Geschlecht und Heimerziehung: Eine erziehungswissenschaftliche und feministische Dekonstruktion (1900 bis heute) 9783839444993

Situated between education theory, social pedagogy and historical gender studies, this study contributes decisively to f

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Geschlecht und Heimerziehung: Eine erziehungswissenschaftliche und feministische Dekonstruktion (1900 bis heute)
 9783839444993

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Revision I: Statt eines Vorworts
Einleitung: Geschlecht und Heimerziehung erforschen
1. Geschlecht als weibliches Geschlecht – eine genealogische Rekonstruktion von Geschlecht und Heimerziehung
2. Die unmögliche Methode – erkenntnistheoretische und methodologische Perspektive
3. Grammatik des Sehens
Revision II: Differenz und Angewiesenheit von Heimerziehung und Empirie
Anhang I: Befragung zur Mediennutzung
Anhang II: Instagram
Literatur

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Jeannette Windheuser Geschlecht und Heimerziehung

Historische Geschlechterforschung  | Band 1

Jeannette Windheuser (Dr. phil.), geb. 1983, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft/Theorie der Bildung von Prof. Dr. Rita Casale an der Bergischen Universität Wuppertal. Unter anderem leitet sie das Projekt »Sexuelle Bildung angehender Lehrer/innen«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Erziehungstheorie, Wissenschaftstheorie und Disziplingeschichte sowie theoretische und historische Geschlechterforschung.

Jeannette Windheuser

Geschlecht und Heimerziehung Eine erziehungswissenschaftliche und feministische Dekonstruktion (1900 bis heute)

Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer von der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal angenommenen Dissertation. 1. Gutachterin: Prof. Dr. Rita Casale 2. Gutachter: Prof. Dr. Fabian Kessl Tag der Disputation: 21.02.2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Montage von Robert Kneschke und Jeannette Windheuser unter Verwendung einer Fotografie von tomertu/Adobe Stock Lektorat: Catrin Dingler Satz: Johannes Aumann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4499-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4499-3 https://doi.org/10.14361/9783839444993 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Danksagung  | 9 Revision I: Statt eines Vorworts  | 11 Einleitung: Geschlecht und Heimerziehung erforschen  | 17

1. G eschlecht als weibliches G eschlecht – eine genealogische R ekonstruk tion von G eschlecht und H eimerziehung  | 23 1.1 Das abweichende Geschlecht. Frauenbewegte Soziale Arbeit und ihre Transformation im Nationalsozialismus  | 32 1.1.1 Frauenbewegte Soziale Arbeit ohne Heimerziehung | 37 1.1.2 Nationalsozialismus und Fürsorge | 40 1.1.3 Die Kategorie Geschlecht in frauenbewegter Sozialarbeit, Fürsorgeerziehung und unter dem Nationalsozialismus | 43

1.2 Koedukation und Parteiliche Mädchenarbeit als Spannungsfeld der zweiten Frauenbewegung  | 54 1.2.1 Die Nachkriegszeit als Ausgangsbedingung für Widerstand in Heimerziehung und Geschlechterverhältnis | 55 1.2.2 Heimkampagne und zweite Frauenbewegung | 61 1.2.3 Mädchenhausbewegung | 65 1.2.4 Geschlecht in der Heimerziehung von der Heimkampagne bis zur Mädchenhausbewegung | 68

1.3 Widersprüche: Konservative Frauenlobby und Chancengleichheit im Neoliberalismus  | 79 1.3.1 Neoliberalismus als politische Bedingung für Bildung und Erziehung | 80 1.3.2 Kinder- und Jugendhilfegesetz | 94 1.3.3 Gender Mainstreaming in der Kinder- und Jugendhilfe | 100

1.3.4 Jungenpädagogik | 102 1.3.5 Vom Wissen um das weibliche Geschlecht: Bisherige Forschung zu Geschlecht in der Heimerziehung | 106 1.3.6 Geschlechter- und familienpolitische Bedingungen | 111 1.3.7 Transformationen von Geschlecht und stationärer Jugendhilfe im Neoliberalismus | 114

1.4 Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung aus der Perspektive der genealogischen Rekonstruktion  | 120

2. D ie unmögliche M ethode – erkenntnistheoretische und methodologische P erspek tive  | 125 2.1 Pädagogik als tätige Deutung – Zur Kritik eines kausalistischen Wissenschaftsverständnisses  | 128 2.1.1 Metaphysik als Ordnung des Denkens | 132 2.1.2 Die Bedeutung von Metaphysik und Dekonstruktion für das Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis | 143 2.1.3 Identitätskategorien in der Metaphysik empirischer (Sozial-)Forschung | 146

2.2 Geschlecht und feministische Theorie  | 151 2.2.1 Identität und feministische Kritik | 152 2.2.2 Die ‚andere‘ Theorie  | 159 2.2.3 Geschlecht zwischen Sinnlichem und Intelligiblem | 171

3. G rammatik des S ehens  | 179 3.1 Anlage und Bedingungen der fotografiegestützten Interviews  | 183 3.1.1 Visuelle Bedingungen: Digitale Fotografie und Selfie | 184 3.1.2 Die Materialität der digitalen Fotografie: Öffentlichkeit, Privatheit und ökonomische Verwertung | 186

3.2 Geschlecht, Fotografie und Text: Zeichen, Masse und Aufklärung des Subjekts  | 189 3.2.1 Materielles Zeichen und bezeichenbare Materialität | 189 3.2.2 Verräumlichung und Verzeitlichung der entsinnlichten und geschichtslosen Evidenz | 192 3.2.3 Ohnmacht in der Masse: Aufklärung des Subjekts über seine Bedingungen | 197

3.3 Bilder sprechen: Die Grammatik der fotografiegestützten Interviews  | 204 3.3.1 Körper – Zeichen – Fotografie | 210 3.3.2 Die Materialität des Interviews: Der bedingte Leitfaden | 215

3.4 Geschlecht in Zeit und Raum: Ein unheilbares Doppeltsehen  | 222 3.4.1 Sehen und sprechen zwischen Subjekt und Objekt | 228 3.4.2 Geschlecht und Heimerziehung | 242

3.5 Zur Empirie von Geschlecht und Heim  | 281 Revision II: Differenz und Angewiesenheit von Heimerziehung und Empirie  | 295 Anhang I: Befragung zur Mediennutzung  | 305 Anhang II: Instagram  | 307 Literatur  | 309

Danksagung

Wissenschaftliches Denken und Schreiben bedarf der Empirie, d.h. der Erfahrung des Gegenstandes, mit dem es befasst ist. Das ist besonders bedeutsam, wenn menschliche Zusammenhänge erforscht werden. Daher gilt mein Dank an erster Stelle den Jugendlichen, die sich bereit erklärt haben, mit mir ihre Erfahrungen, ihre Sicht auf sich und die Welt zu teilen. Dazu haben auch die freundlichen, aufgeschlossenen und hilfsbereiten Einrichtungsleitungen und beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen beigetragen. Zudem ist vor allem das Schreiben einer Qualifikationsarbeit auf einen wissenschaftlichen Raum, auf ein Bildungsverhältnis an der Universität angewiesen. Für ihr Engagement möchte ich deshalb Rita Casale danken, die meine Dissertation betreut hat und Erstgutachterin war. Sie ist unermüdlich bestrebt, ein gelingendes Verhältnis zur nachwachsenden Generation herzustellen. Die damit verbundene Suche nach einer anderen – einer feministisch gedachten – Form von Autorität und unsere anhaltende Diskussion um der Sache willen, haben mich in meinem Zugang zu Wissenschaft in Forschung und Lehre, aber auch als Pädagogin tief beeindruckt. Ebenfalls möchte ich Fabian Kessl für die Zweitbegutachtung, seine Anregungen und konstruktive Kritik danken. Dazu gehören auch die hilfreichen Rückmeldungen aus seinem Kolloquium in Duisburg-Essen. Einen Teil der Studie konnte ich auch mit Barbara Rendtorff besprechen, was ebenso wie die Auseinandersetzung mit ihren Texten zum Gelingen beigetragen hat. Während des Forschens und Schreibens sind gleichermaßen intellektuelle wie intime Freundschaften entstanden, wozu vor allem die zu den ‚Musketieren’, Denise Wilde, Antonia Schmid und Simone Zorn gehören. Für die insbesondere feministisch-theoretischen Debatten danke ich darüber hinaus Catrin Dingler, Ulla Hendrix, Anna Hartmann, Steffi Grundmann, Julia Maria Mönig, Camille Fausten, Ricarda Biemüller und Kathrin Lagatie. Catrin bin ich wegen ihrer aufmerksamen und gründlichen Korrektur der Dissertation zum Dank verpflichtet. Zudem danke ich Johannes Aumann, Christoph Baum und Robert Kneschke für die technische Unterstützung.

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Geschlecht und Heimerziehung

Des Weiteren danke ich allen Mitgliedern des Kolloquiums von Rita Casale und meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Wuppertaler Erziehungswissenschaft, vor allem auch denjenigen, mit denen ich ein Büro geteilt habe, für ihre konstruktive Kritik und unsere kollegialen wie häufig freundschaftlichen Beziehungen; namentlich gehörten und gehören zum Kolloquium und/oder Kollegium: Ricarda Biemüller, Jutta Breithausen, Arzu Çiçek, Catrin Dingler, Marie Frühauf, Markus Gippert, Eliza Grezicki, Anna Hartmann, Selma Haupt, Ulla Hendrix, Anna-Sophie Kruscha, Martina Lütke-Harmann, Astrid Messerschmidt, Gabriele Molzberger, Rolf Nehles, Patricija Rados, Rike Reher, Lisa Reiner, Thomas Roeber, Pia Rojahn, Jörg Ruhloff, Nadine Schiel, Achim Scholz, Matina Schürhoff, Ann-Catrin Schwombeck, Julia Siemoneit, Dorotea Sotgiu, Elena Tertel, Katharina Walgenbach, Anna Wehling, Denise Wilde und viele andere. Die vorliegende Studie lebt von dem Wissen um eine bedingte Wissenschaft. Zu den Bedingungen gehören die persönlichen Beziehungen jenseits der Universität. Daher möchte ich Robert und Konrad ganz besonders für unser gemeinsames Leben danken, und dafür, dass sie anerkennen, dass Wissenschaft über Lohnarbeit hinausweist. Letzteres gilt auch für meine äußerst geduldigen Freundinnen Sandra Gebhardt, Nele Herinaina, Sarah Kopitzara und Sarah Schlüter. Ein herzlicher Dank gilt denjenigen, die uns wiederholt bei der Kinderbetreuung unter die Arme gegriffen haben: Ronja, Aspa, Linda, Hannah, Marina, Elvi und Günter. Meine Eltern Beatrix und Karl-Heinz, mein Bruder Thomas und meine weitere Familie haben mich wiederholt in meiner Bildungsbiographie unterstützt. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass einige Frauen auf ganz unterschiedliche Weise Vorbilder für meinen Zugang zur Erfahrung und die Suche nach einem angemessenen Ausdruck dafür waren und sind: Meine Mutter, ihre Schwester Barbara Knoth und meine Patin Barbara Bujotzek. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Revision I: Statt eines Vorworts Wir werden auch über die Monstrosität sprechen. Wir werden über das Wort „Geschlecht“ sprechen. D errida 2005/1987, S. 44

Eine Dissertation zu schreiben, ist eine Erfahrung wissenschaftlicher (Auto-) Biographie. Das schreibe ich rückblickend, wobei der ‚Blick zurück‘ den Text ver-rückt, delinearisiert. Aus rückblickender Perspektive ist die vorliegende Untersuchung Theorie- und Erkenntnisbildung in der Zeit. Die Zeit gerät jedoch hinsichtlich der Chronologie des Textes aus den Fugen. Das liegt daran, dass zu Beginn meines Schreibens ein spezifischer Zugang zum Poststrukturalismus, wie er in der (deutschsprachigen) Erziehungswissenschaft nicht ungewöhnlich war und ist, nämlich über Michel Foucault und Judith Butler, mein Denken stark beeinflusste. Von Butler ausgehend, versuchte ich ein dekonstruktives Vorgehen mit Jacques Derridas Dekonstruktionsverständnis zu entwickeln. Das hatte zum ‚Ergebnis‘, dass die Untersuchung sich selbst verrückte: Frage und Vorgehen rückten in die ‚Mitte‘ des Textes.1 Die Untersuchung ist insofern eine Revision ihrer selbst; im Verlauf ihrer Entstehung verschob sich die Perspektive sowohl auf die empirische Forschung als auch auf die feministische Theorie. Diese wissenschaftliche Erfahrung in der Zeit – die individuelle Erfahrung – ist nicht privat, sie ist öffentlich und geschichtlich wie politisch, insofern die Wahrnehmung des Gegenstandes eine ihm und seinen Bedingungen ausgelieferte ist. Der Gegenstand selbst gibt die Wahrnehmung zwar keineswegs deterministisch vor, aber die Wahrnehmung ist auch 1 | In Gayatri C. Spivaks englischem Titel „Displacement and the Discourse of Woman“ (1983/dt. Verschiebung und der Diskurs der Frau 1992) drückt sich die örtliche Dimension des Ver-Rückens, des Verschiebens aus: Es ist ein Ort, ein Platz, der nicht derselbe, nicht an derselben Stelle bleibt. Place meint zudem auch einen öffentlichen Platz und to displace (sth./so.) kann bedeuten, jemanden seines Amtes zu entheben, von einer Stelle auf die andere zu treten (sich damit dem Einen zu entziehen und zwei in Bewegung zu halten), etwas zu schwenken, zu ersetzen, zu verlagern oder jemanden abzulösen. In Spivaks Text taucht displacement u.a. in der Bedeutung von Verschiebung und Entstellung auf.

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Geschlecht und Heimerziehung

keine reine Aktivität eines erkennenden Subjekts (vgl. Meyer-Drawe 2008, S. 538). Sie unterliegt ihren Bedingungen und denen des Gegenstandes. Der hier genutzte Begriff der Wahrnehmung steht in enger Verwandtschaft zu der von Käte Meyer-Drawe herausgestellten antiken Verwendung des Begriffs: das Wahrnehmen bewegt sich „zwischen dem bloß Aktiven und dem lediglich Passiven“ (ebd.). Eine so verstandene Wahrnehmung ist verbunden mit dem, was Heide Schlüpmann als „andere Theorie“ (Schlüpmann 1998, S. 18) bezeichnet. Es handelt sich um eine ‚andere Theorie‘, weil sie weder identisch mit Wissenschaft ist noch in Opposition zu ihr steht. Die Dissertation knüpft in dreifacher Hinsicht an die ‚andere Theorie‘ der feministischen Traditionen an: Sie hält die Erinnerung an eine Verbindung von Frauenbewegung und pädagogischer Professionalisierung2 wach, sie geht zwei zentralen Fragen feministischer Theorie und Politik nach (den Bedingungen der Unterdrückung qua Geschlecht und was Geschlecht ist) und sie betreibt Wissenschaftskritik. Alle drei Ebenen haben gemeinsam, dass sie wahrnehmen, was in einem objektivierten Wissenschaftsverständnis tabuisiert wird. Bevor dies im Einzelnen ausgebreitet werden kann, ist noch einmal zusammenzufassen, wie und was buchstäblich ‚gegen den Strich‘ gearbeitet und geschrieben wurde. Zu Beginn stand die Frage, inwiefern die Kategorie Geschlecht aus gender-theoretischer und queerer Perspektive in der Heimerziehung untersucht werden könnte. Das dazu entwickelte methodische Vorgehen, im Sinne eines fotografiegestützten Interviews, war an die Dekonstruktion von Jacques Derrida (u.a. 2004/1968) und Judith Butler (u.a. 1991/1989) angelehnt. Zentral war zunächst Butlers Kritik an Identitätskategorien. Aus der Betrachtung des Forschungsstandes, der die spezifische Lücke eines so gedachten dekonstruierenden Zugangs zur Frage nach Geschlecht in der Heimerziehung aufwies, entwickelte sich im Schreibprozess eine genealogische Rekonstruktion der Verbindung von Frauenbewegung und Heimerziehung. Diese Verbindung war dem Gegenstand geschuldet: Die geschichtlichen Bedingungen berücksichtigend, wurde schnell deutlich, dass eine dekonstruierende gender-Perspektive die Probleme in Fragestellung und Gegenstand nicht aufklären konnte, weil durch sie die Hierarchie im Geschlechterverhältnis neutralisiert wurde. Die Erhebung, die nun die vorliegende Studie beschließt, war Beginn dessen, was nun tatsächlich am Anfang und in der Mitte steht. Es ist der Gegenstand in seiner geschichtlichen Bedingung, der das Vorgehen, 2 | Die vorliegende Studie ist daher auch als Teil einer frauenbewegten und feministisch-theoretischen Genealogie zu verstehen, in der die Verbindung von Geschlecht mit Erziehung, Bildung und pädagogischem Beruf Gegenstand der Analyse war und ist (vgl. dazu Schmid 1993; Hagemann-White 1995; Kleinau/Mayer 1996; Kleinau/Opitz 1996; Scott 1996; Rendtorff/Moser 1999; Maurer 2004; Rendtorff 2006; Althans 2007; Casale 2012; Braches-Chyrek 2013 u.a.).

Revision I: Statt eines Vor wor ts

die Frage und seine Theoretisierung verrückt hat. Eine Rückkehr zu den Voraussetzungen der Erhebung war nötig und stellt Vorgehen und Ergebnisse in ein neues Licht. Ein Licht, das abhängig ist von dem Raum, in dem es hervorgebracht wird. Im örtlichen ‚Kern‘ der Untersuchung liegt nun die Frage, die sich von vorne und hinten aufdrängt: Wie können die Kategorie Geschlecht und ihre Bedingungen untersucht werden? Ungeplant 3 vollzieht die Text-Architektur somit nach, was Luce Irigaray (1980/1974) in Speculum als eine Text-Höhle entstehen ließ, in der lineares Schreiben aufgehoben wird. Erkenntnistheorie und Methodologie geraten damit ins Zentrum, ohne deshalb ursprünglich zu sein, denn dieses Zentrum ist nicht der Ausgang der Frage und Erhebung, sondern gespalten und konstituiert durch die doppelte Konfrontation mit den Bedingungen des Gegenstands und eines empirischen Zugangs zu ihm. Die Untersuchung ist so betrachtet erstens bedingt durch eine Erziehungswissenschaft, in der sich spätestens seit der ‚realistischen Wende‘ (vgl. Roth 1962) zunehmend ein Forschungsverständnis im sozialwissenschaftlichen und psychologischen Sinne durchsetzte und zweitens durch eine Entwicklung von feministischer Theoriebildung zu Gendertheorie. Allerdings hat nicht der Gegenstand in seiner empirischen Gegenständlichkeit quasi-natürlich zu dieser Form des Forschens und Schreibens geführt. Insofern der Text eine wissenschaftsbiografische Form der Erkenntnis darstellt, ist er auch Teil einer generationalen Auseinandersetzung: Historisch-gesellschaftlich im Konflikt feministischer Theorieperspektiven und konkret in meinem Doktorandinnen-Verhältnis zu Rita Casale. Beide Momente bilden den Möglichkeitsraum des Schreibens und bedingen es gleichzeitig inhaltlich. Diese Verortung des Textes ist auch disziplinär von Belang: Denn darin liegt die Verbindung von Erziehung(swissenschaft) und feministischer Erkenntnis, beide sind ‚gezwungen‘ zur Wahrnehmung Anderer, und zwar in der Differenz. Diese Differenz liegt sowohl in den Kategorien Geschlecht und Generation als auch im Bezug zum konkreten Anderen. Dabei teilen die zen3 | Hier ließe sich anmerken, dass die Rezeption der feministischen Schriften eine Auslieferung des eigenen Schreibens bedeutet, eine Schwäche, die es als die unumgängliche Ent-Subjektivierung durch Schrift anzuerkennen gilt, obwohl die (metaphysische) Schrift doch genau das zu verhindern trachtet. Vgl. dazu auch Irigaray (1979/1977, S. 70): Die „Mitte“ von Speculum bricht für Irigaray mit der üblichen Linearität von Texten und bewahrt ihre Dekonstruktion zudem vor einer einfachen ‚Umkehr‘ ‚männlicher‘ (Philosophie-)Geschichtsschreibung bzw. vor chronologischem Schreiben. Insofern handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit auch um eine Bildungserfahrung; eine Bildung in einer Genealogie, die ich feministisch verstehe, insofern sie nicht auf den einen Vater zurückgeht, sondern eine Genealogie der Spaltung durch Zeit und Raum ist. Vgl. zu einer feministischen Bestimmung der Genealogie: Kapitel 1.

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Geschlecht und Heimerziehung

tralen ‚Gegenstände‘ des Feminismus – ‚die Frau‘ – und der Pädagogik – ‚der Zögling‘ – eine wichtige Erfahrung: Sie kennen die Ohnmacht, die erzeugt wird, wenn die unumgängliche Angewiesenheit des Menschen generational und geschlechtlich einseitig an sie abgespalten wird.4 Nach Heide Schlüpmann teilen Frauen diese Erfahrung mit ‚Arbeitern‘ und ‚Schwarzen‘ (vgl. Schlüpmann 1998; 2014). Es handelt sich um eine Angewiesenheit, wie sie vom bürgerlich-männlichen Subjekt in deren Erfahrungsraum als Ohnmacht ‚ausgelagert‘ wird. Letztlich kann aber auch der Pädagoge nicht vollständig über den Zögling verfügen – wenn Erziehung und Bindung in ein Herrschaftsverhältnis kippt, tritt das Ohnmachtsverhältnis erneut zutage (vgl. Benjamin 2009/1988, S. 20). Indem feministische Theorie und Erziehungswissenschaft sich genau mit diesen Fragen nach Angewiesenheit, Ungleichheit und Unterdrückung auseinandersetzen, sprechen sie Bedingungen von Herrschaftsverhältnissen an. Deren stillschweigende Legitimation als unumgänglicher Ist-Zustand wird dadurch enttabuisiert. Es handelt sich insofern um ein Tabu, als dass die Explikation eines ausgenutzten Ungleichgewichts einem „psychische[n] Verbot“ (Adorno 1971/1965, S. 71) unterliegt. Die Zurichtung als Ohnmächtige hat jedoch in der Gesellschaft eine strukturerhaltende Funktion (vgl. ebd., S.  77). Insofern konfrontieren Erziehungswissenschaft und feministische Theorie Individuum und Gesellschaft mit zweierlei Unbehagen: Mit der Angewiesenheit auf Andere und mit den Herrschaftsverhältnissen und ihren Bedingungen – was gegebenenfalls die wissenschaftlichen Outsider-Positionen von feministischer Theorie und Erziehungswissenschaft zu erklären vermag. 4 | „Ihre ganz besondere Bedeutung bekommt die Tatsache des Geschlechts auf zwei Ebenen: Zum einen repräsentiert sie mit Bezug zur Sexualität, d.h. dem sexuellen Erleben (mit dem Gefühl der Entgrenzung) wie auch der Fortpflanzung, eine Unabschließbarkeit, eine Öffnung zum Anderen hin (im Akt und in der Zeit). Dies ist eine Art von elementarer Angewiesenheit, die nicht zuletzt in der Tatsache des Geborenseins (aus Frau und Mann) bezeugt ist (und nur diese ist symbolisch repräsentiert, nicht aber Lust und Genießen). Insofern (und weil alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende haben wird) deutet Geschlecht auch unabweislich auf die Endlichkeit menschlichen Lebens hin“ (Rendtorff 2008, S. 75). Im Zentrum steht bei Barbara Rendtorff die Frage, inwiefern aufgrund der inhärenten Angewiesenheit jedes Menschen die Geschlechterdifferenz im Singular als menschliche Differenz zu denken sei, die symbolische Ordnung aber genau das zu verdecken trachtet, indem allein ‚Frauen‘ in einem hierarchischen Verhältnis auf ihre Angewiesenheit verwiesen werden. Der Verweis auf Sexualität und Generativität (vgl. dazu auch Kapitel 2.2.3) macht jedoch als zeitliche Dimension die Verquickung mit der Kategorie Geschlecht und mit der Kategorie Generation deutlich. Zu Fragen wäre an dieser Stelle, inwiefern die Endlichkeit das primäre Merkmal der Zeitdimension ist, zwar sind ‚wir‘ dieser ohnmächtig ausgeliefert – Rendtorff spricht in diesem Zusammenhang von „Beunruhigung“ (ebd.) – allerdings verweist gerade die Generativität auf eine mögliche Zukunft.

Revision I: Statt eines Vor wor ts

Die Fragen der Angewiesenheit und der Herrschaft berücksichtigend, verortet sich der vorliegende Text in einem spezifischen wissenschaftlichen, generationalen Kontext, der die gängigen Vorstellungen des Öffentlichen vs. Persönlichen/Privaten überschreitet. Die Studie verweist auf die ‚andere Theorie‘ im Feminismus, insofern Wissenschaft hier eine andere Wahrnehmung erfordert, die „Ich und Subjekt zu den selbst Aufklärungsbedürftigen – statt Aufklärung Betreibenden“ (Schlüpmann 1998, S.  11) werden lässt, und den Kontext der Erkenntnisgewinnung als „öffentlich[e] Form sinnlicher Wahrnehmung“ (ebd., S. 23) offenlegt. Diese Einordnung der Dissertation geschieht rückblickend aus der ‚Mitte‘ heraus. Die erkenntnistheoretische Perspektive hat zunächst zur Erhebung geführt, dann aber hat die genealogische Rekonstruktion die erkenntnistheoretische und methodologische Verortung verändert, d.h. die Erhebung in den Kontext einer anderen Wahrnehmung gestellt. Zuletzt bleibt zentral die weiter zu verfolgende Frage nach der Unterdrückung qua Geschlecht und deren Bedingungen. Aufklärung als Aufklärung des Subjekts und seiner Unmöglichkeit in der Zeit (und im das Subjekt ermöglichenden Raum) ist dessen emanzipatorische Dimension.5

5 | Freiheit verwirklicht sich dabei durch die Dezentrierung des Subjekts, während Autonomie das Subjekt vor seinen Bedingungen verschließen würde. Letztere würde das Subjekt beschränken, indem es ihm den Zugang zu seiner eigenen Bedingtheit versperrt.

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Einleitung: Geschlecht und Heimerziehung erforschen

Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Frage, welche Bedeutung die Kategorie Geschlecht in der stationären Jugendhilfe1 hat. Forschungsanlass sind die mangelnde Erforschung der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung und die Fokussierung auf Mädchen in der geschlechtsspezifischen Erforschung von Heimerziehung (vgl. Kapitel 1.3.5). Den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt bildet ein Zusammendenken feministischer Theorie und Erziehungswissenschaft, sodass deren gemeinsame Kategorien – Geschlecht und Generation – im Mittelpunkt stehen. Darin wird auch deutlich, wie sehr die Teildisziplinen ‚Erziehungswissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung‘ und ‚Sozialpädagogik‘ miteinander verwoben sind. Indem die genannten Kategorien an die grundlegende menschliche Angewiesenheit auf Andere erinnern, haben sie erkenntnistheoretische und methodologische Folgen, weil das Subjekt somit in seiner forschenden Perspektive sowie als Forschungsgegenstand dezentriert wird. Konkret erfährt die Untersuchung dadurch eine spezifische Verschiebung, in der die anfängliche qualitativ-sozialwissenschaftliche Studie und der ihr zugrunde gelegte gendertheoretische Ansatz selbst zu Objekten der Forschung geraten. Die so verschobene Untersuchung ist an eine feministische Fragestellung angelehnt. Ich erlaube mir, diese als die grundlegende feministische Fragestellung zu bezeichnen: Sie fragt danach, unter welchen Bedingungen Unterdrückung qua Geschlecht erfolgt und was Geschlecht überhaupt ‚ist‘.2 Die jewei1 | Die Bezeichnung ‚stationäre Erziehungshilfe‘ ist sehr jung bzw. kann vor allem als Folge der im Kinder- und Jugendhilfegesetz angeführten Sprachpolitik gewertet werden. Vor allem in der allgemeinen und historischen Darstellung nutze ich stattdessen bevorzugt ‚Heim‘, weil damit die Vorgänger der gegenwärtigen Gestaltung der stationären Jugendhilfe adäquater gefasst werden können. Zudem ist die Darstellung auf den deutschen Kontext aufgrund der an staatliche Strukturen gebundenen öffentlicher Erziehung beschränkt (vgl. Kapitel 1). 2 | Damit ändere beziehungsweise erweitere ich Gayle Rubins (2006/1976) Bestimmung, wonach sich feministische Literatur „immer wieder um die Frage nach dem Wesen und Ur-

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Geschlecht und Heimerziehung

lige Bestimmung von Geschlecht wird darin als eine zentrale Bedingung der Unterdrückung verstanden. Zudem zielt die Unterdrückung – so Rita Casale (2013) – in ihrer gegenwärtigen Gestalt darauf, die menschliche Angewiesenheit zu verdrängen, sie an die Frau zu verweisen. Die feministische Theorie habe zur Aufgabe, „die Logik, das ‚Gesetz‘, den Rahmen der hierarchischen Geschlechterordnung“ (ebd., S. 16f.) zu analysieren. Vor diesem Hintergrund nähert sich die Untersuchung der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung über drei Wege an, die entsprechend der leitenden Forschungsfrage die geschichtliche Dimension berücksichtigen. Die dreifache Geschichtlichkeit des Rückblicks – der Re-Vision3 – bewirkt eine Trennung von der Idee kontinuierlichen Fortschritts, im Sinne von Methodenkritik und ‚Verbesserung‘, die in eine ‚lösende‘ neue Methode münden würden. Die Erkenntnis der vorliegenden Untersuchung zielt vielmehr auf die Aufklärung über die geschichtlichen Bedingungen ihrer Fragestellung sowie der darin zum Ausdruck kommenden geschlechtlichen Bedingtheit. Dabei wurde die eigene empirische Erhebung zum Ausgangspunkt der Methodenkritik, die im Wesentlichen durch den Rückblick auf die (Geschlechter-)Geschichte der Heimerziehung, der Theorie und Methodologie und der Erhebung selbst erfolgt, was sich in der Chronologie der Kapitel niederschlägt/widerspiegelt: Im ersten Kapitel wird die jeweils spezifische geschichtliche Gestalt und Kontinuität von Geschlecht im generationalen und geschlechtlichen Verhältnis feministisch-genealogisch rekonstruiert. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich Transformationen und Stagnationen in der Heimerziehung anhand der Kategorie Geschlecht in drei Zäsuren fassen: Im Verhältnis zur ersten Frauenbewegung, im Zusammenhang von zweiter Frauenbewegung und Heimkampagne und in der Gegenwart in der zunehmenden Professionalisierung unter neoliberalen Bedingungen. In einem Genealogie-Verständnis (vgl. Irigaray 1991/1984, S. 129ff.; Drygala/Günter 2010), das generational-geschlechtliche Verhältnisse nicht als ursprüngliche, sondern zeitlich-räumliche Gefüge versteht, eröffnet sich ein Denken der Kategorie Geschlecht in seiner

sprung der Unterdrückung von Frauen und ihrer sozialen Unterordnung“ (ebd., S. 69) drehe. 3 | In „Situated Knowledge“ schreibt Donna Haraway (1988) abschließend, dass feministische Hoffnungen daran geknüpft seien, die Welt zu ‚revisionieren‘ (engl.: „revisioning the world“, ebd. S. 596; Haraway schlägt dann auch vor, wie die Welt zu betrachten sei als „coding trickster with whom we must learn to converse“, ebd.). Der Begriff der Vision und der Revision ist in Haraways Darstellung anders gelagert als in der vorliegenden Studie: Letztere begreift die Revision als feministisch-genealogischen Rückblick auf das geschichtliche Geschehen, während Haraway eine konstruktivistische Gestaltung oder Objektivierung durch Wissensproduktion und transformierte Technologien anstrebt und so eher den visionären Aspekt gegenüber der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit betont.

Einleitung: Geschlecht und Heimerziehung er forschen

konkreten wie abstrakten Bedingtheit.4 Weniger steht die lineare Chronologie der Heimerziehung im Vordergrund als die Aufgabe, Geschlecht in die Geschichte zu tragen. Im zweiten Kapitel wird die Frage gestellt, wie die Kategorie Geschlecht überhaupt empirisch erforscht werden kann. In diesem Schritt kommt es zu einer Auseinandersetzung mit der Anfangsbedingung der Dissertation, weil ich zunächst von einer Wissenschaftskritik aus Butlers Perspektive der Identitätskategorie ausging. In der Frage nach der Erforschung der Kategorie Geschlecht erfolgt dabei eine neue Akzentuierung, in der die feministische Theorie und die Dekonstruktion von Metaphysik (vgl. Derrida 2004/1968 u.a.) verbunden werden. In dieser Verbindung wird empirisches Forschen zu einer ‚unmöglichen Methode‘ im doppelten Sinne einer existentiellen Erfahrung: Vorherrschende empirische Wissenschaftsverständnisse fokussieren eine Form von objektivierter Erkenntnis, die ihnen den Gegenstand entzieht, weil sie sich selbst und ihre Bedingungen nicht wahrnehmen – und auch nicht die Bedingungen des Gegenstandes. Sie werden zur ‚Empirie ohne Empirie‘.5 Gleichzeitig ist eine feministische Theorie, mit ihrem Anspruch, Differenz und Angewiesenheit wahrzunehmen, im hegemonialen Wissenschaftsverständnis nicht intelligibel. Diese doppelte Unmöglichkeit bestimmt die erkenntnistheoretische und methodologische Perspektive auf die Kategorie Geschlecht in den Facetten von Identitäts- und gesellschaftsanalytischen Kategorien. Darin werden die Grenzen einer gender-theoretischen Identitätskritik (Butler 1991/1989) deutlich. Die Erfahrung der ‚unmöglichen Methode‘, die mit dem Bewusstsein in der und gegen die Wissenschaft verortet zu sein einhergeht, verweigert sich letztlich der Entscheidung zwischen Natur und Kultur, Subjekt und Objekt und drängt auf ein Verhältnis zum Empirischen, das die menschliche Angewiesenheit gegenüber dem Anderen anerkennt (Schlüpmann 1998, Irigaray 1991/1984 u.a.). Mit der ‚unmöglichen Methode‘ ist demnach weniger eine von nun an ‚anzuwendende‘ neue Methode gekennzeichnet, welche eine bisherige Leerstelle in der qualitativen Forschung ‚füllen‘ würde. Die Perspektive lädt vielmehr dazu ein, Geschichtlichkeit und Grenzen empirischer Forschung wahrzunehmen6, sie verbleibt in der Unmöglichkeit des Methodischen in der genannten Dopplung. 4 | Damit wird ein spezifisches, differenzfeministisch verstandenes genealogisches Denken verfolgt, das sich von gängigen Genealogie-Begriffen unterscheidet.

5 | So verweist auch Regina Becker-Schmidt auf die Notwendigkeit in einer feministischen Theorie und Empirie „Zusammenhängendes nicht zu trennen und Einzelnes nicht außerhalb seiner Vermittlungen zu untersuchen“ (Becker-Schmidt 1985, S, 94). 6 | Ähnliches fordern aus einer anderen Perspektive Fabian Kessl und Susanne Maurer für eine kritische Forschung in der Sozialen Arbeit. Durch eine „radikale Reflexivität“ (Maurer/ Kessl 2014) soll das Forschungssubjekt ‚sich‘ und ‚seine‘ Forschung riskieren/aufs Spiel setzen und das Konflikthafte in der Erkenntnis zulassen können (vgl. ebd., S. 150).

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Geschlecht und Heimerziehung

Schließlich werden aus der erarbeiteten Perspektive im dritten Kapitel fotografiegestützte Interviews7 mit Jugendlichen betrachtet, die in stationären Erziehungshilfeeinrichtungen leben. Die fotografiegestützten Interviews waren zu Beginn der Untersuchung an eine gender-theoretische Vorstellung von Dekonstruktion angelehnt. Aufgrund der im ersten und zweiten Teil deutlich werdenden Grenzen dieses Unterfangens stellt der letzte Teil eine theoretische Revision und eine De-Linearisierung des empirischen Zugangs dar. Die Wahrnehmung der Erforschten und der Forscherin erscheinen nun in einem anderen Licht angewiesener beziehungsweise bedingter Erkenntnis. Die Wahrnehmung ist so von einem „unheilbare[n] Doppeltsehen“ (Irigaray 1980/1974, S. 181) durchzogen, in dem Gegenwart und geschehende Geschichte, Erforschte und Forschende, Oberfläche und geschlechtliche Ordnung unauflöslich sind. Daraus resultiert eine spezifische Forschungspraxis, in der das anfängliche empirische Vorgehen zum mehrfachen Objekt einer kontrapunktischen Lektüre wird, die es beständig seiner inhärenten Spaltung aussetzt. Die feministische Dekonstruktion verläuft dabei über eine mehrfache Verdopplung, angefangen beim empirischen Material, in Form der Fotografien und des Gesprächs im Interview darüber. Darin treten die Bedingtheit der Empirie und die Ohnmachtserfahrung in der Verknüpfung von Heim und Geschlecht hervor. Die Empirie wird somit nicht ‚vollständiger‘, eher lassen die Bedingungen die Grenzen eines solchen Unterfangens wahrnehmen.8

7  |  In der Auseinandersetzung mit Fotografien und ihrer geschichtlichen Bedingung der Digitalisierung taucht zudem ein vernachlässigter methodologischer wie gegenstandsbezogener Zugang in der Erforschung sozialpädagogischer Fragen auf (vgl. Richter 2010, S. 45f.). Johannes Richter hebt im Hinblick auf die historische Sozialpädagogik hervor, dass es gerade die „Architektur der Fürsorgeinstitutionen“ (ebd., S. 47) war, die bildlich dokumentiert wurde und diese Bilder später wiederum zu Quellen von Untersuchungen wurden. In der vorliegenden Arbeit hingegen steht nicht die Institution im Mittelpunkt der Bilder. Vielmehr verweisen die Fotografien bereits in der Anlage der Erhebung auf einen Verlust der institutionalisierten Repräsentation, insofern sie unter dem Motto ‚Eine Woche ich‘ (vgl. Kapitel 3) standen. 8 | Sowohl Kapitel 2 als auch Kapitel 3 zeigen, was passiert, wenn die Vorherrschaft der Methode gegenüber der Sache, wie in der Erziehungswissenschaft infolge einer mangelnden Bearbeitung des Positivismusstreits und seiner Folgen geschehen, selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird (vgl. zu dem so gestalteten Verhältnis von Methode und Sache Casale 2011). Diese Tendenz in der Deutungshoheit und als erkenntnistheoretische Prämisse betrifft auch die qualitative Forschung, vor diesem Hintergrund stellt die vorliegende Studie nicht die Frage nach der Reflexionsfähigkeit einzelner qualitativ Forschender oder spezifischer Methoden. Sie fragt vielmehr nach der geschlechtlichen Bedingung von Forschung, die eng mit dem Subjekt-Objekt-Verhältnis und der Frage nach einer methodisch hergestellten (gesicherten) Abtrennung verbunden ist.

Einleitung: Geschlecht und Heimerziehung er forschen

Für die Verbindung von Heim und Geschlecht ergibt sich aus diesem dreifachen Eintritt der (Geschlechter-)Geschichte eine Verschiebung, insofern zunächst die aus gendertheoretischer Perspektive angenommene Möglichkeit, geschlechtlichen Zuschreibungen/Normen etwas Widerständiges entgegenzusetzen, nicht durchzuhalten war. Der verschobene Fokus auf sexuelle Differenz brach mit einer Idee geschlechterpolitischen Fortschritts. Er ließ die geschichtliche Persistenz einer spezifischen Ordnung von Geschlecht in der Heimerziehung und den sie bedingenden Zusammenhang eintreten. Zu Beginn meines Schreibens war noch nicht ersichtlich, welche (welt-) politischen Entwicklungen in der Gegenwart eintreten würden. In der Rückschau erhält der Text Aktualität aufgrund der Kritik an absoluten Identitätsverständnissen und der Hinwendung zu einem spezifischen Differenzbegriff. Darin wird auch deutlich, wie Differenz in ihren zwei Formen der Leugnung – als absolute und als konstruierte Differenz – Herrschaftsverhältnisse ermöglicht, indem Differenz als Bedingung und ihre Bedingung verdeckt werden. Die gesamte Untersuchung ist insofern der geschichtlichen Problemlage geschuldet, dass sich letztlich weder die gendertheoretisch geleitete subkulturelle Politik noch die (staatliche) Anti-Diskriminierungspolitik der Differenz zuwenden und sie somit den Naturwissenschaften und der identitären Ideologie überlassen.9 In deren Denken wird Differenz als absolute gesetzt und damit wird auch das gesellschaftliche und geschlechtliche Verhältnis unveränderlich und geschichtslos. Feministische Theorie und Empirie zu verbinden, stellt einen Versuch dar, zu sprechen, und zwar nicht in absoluter Schließung gegenüber der einen Ordnung, sondern als Versuch, anders Eingang zu finden. Das heißt, sich weder in der vorherrschenden Ordnung gleiches Recht zu verschaffen noch mit dieser tabula rasa zu machen.10 Die vorliegende Studie lotet so betrachtet aus, ob und wie ein ‚Sprechen‘ in der (sozial-)wissenschaftlichen (wissenschaftsbiographischen) Bedingtheit möglich ist. Die Dekonstruktion ist darin der gesuchte, spaltende Eingang des Sinnlichen, der Bedingtheit und Angewiesenheit als Differenz in das ‚Eine‘ der Wissenschaft. Geschlecht in der Heimerziehung ist dazu kein beliebiges Beispiel, weil dieser Gegenstand durchzogen ist von einer 9 | Dies wurde mir insbesondere durch den von Rita Casale am 14.10.2016 in Paderborn zum 65. Geburtstag von Barbara Rendtorff gehaltenen Vortrag „Zärtlichkeit der Strenge: Dissens als Beziehung zu der Anderen“ (Casale 2017) deutlich, in dem es insbesondere darum ging, warum die Differenzphilosophie und der Differenzfeminismus so wenig Eingang in die politische Gegenwart fanden: „Die einen machen sie [die sexuelle Differenz] zu einer Konstruktion, die anderen zu einer Qualität der Natur“ (ebd.). 10  | An dieser Stelle muss ich Catrin Dingler für ihre Auseinandersetzung mit Carla Lonzi in ihrer Dissertation danken, weil sie die unterschiedlichen Positionen gegenüber dem Patriarchat im (italienischen und französischen) Differenzfeminismus aufzeigt.

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Geschichte unterschiedlich gelagerter wissenschaftlicher, politischer und pädagogischer wie disziplinierender Deutungsansprüche. Nicht zuletzt tritt in der geschlechtlich geordneten Verwahrlosungsannahme auch die geschlechtliche Ordnung des Denkens hervor.

1. Geschlecht als weibliches Geschlecht – eine genealogische Rekonstruktion von Geschlecht und Heimerziehung

Die Kategorie Geschlecht und das pädagogische Setting ‚Heim‘ werden im Folgenden so verwoben, dass ihre ambivalent-geschichtliche Dimension betont wird. Zu der Ambivalenz kommt es, weil die Kategorie Geschlecht einerseits kontextabhängig wandelbar, andererseits kontinuierlich mit Differenz verbunden ist. Hinsichtlich der Heimerziehung, aber auch der Kategorie Geschlecht selbst, ist zudem die Verbindung zum Generationenverhältnis zu berücksichtigen. Die Überschneidung von generationalem und geschlechtlichem Verhältnis1 gibt Anlass, Erziehungswissenschaft und feministische Theorie zusammenzudenken. Indem beide die Differenz innerhalb der Kategorien von Geschlecht und Generation wahrnehmen, sind sie unweigerlich mit Fragen der Herrschaft konfrontiert. Die Differenz stellt für beide eine Bedingung menschlichen Lebens dar, welche weder eine Herrschaft determiniert noch durch eine Befreiung in ein Außerhalb jeglicher Bedingtheit überwunden werden kann. Freiheit ist so betrachtet relational zu denken oder, wie bereits im Vorwort eingeführt, als Aufklärung des Subjekts über seine räumlich-zeitliche (Un-)Möglichkeit. Das Subjekt ist auf das generational und geschlechtlich Andere angewiesen.2

1 | Geschlecht und Generation sind darüber hinaus, insbesondere in der deutschen Sprache, semantisch verwoben (vgl. Derrida 2005/1987a, S. 46). Eine ähnliche semantische wie etymologische Übereinstimmung besteht auch im Französischen (vgl. ebd.; FEW 1952, S. 98, 106ff.). 2 | Indem es eine geschlechtliche Angewiesenheit gibt, sind Subjekt und Anderes nicht dualistisch, sie haften vielmehr – wie Irigaray es mit dem Begriff des ‚Mukösen‘ (vgl. 2.2.2) fasst – einander an, sind aufeinander bezogen.

