rhythmus‹ in den Leib, in die Muskeln und durch die Sinnlichkeit ihres melos gleichsam in die Eingeweide«.59 Und in Rasch heißt es weiter : Aus den Kreisleriana von Schumann höre ich eigentlich keine Note, kein Motiv, keine Zeichnung, keine Grammatik und keinen Sinn heraus, nichts, anhand dessen sich irgendeine intelligible Struktur des Werks rekonstruieren ließe. Nein, was ich höre, sind Schläge: Ich höre das im Körper Schlagende, das den Körper Schlagende oder besser : diesen schlagenden Körper.60

Zurück gewendet auf Clara S. eröffnen diese Überlegungen, gewissermaßen auf der Kehrseite des jelinekschen Dramentextes, die Möglichkeit einer Befreiung des weiblichen Körpers in der und durch die Musik. In der am 10. November 1985 am Theater der Stadt Bonn unter der Regie von Horst Zankl uraufgeführten Posse mit Gesang mit dem metadramatischen Titel Burgtheater61 besitzt der dargestellte Ort, das von den Nazis besetzte Wien der 55 56 57 58 59

Jelinek, Clara S., S. 109. Ebd., S. 127. Ebd. (Hervorhebung im Original, P.K.). Vgl. ebd., S. 89. Roland Barthes, ›Schumann lieben‹, in Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990), S. 294. 60 Roland Barthes, ›Rasch‹, in Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990) S. 299. 61 Vgl. Janke, Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 86. Zu diesem Stück vgl. auch Johanning, KörperStücke, S. 136–146 und Krammer, »›Ich will ein anderes Theater‹«, S. 115–119. »Die Entstehungsgeschichte des Stücks«, schreiben Verena Mayer und Roland Koberg, gehe »zurück in das Jahr 1980. Klaus Manns lange Zeit verbotenes Buch Mephisto war eben von

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Kriegsjahre im temporalen Sprung von 1941 zu den Tagen vor dem Einmarsch der Sowjetarmee, das Gewicht einer unerhörten Demaskierung. Die an reale Personen, die Mitglieder der österreichischen Schauspielerfamilie WesselyHörbiger,62 angelehnten Figuren sind die Repräsentanten jenes opportunistischen Mitläufertums, das sich willig zum Instrument faschistischer Propaganda hatte machen lassen und sich nach dem Krieg geschickt zum Opfer zu stilisieren wusste. Der Musikbezug des Stücks führt von der intertextuellen Hommage des Untertitels an die Komödien von Johann Nestroy63 in das Zentrum einer Sprache, die, ähnlich der Musik, für sich selbst spricht und sich dennoch in das Medium einer in Österreich bis dahin nie vernommenen Anklage verwandelt.64 In ›»Ich schlage sozusagen mit der Axt drein«‹ erläutert Jelinek ihr intermediales Verfahren der Sprachmetamorphose: Was mein letztes Stück, »Burgtheater«, betrifft, so habe ich lange am Schneidetisch Kitschfilme, aber auch reine Propagandafilme (»Heimkehr«) der Nazi-Ära angeschaut und Dialoge und Monologe mitgeschrieben. Es ging mir darum, mit den Mitteln der Sprache zu zeigen, wie wenig sich die Propagandasprache der Blut-und-Boden-Mythologie in der Nazikunst vom Kitsch der Heimatfilmsprache in den fünfziger Jahren, einer Zeit der Restauration, unterscheidet.65

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Istv‚n Szabû verfilmt und von Ariane Mnouchkine dramatisiert worden. In dem Roman macht die Hauptfigur, der Komödiant Hendrik Höfgen, Karriere im »Dritten Reich«, der Mephisto-Darsteller und Intendant Gustav Gründgens war für jedermann zu erkennen«, Mayer, Koberg, elfriede jelinek, S. 131. Evelyn Annuß schreibt dazu: »Ohne diese Mumien des Burgtheaters beim Namen zu nennen, erinnert der Text sowohl über die familiale Konstellation auf dem häuslichen Schauplatz als auch über das in die Rede eingelassene Material an die veröffentlichten Images der österreichischen Schauspielerdynastie um Paula Wessely, ihren Mann Attila Hörbiger und dessen Bruder Karl«, Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens (München: Wilhelm Fink Verlag, 2005), S. 60. Zur belasteten Biographie der Burgschauspielerin Paula Wessely vgl. Maria Steiner, Paula Wessely : Die verdrängten Jahre (Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1996). Vgl. Mayer, Koberg, elfriede jelinek, S. 132. Zum Skandal und den Reaktionen auf die Premiere vgl. Mayer, Koberg, elfriede jelinek, S. 136ff. »Jelinek war«, schreibt Evelyn Deutsch-Schreiner, »die erste österreichische Schriftstellerin, die es wagte, den Zusammenhang von Sprache und Österreich-Ideologie sowie von Sprache und Nationalsozialismus aufzudecken und ihn anhand der vermittelnden Medien, Theater und Film, vorzuführen. Sie zertrümmert das geschönte Österreich-Bild mit den Mitteln einer anderen österreichischen Tradition, die der sprachmächtigen und sprachkritischen österreichischen Literatur von Johann Nestroy, Karl Kraus und der Wiener Gruppe«, Evelyn Deutsch-Schreiner, ›Burgtheater ; Erlkönigin; Präsident Abendwind; Ich liebe Österreich; Das Lebewohl‹, in Jelinek-Handbuch, S. 140. Jelinek, ›»Ich schlage sozusagen mit der Axt drein‹«, S. 15.

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Zu diesem Zweck entwickelt die Autorin eine für sich selbst sprechende »Kunstsprache«:66 Ich arbeitete gewissermaßen linguistisch am Text, indem ich die Wörter, die schleimig und verwaschen die faschistische Ideologie transportierten, zu Wortneuschöpfungen umwandelte, Neologismen, die die ganze Brutalität des Faschismus enthüllen, ohne daß das einzelne Wort im Zusammenhang etwas bedeuten muß.67

Ein Beispiel: Im Allegorischen Zwischenspiel spricht die an Paula Wessely erinnernde Käthe »ekstatisch«:68 Dung! Dung! Dung! Karls Dung. Franzens Dung. Adolfs Dung. Gedüngte Hhherde. Lllleicheln unterm Baam. Marod… Krowot… Ttttorsch… Schschschood daß Ttttttortn! Tuatn. Henriette. Lavendel. Buxbaam. Morrrrdenrot! Junger Tutter! Hinreise. Au! Au! Auschschwww… Schwester! Geh Pepperl, plausch net!69

Gesprochen wird dies im sogenannten »Burgtheaterton«,70 einer sich selbst parodierenden, stammelnd und stotternd artikulierten Mischung aus Hochsprache und Wiener Dialekt.71 Und aus diesem auf der Grundlage einer phonetischen Partitur produzierten »künstlichen Sound«,72 im Rhythmus der Wiederholungen und variierten Themen, der Alliterationen, der Assonanzen und Konsonanzen beginnt es zu fließen, es fließt etwas ab aus der Sprache, sie wird in dem Maße musikähnlich, wie ihr das Denotat entgleitet, wie sie sich verliert im unendlichen Gewirr der Konnotationen und schließlich ins Anzeichenhafte mündet, in dem eine klare Trennung von Signifikant und Signifikat nicht mehr möglich ist.73 Aber auch eine Gegenbewegung findet statt, denn die Musikalisierung des Wortmaterials bewirkt dessen Läuterung. Missbrauchter Sinn wird in der Par-Odie auf eine Weise zur Kenntlichkeit entstellt, die ihn als solchen ausstellt, zugleich aber einer politischen Anklage aussetzt, der er sich nicht mehr zu entziehen vermag. 66 Ebd. Dieses Wort verwendet Jelinek auch in den Hinweisen zur Aufführung, die sie dem Dramentext voranschickt. Vgl. Elfriede Jelinek, Burgtheater, Theaterstücke, S. 130. 67 Jelinek, ›»Ich schlage sozusagen mit der Axt drein‹«, S. 16. 68 Jelinek, Burgtheater, S. 157. 69 Ebd. 70 Ebd., aber auch schon S. 132. 71 »Jelineks phonetische Schreibweise simuliert«, so Evelyn Annuß, »eine dem Heimatkitsch, der deutsch-österreichischen Operetten-, Theater- und Filmszene nachempfundene, geradezu unaussprechliche Kunstsprache«, Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, S. 63. Evelyn Deutsch-Schreiner betont, dass Jelinek in Burgtheater zum ersten Mal Dialekt verwendet, allerdings »parodiert sie den verniedlichenden, idyllisierenden Dialekt der Kitschfilme« der 50er und 60er Jahre. Deutsch-Schreiner, ›Burgtheater ; Erlkönigin‹, S. 140. 72 Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, S. 63. 73 Vgl. Ursula Brandstätter, Musik im Spiegel der Sprache: Theorie und Analyse des Sprechens über Musik (Stuttgart: Metzler, 1990), S. 34–39.

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Das Stück endet in einer »Hymne«,74 einer sich steigernden, von allen im Wechsel gesprochenen »Wortsymphonie«:75 Das Salzkammerblut. Motzhart. Das Scheißhäusl! Schubert Brennzl. Der Abortknüttel. Papa Haydn. Die goldenen Jahre der Tellerminette. Die silbernen Jahre der Zyklonbette. Die Saubertöte. Die Senkgruabn. Ringstraßenmorderie. […] Das Haus Habswürg. A Gasmüch. Das Judensternderl. Mamsch und Papsch. Das Musikkazett. […] Das Teatta. Das Burgteatta.76

Waren in Burgtheater zumindest noch an der Oberfläche die Koordinaten einer traditionellen Dramatik erkennbar, so sind wir im Fall von Wolken.Heim.77 mit einem Text konfrontiert, der sich wegen der vollständigen Tilgung jeglichen Nebentextes strukturell nicht mehr von einem Erzähltext unterscheiden lässt. Wer oder besser was in ihm spricht, ist ein kollektives Wir, ein Amalgam von Stimmen, die nur mehr in ihrer Materialität linear-sequentiell geordnet sind, jedoch weder einer ursprünglichen, sinnverbürgenden Sprecherinstanz zugewiesen noch klar voneinander abgegrenzt werden können.78 Die Ordnung, welche diese körperlosen Stimmen79 in der Ausführung wie in der lesenden oder hörenden Rezeption annehmen, ist vielmehr die einer vertikalen Überlagerung, einer orchesterähnlichen Polyphonie, die sich nicht bloß in einem vage metaphorischen, sondern in einem nahezu wörtlichen Sinn jener musikalischen Kompositionsprinzipien bedient, die Elfriede Jelinek für ihr dramatisches

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Jelinek, Burgtheater, S. 189. Ebd., S. 188. Ebd., S. 189. Zum Stück allgemein vgl. auch Annuß, Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, S. 137ff. und Annuß, ›Totenauberg; Raststätte oder Sie machens alle‹, S. 147–150. 78 Annuß dazu: »Wolken.Heim. lesend gewinnt man den Eindruck eines unaufhörlichen und heterophonen Stimmengewirrs, das sich nur punktuell verorten lässt und immer wieder in sich zerfällt. Sinnzusammenhänge werden unterbrochen, vervielfältigt, verflüssigt. Jelineks Sprache verhindert, daß man dem Text in der Lektüre eine Stimme verleiht. Er kreist um die Frage deutscher Identität und bleibt doch letztlich instanzlos. Als dessen grammatisches Subjekt tritt ein ›deutsches‹ Wir auf. Aber die eine Stimme dieses Wir als Stimme des Textes, die seinen Sinn verbürgt, ist nicht dingfest zu machen. Wolken.Heim vermittelt kein Bild von ihm als Ursprungsort der Rede, sondern vielmehr die Erfahrung eines unabschließbaren, uferlosen Verfließens zerstreuter Stimmen, die einander widersprechen und ihr grammatikalisches Subjekt, das Wir, durchstreichen«, Evelyn Annuß, ›Zwangsleben und Schweigen in Elfriede Jelineks Wolken.Heim.‹, Sprache im technischen Zeitalter 153 (2000), S. 33 (Hervorhebungen im Original, P.K.). 79 »In der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion, soweit sie von Motiven des Strukturalismus und Poststrukturalismus bestimmt wird, hat«, so Reinhart Meyer-Kalkus, »vor allem das Phänomen der körperlosen Stimmen Aufmerksamkeit gefunden«, Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert (Berlin: Akademie Verlag, 2001), S. 60.

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Schreiben u. a. ausdrücklich beansprucht: Engführung,80 Krebs81 und Umkehrung.82 Karl Ivan Solibakke beschreibt Ergebnis und Wirkung eines solchen Schreibens: Die Dramatik des Bühnenwerks spiegelt sich in der zeitgleichen Aufschichtung von miteinander verwobenen Sprach- und Musikebenen wider. Damit erreicht Jelinek eine Seltenheit in der Literatur: Die Suggestion einer temporal einheitlichen Mehrstimmigkeit in einem Medium, das sich in der Regel räumlich linearer Konstruktionsprinzipien bedient. Mit dem Indiz auf übereinander liegende Stimmen im Text, die divergierende Inhalte vorführen und von unterschiedlichen Wahrnehmungskategorien gesteuert werden, löst sich die Literarisierung der Musik vom traditionellen Rahmen einer lediglich objektiven und zitathaften Betrachtung des Klangphänomens. Vielmehr erzeugen die Textbewegung und der innerrhythmische Umgang mit der Materialität der Sprachzeichen die zeitkategoriale Verschränkung von Wort und Ton, wie es Ingeborg Bachmann in ihrem Aufsatz Musik und Dichtung vorgibt.83

In diesem zuerst 1959 veröffentlichten Essay beklagt Bachmann die Separierung der beiden Künste im historischen Kontext der Nachkriegszeit: »Aber müssen die Künste wirklich auseinandergehen in einem Augenblick, in dem jedes Verfehlen eine versäumte Rettung ist, jedes Verkennen von Geist in einem ähnlichen Geist die Todtraurigkeit befördert?«84 Unter Berufung auf Friedrich Hölderlin erkennt die Dichterin im Rhythmus das sie Verbindende: »Es gibt ein Wort von Hölderlin«, so Bachmann weiter, das heißt, daß der Geist sich nur rhythmisch ausdrücken könne. Musik und Dichtung haben nämlich eine Gangart des Geistes. Sie haben Rhythmus, in dem ersten, dem gestaltgebenden Sinn. Darum vermögen sie einander zu erkennen. Darum ist da eine Spur.85

Es geht dabei jedoch keineswegs darum, dass eine Kunst für die andere die überlebte Rolle des schmückenden Beiwerks übernimmt, sondern um nichts Geringeres als Verschmelzung und Bewährung: »Die Worte«, meint Bachmann,

80 Die Engführung bezeichnet in der Fuge den Eintritt eines Themas vor Beendigung des vorhergehenden Themeneinsatzes. 81 Unter einem musikalischen Krebs oder Krebsgang versteht man das Rückwärtsspielen einer Notensequenz. 82 Umkehrung ist eine im Kontrapunkt und in der Zwölftonmusik häufig auftretende Vertauschung der Tonhöhenbewegungsrichtung. 83 Solibakke, ›Musikdiskurse in ausgewählten Theatertexten Elfriede Jelineks‹, S. 203. 84 Ingeborg Bachmann, ›Musik und Dichtung‹, in Werke, hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, Bd. 4 (München, Zürich: R. Piper & Co. Verlag, 1978), S. 60. 85 Ebd.

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suchen ja längst nicht mehr die Begleitung, die die Musik ihnen nicht geben kann. Nicht dekorative Umgebung aus Klang. Sondern Vereinigung. Den neuen Zustand, in dem sie ihre Eigenständigkeit opfern und eine neue Überzeugungskraft gewinnen durch die Musik. Und die Musik sucht nicht mehr den belanglosen Text als Anlaß, sondern eine Sprache in harter Währung, einen Wert, an dem sie den ihren erproben wird.86

Noch deutlicher auf Jelineks Positionen voraus weisen die anschließend berührten Motive des Gedenkens und der Klage. Im »Miteinander« halten Musik und Sprache nämlich »die Toten wach und stören die Lebenden auf, sie gehen dem Verlangen nach Freiheit voraus und dem Ungehörigen noch nach bis in den Schlaf«.87 Und die menschliche Stimme, der die Sprache letztlich versagt wie der Ton, wird zum utopischen »Platzhalter für den Zeitpunkt, an dem Dichtung und Musik den Augenblick der Wahrheit miteinander haben«.88 Von nicht geringerer Relevanz ist aber auch, dass in Bachmanns und Jelineks intersemiotischem Denken Adornos Position einer Trennung der beiden Künste nachhaltig herausgefordert wird. Dazu schreibt Solibakke: Whereas Theodor W. Adorno’s highly influential theories on music and language call for the separation of the logic of language and the rhythm of music, Bachmann and Jelinek ultimately strive toward a convergence of word, sound and meaning. The result […] is that words go beyond their purely material or sonic quality, in order not only to take on a certain cognitive anchoring, but also to become agents of social and cultural criticism.89

Im Namedropping sind am Ende von Wolken.Heim. zwar Texte von »Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist« sowie die Briefe »der RAF von 1973–1977« als Quellen benannt,90 im Dramentext jedoch werden sie zu einem Kollektivum verschmolzen, das die totalisierenden und jegliches Andere und Fremde ausschließenden Versuche einer Definition und Konstruktion deutscher Identität erfolgreich ad absurdum führt91 und eine geschichtsphilosophische Verbindung 86 87 88 89

Ebd., S. 60f. Ebd., S. 61. Ebd., S. 62. Karl Ivan Solibakke, ›Musical Discourse in Elfriede Jelinek’s Die Klavierspielerin [The Piano Teacher]‹, in Elfriede Jelinek: Writing Woman, Nation, and Identity. A Critical Anthology, eds. Matthias Piccolruaz Konzett and Margarete Lamb-Faffelberger (Madison Teaneck: Fairleigh Dickinson University Press, 2007), S. 254: »Während Theodor W. Adornos höchst einflussreiche Theorien über Musik und Sprache eine Trennung zwischen der Logik der Sprache und dem Rhythmus der Musik implizieren, streben Bachmann und Jelinek grundsätzlich nach einer Übereinstimmung zwischen Wort, Ton und Bedeutung. Daraus ergibt sich […], dass Wörter über ihre rein materielle oder lautliche Qualität hinausgehen und dadurch nicht nur eine gewisse kognitive Verankerung erhalten, sondern auch zu Mitteln sozialer und kultureller Kritik werden«. 90 Elfriede Jelinek, Stecken, Stab und Stangl; Raststätte; Wolken.Heim: Neue Theaterstücke (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997), S. 158. 91 Vgl. Schmidt, ›Chor der Untoten‹, S. 225.