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Im Folgenden wird diese Perspektive als Genealogie gefasst.3 In einer ersten Annäherung an die Verbindung von Heimerziehung und Geschlecht soll diese nicht als eindeutiges, sondern geschichtliches Verhältnis betrachtet werden. Die Analyse der geschichtlichen Bedingung der für die vorliegende Arbeit erhobenen fotografiegestützten Interviews (Kapitel 3) setzt die genealogische Perspektive voraus.

Genealogie Methodologisch ist der Begriff der Genealogie im 20. Jahrhundert durch Friedrich Nietzsche geprägt.4 Sein genealogisches Denken ist insbesondere für eine feministische Kritik an statischen Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen relevant (vgl. Irigaray 1991/1984, S. 168ff.; Schlüpmann 1998, S. 21). Zentral sind in diesem Zusammenhang Nietzsches Bejahung des Lebens und damit der Wahrnehmung, des Körpers und der körperlichen Bedürfnisse. Nietzsches genealogisches Denken richtet sich gegen den metaphysischen Ursprungsgedanken. Letzterer führt das Gegebene auf einen absoluten Ursprung zurück (vgl. Kapitel 2). Genealogie, ursprungskritisch und feministisch gewendet, bedeutet, nach der generationalen und geschlecht3 | Der Begriff der Genealogie ist seit den 1990er Jahren in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft stark mit Michel Foucaults machttheoretischem Denken verknüpft (s. beispielsweise Ricken/Rieger-Ladich 2004, darin Nicole Balzer über die erziehungswissenschaftliche Foucault-Rezeption seit den 1980er Jahren). Von dieser Deutung ist der hier verwandte, feministisch gewendete Begriff der Genealogie zu unterscheiden. Er geht auf die Differenz von Geschlecht und Generation zurück und lehnt, wie Jacques Derrida, Heide Schlüpmann und Luce Irigaray (in ihren unterschiedlich gelagerten Bezügen zu Nietzsche), den einen Ursprung ab. Obgleich mit der Ursprungskritik über Nietzsche ein gemeinsamer Bezug gegeben ist, ist der Begriff der Genealogie damit nicht von Foucaults Position abgeleitet. Dieser betont hingegen die Kritik am Subjekt: „[G]enau das würde ich Genealogie nennen, d.h. eine Form von Geschichte, die von der Konstitution von Wissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mit seiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt“ (Foucault 1978, S. 32). 4 | Vgl. Nietzsche (2016/1887): Nietzsche denkt die Genealogie als eine Abstammung von Bedingungen, die radikal ursprungslos ist. Statt von ‚ewigen Tatsachen‘, geht Nietzsches historisches Philosophieren von einem unaufhörlichen Werden aus, wobei diese Form der Geschichtsschreibung keinerlei Neutralität für sich beansprucht. „Die Philosophie der Genealogie ist das historische Philosophieren, das mit der Bescheidenheit des Historikers anfängt, alles, was bis jetzt als Gegebenes, als Tatsache gesehen wurde, eher als Gewordenes zu analysieren“ (Casale 2001, S. 31). Nietzsches Kritik am Ursprungsdenken geht mit der Kritik an Erkenntnis einher, insoweit sie „per se für wahr gehalten“ (ebd., S. 29) werde; Erkenntnis sei vielmehr selbst als Prozedur zu kontextualisieren (vgl. ebd.).

Geschlecht als weibliches Geschlecht

lichen Abstammung zu fragen. Das heißt, die geschlechtliche und generationale Ermöglichung von dem nachzuzeichnen, was als Unbedingtes, Seiendes oder ideal Existentes verstanden wird, und es damit zu dezentrieren. Aus der genealogischen Perspektive ist danach zu fragen, wie Geschlecht und Generation als Kategorien gestaltet werden, um die Erscheinung dessen, was als ‚Ist‘ und die damit zusammenhängenden Herrschaftsverhältnisse zu formieren. Genealogie wird somit spezifisch konturiert: Sie ist nicht Lehre einer ursprünglich verstandenen Abstammung5 von einem Ausgangspunkt, sondern denkt Herkunft aus einem räumlich-zeitlichen Gefüge heraus (vgl. Drygala/ Günter 2010, S. 31). In der feministischen Theorie ist Luce Irigarays Insistieren auf die mütterliche Höhle und deren nicht einfacher Ursprünglichkeit dafür kennzeichnend (vgl. Irigaray 1980/1974, S. 183).6 So kann die Gebärmutter kein absoluter Ausgangspunkt sein, ebenso wenig wie Ei- und Samenzelle jeweils für sich zeugungsfähig sind. Alle sind jeweils von einem Anderen abhängig, um neues Leben hervorzubringen. Darüber hinaus sind die Ausgangspunkte, von denen mindestens zwei vorausgesetzt werden, nicht für sich bereits existent, sondern selbst in einem generationalen Abstammungsverhältnis hervorgebracht. Die Angewiesenheit auf generationale und geschlechtliche Differenz zeigt, dass menschliches Leben nicht in einer Addition von Gleichem aufgeht: „Für die Frau, eine Frau teilt sich Zwei nicht in Eins und Eins. Die Beziehungen schließen die Durchtrennung der Einheit aus. [...] Zwei erzeugen das Eine, um sich in ihm zu vermischen und sich als Paar zu annullieren“ (Irigaray 1980/1974, S. 294). Nach Irigaray ist dies kein biologistischer Gedanke, sondern ein Denken, das sich von einer ursprungshaften Kontinuitätsvorstellung löst. Im Begriff der ‚Kopulation‘7 (lat. copula) versammelt sie dessen Bedeutung 5 | Der Begriff der Abstammung ist hier nicht im Sinne des rassistischen beziehungsweise nationalsozialistischen Sprachgebrauchs gemeint. 6 | Es zeigt sich ein weiterer Unterschied zu Foucaults Denken der Genealogie: Zwar kennt Foucault insbesondere in seinem Dispositiv-Begriff Raum und Körper, aber es gibt – aus einer differenzfeministischen Deutung von Raum – eine Abwertung des Ortes und paradox auch der mütterlichen Versorgung darin: „Die genealogisch aufgefaßte Historie will nicht die Wurzeln unserer Identität wiederfinden, vielmehr möchte sie sie in alle Winde zerstreuen; sie will nicht den heimatlichen Herd ausfindig machen, von dem wir kommen, jenes erste Vaterland, in das wir den Versprechungen der Metaphysiker zufolge zurückkehren werden; vielmehr möchte sie alle Diskontinuitäten sichtbar machen, die uns durchkreuzen“ (Foucault 1991/1971, S. 86f.). Hier wird einmal mehr die Mutter durch das Vaterland ersetzt und damit zugleich die Angewiesenheit auf die reproduktive Sphäre geleugnet. 7 | So befragt Irigaray das Descartes’sche Ich, das mit dem ‚materiellen Erbe‘ bricht und sich so „für alles Denken verantwortlich [macht]“ (Irigaray 1980/1974, S. 230; Herv.i.O.): „Ein Wesen, das aus keiner kopulativen Verbindung entstanden ist?“ (ebd., S. 231). Im Gegensatz zu „einer Ökonomie des Diskurses, die das kopulieren [sic] zwischen den Geschlechtern in der

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als Verbindung, Band, Verknüpfung. Indem ein Verhältnis, eine Beziehung und Begegnung des Differenten geschehen, (re)produzieren sie physisches wie psychisches Leben. Dabei sind Denken und Selbstvorstellungen ebenfalls abhängig von einer nicht-ursprünglichen Sprache, in die das Individuum eintritt und die es als Subjekt ermöglicht. In diesem Sinne steht Genealogie hier mehrfach für Abstammungsverhältnisse: des Körpers und des Denkens in ihrer generationalen und geschlechtlichen Verwiesenheit; für das Denken und Sein in einem sie ermöglichenden Raum und zeitlichen Kontext; für die Unmöglichkeit, nicht-angewiesen Mensch und Subjekt zu sein. Wird die Genealogie als Metaphysikkritik gedeutet, wendet sie sich gegen ein lineares Abstammungsverständnis. Über „das Phänomen der Gebürtigkeit als Zur-Welt-Kommen mitten in den Zeiten“ (Drygala/Günter 2010, S. 31) ist Genealogie dann zeitlich und räumlich. Ein Denken sexueller Differenz rekonstruiert die Genealogie als „geschlechterdifferenzierte[s], genealogische[s] Kontinuum [des] menschlichen Beziehungsgefüge[s]“ (ebd.), so dass die familiären Positionen ‚Mutter, Vater, Sohn und Tochter‘ darin „Kategorien menschlicher, genealogischer Bezogenheit“ (ebd., S.  32) darstellen. Die Erziehungswissenschaft und die feministische Theorie machen die zugleich geschlechtliche und generationale Ordnung dieser Kategorien explizit. Beide beschäftigen sich mit der darin liegenden Differenz als Erfahrung des Anderen, aber auch als Erfahrung der Ungleichheit. Die Erfahrung der Differenz ist eine des Ausgeliefertseins und der Angewiesenheit, insofern das geschehende Leben vergänglich und ohne das Andere, über das wir nie gänzlich verfügen können, unmöglich ist. Wenn die Rechnung ‚eins + eins = eins‘ nicht aufgeht, weil es bereits kein ‚eins + eins‘ als gleiches geben kann und auch das Ergebnis nicht ein gleiches ‚eins‘ hervorbringt, erinnert eine Genealogie, die die generationale und geschlechtliche Differenz denkt/mitdenkt, daran, dass Subjekt, Individualität und Einzigartigkeit immer in Abhängigkeit vom Anderen zu begreifen sind. Damit spaltet eine feministische Genealogie unaufhörlich.8 Die Abhängigkeit ist mit Autorität verbunden, die „in der Fähigkeit [besteht], die Vergangenheit zu vermitteln, zu vertreten und dabei zu ermögli-

Sprache verleugnet“, möchte Irigaray das „Sein in der Weise [...] interpretieren, daß es schon immer die Rolle der Copula (wieder) eingenommen hat“ (Irigaray 1979/1977, S. 159). 8 | Die Genealogie gewinnt ihren dekonstruierenden Charakter durch diese Spaltung des vermeintlichen Einen und nicht aus der Suche nach Brüchen. Insofern spaltet die hier eingenommene feministisch-genealogische Perspektive das genealogische Verfahren selbst durch die Berücksichtigung der doppelten Differenz der sexuellen und generationalen Ordnung.

Geschlecht als weibliches Geschlecht

chen, dass sie sich erneuert“ (Casale 2016, S.  215).9 D.h. zentrales Merkmal der Autorität ist die geschichtlich erzeugte hierarchische Differenz, die jedoch nicht als Zwang zu verstehen ist, sondern als Ermöglichung. In diesem geschichtlichen Bezug ist die Abhängigkeit der Gegenwart, oder umgekehrt formuliert, die Unmöglichkeit ihrer absoluten Autonomie begründet, insofern Gegenwart (und auch Zukunft) als solche einer Vermittlung ihrer Geschichte bedürfen und diese nicht aus sich heraus herstellen können.10 Die Autorität ist in ihrem modernen Begründungskontext politisch durch die an Ämter und Institutionen gebundene „Vertretung der allgemeinen Interessen“ und pädagogisch durch die generationale Differenz, „ein Surplus an Erfahrung und Wissen“ (ebd., S. 207f.), legitimiert. Die Differenz zu leugnen oder einen absoluten Ursprung zu setzen, würde bedeuten, die Verbindung zur Geschichte abzuschneiden. Die Repräsentation dieser Geschichte (in Form des Staates, der Eltern/Erziehenden), die die Gegenwart und Zukunft ermöglicht, ist die Voraussetzung von Gesellschaft und pädagogischer Beziehung (vgl. ebd., S.  219): Das Autoritätsprinzip ist als „Gesetz für die Gestaltung des Sozialen und der Subjektkonstitution“ (ebd., S. 209; Herv.i.O.) zu verstehen. Indem die Autorität vermittelt, wird ein kausales oder unmittelbares Verhältnis von Individuum und Welt überschritten. Autorität ist dann das Dritte, „das Gesetz der symbolischen Ordnung“ (ebd., S. 220), das das Generationen- wie Geschlechterverhältnis strukturiert. Daraus ergibt sich nicht kausal eine spezifische generationale und geschlechtliche Ordnung; d.h. das Patriarchat zu bekämpfen ist nicht an die Bekämpfung der Autorität und der notwendigen Vermittlung der symbolischen Ordnung gebunden (vgl. ebd.).11

9 | Von daher ist Autorität auch nicht mit Herrschaft zu verwechseln, sie zeichnet sich, wie Hannah Arendt den römischen Begriff der auctoritas erläutert, gerade dadurch aus, eben keine Gewalt anzuwenden: Die Autorität hat zur Aufgabe, Rat zu erteilen und zwar an einen Ratsuchenden, der sich freiwillig an die Autorität bindet, weil er darauf vertraut, dass ihm der Rat in seinem Sinne und aus einer seine Fähigkeiten übertreffenden Position heraus, gegeben wird (vgl. Arendt 2000/1956, S. 188; vgl. dazu auch Rabe 1972, S. 383; Eschenburg 1976/1965, S. 11ff.). Das bedeutet jedoch auch, dass die Autorität in einem relationalen Verhältnis zum Ratsuchenden steht, sie ist „auf die Anerkennung von Anderen angewiesen“ (Casale 2016, S. 214). 10  | Hannah Arendt führt diesen Bezug mit der römischen auctoritas als die vergangene und zu vermittelnde Stiftung ein (Arendt 2000/1956, S. 187f.). 11 | In ihrem Aufsatz über die Krise der Repräsentation untersucht Casale (2016) das Verhältnis von Pädagogischem und Politischem im Hinblick auf die Bedeutung der Autorität. Demnach ist in der Gegenwart der Verlust des Symbolischen sowohl im Politischen wie im Pädagogischen die Bedingung der Ökonomisierung von Politik und Pädagogik; eine Reduktion der Veränderungen auf die Ökonomisierung ordne hingegen das Pädagogische dem

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Die geschichtliche Bedingung einer männlich orientierten Ordnung des generationalen und geschlechtlichen Verhältnisses (nach dem Gesetz des Vaters/des Einen, ohne sexuelle Differenz) zu kritisieren, heißt für Irigaray nicht, die Notwendigkeit von Ordnung zu bestreiten. Vielmehr problematisiert sie, dass die Mutter in einer väterlichen Autoritätsvorstellung in ihrer Geschichtlichkeit verschwindet (vgl. Irigaray 1989/1980, S.  35). Ein Verhaften in der Gegenwart und ein lineares, auf die Zukunft gewendetes Denken – der Fortschritt – sind jedoch ebenfalls an das Vergessen der Mutter gebunden (vgl. ebd.). Eine Genealogie, die die geschlechtliche wie generationale Differenz berücksichtigt, hat damit Folgen für die Autorität, insofern sie die Geschichte von Frauen einbeziehen muss. Wenn hier ein wortwörtlicher Wechsel von der Mutter zur Frau stattfindet, wird damit die Reduktion der Frau auf das ‚Kinder zur Welt bringen‘ zurückgewiesen. Frauen „erzeugen und erschaffen anderes als Kinder: Liebe, Begehren, Sprache, Kunst, Soziales, Politisches, Religiöses etc.“ (ebd., S. 41). Feministisch ergibt sich daraus die Frage, wie die Autorität als Position der Vermittlung zwischen Vergangenheit und daraus ermöglichter Zukunft zu einer Genealogie verhelfen könnte, die Geschlecht und insbesondere den vergessenen oder nicht-repräsentierten Teil von Geschlecht berücksichtigen würde.12 Wenn Erziehungswissenschaft und feministische Theorie generationale und geschlechtliche Ordnung thematisieren, lassen sie genealogisch gedacht das Ungedachte und Tabuisierte – also die Abhängigkeit in der Differenz – hervortreten.13

Rekonstruktion von Geschlecht und Heim Die Rekonstruktion der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung erfolgt ausgehend von dieser erziehungswissenschaftlichen, feministisch-theoretischen Genealogie-Perspektive. Während die Kategorie Geschlecht in Kapitel 2 einer erkenntnistheoretischen Dekonstruktion unterzogen wird, stellt der Begriff ‚Geschlecht‘ in Kapitel 1 eine heuristische Figur dar, anhand derer die zeitgenössischen binären und naturalisierenden Deutungen von Geschlecht und ihre semantische Verschiebung beschrieben werden. Dazu wird von Politischen unter und vernachlässige „die immanenten Dynamiken der Transformation von pädagogischen Beziehungen“ (ebd., S. 207). 12 | Beispiele feministischer Genealogie-Entwürfe finden sich in der Suche Luisa Muraros (1989) und der Veroneser Gruppe DIOTIMA (1999) nach nicht-patriarchalen Formen von Autorität. In ihrer Diskussion von weiblichen Beziehungsverhältnissen fordert Irigaray „eine Symbolik zwischen Frauen“ (Irigaray 1991/1984, S. 125), nach anderen (also nicht-phallogozentrischen) Maßstäben. 13 | Die Angewiesenheit in der generationalen wie geschlechtlichen Differenz belebt das Unbehagen, das das Subjekt immer begleitet; ein möglicher Grund für die Abwehr und Abwertung erziehungswissenschaftlicher und feministischer Erkenntnis (vgl. Windheuser 2014, S. 215ff.).

Geschlecht als weibliches Geschlecht

einem weiten Kontext ausgegangen – im Sinne der zeitlichen und räumlichen Bedingtheit von Geschlecht in der Heimerziehung. Das heißt, der sozialgeschichtliche Kontext beschränkt sich nicht auf die Heimerziehung, die sozialpädagogische Disziplin wie Profession, sondern bezieht soziale, kulturelle, ökonomische und staatliche Bedingungen mit ein. Das bedeutet auch, gängige Lesarten der Geschichte des Heims zu überschreiten und nach den Verbindungen zwischen Geschlecht und Heimerziehung zu suchen, die in jenen Lesarten nur bedingt berücksichtigt werden.14 Die genealogische Perspektive auf Geschlecht als Voraussetzung seiner gegenwärtigen Fassung wird anhand dreier Zäsuren feministischer beziehungsweise frauenpolitischer Artikulationen eingenommen. Die Zäsuren wurden danach ausgewählt, inwiefern sie die Kategorie Geschlecht zu einer relevanten oder gestaltenden Kategorie für die (stationäre) Jugendhilfe beziehungsweise Sozialpädagogik werden ließen und gegebenenfalls in diesem Kontext staatspolitische Interventionen erfolgten. Der betrachtete Zeitraum beginnt mit der Wende zum 20. Jahrhundert, weil sich zu diesem Zeitpunkt konkrete Vorläufer aktueller stationärer Erziehungshilfe herausbilden und eine frauenpolitisch motivierte Implementierung von Sozialer Arbeit erfolgt.15 Letztere ist bedeu14 | Auch im Hinblick auf die frauenbewegte Geschichte der Sozialpädagogik kann die Darstellung nicht der „Rekonstruktion einer pädagogisch-philosophischen, gesellschaftskritischen Traditionslinie der Sozialpädagogik“ (Althans 2007, S. 19) folgen, die sich auf ‚männliche Klassiker‘ stützt (ebd.). Beispielsweise argumentiert Christian Niemeyer, dass Alice Salomon nicht als Klassiker der sozialpädagogischen Theorie aufgeführt werden könne, weil sich ihre „Leistungen auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege nicht dem Begriff Sozialpädagogik als eines ‚erziehungswissenschaftlichen Terminus‘“ (Niemeyer 1998, S. 11) fügten. Auf der Basis dieser Unterscheidung wäre die Frauenbewegung schwer zu erfassen (vgl. dazu auch Althans 2007, S. 10ff.). Hinzu kommt, dass die Heimerziehung, historisch betrachtet, vor allem einen nicht- bis semiprofessionellen Bereich der Pädagogik darstellt, was einen solchen Zugang ebenfalls an seine Grenzen geraten lässt. Eine Arbeit, die den Zusammenhang von Frauenbewegung und mädchenspezifischen Jugendhilfeeinrichtungen in den Mittelpunkt rückt, ist Johanna Peitschs Dissertation (2012), deren historische Kontextualisierung über die vorliegende Untersuchung insbesondere im Vergleich von DDR und BRD beziehungsweise ab den 1990er Jahren von ost- und westdeutschen Entwicklungen hinausweist. Peitschs Darstellung ist allerdings von der vorliegenden zu unterscheiden hinsichtlich ihrer Beschränkung auf Mädchen und ihres Fokus‘ auf Parteilichkeit als pädagogischem wie wissenschaftlichem Konzept. 15  |  Die Darstellung ist auf deutsche Entwicklungen begrenzt, weil es um spezifische rechtliche, professionelle und disziplingeschichtliche Prozesse geht, die aufgrund der Verankerung von Jugendhilfe in staatlichen Strukturen länderabhängig sind. An der Wende zum 20. Jahrhundert wird durch rechtliche und weitere Modernisierungsprozesse eine zunehmend flächendeckende Institutionalisierung der Heimerziehung hervorgebracht. Zu Recht bemerkt

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tend, da sich erst mit ihr eine bewusste Problematisierung von Geschlecht in einer per se geschlechtlich geordneten Pädagogik16 vollzieht. Die erste Zäsur umfasst die frauenbewegte sozialpädagogische Institutionalisierung und VerWolfgang Trede, dass der international-vergleichende Forschungsstand zur Heimerziehung Nachholbedarf hat (vgl. 2010, S. 109): Im europäischen Vergleich sind die modernisierenden Entwicklungen geschichtlich unterschiedlich gelagert. Dennoch zeigt sich insgesamt eine starke Verknüpfung von Zucht- und Armenhäusern in den Anfängen. In Großbritannien beispielsweise gab es eine länger anhaltende Tradition der „Armutsverwaltung“ (Trede 1999, S. 319), die zunächst Ende der 1940er Jahre eine bindungstheoretisch und psychoanalytisch motivierte Kritik aufbrach. Eine weitere Zäsur stellten Heimskandale der 1980er Jahre dar. Wie in vielen europäischen Ländern kam es in der letzten Dekade zur Aufdeckung von sexueller Gewalt gegen Kinder, insbesondere in kirchlichen Einrichtungen. In Polen hingegen spielen bereits früh pädagogische Konzepte gegenüber der Reduktion auf Armen- und Arbeitshäusern eine Rolle, wie insbesondere Janusz Korczaks reformpädagogischer Ansatz zeigt; nach der Gewalt der Nationalsozialisten gerieten zudem unter dem Einfluss der Sowjetunion ‚sozialpädagogische‘ Ansätze als ‚bürgerlich‘ in Verruf (vgl. Trede 1999, S. 324). Mit den Ideen der Heimkampagne (s. Kapitel 1.2) verwandt sind die italienische und britische Antipsychiatriebewegung seit Ende der 1960er Jahre (vgl. Majerus 2010, S. 5f.). Während durch eine Kritik an den ‚totalen Institutionen‘ (Goffman 1973/1961) im westlichen Europa Reformen angestoßen werden, wird unter der Diktatur Nicolaes Ceauşescus in Rumänien von den 1970er Jahren bis im Jahr 1989 Heimunterbringung zum bevölkerungspolitischen Mittel mit brutalen körperlichen und psychischen Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen (vgl. Nelson/Fox u.a. 2014). Insgesamt lässt sich festhalten, dass es im europäischen Vergleich zwischen den 1970er und 1990er Jahren zu einer Umgestaltung der Heimerziehung kam, bei der insbesondere die Großheime an Bedeutung verloren (vgl. Trede 2010). Dabei führen unterschiedliche politische, wirtschaftliche und pädagogische Bedingungen zu ebenso unterschiedlich gelagerten Schwerpunkten in der öffentlichen Erziehung. In der knappen Darstellung wird deutlich, dass trotz der spezifischen Ausprägungen, insbesondere Fragen von gewalttätigen Verhältnissen in pädagogischen Institutionen und ihre Kritik nicht national beschränkt sind. 16  | Die genealogische Rekonstruktion geschlechtsspezifischer Ordnungen der sozialarbeiterischen Professionalisierung geht „mitten ins Herz“ (Maurer 1997, S. 46; vgl. Althans 2007) der sozialpädagogischen Teildisziplin. Aufgrund meiner Fragestellung und meines Gegenstands begrenze ich mich an dieser Stelle auf die Teildisziplin, dennoch ist Barbara Rendtorff und Vera Moser zuzustimmen, dass die Kritik der Geschlechterordnung provozierend auf die Erziehungswissenschaft im Allgemeinen wirkt, da sie u.a. über die dualistische und hierarchische Ordnung der Begriffe von Erziehung und Bildung bis in Kernbereiche der gesamten Disziplin vordringt (vgl. Rendtorff/Moser 1999, S. 60f.). Vgl. dazu auch Casale 2012, S. 130f. über die Geschlechterordnung im Humboldt’schen Bildungsideal: Die Öffentliche Bildung, die Freiheit ermögliche, gehöre demnach in Männerhand, während die Frau für die Erziehung zur Sittlichkeit im Privaten zuständig sei.

Geschlecht als weibliches Geschlecht

beruflichung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihre Transformation im Nationalsozialismus. Ihr folgt die zweite Zäsur der zweiten Frauenbewegung im politischen Umbruch von 1968 bis zur Mädchenhausbewegung. Die letzte Zäsur umfasst die Zeit von 1990 bis heute als vermeintliche Entpolitisierung und Institutionalisierung vom Kinder- und Jugendhilfegesetz bis zur erstarkenden konservativen Frauenlobby der Gegenwart. Die letzte Zäsur bildet den Schwerpunkt in Kapitel 1, weil sie die gegenwärtige Bedingung der stationären Jugendhilfe markiert und damit die unter Kapitel 3 dargestellten fotografiegestützten Interviews mit Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe kontextualisiert. In allen im Folgenden beschriebenen Zäsuren finden sich drei Bezugspunkte in unterschiedlicher Reihenfolge und Schwerpunktsetzung wieder: 1) die Formation der jeweiligen Frauenbewegung im Verhältnis zur Heimerziehung; 2) die Rahmenbedingungen von Heimerziehung (z. B. auf struktureller und juristischer Ebene beziehungsweise bezüglich der Profession und Disziplin); 3) die politischen Bedingungen für die Auseinandersetzung mit Geschlecht, insbesondere im Verhältnis zu den Kategorien Klasse und ‚Rasse‘/ Nation.17 Die jeweils spezifische Bestimmung der Kategorie Geschlecht in der stationären Jugendhilfe zeigt sich in den Zäsuren vor allem bezüglich des jeweiligen Verständnisses von Geschlechterverhältnis, Elternschaft, Familie, Erziehung 17  | ‚Rasse‘ und Nation werden gemeinsam genannt, da sie in der europäischen Moderne und durch den Kolonialismus über den Mythos „nationale[r] Identität“ im Sinne eines „reinen, ursprünglichen ‚Volkes‘“ (Hall 1994, S. 203, Herv.i.O.) verwoben sind. In Anlehnung an Cornelia Klinger (2008) sind die drei Kategorien ‚Geschlecht, ‚Rasse‘ und Klasse‘ als konstituierend für die Moderne wie auch als deren Produkt zu betrachten, weil die Entwicklungen von Industrialisierung, Kolonialisierung und Vernaturwissenschaftlichung untrennbar mit ihnen verbunden sind. An ihnen richten sich die dichotomisierenden und hierarchisierenden Differenzierungen von Welt durch den eurozentrischen Blick aus. Das ist insofern wichtig, weil ich davon ausgehe, dass das gegenwärtige Geschlechts- und Subjektverständnis der stationären Erziehungshilfe im diskursiven Verlauf moderner Heimerziehung seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verankert wird. Seit Kimberlé Crenshaws (1989) theoretischem Entwurf wurde die Verknüpfung unterschiedlicher Kategorien mit ungleichheitsgenerierender Wirkung unter dem Stichwort ‚Intersektionalität‘ diskutiert und im deutschsprachigen Raum (wenn auch zeitverzögert) insbesondere von Helma Lutz und Norbert Wenning (2001), Katharina Walgenbach (2007), Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp (z. B. 2008) als analytisches Instrumentarium rezipiert und neu gedacht. Wie sich in meiner Auseinandersetzung mit dem Kategorienbegriff in Kapitel 2 zeigen wird, ist Intersektionalität – trotz der partiellen Überschneidung – nicht der Zugang, mit dem ich meine methodologische Problemstellung bearbeiten werde. Vielmehr gehe ich mit der grundlegenden Frage nach der Kategorie einem dem Konzept der Intersektionalität vorgängigen Problem nach.

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Geschlecht und Heimerziehung

und Sexualität. Die Heimerziehung als Ort der staatlich arrangierten Erziehung scheint ein Ausdruck der Normierung dieser Lebensbereiche zu sein, also festzulegen, was akzeptabel sein kann und was sanktioniert werden muss. Insbesondere der Sexualität kommt im Hinblick auf Normierung und Abweichung eine strukturierende Bedeutung bezüglich der Kategorie Geschlecht zu.

1.1 D as abweichende G eschlecht. F r auenbe wegte S oziale A rbeit und ihre Tr ansformation im N ationalsozialismus Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kann von einer professionalisierenden Entwicklung der Sozialpädagogik/Sozialarbeit ausgegangen werden (vgl. Braches-Chyrek 2013, S. 92ff.). Im Rahmen dieser Entwicklungsprozesse erfolgte mit der Wende zum 20. Jahrhundert verbunden mit der ersten Frauenbewegung ein Institutionalisierungsschub, der sich insbesondere in der Gründung Sozialer Frauenschulen ausdrückte. Der Anstoß kam von bürgerlichen Frauen, die das Ziel hatten, der sozialen Frage professionell zu begegnen und bürgerlichen Frauen zu einem Beruf zu verhelfen. Daraus ergab sich die Konstellation von bürgerlichen Fürsorgerinnen und proletarischen/armen Fürsorge-Bedürftigen. Geschlecht gewann insofern für die Soziale Arbeit18 zunächst in einer ersten Differenzierung der Kategorien Geschlecht und Klasse an Bedeutung. Die in diesem Kapitel angelegte lange Zeitspanne von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Nationalsozialismus liegt in der Frage begründet, wie sich Heimerziehung und Geschlecht im Verhältnis zueinander gestalteten. An dieser Stelle ist erneut das Anliegen einer feministischen Genealogie zu betonen, die weniger darauf zielt, eine durch Geschlecht ‚vervollständigte‘ oder vollständigere Historiographie vorzulegen, sondern darauf, die ihr eingeschriebene inhärente Spaltung durch Geschlecht sichtbar werden zu lassen. In der ersten Zäsur wird aufgrund der Verbindung zur Heimerziehung von der gängigen internationalen Verortung der sogenannten ersten Frauenbewegung zwischen 1848 und 1914 bewusst abgewichen. Es handelt sich um die sogenannte Frauenbewegung, insofern sie nicht als einheitlich zu verstehen ist, sondern sich in die „gemäßigten, radikalen, sozialistischen, bürgerlichen, sozialdemokratischen und proletarischen Flüge[l]“ (Braches-Chyrek 2013, S. 83) teilte. Die durch die bürgerliche Frauenbewegung angestoßene Verberufli18  |  In Kapitel 1.1 zeigt sich, dass Soziale Arbeit ein treffender Begriff ist, insofern damit die Lohn- beziehungsweise Berufsarbeit der Fürsorgerinnen gemeint ist. Er markiert zudem das weiter unten aufgegriffene Dilemma eines Bruchs zwischen der gesellschaftsanalytischen Sozialpädagogik im 19. Jahrhundert und der Institutionalisierung und Verberuflichung der Fürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. auch Hornstein 1995, Lütke-Harmann 2016).

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chung in der Fürsorge hatte nur bedingt Auswirkung auf die Heimerziehung. Zwar hatte schon Johann Hinrich Wichern im Zuge der Einrichtung des ‚Rauhen Hauses‘ seit den 1830er Jahren eine an junge Männer gerichtete christliche Erzieherausbildung beziehungsweise Ausbildung zum ‚Hausvater‘ angelegt (vgl. Amthor 2012, S. 127f.), die jedoch nicht in ein flächendeckendes Ausbildungssystem mündete. Parallel dazu waren bereits im 19. Jahrhundert Frauen in den „Rettungshäuser[n]“, „Armen- und Werkhäuser[n]“ und „Magdalenien und deren katholischen Gegenstücke[n]“ (Gehlthomholt/Hering 2006, S. 23; vgl. Braches-Chyrek 2013, S. 224) tätig. Vornehmlich handelte es sich aber um kirchliche und private Initiativen. Erst im Zuge der sich neu gründenden Sozialen Frauenschulen kam es zu einer Verankerung der Ausbildung in den „Richtlinien für die Lehrpläne der Wohlfahrtsschulen“ (Preußisches Ministerium für Volkswohlfahrt 1930). Darin erhält die „Geschlossene Erziehungsfürsorge (Anstaltsfürsorge)“ (ebd., S. 66ff.) den Status eines eigenen Faches. Dies war auch dem Umstand geschuldet, dass die zuvor größtenteils durch Vereine organisierte Wohlfahrtsarbeit in den 1920er Jahren zur Aufgabe öffentlicher Körperschaften wurde (vgl. Braches-Chyrek 2013, S. 232; Schmidt 2002, S. 12). Die Einrichtung staatlich legitimierter Ausbildungsstätten war somit neben der Etablierung einer staatlich beaufsichtigten Heimerziehung ein wichtiger Schritt der Institutionalisierung der Heimerziehung. Allerdings wird nur von „vereinzelt“ in der Heimerziehung tätigen „Absolventinnen“ Sozialer Frauenschulen ausgegangen, während „zahlreiche männliche und weibliche Orden und Kongregationen in der Heimerziehung [...] tätig waren“ (Amthor 2003, S. 274). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügte das „Erziehungspersonal in den Waisenhäusern [...] weiterhin in aller Regel über keine hinreichend soziale Berufsausbildung“ (ebd., S.  272) und gehörte primär nicht dem Bürgertum an (vgl. ebd., S. 273). Die vereinzelt Ausgebildeten kamen aus den an Fröbel-Schulen angebotenen Ausbildungsgängen der Kindergärtnerin, Hortnerin und Jugendleiterin (vgl. ebd., S. 274). Die christlichen Ausbildungsgänge waren häufig aus finanziellen Gründen auf sogenannte „Kurse“ (ebd., S. 275) begrenzt. Mehrjährige Ausbildungen ergaben sich insbesondere aufgrund religiöser Inhalte und mündeten eher in Leitungspositionen (vgl. ebd., S.  275ff.).19 Der nur schleppende Eingang pädagogischer Neuerungen und entsprechend Ausgebildeter in die Heimerziehung hängt mit der strafrechtlichen Geschichte und den kirchlichen Trägerschaften der Heimerziehung zusammen. Die überwiegend kirchlichen Einrichtungen und die strafend-disziplinierenden Anstalten boten aufgrund ihrer bestehenden

19 | Jedoch kann für die 1920er Jahre eine programmatische Öffnung der pädagogischen Ausrichtung von Heimerziehung und zugehöriger Ausbildung katholischer Anbieter festgehalten werden, die sich aber nicht in der Praxis niederschlug (Amthor 2003, S. 374).

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Institutionalisierung, ihres vorhandenen Personals und ihres Auftrags wenig Gestaltungsmöglichkeit für die neuen Fürsorgerinnen.20 Darüber hinaus unterscheidet sich das Heim aufgrund der kirchlichen wie strafrechtlichen Verankerung von anderen ‚stationären‘ Einrichtungen für Kinder und Jugendliche: Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen Internaten als Bildungseinrichtungen im Gegensatz zu Heimerziehung im Sinne disziplinierender Fürsorge.21 Die hier deutlich werdende Grenze zwischen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen verweist auf die hierarchische Unterscheidung von Erziehung und Bildung als Disziplinierung beziehungsweise Autonomieentwicklung, wie sie seit dem 18. Jahrhundert eine klassenspezifisch und geschlechtspezifisch zugeschnittene Frage darstellte.22 „Die Ju20 | Dabei lässt sich herausstellen, dass die konfessionellen wie weltlichen Anstalten „inhaltlich wie organisatorisch stark an der christlichen Rettungshauspädagogik“ (Steinacker 2007, S. 99) orientiert waren. 21  | Demnach ist der Bildungsanspruch der Kinder- und Jugendhilfe, wie er heute bekannt ist, eine sehr junge Erscheinung. Neben der kommunalen Betreuung von Waisen oder sozial verwaisten Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Armenpflege (die bereits im Mittelalter einsetzte, vgl. Amthor 2012, S. 62f.) fußt die deutsche Heimerziehung historisch im Strafrecht (§§ 55-56 RStGB für das Deutsche Reich von 1876). Darin gab es ausschließlich Zwangserziehungsmaßnahmen, die bei Begehung einer Straftat verhängt wurden. Eine entscheidende Änderung erfolgte 1900 sowohl für die Ausrichtung der sich zaghaft professionalisierenden Fürsorge als auch für ihre geschlechtsspezifische Orientierung. In diesem Jahr wurde der Möglichkeit der Zwangserziehung ein fürsorgerisches Pendant hinzugefügt: Mit § 1666 des BGB wurde staatliche Erziehung außerhalb des Elternhauses auch für die Kinder und Jugendlichen möglich, die nach damaligen Einschätzungen als ‚verwahrlost‘ galten. Zudem eröffnete sich damit die staatliche Finanzierung von Heimeinrichtungen. Der Professionalisierungsschub in der Fürsorge war dabei maßgeblich durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates getragen (vgl. Dollinger 2006, S. 391f.). Die juristischen Entwicklungen folgten damit den Annahmen der (Fach-)Öffentlichkeit, die in der, vor allem proletarischen, Jugend die Gefahr der ‚halbstarken‘ Jungen und der ‚sittlich verdorbenen‘ Mädchen sahen (vgl. Blum-Geenen 1997, S. 15). In der Verschiebung von der „Zwangserziehung“ bei Straftaten zur „Fürsorgeerziehung“ mit dem daran gebundenen pädagogischen Eingriff im BGB § 1666 BGB kam es zu „gravierenden Änderungen des Interventionsspielraumes“ (Steinacker 2007, S. 80). Die rechtlichen Rahmenbedingungen waren bis zur Einführung des SGB VIII 1990 prinzipiell vom Disziplinierungsgedanken bestimmt. In der Fachsprache kommt es am Ende der 1960er Jahre zu einer generellen Problematisierung des Verwahrlosungsbegriffs (vgl. Thiersch 1973/1967; wobei insb. Thiersch in seinem Ersatz von Verwahrlosung durch Dissozialität erneut zur Pathologisierung und Identifizierung greift.). 22 | So sind mit Jean-Jacques Rousseau (1995/1762) und Joachim Heinrich Campe (1988/1789) Vordenker genannt und mit Mädcheninternaten Institutionen, die sich primär an das Bürgertum wandten (vgl. dazu auch Jonach 1997).

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gendfürsorge des Kaiserreiches wurzelte in den religiös motivierten Versittlichungsstrategien des 19. Jahrhunderts“ – also der Rettungshausbewegung – und der Disziplinierung zur „rationalen Lebensführung“ in den „Armenund Werkhäusern“ (vgl. Schmidt 2002, S. 25). Zudem wurde im Jahr 1922 in der Präambel des Reichjugendwohlfahrtsgesetzes das „Recht auf Erziehung“ (§1 RJWG) und nicht auf Bildung festgehalten. Zwar wurde mit dem eingeführten ‚Recht auf Erziehung‘ der notwendigen pädagogischen Dimension, nicht aber dem Zusammenhang von Erziehung und Bildung Rechnung getragen. Die Begrenzung auf Erziehung in der Fürsorge verbleibt so in der dualistischen und hierarchischen Ordnung der Begriffe von Bildung und Erziehung, obwohl daraus für die Heimerziehung kein spezifisch weibliches Berufsfeld entsteht. Für ihre Tätigkeit allgemein führen die bürgerlichen Fürsorgerinnen die Trennung fort, insoweit sie ihre Aufgabe in erster Linie eher in der Versorgung, Betreuung und Anpassung sehen und vor allem durch Klassenunterschiede in die Position versetzt werden, diese Aufgabe gegenüber ihrer (sub-) proletarischen Klientel zu übernehmen. Die problematische Fokussierung auf und von Erziehung in der Fürsorge kann jedoch nicht allein auf die geschlechtlich geordnete Unterscheidung von und die klassenspezifisch unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu Erziehung und Bildung zurückgeführt werden.23 Wie Walter Hornsteins Rekonstruktion des Sozialpädagogikverständnisses des 19. Jahrhunderts gegenüber dem der Weimarer Republik deutlich macht, wäre theoretisch ein emanzipativer Rückgriff auf ‚Erziehung‘ in Paul Natorps Sinne möglich gewesen (vgl. Hornstein 1995, S.  16). Letzterer hatte Erziehung und Bildung in ihrer sozialen Bedingtheit und als Bedingung des Sozialen stark gemacht. Indem Gertrud Bäumer Ende der 1920er Jahre in Bezugnahme auf Herman Nohl Sozialpädagogik zu einem vorläufig klar umrissenen Berufs- und Gegenstandsfeld machte, änderten sich Funktion und Ziel der Sozialpädagogik (vgl. ebd., S. 17ff.). Hornstein verortet den Grund für diesen Wandel in den spezifischen Aufgaben der Zeit, im Sinne einer Kritik an bestehenden Verhältnissen in den konkreten Fürsorgekontexten. Insbesondere aus Nohls Bestimmung der Sozialpädagogik und der damit einhergehenden völkischen Gemeinschaftsvorstel23 | Diese Trennung kann zudem nicht als ausschließliche angesehen werden, weil es reformpädagogische Bemühungen gab, die auch Bildung für die Zöglinge anstrebten, wie vor allem Siegfried Bernfeld (1921; insbesondere in dem vorgelegten Bericht über das Kinderheim Baumgarten wird dieses auch als Schule betrachtet) oder Janusz Korczak (1999/1920) zeigen, die aber zugleich auch Beispiele dafür sind, wie solche Ansätze für die Heimpraxis eher Ausnahmen darstellten; insbesondere wenn Bernfelds kurzes Wirken im Kinderheim Baumgarten und Korczaks spätere Ermordung im Nationalsozialismus berücksichtigt werden. Ich danke Fabian Kessl für seinen Hinweis auf diese Gebrochenheit im ambivalenten Verhältnis von Bildung und Erziehung im Kontext der Heimerziehung.

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lung ergaben sich fatale Folgen (vgl. Lütke-Harmann 2016, S. 177ff., 191ff.), was sich am Übergang zum Nationalsozialismus in den zunehmenden rassenhygienischen und eugenischen Positionen zeigt (vgl. Schnurr 1997, S.  18). Dabei drückt sich in Bäumers engem Begriff der Sozialpädagogik die Forderung nach autonomer Erziehung aus, die auch weitere Nohl-Schüler übernahmen. Die 1925 gegründete ‚Gilde Sozialer Arbeit‘24 steht hier für den „spezifischen ‚sozialpädagogischen‘ Berufsethos“ der Zeit, der sich fachlich und theoretisch an der „deutschen Reformpädagogik und der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, wie sie Nohl, Weniger, Spranger und Flitner“ (ebd., S. 42) vertraten, orientierte. Sie grenzte sich gegenüber der bisherigen Anstaltserziehung ab und verlegte in ihrem Modell die „Reform [der Anstalten] in die personale Kommunikationsstruktur“ (Henseler 2000, S.  186). Diese Individualisierung in der Fürsorge sollte nicht zur Vereinzelung führen, sondern einen Beitrag zur „heilenden Volksbildung“ leisten, der „ein organisches Volkskörperverständnis zugrunde lag“ (ebd., S. 188). Vor diesem Hintergrund ist die geschlechtliche Ordnung in der Heimerziehung nicht auf einen Ursprung zurückzuführen. Sie ist bedingt durch eine spezifisch durch Klasse und Geschlecht bestimmte historische Konstellation wie auch durch die politische nationalistische und rassistische Zuspitzung. Dabei war das Engagement vieler Akteurinnen in den Anfängen Sozialer Arbeit in der Beschäftigungslosigkeit von Frauen des Besitzbürgertums begründet. Die durch Ordensleute abgedeckte kirchliche Heimerziehung war allerdings kein Bereich, in dem bürgerliche Frauen nach Möglichkeiten suchten, Ehrenamt in berufliche Erwerbstätigkeit zu verwandeln.25 Das heißt auch, dass 24  |  Der ‚Gilde Sozialer Arbeit‘ gehörten u.a. Curt Bondy, Walter Herrmann, Elisabeth Blochmann und Erich Weniger an, aber auch Studenten Carl Mennickes (vgl. Henseler 2000, S. 184). Die Gilde löste sich 1933 auf und gründete sich 1944 neu. Zu der Gruppe gehörten zwar auch weibliche Mitglieder, eine frauenbewegte Position spielte jedoch kaum eine Rolle. Bezüglich der Reformbemühungen im Anstaltskontext während der Weimarer Republik, dürfen allerdings die Verbindungen zum völkischen Denken nicht außer Acht gelassen werden. Neben dieser Zentrierung auf das Volk zeigte die Autonomie-Forderung und die Reduktion auf das pädagogische Verhältnis, wie die Frage des Gesellschaftlichen ausgeklammert wurde. 25  |  Während in der bürgerlichen Bildungsdebatte geschlechtliche Erziehung zwar auch als disziplinarische Aufgabe betrachtet wurde, die jedoch gleichzeitig Entfaltungsmöglichkeiten und einen gesellschaftlichen Statusgewinn für Mädchen und Jungen mit sich bringen sollte (vgl. Schicha 2014, S. 40ff.), war der Anspruch in der Fürsorgeerziehung primär disziplinarisch ausgelegt. Zu begründen ist dies mit der überwiegenden Klassenzugehörigkeit der jeweiligen Adressat/innen von schulischen Bildungseinrichtungen (schließlich wird eine allgemeine Unterrichts- beziehungsweise Schulpflicht erst zwischen 1870 und 1920(!) durchgesetzt, vgl. dazu Diederich/Tenorth 1997, S. 15) gegenüber fürsorgerischen Disziplinaranstalten. Daneben ist die überwiegend kirchliche Trägerschaft entscheidend, aus deren

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die Wahrnehmung der eigenen Bedingtheit in der Hierarchisierung der reproduktiven und produktiven Sphäre der bürgerlich motivierten Fürsorgerinnen keineswegs mit einer entsprechenden Reflexion ihrer Klassenzugehörigkeit einherging. Die Klassenfrage trennte die bürgerliche Frauenbewegung von ihren proletarischen ‚Schwestern‘26 in einem doppelten Sinne, wie im Folgenden zu zeigen ist.

1.1.1 Frauenbewegte Soziale Arbeit ohne Heimerziehung Die erste Trennung betrifft eine strukturelle Differenz zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung: Für die Akteurinnen des Bürgertums war die weibliche Erwerbsarbeit ein anzustrebendes Ziel, während die proletarische Frauenbewegung hinsichtlich des Verhältnisses zu Beruflichkeit, Reproduktion und Erwerbsarbeit sich bereits aufgrund der wirtschaftlich notwendigen Beschäftigung mit Fragen der ‚Doppelbelastung‘ auseinandersetzen musste (vgl. Bock/Duden 1977). In den Reden und Veröffentlichungen von Clara Zetkin werden die Unterschiede insbesondere bezüglich des Frauenideals und der Erwerbsarbeit deutlich. Zetkin bettete „die Frage einer weiblichen Kulturentwicklung in die humanistische Idee allgemein menschlicher Ent-

Perspektive die ‚Verwahrlosten‘ beziehungsweise die Kinder der ‚Verwahrlosten‘ in erster Linie als Sünder/innen zu betrachten waren. Zudem ist die geringe Professionalisierungsrate der Erziehenden in den Heimen sowohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts als auch in der jungen Bundesrepublik zu nennen. Noch 1977 schätzte die Kommission Heimerziehung den bundesweiten Anteil unausgebildeter Beschäftigter, die in den Heimen zur Erziehung von Kindern und Jugendlichen herangezogen wurden, auf ein Drittel. Zudem sei für die als ausgebildet Geltenden festzuhalten, dass diese entweder unterqualifiziert oder unzureichend theoretisch wie praktisch ausgebildet seien (vgl. Kommission Heimerziehung 1977, S. 120). Zwar geht Heike Schmidt davon aus, dass die Fürsorgeerziehung ein Handlungsfeld gewesen sei, dass sich die Frauenbewegung erschließen konnte, allerdings zeigt auch sie, dass dies insbesondere aufgrund der Kluft zwischen bürgerlichen und fürsorgerischen Kontexten nur eingeschränkt geschah (vgl. Schmidt 2002, S. 161ff.). 26  |  Die Frage der Klassenzugehörigkeit ist zentral für den Zusammenhang von frauenbewegter sozialer Arbeit und Heimerziehung. Damit soll jedoch nicht die Ausdifferenzierung der bürgerlichen und sozialistischen Frauenbewegungen in einen „gemäßigten, radikalen, sozialistischen, bürgerlichen, sozialdemokratischen und proletarischen Flügel“ (Braches-Chyrek 2013, S. 83) geleugnet werden. Ebenso kann zwar von einer Trennung bezüglich der Heimerziehung ausgegangen werden, doch war die klassenerhaltende Tendenz im bürgerlichen Teil der Frauenbewegung nicht durchgängig zu beobachten, wie sich nicht zuletzt im Konflikt zwischen Helene Lange und Minna Cauer und Jeanette Schwerin zeigt (vgl. ebd., S. 228).

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wicklung ein“ (Friese 1996, S. 237).27 Während Helene Lange28 die Fabrikarbeiterinnen für ihre mütterliche Berufung ‚zurückgewinnen‘ wollte, sah Zetkin die Frauenerwerbsarbeit als das zentrale Mittel zur Emanzipation an, da sie wirtschaftliche Unabhängigkeit mit sich bringe (vgl. ebd.). Dabei unterlag das bürgerliche Ideal der Illusion, Hausarbeit und Erziehung seien die natürliche Bestimmung der Frau. Verkannt wurde, dass „die Bestimmung der Frau als ‚Hausfrau, Gattin, Mutter‘ zunächst die Norm einer bestimmten neuen, der bürgerlichen Schicht“ war und Hausfrauen- und Mutterdasein erst zur „einzig möglichen Existenzform“ (Bock/Duden 1977, S. 125) erklärt werden musste. Die zweite Trennung anhand der Klasse lässt sich bei dem Versuch beobachten, diese vermeintlich natürliche Bestimmung durchzusetzen. Trotz der Idee des Gemeinsamen ergibt sich durch die hierarchische Vermittlung in Form von Fürsorge eine bürgerliche Abgrenzung gegenüber der proletarischen ‚Klientel‘. In ihrem Kampf für Bildung sowie berufliche und politische Teilhabe war für einen Großteil der Akteurinnen der ersten Frauenbewegung in der Sozialen Arbeit das Konzept ‚geistiger Mütterlichkeit‘ handlungsleitend. „‚Mütterlichkeit‘ wurde zu einer Metapher, die sehr praxisnahe Emanzipationsbestrebungen, wie Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für Frauen beinhaltete, jedoch auch das Bemühen um neue Formen einer sozialen Gemeinschaft und Kultur. Mit der ‚geistigen Mütterlichkeit‘ wurde der Wert ‚weiblicher Begabung‘ für die Erziehung und Gemeinschaftsbildung unterstrichen“ (Schimpf 1999, S.  268). Die Adressatinnen dieser ‚mütterlichen‘ Fürsorgerinnen wurden zu „Hilfe suchende[n] bzw. hilfsbedürftige[n] Töchter[n] [...], wenn auch eingebettet in Fürsorglichkeit“ (Brückner 2010, S. 549). Die genannte Bezugnahme auf Mütterlichkeit ermöglichte den bürgerlichen Frauen in der Sozialen Arbeit in erster Linie eine eigenständige Berufstätigkeit, die sie nicht dem Vorwurf aussetzte, ihre „Weiblichkeit zu verleugnen“ (Hering/Münchmeier 2000, S. 49).29 Die Zuschreibungen von Mütterlichkeit 27 | Allerdings wandelte sich Zetkins Geschlechterbild: Während sie am Ende des 19. Jahrhunderts die Unterschiedlichkeit der Geschlechter noch radikal infrage stellte und primär die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung kritisierte, näherte sich ihr Geschlechterbild am Anfang des 20. Jahrhunderts den bürgerlichen Vorstellungen von sich ergänzenden Geschlechtern an (vgl. Friese 1996, S. 233ff.). Bezogen auf das Mutterideal forderte Zetkin dennoch eine gemeinsame Elternschaft von Mutter und Vater und bestritt den naturgegebenen ‚Mutterberuf‘ (vgl. ebd.). 28  |  Langes Perspektive war dabei durch die Perspektive des bürgerlichen Teils der Frauenbewegung und ihrer Gründerinnenrolle des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins bestimmt. 29 | Birgit Althans stellt bezüglich des ambivalenten Verhältnisses von geistiger und natürlicher Mütterlichkeit die These auf, dass sich der „Diskurs der Frauenbewegung [...] gewissermaßen mit der ihnen zugeschriebenen ‚weiblichen Natur‘ und den damit verbundenen besonderen weiblichen Eigenschaft [maskiert], um die besondere Eignung der Frauen zu bestimmten

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und Weiblichkeit entpolitisierten die soziale Frage und zogen die Grenze entlang bürgerlicher Normvorstellungen. Daraus folgte, dass Fürsorgerinnen mit der Ehe aus dem Beruf ausschieden und zudem die Weiblichkeits- und Sexualitätskonstruktionen im (Sub-)Proletariat als ‚unmoralisch‘ bewerteten beziehungsweise verurteilten (vgl. Lehnert 2010, S. 77). Damit wurde Mütterlichkeit weiterhin naturalisiert und die ökonomischen Zwänge kapitalistischer Lohnarbeit wurden, genau wie die unbezahlte Reproduktion, verdeckt. Allerdings kann das bürgerliche Konzept von Weiblichkeit auch als taktische Möglichkeit verstanden werden, überhaupt berufstätig sein zu dürfen. Das Engagement der Arbeiterbewegung im Bereich der Fürsorge kann jedoch nur bedingt als Gegenentwurf der bürgerlichen frauenbewegten Sozialen Arbeit angesehen werden. Zwar setzten sich kommunistische Reichstagsabgeordnete (u.a. Clara Zetkin) 1921 für eine „Humanisierung der Jugendfürsorge“ (Steinacker 2006, S.  17) ein, aber die Solidarisierung mit den ‚subproletarischen‘ Zöglingen hielt sich in Grenzen. Auch sie maßen die Zöglinge anhand damaliger Vorstellungen von ‚Verwahrlosung‘, ‚Asozialem‘ und ‚Prostitution‘ (vgl. ebd., S. 17f., S. 33). Ein auffallender Unterschied findet sich dennoch in der teils gestellten Diagnose, die Fürsorgeerziehung selbst würde die Kriminellen und Prostituierten erst heranziehen (ebd., S.  30f.). Fortschrittlich war darin das Bewusstsein für die Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit und staatlichen Institutionen. Darüber hinaus zeigt sich, wie die Existenzmöglichkeiten der Jugendlichen anhand von Normierungen von Geschlecht, Sexualisierung und Klasse eingeschränkt wurden. Hinsichtlich der Annäherung innerhalb der politischen Frauenbewegung beziehungsweise der frauenbewegten Sozialen Arbeit kann schlussfolgernd größtenteils von einer Reproduktion vorherrschender Differenzen ausgegangen werden. Die heute nachvollziehbare gemeinsame Entstehungsgeschichte30 von Sozialer Arbeit beziehungsweise sozialarbeiterischer Forschung und von Ausbildungsmöglichkeiten im expandierenden Betätigungsfeld rund um die ‚soziale Frage‘ zu besetzen“ (Althans 2007, S. 75), was zudem den Weg in die Wissenschaft eröffnet habe. 30 | Diese Geschichte musste jedoch im Zuge der zweiten Frauenbewegungen aus mehreren Gründen ‚reanimiert‘ werden. Dazu zählt u.a., dass wichtige Akteurinnen, wie Alice Salomon, durch die nationalsozialistische Verfolgung ins Exil gingen (vgl. Hering 1997, S. 36). Die nationalsozialistische Diktatur und ihre Verbrechen führten zu einer Zäsur in der sozialkritischen sozialwissenschaftlichen Empirie und in der frauenbewegten Sozialarbeit und Forschung. Allerdings kann nicht von einem radikalen Bruch zwischen bürgerlicher Frauenbewegung und Nationalsozialismus ausgegangen werden. Die Frauenbewegung war trotz ihrer progressiven Anteile durch den Nationalismus und die rassistischen Ideologien ihrer Zeit geprägt. Während des ersten Weltkriegs eilte der „Nationale Frauendienst“ unter Mitarbeit von Gertrud Bäumer, Marie Baum, Alice Salomon u.a. „dem bedrohten Vaterland zu Hilfe“ (Hering/Münchmeier 2000, S. 88).

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Frauenforschung (vgl. Hering 1997) zeigt allerdings eine über dieses Verhältnis hinausweisende wissenschaftliche Auseinandersetzung: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich eine sozialarbeiterische Frauenforschung, allerdings im außeruniversitären Kontext und zugleich in Abhängigkeit von einem geschlechtsspezifisch hierarchisch geordneten Verhältnis zu männlichen Sozialwissenschaftlern in den Anfängen empirischer Sozialforschung (vgl. ebd., S.  41f.; Meyer-Renschhausen 1996). Indem Frauenforscherinnen zum ersten Mal amtliche Statistiken vor dem Hintergrund sozialer Fragen analysierten, stellten sie auch das Klassensystem in seiner Statik infrage (entsprechende Studien: vgl. Andresen 2013, S. 23; vgl. Dollinger 2006, S. 177ff.). In den durch Reproduktion von Bestehendem und gleichzeitiger Analyse und Kritik deutlich werdenden Ambivalenzen, deutet sich ein ebenso ambivalentes Verhältnis der in sich differenten ersten Frauenbewegung zu den eigenen Bedingungen und zur Möglichkeit einer anders gelagerten Genealogie an: Durch die Betonung von Mütterlichkeit wurde einerseits die Utopie eines weiblich-genealogischen Denkens eröffnet, andererseits zugleich wieder durch die Konstruktion einer anderen – d.h. verwahrlosten – ‚Tochter‘ verhindert. Die von der Frauenbewegung angestoßene Beschäftigung mit proletarischen Ausbeutungsverhältnissen im Gegensatz zu Situationen, die sich aus der bürgerlichen Trennung in ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ ergaben, blieb entsprechend beschränkt. Es waren sowohl antifeministische Angriffe als auch die selbstauferlegte Orientierung an bestehenden Maßstäben, die die Frauenbewegung bedingten.

1.1.2 Nationalsozialismus und Fürsorge Das durch die Verberuflichung und Institutionalisierung Sozialer Arbeit ausgelöste Bildungsstreben weiblicher Fürsorgerinnen und deren zunehmende berufliche Tätigkeit wurden durch die nationalsozialistische Diktatur unterbrochen. Die Verfolgung politisch-kritischer Sozialarbeiterinnen und die gleichzeitige Systemkonformität der weiterhin tätigen Fürsorgerinnen trieben die Biologisierung der Tätigkeit und der Zielgruppen voran. So kann der Nationalsozialismus sowohl als Unterdrückung junger Sozialer Arbeit wie auch als Adaption dieser gewertet werden. Mitte der 1930er Jahre waren die Leitungspositionen in der noch verbliebenen Heimerziehung durch beruflich qualifizierte, systemtreue Personen besetzt (vgl. Amthor 2003, S. 384). Bis spätestens zum Kriegsausbruch galt das für die gesamten Berufstätigen in der Heimerziehung der ‚Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt‘ (vgl. ebd., S. 383). Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Heimerziehung reduziert wurde, da „Erbminderwertige“ (ebd., S. 380) aufgrund der bei ihnen angenommenen Aussichtslosigkeit aus der Fürsorgeerziehung entlassen und Opfer eugenischer Maßnahmen wurden. Während die Leitungspositionen systemtreu besetzt

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wurden, war die seit 1933 geforderte ‚Entkonfessionalisierung‘ der Fürsorgeerziehung nicht umzusetzen. Durch die vorherige Dominanz der konfessionellen Einrichtungen fehlte es an Strukturen und Personal (vgl. Lützke 2002, S. 34; Steinacker 2007, S. 635f.). Zugleich wurden jüdische und oppositionelle Frauen, die in Ausbildung und Berufsverbänden der Sozialarbeit tätig waren, entlassen und der Verfolgung ausgesetzt (vgl. Schnurr 1997, S. 37f.). Die bürgerlichen Moralvorstellungen bezüglich geschlechtsspezifischer Verwahrlosung wurden zu rassistischen und eugenischen Urteilen mit tödlichen Folgen radikalisiert.31 Die kirchlichen Einrichtungen sahen zwar christliche Ideale bedroht, waren jedoch zugleich von der „neuen Sittlichkeit“ (Lützke 2002, S. 35) beeindruckt.32 Auch bei den Versuchen der Weimarer Republik, Anstaltserziehung zu beschränken und gleichzeitig offene Jugend- und Familienfürsorge auszuweiten, klangen bereits Vorzeichen von eugenischer und rassenbiologischer Selektion an, wenn zwischen Leicht- und Schwererziehbaren beziehungsweise „Psychopathen“ und „Normalen“ unterschieden wurde (vgl. Hering/Münchmeier 2000, S. 141). Wie Ulrike Manz nachweist, kannte bereits die bürgerliche Frauenbewegung in der Weimarer Republik eugenische Kategorien, die nach dem Prinzip „gesund – krank“ (Manz 2007, S. 168) nach innen und außen die Grenzziehungen der konstruierten „Volksgemeinschaft“ (ebd., S. 167) erzeugten. Insbesondere in der Sozialen Arbeit nahm die gemäßigte bürgerliche Frauenbewegung eine ambivalente Position zur Eugenik ein. Einerseits standen einige eugenische Ideen im Widerspruch zu anderen frauenpolitischen Vorstellungen (Gleichwertigkeit mit Klientinnen), andererseits wurden eugenische Maßnahmen als „Hilfe für die Betroffenen intendiert“ (ebd., S.  134). Während die bürgerliche Frauenbewegung jedoch keine „konkrete[n] eugenische[n] Maßnahmen“ (ebd., S. 133), beispielsweise bezüglich der Fortpflanzung ‚Minderwertiger‘ befürwortete, verschob sich die Soziale Arbeit in der nationalsozialistischen Fürsorgearbeit hin zu einer Hilfsarbeit für eine 31 | Bezeichnend für das Zusammenspiel von Fürsorgeerziehung, Psychiatrie und die Erbgesundheitsjustiz im Nationalsozialismus ist u.a. der Beitrag „Die Notwendigkeit eines Reichbewahrungsgesetzes vom jugendpsychiatrischen Standpunkt aus“ (1939) des bethelschen Chefarztes Werner Villinger. Während Mädchen mit „sexueller Haltlosigkeit“ verdächtigt werden die „Volksgemeinschaft“ zu schädigen, gelten Jungen als „jugendliche Kriminelle“ mit „chronischer Arbeitsscheu“ (ebd., S. 12). 32 | Zu bedenken ist dabei der mehrfache blinde Fleck einer solchen Deutung des Nationalsozialismus durch die Kirchen: Der Nationalsozialismus wandte sich vom christlichen Anspruch der Nächstenliebe ab und bekämpfte ‚nur‘ die im nationalsozialistischen – sprich rassistischen, heterosexistischen und eugenischen – Sinne ‚entarteten‘ Formen von Sexualität, wie sie mit den 1920er Jahren und der Weimarer Republik in Verbindung gebracht wurden (vgl. Herzog 2005, S. 15ff.). Letztlich löste er damit nicht die Vorstellungen christlicher Sexualmoral ein.

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auslesende und ‚ausmerzende‘ Medizin. D.h. neben medizinischen Diagnosen wurde auch aufgrund sozialarbeiterischer Akten und Informationen beispielsweise über Zwangssterilisationen und Euthanasie entschieden (vgl. Hering/ Münchmeier 2000, S.  166f.). Obwohl diese ‚Volkspflege‘ als weibliche Tätigkeit galt, wurde die Bestimmung ‚der Frau‘ vor allem in der (eigenen) Familie und nicht im Beruf gesehen. Allerdings war die Familie kein privater Bereich mehr, Mutterschaft wurde eine öffentliche Aufgabe zum Erhalt des „Volkskörpers“ (ebd., S.  161). Während ‚geistige Mütterlichkeit‘ im bürgerlichen Sinne auf umsorgende und auf die Liebesfähigkeit der Mutter referierende Eigenschaften bezugnahm, wendete sich die Mutterrolle im Nationalsozialismus: „Darin treten die sinnlich-emotionalen Momente der Mutter-Kind-Beziehung zurück gegenüber einem rationalisierten Verhältnis, in welchem Aspekte der Hygiene, der Pädagogik und Psychologie dominieren. Es ist ein entleertes, auf Menschenproduktion angelegtes Verständnis von Mutterschaft“ (Reese-Nübel 1989, S. 121).33 Für die Heimerziehung brachte die rassenbiologische Ideologie eine Diffamierung milieuorientierter Erklärungsansätze und die Trennung der Fürsorgezöglinge nach erziehbar und ‚erbkrank‘ mit sich. Die Auslese von „Unerziehbare[n] und Erziehungsfähige[n]“ wurde zur „Grundlage der Heimerziehung“ (Gedrath/Schröer 2010, S. 873). Die gewaltsamen Folgen waren Internierungen in faktische „Jugend-Konzentrationslager“ (Hering/Münchmeier 2000, S. 185f.) und Zwangssterilisationen, legitimiert durch ‚biologische Erkenntnisse‘ der Rassenlehre.34 Esther Lehnert problematisiert die Internalisierung des Konzepts weiblicher Fürsorge als „organisierte“ Mütterlichkeit vor dem Hintergrund, dass damit die politische Funktion von Fürsorge geleugnet wurde und somit auch die systemstabilisierende Wirkung Sozialer Arbeit im Nationalsozialismus entfaltet werden konnte, anstatt die Fürsorge zum Anlass für Kritik zu nehmen (vgl. Lehnert 2010, S. 82f.). Darüber hinaus setzten sich in der zunehmenden Kriminalisierung von „Frauen und Mädchen, die ihre Sexualität losgelöst von Ehe, Familie und Mutterschaft lebten“ (ebd., S. 87), bürgerliche Normen fort. Nur ging es nun nicht um moralische Bedenken, sondern darum, die Volksgemeinschaft vor ‚minderwertigen Verunreinigungen‘ zu ‚schützen‘.35 33  |  Zu den Zielen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt gehörte es, Mädchen und junge Frauen in der Erziehung zu einem im rassenideologischen Sinne „rationalem Reproduktionsverhalten“ (Schnurr 1997, S. 37) anzuhalten. 34 | Ab 1940 bestand das „Jugendschutzlager“ Moringen für Jungen und ab 1942 das „Jugendschutzlager“ Uckermark für Mädchen (Schölzel-Klamp/Köhler-Saretzki 2010, S. 28). Vgl. auch Gedrath/Schröer 2010, S. 874. 35  |  Ende der 1920er Jahre „konkretisieren sich die Vorschläge von Kommunen und Fürsorgeträgern, wie man mit Landstreichern, Prostituierten, Armen, ‚Krüppeln‘ und ‚Sonderlingen‘ verfahren solle. Angeblich ‚von Natur aus asoziale und unwirtschaftliche Elemente‘, so die

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Als „gemeinschaftsunfähig (asozial)“ galten nun diejenigen, die „anlagebedingt [...] nicht [...] den Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft [genügten]“ (Rassenpolitisches Amt 1940, zit. n. Scherer 1990, S.  51; Herv. JW).36 Dazu gehörten Straftäter, ‚Arbeitsscheue‘, ‚Schmarotzer sozialer Leistungen‘, Eltern, die nicht erziehen und den Haushalt führen konnten, „Trinker“ und Menschen mit „unsittliche[m] Lebenswandel“ (ebd.), die damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Kontrolle von Frauen und Mädchen durch die Gesundheitsämter der Zeit richteten sich vor allem auf deren Sexual-, Fortpflanzungs- und Erziehungsverhalten (vgl. Czarnowski 1989, S. 135). Wie Annette Lützke (2002) zeigt, war die weiterhin bestehende konfessionelle Fürsorgeerziehung kein Gegenpol zur nationalsozialistischen Erziehung. Vielmehr kam, nach der Heimkritik während der Weimarer Republik, die ‚Rückbesinnung‘ auf ‚Zucht und Ordnung‘ den eigenen Zielen „Gehorsam, Fleiß, Sauberkeit und Unterordnung“ (ebd., S. 37) entgegen. Im Zuge der durch Verfolgung geschwächten frauenbewegten Fürsorge beziehungsweise durch ihre Integration in den Nationalsozialismus, erfuhr das Verhältnis von Heim und Geschlecht eine erneute Wende. Hatten sich in der ersten Frauenbewegung erste Ansätze einer die Bedingungen ihres Gegenstandes und der eigenen Unterdrückung analysierenden Position herausgebildet, kam es nun zu einer (teils freiwilligen) Unterwerfung unter andere und fortgesetzte Maßstäbe.

1.1.3 Die Kategorie Geschlecht in frauenbewegter Sozialarbeit, Fürsorgeerziehung und unter dem Nationalsozialismus Vor und in Verbindung mit dem Nationalsozialismus können drei Veränderungen ausgemacht werden, die die Kategorie Geschlecht im Kontext Sozialer Arbeit an Bedeutung gewinnen lassen. Allerdings werden etwaige Modernisierungen, insbesondere in der Heimerziehung, von stagnierenden Tendenzen begleitet, wie zusammenfassend deutlich wird. Erstens wandelte sich die ehrenamtliche Fürsorge hin zur sozialarbeiterischen Beruflichkeit beziehungsweise Erwerbsarbeit, Geschlecht gewann innerhalb dieses Prozesses an Relevanz, insofern ‚Mütterlichkeit zum Beruf‘ Mindestforderung, sollten ‚entsprechend untergebracht und von der Allgemeinbevölkerung ferngehalten‘ werden. Juristen verlangten eine Strafrechtsreform: Jedes Volk müsse sich ‚gegen seine Schädlinge verteidigen‘“, wie Klaus Scherer (1990) einen Münsteraner Verwaltungsausschuss (1926) und den Kriminologen und Juristen Robert Heindl (1927) zitiert. 36 | Das Zitat stammt aus einem „Merkblatt“ des „Rassenpolitischen Amt[es] der Gauleitung Niederdonau“ (ebd.) der Wiener NSDAP, es wurde für die NSDAP zum „Beispiel [...], wie man vor Ort Begriffserklärung mit praktischer Bekämpfung der ‚Gemeinschaftsunfähigen‘ verbinden könne“ (Scherer 1990, S. 51).

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erklärt wurde. Neben den Frauen des Besitzbürgertums kamen aber auch die bürgerlichen Frauen hinzu, die über die Verberuflichung des Ehrenamts hinaus tatsächlich auf Lohnarbeit angewiesen waren (vgl. Braches-Chyrek 2013, S. 81). Der Ausschluss von beruflicher, politischer und ökonomischer Bildung wie Betätigung waren zentrale Schauplätze für den Kampf der ersten Frauenbewegung. Die Soziale Arbeit verhieß und erwies sich auch als Möglichkeit der Teilhabe, die jedoch mit einer Ambivalenz bezüglich der bürgerlichen Trennung von Privatem und Öffentlichem einherging. Zwar wandten sich die sozialarbeiterisch tätigen Frauen einem gesellschaftspolitisch relevanten Thema zu, allerdings wurde ihre Tätigkeit unter dem Mantel der Mütterlichkeit weiterhin dem Privaten zugerechnet. Der weitgehende Ausschluss der Fürsorgerinnen von administrativen Positionen und der Sozialen Arbeit aus der Universität manifestierte diese Trennlinie. Parallel zu der von der ersten Frauenbewegung geforderten und durchgesetzten Öffnung des Frauenstudiums, wurden durch die Professionalisierungsforderungen frauenbewegter Sozialer Arbeit die ersten Frauenschulen und damit auch eine neue Form der Ausbildung hervorgebracht. Die berufliche Organisation der Fürsorgerinnen führte im Jahr 1916 zur Gründung des Deutschen Verbands der Sozialbeamtinnen.37 Ohne dessen androzentrische Ausgestaltung zu intendieren, trieb die Frauenbewegung somit den Ausbau des behördlichen Status der Wohlfahrtspflege voran. Die Professionalisierung und Disziplinbildung Sozialer Arbeit durch die Frauenbewegung bereitete damit auch die Begründung erster Jugendämter im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922) vor.38 In der Weimarer Republik wurden die Mitarbeiterinnen der Wohlfahrtspflege verstärkt öffentlichen, teils neu eingerichteten Ämtern unterstellt. Es kam zu einer geschlechtsspezifischen Aufteilung von Innen- und Außendienst (vgl. Hering/Münchmeier, S. 122). Die sozialarbeiterisch ausgebildeten Frauen in der praktischen Fürsorge wurden mit fachfremden Vorgesetzten konfrontiert. Dieser Missstand führte allerdings nicht zu Aufstiegsmöglichkeiten für die weiblichen Beschäftigten, sondern zu einer Konkurrenzsituation, u.a. wurden Wohlfahrtsschulen für Männer und akademische Auf baustudien für bereits volkswirtschaftlich oder juristisch gebildete Männer eingerichtet (vgl. ebd., 122f.). Der Deutsche Verband der Sozialbeamtinnen kritisierte die geschlechtliche Hierarchisierung und Bürokratisierung in der Wohlfahrtspflege. Grundlage für die Argumentation bildete eine „sittlich-soziale Grundeinstel37 | Im Jahr 1927 schloss sich der Verband mit dem ‚Bund Deutscher Sozialbeamter‘ zur „Vereinigung des Deutschen Verbandes der Sozialbeamtinnen und des Bundes Deutscher Sozialbeamter“ (Henseler 2000, S. 184) zusammen. 38 | Fraktionsübergreifend waren weibliche (frauenbewegte) Abgeordnete, wie Agnes Neuhaus, Marie Juchacz und Gertrud Bäumer, federführend an der Wiederaufnahme der Verhandlungen des ‚Reichgesetzes für Jugendwohlfahrt‘ beteiligt (vgl. Steinacker 2007, S. 151).

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lung, die einen „weiblich geprägten Sonderweg“ (ebd., S.  123) erfordere. Vor dem Hintergrund einer geschlechtsstereotypen Aufgabenteilung zwischen Verwaltung und sozialarbeiterischen Praxis erschien diese Haltung verständlich: Die Fragen des Sozialen und Zwischenmenschlichen wurden in der Institutionalisierung ausgeklammert, während die männliche Vereinnahmung der Sozialen Arbeit sich auf Fragen von Organisation, Finanzen und juristischen wie verwaltungstechnischen Reglements beschränkte (vgl. ebd.). Trotz der Bemühungen von Akteurinnen wie Helene Lange oder Gertrud Bäumer, die gegen die ausschließlich männliche Leitung des Sozialen plädierten, und Alice Salomons Bestrebung eine akademische sozialarbeiterische Ausbildung für Frauen einzuführen, verhärtete sich das Problem der Geschlechtersegregation und -hierarchisierung (vgl. ebd., S. 126ff.).39 Die Frage, welches Geschlecht mit welchem Bildungshintergrund welche Position erlangen konnte, zeugt zudem von der geschlechtlichen Hierarchisierung durch die Trennung von sozialarbeiterischer Ausbildung und verwaltungstechnischer, juristischer, ökonomischer und organisationsbezogener Hochschulbildung. Zweitens wurden über den Mütterlichkeits-Begriff im Zuge der sozialarbeiterischen Professionalisierung die Positionen und das Verhältnis von Fürsorgerinnen und Klientel Sozialer Arbeit gefestigt. Diese waren sittlich-moralisch begründet und in ihnen spiegeln sich die zeitspezifischen normativen Rahmungen der Kategorien Geschlecht und Klasse wider. Zentrale Bezugspunkte für die aufkeimende professionelle und disziplinäre Identität der Sozialen Arbeit waren die bürgerlichen Vorstellungen von einer ‚reinen‘ Frau, die sich vor allem durch Mütterlichkeit auszeichnet. Zwar griff eine solche Fürsorgerin in gesellschaftliche Verhältnisse ein, wenn sie durch Bildung ihr Helfen professionalisierte, solange sie aber durch ihre mütterliche Rolle ihr Handeln natürlich begründete, geriet das Geschlechterverhältnis nur bedingt ins Wanken. Dabei zeigt ein Blick in die ersten Ausbildungskonzepte für die Soziale Arbeit40, dass nicht durchweg ein unpolitisches Weiblichkeitsideal aufrechterhalten wurde. Zwar standen zur Vorbereitung haushälterische Fähigkeiten im Vordergrund, aber die Diskrepanz zwischen den Erfahrungen der Fürsorgerinnen und denen der ‚Hilfsbedürftigen‘ forderte geradezu einen Wissenserwerb über politische und ökonomische Bedingungen von Gegenstand und Praxis Sozialer Arbeit. Auch wenn darin eine Überschreitung sozialer Geschlechtergrenzen gesehen werden kann, führten die Wertvorstellungen der bürgerlichen Frauenbewegung und die binäre Asymmetrie der Geschlechter zu einer Legitimationsfigur des Weiblichen – verstanden als Mütterlichkeit, die gegen die männlichen Här39 | Was nicht zuletzt bis heute in Form eines ‚Gender-Gaps‘ in der Hochschul(aus)bildung der Sozialen Arbeit – also Fachhochschule vs. Universität – anhält. Zur Aufgabenteilung in Sozialer Praxis und Hochschule s. auch Brückner 2004. 40  |  Beispielsweise Alice Salomon 1905 und 1908, beides in Salomon (1997).

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ten der Welt die private Liebe setzt. Die Betätigung im sozialen Bereich wurde somit erneut mit einem naturwüchsigen Bedürfnis zu pflegen und zu helfen begründet, das auf der Gebärfähigkeit zu basieren scheint. In dieser Konzeption des Weiblichen kristallisiert sich die Auseinandersetzung mit Geschlecht für die Entstehung der Sozialen Arbeit heraus, während die männliche Position größtenteils weiterhin die des unmarkierten Geschlechts blieb. Im Nationalsozialismus wurde dieser private Schutzraum der Mutter gegenüber der ‚kalten Welt‘ als bürgerlicher Egoismus diffamiert (vgl. Vinken 2007, S. 217ff.). Aus nationalsozialistischer Warte konnte die Mutter nicht mehr die Sitte und Liebe im bürgerlichen Heim repräsentieren, schließlich sollte sie dem Volk arischen Nachwuchs ‚schenken‘ und dessen nationalsozialistische Erziehung und Bildung den entsprechenden Institutionen überlassen. In der weiterhin im Privaten stattfindenden Pflege und Erziehung von Säuglingen und Kleinkindern wurde gleichwohl in Vorbereitung zur ‚Bemeisterung des Lebens‘ auf Abhärtung gesetzt (vgl. Gebhardt 2009 und Vinken 2007, S. 231ff.). Drittens stagnierte in der Heimerziehung die Ausdifferenzierung und Entwicklung der Kategorie Geschlecht, da die Erziehung in den Heimen weiterhin überwiegend in kirchlicher Trägerschaft verblieb und von der frauenbewegten Professionalisierung Sozialer Arbeit nur gering beeinflusst wurde. Allerdings ist aufgrund der Mütterlichkeits- und Klassenvorstellungen der sich professionalisierenden Sozialen Arbeit fraglich, ob es im Falle größeren Einflusses zu einer Infragestellung kirchlicher Geschlechterbilder gekommen wäre. Die Heimerziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, wie andere sozialarbeiterische Angebote auch, entsprechend der „vorherrschenden Moralvorstellungen“ (Brückner 2010, S. 549) geschlechtergetrennt, was sich teils bis heute im stationären Bereich nachzeichnen lässt. Zudem waren bis 1930 Heime grundsätzlich geschlossene Einrichtungen (vgl. Esser 2011, S. 45). Ebenso zeigen die Zahlen aus der Weimarer Republik, dass mehr Jungen als Mädchen ‚stationär‘ untergebracht wurden (vgl. Hering/Münchmeier 2000, S. 139). Auch die Gründe für die Unterbringung in Fürsorgeanstalten waren geschlechtsspezifisch: Jungen neigen „angeblich vor allem zum Betteln und Landstreichen und zum Stehlen, während das Hauptverwahrlosungskriterium für Mädchen die ‚Unzucht‘ ist“ (ebd.). Sexualität wurde bei Jungen nicht thematisiert und bei Mädchen nur als abweichend wahrgenommen. Die Ursache für die ‚Verwahrlosung‘ sah die Profession in den Herkunftsfamilien, deren Neigung zur Kriminalität und geistigen Minderwertigkeit. Zwar herrschte eine reformerische Auf bruchstimmung in der Weimarer Republik, diese wurde in der Heimerziehung aber vor allem durch die strikte Sexualmoral kirchlicher Träger im Umgang mit Mädchen unterlaufen (vgl. ebd.). Neben den Kirchen waren es aber auch parallel zur frauenbewegten Sozialen Arbeit sich etablierende Strömungen in der öffentlichen wie privaten Fürsorgeerziehung, in denen die Unterbringungsbegründungen und die Erziehung im Heim zweigeschlecht-

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lich gedacht wurden.41 Beispielsweise wurde in den Leitsätzen der 1893 stattfindenden „Konferenz der Vorsteher an Rettungshäusern, Zwangserziehungsund Besserungs-Anstalten“ gefordert, dass die staatlichen Anstalten getrennt „für das männliche und weibliche Geschlecht [...] einzurichten“ seien (A.F.E.T. 2006, S. 17). Zudem war beim ersten Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag 1906 u.a. „[d]ie Schwierigkeit der Erziehung an den älteren weiblichen Fürsorgezöglingen, in Sonderheit den Prostituierten“ (ebd., S. 7) Thema. Weibliche Sexualität – unabhängig davon, wie sehr sie durch Männer strukturiert war – war problematisch, solange sie nicht allein als legitime Mutterschaft, also reduziert auf eheliche Fortpflanzung, sichtbar wurde. Sexualität war somit in erster Linie mit Mädchen verbunden und zwar als spezifisch ‚sichtbare‘ Sexualität; weibliche, davon abweichende und anders sichtbare Sexualität blieb ausgeschlossen. Die speziell für die Heimerziehung relevanten Institutionalisierungen gingen nicht von der bürgerlichen Frauenbewegung im Ganzen aus, obwohl diese den Mangel an Professionalisierung in diesem Bereich erkannte (vgl. Amthor 2003, S.  371 zu Gertrud Bäumer 1929) und sich mit Reformbestrebungen beispielsweise seitens katholischer Akteurinnen solidarisieren konnte (vgl. Schmidt 2002, S. 76). Das lag zum einen daran, dass sich die frauenbewegte Soziale Arbeit einem bereits bestehenden, kirchlich dominierten Heimerziehungswesen gegenübersah, zum anderen aber auch an den sich schon langfristig entwickelnden Organisationsbestrebungen im Kontext der bestehenden Heimerziehung. Dazu zählt der 1912 eingetragene A.F.E.T.-Verein (Abkürzung für ‚Allgemeiner Fürsorge-Erziehungs-Tag‘, heute ‚Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.‘), der 1889 entstand (vgl. AFET 2006, S.  12ff.). Der seit 1880 bestehende ‚Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge‘ hingegen war bereits bei seiner Gründung und bis ins 20. Jahrhundert hinein von frauenbewegten Akteurinnen, wie Marie Baum, Agnes Neuhaus und Alice Salomon, geprägt (vgl. Deutscher Verein 2005, Ausstellungstafel 3). In seiner Entstehungszeit konzentrierte sich der Deutsche Verein allerdings auf die Armenfürsorge im Sinne bürgerlichen Ehrenamts (bekannt ist das sogenannte „Elberfelder System“, ebd., Ausstellungstafel 2). Bezeichnend für die Differenz zwischen frauenbewegter Sozialer Arbeit und A.F.E.T. e.V. und damit für die bereits institutionalisierte (stationäre) Erziehungshilfe war, dass beim ersten Allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag 1906 fast ausschließlich Männer in der Funktion von Einrichtungsleitern vertreten waren (vgl. A.F.E.T 2006, S. 19). Für die Heimerziehung kann zusammengefasst werden, dass eine zweigeschlechtlich orientierte Bewertung der Fürsorgezöglinge und Ausrichtung der 41  | Für das Kaiserreich hält Sven Steinacker fest, dass die Verteilung der Kinder und Jugendlichen auf die Art der Einrichtungen nach einem Prinzip erfolgte, „das über die Koordinaten Konfession, Alter und Geschlecht strukturiert war“ (Steinacker 2007, S. 98).

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Erziehung erfolgte. Dabei wurde von einem geschlechtsspezifischen Verhalten und entsprechenden Abweichungen ausgegangen, die sich im gemeinsamen Sammelbegriff der ‚Verwahrlosung‘ niederschlugen. Die Differenzierung zwischen Jungen und Mädchen wurde durch die unterschiedliche Bewertung des Sexuellen markiert.42 Verwahrlosung von Jungen war durch Kriminalität und Gewalt gekennzeichnet, wobei männliche Sexualität kaum thematisiert wurde. Mädchen hingegen wurden durch ‚sexuelle Verwahrlosung‘ als auffällig wahrgenommen. Der Maßstab für weibliche Zöglinge wurde anhand der Klischees von „Mutter, Jungfrau [und] Prostituierte[r]“ (Irigaray 1976/1975, S. 57) gebildet. Wer zu welcher Gruppe zählte, wurde von der religiösen und bürgerlichen Warte aus entschieden. Der Kampf gegen vormals legitime Verhaltensformen der „Unterschichtsjungen“ und gegen „die als unkontrolliert [empfundene] Modernisierung weiblichen Heranwachsens“ (Schmidt 2002, S. 18)43 zeigt den von Industrialisierung und bürgerlichen Sittlichkeitsvorstellungen angetriebenen Normalisierungsprozess im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Anhand des nicht auf Jungen bezogenen Sexualitätsbegriffs wird deutlich, dass es einen gemeinsamen blinden Fleck von erster (bürgerlicher) Frauenbewegung und Heimerziehung gab. Dieser lässt sich in der These zusammenfassen, dass mit Geschlecht im engeren Sinne das weibliche Geschlecht gemeint war. Das zeigt sich insbesondere daran, dass die Auseinandersetzung mit Geschlecht in ihrer historischen Entstehung zunächst nur über die Thematisierung von Mädchen zugänglich ist, obwohl bekannt ist, dass Männlichkeit(en) in Praxis und Forschung der Heimerziehung unterbelichtet sind. Zwar gab es im 18. und 19. Jahrhundert spezifische Orte zur Erziehung von Jungen, wie u.a. „Militär, Jungenschulen und -Internate, oder die geschlechtsgetrennten Kinderheime der Fürsorgeerziehung“ (Bronner/Behnisch 2007, S.  132). Von einer ersten ‚Männer- oder Geschlechterforschung‘ und zugehörigen ‚Jungen-

42 | Eine weiterführende Fragestellung könnte daneben untersuchen, warum das Sexuelle bei Mädchen stärker betont wurde als deren Arbeitsunlust und -verweigerung. Eine These könnte sein, dass die Mädchen zur Erwerbsarbeit anzuhalten, deren „Disziplinierung und [...] Verhäuslichung“ (Gehltomholt/Hering 2006, S. 24) mit dem Ziel der ‚Hausfrauisierung‘ im Wege gestanden hätte. Die zugrundeliegende Doppelmoral wird deutlich, wenn der in den Heimen vorherrschende Arbeitszwang in den Blick genommen wird, wie er bis zur Heimkampagne der 1960er Jahre bestand. 43 | „Zugespitzt: Während Jungen also in Konflikt mit der Fürsorge kamen, weil sie alte Rechte absichern wollten, kamen Mädchen in Konflikt mit der Fürsorge, weil sie neue Rechte für sich in Anspruch nahmen“ (Schmidt 2002, S. 18; Herv.i.O.). Hier hätte solidarisch von Seiten sexualreformerischer Strömungen der Frauenbewegung angeknüpft werden können, was allerdings durch Klassendifferenz und anders gelagerter Schwerpunkte in den politischen Bestrebungen Letzterer kaum zustande kam.