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zwischen dem deutschen Idealismus und den Katastrophen des 20. Jahrhunderts herstellt. Christina Schmidt geht sogar noch einen Schritt weiter : »Vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit, Uraufführung 1988 am Schauspiel Bonn,92 also kurz vor der Neuauflage des deutschen Einheits- und Vereinigungswahns,« lese »sich das Stück beinahe als beunruhigende Umkehrung von Zeiterfahrung und ästhetischer Bearbeitung«.93 Hörbar allerdings wird von diesen Stimmen mehr der Ton als der Gehalt. Sie werden – das gilt ganz zentral für Hölderlin – zu ›Rhythmusgebern‹, wirken, so Jelinek, »wie ein Herzschrittmacher oder ein Metronom«.94 Ein mechanischer Rhythmus also bestimmt ihr Sprechen, zwingt sie zusammen zum Paradox einer heterophonen Einstimmigkeit. Antje Johanning äußert daher zurecht die Vermutung, dass der Text von Wolken.Heim. »vielstimmig, möglicherweise sogar chorisch« zu sprechen sei.95 Christina Schmidt bestätigt diese Vermutung durch den Hinweis auf die »Undarstellbarkeit dieser vielstimmigen Rede«, der »auf dem Theater die vielgestaltige Figur des Chores« entspreche.96 Vernehmbar werde dadurch, so Schmidt in Anlehnung an Roland Barthes, ein ›Rauschen‹, das »die Aufmerksamkeit des Zuhörers zwischen einem Auf-den-Text-Hören und einem eher musikalischen Hören auf den Klang der Stimmen« teile97 und auf diese Weise auf »die Geste des Sprechens selbst« zeige, »eines Sprechens, das eben nicht im Dienst der Darstellung, des individuellen Ausdrucks« stehe.98 Eine minimale zeitliche Versetztheit der Stimmen erzeugt zudem einen Nachhall, einen Echoeffekt, der »eine Nachträglichkeit nicht nur von Klang, sondern auch von Sinn hörbar« macht.99 Ein Zitat aus Wolken.Heim., in dem nebenbei auch das bei Jelinek stark präsente Untoten-Motiv erklingt, soll dies abschließend belegen: Wir sind bei uns, erdentrückt. Auf der Erde kommen wir nicht zur Ruh, noch als Begrabene bleiben wir gegenwärtig, und wir kommen wieder, wir kommen wieder! Der Boden ist unser Übergang, hinüber ans Ende der Zeiten. Das Ende der Geschichte ist 92 Das Stück wurde am 21. September 1988 am Schauspiel Bonn mit der Regie von Hans Hoffer uraufgeführt. Vgl. Janke, Werkverzeichnis Elfriede Jelinek, S. 94. 93 Schmidt, ›Chor der Untoten‹, S. 223. Vgl. dazu besonders Georg Stanitzek, ›Kuckuck‹, in Dirk Baecker, Rembert Hüser und Georg Stanitzek, Gelegenheit. Diebe. 3 x Deutsche Motive (Bielefeld: Haux, 1991), S. 11–80. 94 Franz Fend, Wolfgang Huber-Lang, »›Eine lautlose Implosion«: Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek über »Wolken.Heim.«, europäische Visionen, österreichische Literatur und deutsche Heimaterde‹, Theater Phönix. Zeitschrift für dramatische Kultur, 73 (1994), S. 4. 95 Johanning, KörperStücke, S. 94. 96 Schmidt, ›Chor der Untoten‹, S. 229. 97 Christina Schmidt, ›SPRECHEN SEIN: Elfriede Jelineks Theater der Sprachflächen‹, Sprache im technischen Zeitalter, 153 (2000), S. 72. 98 Ebd. Vgl. dazu auch Schmidt, ›Chor der Untoten‹, S. 229f. 99 Schmidt, ›Chor der Untoten’, S. 230.

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uns mißlungen. Sie kommt immer wieder auf uns zu, rasend auf ihren Schienen. Warum stirbt sie nicht? Was haben wir getan? Warum wächst ihr die Hand aus dem Grab? Und zeigt auf uns? Wir wollen vergessen werden. Nur bei uns sind wir zuhaus.100

100 Jelinek, Stecken, Stab und Stangl; Raststätte; Wolken.Heim, S. 144.

Raul Calzoni

›Moments musicaux‹. W.G. Sebald und die Musik »Gefühle mein Freund schrieb Schumann sind Sterne die bloß bei hellem Himmel leiten aber die Vernunft ist eine Magnetnadel die das Schiff treibt bis es zerschellt« (W.G. Sebald, Poesie für das Album)

I.

Der »Sebald-Sound«

Im Falle von W.G. Sebald hat sich das Interesse der Forschung vor allem auf die Intermedialität seiner lyrischen, erzählerischen und essaystischen Werke mit den bildenden Künsten, mit der Photographie und mit dem Film gerichtet.1 Kaum sind aber die inter- und multimedialen Verhältnisse zwischen Musik und Literatur im Œuvre des Autors untersucht worden,2 obwohl zumindest seit dem Erscheinen seines letzten Romans Austerlitz (2001) die Rede von einem dem Erzählten unterliegenden »Sebald-Sound« explizit war und folgendes behauptet wurde: »Wenn diese Prosamusik anhebt, entsteht im Leser augenblicklich die schöne Sicherheit, dass sie ihn über hunderte Seiten sicher tragen wird«.3 Darüber hinaus sei dieser erlesene bezeichnende Sound »gemessen, von un-

1 Mit diesen intermedialen Zusammenhängen hat sich die Sebald-Forschung stark auseinandergesetzt und die Sekundärliteratur ist diesebezüglich sehr umfangreich, vgl. Jo Catling, Richard Hibbit, Lynn Wolff, ›Secondary Bibliography‹, in Saturn’s Moons. W.G. Sebald – A Handbook (Oxford, UK: Legenda, 2011), S. 497–547. 2 Eine besonders interessante Ausnahme, die sich mit den weitreichenden intermedialen Aspekten, inklusive Musik, des Schreibens von W.G. Sebald befasst, bildet Arthur Williams Beitrag ›Some Thoughts on W.G. Sebald, Drawing, Painting, and Music‹, in New German Literature: Life-writing and Dialogue with the Arts, ed. by Julian Preece, Frank Finlay, Ruth J. Owen (Bern: Peter Lang, 2007), S. 51–74. 3 Michael Rutschky, ›Das geschenkte Vergessen. W. G. Sebalds Austerlitz und die Epik der schwarzen Geschichtsphilosophie‹, in Frankfurter Rundschau, 21/03/2001 (http://www.lyrik welt.de/rezensionen/austerlitz-r.htm).

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trüglichem Gespür für Takt und Timing, von melancholischem, also abgedunkeltem Timbre, ernst und unbestechlich klar in jedem Augenblick«.4 Die Vermutung, dass ein Vergleich mit der Musik der Interpretation der literarischen Werke von Sebald dienlich sei, wird nicht nur durch die Sekundärliteratur, sondern auch durch den Lebenslauf und die Selbstaussagen des Autors bestätigt, so wie durch die Tatsache, dass er in fast allen Werken Musik direkt oder indirekt thematisiert hat.5 Dementsprechend lohnt sich eine Annäherung an diese »Prosamusik«, um die Rolle des »Sebald-Sounds«, des Rhythmus und der Musik selbst im Werk des Autors bestimmen zu können. Unter Berücksichtigung des Begriffs der Wechselseitigen Erhellung der Künste, bzw. Poesie und Musik, versucht daher dieser Beitrag die Prosa Sebalds zu analysieren. Erst 1917 hat Oskar Walzel die oben erwähnte Formulierung zusammengefasst,6 doch sind deren Auswirkungen noch in der heutigen Theorie der Intertextualität und ferner, mit Bezug auf eine explizit bezeichnete »wechselseitige Erhellung von Literatur und Musik«, in der Komparatistik und in der intermedialen Forschung zu spüren.7 Hinsichtlich der Intertextualität ist übrigens bei Roland Barthes zu lesen: Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen.8

Das gilt für alle Werke Sebalds, die bekanntlich ganz im Zeichen dieser nach Barthes formulierten Theorie der Intertextualität stehen. Eigentlich sind sie Paradebeispiele für das Zusammenwirken verschiedener literarischer, philosophischer und soziologischer Einflüsse auf der einen Seite und musikalischer und multimedalischer Einflüsse zu einem überaus komplexen Themengebiet der traumatischen Erfahrung und des Heimats- und Identitätsverlusts, sowie des Exils, auf der anderen Seite.9 Bereits in diesem Zusammenhang geht es um Leit4 Stefan Lüddemann, ›Der Krieg als Suchbild. Mit Winfried G. Sebald in den Landschaften der Erinnerung‹, in Krieg beginnt in den Köpfen: Literatur und politisches Bewusstsein, hrsg. von Carl-Heinrich Bösling, Lioba Meyer, Angelika Schlosser und Thomas F. Schneide (Göttingen: V& R unipress, 2011), S. 92. 5 Vgl. hierzu die Webseite http://www.wgsebald.de/musik/musik.html. 6 Vgl. Oskar Walzel, Wecheselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe (Berlin: Reuther & Reichard, 1917). 7 Vgl. die folgenden Paradebeispiele: Ulrich Weisstein, ›Die wechselseitige Erhellung von Literatur und Musik: Ein Arbeitsgebiet der Komparatistik‹, Neohelicon, 5 (1978), S. 93–123; Albert Geier, ›Musik in der Literatur. Einflüsse und Analogien‹, in Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, hrsg. von Peter Zima (Darmstadt: WBG, 1995), S. 61–92. 8 Roland Barthes, ›Der Tod des Autors‹, in Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko (Stuttgart: Reclam, 2000), S. 190. 9 Vgl. Stephanie Catani, ›Homo sacer im Exil. Zur Topologie des Exilraums bei Franz Kafka und W.G. Sebald‹, in Topographien der Grenze: Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie, hrsg. von Christoph Kleinschmidt und Christine Hewel (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011), S. 201–212.

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motive, die sich in Sebalds Werken musikalisch wiederholen und die das Erzählte untermauern und rhythmisieren.10 Mit Bezug auf Jean Am¦ry und auf die Opfer der Verfolgung hat Sebald in der Tat die Zeit als die abstrakteste Heimat des Menschen definiert.11 Wie das musikalische Tempo versichert die Zeit eine logische Absicherung des Daseins, wenn sich der Mensch in einer kongruenten Zeitabfolge befindet, aber »die Erfahrung des Terrors bewirkt die Dislokation in der Zeit, der abstraktesten Heimat der Menschen: Fixpunkte sind allein die mit qualvoller Gedächtnis- und Bildschärfe wiederkehrenden traumatischen Szenen«.12 Da »für die Opfer der Verfolgung der rote Faden der Zeit zerrissen«13 ist, können sie die Geschehnisse nicht mehr in eine chronologische Reihenfolge bringen, sondern sie ordnen sich nach ihrer inhaltlichen Wichtigkeit und Intensität. An die musikalische Variation und an die dialogische Struktur der Fuge denkend, verarbeitet z. B. Sebald traumatische Erfahrungen als Fixpunkte der Strukturierung seiner Prosa vor allem in der All’estero betitelten Erzählung aus Schwindel. Gefühle., in den Paul Bereyter und Max Aurach gewidmeten langen Erzählungen der Ausgewanderten, sowie in der Figur des jüdischen Wissenschaftlers Jacques Austerlitz, der im letzten und gleichnamigen Roman Sebalds als heimatloser und zeitloser Wanderer auf die Suche nach seiner Herkunft und seinen Eltern geht.14

II.

Musik in der Literatur

In diesen Werken scheinen für Sebald die Musikparallelen mehr zu sein als nur irgendeine Art von Intermedialität. Daher möchte dieser Beitrag den folgenden Aspekt der »Erzählstimme«15 und der Inter- und Multimedialität bei W.G. Sebald aufgreifen: »Musik in der Literatur« im Sinne von Steven Paul Schers hermeneutischer Theorie. Im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band Lite10 Ausführlich zum Rhythmus im Werk Sebalds vgl. Ben Zimmermann, Narrative Rhythmen der Erzählstimme. Poetologische Modulierungen bei W.G. Sebald (Würzburg: Königshausen & Neumann 2012). 11 Vgl. Christian Poetini, ›Auf den Spuren Jean Am¦rys im Werk von W. G. Sebald‹, in W.G. Sebald: Intertextualität und Topographie, hrsg. von Irene Heidelberger-Leonard und Mireille Tabah (Münster : LIT Verlag: 2008), S. 139–152. 12 W.G. Sebald, ›Mit den Augen des Nachtvogels. Über Jean Am¦ry‹, in Campo Santo, S. 154. 13 W.G. Sebald, ›Mit den Augen des Nachtvogels‹, S. 153–154. 14 Vgl. W.G. Sebald, ›Paul Bereyter‹ und ›Max Aurach‹, in Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen (Frankfurt am Main: Vito von Eichborn, 1992), S. 270–271 und S. 217–355; W.G. Sebald, ›All’estero‹, in Schwindel. Gefühle. (Frankfurt am Main: Vito von Eichborn, 1990), S. 39–160; W.G. Sebald, Austerlitz. Roman (Wien: Hanser, 2001). 15 Zu diesem vielfältigen Begriff vgl. Stimme(n) im Text: narratologische Positionsbestimmungen, hrsg. von Andreas Blödorn, Daniela Langer und Michael Scheffel (Berlin: W. De Gruyter, 2006).

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ratur und Musik: Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes hat Scher drei Kontaktvarianten, die eine grundlegende Systematik möglicher musikalisch-literarischer Korrelationen erlauben, ausführlich beschrieben: »Literatur und Musik«, »Musik und Literatur« und »Musik in der Literatur«.16 Seine grundlegenden Ausführungen sind für eine Untersuchung von Sebalds literarischem Werk wertvoll, weil sie sich ausdrücklich auf Erzählliteratur erstrecken und mögliche intermediale Beziehungen zwischen den beiden Künsten systematisieren. Im Vorwort zum Handbuch sind die Beziehungsmöglichkeiten zwischen literarischen und musikalischen Werken in der folgenden graphischen Übersicht zusammengefasst:17 MUSIK

LITERATUR

(Musikwissenschaft)

(Literaturwissenschaft) musikliterarisches Studium

Literatur in der Musik

Musik und Literatur

Programmusik

Vokalmusik

Musik in der Literatur

Wortmusik musikalische „verbal Form- und music“ Strukturparallelen

Abbildung 1

Versuchen wir diese drei Bereiche näher zu betrachten und sie nachträglich unter besonderer Berücksichitgung der von Werner Wolf im Rahmen der Thematisierung von »Musik in der Literatur« theoretisierten Begriffe der »inter16 Eingeführt sind jedoch diese drei Großbereiche in Steven Paul Scher, ›How Meaningful is »Musical« in Literary Criticism‹, Yearbook of Comparative and General Literature, 21 (1972), S. 52–56. 17 Steven Paul Scher, ›Einleitung: Literatur und Musik – Entwicklung und Stand der Forschung‹, in Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie eines komparatistischen Grenzgebietes, hrsg. von Steven Paul Scher (Berlin: Schmidt, 1984), S. 14.