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pädagogik‘44 mit politischem Anspruch, wie sie für die erste Frauenbewegung und weibliche Bildungsbestrebungen nachzuvollziehen ist, kann aber nicht gesprochen werden.45 Der auf Mädchen eingeschränkte Blick war zudem einer religiös und bürgerlich geprägten moralischen Verzerrung unterworfen. Im Schatten von ‚Mutter und Jungfrau‘ gab es für weibliche Sexualität nur noch die Position der ‚Prostituierten‘.46 Sexuelle Gewalt war durch die allgemein angenomme44 | Die Pädagogik, als allgemeine gedacht, kennt erst einmal nur das weibliche Geschlecht als Abweichung vom ‚Normalen‘. Dieser Androzentrismus kann auch nicht durch Verweis auf Joachim Heinrich Campes „Theophron“ (1783) und „Väterlicher Rath“ (1789) entkräftet werden, wenngleich beide Schriften als anthropologische Begründungen von Heterosexualität und Dokumentationen geschlechtspezifischer Erziehung von Bedeutung sind. Allerdings muss zwischen geschlechtspezifischer Erziehung, die ein spezifisches dichotom-hierarchisches Geschlechterverhältnis verfestigt, und einer politisch-theoretisch-kritischen Mädchenerziehung, wie sie mit der ersten Frauenbewegung begann, unterschieden werden. Für die Jungenpädagogik lassen sich entsprechende Ansätze erst nach der zweiten Frauenbewegung ausmachen. Gemeint ist eine Jungenarbeit, die die sozialen, strukturellen und psychischen Bedingungen von männlichem Aufwachsen theoretisch wie politisch zum Ausgangspunkt nimmt (Beispiele dafür sind die Alte Molkerei Frille oder später Dissens e.V.). Die sozialpädagogische Forschung zur Heimerziehung bleibt bis Ende des 20. Jahrhunderts in der Dichotomie verhaftet. So reflektiert Detlev J.K. Peukert (1986) in seiner Rekonstruktion der Jugendfürsorge von 1878 bis 1932 zwar, dass er diese auf männliche Zöglinge begrenzt, schlüsselt deren Problematiken aber nicht vor dem Hintergrund der Kategorie Geschlecht auf. Darüber hinaus verweist er zur historischen Aufarbeitung von Mädchen in der Fürsorgeerziehung auf „Wissenschaftler oder [...] Wissenschaftlerin[nen] [...], die mehr Einfühlungsvermögen in diesen Zusammenhang weiblicher Sexualität besitzen“ (!) (Peukert 1986, S. 29). Dieser Forderung kam Heike Schmidt (2002) nach, allerdings ebenfalls ohne eine Theoretisierung der Kategorie Geschlecht vorauszusetzen. 45 | Dies begründet auch die Blickrichtung des vorliegenden Kapitels: Den Ausgangspunkt bilden frauenbewegte beziehungsweise feministische Interventionen und deren Übersetzung in die weitere Geschlechterforschung wie auch in die (Geschlechter-)Pädagogik. Die Rekonstruktion beginnt mit der Verknüpfung von Frauenbewegung und sich entwickelnder Sozialer Arbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts (wohlwissend, dass eine Geschichte der Heimerziehung mit der Entstehung der Findelhäuser im 11. und 12. Jahrhundert einsetzen müsste). Die Jungenpädagogik wird aus dieser Perspektive erst in der jüngeren Geschichte zu einer geschlechtsbewussten (vgl. 1.3.4). 46 | Einen weiteren Hinweis auf die Abspaltung solcher Themen könnte ergeben, dass es nicht nur eine Trennung zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung und der Frauenbewegung von der Heimerziehung gab. Innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung lassen sich ein radikaler und ein gemäßigter Flügel unterscheiden. So forderten Radikale, wie Helene Stöcker, eine Neubewertung unehelicher Mutterschaft, bürgerlicher sexueller

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ne und rechtliche Festschreibung einer ‚verwahrlosten‘ Klientel kein Thema für die Heimerziehung (vgl. Schmidt 2002, S. 302). Der mehr oder weniger unangefochtene Klassengedanke stand gemeinsam mit den unterschiedlichen sozialarbeiterischen Betätigungsfeldern von Kirche und frauenbewegter Sozialarbeit einer Solidarisierung der bürgerlichen Frauenbewegung und den Adressat/innen der Heimerziehung im Wege. Auch der anti-bürgerliche und anti-christliche Impuls des Nationalsozialismus änderte aufgrund des Personalmangels wenig an der grundlegenden Gestaltung der Heimerziehung. Die Abweichung bestand in erster Linie im Wandel von den moralischen Bewertungen zu eugenischen Zuschreibungen. Die Heimerziehung wurde aus einer eugenisch-psychiatrischen Perspektive zum Ort der Auslese zwischen „gemeinschaftsfähigen“ und „unerziehbaren“ (Pöhner 2012, S.  35) Kindern und Jugendlichen, um Entscheidungen über Zwangssterilisationen und Einweisungen in ‚Jugend-Konzentrationslager‘ zu treffen. Im Nationalsozialismus und der Praxis einer ‚rassenhygienischen Auslese‘ wurde erneut die geschlechtsspezifische Unterscheidung zwischen vermeintlicher männlicher Kriminalität und weiblicher Prostitution für Diagnosen von ‚Schwachsinn‘ und ‚Asozialität‘ ausschlaggebend.47 Zudem wurde die Fürsorgeerziehung nicht mehr nur als Mittel zum Erhalt öffentlicher Sitt-

Doppelmoral und der Prostitution (z. B. Stöcker 1905). Diese Haltung ging allerdings nicht in die frauenbewegte Soziale Arbeit ein, die von Akteurinnen, wie z. B. Helene Lange oder Gertrud Bäumer, professionalisiert wurde. D.h. genau die Themen, die kritisch gewendet ‚sexuelle Verwahrlosung‘ infrage gestellt beziehungsweise die Fürsorgeerziehung erst zu einem Thema für die frauenbewegte Soziale Arbeit gemacht hätten, wurden von den frauenbewegten Sozialarbeiterinnen nicht eingebracht. Eine Ausnahme mag Bertha Papppenheims Engagement gegen Mädchenhandel und die damit verbundene Zwangsprostitution sein, allerdings erscheint ihre Bewertung der ‚Verwahrlosten‘ dennoch konventionell (vgl. Pappenheims Brief an eine wegen Mordes verurteilte Jugendliche von 1931 in Edinger 1963, S. 95f.; zur Bewertung weiblicher Prostitution durch die bürgerliche Frauenbewegung vgl. auch Schmidt 2002, S. 109). Insgesamt bleibt das Bild ambivalent. Althans betont das Interesse der frühen Akteurinnen der Sozialen Arbeit, sich für das „Begehren“ beziehungsweise die „Bedürfnisse der anderen Frauen“ (Althans 2007, S. 75ff.) einzusetzen. Für die Heimerziehung stellt sich angesichts der bestehenden Abwertung ‚gefallener Mädchen‘ die Frage, um wessen Begehren es sich handelte und nach welchem Maßstab das Begehren beurteilt wurde. 47 | In einer ‚Fallskizze‘ schreibt der „Bevölkerungspolitiker, Mediziner und ‚Asozialen‘-Fachmann Wolfgang Knorr“ (Scherer 1990, S. 13, Herv.i.O.): „Gewiß ist die Kriminalität bei den Frauen nicht so ausgeprägt wie bei den Männern. Die Gemeinschaftsunfähigkeit auf gleicher erblicher Grundlage äußert sich beim Mann und bei der Frau verschieden. Dem kriminellen und arbeitsscheuen Mann entspricht als Ehe- oder Geschlechtspartnerin die Prostituierte oder später ‚Schlampe‘“ (Knorr, Wolfgang 1939 zit. n. Scherer 1990, S. 15).

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lichkeit eingesetzt, sondern auch um Oppositionelle zu ‚disziplinieren‘ (vgl. Lützke 2002, S. 42ff.; Scherer 1990, S. 55). Werden abschließend die erste Frauenbewegung, die junge Soziale Arbeit und (Sozialarbeits-)Forschung zusammen mit der Geschichte der Heimerziehung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gedacht, zeigt sich, wie letztere entlang der Kategorien der Moderne (vgl. 1., FN 17) – Geschlecht, Klasse, ‚Rasse‘/Nation – mittels Sozialer Arbeit strukturiert wurde. Das vorherrschende Bürgertum in der jungen Sozialarbeit, die nationalstaatliche Identifikation von Teilen der ersten Frauenbewegung, die Orientierung an Mütterlichkeit und die politische Entwicklung hin zum Nationalsozialismus (re)produzierten die hierarchisierenden Kategorien Klasse, Geschlecht und Nation/‚Rasse‘ in der Fürsorge.48 Die Kategorien bestimmten Kritik und Widerstand ebenso wie deren Unterdrückung, insofern beispielsweise die materielle Klassendifferenz Anlass zur Fürsorge gab, in der Fürsorge aber zugleich die klassenspezifische Distinktion fortgesetzt wurde. Die in der jeweiligen Zeit vorherrschenden Formen Sozialer Arbeit trugen damit zu den differenzierenden und hierarchisierenden Wirkungen dieser Kategorien bei. Davon abweichende Fassungen Sozialer Arbeit wurden marginalisiert beziehungsweise unter der Diktatur abgeschafft. Zumindest für die Gesamtentwicklung professioneller Sozialer Arbeit kann die Geschlechterfrage dennoch als treibender Motor für Veränderungen angesehen werden. Aufgrund der Persistenz von Klassenunterschieden und konfessioneller Trägerschaft hatte diese jedoch kaum Einfluss auf die Heimerziehung, hier kann eher von einer Kontinuität gesprochen werden. Die bürgerliche Frauenbewegung stellte zwar die Geschlechterrollen infrage, wenn sie Frauen höhere Bildung und Beruflichkeit ermöglichte. Das ‚Wesen der Frau‘ wurde jedoch mit der angenommenen ‚Mütterlichkeit‘ weiterhin als essentiell verstanden. Diese Wesensannahme war zugleich, wenn auch größtenteils religiös motiviert, in den Heimen Grundlage geschlechtsspezifischer Stigmatisierungen und Disziplinierungen. Im Nationalsozialismus erfuhr das Mutter-Ideal einen Wandel zur Reduktion von Frauen auf deren Fähigkeit, ‚arischen‘ Nachwuchs zu produzieren. Die klassenbedingten Distinktionsbestrebungen können als mögliche Verhinderung von frauenbewegter Professionalisierung in dem an sich klassischen ‚sozialarbeiterischen‘ Feld der Heimerziehung verstanden werden. Die erste Frauenbewegung erarbeitete sich Betätigungsfelder, die durch die Pro48  |  Dabei ist das Verhältnis von Bürgertum, (an Mütterlichkeit orientierter) frauenbewegter Fürsorge und Nationalsozialismus nicht in einem einfach-kausalen Sinne zu betrachten. Hervorzuheben ist eher, dass es wechselseitige Verweise, Kontinuitäten wie Diskontinuitäten gab, die die genannten so hierarchisch strukturierten Kategorien auch durch den Ausschluss bis hin im Nationalsozialismus zur Vernichtung anderer Positionen hervorbrachten.

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fessionalisierung neue Gestalt annahmen, allein schon durch die Ausbildung und Bezahlung von Fachkräften und darüber hinaus durch die Entwicklung neuer staatlicher Stellen, wie Jugendämter. Gleichzeitig blieb die Heimerziehung, die bereits rechtlich und strukturell als Fürsorgeerziehung institutionalisiert war, in der Hand der bestehenden Trägerschaften. Zwar gab es eine starke Abkehr vom Christentum im nationalsozialistischen Mutterschaftskonzept. In der Kollektivierung der Erziehung sollten bürgerlich-feministischer Egoismus und katholische Prüderie überwunden werden (vgl. Vinken 2011, S. 223; Czarnowski 1989, S. 130ff.). In der Praxis blieb es durch die neuen ‚Kooperationen‘ bestehender Trägerschaft und nationalsozialistischer Erziehung bei einem Fortbestehen etablierter geschlechtsspezifischer Verwahrlosungsbilder (vgl. Lützke 2002, S. 34ff.), verschärft durch die ‚Asozialen‘-Diagnosen und die daraus folgenden eugenischen Entscheidungen. Aus der zu Beginn von Kapitel 1 eingenommenen genealogisch-feministischen Perspektive ist dabei hervorzuheben, dass die erste hier aufgezeigte Zäsur nicht aus einem Ursprung rührt. Es handelt sich vielmehr um Transformationen Sozialer Arbeit und insbesondere der Heimerziehung unter Bedingungen paralleler Kontinuität. Geschlecht wird zu einer relevanten Kategorie für die Soziale Arbeit, insofern es die Verberuflichung weiblicher Fürsorge betrifft. Diese Veränderung ist bedingt durch die geschlechtsspezifische kapitalistische Arbeitsteilung, in der ein in Lohnarbeit verwandelter Teil der reproduktiven Sphäre Eintritt in die Öffentlichkeit verspricht. Bezüglich der Adressat/innen von Sozialer Arbeit bleibt Geschlecht in einem repressiven Sinne bedeutend. Dieser Ausschluss der anderen Schwester ist geradezu Voraussetzung für die Distinktion der fürsorglichen Mutter. Darin deutet sich ein spezifisches generationales Verhältnis an, das durch eine vertikale (d.h. hierarchische) Ordnung gegenüber einer horizontalen (unter Geschwistern) bestimmt ist: Die Fürsorgerinnen bringen sich in eine ‚mütterliche‘ Position, die jener der vermeintlich ‚verlorenen Töchter‘ übergeordnet ist, sie nehmen für sich in Anspruch, deren Situation adäquat deuten und verändern zu können. Allerdings verschließt sich in der so hierarchisch ausgestalteten Ordnung der Blick für eine generationale und geschlechtliche Ähnlichkeit: So werden junge ledige Mütter wie proletarische Mütter, die den Moralvorstellungen nicht entsprechen, in erster Linie als zu korrigierende Andere wahrgenommen. Ebenso wird kaum berücksichtigt, inwiefern Fürsorgerinnen und ihre Adressatinnen beide gleichermaßen durch die bestehende Geschlechterordnung bedingt sind. Das (vermeintlich49) generational geordnete Verhältnis – als Mütter und Töchter – verunmöglicht eine anders gelagerte ‚weibliche‘ Autorität, insofern 49  |  Es handelt sich ggf. um eine vermeintliche generationale Beziehung, weil sich die Frage stellt, worauf das „Surplus an Erfahrung und Wissen“ (Casale 2016, S. 208) der ‚Mütter‘

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die bestehenden Maßstäbe zur Grundlage für die Be- und Verurteilung von Frauen fortgesetzt zur Geltung gebracht werden. Dazu gehört die Be- beziehungsweise Abwertung von oder gar Negation weiblicher Sexualität sowie die Übernahme rassistischer und eugenischer Positionen. Mit der geringen Abgrenzung von nationalistischen Ideen im Ersten Weltkrieg beziehungsweise mit deren Befürwortung wurden teils die rassistischen Bewertungen von Fürsorgezöglingen des Nationalsozialismus mit vorbereitet. Die Kategorien ‚Rasse‘ und Geschlecht wurden von Seiten der frauenbewegten Sozialen Arbeit nur bedingt als zusammengehörige Ungleichheits- und Unterdrückungsmechanismen betrachtet. Davon abweichende Fassungen Sozialer Arbeit wurden marginalisiert beziehungsweise im Nationalsozialismus abgeschafft. Die Kategorie Geschlecht wurde in dieser Phase der Zäsur in der Sozialen Arbeit allgemein und insbesondere in der Heimerziehung zweigeschlechtlich gedacht. Geschlecht blieb jedoch bezüglich des Männlichen unmarkiert beziehungsweise wurde hauptsächlich in Gestalt weiblicher Abweichung konturiert. Dabei liegt ein klassenspezifischer Bruch vor, der sich vor allem in der unterschiedlichen Bewertung sexuellen ‚Fehlverhaltens‘ bei Mädchen und Jungen ausdrückt. Der moralische Maßstab für ‚richtige‘ Weiblichkeit im Sinne ‚geistiger Mütterlichkeit‘ oder ‚arischer Gebärmaschine‘ wird in der Regel mit Natürlichkeit begründet. Insbesondere im Hinblick auf die Klientel herrscht spätestens im Nationalsozialismus ein biologistisches Bild vor, wenn es um die Repression gegen davon Abweichende geht. Im Fokus auf Mädchen und der fortgesetzten Blindheit gegenüber der Geschlechtlichkeit von Jungen und Männern zeigt sich der Eingang einer hierarchischen Ordnung, die von Herrschaft durchzogen ist. Die fortgesetzte Ordnung ermöglicht den Frauen, die aufgrund ihrer sozialen Stellung und ‚arischen‘ Zugehörigkeit ‚mitmachen dürfen‘, Teilhabe und stabilisiert zugleich die Unterdrückung einer anderen Ordnung.

beruht, wenn die geschlechtliche, gesellschaftliche und klassenspezifische Bedingtheit ausgeklammert wird.

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1.2 K oeduk ation und Parteiliche M ädchenarbeit als S pannungsfeld der z weiten F r auenbe wegung Die Ereignisse der Heimkampagne Ende der 1960er Jahre, die entstehende zweite Frauenbewegung und die Mädchenhausbewegung der 1980er Jahre werden im Folgenden als eine Zäsur beschrieben. Die gemeinsame Erfassung von den zeitlich weit auseinanderliegenden Aktionen von Heimkampagne, Frauenbewegung und Mädchenhausbewegung hängt mit der These zusammen, dass diese Ausgangspunkte für die Reform des Regelangebots wurden.50 Zudem begegneten sie sich in der Auseinandersetzung mit Autorität. Grundsätzlich wurde Autoritätskritik als die Kritik an jeglichem hierarchischen Verhältnis, wie es sich in der Institutionalisierung von Repräsentation (beispielsweise die Familie oder staatliche Organe, wie Parlamente oder Parteien) ausdrückt, gesehen.51 Allerdings wandelten sich die Kritik und das Verständnis des Autoritätsbegriffs je nach dem konkreten Gegenstand des Widerstands und der jeweiligen Widerstandsform. In Bezug auf die zu Beginn von Kapitel 1 hervorgehobene Deutung von Autorität als notwendige Vermittlung der generationalen Differenz und menschlichen Angewiesenheit zeigt sich, dass in den verschiedenen Widerstandsformen die generationale Bedingtheit lediglich als Ausdruck von Herrschaft betrachtet wurde, die es zu bekämpfen galt und die wechselseitige Angewiesenheit erneut aus dem Blick geriet.

50 | Die Darstellung beschränkt sich auf die Entwicklung in der Bundesrepublik als Ausgangspunkt für die Reform des Kinder- und Jugendhilferechts. Die Einführung des K JHG im Jahr 1990 im gesamten Bundesgebiet, d.h. auch der neuen Bundesländer, ging auf eine über 20 Jahre dauernde Reformbemühung zurück (vgl. 1.3.2). 51   |  Tatsächlich speisten sich die theoretischen Herangehensweisen der sogenannten ‚68er‘ u.a. aus der ‚Kritischen Theorie‘, die eine kritische Interpretation des autoritären Staates vorgelegt hatte (vgl. Horkheimer 1967/1940, S. 53). Allerdings handelte es sich bei der Gleichsetzung von Autorität mit Herrschaft, Repression oder Totalität seitens der ‚68er‘ um eine Missinterpretation, wie Hannah Arendt bereits 1956 in „Was ist Autorität?“ (vgl. Arendt 2000/1956, S. 160) vorwegnahm und Theodor W. Adorno 1969 (vgl. Adorno 1971/1969, S. 139ff.) an der damaligen Gegenwart kritisierte. Rita Casale hebt mit Verweis auf Jacques Lacan und Klaus Heinrich hervor, dass bereits die zeitgenössische „Kritik an den Protestierenden [sich] nicht gegen ihre Ablehnung einer spezifischen Form der symbolischen Ordnung, der des Patriarchats, sondern gegen ihre Negation der symbolischen Ordnung, der Vermittlung als solcher [richtete]“ (Casale 2016, S. 220).

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1.2.1 Die Nachkriegszeit als Ausgangsbedingung für Widerstand in Heimerziehung und Geschlechter verhältnis Bevor diese Zäsur dargestellt wird, muss knapp die Nachkriegszeit eingeführt werden, um deutlich zu machen, wie tiefgreifend die nationalsozialistische Diktatur eine feministische Geschichtsschreibung der ersten Frauenbewegung und der durch sie beeinflussten Professionalisierung Sozialer Arbeit unterbrach. Charakteristisch für die Nachkriegssituation blieb die ungebrochene Trennung zwischen einer sich professionalisierenden Sozialen Arbeit und der hiervon mehr oder weniger losgelösten Heimpraxis (vgl. u.a. Schrapper 2010, S.  129). In der Nachkriegszeit herrschte aufgrund der „große[n] Jugendnot“ (Amthor 2003, S. 426) ein Mangel an Fachkräften in der Heimerziehung, was sich in einem Anteil von weniger als fünfzig Prozent an qualifiziertem Personal in dieser Zeit ausdrückte. Dem sollte mit einem „relativ zügig[en]“ (ebd., S.  427) Ausbau der Ausbildungsstätten für die Heimerziehung entgegengewirkt werden, woraus aber nicht auf eine zunehmende Professionalisierung52 geschlossen werden darf. Beispielsweise hatten in den evangelischen Einrichtungen religiöse Ausbildungsinhalte Vorrang vor fachspezifischen (vgl. ebd., S. 429). Zugleich blieben die Nachwirkungen der unter dem Nationalsozialismus verschärften Auslesepraktiken der Fürsorge spürbar. Dennoch kann die Situation in den Heimen der Nachkriegszeit auch auf die Zeit vor dem Nationalsozialismus zurückgeführt werden, was sich an den überschneidenden Reformforderungen von Zöglingen am Ende der Weimarer Republik und während der Heimkampagne Ende der 1960er Jahre zeigt (vgl. Steinacker 2006, S. 55; Brosch 1975, S. 96f.).53 Entscheidend hinsichtlich der Frage nach Transformationen der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung der Nachkriegszeit ist, dass die sozialpäda52 | Der Begriff der Professionalisierung ist in der Theorie zu Recht umstritten (vgl. Kunstreich 1975, S. 168ff.; Böllert/Gogolin 2002, S. 372ff.; Staub-Bernasconi 2013, S. 24), dennoch ist er angemessen, um einen Fortgang in der Bildung einer Profession und Disziplin zu beschreiben. Damit einher geht zumindest das Bestreben, mehr Wissen über den Gegenstand und die Methoden zur Bewältigung von spezifischen Problemstellungen zu gewinnen. Profession und Disziplin sind damit nicht davon entbunden, ihre eigenen Verberuflichungs- wie Professionalisierungsprozesse kritisch zu beleuchten beziehungsweise in ihrer gesellschaftlichen, politischen und geschichtlichen Bedingtheit zu betrachten. 53  |  Obwohl in der Nachkriegszeit Bemühungen seitens der Alliierten vorhanden waren, rassistisch, eugenisch oder politisch begründete Heimeinweisungen rückgängig zu machen, verblieben viele dieser Zöglinge in den Heimen, was unter anderem mit der ambivalenten Verbindung von konfessioneller und nationalsozialistischer Erziehung zusammenhing (vgl. Lützke 2002, S. 44; 40).

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gogische Fachdiskussion geschlechtsspezifische Ansätze vernachlässigte (vgl. Schimpf 1999, S. 274). Die trotzdem vorhandene geschlechtsspezifische Erziehung wurde durch einen stillschweigenden androzentrischen Diskurs begründet. Festzuhalten bleibt insbesondere, dass sich die Bedingungen und Anlässe feministischer Kritik gegenüber denen der ersten Frauenbewegung verschoben hatten: Während die erste Frauenbewegung sich mit konkreten und expliziten strukturellen Benachteiligungen von Frauen auseinandersetzte, sind feministische Analysen und Intervention seit Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt mit impliziten Geschlechtskonzeptionen konfrontiert (vgl. Rendtorff/ Moser 1999, S. 49f.). Die Akteur/innen der Fürsorge in der Nachkriegszeit betrachteten ihre Aufgabe vor allem darin, die in ihren Augen kriegsbedingt angestiegene ‚Verwahrlosung‘ von Jugendlichen zu bekämpfen. Mit dem Fokus auf die Abweichung der Jugendlichen änderte sich wenig gegenüber dem Nationalsozialismus. Während die Gewalt der Erwachsenen ausgeblendet wurde, wurde die ‚Verwahrlosung‘ der Jugend dramatisiert. Die Geschlechtsspezifik dieses Verwahrlosungsgedankens äußerte sich ebenso in der Halbstarken-, wie auch in der Sexualverwahrlosungsdiskussion.54 In der abwertenden Thematisierung von Beziehungen ‚verwahrloster‘ Mädchen zu ‚Besatzungssoldaten‘ verbanden sich erneut die Kategorien Geschlecht und Nation/‚Rasse‘. Ebenso ist die nach heutigen Maßstäben als rassistisch und klassistisch einzustufende Beurteilung von Jugendlichen und deren Eltern als beispielsweise „minderwertig“, „schwachsinnig“ oder „asozial“ (Kuhlmann 2008, S. 23) zu verstehen. Auch diese wurden geschlechtsspezifisch differenziert, wobei mangelnder Arbeitswille den Jungen und Vätern und das ‚Einlassen mit Fremden‘ (im rassistischen Sinne)

54 | Der A.F.E.T. e.V. gründete sich 1946 erneut und hielt bezüglich aktueller Herausforderungen für die neu zu organisierende Fürsorge-Erziehung fest: „Ein besonderes Problem bilden auch die gefährdeten Jugendlichen unter den Ostflüchtlingen und die oft schwer verwahrlosten und vagabundierenden Jugendlichen [...]. Das gleiche gilt von den schwer sexuell verwahrlosten geschlechtskranken Mädchen, die sich zum Teil schon monatelang in Ausländerlagern herumgetrieben haben“ (A.F.E.T. 2006, S. 142). Zentral war der Begriff der Verwahrlosung, wenn es um die Gründe für Heimerziehung, insbesondere der geschlossenen, ging: „Auf der Jungenseite sind es u.A. [sic] die illegalen Existenzen, die von Schwarzhandel leben, die Freude an Hochstapeleien haben, die vagabundierenden Jugendlichen, die z.T. erheblich unter dem Niveau der FE [Freiwillige Erziehungshilfe, JW] liegen. Bei den Mädchen liegt die schwere Verwahrlosung vornehmlich auf sexuellem Gebiet. Sie sind zuchtlos, haben schnell Anschluss an die Soldaten der Besetzung, sind, wie berichtet wird, oft so widerspenstig, dass gefängnismässige [sic] Unterbringung nicht zu umgehen ist“ (ebd., S. 143; Herv.i.O.).

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den Mädchen und Müttern zugeordnet wurde (vgl. ebd.).55 Ersichtlich wird, dass die von den Alliierten beobachtete ‚Zucht- und Ordnungs‘-Orientierung der Fürsorgeerziehung nicht allein eine Folge des bereits vor dem Nationalsozialismus herrschenden Erziehungsstils von „Disziplin, Sauberkeit [und] Gehorsam“ (Hering/Münchmeier 2000, S. 212) war. Die Entnazifizierung sorgte nicht für eine nennenswerte Neueinstellung von Personal und drang nicht bis in die pädagogische Praxis der Fürsorgeerziehung vor (vgl. Schölzel-Klamp/ Köhler-Saretzki 2010, S. 25ff.). Beispielsweise blieben Personen wie Käthe Petersen56 in steuerungsrelevanten Positionen und biologisch-rassistische Konzeptionen von ‚erziehbar vs. minderwertig‘ blieben implizit Grundlage, um Fürsorgeempfangende pädagogisch und gesellschaftlich zu bewerten. Die sich haltende (theoretisch wie empirisch unbestimmte) Verwahrlosungsannahme57 rechtfertigte zusammen mit der angelasteten Kriminalität 55 | Darüber hinaus zieht Carola Kuhlmann Vergleiche zwischen den Strafpraktiken in den Heimen der 1950er und -60er Jahre mit nationalsozialistischen Strafpraktiken: „Wenn in einem Kinderheim [...] Bettnässer damit bestraft wurden, dass ihnen ein Plakat umgehängt wurde, auf dem stand ‚Ich bin das größte Schwein im ganzen Kinderheim‘ (Wensierski 2006, S. 101), so erinnert das direkt [an nationalsozialistische Strafen für Frauen, die] verdächtigt wurden, mit Juden oder Kriegsgefangenen intime Beziehungen zu haben“ (Kuhlmann 2008, S. 22). Diese mussten ein Schild „Ich bin am Ort das größte Schwein, ließ mich mit einem Juden ein“ (ebd.) tragen. Auch schätzt Kuhlmann die Strafkleidung für entlaufene Zöglinge als der der KZ-Häftlinge ähnlich ein. 56 | Käthe Petersen wurde im Nationalsozialismus u.a. Leiterin der Gesundheits- und Gefährdetenfürsorge in Hamburg. Durch Pflegschaften und Vormundschaften ermöglichte sie Zwangssterilisationen, war über die Verschleppung ihrer Mündel in Konzentrationslager informiert und engagierte sich stark für die NS-Eugenik (vgl. Kompisch 2008, S. 104). Nach dem Krieg war sie 1948 Leiterin des Hamburger Landesfürsorgeamtes, wurde Oberregierungsrätin und übernahm ab 1951 wieder Vormundschaften (vgl. ebd.). Ein weiteres Beispiel für ideologische und personelle Kontinuitäten bildet das Landesfürsorgeheim Glückstadt in Schleswig-Holstein, das erstmals 1874 als ‚Korrigendenanstalt‘ genutzt wurde, um Landstreicher und Prostituierte zur Arbeitshaft einzusperren. Nachdem die Einrichtung 1925 zum ‚Landesarbeitshaus‘ wurde, nutzen die Nationalsozialisten die Einrichtung als „Wildes KZ“ (Johns/Schrapper 2010, S. 17) und ab Ende 1943 zusätzlich als Arbeits- und Straflager für Jugendliche. Nach dem zweiten Weltkrieg sind Mitarbeiter der nun ‚Landesfürsorgeheim‘ genannten Einrichtung beispielsweise weiterhin von Zwangssterilisationen zugunsten der ‚Volksgesundheit‘ überzeugt (ebd., S. 108). Siehe auch: Wensierski 2006 zu den Heimen ‚Kalmenhof‘ (S. 121ff.) und ‚Guxhagen‘ (S. 144ff.). 57 | Der Verwahrlosungsbegriff wurde durch Ansätze ‚Offensiver Sozialpädagogik‘ an der Wende der 1960er zu den 1970er Jahren Gegenstand der Kritik (vgl. Thiersch 1973/1967), ohne aber die Kategorie Geschlecht tiefgreifender zu berücksichtigen. Kritisch ist zudem die darin postulierte Wende zum medizinischen Begriff der Dissozialität, der die Geschichte

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und Unsittlichkeit bis Mitte der 1970er Jahre Jugendliche in Heimen einzusperren und physischen wie psychischen Misshandlungen auszusetzen. Dazu zählten insbesondere sexuelle Gewalttaten gegen Mädchen und Jungen durch Erziehende wie Mitzöglinge und zwangsweise gynäkologische Untersuchungen von Mädchen (vgl. Esser 2011, S. 52f.; Wensierski 2006, S. 68ff.; Kappeler 2016, S. 125). Sexualität wurde zwar primär auf Mädchen bezogen zum ‚Problem‘ beziehungsweise als solches wahrgenommen, dennoch gab es auch eine anders gelagerte Thematisierung bei Jungen: Während mit der Einweisung von Mädchen ‚Schutz‘ vor sexueller Aktivität verbunden wurde, galt das Jungenheim als potentiell zur Homosexualität verführender Ort (vgl. Swiderek 2011, S. 399). Hingegen konnte in den von Thomas Swiderek u.a. untersuchten Dokumenten nicht eindeutig geklärt werden, ob sexuelle Gewalt offiziell diskutiert wurde (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund heutigen Wissens aus jüngst aufarbeitenden Studien zu sexueller Gewalt, ist eher nicht davon auszugehen (vgl. DJI 2011, RTSKM 2012). Bernhard Frings‘ und Uwe Kaminskys Ergebnisse zu religiösen Heimeinrichtungen weisen darauf hin, dass sexuelle Gewalt vertuscht oder mindestens verharmlost wurde (vgl. Frings/Kaminsky 2012, S. 502ff.). Hinzu kommt, dass in Täterschaft verstrickte Erziehende das Thema wohl kaum ansprachen. Neben den geschlechtsspezifischen, traditionellen wie nationalsozialistisch geprägten Stigmatisierungs- und Strafpraktiken ist zu damaligen Fassungen der Kategorie Geschlecht eine biblisch begründete Zweigeschlechtlichkeit zu zählen. Dies ist naheliegend mit der Dominanz konfessioneller Heim-Trägerschaft zu begründen. So kann noch Mitte der 1960er Jahre ein Anteil von 70 bis 80 Prozent der Heime (unabhängig von der Einrichtungsform) in kirchlicher Trägerschaft ausgemacht werden (vgl. Frings 2010, S. 40ff.).58 Gleichzeitig ist auch der disziplinäre Diskurs von christlich motivierten Geschlechter- und Rollenbildern geprägt. Die Schriften des evangelischen Arztes Guido N. Groerger59 stellen diesbezüglich für das „Handbuch der

von Fürsorge und Psychiatrie (und damit auch der Eugenik) vergisst. Vgl. auch Christian Niemeyer (1998) zur Kritik an Hans Thiersch. 58 | Mit der Auswertung statistischer Daten von der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre belegt Bernhard Frings, dass die katholischen Einrichtungen in der Überzahl waren und die evangelischen Einrichtungen meist etwa ein Drittel ausmachten (vgl. Frings 2010, S. 40ff.). 59  |  Guido N. Groeger, der bereits in den 1950er und -60er Jahren zahlreiche (evangelisch-) christlich inspirierte Aufklärungs- und Erziehungsratgeber veröffentlichte, war von 19681980 Leiter des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung in Berlin. Seine Haltung kann, wenn auch im Rahmen christlicher Wertvorstellungen, als tendenziell liberal beschrieben werden, woran der Bruch zwischen disziplinärer Theorie und praktiziertem Heimalltag deutlich wird.

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Heimerziehung“ (1952-1966)60 eine wichtige Bezugsquelle dar. Das Handbuch, als Leitfaden für die pädagogische Ausbildung und Praxis gedacht, ist in den für Geschlecht relevanten Artikeln von traditionellen, christlichen Vorstellungen und solchen über Biologie durchzogen. Das zeigt sich in Annahmen über ein geschlechtliches Wesen, das sozial und biologisch zu verorten sei, in einer zu erzielenden geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung der Zöglinge und in den Vorstellungen zur professionellen ‚Elternschaft‘ der Erziehenden (vgl. Trost/Scherpner 1952-66, S.  539, S.  546; S.  857). In einer umfassenden Untersuchung von Dokumenten aus der öffentlichen Erziehung im Rheinland geht (eher als Nebenschauplatz) hervor, dass es insbesondere vom Landesverband Rheinland ausgehend, Bemühungen gab, Sexualaufklärung zumindest anzustoßen (vgl. Swiderek 2011, S. 398ff.). Dies scheiterte jedoch an der Weigerung der Erziehenden wie auch an leitendem Personal, insbesondere weil damit auch entschieden werden musste, ob über Verhütungsmittel und Abtreibung aufgeklärt werden sollte (vgl. ebd. 403f.). Zusammengefasst lassen sich zwar vereinzelt emanzipatorische Tendenzen ausmachen, dennoch waren die geschlechtlichen und sexualpädagogischen Erziehungsziele auf heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit, Ehe und eheliche Elternschaft ausgerichtet. Die ungleiche Bewertung von Erziehenden qua Geschlecht äußerte sich darüber hinaus in Einschätzungen des A.F.E.T. e.V., wenn dieser die Anleitung von Kindergärtnerinnen im Heimbereich durch die „Führung reiferer Persönlichkeiten“ (A.F.E.T 2006, S.  143) empfahl, was auf eine geforderte Anweisung durch Männer schließen lässt. Mit Einführung des Jugendwohlfahrtsgesetzes 1961 wurden präventive Erziehungshilfen gestärkt, so dass die Heimunterbringungen zurückgingen (vgl. Hering/Münchmeier 2000, S.  226). Wie weiter unten nachgezeichnet werden wird, kam es allerdings erst durch die Eskalation der Heimbewegung um das Jahr 1970 zu weitreichenden Reformen, so dass das Erziehungshilfesystem zunehmend ausdifferenziert wird und die Wohneinheiten stationärer Erziehungshilfe dezentralisiert und verkleinert werden. Wie zuvor waren die Geschlechterfrage und die Heimerziehung auch in der Nachkriegszeit klassenspezifisch geordnet. Nachdem sich seit dem 17. und 18. Jahrhundert die Hausarbeit und damit auch die geschlechtliche Sphärentrennung zumindest normativ etabliert hatten (vgl. Bock/Duden 1977, S. 122), stand die Realität dem eklatant entgegen: Zum einen, weil sich an der Notwendigkeit 60 | Das „Handbuch der Heimerziehung“ wurde 1952-1966 in zwölf Teillieferungen von Friedrich Trost und Hans Scherpner herausgegeben. Christian Schrapper (2010) zeigt, dass dieses Ausbildungs- und Nachschlagewerk als einflussreich einzuschätzen ist. Zudem wird deutlich, dass die fürsorgerische Praxis theoretisch vor allem durch „Theologen, Juristen und Mediziner“ (ebd., S. 126) bestimmt war, während dem Begriff ‚Sozialpädagogik‘ kein eigener Eintrag gewidmet wird.

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zu arbeiten für alle Familienmitglieder in den unteren Einkommensgruppen nichts geändert hatte, zum anderen durch die im Krieg umgekommenen und der in Kriegsgefangenschaft verbliebenen Ehemänner und Väter. Zu Beginn der 1950er Jahre stellten Frauen „mehr als 50 Prozent des Arbeitskräftepotentials“ (Brumlik 2006, S. 71). Frauen und Mütter hatten bereits während des Krieges männerdominierte Aufgaben übernommen und in der Rüstungsindustrie gearbeitet. Die Abwesenheit der Väter war in den sozioökonomisch schwach gestellten Familien häufiger vertreten (vgl. Gehltomholt/Hering 2006, S. 47). Jedoch kann gesamtgesellschaftlich von einer fehlenden Anwesenheit des Vaters im Sinne einer „symbolische[n] Präsenz“ (ebd.) ausgegangen werden, die, neben dem realen väterlichen Autoritätsverlust und der faktischen Berufstätigkeit der Mütter für gewandelte Autoritätsstrukturen stand (vgl. ebd.).61 Das Unvermögen, mit dieser Unvereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit umzugehen, bestimmte die Vorurteile gegenüber alleinerziehenden Müttern, die u.a. in der Fürsorge zur Entscheidungsgrundlage wurden. Beispielsweise wurde die Doppelbelastung von Frauen als nicht zu bewältigende Aufgabe angesehen oder gar ein Berufstätigkeitsverbot für Mütter von Kleinkindern erwogen (vgl. ebd., S. 48). Alleinerziehende, erwerbstätige Mütter der Arbeiterklasse waren geradezu eine Provokation, da sie sowohl das Ideal der Hausfrau und Mutter infrage stellten als auch den Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre. Sie erinnerten doppelt an die Gewalt und die Not des Krieges – durch ihre Existenz als Witwen beziehungsweise Alleinerziehende und durch ihre Armut beziehungsweise die Notwendigkeit von Erwerbsarbeit für Mütter. Zudem zeigte sich im Verlust der Männer und in der finanziellen Notlage dieser Frauen, dass weder der Nationalsozialismus noch die (soziale) Marktwirtschaft ihre jeweiligen Versprechen der sozialen Integration einhalten konnten. In der doppelten Ausgrenzung als alleinerziehend und der Arbeiterklasse zugehörig konnten sich die wenigsten Frauen gegen nachbarschaftliche Denunziationen62 und fürsorgerische Eingriffe wehren (vgl. Wensierski 2006, S. 17ff., 43). Diese Situation, einerseits Autonomie durch alleinige Haushaltsführung und relative finanzielle Selbstständigkeit, andererseits eine patriarchal abgesprochene Mündigkeit, war jedoch auch gesamtgesellschaftlich die 61 | Vgl. dazu die sozialpsychologische Analyse von Mitscherlich 1973/1963; und kritisch dazu Brumlik 2006, S. 66ff. „Die 68er-Generation war“, so Tatjana Freytag, „dreifach ‚vaterlos‘“: Erstens durch das „Erlöschen des Vaterbildes vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderung, die sich mit der Industriegesellschaft vollzog; zweitens durch die reale Vaterlosigkeit in der deutschen Nachkriegsgesellschaft“, wozu auch die traumatisiert-anwesend-abwesenden Väter gehörten; „drittens durch die selbstverantwortete Verwerfung des Vater, als Aufbegehren gegen das Autoritäre“ (Freytag 2008, S. 175). 62 | An dieser Stelle kann mit Sicherheit von fortbestehenden, nationalsozialistisch etablierten Verhaltensweisen gesprochen werden.

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für Frauen ohne Ehemann prägende Erfahrung des Geschlechterverhältnisses. Nicht zuletzt die Anwerbung von ‚Gastarbeitern‘ in den 1950er und -60er Jahren machte deutlich, dass Frauen nicht als tragende Kräfte in der Erwerbsarbeit angesehen wurden. Die Situation, dass Frauen in relativer Autonomie den Eintritt in die öffentliche Sphäre zwar erleben, aber gleichzeitig auch wieder abgesprochen bekommen konnten, gehörte zu den Widersprüchen, mit denen sich die Tochtergeneration in der zweiten Frauenbewegung auseinandersetzte.

1.2.2 Heimkampagne und zweite Frauenbewegung Mit Beginn der Heimkampagne 1969 fielen spektakuläre Fluchtversuche von Zöglingen (vgl. Baumhoff/Depil 1982, S. 17) mit der politisch-theoretischen Diskussion63 und dem zeitgenössischen tatsächlichen Auf begehren linker Gruppen auf der Straße zusammen. Die linken Gruppierungen wollten ‚raus‘64 und nicht nur durch Teach-ins oder Universitätsdiskussionen Politik betreiben. Für die Fürsorgezöglinge, deren prekäre Situation keine Neuigkeit war, eröffnete sich so, über eine kurze Flucht hinaus, eine längerfristig erscheinende Perspektive.65 Die 1969 beginnende Befreiung von männlichen Fürsorgezöglingen des hessischen Heims Staffelberg wurde im weitesten Sinne von Kreisen der Außerparlamentarische Opposition (APO) getragen. Häufig vernachlässigt wird, dass auch die Zöglinge selbst, zusammen mit (jungen) Erziehenden, die den Widerspruch zwischen pädagogischer Theorie, politischer Bildung und praktischer Repression in den Heimen nicht mehr ertrugen, an den Aktionen maßgeblich beteiligt waren (vgl. Kappeler 2011, S. 73; Kampfgruppe ehemaliger Fürsorgezöglinge 1970, S. 23). Allerdings darf die (versuchte) intellektuelle Fundierung politischer Aktionen dieser Zeit nicht übersehen werden. Die his63 | Damit sei auf die sogenannte „Randgruppen-Strategie“ verwiesen (vgl. Rote Presse Korrespondenz Nr. 54, 2/1970). 64 | Wortwörtlich schrieb die Aktionsgruppe ‚Südfront‘, dass sie aus dem „bekannten Motto der Studentenbewegung in der letzten Zeit: Raus aus der Uni!“ (Südfront 1970, S. 20) entstand. 65 | Manfred Kappeler weist nach, dass bereits seit Anfang der 1950er Jahre kritische Studien über die miserablen Zustände in den Heimen veröffentlicht wurden und sogar das als konservativ einzustufende ‚Handbuch der Heimerziehung‘ (a.a.O.) auf die Missstände aufmerksam machte (vgl. Kappeler 2011, S. 65ff.). Mit der zeitspezifischen Politisierung der ‚Verhältnisse‘ und den Solidaritätsbekundungen der Studenten konnten die Zöglinge auf einen längerfristigen Unterschlupf in den neu entstandenen kommunenartigen Wohngemeinschaften (WG) hoffen. Diese Hoffnung wurde zwar insofern nicht eingelöst, als dass die sogenannte ‚Randgruppen-Strategie‘ nicht aufging und die WGs sich mit großen Konflikten mit den Zöglingen konfrontiert sahen. Hingegen boten die eingerichteten Jugendwohnkollektive tatsächlich langfristige Perspektiven, spätestens durch deren Aufgehen in reformierten Institutionen der Heimerziehung.

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torische Entfaltung der damaligen Theoriebildung und der beteiligten politischen Zirkel gibt Aufschluss darüber, warum es zwar zu einer Überwindung der Repression in den Erziehungsheimen kommen konnte, deren geschlechtliche Dimension aber weitgehend unberücksichtigt blieb oder nur mangelnd bedacht wurde.66 In den linken und studentischen Kreisen von APO und SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) hatten sich zu dieser Zeit zwei Ebenen der Auseinandersetzungen mit Autorität etabliert. Autorität galt als tief im autoritären Staat, der als Folgeerscheinung des Nationalsozialismus betrachtet wurde, verankert und wurde als solche bekämpft. Eng damit verknüpft war zudem die spezifisch psychoanalytische Lesart der autoritär organisierten und im Bürgerlichen begründeten Familie. Deutlich wird in beiden Fällen, dass Autorität mit Herrschaft gleichgesetzt wurde.67 Tatsächlich fielen bei vielen persönlichen Familiengeschichten der auf begehrenden Jugend die nationalsozialistische Vergangenheit der Eltern und deren autoritärer Erziehungsstil in eins (vgl. Baader 2008, S. 64f.). An dieser Stelle ist nun entscheidend, dass trotz dieser Verknüpfung das Ringen mit Autorität auf den oben zunächst analytisch getrennten Ebenen stattfand. Der autoritäre Staat wurde in erster Linie als Repression betrachtet, die sich durch Manipulationen der Beherrschten auszeichnete, so dass diese nicht auf begehrten. Zwar wurde von den Akteuren ein Widerspruch in der Trennung von Politik und privater Praxis erkannt. Der

66 | Dabei waren die Situation in Mädchen- und Jungeneinrichtungen und auch die dortigen spezifischen Gewaltphänomene bereits beschrieben worden (vgl. Kappeler 2011, S. 66, 74; darin zu der Dissertation von Otti Düchting (1952) und unveröffentlichten Manuskripten Ulrike Meinhofs von 1969). Unterbeleuchtet blieb jedoch eine geschlechtertheoretische Deutung der Situation; beziehungsweise diese verblieb in einer einseitig (psychoanalytisch) männlich-orientierten Perspektive (vgl. dazu bspw. Dokument 8 in Ahlheim/Hülsemann/ Kapczynski u.a. 1971; Gothe/Kippe 1970). Insbesondere in den Berichten aus der Kölner Heimkampagne (Gothe/Kippe 1970) wird wiederholt die Rolle eines autoritär-gewalttätigen Vaters problematisiert, während die Mutter wie auch die Beziehung zu ihr zwar beschrieben, aber nicht untersucht wird. In ihrer Untersuchung von hessischem Archivmaterial kommt Sabine Stange (2017, 2018) ebenfalls zu dem Schluss, dass es keine geschlechtertheoretische und/oder -politische Auseinandersetzung innerhalb der Heimkampagne gab bzw. diese durch einen ,männlichen‘ Blick geleitet war. Eine Kritik dessen fand sich eher in journalistischen Arbeiten, insbesondere von Ulrike Meinhof (vgl. ebd., S. 203). 67 | Die Verwendung dieses Autoritätsbegriffs ist von der Bestimmung des Begriffs Autorität zu unterscheiden, die in Kapitel 1 vorgestellt wird und Autorität in ein Verhältnis zur Genealogie und in einen Zusammenhang mit der Geschlechterordnung bringt. Vgl. dazu auch Casale 2016, S. 218f.

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Widerspruch wurde u.a. durch spezifische Lektüre68, die marxistische Theorie mit Psychoanalyse, Staatskritik und der Infragestellung der bürgerlichen Familie verknüpfte, reflektiert und diskutiert. Obwohl diese Theorien teils als ‚politische Anleitungen‘ aufgefasst wurden, resultierte aus den Debatten, ebenso wie aus den Strukturen von APO und SDS die ‚Randgruppen-Strategie‘ im Sinne einer Auslagerung des Kampfes aus dem persönlichen Feld. Das heißt, dass die Situation der zu Befreienden problematisiert wurde, und zwar primär aus einer Perspektive des ‚Hauptwiderspruches‘, während die konkrete Beteiligung am Geschlechterverhältnis und den Bedingungen von produktiver und reproduktiver Sphäre als ‚Nebenwiderspruch‘ verdrängt wurde. An dieser Stelle ist sicherlich die Analyse der frauenbewegten Akteurinnen zutreffend, dass die Männer, die sich die frauenbewegte Initiative der Kinderläden zu Eigen machten, sich weigerten „ihre eigenen Konflikte zu artikulieren“ (Sander 1970/1968, S. 60).69 Heimkampagne und frauenbewegte Kinderläden 70 zielten mit ihren Befreiungsaktionen in dieser Zeit auf unterschiedliche Adressat/innen: Die ‚Männer‘ 68  |  Die antiautoritären Bestrebungen in der APO beziehungsweise im SDS resultierten aus den Versuchen, die öffentlich-politischen Fragen mit den persönlichen zu verbinden. Dabei wurde versucht, die marxistische Kritik am Kapitalismus mit einer kritischen Auslegung der bürgerlich geprägten Psychoanalyse zu verbinden. Theoretisch griffen die Akteure vor allem auf Arbeiten von Wilhelm Reich, Erich Fromm und Herbert Marcuse zurück (vgl. u.a. Kommune 2 1971, S. 32f.). 69 | In ihrer provokativen Rede vor der SDS-Delegierten-Konferenz warf Helke Sander ‚den Männern‘ vor, sich erst für die Kinderläden interessiert zu haben, als diese eine „Perspektive“ (Sander 1968, S. 60) versprachen. Im gleichen Atemzug seien die Kinderläden aber auch zu einem Instrumentarium der Politisierung von Arbeiterkindern geworden. 70 | Der Zusammenhang von Selbstbefreiung und Selbstermächtigung von Frauen mit Gründung der ersten Kinderläden wurde von Meike S. Baader (u.a. 2008, 2011a, 2011b, 2014) ausführlich beschrieben. Insbesondere unter Bezugnahme auf die auch hier diskutierten Dokumente widerlegt sie vor allem die in Deutschland an Alice Schwarzers Identifizierung des Beginns der deutschen Frauenbewegung mit dem Kampf gegen den ‚Abtreibungsparagraphen‘ 1971 geknüpfte Darstellung (vgl. Baader 2011a, S. 247). Für die Frauen – besser gesagt Mütter – der ersten Stunde der Kinderläden gehörten Frauen- und Kinderbefreiung zusammen; womit Baader auch die Bedeutung der Erfahrung von Mutterschaft für die Entwicklung antiautoritärer Erziehungszusammenhänge betont (vgl. ebd.; Baader 2011 b, S. 82; Baader 2014, S. 30). In der von Sabine Hark verfassten „Diskursgeschichte des Feminismus“ (Hark 2005) wird die Bedeutung der Kinderbetreuung und Mutterschaft für Sanders Rede wie für den „Tomatenwurf“ Sigrid Rügers ausgeblendet (vgl. ebd., S. 220f.). An diesem Beispiel zeigt sich, wie nicht nur in der (erziehungswissenschaftlichen) Erzählung von ‚68‘ der Feminismus zum Nebenschauplatz, sondern auch in der feministischen ‚Erzählung‘ die Frage nach Erziehung und Mutterschaft marginalisiert werden kann.

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des SDS befreiten die ‚Anderen‘, die zu großen Teilen auch männlich waren, während die Frauen des ‚Aktionsrates zur Befreiung der Frauen‘ außerhalb der ‚großen‘ Politik sich selbst befreiten.71 Dieser Zusammenhang ist zu klären, da diese unterschiedlichen Beweggründe, Ziele und deren Umsetzung großen Einfluss auf die jeweilige Beschäftigung mit Erziehung und den daraus folgenden Konsequenzen hatte.72 Der ‚Aktionsrat zur Befreiung der Frauen‘ war bewusst außerhalb des SDS gegründet worden, war er doch negativ motiviert durch den Ausschluss von Frauen aus der politischen Teilhabe und Bildung (vgl. Berliner Kinderläden 1970, S. 74f.). Dieser Ausschluss wurde vom Aktionsrat in der bleibenden Vorherrschaft patriarchaler, kleinbürgerlicher familiärer Strukturen identifiziert, deren Überwindung der SDS im Privaten nicht offensiv anstrebte (vgl. Aktionsrat zur Befreiung der Frauen 1968, S.  56). Aus der Erkenntnis, dass die studentische Bewegung nicht gewillt war, durch eine kollektive Bearbeitung reproduktiver Tätigkeit diese Verhältnisse zu ändern, beschlossen die beteiligten Frauen, ihren Willen nach politischer Aktivität autonom umzusetzen. Dies führte für sie unweigerlich in die Politisierung der reproduktiven Sphäre. Kinderläden sollten dies in einem doppelten Sinn leisten: Erstens durch die Ermöglichung politischer Beteiligung von Müttern, indem kinderfreie Zeit

71  | „[...] die Studenten, die da den Schah [im Rahmen von Protesten gegen seinen Besuch in West-Berlin 1967 vor der Deutschen Oper mit Tomatenwürfen, JW] besudelten, handelten doch nicht in eigener Sache, eher stellvertretend für die persischen Bauern [...] die Tomaten konnten nur Symbole sein für bessere Wurfgeschosse. [...] Die Tomaten, die auf der Frankfurter Delegiertenkonferenz des SDS geflogen sind, hatten keinen Symbolcharakter. [...] Und die Frau, die die Tomaten warf, und die, die die Begründung dazu geliefert hatten, die redeten nicht aufgrund entlehnter, mühsam vermittelter Erfahrung, die sprachen und handelten, indem sie für unzählige Frauen sprachen, für sich selbst“ (Meinhof o.J. zit. n. Arbeitsgruppe Patriarchat Hamburg 1988, S. 4). 72 | Die folgende Darstellung begrenzt sich auf die Frage, wie Geschlecht als Thema für die Heimkampagne und daran anknüpfende Reformen ermöglicht und verunmöglicht wurde. Diese Frage gehört im weiteren Sinne zu der noch ausstehenden „systematischen verknüpfenden Historiographie“ (Maurer 2016, S. 358) von Frauenbewegung und ‚68‘. Sowohl Susanne Maurer (2016) als auch Meike Sophia Baader (2012 a, S. 105ff.) zeigen die Geschlechtsblindheit in der Geschichtsschreibung zu ‚1968‘ auf; zentral ist dabei sowohl die Berücksichtigung der feministischen Bewegung als auch deren Kritik am Politikverständnis. Pietschs bereits erwähnte Arbeit zu dem Zusammenhang von mädchenspezifischen Einrichtungen und Frauenbewegung (Pietsch 2012, S. 122ff.) bestätigt ebenfalls die Geschlechtsblindheit in der Heimkampagne.

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geschaffen wurde, zweitens durch die antiautoritäre Gestaltung kollektiver Erziehung.73 Vorerst kann festgehalten werden, dass die Heimkampagne weitestgehend unberührt von der Geschlechterfrage blieb und die gerade erstarkende Frauenbewegung die theoretische Aufarbeitung der Kategorie Geschlecht erst (wieder)entdecken musste. Aus den unterschiedlichen Herangehensweisen bezüglich der Befreiung vom autoritären Staat und vom Kapitalismus (die ihrerseits aus der Frage resultierten, wer befreit werden sollte), folgten differente Erziehungsstrategien: Die Heimkampagne kämpfte gegen den repressiven Charakter öffentlicher Erziehung, indem sie zunächst die Heime abschaffen wollte, verblieb dabei aber in einer androzentrischen Geschlechtsblindheit. Die Frauenbewegung hingegen begann eigene Formen ‚öffentlicher‘ beziehungsweise gemeinschaftlicher Erziehung für die eigenen Kinder hervorzubringen. Beide Bewegungen trafen jedoch in den Ansprüchen auf Selbstorganisation und der Verbindung von Politik und privatem Raum wieder zusammen. Die antiautoritären Experimente zur Kindererziehung begannen zunächst in Wohngemeinschaften und Kommune und die Heimbefreiten zogen zunächst in die Privatwohnungen der ‚Befreier‘ ein.74

1.2.3 Mädchenhausbewegung Von der Heimkampagne und dem Beginn der Kinderladenbewegung bis zur Mädchenhausbewegung sollten gut fünfzehn Jahre vergehen. Die Mädchenhäuser können dennoch als Folge von Reformen in der Heimerziehung und frauenbewegter Selbstbefreiung gewertet werden. Erst die Entwicklung von Jugendwohnkollektiven durch die Heimkampagne ermöglichte die Idee von betreutem Jugendwohnen oder Jugendwohngemeinschaften. Deren Auseinandersetzung mit Geschlecht bewegte sich auf der Oberfläche, da Probleme von Mädchen nur marginal, in den Bereichen von

73 | Während zuerst versucht wurde, die Kinder in wechselnden Privatwohnungen durch einzelne Eltern(teile) zu betreuen, entwickelte sich durch die Unzulänglichkeiten der Privatwohnungen und der ‚Laienpädagogik‘ allmählich Professionalität. Die Kinderladen-Bewegung begann Räume anzumieten und Erzieherinnen einzustellen (vgl. Berliner Kinderläden 1970, S. 76f., 118ff.). 74 | Daran waren auch Erziehungswissenschaftler beteiligt, wie insbesondere Klaus Mollenhauer in einer autobiographischen Erinnerung festhält (vgl. Mollenhauer 1998). In dieser Erinnerung wird zudem die klassenspezifische Trennung zwischen „studentischen Meinungsführern“ (ebd., S, 531) und ehemaligen Heimzöglingen deutlich, wie auch eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Versorgung der Heimentflohenen.

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Paarbeziehungen oder Erwerbsarbeit, diskutiert wurden.75 Geschlecht, Männlichkeit und Weiblichkeit als Kategorie wurden jedoch nicht thematisiert. Die Mädchenhausbewegung kann zu Recht als ‚kleine Schwester‘ der Frauenhausbewegung betrachtet werden, die ähnlich der Kinderladenbewegung zunächst den Anspruch auf ‚Selbstbefreiung‘ hatte, da die Akteurinnen als und für ‚Frauen mit Gewalterfahrung‘ Widerstand gegen ‚männliche‘ Gewalt leisten wollten. Die Mädchenhäuser waren (u.a. inspiriert durch die ersten Ansätze feministischer Mädchenarbeit) die pädagogische Konsequenz dieser Bemühungen, was sich nicht zuletzt in der Verquickung mit bestehenden Frauenprojekten und -vereinen ausdrückte, die zudem auch zu personalen Überschneidungen führte (vgl. Kosel/Seidel 1987, S. ).76 Die Mädchenhausbewegung macht deutlich, inwieweit die pädagogische und heimerzieherische Veränderung von der spezifischen (De-)Thematisierung von Geschlecht in der Heimkampagne und der zweiten Frauenbewegung geprägt war. Da um 1968 bis Anfang der 1970er Jahre die zentrale Thematik von APO und SDS die Systemkritik und die Möglichkeit einer antiautoritären oder sozialistischen Überwindung der Verhältnisse war, wurde auch die Geschlechterfrage als eine primär ökonomische betrachtet. Im Vordergrund stand somit beispielsweise die Frage, wie eine kollektive Leistung reproduktiver Arbeiten zu gestalten sei. Körperliche Gewalt im Geschlechterverhältnis war weniger von Interesse.77 Erst Mitte der 1970er Jahre begannen Teile der Frauenbewegung sich vorrangig mit Gewalt gegen Frauen auseinanderzusetzen, was sich zunächst in Gruppengründungen wie „Frauen gegen Gewalt gegen Frauen“ (gegründet 1974 im Berliner Frauenzentrum) ausdrückte und in der Eröffnung des ersten deutschen autonomen Frauenhauses 197678 in 75 | Vgl. dazu die Beschreibungen der Jugendwohnkollektive und die Dokumentation der politischen Diskussion um sie in Victor-Gollancz-Stiftung e.V. (1974): Reader Jugendwohnkollektive. Teil I und II. Wie Meike Baader (2011b, S. 85) für die Kinderladenbewegung festhält, stellt auch insbesondere die Untersuchung von impliziten wie expliziten Männlichkeitsvorstellungen für die Heimkampagne eine noch offene Aufgabe dar. 76  |  Beispiel dafür ist die von Klose/Seidel (1987) genannte Gründung des Frankfurter Vereins „Feministische Mädchenarbeit“, der aus dem Frauenhaus-Verein „Frauen helfen Frauen“, dem „Feministischen Frauengesundheitszentrum“ und dem „Feministischen Interdisziplinären Forschungsinstitut“ hervorging. 77  | So erinnert sich Helke Sander, wie Ulrike Meinhof (die dem Aktionsrat zur Befreiung der Frauen skeptisch gegenüber stand) bei einem frauenbewegten Treffen „plötzlich die Frage stellte: ‚Welche Frau ist noch nie von ihrem Mann geschlagen worden?‘ [Und v]on den hundert oder hundertfünfzig Frauen [...] meldeten sich vielleicht drei.“ Diese Thematik sei dann nicht weiter vertieft worden, weil es die Frauen „damals nicht so interessierte“ (Kätzel 2002, S. 170). 78 | Bereits zu Beginn der 1970er Jahre waren ähnliche Projekte in den USA und Großbritannien initiiert worden (vgl. Brückner 2010 a).

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Berlin gipfelte (vgl. Brückner 2010 a, S. 61). Damit verschärfte sich auch die Auseinandersetzung mit Autorität – im Sinne von Herrschaft – in familiären Zusammenhängen, da körperliche Gewalt im Geschlechter- und Generationenverhältnis zur Sprache gebracht und somit die freiwillige Anerkennung der Autorität des Vaters infrage gestellt wurde. Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Der Handlungsdruck der zweiten Frauenbewegung und deren mangelnde Anknüpfungspunkte zu den Traditionen der ersten Frauenbewegung führte Ende der 1960er Jahre dazu, dass sich die zweite Frauenbewegung die Geschlechterfrage zunächst nur aus der Perspektive der benachteiligten Frauen erarbeiten konnte. Dies traf sich mit dem Unwillen der männlichen APO-Akteure, die auf androzentrische Weise die Kategorie Geschlecht nicht in der Heimkampagne problematisierten. Die Folge war, dass die spätere Frauenhausbewegung zwar die Misshandlung von Kindern wahrnehmen und im Geschlechterverhältnis betrachten konnte, ihr pädagogisches Projekt aber vorerst nur als Mädchenhäuser umsetzen konnte.79 Somit war (sexualisierte) Gewalt im Geschlechter- und Generationenverhältnis in den 1980ern Jahren zur Tagesordnung geworden, allerdings lag der Schwerpunkt bei letzterem auf der Gewalt gegen Mädchen. Insbesondere die Diskussion sexueller Gewalt im Generationenverhältnis eröffnete mit der Geschlechterfrage eine weitere Dimension der Autoritätskritik. Sexuelle Gewalt wurde mit patriarchalen Verhältnissen in Verbindung gebracht (vgl. Kavemann/Lohstöter 1987). Wenn auch der sexuelle Missbrauch von Jungen und weibliche Täterschaft im späteren Verlauf thematisiert wurden, stand vor allem die Gewalt gegen Mädchen und Frauen im Vordergrund (vgl. Kavemann 1995 und 1996). Weibliche Sexualität und die Gewalt gegen sie waren zum Thema geworden, Alternativen für männliche Sexualität kaum. Die Gründungen der Mädchenhausbewegung waren zudem mit den Initiativen feministischer Mädchenarbeit verzahnt, deren Thematisierung noch größere öffentliche Aufmerksamkeit erlangte, als der sechste Kinder- und Jugendbericht zum Thema „Verbesserung der Chancengleichheit von Mädchen in der Bundesrepublik Deutschland“ (Freigang u.a. 1984) veröffentlicht wurde. Konkret kann innerhalb der Mädchenhausbewegung zwischen autonomen, ganzheitlichen und an die Behörden angegliederte Einrichtungen unterschieden werden, wobei zudem häufig Mischformen bestanden. 1983 eröffnete in Hamburg das erste Mädchenhaus, das allerdings zum behördlichen Kinderund Jugendnotdienst gehörte (vgl. Kuhne 2002, S. 163). Im Jahr 1985 folgten 79 | Auch hier kann nur wieder betont werden, dass die „Kategorie Geschlecht – historisch als Kategorie Mädchen eingebracht –“ keine Negierung des Geschlechts von Jungen war, sondern sich emanzipatorisch wehrte gegen die „Subsumierung unter Jugend“ (Bitzan 2010, S. 108), die eine geschlechtsspezifische Gewaltordnung unsichtbar machte. Vgl. dazu auch „Die Entdeckung der Mädchen“ von Ilona Ostner (1986, S.353ff.).

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Einrichtungen in München und Frankfurt, bei denen es sich um Vereinsgründungen feministischer Initiativen handelte (vgl. ebd.). Flankiert wurden diese Gründungen von den Anti-Missbrauchskampagnen, wie beispielsweise der 1982 entstandenen Selbsthilfegruppe „Wildwasser“, die 1988 eine Mädchenzufluchtswohnung in Berlin eröffnete (vgl. Lenz 2008, S. 765f.). Es gibt keine genauen Daten zu der Anzahl der bundesweiten Mädchenhäuser, je nach Definition werden in den vorhandenen älteren Veröffentlichungen zwischen 20 und 30 Mädchenhauseinrichtungen gezählt (vgl. z. B. Kirchhart 2008, Brückner 2002, Kuhne 2002). Besonders der Ganzheitlichkeitsanspruch 80 stellt(e) die Mitarbeiterinnen von Mädchenhäusern vor große Herausforderungen. Wenn niedrigschwellige Angebote ebenso wie stationäre Unterbringung gewährleistet werden, gilt es sowohl den rechtlichen, organisatorischen wie auch den Finanzierungsrahmen zu kennen. Die Ausdifferenzierung des KJHG führte nach seiner Einführung zu einer zunehmenden ‚Versäulung‘ des Jugendhilfesystems, was u.a. mit Finanzierungsproblemen ganzheitlicher Einrichtungen einhergeht (vgl. Kuhne 2002, S. 165). Zwar kann von einer sehr niedrigen Anzahl politischer, autonomer Mädchenhäuser ausgegangen werden, dennoch sah sich das Regelangebot der stationären Erziehungshilfe nachfolgend auch durch die zunehmende Mädchenarbeitspolitik, die sich seit den 1970er Jahren etablierte, herausgefordert (vgl. Kavemann/Lohstöter 1984, S.  132). Die autonomen Mädchenarbeitszusammenhänge und Mädchenhäuser sind vor dem Hintergrund der Re-Thematisierung der Geschlechterfrage (nach dem feministischen Einbruch während des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit) und ihrer politisch exponierten Stellung als ‚politische Ausnahmen‘ zu verzeichnen.

1.2.4 Geschlecht in der Heimerziehung von der Heimkampagne bis zur Mädchenhausbewegung Im Folgenden werden anhand des Geschlechterverständnisses, das in den beschriebenen Diskussionen und Veränderungen der Heimerziehung zum Ausdruck kommt, vier Bedeutungszuschreibungen der Kategorie Geschlecht zusammengefasst. Sie betreffen erstens die Fortschreibung repressiver Praxen in der Heimerziehung, zweitens die parallel verlaufende, geschlechtlich geordnete Fremd- und Selbstbefreiung in der Heimkampagne und der Frauenbewegung, drittens die Skandalisierung sexueller Gewalt und viertens die 80  |  Mit Ganzheitlichkeit ist in diesem Bereich der Anspruch gemeint, alle Hilfeformen unter einem Dach zu vereinen, was durch die unterschiedlichen rechtlichen Rahmungen und Verwaltungsbedingungen und -abläufe für niedrigschwellige, kurzfristige, therapeutische und stationäre Hilfeleistungen einen enormen organisatorischen Aufwand und die Notwendigkeit entsprechender Expertise mit sich bringt.

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Anfänge zur Etablierung feministischer Perspektiven im wissenschaftlichen und politischen Mainstream. Wie dieser Fokus zeigt, fand die allgemeine Auseinandersetzung feministischer Theorie mit Geschlecht nur bedingt Eingang in die pädagogische Diskussion. Bis zum Auf begehren Ende der 1960er Jahre kann zunächst von einem Geschlechterbild gesprochen werden, das sozial und biologisch zweigeschlechtlich gedacht wurde. Es wurde insbesondere in der Heimerziehung vor allem traditionell religiös-moralisch begründet. Die strikten Moralvorstellungen und die mangelnde theoretische Fassung der Fürsorgeprobleme leiteten die geschlechtsspezifische Einweisungs- und Erziehungspraxis der Heimerziehung. Das heißt, dass von einem ungenauen Begriff der ‚Verwahrlosung‘ ausgegangen wurde, wenn Mädchen (vermeintlich) ‚sexuell‘ aktiv wurden und Jungen ‚kriminell‘.81 Diese Grenze zwischen angepasst und verwahrlost schien nicht eindeutig und konnte situativ ausgelegt werden (vgl. Wensierski 2006).82 Die Bedeutungszuschreibungen an die Kategorie Geschlecht veränderten sich Ende der 1960er Jahre mit der Infragestellung der repressiv gedachten Autorität der Familie und deren Erziehungsaufgaben sowie der Kritik an Kapitalismus und Staat.83 Die erste Bedeutungszuschreibung erfolgte während der Auseinandersetzung der APO mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Sie hatte vor allem Folgen für die Erziehung und weniger für das Geschlechterverhältnis. Aus dieser Perspektive wurde die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Nationalsozialismus betrachtet und die Realität der Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren als Materialisierung der nationalsozialistischen ideologischen Kontinuität in der Bundesrepublik angesehen. Aus der Warte der ‚Heimbefreier‘ waren in der gewalttätigen ‚Erziehung‘ Parallelen zu den nationalsozialistischen Methoden zu erkennen. Auch in der Heimerziehung der Nachkriegszeit kam es zu Gewaltexzessen in abgeschotteten Institutionen, 81 | Vgl. detailliert Gehltomholt/Hering 2006, S. 52ff. 82 | Willkür und Gewalt in der Heimerziehung waren in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus und der konfessionellen Trägerschaft angelegt; Nationalsozialismus und konfessionelle Heimerziehung gehören nicht per se zusammen, sie sind Ergebnis der strukturell bedingten Verwobenheiten während des Nationalsozialismus (vgl. Kapitel 1.1). 83 | So hatte die Elterngeneration ebenso wie der Staat den jeweiligen Autoritätsanspruch nicht nur durch die vergangene wie fortgesetzte Gewalt delegitimiert, sondern auch infolge der mangelnden geschichtlichen Verantwortungsübernahme (beispielsweise bezüglich der Entnazifizierung) und des Verschweigens der biographischen wie gesellschaftlichen Geschichte. Die sich politisierende Jugend geriet jedoch in die gleiche Falle, insofern sie nach einem radikalen Bruch strebte, der erneut die Geschichtlichkeit des Generationalen zu überwinden suchte und dabei das Generationale selbst verleugnete. Die Folge war, in jeder Form generationaler Differenz, in jedem Anspruch auf Repräsentation Autorität mit Herrschaft zu identifizieren (vgl. Casale 2016, S. 212).

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wobei die Gewalt der Erziehenden u.a. durch Rationalisierungen rassistischer beziehungsweise eugenischer Natur legitimiert wurde. Die Geschlechtsblindheit der ‚Heimbefreier‘ verhinderte jedoch, die geschlechtliche Kodierung der Gewalt zu erkennen. Zwar erfolgte Täterschaft geschlechtsunabhängig, aber nicht geschlechtsunspezifisch: Generell kann von einer Disziplinierung beispielsweise durch starre Zeitpläne, Appelle oder Anstaltskleidung ausgegangen werden, die in den monoedukativen Heimen geschlechtsspezifische Akzentuierungen erhielt. Peter Brosch zitiert diesbezüglich die explizite Verbindung von Männlichkeit mit Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin in den Leitworten des Staffelberg-Heims (Brosch 1975, S. 44), was im Kontext der genannten Disziplinierungen als militaristisch interpretiert werden kann. Zusammen mit der mangelnden beruflichen Ausbildung von Mädchen in den damaligen Heimen, bei gleichzeitigem Zwang zu haushälterischen Tätigkeiten, lassen sich Kontinuitäten nachzeichnen. Geschlechtsspezifisch wurde den ‚vom Weg Abgekommenen‘ ein Platz in der Gesellschaft zugewiesen, der vor allem von deren ‚Verfehlungen‘ geprägt war. Selbstdisziplin und militärischer Drill für die ‚Arbeitsbummler‘ und ‚Kriminellen‘, Enthaltsamkeit und Hausfrauentugenden für jene Mädchen, die der ‚Rassenschande‘ beschuldigt wurden. Nicht übersehen werden darf dabei die religiöse Beeinflussung des Gewaltverhältnisses, die die Geschlechtsspezifik der Gewalttaten besonders deutlich hervortreten lässt. Beispielsweise berichten ehemalige weibliche Zöglinge von Nonnen, die ihnen ihre Genitalien mit Kernseife und Waschlappen bis zum Schmerz ‚wuschen‘ (vgl. Wensierski 2006, S. 85). Die körperliche Gewalt basierte auf Annahmen weiblicher ‚Unreinheit‘. Mittels dieser Praktiken wurde Geschlecht zugleich als unbedeutend und bedeutend markiert: Einerseits konnte die geschlechtlich geordnete generationale Autorität nicht als solche gesehen werden, andererseits waren in der Struktur und den Disziplinierungsmaßnahmen der Heime und des Fürsorgewesens die geschlechtliche Ordnung als zweigeschlechtliche eingeschrieben. Die zweite pädagogisch relevante Bedeutungsgebung der Kategorie Geschlecht kann zugleich als Stagnation in der Heimerziehung betrachtet werden. Die Heimkampagne thematisierte skandalträchtige Probleme in der Heimerziehung, die mit Geschlecht verbunden waren, ohne diese als solche analytisch zu untersuchen. Beispielsweise wurden die Themen Sexualität, Homosexualität oder die geschlechtsspezifische Heimeinweisungspraxis von Mädchen in den Berichten von Betroffenen, ‚Heimbefreiern‘ und Journalist/ innen aufgegriffen (vgl. Victor-Gollancz-Stiftung e.V. 1974, Meinhof 1994/1971, Brosch 1975), doch wurden daraus noch keine Schlussfolgerungen für eine geschlechtsbewusste pädagogische Reform gezogen. Die Transformation der Kategorie Geschlecht erfolgte hingegen durch die sich bildende zweite Frauenbewegung und deren Engagement für eine neue Form frühkindlicher Er-

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ziehung. Entscheidend für diese Transformation der Kategorie Geschlecht waren die folgenden Punkte: Geschlecht war, was die aktiven Frauen erkannten, keineswegs ‚Frauensache‘, allerdings konnte die Geschlechterfrage angesichts ihrer Situation der Benachteiligung und der mangelnden Solidarität von Männern zunächst nur aus der Perspektive von und auf Frauen gedacht werden. Diese Perspektive war jedoch nicht losgelöst von der damaligen Kritik der APO und des SDS. Die Frauenbewegung hatte zunächst keine Anknüpfungspunkte an ihre Vorläuferinnen. Ihre Autoritätskritik verlief anfangs über die von der Studentenbewegung rezipierten Autoren und es kam zur Suche nach für die Geschlechterfrage relevanten Themen.84 Allerdings wurde den beteiligten Frauen deutlich, dass die Gesellschaftsanalysen in der gängigen Literatur nicht unmittelbar zu ihrer Befreiung beitrugen.85 Insofern kann die Stagnation einer Entwicklung der Kategorie Geschlecht in der Heimkampagne an zwei Aspekten festgemacht werden. Zum einen waren die Personen, die Geschlecht theoretisch zu fassen und in historisch-gesellschaftliche Zusammenhänge zu bringen versuchten, mit der ‚Selbstbefreiung‘ beschäftigt. Dies führte zu einer geschlechtsbewussten Auseinandersetzung mit Erziehung im Bereich der familiären und institutionellen Kleinkindbetreuung. Dabei hätte die beginnende feministische Perspektive potentiell einen Brückenschlag zwischen den Betroffenen aus den Heimen und den bewegten Studierenden eröffnen können, schließlich wurde in den politischen Frauengruppen deutlich, dass der männlich-akademisierte Habitus in den linken Politgruppen ausschließend wirkte. Zum anderen wandte sich die männlich dominierte Studentenbewegung der ‚Randgruppentheorie‘ zu, was dazu führte, dass die Kategorie Geschlecht in der Solidarisierung mit 84 | Der Arbeitskreis ‚Theorie der Emanzipation‘ las beispielsweise im Sommersemester 1968 Friedrich Engels, Max Horkheimer, Erich Fromm, Theodor W. Adorno, Wilhelm Reich, Wera Schmidt, A.S. Neill, Réné Spitz, Erich Neumann, Sigmund Freud und Lewis Henry Morgan. Aus der Reihe scheint nur Johann Jakob Bachofen zu fallen (vgl. Arbeitskreis ‚Theorie der Emanzipation‘ 1988). Die Rezeption feministischer Literatur (z. B. Simone de Beauvoir oder Betty Friedans) erfolgte erst in den 1970er Jahren (vgl. Baader 2012 a, S. 110). 85 | Besagter Arbeitskreis (s. FN 84) kritisierte die mangelnde Infragestellung von Familie und Mütterlichkeitsidealen. Im kritischen Verhältnis zu Horkheimer (und trotz dessen „wichtige[r] [...] Einsichten [...] über das Verhältnis Ökonomie/Familie/Staat“) betrachtete der Arbeitskreis die Institution Familie und die Unterdrückung der Frau als Voraussetzung für den Kapitalismus (vgl. Arbeitskreis ‚Theorie der Emanzipation‘ 1988, S. 42ff.). Die impliziten wie expliziten Abwertungen von Frauen (Reichs „Typus des Unpolitischen, für den [er] Frauen als Beispiel angibt“) waren ebenso Zielscheiben der Kritik (ebd., S. 44). Interessant ist, dass sich der ‚Sozialistische Frauenbund Westberlin‘ als Nachfolge des ‚Aktionsrates zur Befreiung der Frau‘ diesen Themen mit einer Stärkung der Kapitalismuskritik und gleichzeitigen Betonung der Frauenproblematik zuwandte (vgl. Menschick 1988, S. 6ff.).

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den Heimzöglingen weiterhin androzentrisch tabuisiert wurde. Dies hatte unmittelbare Folgen für die Heimkampagne, die primär männliche Fürsorgezöglinge ansprach, sich mit Gewalt auseinandersetzte, ohne jedoch sexuelle Gewalt zu einem geschlechtertheoretisch zu betrachtenden Gegenstand zu machen, und den Männlichkeitsentwürfen der repressiven Erziehungspraxen kaum Alternativen entgegensetzte.86 Die mangelnde Auseinandersetzung mit Gewalt im Geschlechterverhältnis auf Seiten der Studentenbewegung und ihren Folgeerscheinungen schlug sich in der Frauenbewegung nieder, insofern diese sexuelle Gewalt Ende der 1970er Jahre mit der Forderung nach Frauenhäusern und den ersten Gründungen entsprechender Einrichtungen zu ihrem Thema machte. Die Kategorie Geschlecht bezeichnete so betrachtet in erster Linie Mädchen und mit diesen eine besonders zu adressierende ‚Minderheit‘ gegenüber den männlichen Jugendlichen. Mit der durch die Frauen- und später die Mädchenhausbewegung aufgeworfenen Gewaltdiskussion erfolgte eine dritte Bedeutungszuschreibung an die Kategorie Geschlecht. Damit wurde vor allem die Reduktion der Geschlechterfrage auf eine ökonomische überschritten. Ungleichheit im Geschlechterverhältnis zu thematisieren hieß nun nicht mehr nur, danach zu fragen, wer von wem in einem kapitalistischen System wie für Reproduktion und Produktion zuständig gemacht wird. Vielmehr galt Geschlecht in dieser Perspektive als Phänomen, das neben ökonomischen Besitzverhältnissen durch körperliche Verfügbarkeit und Gewalt in einer zweigeschlechtlichen Ordnung bestimmt wird. Damit wurden auch die Versuche einer Befreiung durch eine ‚sexuelle Revolution‘ erneut in ihrer androzentrischen Auslegung entlarvt. Für die Heimerziehung fällt in der Literaturübersicht auf, dass das Thema sexuelle Gewalt noch Anfang der 1980er Jahre kaum thematisiert beziehungsweise von Disziplin wie Profession tabuisiert wurde.87 Die von den Sachverstän86 | So schrieb Peter Brosch 1975 über das Ende der Heimkampagne, „daß gerade diese Gruppen [gemeint sind KPD, ML und verwandte Gruppen, JW] für die Bedürfnisse der Randgruppen in unserer Gesellschaft nicht aktiv weitergekämpft, sondern [...] insbesondere die Fürsorgezöglinge [...] als nicht politisierbar abgeschrieben [...] und jede weitere Arbeit mit diesen Gruppen als karitative Handwerkelei bezeichnet [hätte]“ (Brosch 1975, S. 7). Brosch war selbst ‚APO-befreiter‘ Fürsorgezögling, hatte engste Kontakte zu den Akteuren der Heimkampagne und studierte zur Zeit der Veröffentlichung von „Fürsorgeerziehung. Heimterror, Gegenwehr, Alternativen“ (1975), der Aktualisierung von „Fürsorgeerziehung – Heimterror und Gegenwehr“ (1972), Sozialarbeit. Die von ihm beschriebene, angenommene ‚Nicht-Politisierbarkeit‘ war Folge eines impliziten Männlichkeitsbildes, wonach das ‚Große Ganze‘ des politischen Kampfes erfasst werden müsse, statt die unmittelbare Situation proletarischer Jugendlicher weiter zu bearbeiten. 87  | Aus heutiger Perspektive ist erschreckend, dass in der Expertise zur Jugendhilfe im sechsten Kinder- und Jugendbericht (Freigang u.a. 1986, S. 37) Gerold Becker (dessen

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digen des sechsten Kinder- und Jugendberichts so genannte „Skandalliteratur“ greift jedoch ebenso wie ein ‚Vorläufer‘ der Mädchenhäuser die Problematik sexualisierter Gewalt auf (vgl. Freigang u.a. 1986, S.  50ff.; Baumhoff/Depil 1982, S. 93). Bezüglich sexueller Gewalt laufen mehrere Bedeutungszuschreibungen der Kategorie Geschlecht zusammen: In ihrer Tabuisierung zeigt sich aus heutiger Perspektive der Widerspruch zwischen der vorrangigen Ansprache von Jungen durch die Heimkampagne und dem heutigen Wissen, dass zu dieser Zeit in Heimen vor allem Jungen von sexueller Gewalt betroffen waren (vgl. Runder Tisch Heimerziehung 2010, S.  VI).88 Eine mögliche Interpretation dafür wäre eine Kombination kaum reflektierter hegemonialer Männlichkeit und eines spezifischen Verständnisses kindlicher Sexualität in antiautoritären Kreisen. In der antiautoritären Bewegung wurde versucht, die Verleugnung und Repression kindlicher Sexualität zu überwinden. Kinderschutz wurde also beispielsweise in der Bekämpfung des Onanieverbots gesehen und weniger in der Trennung der Sexualität unterschiedlicher Generationen, wie sie heute aufgrund der generationalen Machtverhältnisse wieder stärker betont wird.89 Das hatte auch Folgen für die Pädophilie-Diskussion, die teilweise nicht als Gezahlreiche sexualisierte Gewalttaten in der Odenwaldschule Ende der 1990er Jahre und mit breiter Öffentlichkeitswirkung 2010 aufgedeckt wurden) als anerkannter Pädagoge genannt wird – im Bericht wird er zum Thema Sexualerziehung (!) zitiert. Diese personale Verknüpfung von Täterschaft und diskursivem Einfluss zeigt drastisch, wie durch androzentrische ‚Befreiungsansprüche‘ gegenüber Anderen die männliche Beteiligung an Gewaltverhältnissen ausgeblendet wurde. Der Zusammenhang mit institutionellen Folgen ist allerdings eine eigene Forschungsaufgabe. 88 | Dies kann rein statistisch durch die Überzahl männlicher Heimzöglinge und die bei kirchlichen Trägern gängige Geschlechtertrennung von Zöglingen und Personal zu dieser Zeit erklärt werden (vgl. Frings 2010). Denn gleichzeitig überwiegt auch die männliche Täterschaft bei sexueller Gewalt in stationären Einrichtungen (vgl. Bundschuh 2010, S. 16). 89 | Besonders deutlich wird das in der viel zitierten Beschreibung sexueller Handlungen zwischen einem dreijährigen Mädchen und einem erwachsenen männlichen Mitglied der Kommune 2 (Kommune 2 1971, S. 91f.). Die Kommune interpretiert die darin beschriebene ‚physische‘ „Unmöglichkeit des Mädchens, ihre genitalen Wünsche mit Erwachsenen zu befriedigen“ als Erfahrung, die nicht durch Verbote, sondern durch das Überwinden erwachsener „Hemmungen“ erreicht würde (ebd., S. 93). Bei allen begrüßenswerten Fortschritten bezüglich der Erkenntnisse und der Präventionsarbeit gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder zeigt Christin Sager zu Recht, dass sich aktuell jedoch ein neues Desiderat für die Sexualpädagogik aufgetan hat: So sei „das Prinzip der sexuellen Lust des Kindes der Abschreckung vor der dunklen Seite der Sexualität gewichen. Kinder sollen nicht primär gefördert werden, ihre Wünsche zu äußern, sondern sich zunächst einmal vor sexuellen Übergriffen zu schützen, indem sie einstweilen nicht lernen, ‚JA‘ zu sagen, sondern ‚NEIN‘ “ (Sager 2008, S. 68).