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textual thematization«, »narrational thematization«, »paratextual thematization« und »contextual thematization« mit Sebalds Werk in Zusammenhang zu bringen.18 Der erste Bereich Schers, »Musik und Literatur«, umfasst Vokalmusik, wie sie sich in der Oper und im Lied, aber auch im Oratorium, im Madrigal oder der Mottete manifestiert. Wort und Musik sind verschmolzen und ein Werk wie z. B. ein Lied wird nur dann als vollständig erachtet, wenn beide Bereiche vorhanden sind und sich gegenseitig durchdringen. Da dieser Bereich vorwiegend von Musikwissenschaftlern bearbeitet ist, wird der Text in diesem Wort-Ton-Geflecht nicht immer ausreichend berücksichtigt. Auch »Literatur in der Musik« gehört vorwiegend zum Forschungsbereich der Musikologen, die die thematischen und strukturellen Einflüsse der Literatur auf die Vertonungen bestimmter Werken erhellen, z. B. Verdi nützte für Maria Stuarda oder Don Carlo literarische Inspirationen, und zwar Friedrich Schillers Tragödien, während auch nicht literarische Programmusik wie Ludwig van Beethovens 6. Simphonie (Pastorale)19 so benannt wird. Das Interesse der Literaturwissenschaft konzentriert sich deswegen auf den Strang der »Musik in der Literatur«, also auf die »Nachahmungsversuche der akustischen Qualität der Musik«, in einem Wort auf die »Wortmusik«, die sich »auf eine fundamentale Affinität beruft, indem organisierter Ton als Grundmaterial für beide Künste dient«.20 Was nicht unter Schers drei Gruppen fällt, sind allerdings Musikerfiguren, musiktheoretische Erwägungen, Einflüsse usw., die mit Bezugnahme auf »Musik in der Literatur« bei Werner Wolfs vielfältigem Begriff der thematization (›Thematisierung‹) auftauchen. Wolf unterscheidet zunächst zwischen »Intertextual thematization«, die vorliegt, wenn die Personen in einem Werk selber über Musik sprechen, und »narrational thematization«, die vorliegt, wenn der Erzähler das tut. »Paratextual thematization« dient als Bezeichnung zum Verweis auf musikalische Sachverhalte in nicht zum Kerntext gehörenden Abschnitten, wie z. B. Fußnoten oder Nachworten. Wenn der Autor in Briefen, Interviews oder Aufsätzen über seine ästhetischen Maximen Auskunft gibt und so einige musikästhetische Intentionen nachvollzogen werden können, ist von einer »contextual thematization« die Rede. Desweiteren 18 Vgl. Werner Wolf, The Musicalization of Fiction: A Study in the Theory and History of Intermediality (Amsterdam: Rodopi, 1999), S. 73–74. Zur Anwendung der theoretischen Perspektiven Schers und Wolfs auf die gegenwärtige Literatur vgl. Meike Reher, Die Darstellung von Musik im zeitgenössischen Englischen Bildungsroman. Peter Ackroyd, Vikram Seth, Richard Powers, Frank Conroy, Paul Auster (Frankfurt am Main: Peter Lang, 2010), insbesondere S. 170–172. 19 Vgl. Raul Calzoni, ›Il Laocoonte sonoro. L’ecfrasi e la musica strumentale di Ludwig van Beethoven‹, in Ecfrasi musicali. Parola e suono nel Romanticismo europeo, hrsg. von Raul Calzoni und Marco Sirtori (Bergamo: Sestante – Bergamo University Press, 2013), S. 59–78. 20 Scher, ›Einleitung‹, 12.

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kann die Art der angeführten Musik unterschieden werden. Es kann allgemein auf unspezifische Musik hingewiesen werden (»general intermedial reference«) oder es wird explizit auf ein spezielles Werk oder eine Gattung verwiesen (»specific intermedial reference«). Implizit ist damit auch gesagt, dass Texte oder Textabschnitte, in denen über Musik in der Form des »telling« nur gesprochen wird, nicht ausreichend sind, um eine Musikalisierung eines Textes zu rechtfertigen. Jedoch kann es ein Indiz für eine weitergehende Untersuchung des Textes darstellen. Dies verdeutlichen die zwei Hauptformen von Werner Wolf: Zum Einen werden im Modus des »telling« explizite Aussagen über Musik gemacht, wie Beschreibungen von Kompositionen oder Musik evozierende Titel. Zum Anderen erscheint auf der Ebene des »showing« eine implizite Approximation an Musik durch eine ihr angenäherte Textgestaltung wie Formen der Imitation, Variation, Fuge oder Sonate. Während die erste Form des »telling« nur Indizcharakter für eine weitere Untersuchung der Musikalisierung von Erzählliteratur hat, ist der Modus des »showing« konstitutiv, um musikalisierte Erzählliteratur adäquat zu erfassen.

III.

›Moments musicaux‹

Im Bereich der »Musik in Literatur« und vor allem im Rahmen der »narrational« und der »intertextual thematization« sowie des »showing« und »telling« von Musik sei hier zuerst an Sebalds ›Moments musicaux‹ erinnnert – also an einen Essay, in dem Oper, Theater und Film emblematisch besprochen werden, und in dem der Autor intersemiotische und intermediale Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Musik andeutet.21 Im Fall von ›Moments musicaux‹ geht es um einen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienenen Artikel, den Sebald am 7. Juli 2001 – also fünf Monate vor seinem Tod – mit dem folgenden Titel veröffentlichte: ›Da steigen sie schon an Bord und heben zu spielen an und zu singen. Moments musicaux: Über die Schrecken des Holzschuhtanzes, den Falschsinger Adam Herz und die Bellini-Begeisterung in einem anderen Urwald‹. Der lange Titel des Artikels hebt diverse Tatsachen, Gelegenheiten und 21 Hansen Löve stellt in Rahmen seiner Untersuchung der russischen Moderne ebenfalls fest, dass multimediale Präsentationen wie Oper, Theater oder Film ein Maximum an intersemiotischen Korrelationen erreichen, indem verbale und akustische Zeichen gleichzeitig und oszillierend präsentiert werden. Vgl. Aage A. Hansen-Lo¨ ve, ›Intermedialita¨ t und Intertextualita¨ t. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne‹, in Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualita¨ t, hrsg. von Wolf Schmid und Wolf-Dieter Stempel (Wien: Institut fu¨r Slawistik der Universita¨ t Wien, 1983), S. 291–360.

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Komponisten hervor,22 die auch an Themen und Motive von Sebalds literarischem Werk anknüpfen, deren Wurzeln in der bayerischen Kindheit des Autors liegen: Es gab ja in dem Dorf W. am Nordrand der Alpen in unmittelbarer Nachkriegszeit außer den gelegentlichen Darbietungen der stark dezimierten Jodlergruppe und dem feierlichen Spiel der gleichfalls nur mehr aus ein paar älteren Gesellen bestehenden Blaskapelle bei der Flurumgangs- und Fronleichnamsprozession tatsächlich so gut wie überhaupt keine Musik. […] Am Sonntag aber hörte ich frühmorgens schon die Rottachtaler oder andere eingeborene Musikanten mit ihren Hackbrettern und Zupfgeigen, denn der Vater, der nur zum Wochenende zu Hause war, hatte eine besondere Vorliebe für diese altbayerische Volksmusik, die für mich in der Rückerinnerung den Charakter von etwas Schauderhaftem angenommen hat, von dem ich weiß, daß es mich verfolgen wird bis in mein Grab.23

Sebald, der später in seinem »staubigen englischen Exil«24 noch davon überzeugt war, dass er seiner »vaterländischen Vorgeschichte […] nie würde entkommen können«,25 hat der Musik in seiner literarischen Produktion unterschiedliche Ziele zugeschrieben, während die Musik selbst bzw. der musikalische Rhythmus die Prosa des Autors strukturell beeinflusst hat. Im Gegensatz zu dem Holzschuhtanz kommt es z. B. im Fall der Oper bei 22 Abgesehen von dem Hinweis auf den falschinger Adam Herz, der jeden Sonntag in der letzten Bankreihe der Kirche St. Michael in Sonthofen gestanden war und der »mit der Inbrust eines von furchtbaren Seelenschmerzen um seinen Verstand gebrachten Menschen die katholischen Kirchenlieder, die er sämtlich auswendig kannte, aus sich heraus[schrie]« (S. 233), bezieht sich der lange Titel des Beitrags direkt und indirekt auf Bellinis I Puritani. Sebald schreibt in seinem Artikel, dass seine Begeisterung für den Komponisten in England, und zwar »im Alter von zweiundzwanzig Jahren im Hause eines Bellinibegeisterten Kollegen in der Fairfield Avenue in Manchester« (S. 235), begonnen hatte. Nichtsdestoweniger sind die Ausdrücke »Da steigen sie schon an Bord und heben zu spielen an und zu singen« und »die Bellini-Begeisterung in einem anderen Urwald« wichtig, weil sie sich auf den Film Fitzcarraldo (1982) des Regisseurs Werner Herzog berufen, in dem Klaus Kinski den Exzentriker Brian Sweeney Fitzgerald spielt, der im Dschungel ein Opernhaus bauen möchte. Sebald erinnert sich in seinem Artikel an die Schlußsequenz des Filmes, wo der Protagonist ein Schiffsdeck zu seinem »Opernhaus« im Urwald für eine einzige Aufführung des berühmten vom Chor begleitete Duett »A te, o cara« (»An dich, oh Teure«) aus I Puritani macht. Wie Sebald schreibt: »Es ist die Stunde der Errettung, in der, ein weiteres Wunder, die Nachricht eintrifft, eine italienische Truppe habe in Manaus eine Oper von Bellini zur Aufführung gebracht, und da kommen sie auch schon in mehreren Kähnen über das Wasser gefahren, steigen an Bord und heben zu spielen an und zu singen. Hinter den spitzen Puritanerhüten ragt die Pappdeckelkulisse der Berge auf, von denen das Libretto behauptet, sie befänden sich in der Gegend von Southampton« (S. 234). Alle Zitate und Seitenangabe aus W.G. Sebald, ›Moments Musicaux‹, in Campo Santo, hrsg. von Sven Meyer (Frankfurt am Main: Fischer, 20132). 23 Ebd., S. 224–225. 24 Ebd., S. 225. 25 Ebd., S. 226.

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Sebald zu einer Austauschbarkeit der medialen Dominanten. Die Oper gilt als Bereich, in dem das Zusammenwirken der Künste eine überzeugende Grenzüberschreitung und eine Ausweitung der Ausdrucksmöglichkeiten zur Folge hat. Dabei ist die Oper als hybride Kunstform ein Gesamtkunstwerk, in dem Bühnenbild, Kostüme und Maske gleichberechtigt neben dem literarischen Original und der Vertonung zusammen wirken. Im Werk Sebalds manifestiert sich das über die Hinweise auf Giuseppe Verdis Aida in der All’estero betitelten Erzählung der Sammlung Schwindel. Gefühle. Nicht nur sind in dieser Erzählung tatsächlich Zitate aus der Oper enthalten, sondern auch die Uraufführungen der Oper in der Arena von Verona im Jahre 1913 beschrieben. Intermedialität ist in diesem Fall durch die plötzliche und verfremdende Einführung folgender Verse aus der Aida in den deutschen Erzählduktus erkennbar : »Gli angeli visitano la scena della disgrazia«. Der Satz bwz. das Zitat ist auch ein Beispiel von »narrational thematization«, weil es Teil eines fugenhaften Gesprächs des Ich-Erzählers mit einem gewissen Salvatore ist, einem italienischen Musikbesessenen, der in Sebalds Erzählung den melancholischen und katastrophalen Begriff der Geschichte wiedergibt und verkörpert.26 Diese Figur ist vermutlich eine Halluzination des Autors, und sie bringt über eine »intertextual thematization« der Musik eine Wahrnehmung der Geschichte mit sich, nach der die Historie selbst mit dem ersten Weltkrieg beendet ist, so wie Salvatore der letzte Überlebende einer von der Technik und dem Krieg zertörten Welt ist: Die Festspiele sind eine Travestie. Darum bringe ich es auch nicht über mich, hineinzugehen an so einem Abend in die Arena, obschon mir die Oper, wie Sie ja wissen, alles bedeutet. Seit mehr als dreißig Jahren, sagte Salvatore, arbeite ich nun bereits in dieser Stadt, und nicht einmal habe ich eine Aufführung gesehen in der Arena. Ich sitze hier heraußen auf der Bra, wo von der Oper nichts zu hören ist. Nicht der Orchesterklang, nicht der Chor, nicht die Stimmen der Sänger. Kein Ton. Ich höre gewissermaßen eine lautlose Oper. La spettacolosa Aida, eine phantastische Nacht auf dem Nil als Stummfilm aus der Zeit vor dem großen Krieg.27

Mit Bezug auf diese Passage bzw. den Hinweis auf den »Stummfilm« ist es kein Zufall, dass Sebald in dem Essay ›Moments musicaux‹ die Bedeutung einer stummen musikalischen Szene seiner Kindheit hervorgehoben hat. Es geht hier um einen Blick auf die Wirklichkeit, der jenem von Salvatore ähnlich ist und die

26 Vgl. Maya Barzilai, ›Melancholia as World History : W.G. Sebald’s Rewriting of Hegel in Die Ringe des Saturn‹, in W.G. Sebald and the Writing of History, hrsg. von Anne Fuchs und Jonathan J. Long (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007), S. 73–89. 27 W.G. Sebald, ›All’estero‹, S. 156.

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Neigung der Deutschen in der Nachkriegszeit zum Schweigen wie zur Verdrängung der Realität und der Vergangenheit verrät:28 Zu den von einer ersten Verschattung der Gefühle begleiteten moments musicaux, die ich bis heute nicht aus dem Sinn bringen konnte, gehört bezeichnenderweise auch eine stumme Szene. In dem einstöckigen Anbau des halbruinierten und nach dem Krieg aufgelassenen alten Bahnhofs von S. gab der Chorregent Zobel zweimal in der Woche am späten Nachmittag Musikunterricht. Besonders in den Wintermonaten, wenn ringsum alles schon finster war, bin ich auf dem Heimweg oft vor dem ehemaligen kleinen Wartesaal stehengeblieben und habe zugeschaut, wie drinnen in dem hellen Lampenlicht der Chorregent, eine schmale und etwas schief gewachsene Figur, die durch die Doppelfenster beinah bis zur Unhörbarkeit gedämpfte Musik dirigierte oder sich über die Schulter des einen oder anderen seiner Schüler beugte.29

»Stille«, »Schweigen« und »stumme Szene«, die die Spannung des Erzählten bei Sebald wie musikalische Pausen reduzieren, ermöglichen es dem Leser, der sich zwischen Wiederholung und Variation der Themen durch Sebalds Werke bewegt, in eine aktive Rolle zu schlüpfen. Die an Thomas Bernhard erinnernden Wiederholungsstrukturen können bei dem Autor als Indiz einer Musikalität verstanden werden, die zu einer »negativen Poetik«30 geführt hat und die das Letimotiv der »totalen Zerstörung« im Werk Sebalds immer wieder bekräftigt.31 In Schwindel. Gefühle. gemahnt übrigens die gleichsam musikalische Wiederholung – es ist wie ein Refrain – des Jahres 1913 für Salvatore an den Zeitpunkt vom Ende der Menschheit: Man könnte sich einbilden, die Zeit sei nicht vergangen, obwohl die Geschichte jetzt ihrem Ende zugeht. Manchmal kommt es mir tatsächlich so vor, als säße die ganze Gesellschaft immer noch zur Feier des unaufhaltsamen Fortschritts im Opernhaus von Kairo.32

28 Vgl. W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur (München-Wien: Hanser 1999), S. 18: »Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden. Die finstersten Aspekte des von der weitaus überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung miterlebten Schlußakts der Zerstörung blieben so ein schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis, das man vielleicht nicht einmal sich selber eingestehen konnte«. 29 Sebald, ›Moments Musicaux‹, S. 228–229. 30 Zu Sebalds und Bernhards Musikalität vgl. Philipp Schönthaler, Negative. Poetik. Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kert¦sz (Bielefeld: Transcript, 2011). 31 W.G. Sebald, Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literatische Beschreibung totaler Zerstörung, in Campo Santo, S. 69–100. Vgl. hierzu, mit besonderer Berücksichtigung des Essays Luftkrieg und Literatur, Stephan Seitz, Geschichte als bricolage: W.G. Sebald und die Poetik des Bastelns (Göttingen: V& R unipress, 2011), S. 92–93. 32 Sebald, ›All’estero‹, S. 156.

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In dieser Darstellung geht der Lauf der Geschichte durcheinander : Die Uraufführung der Aida im Opernhaus von Kairo (1871) und die in der Arena von Verona (1913) werden zur Travestie der Geschichte der Menschheit, und die Welt wird zum Theater, wo die Zeit stehengeblieben ist und alles auf Tod und Zerstörung wartet: Und jezt bricht der Brand aus im Opernhaus. Ein prasselndes Feuer. Krachend verschwindet die Bestuhlung des Parketts mit der gesamten Zuhörerschaft im Orchestergraben. Durch die Rauchschwaden unter der Decke senkt eine unbekannte Figur sich herab. Di morte l’angelo a noi s’appressa. Gi— veggo il ciel dischindiersi [recte: dischiudersi, RC].33

Auf Italienisch wird hier noch einmal ein Vers aus der Aida zitiert, und so werden Musik und Literatur in einer eschatologischen Perspektive miteinander vereinigt.34 Die Musik begleitet und erlaubt hier den Übergang zum Jenseits – angedeutet wird also hier das, was Sebald anhand eines Tierbildes und eines Stilllebens von Jan Peter Tripp »das metaphysische Unterfutter der Realität« genannt hat.35 Die Musik begleitet bei Sebald tatsächlich immer die Übergangsmomente der Menschen, der Menschheit und ferner der Geschichte selbst. So wird in ›Moments Musicaux‹ zumindest an zwei Momente von Sebalds Leben erinnert, die die Rolle der Musik innerhalb einer »narrational thematization« und einer »contextual thematization« im Leben des Autors erklären. Zuerst schreibt Sebald, dass er in seiner Kindheit Zither gespielt habe, obwohl es »eine schlimme Plage«36 für ihn gewesen sei. Doch im Moment des Todes seines geliebten Großvaters nahm er die Zither in die Hand, um den Übergang des Sterbenden musikalisch zu begleiten: Nur ein einziges Mal, am Beschluß, wie es sich erweisen sollte, meiner dreijährigen Zitherlehrzeit, habe ich das mir in zunehmendem Maße verhaßte Instrument freiwillig aus seinem Kasten genommen, als der von mir über alles geliebte Großvater während des ersten Föhnsturms nach dem sibirischen Winter sechsundfünfzig im Sterben lag 33 Sebald, ›All’estero‹, S. 157. 34 Treffend schreibt dazu Patrick Bahners in seiner Rezension zu Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (Frankfurt am Main: Eichborn, 1995) über Sebalds Eschatologie: »Die Eschatologie ohne Apokalypse, wie sie nach seiner Deutung der bürgerlichen Ästhetik Stifters und Handkes zugrunde lag, ersetzt er durch die Apokalypse ohne Eschatologie. Die typologische Geschichtsinterpretation erhält ihre Funktion zurück, aber verbürgt nun eine Unheilsgeschichte. Nicht Aufklärung ist die Pflicht des Künstlers; der ›Verdrängung der Finsternis‹ soll er entgegenwirken«, Patrick Bahners, ›Kaltes Herz. W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn‹, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09. 12. 1995 (287), S. B5. Vgl. hierzu Peter Schmucker, Grenzübertretungen: Intertextualität im Werk von W. G. Sebald (Berlin: De Gruyter, 2012) S. 44f. 35 W.G. Sebald, ›Wie Tag und Nacht – Über die Bilder Jan Peter Tripps‹, in Logis in einem Landhaus (Frankfurt am Main: Fischer, 2000), S. 181. 36 Sebald, ›Moments Musicaux‹, S. 227.