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waltfrage, sondern unter den Prämissen der ‚sexuellen Revolution‘ diskutiert wurde (vgl. Baader 2012 b, S. 93).90 Sexualität wurde in den Forderungen der Heimkampagne primär zu etwas, das den Jugendlichen in selbstbestimmten und selbstverwalteten Jugendwohngruppen ermöglicht, statt verboten werden sollte.91 Daraus folgte unter anderem Koedukation in den Jugendwohnkollektiven, die aber teils nur theoretischer Natur92 war. Die Perspektive der Mädchenhaus- und Antimissbrauchsbewegung der 1980er Jahre ging mit Täterschaftstheorien einher, die sexuelle Gewalt mit männlicher Herrschaft verstrickt sahen (vgl. Kavemann/Lohstöter 1984), woraus monoedukative Lösungen geschlussfolgert wurden. Wäre diese Deutung mit einer Thematisierung von ‚Missbrauchs‘-Erfahrungen männlicher Zöglinge zusammengefallen, hätten sich die ‚Befreier‘ auch der Frage nach ihrem Anteil an männlich dominierten Herrschaftsverhältnissen stellen müssen. 90 | In der hinsichtlich generationaler und geschlechtlicher Differenz und sexueller Gewalt unkritischen Darstellung von „Pädophilie“ in dem Themenheft „Pädophilie – Verbrechen ohne Opfer“ der Zeitschrift „betrifft: erziehung“ von 1973 bezieht sich ein Beitrag auf Gewalt und mangelnde körperliche Nähe in der Heimerziehung, der von Baader in die Heimkampagne eingeordnet wird (vgl. Baader 2017, S. 28ff.). 91 | Vgl. dazu Ahlheim/Hülsemann/Kapczynski u.a. 1971, darin diverse Dokumente: „IHR HABT EIN RECHT AUF FREIE SEXUALITÄT! FORDERT Z. B. DIE MÖGLICHKEIT MIT EUREN MÄDCHEN SCHLAFEN ZU KÖNNEN!“ (Flugblatt 1968, S. 342; Herv.i.O.); Forderung nach „Freien unkontrollierten Mädchen- und Jungenbesuch, damit wir nicht im Wald vögeln oder im Heim wichsen müssen. Es gibt ja auch die Pille“ (Flugblatt 1969, S. 346); „Abschaffung sexueller Repression [...] freie Sexualität (Aufhebung des Kuppeleiparagraphen)“ (Dokumentation, S. 350f.). Die Jugendhilfestellen haben „u.a. die Aufgabe [...], die Jungen sexuell aufzuklären und ihnen demzufolge auch Gelegenheit [zu geben], Kontakt mit den Mädchen aufzunehmen. Denn uns erscheint Gruppenonanie, Vergewaltigung von schwachen durch stärkere Jungen, Vergewaltigung von Frauen und Kindern nach der Entlassung denn nun doch nicht die richtige Lösung zu sein“ (Gruppe D Pestalozzi-Fröbelhaus 1968, S. 341). 92 | Mit der Entstehung erster Jugendwohngemeinschaften kam es zu monoedukativen Alternativen zum Heim, deren monoedukative Struktur aber nicht auf einer theoretisch begründeten geschlechtsspezifischen Pädagogik fußte. Vielmehr kann für die WGs, ebenso wie für die Heime, festgehalten werden, dass die „Notwendigkeit der Geschlechtertrennung in der Heimerziehung [...] in der Literatur [...] nicht diskutiert“ (Freigang u.a. 1986, S. 16) wurde. Auch hier kann eine Tabuisierung von Sexualität angenommen werden. Trotz der Forderung der Heimkampagne nach Koedukation kann noch Ende der 1970er Jahre von einer bundesweit vorherrschenden Monoedukation in der Heimerziehung gesprochen werden, die mit steigendem Alter der Zöglinge noch eindeutiger wurde (vgl. ebd., S. 17). Zudem war zum Zeitpunkt des sechsten Kinder- und Jugendberichts der Einfluss feministischer Politik auf den Bereich der stationären Hilfen marginal, da diese sich auf die offene Jugendarbeit konzentrierte (vgl. ebd., S. 16f., S. 38).

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Die vierte und letzte Bedeutungszuschreibung der Kategorie Geschlecht betrifft die Verknüpfung von Unabhängigkeitsbestrebungen der zweiten Frauenbewegung mit pädagogischen Zielsetzungen in der mädchenspezifischen stationären Jugendhilfe. Deutlich werden die daraus entstandenen Veränderungen in der Expertise zur Situation von Mädchen in der Heimerziehung des sechsten Kinder- und Jugendberichts (Freigang u.a. 1986). Zwar wurden durch feministische Mädchenarbeitsansätze und die beginnende Mädchenhausbewegung feministische Inhalte zu Herausforderungen für die Jugendhilfe, deren politische Verknüpfung mit den ökonomischen Verhältnissen wurde allerdings geschwächt. Für die frauenbewegten Akteurinnen der Kinderladenbewegung bildeten Kapitalismuskritik, Überwindung der Trennung reproduktiver Arbeit von den Sphären der Produktion und die praktische Befreiung von reproduktiven ‚Verpflichtungen‘ noch eine Einheit. Letzteres sollte die politische und berufliche Betätigung ermöglichen, wurde aber nicht individualistisch gedacht, sondern als Teil kollektiver Befreiungsprozesse betrachtet.93 Die im Mainstream angelangten pädagogischen Übersetzungen des Vorhabens zeugen jedoch davon, wie die kollektiven und kapitalismuskritischen Implikationen schwanden. In der Einschätzung der mädchenspezifischen Problemlagen in den stationären Hilfen zeigen sich Leistungs- und Berufsorientierung und eine Kritik an von Männern abhängigen Frauen (vgl. ebd., S. 103ff.). Unabhängigkeit wurde primär in beruflicher und finanzieller Autonomie gesehen. Abschließend können folgende, teils differierende Auseinandersetzungen mit Geschlecht festgehalten werden. In der Vorstellung, dass Autorität (als Herrschaft verstanden) vor allem repressiv sei und sich dies konkret als Nachfolge der nationalsozialistischen Diktatur in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit zeige, wurden bis dato anerkannte Hierarchieverhältnisse aufgebrochen. Für die Kategorie Geschlecht in pädagogischen Zusammenhängen hatten die antiautoritären Bestrebungen vor allem bezüglich der bisherigen Normierungen im Geschlechter- und Generationenverhältnis Folgen. Die geschlechtsspezifische Aufgabenteilung von produktiver und reproduktiver Arbeit konnte somit hinterfragt und der Kleinfamilie konnten kollektive Alternativen entgegengesetzt werden. Die neu gegründeten Jugendwohnkollektive wurden bewusst nicht analog zur Kleinfamilie konzeptionalisiert, sondern Er93 | Baaders (2014) Schlüsse bezüglich individueller Glücksbestrebungen in der Frauenbewegung verweisen auf eine Verschiebung innerhalb sozialer Bewegungen, wie sie Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003/1999) zwischen den 1960er und den 1980er Jahren (für Frankreich) von einer Sozialkritik hin zu einer Künstlerkritik verorten. Rückblickend betrachtet Nancy Fraser (2009, 2016) den Feminismus als wesentlich mitverantwortlich für diese Veränderung vom Kampf um Umverteilung zur kulturellen Anerkennung unter den gegebenen Bedingungen. Vgl. weiterführend zu der Debatte: Casale/Windheuser 2018, S. 717ff.

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zieher durch Kollektivberater ersetzt. Damit wurde Erziehung als Agens autoritärer Verhältnisse vermeintlich überwunden. Unberücksichtigt blieb jedoch, dass sich die entsprechende männlich orientierte Ordnung dennoch hielt, was sich im Konflikt mit der Frauenbewegung und in der Abkehr von den Heimzöglingen ausdrückte. Zunächst wurde die Geschlechterfrage jedoch aus dem Kontext der Heimkampagne ‚ausgelagert‘. Die androzentrisch dominierte Heimkritik mündete in einem größtenteils blinden Fleck ‚Geschlecht‘. Für die politische Bewegung der Achtundsechziger konnte die zweite Frauenbewegung dies herausarbeiten, aber ebenso wie in der ersten Frauenbewegung wurde die Heimerziehung zu keinem vorrangig feministisch zu bearbeitenden Thema. Zudem zeigt die Frage, wer wen befreit, die ebenfalls vorhandene Verknüpfung von Geschlecht und Klasse. Die studentischen Akteure der Heimkampagne betrachteten die Heimzöglinge als zu politisierendes Subproletariat. Die Beschäftigung mit den Zöglingen wurde, nachdem langfristig die Integration in die politischen Gremien, Aktivitäten und Wohngemeinschaften nicht gelang, als „karitative Handwerkelei“ (Brosch 1975, S. 7) abgetan und damit wieder einem traditionell weiblichen Aufgabenbereich zugewiesen.94 In der zweiten Frauenbewegung zeigte sich die Klassendifferenz zunächst in der Ausgangslage: Es waren primär Frauen, die nicht zur Arbeit gezwungen waren, die sich für die Kritik an reproduktiven Verhältnissen einsetzten. Ein feministisches Interesse für die Heimzöglinge zu entwickeln, lag angesichts der Auseinandersetzung mit privaten, ökonomischen wie familiären Situationen fern. Interessant ist die in der Jugendwohnkollektiv- aber auch in der Mädchenhaus-/-gruppendiskussion zu findende Argumentation, die pädagogischen Ziele an die zu erwartende Realität proletarischer Jugendlicher nach der Maßnahme anzupassen. Der Zwischenbericht der Kommission Heimerziehung (1977, S.  206) zeigt, dass Jugendwohngruppen „unterschichtsspezifische Sozialisation“ ernst nahmen und den Jugendlichen eine „proletarische Lebensperspektive“ bewusst machen konnten.95 Zudem bemerkte der sechste Kinder- und Jugendbericht, dass sich die Heimeinrichtungen durch die Kon94 | Manfred Kappeler hat wiederholt auf die fundamentale Beteiligung von Pädagoginnen und Pädagogen aus der Heimerziehung an der Heimbefreiung hingewiesen (z. B. Kappeler 2016). Ich betone hier jedoch das Verhältnis zwischen der neuen Frauenbewegung/Kinderladenbewegung und der APO/des SDS beziehungsweise der daraus hervorgegangenen studentischen Beteiligung an der Heimkampagne. 95 | Bereits zu Beginn der 1970er Jahre wird die Ambivalenz zwischen politischem und pädagogischem Anspruch deutlich, insofern „partnerschaftlich[e] Pädagogik“ unter Gleichberechtigten im Kollektiv, das Ziel, „über revolutionäre Texte Klassenbewußtsein“ zu fördern, und die Klassendifferenz zwischen „Kollektivberatern“ (Knöpp/Swoboda 1972, S. 219ff.) und Jugendlichen Konflikte hervorrufen.

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zentration auf die Gruppe von der Erziehung der Einzelnen und damit auch von der Bildung Einzelner entfernten (vgl. Freigang u.a. 1986, S.  63f.). Der Bericht lenkte damit den Blick auf die Vernachlässigung des Bildungsaspekts und deckte implizit ein weiteres Problem auf: die unreflektierte Fortsetzung der klassenspezifischen Ordnung des Erziehungs- und Bildungssystems. Die Folgen der klassen- und frauenspezifischen Geschlechterpolitik und der androzentrischen Heimkampagne waren eine geringe Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen, d.h. auf Mädchen bezogenen, Sittlichkeitsvorstellungen und eine Tabuisierung sexualisierter Gewalt, insbesondere gegen Jungen, in Heimen. Erst in den 1980er Jahren konnte sexueller ‚Kindesmissbrauch‘ zu einem gesellschaftlich und pädagogisch bearbeitbaren Thema werden, das aber aufgrund der fehlenden Männlichkeits- beziehungsweise Geschlechterforschung primär in Bezug auf Mädchen gedacht wurde. Zwar etablierten sich in den 1980er Jahren autonome Mädchenhäuser, parallel dazu kann aber von einer Institutionalisierung feministischer Kritik ausgegangen werden, mit der ein Verlust kapitalismuskritischer Inhalte einherging. In den politisch motivierten Gruppen der Heimkampagne und der Frauenbewegung sollte Bildung durch Lektüre und die Umsetzung theoretischer Ansätze im eigenen Leben zur (Selbst-)Befreiung und Gesellschaftsveränderung verhelfen. Im Zuge der Institutionalisierung kommt es zu einer Entpolitisierung96 der Reformforderungen in der Heimerziehung und zu einer spezifischen Neuauslegung des Bildungsbegriffs: Bildung wird zur Subjektadressierung, die auf Selbstoptimierungen mit spezifischen Anforderungen an die Ausgestaltung der Kategorien Geschlecht (Körper) und Klasse (Marktwert) hinausläuft. Wie in Kapitel 1.3 deutlich werden wird, kann in der mangelnden feministischen Auseinandersetzung mit der Heimerziehung und in der fehlenden Auseinandersetzung in der regulären Heimerziehung mit feministischen Theorien ein Grund für den später aufkommenden Eingang neoliberaler Anpassungsanforderungen an Jugendliche in der Heimerziehung verortet werden.97 96 | Die Entpolitisierung betrifft allein ihre Selbstdarstellung. Während die zweite Frauenbewegung ebenso wie die APO und der SDS die Alltagswelt und das ökonomische Bedingungsgefüge in ihrer politischen Bedeutung und ihrem politischen Wirken aufdeckten (und ebenso das eigene Handeln als politisch betrachteten), entzog die Reformierung des Regelangebots den Neuerungen ihren gesellschaftsanalytischen Impetus. Aus einer gesellschaftsanalytischen Perspektive unterlagen diese Änderungen dennoch einer Politik und zwar einer der Integration des Widerstands in neue Regierungsprogramme (staatspolitischer wie ökonomischer Natur). Vgl. zur Entpolitisierung auch 1.3. 97 | Zwar sind feministische Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen in der Heimerziehung des Regelangebots tätig (gewesen), was sich u.a. in den Erinnerungen Luise Hartwigs zeigt, die vorliegende Analyse bezieht sich allerdings auf die hegemoniale Entwicklung der Heimlandschaft.

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Neben der zweigeschlechtlichen, androzentrisch und klassendifferenzierenden Fassung der Kategorie Geschlecht wurde diese primär heterosexuell gedacht. Beispielsweise wurden homosexuelle Beziehungen zwischen Heimzöglingen während und im Anschluss an die Heimkampagne als Ersatzbeziehungen betrachtet, die es ermöglichten, sich „ein bißchen Liebe“ in einem von „sadistische[r] Wollust der Nonnen“ (Brosch 1975, S. 13) geprägten Heim aufzubauen (vgl. auch Meinhof 1994/1971, S. 53f.). Diese Entwertung und Marginalisierung von Homosexualität hält bis zum sechsten Kinder- und Jugendbericht an. Erst in dem Sachverständigenbericht wird damit gebrochen, insofern Homosexualität im Heim aufgegriffen und das Fehlen dieser Thematisierung in der gesichteten Literatur problematisiert wird (Freigang u.a. 1986, S. 37f., S. 51). Gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von Stagnation und steigender Repression in der Heimerziehung geprägt war, folgte mit der Heimkampagne und der Mädchenhausbewegung eine Zeit der Umbrüche. Ein einschneidender Richtungswechsel in der stationären Jugendhilfe wurde durch die Skandalisierung der Betroffenen- und Mitarbeitendensituation hervorgebracht. Dies äußerte sich in der Auflösung von Großheimen und der in den 1980er Jahren angestoßenen tatsächlichen Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990/1991. Die Kategorie Geschlecht nahm durch die beschriebenen Ereignisse und politischen wie pädagogischen Strömungen eine spezifische Gestalt an. Sie wurde immer noch zweigeschlechtlich gedacht, aber es kam in den 1980er Jahren durch die Mädchenhäuser zu einer Berücksichtigung des geschlechtlich hierarchisch geordneten Gewaltverhältnisses. Dennoch zeigt sich, wie wenig die Bedeutung der Kategorie Geschlecht, bezogen auf die Heimerziehung und insbesondere auf sexualisierte Gewalt gegen Jungen, verschoben werden konnte. Androzentrismus beziehungsweise ein entsprechendes Geschlechterverhältnis blieben bestehen und führten zu den blinden Flecken Sexualität und sexuelle Gewalt. Zudem hatten die gesellschaftsverändernden Ansprüche mit ihrer Umsetzung im Regelangebot zu kämpfen, was sich bis in die Gegenwart hinein zeigt. Durch die Übernahme geschlechtsbewusster Pädagogik in das Regelangebot in den 1980er Jahren kam es zu einer scheinbaren Entpolitisierung der Geschlechterfrage, die sich in einer Mädchenförderung ohne grundlegende Gesellschaftskritik ausdrückte. Im Hinblick auf eine feministische Genealogie zeigt sich, dass auch die ‚neue‘ Frauenbewegung geschichtlich bedingt ist und abhängig bleibt von den Formen der Kritik, die sich etablieren können. In der in diesem Kapitel aufgeworfenen Befreiungsfrage wird allerdings deutlich, dass es Versuche gab, Bezogenheit unter Frauen zum Prinzip zu machen und aus der eigenen Bedingtheit heraus zu handeln. Der Versuch, das jugendliche, unterdrückte Proletariat zum gemeinsamen Kampf zu bewegen, scheiterte allerdings an dem Unvermögen ‚der‘ Studenten, mit ihrer eigenen Angewiesenheit und Differenz um-

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zugehen. Anstatt sich in eine generationale Beziehung zu den Zöglingen zu stellen, wird eine, die Angewiesenheit berücksichtigende politische Beziehung verworfen. Während für die erste historische Zäsur konstatiert wurde, dass ein generationaler Bruch im Verhältnis ‚fürsorglicher Mütter‘ und ‚gefallener Töchter‘ zu mangelnder Berücksichtigung der geteilten Bedingtheit führte, wird an dieser Stelle die mangelnde Beachtung des Generationalen deutlich: Die angenommene Gleichheit unter den ‚Brüdern‘ wird nicht eingelöst, weil sich die Jugendlichen aus der Perspektive ihrer ‚Befreier‘ nicht politisieren lassen; in der Folge wird die Differenz nicht aufgegriffen, es kommt vielmehr zu einer Abkehr, in der die bestehende geschlechtliche Ordnung nicht überschritten werden kann. Die Abkehr ist zudem eine von der generationalen Verantwortung, indem die pädagogische Arbeit als ‚nur karitativ‘ gegenüber dem politischen Engagement abgewertet wird. Damit wird durch die ‚Heimbefreier‘ auch die Position einer elterlichen Verantwortung und Autorität abgelehnt. In den 1980er Jahren deutet sich bereits eine weitere, wenn auch anders gelagerte, Verwerfung der feministischen Kritik an, insofern Gleichberechtigung und Teilhabe die Kritik an der bestehenden Ordnung, d.h. auch an den ökonomischen Bedingungen, verdrängt.

1.3 W idersprüche : K onservative F r auenlobby und C hancengleichheit im N eoliber alismus Die im Rahmen der historischen Rekonstruktion vorgestellte letzte Zäsur bildet als geschichtliche Bedingung der in Kapitel 3 untersuchten fotografiegestützten Interviews den Schwerpunkt dieses Kapitels. Sie ist zugleich in einem wechselseitig bedingten Verhältnis zu der methodologischen Verortung von Kapitel 2 und 3 zu sehen, da auch die geschlechtertheoretische Diskussion von Differenzfeminismus und Gendertheorie in einem (wissenschafts-)geschichtlichen Raum stattfindet. In der historischen Phase geht es vor allem um die Integration feministischer Forderungen in Regelangebote und Staatspolitik. In diesem Kontext kann die Zäsur als eine Phase vermeintlicher Entpolitisierung nach den sozialbewegten Zeiten von Heimkampagne und Mädchenhausbewegung verstanden werden. Die entscheidenden Änderungen durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz, Gender Mainstreaming im Kinder- und Jugendhilfeplan, die sich etablierende Jungenpädagogik und eine neue Frauen- und Familienpolitik sind hierbei in eine spezifische wirtschaftlich-politische Konstellation einzubetten. Wiederum ist eine weit gefasste Zeitspanne und eine breite Kontextualisierung der Jugendhilfe notwendig, um zu verstehen, wie neoliberale Transformationen des Sozialstaates gleichzeitig mit der Integration kritischer Programme in das Regelangebot der Jugendhilfe einhergehen können. Daneben

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kommt es zu Veränderungen im Verhältnis von Bildung und Erziehung, innerhalb derer die geschlechtliche Kodierung verschoben wird. Vorwegnehmend lässt sich sagen, dass der untersuchte Zeitraum vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die offensive Beschränkung individueller, unbestimmter Freiheit wandelt, hin zu einer ‚künstlich‘ arrangierten Freiheit des Individuums auf dem Markt. Zugleich handelt es sich dabei um ein Oberflächenphänomen, insofern die Ablehnung einer symbolischen Ordnung an sich – und nicht nur ihrer spezifischen Form, also des Patriarchats und der Gewalt gegen die nachwachsende Generation – für diese ökonomische Verschiebung erst die Voraussetzungen bietet (vgl. Casale 2016, S. 208). In diesem Kontext wird Bildung zunehmend zu einer wirtschaftlichen Ressource, die sich insbesondere als ‚Wissen‘ und/oder ‚Kompetenz‘ verwerten lässt. Dabei ist Bildung nicht erst zu dem beschriebenen Zeitpunkt ein umkämpfter Begriff (s. 1.3.1), aber seine spezifische Konturierung im ökonomischen wie geschlechtlichen Verhältnis98 bedingt auch das Verhältnis von Geschlecht und Heim auf spezifische Weise. Alle diese Veränderungen sind von einer widersprüchlichen Konstellation ‚politischer Entpolitisierung‘ durchzogen. Die zuvor als politisch gekennzeichneten sozialen Bewegungen erhalten durch staatspolitische Reformen Anerkennung. Die daran anschließenden wohlfahrtsstaatlichen und ökonomischen Transformationen werden als rational und notwendig dargestellt. Das heißt, dass sich das politische Handeln seiner politischen Dimension entledigt, indem die ökonomischen und sozialen Bedingungen quasi-naturhafte Ausgangspunkte des Handelns werden. Die betreffende Politik ist eine der Naturalisierung und Ökonomisierung, ein Verdeckungszusammenhang des Entpolitisierten, der sein gesellschaftliches und historisches Bedingungsgefüge ausblendet.

1.3.1 Neoliberalismus als politische Bedingung für Bildung und Erziehung Die im Folgenden beschriebene wirtschaftliche und staatliche Liberalisierung des Sozialen99 fokussiert die 1990er Jahre und das neue Jahrtausend. Sie ist 98 | Nancy Fraser (2016) beschreibt das Verhältnis von Geschlecht und Kapitalismus in drei Phasen: (1) ‚Sphärentrennung‘ im 19. Jahrhundert, (2) staatlich gemanagter Kapitalismus im 20. Jahrhundert in Verbindung mit „housewifization“ (Mies 2014) und „family wage“ und (3) neoliberaler Finanzkapitalismus am Übergang zum 21. Jahrhundert, der auf die „two-earner family“ (Fraser 2016, S. 104) baut. In dieser Beschreibung wird deutlich, dass bereits vor der dritten Zäsur Klasse und Ökonomie zentrale Referenzen für das Geschlechterverhältnis sind. 99  |  Es geht um die Öffnung sozialer Bereiche für eine Wirtschaftslogik und um die Liberalisierung im Sinne von weniger Repression durch den Staat.

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jedoch, wie Michel Foucault argumentiert, als staatliche Politik, die der ökonomischen Rationalität unterliegt, bereits in der jungen Bundesrepublik der Nachkriegszeit und der zu dieser Zeit vorangetriebenen ‚sozialen Marktwirtschaft‘ angelegt (vgl. Foucault 2006, S.  130; 132ff.). Eine entsprechende liberale Wirtschaftstheorie ist bereits in den 1930er Jahren zu finden (vgl. ebd., u.a. S. 150; 301)100, die Foucault zu der Einschätzung führt, dass es sich eher „um einen Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln [muss,] als um einen Markt unter der Aufsicht des Staats“ (ebd., S. 168). Foucault versteht den deutschen Liberalismus der Nachkriegszeit als „wirtschaftliche und politische Entscheidung“, die zu unterscheiden sei vom US-amerikanischen Liberalismus als „Seins- und Denkweise“ (ebd., S. 304).101 Aber auch Deutschland habe nach dem Nationalsozialismus eine Begründung des Staates suchen müssen, weil die Diktatur die Legitimation eines deutschen Staates verwirkt habe (ebd., S.  119ff.). In dieser Wirtschaftslogik hat der Staat die Aufgabe, dem Bürger Freiheit und Verantwortung zu ermöglichen (vgl. ebd.). Demzufolge ist die Wirtschaft das, was vom Staat und den in ihm lebenden Individuen umgesetzt wird beziehungsweise werden muss. Demgegenüber ist im US-amerikanischen Neoliberalismus die ökonomische Rationalität fundamental, so dass es zunächst keine Entscheidung für oder gegen sie geben kann; vielmehr wäre jedes andere Denken irrational. Bei allen Unterschieden ist jedoch grundlegend für beide Herangehensweisen, dass das neoliberal-kapitalistische Prinzip naturalisiert wird.102 Im europäischen Fall gilt dies, insofern der Staat dem quasi-naturhaften Recht des Bürgers zur Marktteilnahme verhilft; im amerikanischen Fall, insofern die wirtschaftliche Rationalität, jenseits gelegentlicher utopischer Irrwege, die alles begründende Rationalität ist. Das wird im Falle des Humankapitaltheorems deutlich, das für die Veränderungen des Sozialen im Folgenden relevant ist.

Humankapital Nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte sich in den USA ein neoliberaler Zugriff auf Arbeit und die ‚Ressource‘ Mensch, der auf der Prämisse beruht, dass Menschen ihr Handeln in allen Lebensbereichen eigennützig im Rahmen von rational-choice-Entscheidungen gestalten.103 Als entscheidende Theoretiker der 100  | So können auch die beiden ersten Zäsuren nicht losgelöst davon betrachtet werden. 101  | Foucault sieht im US-amerikanischen Liberalismus die Maxime: „Nicht der Staat begrenzt sich selbst durch den Liberalismus, sondern das [rationale, JW] Erfordernis des Liberalismus begründet den Staat“ (Foucault 2006, S. 303). 102  | Vgl. zur „Naturalisierung des Marktes“ auch Thomas Höhne (2007, S. 38f., Herv.i.O.). 103  | Gary S. Becker geht davon aus, dass „[i]m Unterschied zur Marx’schen Analyse [sein eigener Ansatz] nicht an[nehme], daß der einzelne ausschließlich durch Eigennutz oder materielles Gewinnstreben motiviert [sei]“ (Becker 1996/1992, S. 21). Damit ist für ihn aller-

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Humankapitaltheorie gelten Jacob Mincer (1958), Theodore W. Schultz (1961) und Gary S. Becker (1962).104 Unter Humankapital ist allgemein zunächst die Ware Arbeitskraft in ihrer qualitativen wie quantitativen Verfügbarkeit für eine Volkswirtschaft zu verstehen. Dabei steht das Humankapital der jeweiligen Wirtschaftseinheit nicht in gleichbleibender ‚Qualität‘ zur Verfügung, sondern muss von den Individuen angeeignet werden: Die Humankapitalanalyse geht von der Annahme aus, der einzelne entscheide unter Abwägung von Kosten und Nutzen über seine Bildung, Berufsausbildung, medizinische Versorgung und andere Verbesserungen seiner Kenntnisse und seiner Gesundheit. Zu den Nutzen zählen kulturelle und andere nicht-pekuniäre Vorteile sowie die Verbesserung der Einkommens- und Berufssituation, während die Kosten üblicherweise vom entgangenen Wert der Zeit abhängen, die für diese Investitionen verwendet wird. Der dings gemeint, dass er auch immateriellen Nutzen, wie etwa Prestige, berücksichtigt. Sehr wohl geht Becker mit der vorausgesetzten „Theorie rationalen Handelns“ (ebd., S. 33) von einem im Menschen grundgelegten Streben nach maximalem Nutzen aus. 104  | Den Menschen in Kapitalberechnungen einzubeziehen geht bereits auf Adam Smith zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind es ‚nationalökonomische‘ Theorien, die den ökonomischen Wert von Menschen zu ermitteln suchen. Dazu zählt das Anliegen des österreichischen Sozialphilosophen und Finanzsoziologen Rudolf Goldscheid, der 1908 danach strebte, eine „Menschenökonomie“ (Bröckling 2003, S. 6) zu entwickeln. Ziel war es, den „Kostenweg des Menschen, also die [zu seinem Erhalt notwendigen] Mittel“ so zu optimieren, dass ein „Maximum an Mehrwert“ (ebd., S. 7) erreicht werde. Dabei stellte dieses Denken für ihn keinen Eingriff in die menschliche Natur dar, denn insofern der Selbsterhaltungstrieb ökonomisch sei, sei auch die ökonomische Kategorie die vorrangige; „selbst das menschliche Denken [funktioniere] entsprechend dem Prinzip von Aufwandsersparnis und Ertragsoptimierung“ (ebd., S. 9). Selbst altruistische Handlungen hatten in Goldscheids Zugang einen „indirekte[n] Mehrwert“ (Goldscheid 1914, zit. n. Bröckling 2003, S. 15). Nicht viel später folgten radikalisiert die expliziten nationalökonomischen Berechnungen von ‚lebenswert‘ und ‚lebensunwert‘, die in die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (Hoche 1922, zit. n. Bröckling 2003, S. 16) mündeten und somit eine weitere ‚Legitimation‘ für die nationalsozialistischen Morde liefern sollten. Sowohl in der Menschenökonomie Goldscheids als auch in der Eugenik des Psychiaters Alfred Hoches ging es nicht mehr um verfügbare Arbeitskraft in ihrer Quantität, sondern um die Qualität des „Menschenmaterials“ (Goldscheid 1911, zit. n. Bröckling 2003, S. 16). Unabhängig davon, aber in augenscheinlicher Verwandtschaft dazu, konstatierte Theodore W. Schultz in den 1980er Jahren: „Ich behaupte ausdrücklich, daß die Zukunftsaussichten der Menschheit weitgehend von Investitionen in die Bevölkerungsqualität und in das Wissen bestimmt werden“ (Schultz 1986, zit. n. Kessl 2011, S. 68; Herv. JW). Die Qualität des Humankapitals ist also nicht allein durch deren Bildungsniveau bestimmt.

Geschlecht als weibliches Geschlecht Begriff des Humankapitals umfaßt auch die Gesamtheit der Arbeits- und sonstigen Gewohnheiten, wozu sogar schädliche Suchtgewohnheiten [...] zählen. Humankapital hat [...] wesentliche positive oder negative Auswirkungen auf die Produktivität, sowohl im Markt- wie im Nicht-Markt-Sektor. (Becker 1996/1992, S. 29)

Diese Definition zeigt, wie über die tatsächlich in den Produktionsprozess eingebrachte Arbeitskraft hinaus, der Arbeitskraftbegriff um alle die Arbeitskraft bedingenden monetären wie nicht-monetären Kosten für das Individuum und die Gesamtwirtschaft erweitert wird. Das erlaubt, Menschen beziehungsweise Bevölkerungen in eine Kosten-Nutzen-Kalkulation einzubeziehen, also jegliche Ausgaben für Bildung, Gesundheit oder Soziales als Investition zu betrachten, die auf potentielle Rendite hin zu prüfen sind. Bevor auf die Veränderungen des Bildungsbegriffs und der Bildungsstrukturen in Deutschland eingegangen wird, sei hier darauf hingewiesen, dass vor diesem Hintergrund Humankapital nicht mit Bildung gleichzusetzen ist.105 Vielmehr umfasst Humankapital sowohl das kognitive als auch das körperliche Vermögen der Bevölkerung und der darunter begriffenen Individuen. Denn die durch Humankapital volkswirtschaftlich erzielbare Rendite ist abhängig von der Zeit, die in die (biologische wie geistige) Ausbildung von Humankapital investiert wurde und der Zeit, in der das so erworbene Humankapital produktiv genutzt werden kann (vgl. Werding u.a., S. 187). Das heißt, dass ein hohes Bildungsniveau in dieser Perspektive nur solange volkswirtschaftlich ‚nützlich‘ ist, solange es nicht durch Krankheit oder Behinderung in der Anwendung eingeschränkt wird und die Sterblichkeit erst nach der Erwerbsphase einsetzt. Diese biopolitischen Strategien sind von entscheidender Bedeutung, wenn es um ‚Investitionen‘ in die (stationäre) Jugendhilfe geht, die mit sogenannten Risikogruppen arbeitet, bei denen die Gefahr besteht, dass sie die Schule frühzeitig verlassen, riskantes Gesundheitsverhalten zeigen und langfristig von Sozialleistungen abhängig sind (vgl. Gabriel u.a. 2007, S. 29ff.). Zudem wird auch die Qualität des biologisch verfügbaren Humankapitals berücksichtigt, insofern explizit wie implizit evolutions- und vererbungstheoretische Modelle herangezogen werden (vgl. Olk 2009). So interpretiert Fabian Kessl aktuelle staatspolitische pädagogische Vorstöße zum Erlangen „wertvollen Humankapitals“ (Esping-Andersen zit. n. Kessl 2011, S. 68) als „klassenspezifisch

105   |  Bezüglich Bildung ist damit auch ein entscheidender Unterschied zum klassischen Liberalismus zu nennen: Für den Liberalismus war allein Bildung wichtig, somit markiert der Einbezug des Körpers den Übergang von Bildungspolitik zu Biopolitik. Ich danke Rita Casale für diesen Hinweis.

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gebroch[en]“ (Kessl 2011, S. 68), was seinen Ausdruck in der Vereinbarkeitspolitik und Pränataldiagnostik erfahre.106 In den USA kommt es seit den 1970er Jahren zur Bemessung des ökonomischen Werts von Menschen für die nationale Volkswirtschaft mittels Humankapital-Analysen. Hingegen wird in der Bundesrepublik erst seit den 1990er Jahren und verstärkt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu ‚Bildungsrenditen durch Humankapitalinvestitionen‘ geforscht (vgl. Werding u.a. 2009, S.  32ff.). Dabei beschränken sich weder die ersten Studien von Becker u.a. noch die der Gegenwart auf wirtschaftswissenschaftliche Berechnungen. Sie haben explizit zum Ziel, politisch Einfluss zu nehmen.107 Auch Martin Werding u.a. (2009) widmen in ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Studie über „Humankapital in Deutschland“ ein eigenes Kapitel den „[w]irtschaftspolitischen Schlussfolgerungen“ (ebd., S.185ff.). Für die Frage nach dem Wandel pädagogischer Institutionen und des Geschlechterverhältnisses ist insbesondere ihre Empfehlung zum quantitativen wie qualitativen Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsbeschulung relevant: Schließlich sollen die Kinder und Jugendlichen von heute das Humankapital erwerben, das in den nächsten vier bis sechs Jahrzehnten zur Verfügung steht. Die Nutzung des heute verfügbaren Humankapitals [gemeint sind Frauen, JW] auf Kosten des zukünftigen Humankapitals zu verbessern, wäre kurzsichtig. (ebd., S. 191)

Im Zitat wird deutlich, wie zunächst von einem zu erwerbenden Humankapital ausgegangen wird, aber Menschen in dessen Personengebundenheit mit Humankapital gleichgesetzt werden. Sowohl für die theoretischen Vorläufer aus den USA wie auch für deren Adaption in Europa und die gegenwärtig weltweit einflussreichen OECD108-Studien (insbesondere der Schulleistungsver106   |  In der „Demografiestrategie der Bundesregierung“ (BMI 2012) wird – ironischerweise unter dem Titel „Jedes Alter zählt“ – angestrebt, hochqualifizierte Frauen die Entscheidung für Elternschaft zu erleichtern und zugleich kommt es derzeit zu einem Wandel in der Finanzierung pränataldiagnostischer Untersuchungen – die zu einer ‚Privat-Eugenik‘ führen können (vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss 2016). Ich danke an dieser Stelle Catrin Dingler für den Hinweis auf Kirsten Achteliks (2015) differenzierte Darstellung der Integration feministischer Forderungen nach selbstbestimmter Reproduktion in die Debatte um Pränataldiagnostik und Abtreibung. Zur Kritik an der Demografiestrategie s. auch Susanne Schultz 2016: Schultz arbeitet insbesondere die rassistischen Aspekte gegenwärtiger deutscher Bevölkerungspolitik heraus. 107  | Vgl. beispielsweise in Gary S. Beckers Resümee seines Lebenswerkes (1996, S. 14). 108  | Die internationale Organisation for Economic Co-operation and Development verfolgt das Ziel, eine Politik voranzutreiben, die den ökonomischen und sozialen Wohlstand der Menschen auf der ganzen Welt verbessern soll (vgl. OECD o.J.). Mitglieder der OECD sind vor

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gleich PISA) laufen auf eine Verengung des Bildungsbegriffes hinaus: Bildung ist das Wissen und Können, welches in berufliche Produktivität führt und darüber gesamtwirtschaftlich Rendite verspricht. [Jene] Institutionen, die in der bürgerlich-kapitalistischen Moderne nur mittelbar auf das ökonomische System bezogen waren, zunächst jedoch der ideologisch-normativen Einpassung des Individuums in die dominanten Deutungshorizonte dienten – also die Einrichtungen des öffentlichen allgemeinen Bildungswesens –, [erhalten] heute also eine unmittelbare Funktion im ökonomischen System [...]. Grob gesagt, folgt auf die ‚allgemeine‘ öffentliche Bildung die ‚specielle‘ erwerbsbezogene Bildung nicht mehr zeitlich und inhaltlich nach, wie im Humboldtschen Modell (dem Pädagogik und Erziehungswissenschaft sich ja weithin noch verpflichtet fühlen). Vielmehr ist [...] quasi das Besondere zum Allgemeinen geworden, d.h. die zu Zeiten Humboldts erst der Tendenz nach vorhandene, neue kapitalistische Wirtschaftsweise, der zum Durchbruch verholfen werden sollte, ist heute Totalität. (Lohmann 2007, S. 620; Herv.i.O.)

Damit sind die keineswegs zwangsläufige, geschichtliche Kontinuität und nicht der absolute Bruch angesprochen. Es sind durch konkrete Akteure – wie die OECD und kommerzielle Bildungsdienstleister – vorangetriebene Transformationen, die eine gewinnbringende Vermarktlichung von Bildung versprechen (vgl. Lohmann 2007, S. 621f., S. 624).109 Die entsprechenden internationalen allem Staaten, aber die OECD arbeitet auch mit Unternehmen, Handelsorganisationen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen (ebd.). Zusammengefasst geht es um eine evidenzbasierte Standardisierung von Staatspolitik, die marktbasiert zur Erhöhung des Lebensstandards führen soll. In den Visionen zum 50-jährigen Jubiläum der OECD wird die gegenwärtige Strategie benannt: „OECD Members continue to form a community of nations committed to the values of democracy based on rule of law and human rights, and adherence to open and transparent market-economy principles. The Organisation‘s essential mission is to promote stronger, cleaner, fairer economic growth and to raise employment and living standards. We rely on it to do so by identifying key economic, social and environmental policy challenges and designing policies to improve the well-being of people around the world“ (OECD 2011, S. 2; Herv. JW). Diese Form der Förderung von Wohlstand beruht auf der Annahme, dass Wohlstand nur unter rationalen – also neoliberal-kapitalistischen – Marktbedingungen zu erreichen ist. Ebenso verschiebt sich hier der Politikbegriff von einem der demokratischen Aushandlung und des Umkämpften hin zu einem, der es erlaubt, die ideale Politik zu ‚designen‘. 109  | Namentlich bezieht sich Ingrid Lohmann auf die OECD, die World Trade Organisation, den Internationalen Währungsfond als transnationale Organisationen, auf die Bertelsmannstiftung und auf Australian Council for Educational Research Inc., Educational Testing Service, Westat Inc. und die CITO-Gruppe als international agierende Konzerne und Strategien, die profitorientiert Bildungsdienstleistungen anbieten.

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Schulleistungstests werden in diesem Denken ebenso wie der Vergleich nationaler Ökonomien (beispielsweise durch das World Economic Forum) einer Wettbewerbslogik unterworfen. Der Wettbewerbsvorteil entsteht dabei durch Innovation und durch sie entwickelte „neue Formen der Produktion“ (Foucault 2006, S. 322). Der Wettbewerb der nationalen Ökonomien und der Wettbewerb ihrer Bildungssysteme gehören zusammen, weil sie auf der Annahme beruhen, dass das ökonomische „tatsächliche Wachstum“ (ebd., S.  323) ‚entwickelter‘ Länder aus deren Humankapital-Investitionen hervorgehe. Bereits Ende der 1970er Jahre hält Foucault eine „Wachstumspolitik“ fest, die im „Westen [...] in der Modifikation des Niveaus und der Investitionsform in Humankapital besteht. Man sieht, daß die Wirtschaftspolitik, aber auch die Sozialpolitik, die Kulturpolitik und die Bildungspolitik aller entwickelten Länder sich nach dieser Seite hin orientieren“ (ebd.). Nach Foucaults Gouvernementalitätsstudie kommt es im Zuge des Neoliberalismus auch zu einem Wandel von Regierungstechnologien, von einer äußeren Zurichtung der Individuen hin zu einer Internalisierung des Unternehmergeistes.110 Damit die Verantwortungsabgabe und der Abbau von sozialen Sicherungssystemen akzeptabel wird, muss der Wandel als freie Entscheidung der Einzelnen in einer liberalen Gesellschaft vermittelt werden. Die Identifikation mit einer neoliberalen Lebensweise materialisiert sich in der changierenden Rolle der Arbeitskraft als Humankapital: Sie ist „[e]inmal [...] das Produzierte, das andere Mal das Produzierende“ (Oswald 2011, S. 38). Im ersten Fall ist das Humankapital das, was durch Bildungsinstitutionen und -maßnahmen111 hervorgebracht werden soll. Im zweiten Fall sind es die gebildeten Arbeitskräfte/Fachkräfte, welche Mehrwert durch ihr ‚Know-How‘ und nicht mehr primär durch ihre körperliche Kraft ermöglichen.

Humankapital und das Verhältnis von Bildung und Erziehung Im bisherigen Verlauf der Untersuchung wurde auf den Unterschied zwischen Bildung und Erziehung als theoretische Figuren wie auf die dementsprechend geordnete Trennung schulischer und jugendhilfebezogener Praxis verwiesen. In der humankapitalistischen Deutung von Bildung kommt der Erziehung 110   |  „Der [humankapitalistische, JW] Homo oeconomicus ist [kein Tauschpartner mehr, der Kapital und Produkte austauscht, sondern, JW] ein Unternehmer, und zwar ein Unternehmer seiner selbst“ (Foucault 2006, S. 314; Herv.i.O.). 111  |  Christian Oswald erläutert die Ideologie des Humankapitals anhand eines „neoliberalen Gedankenspiel[s]“ (Oswald 2011, S. 37), in dem professionelle Bildung und Erziehung zur Dienstleistung werden, die an Eltern verkauft werden kann. „Schul- und Kindergartenunternehmen“ verkaufen also die erzieherische beziehungsweise bildende Arbeitskraft ihrer Angestellten, der erwünschte Erfolg davon soll die „Ware Arbeitskraft“ (ebd., S. 38) sein.

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immer noch eine ähnliche Funktion zu, insofern sie Voraussetzung für eine unmittelbar ‚anwendbare‘ Bildung ist (im Sinne von verwertbarem Wissen und Können oder als Kompetenz112). Der Widerstand der sozialen Bewegungen gegen einen repressiven Staat, dessen Autorität sie im Bildungssystem über die hergestellten Identifikationen mit „Vater“ und „Nation“ (ebd., S. 59) verwirklicht sahen, kommt dem neoliberalen Freiheitsbegriff entgegen.113 Indem die sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre das „System der Repräsentation“ infrage stellten, trieben sie – wenn auch nicht intendiert – die „unrepräsentierbar[e] Gesellschaft“ (Casale 2014, S. 161) voran. Doch nicht nur die Kritik an den spezifischen Herrschaftsformen durch Patriarchat und Nationalismus kommen der Ökonomisierung entgegen, ebenso die Kritik an dem Anspruch, das Allgemeine zu vertreten und die grundsätzliche Kritik an jedweder Ordnung, die letztlich das Siegerprinzip durchsetzt (vgl. dazu Casale 2016, S. 214).114 Das heißt, dass im Neoliberalismus die Herrschaftsverhältnisse unsichtbar werden, da pro forma alle Lebensweisen akzeptiert sind, während die dennoch weiterbestehenden Hierarchien als Folgen der quasi-natürlichen Bedingungen des Marktes dargestellt 112 | Bildung verliert seine allgemeine Funktion, der Bildungsbegriff wird vielmehr „durch den funktionalen Kompetenzbegriff [substituiert], der mit der Entwicklung zur Wissensgesellschaft begründet wird“ (Höhne 2007, S. 34f.; Herv. i.O.). Der Kompetenzbegriff ersetzt dabei – von der Bildungstradition abgekoppelt – als „notwendiges Wissen und Können zur Bewältigung von Alltagssituationen“ (ebd., S. 33) den Bildungsbegriff. Unter den gleichzeitig neoliberalen Marktbedingungen, nach denen der Markt als Quasi-Natur bezwungen werden muss, komme es dem einzelnen „männliche[n] Jäger“ zu, beim „survival of the fittest“ (ebd., S. 38) zu siegen. Das „Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ ist so „entkoppel[t]“ (ebd., S. 39): Es gibt keine gesellschaftliche Bedingung mehr – nur den naturhaften Markt und das kämpfende Individuum. 113  |  Beispielsweise haben „Positionen aus den Reihen der Frauen-, Gender- und Queerbewegungen nicht nur deutlich an Einfluss gewonnen [...], sondern [werden] teilweise in die kulturelle Hegemonie eingearbeitet [...]. Dies gilt insbesondere für Liberalisierungsforderungen, die auf einen höheren Grad an individueller Freiheit zielen“ (Kessl 2011, S. 63). Im Gegensatz zur Systemkritik sozialer Bewegungen an ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Freiheitsbeschränkungen geht es im neoliberalen Sinne jedoch allein um die Beschränkung der Marktfreiheit beziehungsweise der Chancen, am Markt teilnehmen zu können. 114 | Casale erläutert die von Alexandre Kojève beschriebenen geschichtlichen Typen der Autorität, dabei handelt es sich bei der letzten um die „pervertierte Form“ der Autorität, um die Autorität „des Herrn“ (Casale 2016, S. 214). „Angesichts ihrer zeitlichen Struktur, d.h. ihrer Verhaftung in der Gegenwart, negiert sie ihren repräsentativen Charakter. Wegen ihrer Gegenwärtigkeit, heute könnte man sagen ihrer Performativität, ist sie identisch mit sich selbst und als solche totalitär. Sie wird vom Sieger verkörpert, als demjenigen, der im Kampf um Leben und Tod das Risiko bewältigt“ (ebd.).