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und ich ihm, der halb schon hinübergedämmert war, die paar Sachen vorspielte, die mir nicht von Grund auf zuwider gewesen sind, zuletzt, wie ich noch weiß, einen langsamen Ländler in C-Dur, der mir beim Spielen bereits, so will es mir jetzt in der Erinnerung erscheinen, so zeitlupenhaft zerdehnt vorgekommen ist, als dürfte er nie ein Ende nehmen.37

IV.

»Grauzonen«: Sebalds Schwellen

In diesem Zusammenhang scheint der »Ort der Musik«38 bei Sebald mit der »Grauzone« zwischen Leben und Tod, wie er mit Bezug auf die Schwarzweißphotographie betont hat, verwandt zu sein.39 Es geht um ein »Territorium«, das Sebalds Figuren sehr gut kennen und zu dem sie zweifellos gehören: Ich glaube, dass die Schwarzweißphotographie bzw. die Grauzonen in der Schwarzweißphotographie genau dieses Territorium bedeuten, das zwischen dem Tod und dem Leben liegt. In der archaischen Phantasie war es ja in der Regel so, dass es also nicht nur das Leben gab und dann den Tod, wie wir das heute vermuten, sondern dass es dazwischen dieses riesige Niemandsland gab, wo die Leute dauernd herumwanderten und wo man nicht genau wusste, wie lang man sich dort aufhalten muss, ob das jetzt das Purgatorium im christlichen Sinne war oder eben so eine Art Wüstenei, die man zu durchqueren hatte, bis man auf die andere Seite kam.40

Die Grauzonen der Schwarzweißfotografie markieren in solcher Hinsicht einen Bereich des Übergangs für diejenigen, die zwar aus dem Leben verschwunden sind, sich aber »irgendwo in diesem Leben noch herumtreiben; in einer sekundären oder uns beigeordneten, übergeordneten, nachgeordneten Form der Existenz«.41 In den von Sebald über die Musik evozierten Grauzonen wird das Territorium dieser Existenz und zugleich »das von der Kunst imaginierte, über 37 Ebd., S. 227–228. 38 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Aesthetik, in Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hrsg. von Thomas Lehnerer (Hamburg: Meiner, 2014), S. 48: »Der Ort der Musik erscheint gleich zweideutig, indem wir sie unter die bildende schwer bringen und zur Noth auch den bloßen Ton als herabgedrückte Sprache ansehen können. Das letzte scheint auch an einem Ort zu geschehen; allein das erste behält die Oberhand, indem Licht und Klang offenbar, im Gebiet der Materie gegenübergestellt, Malerei und Musik geben; und Plastik als Einheit, nicht zwar von Licht und Klang, aber doch der idealen und realen Einheit, welche diese darstellen, steht über beiden. Hier ist schon etwas Verworrenes in der Form«. 39 Vgl. Maria Zinfert, ›Grauzonen. Das Schreiben von W.G. Sebald: Versuchsanordnung mit schwarzweißen Fotografien‹, in »Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment«. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert, hrsg. von Raul Calzoni und Massimo Salgaro (Göttingen: V& R unipress, 2010), S. 321–336. 40 Christian Scholz, »›Aber das Geschriebene ist ja kein wahres Dokument‹: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller W.G. Sebald über Literatur und Photographie«, Neue Zürcher Zeitung, 26. 02. 2000, S. 77. 41 Ebd.

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das Profane erhabene Niemandsland zwischen Leben und Tod«42 sichtbar. Anwesend ist es in seinen Büchern nicht nur innerhalb der eingefügten Fotografien, sondern auch in den erzählten musikalischen Momenten von Sebalds Leben. Sein Schreiben folgt damit der von ihm selbst formulierten Einsicht, dass etwas fehle, »[…] wenn man sich so einrichtet, daß die Haustür versperrt ist, daß niemand zurückkommen kann, aufgrund dieser Furcht vor den Toten«.43 Mit Blick auf die von Sebald behandelten Inhalte lässt sich zweifellos sagen, dass er in seinem Schreiben den Toten über die Musik eine Tür offen hält.44 Wie im Fall des Zitherspielens am Sterbebett seines Großvaters hat die Musik Übergänge zu diesen »Grauzonen« im Leben des Autors geschaffen. Dass die Musik in der Literatur Sebalds diese Rolle spielt, wird auch von den anderen in ›Moments musicaux‹ beschriebenen Erlebnissen des Autors bestätigt, insbesondere dort, wo dem Schriftsteller »das innerste Geheimnis der Musik« erfahrbar wurde: Ich denke nicht, daß ich damals, als Zwölfjähriger, habe erahnen können, was ich viel später in einer der Studien Sigmund Freuds, wenn ich mich nicht täusche, gelesen habe und was mir sogleich einleuchtete, nämlich daß das innerste Geheimnis der Musik eine Geste sei zur Abwehr der Paranoia, dass wir Musik machen, um uns zur Wehr zu setzen gegen die Überflutung durch die Schrecken der Wirklichkeit.45

Wie die Musik im Leben dienen Rhythmus und Wiederholung im Werk Sebalds »zur Abwehr der Paranoia«. Nichtdestoweniger werden sie den Figuren in seinem Erzählwerk zu Wegweisern und Hilfsmitteln. Dank Rhythmus und Wiederholung reisen sie an Orte ihrer Vergangenheit oder an Orte, an denen sich ihnen die Erinnerung an die Vergangenheit scheinbar zufällig und willkürlich offenbart. Das gilt aber auch für Sebald selbst, der in ›Moments musicaux‹ über die Musik in die Vergangenheit reisen kann, um die Toten zu besuchen, wie er in seinem Essay unter Berücksichtigung seines Schullehrers Paul Bereyter, des Protagonisten einer der vier langen Erzählungen der Ausgewanderten, explizit geschrieben hat:

42 W.G. Sebald, ›Helle Bilder und dunkle. Zur Dialektik der Eschatologie bei Stifter und Handke‹, in Die Beschreibung des Unglücks. Zur Österreichischen Literatur von Stifter bis Handke (Frankfurt am Main: Fischer, 1994), S. 184. 43 ›W.G. Sebald im Gespräch mit Volker Hage‹, Akzente, 1/B 5384 (2003), S. 41. 44 Vgl. Michael Krüger, ›Der Heimatschriftsteller. W.G. Sebalds ›Austerlitz‹‹, in Denkbilder und Schaustücke, hrsg. vom Deutschen Literaturarchiv Marbach (Marbach am Neckar : Deutsche Schillergesellschaft, 2006), S. 167: »Er war der einzige ›Heimatschriftsteller‹, der diesen hohen Titel verdient hat. Nur in der Heimat, zu Hause (in der Literatur) spricht man mit den Toten in geziemender Weise. Wenn jemand die Toten verstand und von ihnen verstanden wurde, dann war es Max Sebald«. 45 Sebald, ›Moments musicaux‹, S. 228.

›Moments musicaux‹. W.G. Sebald und die Musik

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Als ich dann viele Jahre später durch einen jener bloßen Zufälle, die es eigentlich nicht gibt, eines Nachts beim Heimfahren das Autoradio anstellte, wie gerade das von Bereyter so oft gespielte Thema aus dem zweiten Satz des Klarinettenquintetts von Brahms erklang und ich es über die ganze vergangene Zeit hinweg wiedererkannte, da wurde ich in diesem Moment des Wiedererkennens gestreift von der in unserem Gefühlsleben so seltenen Sensation einer fast vollkommenen Gewichtslosigkeit.46

Neben der Episode am Sterbebett seines Großvaters und der Erinnerung an den »hohen epiphanischen Wert«47 der Musik und an das nicht zufällige »Gefühl der Leichtigkeit«, das »tatsächlich manchmal der m¦morie involontaire ähnelt«,48 ist in diesem Zusammenhang zumindest ein weiteres Erlebnis Sebalds zu erläutern, weil es in ›Moments musicaux‹ nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive und kulturelle »Grauzone« der Musik konturiert: Die Erinnerung an die Brengenzer Festspiele. In ›Moments musicaux‹ schreibt Sebald darüber : Die Bregenzer Festspiele und der Holzschuhtanz, das war für mich, soweit ich zurückdenken kann, ein und dasselbe gewesen. Wenn man von S. aus mit dem Alpenvogel-Bus nach Bregenz gefahren ist, so ist man gefahren, um sich den Holzschuhtanz anzusehen. Der Holzschuhtanz gehörte ja seinerzeit, zusammen mit gewissen Erzeugnissen des Komponisten Flotow und mit der berühmten Arie aus dem Evangelimann, zu jenen Stücken, die in dem allsonntäglichen Wunschkonzert des Bayerischen Rundfunks, das auch bei uns zu Hause nach der Kinderstunde regelmäßig gehört wurde, immer an der obersten Stelle rangierten. Höchstens die Donkosaken und der Soldat am Wolgastrand konnten da noch mithalten oder der Chor der Gefangenen aus Nabucco.49

Der Soldat am Wolgastrand und der Chor der Gefangenen aus Nabucco sind zwei wichtige Musikstücke aus Sebalds Kindheit, die die individuelle erinnerungserweckende Fähigkeit der Musik auf eine kollektive Ebene emporsteigen lassen. Dass Musik ein Medium der m¦moire involontaire bzw. des individuellen Gedächtnisses ist, wurde mehrmals von und in der Literatur betont – man denke z. B. an Sebalds schon erwähnten »Moment des Wiedererkennens« oder emblematisch an James Joyces Erzählung Eveline aus der Sammlung The Dubliners (1914) –, doch kann sie auch zu einer kollektiven und »musikkulturellen Gedächtnisarbeit« führen.50 Auf dieses Doppelziel scheint das Werk von Sebald

46 Ebd., S. 226. 47 Vgl. W. Krause, W.G. Sebald, ›Die Sensation der Musik‹, in »Auf ungeheuer dünnem Eis«. Gespräche 1971 bis 2001, hrsg. von Torsten Hoffmann (Frankfurt am Main: Fischer, 2011), S. 127: »[…] ich höre relativ selten Musik. Ich habe also weder einen Plattenspieler noch ein Tonband noch sonstige Geräte zu Hause. Und deshalb hat sie für mich einen relativ hohen epiphanischen Wert, wenn ich sie mal höre«. 48 Ben Hutchinson, W.G. Sebald. Die dialektische Imagination (Berlin: De Gruyter, 2009) S. 164. 49 Sebald, ›Moments musicaux‹, S. 228. 50 Ludwig Finscher, ›Werk und Gattung in der Musik als Träger kulturellen Gedächtnisses‹, in

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abzuzielen, weil der Autor einerseits das kollektive Erinnerungspotenzial der Musik und andererseits ihre Rolle im Dritten Reich und in der deutschen Kultur des 20. Jahrhunderts hervorgehoben hat. Dank diesem »telling« über die Musik hat Sebald u. a. bewiesen, dass nach Auschwitz, wie Th.W. Adorno schrieb, den traditionellen ästhetischen Formen, der traditionellen Sprache, dem überlieferten Material der Musik, ja selbst der philosophischen Begriffswelt aus der Zeit zwischen den beiden Kriegen, […] keine rechte Kraft mehr inne[wohnt]. Sie alle werden Lügen gestraft von der Katastrophe jener Gesellschaft, aus der sie hervorgingen.51

Einerseits teilt Sebald diese Überzeugung mit Adorno, andererseits sind die musikalischen Schriften des Frankfurter Philosophen ein Wegweiser für Sebalds Wahrnehmung und Kritik der Musik gewesen. Wie bekannt, sind die ›Moments musicaux‹ auch der Untertitel des 17. Bandes von Adornos Gesammelten Schriften, welcher nach den sechs Klavierstücken betitelt wurde, die 1823–1828 von Franz Schubert geschrieben wurden und im Frühjahr 1828 erschienen. Diese Hommage an Adorno ist deswegen auch ein Hinweis auf einen Komponisten, der mehrmals in dem essayistischen und erzählerischen Werk des Autors52 eine »intertextual« und eine »narrational« Thematisierung gefunden hat und dessen Motive und ästhetischen Formen – ähnlich wie bei Sebald – durch die »Verschattung der Gefühle«53 geprägt sind. Adornos Worte lauten: Seine [Schuberts] Themen sind Erscheinungen von Wahrheitscharakteren, und das Vermögen des Künstlers ist darauf beschränkt, ihr Bild mit Gefühl zu treffen, und nachdem es einmal erschienen, es wieder und wieder zu zitieren. Kein Zitat aber geschieht zur gleichen Zeit, und darum wechselt die Stimmung. Schuberts Formen sind Formen der Beschwörung des einmal Erschienenen, nicht der Verwandlung des Erfundenen.54

51 52

53 54

Kultur und Gedächtnis, hrsg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988), S. 299. Theodor Wiesengrund Adorno, ›Die auferstandene Kultur‹, in Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedermann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986), Bd. 20/2 (Vermischte Schriften), S. 453. Darüber hinaus hat sich Sebald über den Komponisten durch eine »contextual thematization« in einem Interview wie folgt geäußert: »Schubert ist natürlich der Unergründlichste für mich von allen. Es gibt bei Schubert diese seltsame Chromatik, die mich an etwas erinnert, an das ich gar nicht zurückdenken kann, so weit ist das hinter mir. Es hat wahrscheinlich irgend etwas mit alpenländischen Tonfolgen zu tun oder volksmusikhaften Tonfolgen und Halbtonschritten, bei denen man also das Gefühl hat, dass ganze Welten aufgehen, von denen man vorher nichts gewußt hat. Und das ist in diesem langsamen Satz — und ich mag vor allem, meiner Grunddisposition entsprechend, die langsamen Sätze in der Musik -, in diesem langsamen Satz, den Schubert kurz vor seinem Ende komponiert hat, deutlicher als in fast allen seinen anderen Musikstücken«, Kruse, Sebald, ›Die Sensation der Musik‹, S. 132. Sebald, ›Moments musicaux‹, S. 228. Theodor W. Adorno, ›Schubert‹, in Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedermann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982), Bd. 17 (Moments musicaux), S. 27.

›Moments musicaux‹. W.G. Sebald und die Musik

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Als kollektive »Beschwörung des einmal Erschienenen« wirkten nach Sebald in seiner Kindheit die »deutschen Worte der Vapensiero [sic!]«, welche »gewissermaßen die Chiffre gewesen [sind] für das dumpfe Gefühl, das nie laut werden durfte, daß die wirklichen Opfer die Deutschen waren«.55 Das Zitat der Strophe »Teure Heimat, wann seh’ ich dich wieder« (»Patria cara, quando mai ti rivedrý«) aus Va, pensiero eröffnet in Sebalds ›Moments musicaux‹ die Perspektive der »Opfer-Täter-Debatte«56 des zweiten Weltkrieges, weil es Sebald erlaubt, an die Shoah anzuknüpfen. Nach seiner Bezugnahme auf ›die deutschen Opfer‹57 erinnert sich der Autor an eine Bregenzer Nabucco-Aufführung Mitte der neunziger Jahre, bei der man »im Zuge der sogenannten Wiedergutmachung erst auf den Gedanken gekommen [ist], auch den Hebräern ihr Recht werden zu lassen, […] aus den anonymen Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen«.58 Es geht hier um eine fugenartige Form des essaystischen Schreibens, das Sebald mit seinen ›Moments musicaux‹ darbietet, um eine musikalische Arbeit anhand der Erinnerung zu fördern: Täter und Opfer der Geschichte sind die beiden Stimmmen, die das Sujet des deutschen und jüdischen Leidens in der Geschichte wie ein musikalisches Thema variieren und wiederholen. Nach dieser fugenartigen Erzählstruktur, die als Beweis des »showing« von Musik dient, scheint Sebalds ganzes Werk ausgerichtet zu sein, wie die Form seiner Prosa im Falle von Austerlitz klarstellt: Der Roman ist wie ein ›musikalisches‹ Gespräch zwischen dem Protagonisten und dem Ich-Erzähler gegliedert, das geradezu als »Beschwörung des einmal Erschienenen« durch das Gefühl wirkt. Hier ist also eine Fuge, die das Thema der Judenverfolgung von einer Stimme zur anderen fliehen lässt, so wie bei Paul Celans Todesfuge, an die auch viele thematische Anspielungen im Roman zu finden sind.59 Die Todesfuge als musikalische Form der Erinnerung nach Auschwitz ist übrigens ein Modell für Sebalds Erzählung Max Aurach aus den Ausgewanderten gewesen, wo immer wieder intertextuelle Beziehungen der Erzählung mit Celans Gedichten auftauchen. Aus einer poetologischen Perspektive erinnern bereits Sebalds implizite Verweise auf die Musikalität und auf die von der Musik beschworenen »Grauzonen« an Celans 55 Sebald, ›Moments musicaux‹, S. 237. 56 Elena Agazzi, Erinnerte und rekonstruierte Geschichte. Drei Generationen deutscher Schriftsteller und die Fragen der Vergangenheit (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005) S. 7. 57 Vgl. Isabel Capeloa-Gil, »›La Destruction fut ma B¦atrice…«: W.G. Sebalds Poetik der Zerstörung als konstruktives Gedächtnis‹, in Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext, hrsg. von Eva Dewes und Sandra Duhem (Berlin: Akademie Verlag, 2008), S. 311–332. 58 Sebald, ›Moments musicaux‹, S. 237. 59 Vgl. dazu Raul Calzoni, ›Poetica della distruzione e culto delle rovine in Austerlitz di W.G. Sebald‹, in Rovine future. Contributi per ripensare il presente, hrsg. von Davide Borrelli und Paola Di Cori (Mailand: Lampi di stampa, 2010), S. 113–128.

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berühmte Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker. Hier tauchte nach Celan diese »graue Sprache« vom Vergessen und vom Abgrund der Geschichte als konzentriertes Gedächtnis auf: Die deutsche Lyrik geht, glaube ich, andere Wege als die französische. Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem »Schönen«, sie versucht, wahr zu sein. Es ist […] eine Sprache, die unter anderem auch ihre »Musikalität« an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem »Wohlklang« gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte.60

In der langen Erzählung Max Aurach ist ein wichtiger Hinweis auf diese Musikalität und auf die »graue Sprache« der Todesfuge, aber auch anderer Gedichte (z. B. Mandorla) und Sammlungen (z. B. Von Schwelle zu Schwelle und Die Niemandsrose) Celans, die elegante Dame, die Aurach fast täglich besucht und die zur Fokussierung seines Verlusts der deutschen Sprache und seiner völligen Amnesie der Kindheitserinnerungen dient. Aurach beschreibt die Frau wie folgt: So erscheint bei mir fast täglich eine elegante Dame in einem Ballkleid aus grauer Fallschirmseide und mit einem breitkrempigen, mit grauen Rosen besteckten Hut. Kaum setze ich mich, von der Arbeit ermüdet, in meinem Sessel, höre ich ihre Schritte draußen auf dem Pflaster der Gasse. Sie rauscht beim Hoftor herein, an dem Mandelbäumchen vorbei und steht auch schon auf der Schwelle zur Werkstatt. Eilends tritt sie näher wie ein Arzt, der fürchtet, zu spät zu einem auslöschenden Kranken zu kommen.61

In diesem Zusammenhang sei an eine andere »Grauzone« erinnert, die sich in dem gegenwärtigen philosophischen Diskurs etabliert hat und die eine wichtige Bedeutung in Bezug auf die kollektive Wirkung der Musik bei Sebald und Celan innezuhaben scheint. Giorgio Agamben hat in seinem Was von Auschwitz bleibt. Der Archiv und der Zeuge die Begriffe Opfer und Henker, Verantwortung und Schuld mit Bezug auf eine sogennante »Grauzone« thematisiert. Diese Kategorie, die Agamben aus dem Werk Primo Levis entlehnt, sei ein entdecktes »neues ethisches Element«, also die Zone, durch die sich die »lange Verbindungskette zwischen Opfern und Henkern« zieht; wo der Unterdrückte zum Unterdrücker wird und der Henker seinerseits als

60 Paul Celan, ›Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker‹. Wieder gedruckt in Über Paul Celan, hrsg. von Dietlind Meinecke (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973), S. 23–24. 61 Sebald, ›Max Aurach‹, S. 270–271.

›Moments musicaux‹. W.G. Sebald und die Musik

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Opfer erscheint. Eine graue, unaufhörliche Alchemie, in der Gut und Böse und mit ihnen sämtliche Metalle der überkommenen Ethik ihren Schmelzpunkt erreichen.62

Dies gilt auch für Sebalds »Grauzonen« in den Photographien und ebenso für die des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses, die in seinem Werk durch die Musik erhellt werden können. Dabei hat die Rolle der Musik selbst im Dritten Reich geholfen, wie von Sebald in seinem kontroversen Luftkrieg und Literatur hervorgehoben wurde. In diesem Buch zitiert Sebald Auszüge aus Alexander Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 und Hans Erich Nossacks Der Untergang, um zu beweisen, dass die Musik die Phasen der Nazizeit geprägt hat. Das Ende des Dritten Reiches wurde demzufolge nicht zufällig musikalisch begleitet, wie neben Kluge und Nossack auch Klaus Schmidt, Max Frisch und Solly Zuckerman in Sebalds Essay bestätigen.63 Unter diesen Autoren ist folgende Passage aus Nossacks Der Untergang emblematisch, weil sie die künftige Zerstörung der Stadt mit der Erinnerung an eine Hamburger Aufführung von Johann Sebastian Bachs Brandenburgischen Konzerten verbindet: eine blinde Sängerin hatte gesungen: ›Die schwere Leidenszeit beginnt nun abermals.‹ Schlicht und sicher stand sie ans Cembalo gelehnt, und ihre toten Augen blickten über die Nichtigkeiten, um die wir damals schon zitterten, hinweg, vielleicht dahin, wo wir jetzt waren. Und nun umgab uns noch ein steinernes Meer.64

Hier wird über das »telling« die prophetische Macht der Musik angedeutet, die die Zukunft von Hamburg erwähnt. Nichtsdestoweniger ist bei Sebald die Musik immer ein Medium des Gedächtnisses, d. h. eine Kunst, die »ein Sog der Geschichte« eröffnet65 und die jene »Aufblitze des Irrealen in der realen Welt« erscheinen lässt, von denen in Austerlitz zu lesen ist: 62 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003), S. 13. 63 Kluge berichtet, dass das Radio während des Angriffes auf Halberstadt Verdis Aida augestrahlt hat. Schmidt schreibt in Die Brandnacht, dass der Funk kurz vor der Bombardierung Darmstadts Musik von Strauß sendete. Max Frisch gibt in seinen Tagebüchern bekannt, dass er kurz vor einem Angriff auf Berlin an einer Inszienierung der Iphigenie Goethes teilnahm. Der englische Solly Zuckermann, der während der letzten Jahre des Krieges in Berlin wohnte, schreibt in seinem From Apes to Warlords: »In the midst of such shambles only the Germans could produce a magnificent full orchestra and a crowded house of music lovers« (Solly Zuckermann, From Apes to Warlords, London: Hamish Hamilton, 1978, S. 192). 64 Hans Erich Nossack, Der Untergang. Hamburg 1943 (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963), S. 60–61. 65 Vgl. Volker Hage, ›Hitlers pyromanische Phantasien: W. G. Sebald‹, in Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg (Frankfurt am Main: Fischer, 2004), S. 278: »Es ist ein Gefühl der absoluten Leere, ein Bild der Posthistorie. Und man weiß nicht genau, in welche Richtung der Sog einen zieht, zurück in die Vergangenheit oder hinein in die Zukunft. Aber man weiß, daß das, was man als das kollektive Schicksal der Menschheit bezeichnet, sehr viel mit diesen Dingen zu tun hat, mit diesem organisierten Wahnsinn unserer Spezies«.

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Es sei an solchen unwirklichen Erscheinungen […] am Aufblitzen des Irrealen in der realen Welt, an bestimmten Lichteffekten in der vor uns ausgebreiteten Landschaft oder im Auge einer geliebten Person, daß unsere tiefsten Gefühle sich entzündeten oder jedenfalls das, was wir dafür hielten.66

So gewinnt die Musik bei Sebald im Rahmen von Werners intermedialer Theorie des »showing« und »telling« der Musik in der Literatur eine besondere Rolle, die sie von der bildenden Kunst absondert und die an G.E. Lessings Unterscheidung zwischen zeitlichen (Musik und Dichtung) und räumlichen Künsten (Malerei und Bildhauerkunst) in seiner Schrift Laokoon erinnert. Auf unterschiedliche Weise dienen die beiden auch in Sebalds Werk ein und demselben Zweck, und zwar der rhythmischen Thematisierung der »totalen Zerstörung« und der »Unvermeidbarkeit des Endes«, wie der Autor selbst hervorgehoben hat: Die bildende Kunst ist das Statische; und die literarische und die musikalische ist irgendwie das Dynamische, auf das Ende Zutreibende. Und die … das Einbauen, sei es von tatsa¨ chlichen, sei es von geschriebenen Bildern in den Text, ist auch ein Versuch, der Unvermeidbarkeit des Endes wenigstens augenblicksweise das eine oder andere entgegenzusetzen.67

66 Sebald, Austerlitz, S. 135. 67 Krause, Sebald, ›Die Sensation der Musik‹, S. 140.

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Der Titel dieses Beitrags stellt einen – im doppelten Sinn des Wortes – fragwürdigen Zusammenhang her, der von der Übersetzungstheorie – jedenfalls wie sie heute betrieben wird und soweit ich sie durchforstet habe –,2 nicht in Betracht gezogen wird. Von der Musikologie wird dieser Zusammenhang, explizit mindestens seit Adorno, ohne spezifische Begründung – sieht man von der so stereotypen wie irreführenden, wenn nicht paradoxen Behauptung der Universalität von Musik ab – negiert. Die Musik ist andererseits, so Adorno, sprachähnlich, womit sich implizit die Frage der Übersetzbarkeit aufdrängt, aber, so weiter Adorno, das von ihr Gesagte lässt sich von ihr nicht ablösen, da sie kein System aus Zeichen bildet. Dieser Selbst-Bezug eines zeichenlosen Systems wäre demnach die indirekte Begründbarkeit der Unübersetzbarkeit von Musik bzw. der Tatsache, dass Musik weder übersetzt werden kann noch muss.3 Oswald Panagl, der sich seit langem dezidiert mit dem Zusammenhang von Musik und Sprache auseinander setzt, zitiert Adornos Passus in seinen Überlegungen zum »Reden über Musik«.4 Adorno bezieht sich hier offenbar auf die Musik als Abfolge von Tönen und nicht oder nur sekundär auf die Partitur, denn diese besteht zweifellos aus Zeichen. Will man Adorno zugestehen, dass ge1 Dieser Text ist eine überarbeitete Version des am 14. November 2014 an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, anlässlich des Symposions zum 75. Geburtstags von Prof. em. Oswald Panagl, gehaltenen Vortrags. 2 Vgl. pars pro toto Übersetzung – Translation – Traduction. Ein Internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Handbücher zur Sprach-und Kommunikationswissenschaft, hrsg. von Harald Kittel (Berlin: De Gruyter, Band I, 2003, Band II, 2007, Band III, 2011). 3 Es wäre die Mühe wert, über diesen Unterschied nachzudenken: »X nicht übersetzen können« = Unübersetzbarkeit von X; »X nicht übersetzen müssen« = Universalität von X, was aber nicht notwendig Übersetzbarkeit von X impliziert, denn wenn eine Sprache universal ist, in welche nicht-universale Sprache kann man sie dann übersetzen? 4 Oswald Panagl, ›Reden über Musik. Sprachliche Deutung und verbale Analyse als hermeneutisches Problem‹, in Text und Kontext. Theoriemodelle und methodische Verfahren transdisziplinären Vergleich, hsrg. von Oswald Panaglund Ruth Wodak (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004), S. 24. 244. Vgl. Theodor W. Adorno, ›Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren‹, Jahresringe, 56/57 (1966), S. 96.

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spielte, also als Töne produzierte Noten und Notenfolgen keine Zeichen sind, so ist doch die von Adorno behauptete und in der Musikologie allgemein akzeptierte Sprachähnlichkeit im Fall der Partitur augenscheinlich. Die Frage ist, ob die Zeichen eines solchen Notationssystems Bedeutung haben, d. h. ob und was sie bezeichnen. In seinem Beitrag zum »Reden über Musik« liefert Panagl u. a. eine detaillierte Übersicht der Korrespondenzen und Differenzen zwischen Musik und Sprache in insgesamt 12 ausführlich kommentierten Punkten, beginnend mit der genetischen Dimension des Sprachursprungs – die in den jüngeren neurowissenschaftlichen Experimenten ihre zumindest partielle Bestätigung findet –5 über die Organisation der Zeichenproduktion als regelgesteuerter Prozess – die viel diskutierte und von den meisten Musikologen scharf kritisierte Arbeit von Jackendoff und Lerdahl zu einer Generativen Theorie der tonalen Musik6 steht unausgesprochen im Hintergrund – bis zu den Gliederungsprinzipien von textuellen Strukturen. Gerade die spezifische Strukturiertheit ist ein immer wieder heran gezogenes Argument für die Sprachähnlichkeit von Musik. Das wird nicht zuletzt in der Terminologie besonders deutlich: Man spricht von Syntagma (Melodik) und Paradigma (Harmonie und Kontrapunkt), von Sätzen oder Phrasen, von Syntax und Hypotaxe und insgesamt von musikalischer Logik. Zur weiteren Klärung dieser Analogien möchte ich aus der genannten Liste einige Aspekte hervorheben: einmal die Problemkreise des genetischen Zusammenhangs von Musik und Notenschrift bzw. von Sprechen und Schreiben; zum andern die angedeutete Frage nach der Grundfunktion und nach den Nebenfunktionen von Sprache qua Kommunikation sprich Verständigung vs. »Kunst« sprich Dichtung; drittens die Frage, welcher Art die Zeichen der Notenschrift sind, und schließlich die »parallelen Bau- und Gliederungsprinzipien«.7 »Musik ist einer der ältesten und grundlegendsten sozial-kognitiven Bereiche des Menschen. Es ist plausibel, dass die menschlichen musikalischen Fähigkeiten eine phylogenetische Schlüsselrolle für die Evolution von Sprache hatten

5 Vgl. Stefan Koelsch, Tom Fritz, ›Musik verstehen – Eine neurowissenschaftliche Perspektive‹, in Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, hrsg. von Alexander Becker und Matthias Vogel (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007), S. 237–264. 6 Vgl. Fred Lerdahl, Ray Jackendoff, A Generative Theory of Tonal Music, (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1983). Der von der Musikologie erhobene Vorwurf, der strukturalistische Ansatz der Autoren lasse die inhaltliche Dimension von Musik außer Acht, steht allerdings im Widerspruch zu der schon bei Hanslick und Stravinsky vertretenen Auffassung, dass Musik keinen anderen Inhalt als sich selbst habe. Vgl. dazu Susan McClary, ›Retrospect 2002‹, in Feminine Endings: Music, Gender and Sexuality, hrsg. Von Susan McClary (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1991, S. x. 7 Vgl. Panagl, ›Reden über Musik‹, S. 245ff.

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[…]«8 – diese Hypothese ist der Ausgangspunkt für die experimentellen Untersuchungen der Autoren zur Verarbeitung musikalischer Syntax und Semantik, zur Evozierung von Musik und zu ihren direkten Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem. Besonders die Ergebnisse der Tests zur neuronalen Verarbeitung von Akkordfunktionen9 verweisen implizit auf analoge Untersuchungen des in Pavia tätigen Chomsky-Schülers Andrea Moro10 zur Verarbeitung von spezifischen syntaktischen Strukturen, die ihrerseits als Bestätigung von Chomskys cartesianischer Theorie menschlicher Sprachfähigkeit interpretierbar sind, mit der Einschränkung, dass offenbar ein »implizites Wissen über musikalische Regularitäten […] durch alltägliche Hörerfahrungen« auch bei sogenannten Nicht-Musikern vorausgesetzt wird.11 Eine weitere, die Zeichenhaftigkeit von Musik und insbesondere auch den Zusammenhang mit der Übersetzung generell betreffende Frage ist die nach der Grundfunktion von Sprache. Panagl sieht in der Sprache »im Normalfall ein Instrument der Verständigung«.12 Im weiteren wird dann der Normalfall mit der »Grundfunktion« von Sprache gleich gesetzt, der gegenüber der Sprachgebrauch im literarisch-poetischen Text als Nebenfunktion gilt. Ohne dass diese Nebenfunktion explizit erläutert wird, lässt sich schlussfolgern, dass es jedenfalls keine kommunikative Funktion ist. Dies wird durch den Vergleich mit der Musik verdeutlicht, die nur sekundär kommunikative Funktion hat bzw. eine solche haben kann, wie etwa im Fall von Pfeiftönen oder Kennmelodien. Aus dieser »Vertauschung von Grund- und Nebenfunktion« wiederum folgt, dass die Musik primär eine der poetischen Sprache vergleichbare oder analoge Funktion hat. Was nun diese Funktion tatsächlich ist, wollen wir weiter unten zu klären versuchen. Seit der Veröffentlichung von Panagls Beitrag 1997 ist überdies in der Zwischenzeit eine Diskussion um die Frage entstanden, ob die Grundfunktion von Sprache tatsächlich die Kommunikation ist, oder ob Chomsky Recht hat mit seiner Auffassung, dass die menschliche Sprachfähigkeit biogenetisch nicht primär für die Kommunikation angelegt sei (»not designed for communication«), sondern eine generelle Fähigkeit für gewisse symbolische Operationen sei, die wir bei der Konstruktion von Sätzen in Anwendung bringen. Diese Auffassung betrifft, wohlgemerkt, die Grundfunktion von Sprache, und so gesehen stellt sich die Frage, ob die Entwicklung unserer Sprache durch einen selektiven Prozess in Richtung einer Verbesserung der menschlichen Kommunikation 8 Koelsch, Fritz, Musik verstehen, S. 237. 9 Koelsch, Fritz, Musik verstehen, S. 238–240. 10 Vgl. Andrea Moro, I confini di Babele. Il cervello e il mistero delle lingue impossibili (Longanesi: Milano, 2006). 11 Koelsch, Fritz, Musik verstehen, S. 241. 12 Panagl, ›Reden über Musik‹, S. 245, Punkt 3.