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werden. Die Freiheit der Einzelnen ist nicht durch einen repressiven Staat eingeschränkt, sondern die Einzelnen haben im Falle von Ungleichheit nur ihre Chance zur Teilhabe und zur Überlegenheit nicht ergriffen. Der Staat in seiner neoliberalen Fassung scheint weder die Unternehmen noch die Arbeitskräfte dazu zu zwingen, eine spezifische Bildung anzubieten oder sich anzueignen. Vielmehr vermitteln Staat und Wirtschaftssystem, dass allen die ‚Freiheit‘ zukommt, die eigenen ‚Chancen‘ zu ergreifen. Die Arbeitskraft „muss ihre eigene zukünftige Ausbeutung zur eigenen Sache machen, nur so bewährt sie sich als mündiger Arbeitskraftverkäufer“ (Oswald 2011, S.  39). Dabei muss die Erziehung erst gewährleisten, dass zukünftige Arbeitskräfte dies internalisieren. Diese Erziehung erfolgt auf der Grundlage eines Zwangs, der vordergründig nicht durch den Staat entsteht, sondern ein ökonomischer ist (vgl. ebd.).115 Die Naturalisierung des Wettbewerbs und der kapitalistischen Prinzipien in allen Lebensbereichen verhindern, dass der internationale Vergleich von ‚Kompetenzen‘, die darin enthaltene Reduktion von Bildung auf professionsgebundenes Wissen und Können und der Wettbewerb um Humankapital infrage gestellt werden. Staat und Familie fällt die Aufgabe zu, den ökonomischen Zwang, Humankapital anzueignen und zu vermarkten, an die Kinder weiterzugeben, unabhängig von den „Antagonismen“, die entstehen, wenn ein „Bereich der Gesellschaft, der sich nicht vollständig kapitalisieren lässt“ (ebd.), dennoch kapitalisiert wird.116 Im Prozess der Naturalisierung wird aus einem vermittelten Verhältnis ein vermitteltes, die Gegenwart ist nicht mehr geschichtlich, sondern wird totalitär. Die Folgen dieses Prozesses sind über die Schule hinaus in allen sozialen Bereichen zu beobachten. Soziale Arbeit wird direkt wie indirekt zu einem Feld, das einem staatspolitisch wie ökonomisch diagnostizierten „Modernisierungsbedarf“ (Scherr 2006, S.  51) gerecht zu werden hat, der unhinterfragt

115 | Diese Notwendigkeit in der neoliberalen Logik hatten auch die ehemaligen deutschen beziehungsweise britischen Regierungschefs Gerhard Schröder (SPD) und Tony Blair (Labour) in ihrer gemeinsamen Erklärung von 1999 erkannt: „Das System der Steuern und Sozialleistungen muß sicherstellen, daß es im Interesse der Menschen liegt, zu arbeiten. Ein gestrafftes und modernisiertes Steuer- und Sozialleistungssystem ist eine wesentliche Komponente der aktiven, angebotsorientierten Arbeitsmarktpolitik der Linken“ (Schröder/Blair 1999). Dessen Folgen zeigten sich in der BRD insbesondere in der sogenannten Hartz-IV-Gesetzgebung. 116  | So geht die Kommission des fünften Familienberichtes davon aus, dass „das Humanvermögen einer Gesellschaft durch die Leistungen der Familie begründet wird und alle Menschen vom Lebensbeginn bis zum Lebensende sowie die Gesamtheit der gesellschaftlichen Einrichtungen dieser familialen Leistungen bedürfen“ (zit. n. Bundestags-Drucksache 12/7560, S. III).

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bleibt.117 Damit ist ein Wandel in der Bildungsverantwortung Sozialer Arbeit beschrieben, die sich in den 1980er und 1990er Jahren vom Bildungsauftrag abgrenzte, insofern dieser gesellschaftskritisch in der Tradition der „1968er“ zu verstehen war (vgl. ebd.). Bildung im verwertbaren Sinne wird im 12. Kinder- und Jugendbericht (BMFSFJ 2005) über die Forderungen nach Programmen für frühkindliche Bildung und über die konkrete Verknüpfung von Jugendhilfe und schulischer Bildung zur sozialpädagogischen Aufgabe. Dabei zielt die Investition in und die Steuerung von Bildungsmaßnahmen auf die Produktion individuellen Humankapitals, das sowohl für sich selbst sorgt als auch zur Kapitalsteigerung (über Steuern) insgesamt beiträgt. Zusätzlich kann von einer Aufgabe Sozialer Arbeit bezüglich der Optimierung eines kollektiven Humankapitals gesprochen werden. Gemeint ist die Begrenzung staatlicher Kosten, die keinen zukünftigen Gewinn versprechen, wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Thomas Olk beschreibt dies anhand des Wandels vom „Sozialstaatsmodell“ zum „Sozialinvestitionsstaat“ (Olk 2009, S. 23).118 Diese neue Programmatik des (Post-)Wohlfahrtsstaats sei durch einen „‚produktivistische[n]‘ Charakter“ und eine „aktivierend[e] Ausrichtung“ (ebd.) gekennzeichnet. Insbesondere bezüglich Sozialer Arbeit werde ein „Paternalismus“ verfolgt, wie er sich „an der Verknüpfung sozialer Rechte mit bestimmten Verhaltensanforderungen festmachen lässt“ (ebd., S. 24). Die sich europaweit seit den 1970er Jahren etablierende Form der ‚Sozialpolitik‘ beschreibt Olk als dritten Weg neben bisher praktiziertem Sozialstaat und neoliberalem „Minimalstaat“ (ebd., S. 25). Der 117  | Ein markantes Beispiel für die Modernisierungsforderungen mittels Humankapitalinvestitionen findet sich ebenfalls bei Schröder/Blair 1999: „[Eine der] wichtigste[n] Aufgabe[n] der Modernisierung [besteht] darin, in Humankapital zu investieren, um sowohl den einzelnen als auch die Unternehmen auf die wissensgestützte Wirtschaft der Zukunft vorzubereiten. Ein einziger Arbeitsplatz fürs ganze Leben ist Vergangenheit. Sozialdemokraten müssen den wachsenden Anforderungen an die Flexibilität gerecht werden und gleichzeitig soziale Mindestnormen aufrechterhalten, Familien bei der Bewältigung des Wandels helfen und Chancen für die eröffnen, die nicht Schritt halten können.“ Es geht darum, den Hilfeempfangenden Chancen zu eröffnen und nicht darum, sie abzusichern. Der Wandel ist nicht das zu bearbeitende Problem, sondern er wird vorausgesetzt und allein seine Bewältigung durch die Individuen wird in den Blick genommen. 118   |  Thomas Olks (2009) Fassung der Transformation des modernen Wohlfahrtsstaates in Form eines „Sozialinvestitionsstaats“ umfasst nicht nur die materielle staatspolitische wie demographische Kalkulation, sondern steht auch als leitende Denkfigur für Neue Steuerung in Sozialer Arbeit und Sozialpolitik. Allerdings können die mit der Wende zum 21. Jahrhundert eintretenden Transformationen des Wohlfahrtsstaats nur bedingt auf neue wirtschafts- und sozialpolitische Modelle zurückgeführt werden, wie Fabian Kessl (2011, S. 65ff.) anhand der Humankapitaltheorie verdeutlicht.

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‚Sozialinvestitionsstaat‘ wird als Investition in (früh-)kindliche Bildung ausbuchstabiert, bei der es nicht mehr um die Bekämpfung von Armut generell, sondern von Kinderarmut geht (vgl. ebd., S. 26ff.). Daraus lässt sich das Ziel schließen, es gehe um die Prävention weiterer ‚Sozialfälle‘ und die Produktion ökonomisch effizienter Erwachsener. Zusammenfassend sind Ausgaben im „Sozialinvestitionsstaat“ nach Olk, in Abgrenzung zum Sozialstaat, Investitionen in die Zukunft, die sich in der Umverteilung von Chancen ausdrückt (ebd., S. 27). Damit geht es nicht mehr um eine Umverteilung ökonomischer Ressourcen in der Gegenwart, sondern Sozialpolitik wird wirtschaftspolitischen Interessen nachgeordnet. Für das Verhältnis von Erziehung und Bildung treten zwei Punkte deutlicher als bisher hervor: Erstens verlängert sich die Erziehung bis in das Erwachsenenalter, falls das humankapitalistische Prinzip noch nicht verinnerlicht wurde beziehungsweise ihm Widerstand entgegen gebracht wird. Das drückt sich beispielsweise in Gängelungen durch die Arbeitsagentur aus. Fabian Kessl nennt diesen Trend „Pädagogisierung [...] alltäglicher Lebensführungsweisen“ (Kessl 2011, S.  61), was auch die Wirtschaftspolitik beeinflusst.119 Zweitens wird ebenso die Aufgabe schulischer und berufsschulischer oder universitärer Bildung zum Erlangen professionellen Wissens in die Aufgabe individuellen ‚lebenslangen‘ Lernens verwandelt. Das Risiko für die Investitionen in Humankapital tragen dabei dessen Träger.120 Damit sind Erziehung und Bildung nicht mehr geschichtlich vermittelt in einem generationalen Verhältnis, das zu gestalten ist und mit einer Verantwortung für das Allgemeine einhergeht, sondern an einer „faktischen Rationalität“ (Casale 2016, S. 211)121 zu orientieren. Dennoch muss der Staat als Teilnehmer im internationalen Wettbewerb ein gewisses Investitionsrisiko eingehen, was sich in den Strategien der Investition in zukünftige Chancen und der Minimierung von Sozialausgaben ausdrückt. Während sich das Individuum mit dem eigenen Risiko von Humankapitalinvestitionen (Entscheidungen über eigene Weiterbildungen oder 119  |  Der Begriff der Wirtschaftpolitik mag hier irritieren, es geht allerdings um die Ausweitung von Wirtschaftspolitik auf Bildungs-, Sozial- und Erziehungspolitik. Auch für Gary S. Becker ist die „effektivste Investition [...] nicht diejenige in physische Elemente, sondern die in die Bildung des Einzelnen“ (Kessl 2011, S. 67). 120 | Ein Beispiel dafür ist der Ausbau und die Förderung universitärer Weiterbildung. Der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung durchgeführten Wettbewerb „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschule“ (Osel 2014, S. 1) fördert Weiterbildung, insofern sie als „Lebenslanges Lernen [...] die Zukunftschancen [sichert]“ (BMBF o.J.). Die Konzepte der geförderten Universitäten sind allerdings „gebührenpflichtig“ (Osel 2014, S. 1). 121  |  Die „Logik einer faktischen Rationalität“ (Casale 2016, S. 211) bezieht sich bei Casale auf das Verhältnis von Politik und Ökonomie, in dem politisch legitimierte Autorität zugunsten technokratischer Expertise verschwindet.

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die Schulbildung der Kinder) auseinandersetzen muss, behält der Sozialinvestitionsstaat die Bevölkerung als Ganze im Blick. Die neoliberal ermöglichte Freiheit wird so paradoxerweise von dem gerahmt, was Kessl „Pädagogisierung“ (2011) nennt. Schärfer formuliert könnte diese Seite des Sozialinvestitionsstaates auch als ‚Neopaternalismus‘ begriffen werden. Dieser drückt sich in der Zuweisung der ‚richtigen‘ Freiheit aus, deren Verweigerung geradezu ‚bestraft‘ wird. Die so erzeugte neoliberal eingebettete ‚Subjektivität‘ stellt für Regina Becker-Schmidt (2011) eine ‚verordnete Freiheit‘ dar, die allerdings nur erfolgreich ist, wenn die wirtschaftlich gesetzten Bedingungen eingehalten werden: „[D]ie Transformationen des Wohlfahrtsstaats und die Umbrüche in der kapitalistischen Ökonomie [ziehen] Dekollektivierung und unfreiwillige Reindividualisierung nach sich“ (ebd., S.  17). Das trifft insbesondere diejenigen, die sich dem nicht durch entsprechende finanzielle Mittel entziehen können. Nach Castel muss bei diesen Prozessen zwischen „zwei Klassen von vereinzelten Einzelnen“ (ebd.) unterschieden werden. Die erste Gruppe besteht aus Individuen die sich als losgelöst vom Sozialen betrachten und ökonomisch gesehen auch betrachten können. Hingegen sind die Abhängigen, „die durch Mangel Gezeichneten“ (ebd., S. 17f.). Dieser Mangel wird jedoch nicht auf eine ungleiche Verteilung von Ressourcen aufgrund der politischen und ökonomischen Strukturen zurückgeführt, sondern der unzureichenden Qualität des potentiellen ‚Humankapitals‘ angerechnet. Aus dieser Sichtweise resultieren zwei Vorgehensweisen im Umgang mit den Empfangenden von sozialen ‚Dienstleistungen‘: Erstens werden sie mit Anreizstrategien, die ihnen zunächst Handlungsspielraum gewähren beziehungsweise suggerieren, dazu angeregt, sich in den Hilfeprozess einzubringen. Zweitens resultiert daraus eine „Responsibilisierun[g]“, von deren Übernahme durch die Leistungsempfangenden der individuelle „Anspruch auf öffentliche Unterstützung oder Versorgung“ (Kessl 2011, S. 69) abhängig gemacht wird. Allerdings ist die Lenkung von Humankapital nicht auf das Verhalten der Individuen auf dem Markt beschränkt. Der Sozialinvestitionsstaat koppelt seine Entscheidungen, wofür Mittel bereitgestellt werden, an Risikokalkulationen, die auf eine Bewertung von Menschen anhand ihrer ‚Humankapitalqualität‘ hinausläuft. So wird aus humankapitalistischer Perspektive und evidenzbasiert empfohlen, in die Erwerbsteilhabe von Frauen und in die frühkindliche Bildung zu investieren (vgl. ebd., S.  68). Frauen verfügten über ein höheres Bildungsniveau als Männer, was einen höheren Gewinn durch weibliches Humankapital verspreche (ebd.). Solche Überlegungen können in eine Biopolitik klassenspezifischer Selektion münden, wie sich an der Prämisse zeigt, dass das Bildungsniveau der Mutter auf die Qualität des zukünftigen Humankapitals der Kinder schließen lasse. Die materiellen Folgen eines solchen Denkens sind einkommensabhängiges Elterngeld zur Demografiesteuerung und

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gleichzeitige „Präventionsprogramm[e] gegen eine jugendliche Mutterschaft“, die als Folge einer „Unterschichtskultur“ (ebd., S. 71) stigmatisiert wird. Humankapital ist also nicht nur das körperliche und psychische Humankapital aktueller Arbeitskraftverkäufer, sondern es muss auch ein Anreiz geschaffen werden, ‚wertvolles‘ Humankapital für die Zukunft ‚herzustellen‘. Bevor dieses mittels Bildungsinvestitionen getätigt werden kann, ist es erst einmal biologisch hervorzubringen. Angesichts der geringen Geburtenrate von Akademikerinnen müssen zwei Bedingungen erzeugt werden: Die sogenannte ‚Vereinbarkeit‘ von Beruf und Elternschaft und die Attraktivität von Elternschaft, speziell von Mutterschaft.122 Das könnte einen Hinweis darauf geben, warum die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern und die Zunahme von Anti-Diskriminierungspolitiken vermeintlich widerspruchsfrei mit einer Sexualisierung des Alltags einhergehen können.123 So geht die neoliberale Rechnung von Werding u.a. (2009) auf, wonach die Frauen von heute für das noch ertragreichere Humankapital von morgen zurückstecken sollen, wenn Angela McRobbie feststellt: Neue, speziell auf junge Frauen gerichtete Normen der Mittelschicht verlangen höhere Investitionen in Heirat, Mutterschaft und häusliches Leben, an denen sich erfolgreiche Weiblichkeit messen lassen muss. Darin zeichnet sich eine Abkehr von der Idee der Vereinbarkeit erfolgreicher Vollzeit-Karrieren und Mutterschaft ab, und es verschafft sogar Vollzeit-Müttern einen neuen, stärker professionalisierten Status. Gleichzeitig er122 | Aktuelle Zahlen geben erste Hinweise darauf, dass die Rechnung einkommensabhängig Familienförderung zu betreiben ‚aufgehen‘ könnte, insofern das Statistische Bundesamt im Juli 2017 bekanntgab, die hohe Kinderlosigkeit unter Akademikerinnen sinke (vgl. destatis 2017c). 123 | Beispiele für die Gleichstellungs- und Anti-Diskriminierungspolitik sind das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), Gender Mainstreaming als Strategie bei Gesetzesvorhaben (vgl. BMFSFJ 2007) und die Einführung des Elterngelds 2007. Bezüglich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist zudem auffällig, dass ‚soziale Herkunft‘ beziehungsweise Klasse nicht als Diskriminierungsmerkmal aufgenommen wurde. Beispiele für die heterosexistische Alltagswelt sind etwa die Perfektionierung des weiblichen Körpers in TV-Formaten wie der Casting-Show Germany‘s Next Topmodel; homo- und transphobe Darstellungen und Äußerungen in TV-Formaten wie der Casting-Show Deutschland sucht den Superstar oder bei Comedians wie Mario Barth. Ein weiteres Beispiel ist die Popularität von ‚Sachbüchern‘ zur Ungleichheit der Geschlechter, so erschien die deutsche Übersetzung von Allan und Barbara Peases Bestseller „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ 2011 in 7. Auflage. Aber auch die Biologie-Fachzeitschrift Nature widmete sich 2006 der Frage, „ob bei der Besetzung intellektueller Spitzenpositionen biologisch bedingte geschlechtsspezifische Befähigungen tragend“ (Schmitz 2011, S. 63) seien.

Geschlecht als weibliches Geschlecht öffnen sich Möglichkeiten für breite Mediendiskussionen über ‚intensive mothering‘124 . Daneben entstehen neue Märkte (kinderfreundliche Cafés und sogenannte ‚school run fashion‘ [also Mode, die beim Abholen der Kinder von der Schule getragen wird; JW], für sogenannte ‚yummy mummies‘ [junge, attraktive, wohlhabende Mütter; JW]. Diese Märkte reichen von Kinderwagen, die zugleich als Jogging-Maschinen fungieren, sexy Unterwäsche für schwangere Frauen (vgl. Tyler 2011), neue, durch Werbung finanzierte Elternmagazine (in Deutschland ‚Nido‘) bis hin zu einer Vielzahl von Internet-Plattformen (wie www.mumsnet.org), welche durch die dort empfohlenen Aktivitäten und Produkte neue Konsumwelten eröffnen. (McRobbie 2013, S. 142f.; eigene Übers.)

Die Produktion einer möglichen ‚Identität‘ für Frauen der Mittelklasse als heterosexuelle Vollzeit-Mutter, die einer beruflichen Karriere gleichwertig sein soll und als Team-Entscheidung des Paares dargestellt wird, geht einher mit einer klassistischen Abwertung von Müttern, die diesem Ideal nicht entsprechen. Was in der politischen Kultur angesichts der Gleichstellungspolitiken und der proklamierten Förderung von Familien unsagbar ist, wird als „media governmentality“ (ebd., S. 140) über die Populär-Medien verbreitet. Dazu zählen Abwertungen von Großfamilien, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, ebenso wie von Übergewichtigen, die potentiell mehr medizinische Versorgung benötigen (vgl. Schmidt-Semisch/Schorb 2008). Wie Christina Kaindl (2005) zeigt, lässt sich die gleiche Leistungsrhetorik im politischen Programm des Sozialinvestitionsstaats und in Casting-Shows wie „Popstars“ (PRO 7)125 nachzeichnen (vgl. Kaindl 2005, S. 353f.). Die Beispiele stehen für die humankapitalistische Bewertung von Menschen anhand der potentiellen Rendite oder Kosten, die sie versprechen. Zusammen bilden die unterschiedlichen Aspekte neoliberaler und humankapitalistischer Politik ein vermeintlich unabdingbares Gefüge aus ökonomischen und ‚natürlichen‘ Voraussetzungen menschlichen Lebens. Sämtliche Lebensbereiche sind von einer unhinterfragten Leistungsorientierung in einem wettbewerbsorientierten Wirtschaftssystem durchzogen. Fortpflanzung, Erziehung und Bildung unterliegen der Aufforderung, sozial und biologisch 124 | Der Begriff wurde durch Sharon Hays (1996) geprägt. In ihrer Untersuchung von Mutterideologien arbeitet sie vier Dimensionen des Glaubens an ideale und intensive Mutterschaft heraus: Das Ideal der Nicht-Erwerbstätigkeit, die Verantwortungsübernahme, die Selbstaufopferung und den Kinderschutz durch die Mutter. 125  |  Der Moderator der ersten Staffel, Detlef D! Soost, war selbst ‚Heimkind‘ und beschreibt sich in seiner Autobiographie als Einzelkämpfer auf einem Weg der Selbstdisziplinierung, um die beste Leistung zu erbringen (vgl. Soost 2005). Der Titel „Heimkind – Neger – Pionier“ (ebd.) beschreibt das zentrale Motiv des Buches: Nämlich es ‚trotzdem‘ – also trotz der fehlenden Familie, trotz des Rassismus und trotz der Sozialisation in der ehemaligen DDR – geschafft zu haben. Erfolg hängt in dieser Logik nicht mit den sozialen Bedingungen zusammen beziehungsweise diese können durch individuelle Anstrengung außer Kraft gesetzt werden.

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Humankapital mit hoher Rendite zu (re)produzieren. Dabei hat die Stereotypisierung von Geschlecht als Leistungsaffirmation im Bereich der Mutterschaft ebenso ihren Platz wie in der Konsumsteigerung (vgl. McRobbie 2013). Unter diesen ökonomischen und staatspolitischen Voraussetzungen, die nicht unabhängig von ihrer Bedingung, d.h. der Leugnung geschlechtlicher und generationaler Ordnung, zu denken sind, wird im Folgenden die dritte Zäsur des Zusammenhangs von Heimerziehung und Geschlecht dargestellt. Dabei geht es zunächst um die veränderte rechtliche Lage durch das Kinderund Jugendhilfegesetz (1990/1991) und Gender Mainstreaming (2000) in der Jugendhilfeplanung (1.3.2 und 1.3.3). Anschließend geht es um das Verhältnis von ‚einseitiger‘ Geschlechterforschung in der Heimerziehung und der seit den 1990er Jahren entdeckten Jungenpädagogik (1.3.4 und 1.3.5). Der dritte Schwerpunkt liegt auf der gegenwärtigen Transformation von Frauen- und Familienpolitik (1.3.6).

1.3.2 Kinder- und Jugendhilfegesetz Infolge des sechsten Kinder- und Jugendberichts wurden zu Beginn des Jahres 1991 jahrzehntelange Reformbemühungen konkret im Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII), dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), umgesetzt.126 Erstmals wurde die Kategorie Geschlecht als Bedingung struktureller Ungleichheit rechtlich berücksichtigt: „Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind [...] die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern“ (§ 9 Abs. 3 SGB VIII). Damit wurden für die Heimerziehung Voraussetzungen geschaffen, geschlechtsspezifische und entsprechend fördernde Gruppen in das Regelangebot zu integrieren. 126  |  So wird in der einschlägigen Literatur eine bewegte Geschichte des Jugend(hilfe/straf) rechts seit dem (R)JWG und konkret eine 20-jährige Debatte nachgezeichnet, die sich im Wandel von einer repressiven Jugendhilfe hin zu einer Jugendhilfe, die als Recht des Kindes verstanden wird, ausdrückt (vgl. u.a. Bundestag-Drucksache 11/5948, S. 41; Münder u.a. 1991; Struck 2002; Wabnitz 2009). Insbesondere Johannes Münder u.a. (1991) zeigen, wie die neuen Konzepte seit den 1970er Jahren in die Gesetzgebung eingingen. So etablierten sich Schlagworte wie „offensiv[e] Jugendhilfe“ (ebd., S. 19) und Heimkritik/Heimkampagne, Kinderladenbewegung und antikapitalistische Jugendarbeit ebneten den Weg für eine Entwicklung weg von „Fürsorge- und Ordnungsrecht“ hin zum „sozialpädagogischen Leistungsangebot“ (ebd., S. 24; vgl. S. 21). Bekannterweise ist der Zwiespalt jedoch weiterhin vorhanden, wie sich in der fortdauernden (kritischen) Thematisierung des umstrittenen ‚doppelten Mandats in der Sozialen Arbeit‘ beobachten lässt (vgl. Hornstein 1995, S. 22; Kessl 2005, S. 59f.).

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Bevor diese spezifische Neuerung näher betrachtet wird, sollen zunächst die grundsätzlichen Veränderungen dargestellt werden. So wird bezüglich der Einführung des KJHG häufig von einem Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe gesprochen. Damit ist eine Neuorientierung, weg von der Disziplinierung hin zum Schutz der Kinder und Jugendlichen, gemeint. Während zuvor die Gesellschaft – und damit die Erwachsenen – vor der ‚verrohten‘ (männlichen) und ‚verdorbenen‘ (weiblichen) Jugend geschützt werden musste, geht man nun von einem notwendigen Schutz der Kinder und Jugendlichen vor den Erwachsenen aus.127 Die Mädchenhausbewegung hatte diesen Wandel bereits für die stationäre Unterbringung vorweggenommen, indem sie die (sexuelle) Gewalt durch die Elterngeneration thematisierte. Aus heutiger Sicht kann, angesichts der aufgedeckten sexuellen Gewalt, insbesondere gegen Jungen in kirchlichen und reformpädagogischen Internaten, parallel dazu ein Versäumnis im Bereich der Jungenpädagogik ausgemacht werden.128 Die konkrete Arbeit am KJHG begann 1987 im Rahmen der fortgeführten Koalition von CDU/CSU und FDP. Durch die öffentliche Kritik an der Misere in der Erziehungshilfe seit den 1970er Jahren und die von entsprechenden Forschungsarbeiten (Kommission Heimerziehung, Kinder- und Jugendhilfeberichte) angeregten Veränderungen in der pädagogischen Praxis wird bereits zuvor von einer unter dem JWG ohne rechtliche Rahmung praktizierten Jugendhilfe ausgegangen (vgl. u.a. Wiesner u.a. 2000, S. 350). Für die Heimerziehung ging das KJHG mit entscheidenden Änderungen einher, was sich anhand der Begründungen der entsprechenden Paragraphen nachvollziehen lässt (vgl. Bundestags-Drucksache 11/5948, S. 72ff.). Die Trennung zwischen Freiwilliger Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung mit der getrennten Zuständigkeit von örtlichen Jugendämtern gegenüber Landesjugendämtern wurde zugunsten örtlicher Zugehörigkeit der Eltern beziehungsweise der Pflegeeltern geändert. Staatliche Eingriffe in die elterliche Verantwortung waren gegen den Willen der Erziehungsberechtigten fortan einzig im Falle von Kindeswohlgefährdung (§ 1666 BGB) zulässig. Damit wurde die grundgesetzlich gesicherte Elternorientierung der Erziehungsaufgabe gestärkt und die Beschränkung des Staates auf das Wächteramt betont. Rechtlich wurden damit die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren als willkürlich empfundenen staatlichen Eingriffe beschränkt, was insbesondere durch die deutliche Abkehr von geschlossener Unterbringung zum Ausdruck kam 127 | Noch deutlicher wird dieser Ansatz in dem 2012 in Kraft getretenen Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG).

128 | Dessen Aufdeckung rückt zudem den Backlash der letzten 10-20 Jahre bezogen auf kriminalisierte, vornehmlich männliche Jugendliche teils mit Migrationshintergrund in ein anderes Licht (vgl. dazu zudem Forster/Rendtorff u.a. 2011). Die Stichworte dazu sind: Antiaggressionstraining (Weidner 1995), Erziehungscamp und Warnschussarrest (CDU 2008).

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(§1631 b BGB).129 Darüber hinaus wurde im ersten Gesetzesentwurf der historischen Last des Begriffs ‚Heimerziehung‘ Rechnung getragen (vgl. BundestagsDrucksache 11/5948, S. 72). Die Kategorie Geschlecht wurde in § 9 Abs. 3 des KJHG als Generalklausel berücksichtigt. In der weiteren sprachlichen Gestaltung des KJHG werden die Leistungsempfangenden weitgehend ‚geschlechtslos‘ als Kinder oder Jugendliche bezeichnet. Für die Heimerziehung gibt es keine spezifische Regelung bezüglich Geschlecht über die Generalklausel hinaus. Die historische und juristische Auslegung des § 9 Abs. 3 verweist auf den Einfluss feministischer Politiken, des sechsten Kinder- und Jugendberichts und der Koedukationsdebatte (vgl. Münder u.a. 1998, S.  141f.; Schellhorn 1991, S. 80f.; Schifferdecker 1998, S. 132f.). Die Literatur Ende der 1990er Jahre bezieht sich zusätzlich auf den neunten Kinder- und Jugendhilfebericht. Zunächst stehen die Erkenntnisse bezüglich mädchenspezifischer Benachteiligung im Bildungs- und Erwerbsarbeitsbereich als zu beseitigendes Übel eindeutig im Vordergrund. Von Beginn der 1990er Jahre bis zum Ende der Dekade verschieben sich die Begrifflichkeiten von ‚Gleichberechtigung‘ zu ‚Gleichstellung‘ (vgl. u.a. ebd.). Damit wurde der Anspruch auf formal gleiches Recht überschritten, insofern es um eine stärkere faktische Umsetzung gleicher Rechte beziehungsweise gleicher Zugänge, z. B. zu Leistungen, ging. Der Verweis auf den sechsten Kinder- und Jugendbericht macht deutlich, welcher enorme Wandel sich Mitte der 1980er Jahre vollzog: Erstmals konnte von einer expliziten und staatspolitischen Thematisierung von Chancenungleichheit zwischen Mädchen und Jungen in der Jugendhilfeforschung mit gesetzgebenden Folgen gesprochen werden (vgl. Bronner/Behnisch 2007, S.  26). Die einschlägigen Fachzeitschriften beschäftigten sich primär mit den Themen Mädchenbenachteiligung, Mädchenarbeit und Mädchenförderung, während die Situation von Jungen weniger eigenständig behandelt wurde.130 Vereinzelt zeichnet sich jedoch zu dieser Zeit die Etablierung einer theoretisch beziehungsweise politisch begründeten ersten Jungenpädagogik ab (vgl. IGfH: Materialien zur Heimerziehung 4/1994), die durch Projekte der Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille (Book 1989) oder populäre

129  |  Dennoch wurde bisher immer noch nicht vollständige auf geschlossene Unterbringung verzichtet (vgl. bspw. Pöhner 2012). 130 | Beispielsweise: Heftthema „Mädchen in Heimen“ in Sozialmagazin 17 (1992) 2, S. 14-24; Heftthema „Mädchenarbeit“ in Blätter der Wohlfahrtspflege 142 (1995) 4, S. 6890; Themenschwerpunkt „Arbeit mit sexuell missbrauchten Mädchen und Jungen“ in Mitglieder-Rundbrief der Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe (1993) 3, S. 26-43.

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Veröffentlichungen (Schnack/Neutzling 1990) verschiedentlich eingeleitet wurde.131 Jedoch zeichnen die Entwürfe, Stellungnahmen und Diskussionen auf staatspolitischer Ebene ein ambivalentes Bild bezüglich der Geschlechterfrage im KJHG. Der Regierungsentwurf von 1989 formuliert § 9 Abs. 3 in seiner ersten Fassung folgendermaßen: „Bei der Ausgestaltung der Leistungen und Erfüllung der Aufgaben sind geschlechtspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen und Benachteiligungen auszugleichen“ (Bundestags-Drucksache 11/5948, § 8, Abs. 3). Der damaligen Bundesregierung könnte dabei erstaunliche Fortschrittlichkeit beziehungsweise radikales Vertreten einer Mehrgeschlechtlichkeit unterstellt werden, denn in diesem Entwurf wird zwar von Geschlechtsspezifik (und damit implizit von etwas wie einer Geschlechtsidentität) ausgegangen, diese wird allerdings nicht auf zwei Geschlechter beschränkt. Zudem sind Benachteiligungen jeglicher Art im Zusammenhang mit Geschlecht denkbar. Naheliegend ist jedoch eine andere Lesart, die sich in der Begründung des Gesetzentwurfs durch die Regierung bestätigt. Darin werden die Benachteiligungen von Mädchen in der Koedukation kritisiert und mädchenspezifische, ausgleichende Angebote gefordert (vgl. ebd.: Anlage 1, S.  52f.). Jungenspezifische Angebote werden entsprechend der damaligen Lesart nur „ggf.“ (ebd., S. 53) als notwendig erachtet.132 Der Bundesrat133 und später die zuständigen Ausschüsse (vgl. Bundestag-Drucksache 11/6748, S. 8f.) insistierten in ihren Stellungnahmen beziehungsweise Empfehlungen auf eine Änderung des Absatzes mit einer Konkretisierung der Zielgruppen ‚Mädchen‘ beziehungsweise ‚Jungen‘ und setzten damit die heutige Fassung durch (vgl. Bundestags-Drucksache 11/5948: Anlage 2, S.  126). Die Begründung lautete: „Vor diesem Hintergrund [Benachteiligung von Mädchen, JW] ist es wünschenswert, den Begriff ‚geschlechtsspezifische Besonderheiten‘ zu ersetzen, da er nicht hinreichend deutlich diese Zielsetzung [Partizipation, 131  |  Insgesamt lässt sich bis zu Beginn des neuen Jahrtausends festhalten, dass „[f]inanzielle Engpässe sowie fehlende gesellschaftliche Impulse [...] infrastrukturelle Fortschritte innerhalb der Jungenarbeit“ (Behnisch 2004, S. 136) der Heimerziehung bremsten. 132 | Damit möchte ich nicht gegen die Berücksichtigung der Problemlagen von Mädchen argumentieren, sondern hervorheben, dass die Benachteiligung von Jungen ebenso ausgeblendet wird wie das Hand-in-Hand-Gehen mädchenspezifischer Benachteiligung mit männlichen Privilegien. Das wird nicht als wechselseitiges Bedingungsgefüge betrachtet. Mädchen sollen vielmehr gegenüber den Jungen in einem unhinterfragten System ‚aufholen‘. Damit gerät Kritik an Zweigeschlechtlichkeit, sexuellen Hierarchien und kapitalistischen Verhältnissen (inklusive der Abwertung von unbezahlten, reproduktiven Arbeiten) aus dem Blick. Die geschlechtliche Ordnung in ihrer androzentrischen Form wird nicht als Bedingung einbezogen. 133 | Auch im Bundesrat gab es bis 1991 eine schwarz-gelbe Mehrheit.

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Diskriminierungsabbau, JW] verdeutlicht, sondern mit dieser Begrifflichkeit an Erziehungstraditionen angeknüpft wird, die explizit auf die Festschreibung geschlechtsspezifischer Unterschiede abzielen“ (ebd.). Bezeichnend für das Geschlechterverständnis ist die Annahme, die spezifische Benachteiligung von Mädchen könnte vernachlässigt werden, wenn nicht explizit Mädchen und Jungen benannt würden. Die Prozesse der Festschreibung und Identifizierung als Mädchen oder Jungen standen nicht zur Diskussion. Jedoch sollte nicht aus dem Blick geraten, dass nicht allein der emanzipatorisch gedachte ‚Gleichstellungsparagraph‘ dokumentiert, inwiefern die Kategorie Geschlecht in der Gesetzgebung relevant wurde. Denn über die Aufbruchstimmung nach dem sechsten Kinder- und Jugendbericht hinaus gab es Motive, Gesetze zu ändern, die Geschlecht, Familie und Lebensweise ordnen sollten. Insbesondere die Dokumentationen der Regierungs- und Parlamentsdiskussionen geben Auskunft über die divergierenden Fassungen der Kategorie Geschlecht.134 Im Vorblatt zum Regierungsentwurf (CDU/CSU und FDP) des KJHG vom 01.12.1989 wird es zum „obersten Ziel öffentlicher Jugendhilfe, Eltern bei ihren Erziehungsaufgaben zu unterstützen und damit indirekt die Erziehungssituation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern“ (Bundestag-Drucksache 11/5948, S.  1, Herv. JW). Dabei wird zunächst nicht explizit vom klassischen Bild der heterosexuellen ‚vollständigen‘ Familie ausgegangen135, denn es soll den „unterschiedlichen Lebenslagen von Familien“ (ebd.) gerecht werden. Besonders bedeutsam ist der folgende Satz: „Durch die besondere Berücksichtigung der Situation alleinerziehender Elternteile wird auch ein wesentlicher Beitrag geleistet, bei schwangeren Frauen in Konfliktsitua134  |  An dieser Stelle kann das Desiderat einer Diskursanalyse ausgemacht werden, die über die Frage nach der Kategorie Geschlecht hinausweisend erforschen könnte, inwieweit durch die in der Gesetzgebung zum Ausdruck kommende Materialisierung von Reformbestrebungen in der Kinder- und Jugendhilfe neue Formen der Biopolitik und der Kategorien Kindheit/ Jugend und Familie hervorgebracht wurden. 135 | Der Einwand, bei dieser Formulierung seien mangels Bewusstsein keine ‚Regenbogen-Familien‘ intendiert gewesen, erscheint berechtigt, er lässt sich jedoch nicht explizit in der Textstelle nachweisen. Immerhin wird in der Gesetzesbegründung im Zusammenhang mit der Schule als einziger staatlicher Einrichtung, die mit dem Elternrecht konkurrierte, wie folgt argumentiert: „Dies entbindet ihn [den Staat, Anm. JW] allerdings nicht von der ebenfalls verfassungsrechtlich verankerten Schutz- und Förderungspflicht gegenüber der Familie. [...] Das Wohl des Kindes und sein Schutz sind unteilbar und können nicht bestimmten Familienformen vorbehalten bleiben“ (Bundestag-Drucksache 11/5948, S. 42). Nicht als Familie benannt, aber mit der Formulierung gemeint sind „auf persönlichen Beziehungen gegründete Gemeinschaften [...], in denen Erwachsene und junge Menschen auf Dauer angelegt miteinander leben, dabei aufeinander Einfluss nehmen und füreinander Verantwortung tragen (vgl. Sachverständigenkommission zum Siebten Jugendbericht [...], S. 12)“ (ebd.).

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tionen den Willen zum Kind zu stärken“ (ebd.). Hier wird zunächst vermeintlich geschlechtsneutral auf ‚alleinerziehende Elternteile‘ Bezug genommen, der Nachsatz macht jedoch deutlich, dass es realistisch eingeschätzt um die Unterstützung alleinerziehender Mütter geht und darum, Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden. Nach der zweiten Frauenbewegung und deren Kampf gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch den § 218 StGB war es für die CDU/CSU weiterhin ein wichtiges Ziel, Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern. Wie sich das Thema Schwangerschaftsabbruch und Festigung geschlechtlicher Gewaltverhältnisse bis in die 1990er Jahre fortsetzt, zeigt sich an der Diskussion um § 177 des Strafgesetzbuches. So befürchtete die CDU 1993, die Anerkennung von Vergewaltigungen in der Ehe als Straftatbestand würde die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche mit kriminologischer Indikation in die Höhe treiben (vgl. Müting 2010, S. 168). Trotz aller Öffnung gegenüber neuen Familienformen und gegenwärtiger Gleichstellung von homosexueller Partnerschaft und Elternschaft wirkt auch im neuen Jahrtausend ein spezifisches Familienmodell normierend, z.B. in der Neuregelung des Vaterschaftsrechts (vgl. Schutter 2011). Hinzu kommt eine Biologisierung des Eltern-Kind-Verhältnisses, insofern die ‚richtige‘ Elternschaft auf die genetische Feststellung reduziert wird und davon u.a. beispielsweise Aufenthaltstitel abhängig gemacht werden (vgl. ebd., u.a. S. 190). In beiden Diskussionen werden patriarchale ‚Ansprüche‘ und christliche Begründungsmuster seitens der CDU/CSU unter Ausblendung des Armutsrisikos alleinerziehender Frauen verteidigt. Neben der Ordnung von Geschlechtlichkeit, Familie und Mutterschaft durch eine Generalklausel und die Betonung des Elternrechts ist für die Kategorie Geschlecht im KJHG die Regelung der Datenerhebung zu statistischen Zwecken relevant. Dabei ist in § 88136 Abs. 1 (SGB VIII) u.a. festgelegt, dass von den Hilfeempfangenden „die Merkmal[e] nach Geschlecht, Geburtsjahr, Staatsangehörigkeit, Kindschaftsverhältnis und Art des Aufenthaltes während der Hilfe“ (BT-Drucksache 11/5948, S. 29) zu erheben sind. Ebenfalls werden „Art des Trägers und der Hilfe, Institution oder Personenkreis, die oder der die Hilfe angeregt hat, Monat und Jahr des Beginns und Endes sowie Fortdauer der Hilfe und Art des Hilfeanlasses“ (ebd.) festgehalten. Die Merkmalserhebung bei Kindern/Jugendlichen in der Heimerziehung (neben einrichtungsbezogenen Daten) betrifft: „Geschlecht, Geburtsjahr, Staatsangehörigkeit und Kindschaftsverhältnis, Familienstand der Eltern oder des sorgeberechtigten Elternteils, Sorgerechtsentzug oder Tod der Eltern, Art des Aufenthalts sowie Schul- oder Ausbildungsverhältnis vor der Hilfegewährung“ (ebd.). Die Begründung bezieht sich vor allem auf statistische Vergleichbarkeitsprobleme 136 | Aktuell § 99 mit nur geringfügigen Änderungen.

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durch unterschiedliche Datenerhebungen in unterschiedlichen Verwaltungs-/ Behördenzusammenhängen (ebd., S. 111f.). Eine Begründung, warum die konkreten Merkmale erhoben werden sollen, gibt es nicht. Nach der bundesweiten Einführung des SGB VIII/KJHG 1991 wurde die Geschlechterfrage auf rechtlicher Ebene durch die Einführung des Gender-Mainstreaming-Prinzips im Rahmen von Verwaltungsvorschriften erneut relevant.