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gesteuert ist oder nicht. Nach Chomskys Auffassung ist etwa die hochgradige Ambiguität der natürlichen Sprache ein Argument gegen das Primat der Sprache als Verständigungsmittel. Im Sinne seiner biogenetischen Konzeption von Sprache ist diese eher ein digital strukturierter Verarbeitungsprozess von vorsprachlichem d. h. hier : analog verlaufendem Gedankenmaterial. M. a. W., die kommunikative Funktion wäre eine der primären Funktion nachgeordnete Fähigkeit, und die im Kommunikationsakt entstehende Ambiguität wird erst in der Mitteilung mittels der Sprache aktuell, betrifft also in diesem Sinn letztlich den Empfänger der Mitteilung und nicht den Sender.13 Nicht zuletzt spielt die Frage nach der zeichentheoretischen Typologie von Musik in der Aufführungspraxis eine wichtige Rolle. Panagl14 sieht hier (mit unvermeidlichen Überschneidungen) sowohl ikonische (Vivaldis Jahreszeiten) wie auch indexikalische (Posthornsignale in Schuberts Winterreise Nr. 13 oder, so füge ich ein, Werkzeuggeräusche als musikalische objet trouv¦s in George Gershwins Porgy and Bess) und symbolische Zeichen d. h. musikalische Intertextualität in Form von Zitaten und Motiven (Leitmotive bei Richard Wagner). Was die Zeichenhaftigkeit der Notenschrift betrifft, so möchte ich vorläufig die Hypothese aufstellen, dass Noten zwar keine Referenz aber eine sprechakttheoretisch erfassbare Funktion haben, vergleichbar der von Buchstaben des Alphabets, die als Anweisung zur Aussprache zu lesen sind. Mutatis mutandis wäre das also in unserem Fall die Anweisung, wie eine Note zu spielen oder zu singen ist.15 Aus dem allen wird deutlich, dass ein Musikstück kein Naturprodukt ist, sondern intentional strukturiert ist. Es handelt sich um von Menschen gemachte komplexe Strukturen, die wir ganz allgemein Texte nennen wollen, auch wenn von Bildern oder von Musik die Rede ist. Nach Max Weber ist der Mensch ein in ein selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe verstricktes Wesen, also nicht nur ein Naturprodukt sondern auch eines der Kultur, deren Untersuchung keine experimentelle Wissenschaft ist, sondern die Erläuterung, die Interpretation von 13 Vgl. u. a. Noam Chomsky, Cartesian Linguistics (New York: Harper & Row 1966) und ›Some simple evo-devo theses: How true might they be for language?‹, in The Evolution of Human Language. Biolinguistic Perspectives, ed. by Richard K. Larson, Viviane D¦prez and Hiroko Yamakido (Cambridge: Cambridge University Press, 2010), S. 45–62. (Ich habe diesem Aspekt einen relativ breiten Raum gewidmet, da er im Folgenden, wenn es um die Frage der Übersetzung geht, im Hinblick auf ästhetisch organisierte Texte welcher semiotischen Kategorie auch immer, eine gewisse Rolle spielen wird, nicht zuletzt auch mit Bezug auf Walter Benjamins »Aufgabe des Übersetzers«). 14 Panagl, ›Reden über Musik‹, S. 247. 15 Abgesehen von einer theoretischen Ausarbeitung, die hier nicht geleistet werden kann, lässt sich dieser Aspekt durch die bei Ingold berichtete Episode illustrieren, derzufolge Guido d’Arezzo dem Papst Johannes XIX im Jahre 1028 gezeigt habe, wie man mit Hilfe einer Partitur eine Melodie singen kann, die man vorher noch nie gehört hat. Vgl. Tim Ingold, Lines. A brief history (New York: Routledge, 2007), S. 21.

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gesellschaftlichen Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft, unverständlich erscheinen, wie das der Ethnologe Clifford Geertz im Anschluss an Weber formuliert.16 Wenn demnach derartige Strukturen interpretationsbedürftig sind, dann impliziert man damit, dass sie einen Sinn haben, den man verstehen kann. Nun geht aber die Musikologie davon aus, dass der musikalische Sinn kein Inhalt ist, der sich auch anders zum Ausdruck bringen lässt: »Es ist nichts Bezeichnetes, auf das man sich auch mit anderen Zeichen beziehen könnte. Es ist ein ganz und gar unübersetzbarer Sinn, der sich nur im Medium der Musik, vielleicht sogar nur durch je eine bestimmte Komposition ausdrücken lässt«.17 Das hieße in letzter Konsequenz, dass man Musik nicht nur im engeren Sinn des Wortes nicht übersetzen kann, sondern auch nicht im weiteren Sinn als Interpretation erfassen kann, folglich auch nicht verstehen und ihr letztendlich keinen fassbaren Sinn zuordnen kann. Das ist freilich eine reductio ad absurdum, denn die Praxis lehrt uns anderes. Halten wir immerhin fest, dass das, was man den »vollständigen Sinn« eines musikalischen Satzes nennt,18 das vielleicht evidenteste Beispiel der materiellen Abwesenheit dessen ist, was in der Linguistik in terminologischer Unbestimmtheit bis auf den heutigen Tag als »Textsinn« kursiert. Dies bringt uns auf die von Panagl19 erwähnten parallelen Bau- und Gliederungsprinzipien von der Skala Ton-Motiv-Thema-Periode-Satz zum linguistischen Hierarchie-Schema Laut-Morphem-Wort-Phrase-Satz-Text. Es ließe sich hier eventuell fragen, ob etwa die Symphonie, die traditionell aus mehr als einem Satz besteht, nicht das Pendant zum Text wäre. Aber wahrscheinlich würde eine detailliertere Behandlung eine solche Analogie als Trugschluss entlarven, nicht zuletzt, weil das wahre Problem sich im Übergang vom (verbalen) Satz zum Text verbirgt. Wörter und Sätze gehören zur langue, zum System einer Sprache, der Text ist ein Phänomen der parole. Mit anderen Worten, das generative SyntheseModell von Laut-Morphem-Wort-Satz-Text, wie es von Teun van Dijk explizit vorgeschlagen wurde,20 und wie es bis heute als Platonisches Gespenst durch die Linguistik geistert und implizit als Interlingua-Modell der Maschinellen Übersetzung als Desiderat existiert, ist theoretisch unhaltbar. Nicht zuletzt handelt es sich um ein wisssenschaftsgeschichtlich weitreichendes Missverständnis hin16 Clifford Geertz, »›Deep Play«: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf‹, in Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983), S. 254. 17 Alexander Becker, Matthias Vogel, ›Einleitung der Herausgeber‹, in Musikalischer Sinn, S. 9. 18 Panagl, ›Reden über Musik‹, S. 247 (Panagl zitiert ein musikwissenschaftliches Lexikon). 19 Panagl, ›Reden über Musik‹, Punkt 8, S. 246. 20 Vgl. Teun A. van Dijk, Some Aspects of Textgrammar. A Study in Theoretical Linguistics and Poetics (Hague-Paris: Mouton, 1972).

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sichtlich dessen, was Chomsky mit seiner digital strukturierten Sprachtheorie im Auge hatte (siehe oben). Ohne diesen Punkt zu vertiefen, erinnern wir daran, dass Chomsky in seinen Anfangsjahren in Boston an einem der ersten akademischen Pilotprojekte zur Automatischen Übersetzung mitgearbeitet hat und dass die Veröffentlichung der Syntactic Structures (1957) chronologisch ziemlich genau mit dem berühmt-berüchtigten Georgetown-Experiment (1954), der ersten mediengerechten Vorführung eines vollautomatischen Übersetzungsprogramms, zusammenfällt. Nach der dezidierten und offenbar von der Mehrheit der Musikologen geteilten Auffassung, dass Musik unübersetzbar sei, scheint die von mir hier in Anschlag gebrachte Problemstellung »Musik und Übersetzung« völlig überflüssig. Warum kann es trotzdem sinnvoll sein, diesen Zusammenhang als Frage ins Visier zu nehmen? Der Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass Übersetzen eine Form von Interpretation und Interpretation eine Form des Verstehens ist. Anders gesagt: Verstehen ist eine Voraussetzung des Übersetzens. Welcher Art sind dann die Verstehens- und Interpretationsprozesse von nicht-sprachlichen Texten, d. h. von de facto nicht übersetzbaren aber versteh- bzw. interpretierbaren Texten wie die von Musik und Bildender Kunst.21 Im Folgenden versuchen wir den Zusammenhängen von Übersetzen, Interpretation, Verstehen und Sinn anhand von Beispielen aus drei verschiedenen Zeichensystemen illustrativ nach zu gehen, in der Hoffnung, dass die ungewohnte Fragestellung unerwartete Perspektiven eröffnen kann. Für alle drei Beispiele wurden bewusst »klassische« d. h. vielfach interpretierte Autoren bzw. deren Werke gewählt, um so die terminologische und praktische Fragilität des Text- und Sinnbegriffs deutlich zu machen. Ein kurzer Text von Franz Kafka führt uns die eben angedeutete Unbestimmtheit von Text und Sinn vor Augen: »Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar«.22 Dieser Text lässt sich ohne Zweifel wörtlich d. h. Wort für Wort in jede beliebige Sprache übersetzen23 , auf der Grundlage der kontextuell erschließbaren Bedeutung der einzelnen Wörter und auch der Sätze. Wenn man allerdings zugesteht, dass dieser Text interpretationsbedürftig ist, dann müssen wir die 21 Das Wort Übersetzung ist hier, wie schon bisher, immer im engeren d. h. nicht-intersemiotischen Sinn zu verstehen. 22 Franz Kafka, ›Die Bäume‹, in Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hrsg. Von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann (Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2002), S. 166. (Der Titel ›Die Bäume‹ ist von Max Brod). 23 Google Translator übersetzt den Text ins Englische, Französische, Italienische, Spanische, Katalanische und Japanische fast fehlerfrei.

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Frage des Textsinns in Betracht ziehen. Ohne hier ins Detail zu gehen, lässt sich dies schon auf der Ebene der kohäsiven Elemente exemplifizieren, z. B. beginnt der Text mit einem Konnektor (denn), der auf einen vorangehenden Text verweist. Ähnliche Probleme ergeben sich auf der Ebene der pronominalen Bezüge (wir) und hinsichtlich der logischen Widersprüche (scheinbar, in den jeweils verschiedenen engeren Kontexten). Aus der Bildenden Kunst nehmen wir ein Gemälde zur Hand, das zu den meist analysierten und diskutierten Bilder der Kunstgeschichte gehört: Die Las Meninas (»Die Hoffräulein«) von Diego Velasquez. Analog zur wörtlichen Übersetzung von Kafkas Text können wir die Farben und Formen und deren räumlich-geometrische Beziehungen untereinander verbal beschreiben und einer ersten »oberflächenstrukturellen« Analyse unterziehen, ohne dass wir damit die Zusammenhänge schon notwendig verstanden hätten. Wir könnten – in Unkenntnis der Entstehungs- und Interpretationsgeschichte dieses Bildes – sagen, dass es uns gefällt oder nicht gefällt und dann versuchen, diesen Eindruck zu begründen. Danach sehen wir ein zweites Bild, es ist ein beliebig gewähltes aus der Reihe von 58 Variationen der Las Meninas von Pablo Picasso. Auch dieses Bild können wir beschreiben, und wir können uns überdies Gedanken zum Verhältnis zwischen den beiden Bildern machen, z. B. ob man Picassos Bild als Zitat, als Kopie oder als Variation welcher Art auch immer betrachten kann, als Parodie oder eben auch als Übersetzung bzw. allgemeiner als Interpretation, und ob man den Bezug zum Originalbild z. B. über gewisse rein äußerliche Ähnlichkeiten herstellen kann. Dabei kann es sich um farbliche Bezugsgrößen handeln, wie das Gelb der Infantin im Original und in Picassos Variation, oder um erkennbare Formen – der Hund im Vordergrund – usw.. Stets jedoch bleiben wir damit auf der Oberfläche dessen, was wir sehen, und nach wie vor stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser Variationen d. h. ob und was sie über das »Original« aussagen. Schließlich hören wir die Reprise im 1. Satz der 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven, der wir aus gegebenem Anlass etwas mehr Raum geben wollen. Man kann – auch ohne musikologisches Vorwissen – diesen Auszug als eine Reihe von musikalischen Phrasen erkennen, vielleicht sogar mit strukturellem Bezug zu vorhergehenden Abschnitten, wenn man ein ausreichend geübtes Ohr und also ein entsprechendes kulturelles Vorwissen hat. Auch hier wird man nicht behaupten können, dass man es verstanden hat, sofern man nicht zur Kategorie des musikalischen Experten nach Adorno gehört, der allerdings de facto und exklusiv mit dem Musiker als Komponist oder Ausführender bzw. mit dem MusikKritiker und Musikwissenschaftler identisch wäre.24 Ein Beispiel von explizitem

24 Vgl. Theodor W. Adorno, ›Typen musikalischen Verhaltens‹, in Gesammelte Schriften,

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Verstehen im Sinne von Adorno25 wäre vielleicht das von Nicholas Cook26 entwickelte Verfahren der Rekonstruktion dessen, was er die »emergierende Bedeutung« einer musikalischen Aufführung bezeichnet. Die Basis des Verfahrens ist das »Conceptual Integration Network« (CIN)27 von Turner und Fauconnier, das seinerseits auf Lakoffs und Johnsons Metaphernbegriff beruht.28 Das CINModell hat zwei Grundkomponenten: mögliche Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Musik und Bildvorstellungen, und einen »Verschmelzungsraum«, der die Elemente aus beiden Bereichen zu einer neuen Bedeutung kombiniert. Cook führt nun dieses Modell an Hand eines Werbespots für eine Automarke vor: die filmische Darstellung des Autos (»Übergeordneter Raum«) wird auf den Ebenen des filmischen (»schnelle Bewegung/dynamische Energie/straffer Schnitt«) und des musikalischen Raums (»Tempo/akzentuierte Schwerpunkte/rhythmische Präzision«) analysiert und mit den jeweiligen in Klammern angeführten Eigenschaften mittels Ähnlichkeitskriterien zueinander in Beziehung gesetzt. Der abschließende Schritt betrifft den so genannten Verschmelzungsraum (»Agilität/Präzision/Stil/Prestige«), den man im Hinblick auf die Übertragung dieses Modells auf zwei paradigmatische Beethoven-Interpretationen als »Interpretat« des Werbespots bezeichnen kann. Dieses Modell projiziert Cook, wie gesagt, auf zwei Interpretationsansätze eben dieser Reprise: zum einen diejenigen von Tovey29 und Lam30 , zum andern den von Susan McClary.31 Dem Übergeordneten Raum (die filmische Darstellung des Autos) des Werbespots entsprechen jeweils die (mental evozierte) Darstellung der Szene eines » von Horizont zu Horizont glühenden Himmels in Flammen« bei Tovey und Lam und dem gegenüber der »Ausdruck eines mentalen Zustands (mörderische Wut)« bei McClary. Beide Darstellungen werden auf ihre Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Filmischem und Musikalischem Raum hin untersucht, um dann im

25

26 27 28 29 30 31

Bd. 14, Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, hrsg. von Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 19802 ), S. 178–198. Adorno, ›Typen musikalischen Verhaltens‹, S. 181f.: »Der Experte selbst wäre […] durch gänzlich adäquates Hören zu definieren. Er wäre der voll bewusste Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt«. Vgl. Nicholas Cook, ›Musikalische Bedeutung und Theorie‹, in Musikalischer Sinn, S. 80–128, insbesondere S. 102–108. Vgl. Mark Turner, Gilles Fauconnier, ›Conceptual Integration and Formal Expression‹, Journal of Metaphor and Symbolic Activity, 10 (1995), S. 183–203. Vgl. George Lakoff, Mark Johnson, Metaphors We Live By (Chicago: University of Chicago Press, 1980). Vgl. Donald Tovey, Essays in Musical Analysis (Oxford: Oxford University Press, 1935–39). Basil Lam, ›Ludwig van Beethoven‹, in The Symphony, ed. by Robert Simpson, vol. 1, Haydn to Dvorak (Harmondsworth: Penguin Books, 1966), S. 104–174. Vgl. McClary, Feminine Endings.

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Übergeordneter Raum Darstellung des Citroen ZV 16v

Filmischer Raum

Musikalischer Raum

– schnelle Bewegung – dynamische Energie – straffer Schnitt

– Tempo – akzentuierte Schwerpunkte – rhythmische Präzision

Verschmelzungsraum – Agilität – Präzision – Stil – Prestige

Fig. 1 CIN für eine Autowerbespot (Becker/Vogel 2007, 104) Übergeordneter Raum Darstellung der Szene

Filmischer Raum

Musikalischer Raum

– Helligkeit – grelles Licht – Flackern – Unablässigkeit

– Klangfarbe/Umkehrung/Tonart – fortissimo – Bässe, Pauken – gehaltene Klänge

Verschmelzungsraum – Ferne – Inhumanität – Katastrophe – Schrecken

Fig. 2 CIN für Toveys Beethoven-Interpretation (Becker/Vogel 2007, 105)

Interpretat des Verschmelzungsraums zusammen zu fließen: »Ferne, Inhumanität, Katastrophe, Schrecken« bei Tovey, »eingesperrte Emotionen, Unterdrückung, Drohung, persönliche Gefährdung« bei McClary.32 Ungeachtet der nicht nur chronologisch sondern auch methodologisch divergierenden Ansätze stimmen die Interpretate in dem überein, was McClary als »one of the most horrifyingly violent episodes in the history of music«33 bezeichnet. Zu diesem Schluss kommt die Autorin nach einer psychoanalytisch ausgerichteten musi32 Vgl. McClary, Feminine Endings, S. 102–108. 33 McClary, Feminine Endings, S. 128.

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Übergeordneter Raum Ausdruck eines mentalen Zustands

Filmischer Raum

Musikalischer Raum

– Gewalt – Rücksichtslosigkeit – Behauptung der Identität – Begehren

– arhythmische Akzente – Abwesenheit des Themas – Vermeidung der Kadenz – formale Anforderungen

Verschmelzungsraum – eingesperrte Emotionen – Unterdrückung – Drohung – persönliche Gefährdung

Fig. 3 CIN für McClarys Beethoven-Interpretation (Becker/Vogel 2007, 108)

kologischen Analyse, derzufolge die Reprise des traditionellen Sonatensatzes die Konsolidierung thematischer und tonaler Identität, eine Art »Heimkehr« (homecoming) nach einem glücklich überstandenen Abenteuer darstellt. Doch für »the subject oft the Ninth« – also das in der Literaturwissenschaft, zur Abgrenzung vom Autor, bemühte »lyrische Ich«– bedeutet diese Rückkehr an einen Punkt, der vor dem Beginn des [prä-symbolischen G.A.P.] Bewusstseins liegt: ein für das »kompositorische Ich« (qua »subject of the Ninth«) unerträglicher Zustand, in dem »the consequent juxtaposition of desire and unspeakable violence in this moment that creates its unparalleled fusion of murderous rage and yet a kind of pleasure in its fulfillment of formal demands«.34 Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wenn wir uns mit den Voraussetzungen dieser Interpretation, auch im Vergleich mit den erwähnten, aber nicht näher behandelten Interpretationen von Tovey und Lam auseinandersetzen wollten. Bevor wir zur Frage kommen, die uns hier interessiert, sei noch kritisch angemerkt, dass Cooks Analyse m. E. eine entscheidende Schwachstelle in der Projektion des Werbespot-CIN-Modells auf bildlose musikalische Ereignisse hat: Das CIN-Modell ist insofern schlüssig, als die Ausgangselemente für die Erstellung des Interpretats empirisch zugänglich sind: das Bild des Automobils, die Bewegung im sichtbaren Raum und die hörbare Musik von Mozart. Insofern ist die Analyse schlüssig und das Interpretat plausibel. Die analogen CIN-Modelle der Reprisen-Analyse beruhen jedoch auf zwei rein 34 McClary, Feminine Endings, S. 128: »die konsequente Zusammenstellung von Begehren und unsäglicher Gewalt […] die beispiellose Fusion von mörderischer Wut und eine Art von Vergnügen an der Erfüllung formaler Anforderungen« erzeugt«.

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mentalen Zuständen: die bildhaften Assoziationen im Übergeordneten (»Himmel in Flammen« vs. »mörderische Wut«) und im Filmischen Raum (»Helligkeit/Flackern« etc. vs. »Gewalt/Behauptung der Identität« etc.), deren einziges empirisches Pendant in der Analyse im Musikalischen Raum (»Klangfarbe/Tonart/fortissimo« etc. vs. »Rhythmische Akzente, Abwesenheit des Themas, Vermeidung der Kadenz« etc.) zugänglich ist. So entsteht ein hermeneutischer Zirkel, dessen Schlussfolgerungen in den Prämissen bereits vorgegeben sind. Doch ist das im Kontext unserer Überlegungen nur ein Korollar. Die eigentliche Frage, die sich hier stellt, ist die, wie es möglich ist, aufgrund eines nicht-symbolischen Notationssystems (die Partitur) und der auditiven Realisierung der in der Notationsschrift gegebenen Anweisungen, zu derart weitreichenden Interpretaten zu gelangen. Es ist der selbe grundsätzliche Zweifel, der sich bei den Interpretationen von Bildender Kunst anmeldet. Denken wir etwa an eine der meist zitierten und diskutierten Interpretationen der Las Meninas, die von Michal Foucault: Er versucht in seiner dem Strukturalismus verpflichteten, diesen im Ergebnis aber überschreitenden Analyse zu zeigen, dass das nicht-geometrische aber ideale Zentrum des Bildes in der Abwesenheit des spanischen Königspaares liegt, da dieses nur im Spiegel reflektiert ist. So gesehen sei dieses Bild ein Meta-Bild über die Malerei und als solches selbstbezüglich.35 Damit haben wir den Punkt erreicht, der es nahe legt, auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen, nämlich mit welchen Verstehensprozessen wir es jeweils zu tun haben – wo sie übereinstimmen, wo sie sich unterscheiden und in wie weit sich die Fragen nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Übersetzung jeweils anders stellt. Alle drei Beispiele könnte man – mit Blick auf den »naiven« d. h. von keinem Expertenwissen erleuchteten oder getrübten Leser-, Betrachter- und Hörerstandpunkt – illustrativ mit einem Satz von Ludwig Wittgenstein über Georg Trakls Gedichte zusammenfassen: »Ich verstehe sie nicht, aber ihr Ton beglückt mich.«36 Dieser Satz weist darauf hin, dass wir es offenbar mit zwei Arten des Verstehens zu tun haben: einem intuitiven Verstehen (der Ton beglückt mich) und einem eher rationalen Verstehen (ich verstehe nicht). Diese – schon von Kant37 systematisch behandelte – Zwiespältigkeit, die ja selbst Adorno in seinem

35 Vgl. Michel Foucault, ›Die Hoffräulein‹, in Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974), S. 31–45 und S. 372–377. 36 Ludwig Wittgenstein, Briefe: Briefwechsel mit B. Russell. G. E. Moore, J. M. Keynes, F. P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker, hrsg. von Brian McGuinness und Georg Henrik v. Wright (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980), S. 65. Vgl. dazu auch Ray Monk, Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius (London: Vintage Books, 1990), S. 110. 37 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft Werkausgabe X, hrsg. von Wilhelm Weischedel

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musiksoziologischen Aufsatz zur Typologie des Musikhörens eingesteht, nämlich dass auch der kompetente Hörer neben dem technisch-analytischen einen rein emotionalen Zugang zur Musik nicht verleugnen kann, während der naive Musikliebhaber seinerseits einen wenn zwar nicht »vollständigen« und vielleicht nicht einmal erklärbaren, so doch unleugbaren Verstehenszugang findet,38 hat ohne Zweifel mit der ästhetischen Organisation der gewählten Beispiele zu tun, auch wenn die Grenzen zu den nicht ästhetischen sprachlichen Texten im Hinblick auf den Verstehensprozess unscharf sind, wenn wir etwa an essayistische oder philosophische d. h. nicht im engeren Sinn literarische Texte denken. Im Versuch, einen wie auch immer vorläufigen Abschluss zu finden, bei dem es sich nicht um Schlussfolgerungen im strengen Sinn des Wortes handeln kann, fasse ich das bisher Gesagte in einigen Punkten zusammen. 1. Bei den angeführten Beispielen handelt es sich um intentional strukturierte und daher interpretationsbedürftige und grundsätzlich verstehbare Konstruktionen von Menschen. 2. Die ästhetische Organisation dieser Texte – einschließlich ihrer intersemiotischen Intertextualität – verweist auf einen Sinn, der nicht die Summe seiner konstitutiven Teile ist. Dieser »unaussprechliche« Sinn, um Wittgensteins Tractatus zu bemühen, »zeigt« sich,39 und zwar – so ergänze ich, Wittgensteins Diktum mit Foucaults Las-Meninas-Interpretation lesend – besonders deutlich im Hören von Musik und im Sehen von Bildern in der substantiellen Abwesenheit von Sinn. In der Malerei, in der Bildenden Kunst überhaupt, haben wir Farben und Formen, die keine Zeichen sind: sie haben weder referentielle noch semantische Bedeutung. Obwohl Ort und Personen in den Las Meninas historisch verlässlich rekonstruierbar sind, sind die dort abgebildeten Figuren und Gegenstände weder ikonische noch indexikalische Zeichen, und auch ihre eventuelle symbolische Funktion ist kontextabhängig.40 Im sprachlichen Text zeigt sich der Sinn auf gewissermaßen täuschende Weise: Wir haben Wörterbücher und Satz-Grammatiken, und wäre der Textsinn die Summe der dort angegebenen Bedeutungen, dann wären die Wörterbücher und Satzgrammatiken ausreichende Mittel für die Bestimmung des Textsinnes. Aber wir haben keine Textgrammatiken bzw. nur solche, die textuelle Kohäsi(Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974), hier bes. §VIII ›Von der Ästhetik des Beurteilungsvermögens‹, S. 34–46 und passim. 38 Vgl. Adorno, ›Typen musikalischen Verhaltens‹, S. 187: »…adäquates Hören ist nicht denkbar ohne affektive Besetzung« und S. 198: »Der kann einmal mehr in der Wahrheit sein, der friedlich in den Himmel schaut, als einer, der richtig der Eroica folgt«. 39 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, hrsg. von Gertrude E. M. Anscombe und Rush Rhees (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969), 6.522, S. 114 40 Vgl. etwa Arthur C. Danto, Analytical Philosophy of Action (Cambridge: Cambridge University Press, 1973), S. ix.

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onsmittel zeigen, aber nicht die Kohärenz. Es gibt wohlgeformte Sätze, die sinnlos sind, aber es gibt viele hinsichtlich der Kohäsion nicht wohlgeformte Texte, denen man Kohärenz und also einen Textsinn zuordnen kann. Ein Beispiel in dieser Richtung wäre der Text von Kafka, der nicht kohäsiv ist, da der Konnektor »denn« auf einen voran stehenden Satz verweist, der oberflächenstrukturell nicht repräsentiert ist. 3. Der nicht nur im spezifischen Kontext sondern auch generell interessanteste Fall ist der des Verhältnisses von Partitur und Aufführung. Wir greifen hier auf die Überlegungen von Nelson Goodman über Notationssysteme zurück. Einführend bemerkt Goodman, dass die »Forschung zur strukturalen Linguistik […] durch eine intensive Untersuchung non verbaler Symbolsysteme, von pikturaler Repräsentation […] bis zur Musiknotation […] ergänzt« wird, um zu einem »[…] Verständnis der Modi und Mittel der Bezugnahme und ihrer […] Anwendung in den Verstehensoperationen« zu gelangen.41 Obwohl Goodmans Notationstheorie in einigen Punkten von den im Bisherigen genannten Auffassungen abweicht – so versteht er auch Partituren als symbolische Systeme, wobei er freilich den Symbolbegriff nicht nur nominativ und prädikativ verwendet, sondern darunter auch Sprechhandlungen versteht,42 unter welche die von mir oben vorgeschlagene sprechakttheoretische Anweisung für die Notenschrift subsummierbar wäre – möchte ich Goodmans Partiturdefinition kurz vorstellen, da sie mir in mehrfacher Hinsicht gewinnbringend für unser Thema erscheint. Zu den symbolischen Funktionen der Notation gehört auch die denotative Referenz auf die Aufführung, in Analogie zur Aussprache als denotativer Bezug des Wortes.43 In einem Notationssystem stellt die Partitur einen »Charakter« dar (die Konstituenten, aus denen sich der Charakter zusammensetzt überspringen wir), dessen »Erfüllungsgegenstände« die Aufführungen sind, während die »Erfüllungsklasse« das ist, was man gemeinhin als das Werk bezeichnet.44 Diese terminologischen Unterscheidungen sind wichtig, weil sie dazu beitragen, die nach Goodman wesentliche Funktion einer Partitur zu garantieren: Diese ist nicht nur ein Hilfsmittel für die Aufführung, sondern gewährleistet die Identifikation eines Werks von Aufführung zu Aufführung. Da die Aufführung immer rückführbar auf die Partitur ist, sind sie äquivalent. Anders gesagt, ermöglicht das Notationssystem und die Aufführung die Wiederherstellung der Partitur. Die Aufführung als Interpretation verändert nicht die Erfüllungsklasse (d. i. das Werk), denn »eine Partitur […] kann gar nicht alle

41 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997), S. 9. 42 Goodman, Sprachen der Kunst, S. 149. 43 Goodman, Sprachen der Kunst, S. 139. 44 Goodman, Sprachen der Kunst, S. 166.

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Aspekte der Erfüllungsgegenstände spezifizieren«,45 was u. a. bedeutet, dass auch schlechte Aufführungen der vollständigen Erfüllung der Partitur entsprechen. Auf Grund der Transitivität von Identität genügt jedoch eine einzige falsche Note, um die Funktion der Partitur für die Werkbewahrung außer Kraft zu setzen. Würde man nämlich eine Reihe von Eine-Note-Fehlern (Auslassung, Hinzufügung, Modifikation) tolerieren, könnte das – so Goodmans Beispiel – theoretisch von Beethovens 5. Symphonie zu dem bekannten englischen Kinderlied Three Blind Mice führen.46 Welche Schlussfolgerungen können wir für unsere Zwecke aus Goodmans Theorie ziehen bezüglich der Aspekte, die wir hier zusammen gefasst haben? Vorbehalte stellen sich, wie weiter oben angedeutet, bei seiner Symboldefinition ein, wenn man sie auf Sprechhandlungen projiziert – unter Symbolen versteht man im allgemeinen durch Konvention festgelegte Bedeutungen. Kann man aber behaupten, eine Note habe die Bedeutung »Spiele dieses Note in der im Notationssystem angegebenen Weise«? Ein weiteres Problem ergibt sich bei der Übertragung der Äquivalenzrelation Partitur-Aufführung auf die Relation »Original«–Übersetzung: Letztere ist offenbar keine Äquivalenzrelation, denn weder über die vollautomatische Übersetzung noch über die Humanübersetzung kommt man von einer beliebigen Übersetzung auf das Original zurück. Vor allem divergiert die Bestimmung des »Fehlers« bei der musikalischen Aufführung einerseits und bei der Übersetzung andererseits: sieht man von den notationellen Subsystemen wie Kadenzen oder Tempoanweisungen ab,47 dann ist die Identifizierung der falsch gespielten Note eindeutig. Weniger eindeutig ist die Identifizierung des Fehlers in der Übersetzung: wollte man hier »echte Fehler« von interpretativen Divergenzen unterscheiden, dann würde ich erstere wie Rechtschreibfehler behandeln, die man faktisch wie interpretativ rekonstruierbare Übersetzerentscheidungen klassifizieren kann, da sie die Relation Original-Übersetzung nicht tangieren.48 Fehler charakterisieren einfach schlechte Übersetzungen als »Erfüllungsgegenstände« des Originals, die nichts an ihrer Zugehörigkeit zur »Erfüllungsklasse Original« ändern. Die Unterscheidung von »Übersetzung von Original X« und Nicht-Übersetzung basiert auf einem anderen Paradigma, das etwa Parodie, Plot etc. inkludiert. Goodman berücksichtigt in seinem System z. B. nicht absichtlich falsch gespielte oder gesungene bzw. entsprechend modifizierte Partituren (pars pro toto sei hier 45 46 47 48

Goodman, Sprachen der Kunst, S. 185. Goodman, Sprachen der Kunst, S. 177. Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, S. 175. Vgl. zu diesem Punkt etwa Antoine Berman, L’ffge de la traductiuon. »La t–che du traducteur« de Walter Benjamin en commentaire (Saint-Denis Cedex: Presses Universitaires de Vincennes, 2008), S. 135ff., wo Berman eine Übersetzerentscheidung in Hölderlins Sophokles-Übersetzung kommentiert.

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Cathy Berberian genannt). Akzeptiert man die genannten Unterschiede der Äquivalenzrelationen, dann könnte man sich vielleicht auf die vorläufige terminologische Schlussfolgerung einigen, dass verbale Übersetzungen so wie musikalische Aufführungen Allographen eines jeweils gegebenen (Auto)Graphen sind, derjenige der Partitur und derjenige des Originals. Während dies für die Musik problemlos erscheint – der Graph bleibt stets identifizierbar -, verhält es sich im Fall der Übersetzung etwas anders, wenn man davon ausgeht, dass das Original durch die Übersetzung verändert wird, also nicht mehr als Bezugsgröße erkennbar ist. Doch betrifft die Veränderung in Wahrheit nicht das Original, denn dieses bleibt unverändert. Die Änderung betrifft nur den Sinn, der aber dem Original nicht eingeschrieben ist. Diese definitorischen Schwierigkeiten sind auf die unterschiedlichen Typen von Notationssystemen der Partitur und der natürlichen Sprachen zurück zu führen, die in erster Linie die semantische Ambiguität und nicht zuletzt auch die Gründe für die Unübersetzbarkeit von Musik betreffen. Kann man – in einem ersten Schritt der Analyse – die Note mit einem Buchstaben vergleichen, so gilt das nicht mehr für eine Notenfolge und eine Folge von Buchstaben. Das ist der Grund, warum die Äquivalenzrelationen Partitur-Aufführung und die von Original-Übersetzung unterschiedlich sind: jene ist symmetrisch, diese nicht. Die notationelle Eindeutigkeit der Partitur macht deren Übersetzung nicht nur überflüssig, sie verhindert sie. Man versuche – in einem Gedankenexperiment – die Partitur der oben analysierten Beethoven-Reprise in eine z. B. mittelalterliche oder japanische Partitur zu übersetzen: Bestenfalls handelt es sich um eine Transkription, wie sich das sofort zeigen würde, wollte man die transkribierte Partitur »auf Japanisch« spielen. Die umgeschriebene Partitur wäre eine Kopie, die Aufführung ein Erfüllungsgegenstand der selben Erfüllungsklasse im Sinne von Goodman. 4. Musik und Bild kann man nicht übersetzen, jedoch sowohl intrasemiotisch als auch intersemiotisch interpretieren. Sprachliche Texte kann man in allen Sprachen interpretieren, einschließlich der Sprache des Originals. Übersetzen kann man sprachliche Texte in alle Sprachen, außer in die Sprache des Originals. Eine solche Übersetzung wäre eine Kopie, aber keine Interpretation. Sie hätte keinen erkenntnistheoretischen Wert, ganz als wäre sie eine Übersetzung mit vollständiger Äquivalenz in allen ihren Teilen. 5. Das tertium comparationis der Übersetzung ist der Textsinn, der als solcher keine materielle Spur im Original hat. Der Sinn des Originals wird indirekt zugänglich in den übersetzerischen Entscheidungen als metasprachlichen Operationen. Die Interpretation von Musik mittels der faktischen Ausführung der Partitur weist auf die Unikalität eines nicht nur musikalisch latenten, sondern eines Text-Sinnes überhaupt hin: »Was aber überhaupt nicht rekonstruierbar ist […], ist die musikalische Interpretation in ihrem konkreten Vollzug.

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Dieses Faktum wiederum verunsichert alles das, was an Konkretem konkret bestimmt werden kann«, schreibt Gernot Gruber, mit Bezug auf ein missglücktes Konzert 1821 in Wien, bei dem Schubert »an die Grenze einer Erwartung geselligen Musizierens im Biedermeier« gelangt sei.49 6. Die Unbestimmtheit des Textsinnes, in deren Folge jedes Interpretat wiederum zum Interpretandum wird, entspricht der von Walter Benjamin benützten Metapher über das Verhältnis von Original und Übersetzung: Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung das Original flüchtig und nur im unendlichen kleinen Punkt des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.50

7. Die Aufgabe des Übersetzers und der Übersetzerin,51 besteht nach Benjamin nicht in der Wiedergabe einer Mitteilung, sondern in der Richtung auf eine von ihm so genannte höhere oder auch reine Sprache, womit er eine Sprache meint, die nichts mitteilt, die sich auf sich selbst bezieht. Entzieht man dem SelbstBezug der Sprache die mystifizierende Lesart – die sich auch in Wittgensteins vollständigem Tractatus-Zitat anbietet, denn das Unaussprechliche, das sich zeigt, ist »das Mystische« –52 dann lässt sich daraus eine sprachphilosophische Orientierung des Übersetzens heraus lesen, die mutatis mutandis mit Chomskys Sprachtheorie korrespondiert, aber auch Derridas dekonstruktivistische Zeichentheorie impliziert, derzufolge die Sprache kein Werkzeug ist, sondern eine Dimension, in der wir leben.53 Das bedeutet auch, das der Textsinn nicht außerhalb der Texte zu suchen ist, sondern die Handlung des Schreibens selbst jeweils ein Zeichen schafft, das seinerseits eine heterogene Einheit darstellt, da das Bezeichnete ein Sinn oder ein Gegenstand ist, ohne wiederum ein Bezeichnendes zu sein. Auf die musikalische Aufführung und auf die Übersetzung angewendet heißt das nichts anderes, als dass jede Aufführung und jede Über49 Vgl. Gernot Gruber, ›Text und Kontext in der Musik: Zum »Gesang der Geister über den Wassern« (Goethe/Schubert)‹, in Text und Kontext, S. 241. 50 Walter Benjamin, ›Die Aufgabe des Übersetzers‹, in Gesammelte Schriften Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1, (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972), S. 19f. 51 Ich hebe diese inklusive Form mit Blick auf Ingeborg Bachmanns Ezählung Simultan hervor, wo die Simultanübersetzerin eine entsubjektivierte »Übersetzungsmaschine« ist, deren Aufgabe es ist, die Gedanken bzw. Äusserungen der »männlichen« Originale getreulich zu reproduzieren, im Gegensatz zu dem, was Benjamin als die Aufgabe und das Ziel der (literarischen) Übersetzung betrachtet. 52 Vgl. Fussnote 39. 53 Vgl. Richard Rorty, ›Philosphy as a kind of Writing: An Essay on Derrida‹, in Pragmatism. A Reader, hrsg. von Louis Menand (New York: Vintage Books, 1997), S. 304–328, insbesondere S. 318.

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setzung eine Interpretation ist, deren Bewertung durch eine weitere Interpretation, d. h. durch eine weitere Aufführung und Übersetzung oder durch eine explizit metasprachliche Übersetzungskritik erfolgt.54 8. Angeblich findet man gewisse Problemlösungen im Schlaf. So soll Einstein seine Formel für die Relativität im Schlaf gefunden haben. Ich habe bei einer Flugreise, nachdem ich Immanuel Kants von mir genau gelesene aber nur ungenau verstandene Kritik der Urteilskraft deprimiert zur Seite gelegt hatte, solcherart gedemütigt und gewissermassen Trost suchend in den geistigen Niederungen einer der dort verfügbaren ephemeren Zeitschriften geblättert und dort den lakonischen Satz einer Popsängerin und Komponistin gefunden: »Musik meint sich selbst.« Das wäre ein fast idealer Schluss-Satz für die bisherigen Erläuterungen zum Verhältnis von Musik und Übersetzung. Wollte man diese wenn nicht überflüssige so doch tendenziell irreführende Problemstellung ad oculos ad absurdum führen, so könnte man voranstehendes Gedankenexperiment der Partiturübersetzungen bzw. – transkriptionen durch eine Übersetzung einer der zahlreichen Interpretationen dieser Symphonie ins Japanische ergänzen. Offenbar handelt es sich nur bei den ersten zwei Experimenten (Übersetzung der Partitur und deren Aufführung) um Fälle eines missglückten Sprachspiels. Wittgenstein führt in der Liste der Sprachspiele ohne nähere Erläuterungen die Übersetzung an. Wie auch immer dieses Sprachspiel aussehen mag, so muss es doch, so denke ich, wie wahrscheinlich alle Sprachspiele ein Frage-Anwort-Spiel sein, nach dem Muster »Was soll ich tun?«, »Welche Aufgabe soll ich lösen?«. Das einzige Beispiel, das Wittgenstein näher erläutert, ist jenes des »Befehlens«, das implizit von der Frage des Arbeiters ausgeht »Was soll ich tun?« und mit der Antwort »Bring diesen Stein da/dorthin!«. Die Aufgaben eins und zwei an die Übersetzung sind unlösbar.55

54 Vgl. zu Derridas zeichentheoretischem Entwurf, Jaques Derrida, De la Grammatologie (Paris: Les Êditions de Minuite, 1967), S. 30: »[…] le signe doit Þtre l’unit¦ d’une h¦t¦rog¦n¦it¦?, puisque le signifi¦ (sens ou chose, noÀme ou r¦alit¦) n’est pas en soi un significant […]«. 55 Ich vermute übrigens, dass das Vorbild genau dieses Sprachspiels und vielleicht der Idee des Sprachspiels überhaupt nicht nur und nicht primär auf seiner indirekten, über Saffra vermittelte Kenntnis von Antonio Gramsci beruht, sondern auf Brueghels Bild vom Turmbau zu Babel, das Wittgenstein mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann einmal in seinen Wiener Jahren im Kunsthistorischen Museum gesehen hat. Im Vordergrund sind die steinetragenden Arbeiter und eine Figur zu sehen, die man als den Vorarbeiter oder Architekten, jedenfalls als den sehen kann, der den Arbeitern ihre Aufgaben zuteilt.

Die Autoren

Siglind Bruhn ist Konzertpianistin und Musikwissenschaftlerin. Sie arbeitet seit 1993 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am geisteswissenschaftlichen Forschungsinstitut der us-amerikanischen Universität von Michigan. Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, besonders in ihrer Beziehung zu Literatur, bildender Kunst und Religion. Ihre zahlreichen Buchpublikationen umfassen über 25 Titel in deutscher und englischer Sprache. 2001 wurde sie als ordentliches Mitglied in die Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste gewählt, 2008 verlieh ihr die Linnaeus-Universität in Schweden die Ehrendoktorwürde. Für die Jahre 2014–2017 versieht sie eine Gastprofessur an der Musikakademie Krakau (Polen). Raul Calzoni ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bergamo. Seine Forschungsschwerpunkte sind: die deutsche Klassik und Romantik; die deutsche und die österreichische Gegenwartsliteratur ; Beziehungen zwischen Literatur und den anderen Künsten; Visual Studies und Memory Studies; Literatur und Wissenschaft. Jüngste Buchveröffentlichungen: »Ein in der Phantasie durchgefu¨ hrtes Experiment«: Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert, hrsg. mit M. Salgaro (Göttingen 2010); La letteratura tedesca del secondo dopoguerra. L’et— delle macerie e della ricostuzione (1945–1961) (Rom 2013); Ecfrasi musicali. Parola e suono nel Romanticismo europeo, hrsg. mit M. Sirtori (Bergamo 2013); Monstrous Anatomies. Literary and Scientific Imagination in Britain and Germany during the Long Nineteenth Century, hrsg. mit G. Perletti (Göttingen 2015). Guglielmo Gabbiadini, Dr. phil., studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Bergamo (2003–2009) und promovierte dort im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft (2013). Derzeit ist er »Cultore della Materia« an der Universität Bergamo und Post Doc-Stipendiat der Alexander von HumboldtStiftung beim IZEA in Halle. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung (bes. W. von

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Die Autoren

Humboldt, Chr. F. Gellert, F. M. von Klinger, Moralische Wochenschriften) und 20. Jahrhundert (F. Fühmann, Th. Kling). Zu seinen zuletzt erschienenen Publikationen zählen die Herausgeberschaft Franz Fühmann, E.T.A. Hoffmann e l’eredit— del romanticismo. Saggi critici e discorsi (Pasian di Prato 2013) sowie die Monographie Il mito del duale. Antropologia e letteratura in Wilhelm von Humboldt (Mailand 2014). Albert Gier studierte in Bonn und Montpellier Romanistik, Germanistik, Mittellatein und Kunstgeschichte. Promotion in Bonn 1976, Habilitation in Heidelberg 1984. Professor für Romanische Philologie (Literaturwissenschaft) in Heidelberg, Frankfurt/M., seit 1988 in Bamberg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: französische und italienische Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jh.; Opern- und Operettenlibretti; Beziehungen zwischen Literatur und Musik. Jüngste Buchveröffentlichungen: Werkstattberichte. Theorie und Typologie des Argomento im italienischen Opernlibretto des Barock (Bamberg 2012); Musicorum, 12 (2012), Richard Wagner, »Die Meistersinger von Nürnberg«, hrsg. von A. Gier ; Wär’ es auch nichts als ein Augenblick. Poetik und Dramaturgie der komischen Operette (Bamberg 2014). Peter Kofler ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Verona. Seine Forschungsschwerpunkte sind: das 18. Jahrhundert (Reiseliteratur ; die Rezeption italienischer und englischer Literatur in Deutschland; Wieland, Goethe, Lessing, Jagemann, Heinse); die deutsche Literatur um 1900 (Fontane, Musil, Hofmannsthal, Kafka, Celan); Geschichte, Theorie und Didaktik des literarischen Übersetzens; Beziehungen zwischen Literatur und den anderen Künsten. Federica La Manna ist Professorin für Deutsche Literatur an der Universität Kalabrien (Cosenza). Sie hat sich mit den musikalischen und ästhetischen Werken von Wackenroder in einer gerade erschienenen italienischen kommentierten Ausgabe beschäftigt (Wackenroder, Opere e lettere, Mailand 2014, hrsg. von E. Agazzi). Sie hat Arbeiten zur deutschen Aufklärung und Romantik veröffentlicht, insbesondere zu den anthropologischen Fragen der Spätaufklärung. Veröffentlichungen u. a.: »pi¾ solitario d’un lupo«. Tipologia del Melanconico nel Settecento tedesco (Lecce 2002); Gusto dell’Antico e cultura neoclassica in Italia e in Germania, hrsg. von F. La Manna (Rende 2006); »Commercium«. Scambi culturali italo-tedeschi nel XVIII secolo. Deutsch-italienischer Kulturaustausch im 18. Jahrhundert, hrsg. von F. La Manna (Florenz 2000); Sineddoche dell’anima. Il volto nel dibattito tedesco del Settecento (Mailand 2012).

Die Autoren

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Micaela Latini lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Universität »Cassino e Lazio meridionale«. Veröffentlichungen: Il possibile e il marginale. Studio su Ernst Bloch (Mailand 2006); La pagina bianca. Thomas Bernhard e il paradosso della scrittura (Mailand 2011), Fassung davon erscheint demnächst bei Königshausen und Neumann (2015); Il museo degli errori. Thomas Bernhard e gli antichi maestri (Mailand 2012), Fassung davon erscheint demnächst bei Königshausen und Neumann (2015); Dieci anni di estetica tedesca (zusammen mit A. Campo, Palermo 2013). Sie ist Herausgeberin einer neuen italienischen Ausgabe von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (L’uomo senza qualit—, Rom 2013) und, zusammen mit A. Meccariello, einer Arbeit über Günther Anders (L’uomo e la sua fine. Saggi su Günther Anders, Triest 2014). Übersetzungen: Ernst Blochs Literarische Aufsätze (Ornamenti, Rom 2013) und (zusammen mit T. Griffero) Joachim Ritters Ästhetische Vorlesungen (Estetica e modernit—, Mailand 2013). Gustav-Adolf Pogatschnigg studierte Germanistik, Indogermanistik und Theoretische Linguistik in Salzburg und Konstanz. Von 2001 bis 2014 war er Professor am Institut für Germanistik der Universität Bergamo (Italien). Lehrund Forschungstätigkeit in Konstanz, Tokyo, Nagoya und Hiroshima. Forschungsschwerpunkte: Österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Übersetzungstheorie, Propagandasprache der sogenannten Achse ›Rom-BerlinTokyo‹. Veröffentlichungen zur theoretischen und historischen Linguistik (Frage-Antwort-Semantik, Übersetzungstheorie, mittelalterliche Mystik) und zur österreichischen Literatur (Sealsfield, Stifter, Trakl, Aichinger, Bachmann, Bernhard). Zuletzt: Yoko Tawada: Schreiben im interkulturellen Zwischenraum, hrsg. gemeinsam mit Masahiko Tsuchiya (Nagoya 2004); Dopo Hiroshima. Esperienza e rapprensentazione letteraria, hrsg. (Verona 2007); ›Die Aufgabe der Ungaretti-Übersetzerin Ingeborg Bachmann‹, in Sprachkunst, 1/40 (2009). Valentina Savietto, M.A., studierte Germanistik und Romanistik in Padua und Würzburg, dazu Musik. Seit 2012 arbeitet sie in ›Cotutelle de ThÀse‹ an den Universitäten Verona und Bamberg über die Künstlerthematik im Erzählwerk Klaus Manns. Sie ist Autorin von Aufsätzen zu E.T.A. Hoffmanns Kreisleriana, den musikalischen Strukturen in Thomas Manns Doktor Faustus, den literarischen Anfängen Klaus Manns sowie zur antikanonischen Wagner-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert. Sie hielt Vorträge im Rahmen der Tagungen der jungen Thomas-Mann-Forscher sowie über die intermedialen Beziehungen in MusikerRomanen. Komparatistische Arbeiten, wie im Fall von Paul Heyses Italienischem Liederbuch. Zur Zeit beschäftigt sie sich mit intermedialen Beziehungen, u. a. zwischen Tanz und Literatur. Forschungsschwerpunkte: die Familie Mann, In-

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Die Autoren

termedialität (Literatur/Musik), E.T.A. Hoffmann, die Nietzsche-Wagner-Rezeption, Paul Heyse. Sie ist Mitbegründerin der Klaus-Mann-Initiative Berlin. Frank Weiher studierte Germanistik und Philosophie an der Heinrich-HeineUniversität. 2009 gründete er zusammen mit Prof. Dr. Volkmar Hansen u. a. die Thomas ›Mann-Gesellschaft Düsseldorf‹, wo er seitdem im Vorstand tätig ist. Seine Forschungsschwerpunkte sind Thomas Mann, Richard Wagner, Intermedialität (Literatur und Musik) und Vampirismus. Neuste Publikationen: ›Die Kastration des Pfählers. Über Dracula und Twilight‹, in Die Textualität der Kultur. Gegenstände, Methoden, Probleme der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung, hrsg. von Christian Baier und Nina Benkert (Bamberg 2014) und ›Die dichterische Bedeutung Richard Wagners für Thomas Mann‹, in Richard Wagner – ein einmaliger Rezeptionsfall, hrsg. von Berta Raposo (Heidelberg 2014).