1.3.3 Gender Mainstreaming in der Kinder- und Jugendhilfe Gender Mainstreaming 137 (GM) ist ein gleichstellungspolitischer Ansatz, mit dessen Hilfe den EU-weiten Verpflichtungen des ‚Amsterdamer Vertrages‘138 von 1997/1999, für die Chancengleichheit von Frauen und Männern in den nationalen Politiken zu sorgen, nachgekommen werden soll. Finanzielle Wirkmacht erhielt der Chancengleichheitsanspruch bereits seit Anfang der 1990er durch den Europäischen Strukturfonds. Die Auswirkungen des ‚Amsterdamer Vertrages‘ auf die bundesdeutsche Politik lässt sich in der Berücksichtigung der Gleichstellungsvorgaben durch die beschäftigungspolitischen Aktionspläne der Bundesregierung seit 1999 nachzeichnen (vgl. Schweikert 2002, S. 86). Im Jahr 2000 wird die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien in § 2 dahingehend geändert, dass der GM-Ansatz „bei allen politischen, normgebenden und verwaltenden Maßnahmen der Bundesregierung zu berücksichtigen“ (ebd., S. 87) sei. Damit erweitert sich der Einflussbereich des GM-Ansatzes über die Bereiche Arbeit und Beschäftigung hinaus und GM wird auch zur strategischen Grundlage für sozialpolitische Entscheidungen. Umgesetzt werden die Vorgaben durch eine interministerielle Steuerungsgruppe (vgl. ebd.). Im Jahr 2000 wurde das Gender-Mainstreaming-Konzept zur Förderrichtlinie im Kinder- und Jugendplan des Bundes (vgl. Schäfer 2007, S. 83), in dem Mädchenförderung bereits seit den 1990er Jahren als besonderer Verantwortungsbereich benannt wird, seinerzeit angeregt durch den sechsten Kinder137 | An dieser Stelle soll keine allgemeine Einführung in den GM-Ansatz gegeben werden, fokussiert wird lediglich sein Einfluss auf den rechtlichen und strukturellen Rahmen für die Kinder- und Jugendhilfe. 138 | Der Amsterdamer Vertrag gehört zu einer Reihe von EU-Verträgen, mit denen der Vertrag der europäischen Union, die „Verträge zur Gründung der europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte“ (vgl. EU 1997, Vorblatt) geändert beziehungsweise abgewandelt werden. Die EU wird in den Artikeln 2 und 3 des ‚Amsterdamer Vertrages‘ vor allem als Wirtschaftseinheit dargestellt, zu deren Aufgaben, neben der Förderung des Wirtschaftswachstums, auch der soziale Schutz und die Gleichstellung von Frauen und Männern gehören.

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und Jugendbericht und § 9 Abs. 3 SGB VIII (vgl. BT-Drucksache 13/9509). Von 1991 bis 1995 und im Jahr 2001 wurde das Modellprogramm „Mädchen in der Jugendhilfe“ durchgeführt, dessen Ziel darin bestand, die Mädchenarbeit nicht mehr parallel zu einer ‚allgemeinen‘ Jugendhilfe laufen zu lassen, sondern in diese zu integrieren (vgl. Bohn/Bradna 2002, S. 15ff.). Damit scheint zunächst ein Bruch mit der bisherigen androzentrischen Jugendhilfe zu erfolgen. Dies geschah jedoch nicht im Zusammenhang mit feministischer Politik oder Theoriebildung, auf die das BMFSFJ keinen Bezug nahm, sondern in der Absicht, GM gegenüber der bisherigen ‚Förderpolitik‘ abzugrenzen: In einem Diskussionspapier des BMFSJF von 2002 wird zwischen „[s]pezifische[r] Frauen- und Mädchenförderpolitik und GM“ (Fricke 2002, S. 2) unterschieden. Erstere beschäftige sich mit „konkreten Problemstellung[en]“, während erst GM „[a]lle Maßnahmen [...] unter einer geschlechterbezogenen Perspektive betrachtet[.] Die Durchführung von GM macht transparent, welche Maßnahmen nicht geschlechterneutral sind“ (ebd.).139 Der Text suggeriert, dass die bisherige Frauen- und Mädchenpolitik nur spezifische Themen und Probleme der Frauenbewegung aufgegriffen habe, während nun auf breiter Ebene und wissenschaftlich geprüft gegen Ungleichheit im Geschlechterverhältnis vorgegangen werde. Zudem geht es um Geschlechtsneutralität, d.h. die Geschlechterpolitik beruht auf der Annahme, dass die Dominanz des Einen durch Gleichheit verringert werden könne. Die Neutralität soll effizient – eben nicht politisch vermittelt, sondern organisiert – durchgesetzt werden. Diese Aufgabe wird zu einem „top-down-Verfahren“, das „in alle strukturellen und strategischen Bereiche der Organisations- und Personalentwicklung sowie in die Qualitätssicherung Eingang finden soll“ (ebd., S. 3). Ausgeblendet bleiben die von der Frauen- und Mädchenbewegung eingebrachten Themen androzentrischer Sexualität und Gewalt ebenso wie andere Formen der politischen Aushandlung und die wissenschaftliche Analyse feministischer Theorie. Durch die Verwaltungsvorschrift GM im Kinder- und Jugendhilfeplan sind auch die Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe noch stärker als durch den § 9 Abs. 3 (SGB VIII) an die Implementierung eines ‚geschlechtergerechten‘ Arbeitens gebunden. Spätestens damit ist das Aufgehen der Geschlechterfrage im Regelangebot eingeleitet. Allerdings zeigt ein Blick in die aktuelle Literatur zu Gender Mainstreaming in der Kinder- und Jugendhilfe, dass es in den letzten Jahren still wurde um das Thema. Es wäre jedoch naiv anzunehmen, die Kinder- und Jugendhilfe hätte die Geschlechteregalität abschließend 139  |  „Mit Hilfe der ‚traditionellen‘ Frauen- und Mädchenförder- oder Gleichstellungsmechanismen kann rasch und zielorientiert gehandelt werden; die jeweilige Maßnahme beschränkt sich jedoch auf spezifische Problemstellungen. GM dagegen setzt als Strategie grundlegender und breiter an. Der Ansatz beinhaltet das Potential für eine nachhaltige Veränderung bei den Akteuren und bei allen politischen Prozessen“ (Fricke 2002, S. 3).

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erreicht. Zwar ist das Konzept des Gender Mainstreamings als angestrebtes Ziel in der Kinder- und Jugendhilfe angekommen, jedoch zeigen sich Disziplin und Profession kritisch. Gender Mainstreaming „mäander[e] zwischen symbolischer Politik und tatsächlich angestoßenen Veränderungen“ (vgl. Helming u.a. 2006, S. 18). So hat sich das diagnostische Vorurteil, „Mädchen prostituieren sich, Jungen probieren sich“ (Werthmanns-Reppekus 2008, S.  111), trotz des vorgeschriebenen Gender Mainstreamings bei der Einweisung in die stationäre Jugendhilfe gehalten.140 Während nach der zweiten Frauenbewegung, dem sechsten Kinder- und Jugendbericht und der Diskussion um § 9 Abs. 3 im KJHG die Ausgangsbedingungen für eine geschlechtergerechte Pädagogik zunächst nur in der Logik benachteiligter Frauen und Mädchen gedacht werden konnte, vollzog sich spätestens mit GM ein entscheidender Wandel. Dieser ist jedoch nicht allein auf GM zurückzuführen, insofern sich seit den 1990ern die Jungenpädagogik facettenreich entwickelt hat.

1.3.4 Jungenpädagogik Während in den Anfängen der Jungenpädagogik ein Bezug zwischen „emanzipative[r] Mädchenarbeit“ und „antisexistische[r] Jungenarbeit“ (Hunsicker 2012, S. 72; vgl. Bentheim/Sturzenhecker 2006, S. 154ff.) bestand, entwickelte sich nachfolgend zunehmend ein Diskurs männlicher Benachteiligung – vermeintlich hervorgerufen durch die zunehmende „Feminisierung“ (Rieske 2011, S.  50ff.; vgl. auch Forster 2007 a) insbesondere der Schule. Zunächst erschloss sich kritische Jungen- und Männerarbeit den außerschulischen Bildungsbereich „selbstkritisch“ (Hunsicker 2012, S. 72), also mit Bezug zur Frauenbewegung/Mädchenarbeit, den Selbsterfahrungsversuchen in ‚Frauengruppen‘ und einer Patriarchatskritik. Diese Form der Auseinandersetzung konnte aber kein breites Publikum erreichen.141 Populär wurde die Frage nach einer Pädagogik für Jungen u.a. durch das Buch „Kleine Helden in Not. Jungen auf der Suche nach Männlichkeit“ (1990) von Rainer Neutzling und Dieter Schnack. Diesem Ratgeber folgten einige andere, wie „Söhne erziehen. Wie Väter und Mütter Jungen zu selbstbewussten Männern machen können“ (Eli140  |  Dies gilt vor allem für die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Begründungen von Heimeinweisungen. Insgesamt zeigt sich dennoch eine positive Entwicklung bei der stationären Unterbringung, da die sozialpädagogische Diagnostik der Fachkräfte zunehmend das gesamte Familiensystem und das Umfeld betroffener Kinder und Jugendlicher berücksichtigt (vgl. Forschungsprojekt Jule 2002, S. 46). 141  |  Die Heimvolkshochschule Frille, die vor allem mit ihrem Abschlussbericht „Parteiliche Mädchenarbeit & Antisexistische Jungenarbeit“ (1989) über das Modellprojekt „Was Hänschen nicht lernt ... verändert Clara nimmer mehr!“ bekannt wurde, ist seit 2011 geschlossen.

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um/Elium 1994) oder „Jungen. Was sie vermissen, was sie brauchen“ (Pollack 2001). Auffallend ist aber, dass sich die Fachdiskussion nur bedingt auf die geschlechtertheoretische, die symbolische Ordnung betreffende und die strukturelle Gesellschaftskritik der zweiten Frauenbewegung einließ. So halten Barbara Rendtorff und Edgar Forster noch 2011 fest, „wie wenig die Pädagogik über Jungen und Männer weiß“ (Forster/Rendtorff 2011, S. 8). Dabei wird jedoch übersehen, dass es sehr wohl eine disziplinäre und professionelle Auseinandersetzung mit Jungen und Jungenpädagogik gibt. Diese kann allerdings eher als Reaktion auf die Emanzipationsbestrebungen durch die Mädchenarbeit gesehen werden. Sie reflektiert nicht die hierarchische Dimension des Geschlechterverhältnisses, sondern versucht, die feministische Gesellschaftsanalyse als unwissenschaftlich und ideologisch gegenüber naturwissenschaftlich ‚fundierten‘ Ergebnissen neurophysiologischer und evolutionstheoretischer Studien abzuwerten (vgl. Matzner/Tischner 2008).142 Die Probleme der Jungen in der Schule und im außerschulischen Bereich werden dabei auf eine „defizitäre Männlichkeit“ zurückgeführt, die durch mangelnde männliche Vorbilder beziehungsweise abwesende Väter und eine gleichzeitige „‚weibliche Dominanz‘ innerhalb des kindlichen beziehungsweise adoleszenten Prozesses männlicher Subjektbildung“ (Hunsicker 2012, S.  81) erzeugt werde. So wird zwar Mitte der 1990er Jahre eine geschlechtsspezifische Pädagogik für Jungen gefordert (z. B. durch den Arbeitskreis Jungen, vgl. Hunsicker 2012, S.  81), aber keine „theoriegeleitete Jungenarbeit“ (Behnisch 2004, S. 136) entwickelt. Vielmehr werden in der Jungenarbeit, von jenen, die feministischen oder queeren Interventionen abwehrend und abwertend gegenüberstehen, Konzepte „hegemonialer Männlichkeit“ (vgl. Connell 1999/1995) und Homophobie zur „Selbstvergewisserung“ (Hunsicker 2012, S. 85) genutzt. Gleichzeitig gibt es einen Reflex, Jungen auch in der spezifischen Jungenarbeit oder der allgemeinen pädagogischen Arbeit mit Jungen abzuwerten (vgl. ebd., S. 86). Extreme Beispiele hierfür sind in der Arbeit mit jugendlichen Straftätern zu finden (vgl. Weidner 1995; Trainingscamp Lothar Kannenberg o.J.). Thorsten Hunsickers kritische Darstellung der Jungenpädagogik muss jedoch relativiert werden, insofern Thomas Viola Rieske Jungenpädagogik zwar in der Breite heteronormativ aufgestellt zeigt, allerdings ohne zwangsläufig explizit homophobe Positionen auszumachen (vgl. Rieske 2014, S. 76). Dennoch konstatiert auch Rieske eine „kulturelle Marginalisierung von ‚Unmännlichkeit‘ 142  |  Alexander Bentheim und Benedikt Sturzenhecker (2006) stellen in ihrem geschichtlichen Abriss die Jungenpädagogik – wenn auch eingeschränkt – mit unterschiedlichen Facetten und in Bezug auf feministische Fragestellungen dar. Für die beiden Autoren ist die biologistische Sichtweise in der Jungenarbeit nur eine Perspektive unter anderen, sie verorten sie vor allem in den 1990er Jahren (ebd., S. 156). Die gegenwärtige Literaturlage weist jedoch auf eine andere Entwicklung hin, wie Hunsicker (2012) und mein eigener Überblick zeigen.

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[...], wenn geschlechtliche Grenzgänger*innen nicht mitgedacht werden und die solidarisch-kritische Arbeit mit an hegemonialer Männlichkeit orientierten Jungen im Vordergrund“ (ebd.) stehe. Hunsicker identifiziert in seiner Studie zu „Männlichkeitskonstruktionen in der Jungenarbeit“ (2012) zwei jungenpädagogische Handlungsprinzipien: Die „Intervention“ als „Handlungsmaxime zur Kompensation“ von „defizitärer Männlichkeit“ (ebd., S.  90ff.) und „Initiation“ als „herrschaftsförmige Symbolrepräsentation durch Mentorenschaft“ (ebd., S. 98). Grundlegend für diese und die zuvor genannten Argumentationsmuster der Jungenpädagogik ist die Abwertung weiblicher Positionen, die männliche Privilegien vermeintlich gefährden und eine ambivalente Position gegenüber männlicher Gewalt. So scheint es legitime und illegitime Varianten männlicher Gewalt zu geben. Jungen sollen „bei der Entwicklung einer stabilen, tragfähigen geschlechtlichen Identität [unterstützt werden], damit sich der Wandel der Geschlechterrollen auch für jene Jugendlichen als Option eröffnen kann, die aufgrund von Marginalisierung zunächst den tradierten Rollenmustern folgen“ (Behnisch 2010, 174; Herv.i.O.). In diesem Beispiel aus dem Handbuch Jungenpädagogik (Matzner/Tischner 2010) wird ‚männliche Identität‘ als etwas potentiell Stabiles verstanden und tradierte Rollenmuster als Abweichung durch Marginalisierung gedeutet (vgl. Windheuser 2013, S. 148). Dabei haben die so bezeichneten Verhaltensweisen einen Bezug zu anerkannten Formen von Männlichkeit. Letztere unterliegen zwar einem historischen Wandel, der die Akzeptanz der ‚Frauenemanzipation‘ und ‚Toleranz gegenüber Homosexuellen‘, zumindest in Form von political correctness, einfordert, die hegemoniale Männlichkeit der Gegenwart, an der Spitze des ‚unternehmerischen Selbst‘, ist jedoch „kein Ort von Geschlechtergleichheit. Autorität, heterosexuelle Heirat und die Kontrolle von Emotionen bleiben zentral“ (Connell 2010, S. 22) für diese Position. Die stationäre Erziehungshilfe scheint zwar aufgrund eines Überhangs an Jungen für eine geschlechtertheoretisch geleitete Forschung über und pädagogische Praxis mit Jungen prädestiniert, trotzdem blieb die Heimerziehung weitgehend „von den langjährigen Debatten über die pädagogisch reflektierte Arbeit mit Jungen [...] unberührt“ (Behnisch 2004, S.  132).143 Dieses Phänomen sei an keiner anderen Stelle der Jugendhilfe so anzutreffen (ebd.). Das zeige sich bis in wissenschaftliche Expertisen, in denen sich kein Bemühen um eine Ausgewogenheit der Geschlechter/um eine angemessene Jungenarbeit zu erkennen sei (ebd., Beispiel 11. Kinder- und Jugendbericht). Behnisch interpretiert die Vernachlässigung der Jungenarbeit in der Heimerziehung als Folge ihrer „institutionelle[n] und gesellschaftliche[n] Konstitution“ (ebd.). Damit ist gemeint, dass es einerseits (konfessionell begründete) Geschlechter143  |  Ein entsprechender Mangel wurde bereits zehn Jahre zuvor in den „Materialien zur Heimerziehung“ (IGFH 4/1994) konstatiert.

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trennung und andererseits reformerische Koedukationsbestrebungen gab, die jeweils auf der Annahme basierten, geschlechtsspezifisch beziehungsweise geschlechterreflektiert zu arbeiten (ebd., S. 133f.), obwohl in beiden Fällen nicht von einer „zu adaptierende[n], theoriegeleitete[n] Jungenarbeit“ (ebd., S.  136) gesprochen werden könne. Eher würden tradierte Familienbilder reproduziert, ohne dabei die geschlechtsstereotypen Zuweisungen an Jungen zu thematisieren (ebd., S. 134). Dies kann auch so gelesen werden, dass Mädchen eine dies problematisierende Perspektive gegebenenfalls durch feministische Mädchenarbeit erfahren können, die Jungen damit jedoch nicht konfrontiert werden. Im Umgang mit Krisen wird von stabilisierenden und funktionalen Wirkungen traditioneller Zuschreibungen ausgegangen (ebd., S. 135). Insgesamt geht Behnisch von einem „fehlenden Reformimpuls innerhalb der Heimerziehung [und einem] fehlende[n] gesellschaftliche[n] Impuls“ (ebd., S.  135f. ; Herv.i.O.) aus, womit die fehlende Einsicht in die Notwendigkeit von theoriegeleiteter Jungenpädagogik in der Jungenarbeit und deren Durchsetzung gemeint sind. Dies fehlende Einsicht stünde überdies in Verbindung mit einer generell zu konstatierende „fehlende Durchsetzung fachlicher Standards von Jungenarbeit“ (ebd., S. 136).144 Die mangelnde Angleichung der Jungenpädagogik an die theoretisch wie politisch ausdifferenzierte Mädchenarbeit zeigt sich darüber hinaus im Bereich von jugendlicher Elternschaft: Während Teenagerschwangerschaften ein wichtiges Thema in der stationären Erziehungshilfe sind, bleibt die Vaterschaft von Minderjährigen ein ebenso wenig bearbeitetes Thema wie das vaterlose Aufwachsen der Jungen (vgl. Behnisch 2004, S. 139). Zwar findet sich in einem Aufsatz, der den „erste[n] Versuch eines Fortbildungsangebotes zur antisexistischen Arbeit mit Jungen im Heim“ (Kuchenbecker 1989, S. 92) dokumentiert, ein Bewusstsein für Vaterschaft von Heimbewohnern. Allerdings wird darin auch gleichzeitig festgestellt, dass dies „kein Thema“ für den „Heimalltag“ (ebd., S. 95) sei. Daneben zeigt sich in diesem frühen Text, dass ein antisexistischer Ansatz mit hohem Konfliktpotential für die Professionellen und starken Abwehrreaktionen der beteiligten Männer einherging (vgl. ebd., S. 92, 97f.). Ein gegenüber den geschlechtsspezifischen Positionen kritischer Ansatz entwickelt sich – wenn auch primär außerhalb der Heimerziehung und des 144  |  Ein markantes Beispiel dafür, wie wenig die Erkenntnisse aus der feministischen Theorie und Praxis zum Thema sexueller Gewalt Eingang in die jungenpädagogische Arbeit in der Heimerziehung gefunden haben, zeigt sich bei einer ‚speziellen‘ Heimgruppe für „sexuell traumatisierte und/oder [!, JW] deviante“ (Scholten u.a. 2007, S. 18ff.) Jungen. In besagtem Artikel geht es um die Darstellung eines sexualpädagogischen Konzeptes, wobei die ‚Täter‘- und ‚Opfer‘-Gruppen nicht getrennt werden. Unter anderem wird zur Bearbeitung von Täterschaft mit dem sogenannten „Heißen Stuhl“ (ebd., S. 21) gearbeitet.

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Mainstreams – aus gender/queerpädagogischer Perspektive. Dazu zählen vor allem Fortbildungsprojekte und wissenschaftliche Arbeiten des Berliner Vereins und Forschungsinstituts Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. (www.dissens.de). Während gegenwärtig die ‚Benachteiligung‘ von Jungen in der Öffentlichkeit größtenteils aus den genannten Gründen theoriefern diskutiert wird, soll an dieser Stelle eine andere Problematik aufgezeigt werden. Wie im nächsten Abschnitt deutlich werden wird, war eine notwendigerweise aus einer Mädchen-Perspektive entstandene Geschlechterpädagogik (vgl. 1.2) mit Ausschlüssen belastet, die durch eine additiv hinzugefügte Jungenpädagogik nicht behoben werden können. Dieses Problem zeigt sich bereits in einer geschichtlich bedingten (aber zunächst daraus konsequent erfolgten) Forschungslage.

1.3.5 Vom Wissen um das weibliche Geschlecht: Bisherige Forschung zu Geschlecht in der Heimerziehung Im Folgenden wird die vorliegende Literatur zu Heimerziehung und Geschlecht im Hinblick auf deren Zugriff auf Geschlecht vorgestellt. Sowohl Studien über Geschlecht als Kategorie wie auch über Jungenpädagogik in der Heimerziehung sind rar.145 Hingegen gibt es einige Studien zur Geschichte und Situation von Mädchen in der Heimerziehung. Diese Argumentation begründet keine additive Erforschung von Jungen in der Heimerziehung, sondern fordert dazu auf, Geschlecht als Kategorie zu denken, die Heimerziehung mitstrukturiert und zugleich von dieser beeinflusst wird. Geschlecht ist somit eine Kategorie, die alle Beteiligten betrifft und damit über die Betrachtung eines Geschlechts hinausweisen muss. Im Überblick ergibt sich folgende Entwicklung: Seit den 1980er und 1990er Jahren erschienen unter dem Einfluss der Frauenbewegung auf die pädagogische Praxis in Form von Mädchenhäusern einzelne Studien zur besonderen Situation von Mädchen in der Heimerziehung.146 Die meisten Studien arbeiteten biographieanalytisch mit Studienteilnehmerinnen, die zur Zeit der Studie noch im Heim lebten oder einen Heimaufenthalt hinter sich hatten. Antje Reinhard und Barbara Weiler (2003) gaben zudem eine gemeinsame Darstellung der Lebenssituation von Mädchen im Heim heraus, die jedoch ins145 | Zwar gibt es Studien, die explizit über ‚männliche Jugendliche‘ forschen, sich dabei aber nicht mit der Dimension des Geschlechtlichen auseinandersetzen (vgl. bspw. Deniz 2001). 146 | Dazu zählen die Arbeiten von Marianne Kieper (1980), Luise Hartwig (1990, 2001, 2002), Luise Hartwig und Martina Kriener (2002), Luise Hartwig und Christine Kugler (2010), Sabine Pankofer (1997), Claudia Schmidt (2002), Margarete Finkel (2004) und Julia Fontana (2007).

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besondere auf der geschlechtertheoretischen Ebene wenig differenziert ausfiel. Claudia Schmidt (2002), Annette Lützke (2002) und Julia Fontana (2007) untersuchten die Geschichte der Mädchenheimerziehung im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert beziehungsweise in der jungen Bundesrepublik.147 Im Jahr 2011 erschien zudem von Christina Bommer und Matthias Moch ein Aufsatz zu „Mädchen nach der Heimerziehung“, in dem die Maßnahmenbewertung durch ehemalige Bewohnerinnen von Heimeinrichtungen und die daran anschließenden Inklusionschancen evaluiert wurden. Die besondere Situation von Mädchen in der Erziehungshilfe ist auch in Maren Zellers (2012) Dissertation ein Ausgangspunkt zur Untersuchung von Bildungsprozessen. Im Ergebnis erfährt Geschlecht dort eine Relevanz als Kategorie neben anderen (vgl. ebd., S. 72). Im neuen Jahrtausend wird die Differenz gegenüber der Situation von Jungen konstatiert. Wie Finkel festhält, sei „verfügbares Wissen über Lebenslagen von [...] Jungen [in den Erziehungshilfen] quasi nicht vorhanden“ (Finkel 2004, S. 20). Dennoch kommt es zu keiner Untersuchung von Jungen im Heim oder über das Geschlechterverhältnis. Während Finkels Dissertation die Frage nach Mädchen in der Heimerziehung anhand von 15 Interviews verfolgt, die im Rahmen der groß angelegten Evaluationsstudie „Leistungen und Grenzen von Heimerziehung“ (Forschungsprojekt JULE 1998)148 des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend erhoben wurden, beschäftigte sich niemand mit der Frage nach den Jungen oder nach Geschlecht überhaupt innerhalb des umfangreichen Datensatzes. Nachdem die allgemeine Pädagogik androzentrisch ausgerichtet war (vgl. Rendtorff/Moser 1999), war es zunächst notwendig, die ausgeblendeten Lebensbereiche von Mädchen zu untersuchen. Diese Arbeit ist auch nicht abschließbar und weiterhin zu leisten, weil sich Geschlechterverhältnisse immer neu ausdrücken können. Um dem Allgemeinen jedoch den androzentrischen Charakter zu nehmen, ist eine Untersuchung des Männlichen im Androzentrischen und eine Untersuchung des Geschlechterverhältnisses unter Berücksichtigung des darin Ausgeschlossenen notwendig. Dabei betrifft das Ausge147 | Ergänzend zu den bundesrepublikanischen Studien sind noch die historischen Arbeiten von Sabine Jenzer (2014) über weibliche Prostituierte in Erziehungsanstalten und von Ursula Hochuli Freund (1999) über Heimerziehung von Mädchen zu nennen, die sich auf die deutschsprachige Schweiz im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert beziehen. Hochuli Freund nimmt explizit eine differenzfeministische Position ein und kommt für diese Region zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich weiblicher Sexualität (als Abweichung) und des Umgangs mit Homosexualität bis weit in die zweite Hälfte der 20. Jahrhunderts wie die vorliegende Arbeit. 148  |  Das Forschungsprojekt Jule (2002/1998) untersuchte evaluierend durch Aktenanalysen und die Befragung von Heimbewohnenden die Leistungen und Grenzen stationärer und teilstationärer Erziehungshilfen.

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schlossene nicht allein das Weibliche, sondern ebenso die Formierungen von Geschlecht und Sexualität, die stereotype und heterosexistische Positionen infrage stellen. Robert W. [Raewyn] Connells Arbeiten zu „Hegemonialer Männlichkeit“ (1999/1995), die postkoloniale Kritik am weißen Feminismus (hooks 1997), die poststrukturalistische Wende in der feministischen Theoriebildung (Butler 1991/1989) und deren kritische Diskussion (Soiland 2013) haben diese Problematik deutlich gemacht. In die Studien zur Heimerziehung sind diese Perspektiven allerdings bisher nicht eingegangen.149 Aus der Fokussierung auf Mädchen lässt sich jedoch bereits einiges über die Bedeutungszuschreibungen an die Kategorie Geschlecht im Heim aussagen. Luise Hartwig und Martina Kriener gehen davon aus, dass sich Indikation und stationäre Erziehung von Mädchen in den regulären Erziehungshilfen bis in die 1990er Jahre an traditionellen Frauen- und Mutterbildern orientierten (vgl. Kriener/Hartwig 1997). Zudem würden Problemlagen, die typische Rollenerwartungen überschritten, nicht wahrgenommen (vgl. ebd., S.198). Gemeinsam mit einem ‚blinden Fleck‘ bezüglich ausbeuterischen Familienverhältnissen und einer gleichzeitigen ‚Familienorientierung‘ der Jugendhilfe führe dies zu dem sogenannten ‚stillen Leiden‘ der Mädchen (vgl. ebd., S. 199). Nicht zuletzt trage eine unreflektierte Koedukation zu mangelnder Qualität in der stationären Erziehung von Mädchen bei, wenn die Probleme von Sexismus und struktureller Benachteiligung nicht angegangen würden (vgl. ebd., S. 200). Die koedukativen stationären Erziehungshilfen reagierten auf diesen Missstand durch mädchenspezifische Angebote – übersehen wurde allerdings, dass gleichzeitig eine „Veränderung des Geschlechterverhältnisses“ (ebd., S. 201) durch entsprechende Jungenarbeit erfolgen müsse. Nachdem Gender Mainstreaming in der Kinder- und Jugendhilfe seit dem Jahr 2000, wie zuvor beschrieben, politisch gefordert und durchgesetzt wurde, füllten sich die Fachzeitschriften mit Artikeln und Untersuchungsergebnissen zu Gender Mainstreaming und Gender in der Kinder- und Jugendhilfe. In den letzten Jahren jedoch nahm die Anzahl der Veröffentlichungen wieder ab. Einen guten Überblick über die Forschungslage bis 2004 bietet Kirsten Bruhns, die vor allem den Mangel konstatiert, dass es keinen gemeinsamen Diskurs von Mädchen- und Jungenarbeit gebe (Bruhns 2004, S. 14). Darüber hinaus überwögen programmatische Diskussionen gegenüber der analysierenden Forschung (ebd., S.  16). Insgesamt konstatiert Bruhns einen Mangel an Geschlecht thematisierender, vertiefender, qualitativer Forschung zur Lebens149 | Wenn auch allein auf Mädchen bezogen, geht Nicole von Langsdorffs (2012) Dissertation „Mädchen auf ihrem Weg in die Jugendhilfe“ darüber hinaus, indem sie eine intersektionale Perspektive einnimmt. An diesem Beispiel lässt sich jedoch wieder zeigen, dass der Forschungsstand eine Geschlecht untersuchende Perspektive verengt, wenn Geschlecht mit Mädchen gleichgesetzt wird.

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situation der Empfänger/innen von Jugendhilfe aus (ebd., S. 22, 39). Seit ihrem Resümee scheint sich nicht viel verändert zu haben, wie Ulrike WerthmannsReppekus (2008) zeigt. Während die Studien zu Mädchen in der Heimerziehung in den 1980er und 1990er Jahren primär die strukturellen wie individuellen Gewaltverhältnisse im Blick hatten, verstand Finkel Geschlecht im Anschluss an Helga Kelle als „Diskursphänomen“ (Finkel 2004, S. 16), das sich sowohl im interaktiven individuellen Handeln der untersuchten Personen zeige als auch in der Struktur der sozialen Welt, mit der sie konfrontiert seien. Diese theoretische Verortung weist auf einen Wandel im empirischen wie geschlechtertheoretischen Denken hin, insofern diskursanalytische beziehungsweise diskurstheoretische Studien in der erziehungswissenschaftlichen Forschung zunehmen. Zusammenfassend gibt es nur wenig aktuelle empirische Forschung zu Geschlecht in der stationären Jugendhilfe, aber einige Studien, die vor allem anhand von Interviewverfahren die Situation von Mädchen untersuchen. Über diese konkreten Forschungsarbeiten zu Mädchen in der Heimerziehung hinaus zeigt sich, dass das Regelangebot mit feministischer Forschung und entsprechenden Forderungen konfrontiert wurde. In Form des § 9 Abs. 3 (SGB VIII) kam es sogar zu der gesetzlichen Verpflichtung, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen. Dennoch kann nicht von einem Querschnittsthema ‚Geschlecht in der Heimerziehung‘ ausgegangen werden. Die Literaturübersicht von Manfred Busch (1995, S.  240ff.) zum KJHG zeigt, dass sich Mitte der 1990er Jahre, wenn überhaupt, nur auf Mädchen und zwar in einem zweigeschlechtlichen Sinne bezogen wird. Feministische Literatur findet dabei nur teilweise Berücksichtigung. Darstellungen über die allgemeine Entwicklung der Heimerziehung aus den 1990er Jahren greifen die Kategorie Geschlecht nur im Sinne der ‚Zielgruppe Mädchen‘ neben anderen Zielgruppen auf, ohne jedoch Jungen als ebensolche Zielgruppe zu verstehen (bspw. Birtsch 1995; Kluge 1995; Stahlmann 1994). Ein einschlägiges Werk wie das Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa (1999) enthält keinen eigenständigen Artikel zum Thema Geschlecht. In ihm wird allerdings der Beruf der Heimerzieherin als „Frauenberuf“ thematisiert.150 In dem Artikel über Familien-Ideologien151 wird Geschlecht gar nicht thematisiert. Ein ähnliches Bild spiegelt sich auch in Resümees der Gegenwart, insofern nunmehr zwar ein Bewusstsein für den Mangel an jungenspezifischem Wissen 150 | Sabine Herrenbrück (1999): Heimerzieherin: ein Frauenberuf. Der Artikel beschränkt sich auf die Feststellung, dass es vor allem Frauen sind, die im Heim arbeiten und damit den Berufsbelastungen in diesem Bereich besonders ausgeliefert sind. Die Beobachtung wird jedoch nicht geschlechtertheoretisch in den Blick genommen. 151 | Doris Bühler-Niederberger (1999): Familien-Ideologie und Konstruktion von Lebensgemeinschaften in der Heimerziehung.

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vorhanden ist, Geschlecht aber weiterhin entweder nicht oder ‚nur‘ als weibliches Geschlecht betrachtet wird (vgl. Hartwig 2012). Während sich die Studien der 1990er Jahre zur Situation von Mädchen in der Heimerziehung sehr wohl den Themen Sexualität und sexuellem Missbrauch zuwenden – wenn auch mit dem Fokus auf Unterdrückungsverhältnisse und weniger bezogen auf Optionen einer anderen Sexualität – bleibt Sexualität bezogen auf die Heimerziehung überhaupt ein schwammiges Feld. Repräsentativ dafür kann ein Standardwerk zu „Praxis und Methoden der Heimerziehung“ (Günder 2015, 5. Aufl.) angesehen werden: Sexualität wird offen thematisiert. Es mangelt jedoch an Daten über die pädagogischen Konzepte, Praktiken und Restriktionen bezüglich Sexualität in der Heimerziehung. Stattdessen werden einzelnen (Negativ-)Beispielen aus der Praxis normative Vorgaben darüber, wie Sexualpädagogik im Heim aussehen sollte, gegenübergestellt (vgl. ebd., S.  295ff.).152 Geschlecht wird bei Günder (ebd.) in einzelnen Aspekten auch als geschlechtsspezifische Erziehung, aufgegriffen, aber nicht in seiner strukturellen Bedeutung untersucht. Sexualität scheint in der Heimerziehung zwischen einer Tabuisierung (vgl. Hofsäss 2000, S.  8) oder ihrer Betrachtung als abweichendem Verhalten zu schwanken. Reinhard und Weiler (2003) stellen in einer von ihnen herausgegebenen Studie über Mädchen im Heim fest, dass „Sexualität und sexuelle Erlebnisse allgemein, [...] auch sexuelle Missbrauchserfahrungen“ einer „Sprachlosigkeit“ (Reinhard/ Weiner 2003, S.  98) unterliegen. „[L]ediglich in den Bereichen Schwangerschaftsverhütung, Schwangerschaft, AIDS und Beziehungen zu Jungen und Männern“ (ebd.) käme es zu Gesprächen mit den Bewohnerinnen. Dies deutet auf eine Reduktion von Sexualität auf ihre Fortpflanzungsfunktion im heterosexuellen Rahmen und die von ihr potentiell ausgehenden Gefahren hin. Eine neue Aufmerksamkeit hat das Thema Sexualität erst durch die aufgedeckten Skandale zu sexueller Gewalt in stationären pädagogischen Einrichtungen seit 2010 erfahren, allerdings weiterhin im Zusammenhang mit dem notwendigen Schutz vor sexueller Gewalt und nicht in einem sexualitätsbejahenden Sinne.153 Allerdings zeigt Dominik Mantey (2017) in seiner Befragung von jugendlichen Heimbewohner/innen, dass diese sehr wohl (vor allem in informellen Settings) Sexualität auch im Gespräch mit den Erziehenden thematisieren. Je152  |  Das Paritätische Bildungswerk RLP/Saarland e.V. veröffentlichte 2003 eine Broschüre unter dem Titel „Sexualpädagogische Jungenarbeit in der Heimerziehung“, die zwar die Geschichte der Heimerziehung und die Grundlagen von Jungenarbeit und Sexualpädagogik erläutert, aber auch hier wird nicht geklärt, wie es denn konkret um das Thema Sexualität in der Heimerziehung steht. 153 | Hier sei erneut auf die gegenwärtige Tendenz, Kinder vor sexuellen Übergriffen zu schützen verwiesen, die notwendig ist, aber zuungunsten einer sexualitätsfördernden Haltung verläuft (vgl. Sager 2010).

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doch trifft auch auf Manteys Studie eine mangelnde Auseinandersetzung mit der Geschlechterordnung und ihrer Geschichte zu. Insgesamt zeigt sich, dass die Erforschung von Geschlecht in der Heimerziehung weiterhin ein Desiderat darstellt und insbesondere die Situation von Jungen und das Thema Sexualität unterbelichtet sind. Die Einbettung der Erforschung von Heimerziehung in feministische Theorie wurde im Laufe der Jahre weniger, diese Entwicklung korrespondiert mit einem generellen Rückgang der Erforschung von Geschlecht in der Heimerziehung. Diese Entwicklung im Bereich der Forschung fällt zeitlich mit der staatspolitischen Integration ehemals feministischer Forderungen zusammen. Vor diesem Hintergrund kann von einer widersprüchlichen Thematisierung und Dethematisierung gesprochen werden, insofern Anti-Diskriminierungspolitiken Geschlecht entdramatisieren, zugleich aber Neutralisierungen von Geschlecht (insbesondere in der Forschung) neue Verdeckungszusammenhänge154 schaffen.

1.3.6 Geschlechter- und familienpolitische Bedingungen Nachdem in den anderen beiden Zäsuren die Bedeutung der ersten und zweiten Frauenbewegung für die Veränderungen Sozialer Arbeit und der Heimerziehung hervorgehoben wurden, wurde in der letzten Zäsur eine Veränderung in der gesellschaftlichen Verortung von feministischer oder geschlechterbezogener Politik betont. Das drückt sich in der ‚Verstaatlichung‘ von Interessen zuvor durch soziale Bewegungen initiierter Prozesse aus. Zwar wurden bereits mit der Verrechtlichung frauenbewegter Forderungen in Form des Frauenwahlrechtes (1919) oder der freien Berufswahl für Frauen (1977) solche Forderungen staatlich umgesetzt. Die aktive Aneignung von Interessen aus den Kontexten von Frauen- Homosexuellen- und Transsexuellenbewegungen, wie sie sich in der Gleichstellungspolitik (AGG), im Elternzeitgesetz oder in Managing-Diversity-Programmen ausdrückt, hat aber eine neue Qualität.155 Interessant ist dabei die Beobachtung, dass sich die staatlichen Institutionen, während in der Gender-Theorie über kulturelle und linguistische Zuschreibungen diskutiert wurde, Fragen der Verteilung und des Diversity Managements annahmen und damit materielle Fakten schufen. Die staatlichen Interventionen in die Gestaltung von Partnerschaft, Familie, Erziehung, Bildung und Antidiskriminierungspraktiken professionalisieren den zuvor ‚privat‘ zu bewältigenden Umgang mit Ungleichheit und 154 | Vgl. zum Begriff des Verdeckungszusammenhangs Bitzan 2000. 155 | Tove Soiland führt diese Entwicklungen darauf zurück, dass enthistorisierte und den strukturellen Ungleichheiten entledigte Theorien einer poststrukturalistischen, flexiblen Geschlechtsidentität „bestens in die Erfordernisse spätkapitalistischer Produktion“ passen, „ja dieser am ehesten entspricht“ (Soiland 2011).

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Diskriminierung. Das heißt weder, dass dieser zuvor eine private Angelegenheit gewesen sei, noch, dass er unpolitisch gewesen sei. Eher ist das Gegenteil der Fall und zwar insoweit autonome, zivilgesellschaftliche Zusammenhänge (beispielsweise NGOs oder Netzwerke von diversen Gruppierungen) auf strukturelle Ausschlüsse aufmerksam machten und sich für deren Beseitigung einsetzten. Beispielsweise erlangte Erziehung einen öffentlichen und politischen Status durch die Kinderladenbewegung und die Frage der Kinderbetreuung, indem sie nicht mehr auf die Bereiche der Privatwohnung und der Partnerschaft begrenzt wurden. Für die gegenwärtige Gestaltung von Familien-, Geschlechter- und Bildungspolitik können einige Schlaglichter auf staatspolitische Maßnahmen geworfen werden, um zu verdeutlichen, warum vorerst als ‚staatliche Verantwortungsübernahme‘ (vgl. Windheuser 2014, S.  212) zu verstehende Veränderungen mit einem Wandel in der Frauenbewegung zusammenhängen. Die entscheidenden Schritte sind die Einführung des Elterngeldes (2007), die Implementierung eines Kinderbetreuungsanspruches ab dem ersten Lebensjahr (Kinderförderungsgesetz 2008), die Akzentsetzung einer ‚Frühkindlichen Bildung‘ (vgl. Reyer/Franke-Meyer 2010, S. 729ff.) und die Weiterentwicklung des Kinderschutzes (z. B. in Form der verpflichtenden medizinischen Kinderuntersuchungen, vgl. Bollig u.a. 2012, S. 219). In allen Fällen übernimmt der Staat eine organisatorische und kontrollierende Funktion und gestaltet über diesen Weg, wer wie und wann Kinder betreut, erzieht und bildet.156 Während bis in die 1990er Jahre in der Bundesrepublik davon ausgegangen wurde, dass Kleinkindbetreuung außerhalb der Familie geradezu schädlich für die kindliche Entwicklung sei (vgl. Vinken 2011, S. 51), hat sich dies heute grundlegend geändert.157 Die Kindertagesstätte wird vor allem für diejenigen Kinder als Bildungsort angesehen, deren familiäre Umgebung als ‚nicht förderlich‘ betrachtet wird. Im Blick sind dabei vor allem Kinder mit Migrationshintergrund (vgl. Spiewak 2010). Mit zunehmendem Bewusstsein für das ‚brachliegende‘ weibliche Humankapital und die Kinderlosigkeit von Akademikerinnen (deren Nachwuchs noch mehr Rendite verspricht) wird die auf berufliche Karriere bezogene Gleichstellung von Frauen zur Staatsaufgabe. Das staatspolitische Engagement geht mit einem veränderten Verhältnis zur Frauenbewegung einher. Die zweite Frauenbewegung wird teils als frü156  |  Die Kontrolle richtet sich dabei primär auf Eltern in prekären Lebenslagen, „wobei sich die politische und mediale Beobachtung auf das individuelle Verhalten konzentriert“ (Andresen 2013, S. 26). 157 | Zumindest aus staatlicher und disziplinärer Perspektive hat sich dies geändert, der Förderung von außerhäuslicher Betreuung ab dem Kleinkindalter stehen freilich weiterhin die Proteste insbesondere christlich-fundamentalistischer und rechts-konservativer Gruppen entgegen.

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heren Bedingungen angemessen, gegenwärtig jedoch geschichtlich überholt dargestellt, teils abgewertet beziehungsweise in ihren Interessen negiert. Die Akteure dieses Prozesses finden sich sowohl auf staatspolitischer wie populärkultureller Seite (vgl. Klaus 2008, S. 176ff.; vgl. auch Hark 2005).158 An die Stelle einer sichtbar progressiven Frauenbewegung ist in der öffentlichen Wahrnehmung eine erstarkte ‚Frauenlobby‘ getreten, die auch als eine neue konservative Frauenbewegung beschrieben werden könnte. Allerdings erscheint der Begriff Lobby im Sinne einer Interessenvertretung, und zwar von Interessen bereits Privilegierter, zutreffender. Das drückt sich beispielsweise in der Einführung eines Elterngelds aus, das gutverdienende Frauen ‚belohnt‘ und ALG-II-Empfängerinnen für das Kinderkriegen finanziell ‚bestraft‘. Die Bezeichnung ‚Frauenlobby‘ steht für eine Politik, die gut ausgebildete Frauen mit hohem Einkommen in der Erwerbsarbeit halten will und sich für eine Frauenquote in Führungspositionen einsetzt. Beispiele für eine solche Politik sind die bereits genannte Demografiestrategie (2012) der Bundesregierung oder der Verein „Frauen in die Aufsichtsräte e.V.“ (FiDAR o.J.). Hingegen werden die Bestrebungen der zweiten Frauenbewegung mit kapitalismuskritischen Inhalten ignoriert, zudem werden Gruppen (entgegen der offiziellen Gleichstellungspolitik), die sich für sexuelle Vielfalt einsetzen, diffamiert (vgl. Gesellschaft für Sexualpädagogik 2014). Damit kann Angela McRobbies Darstellung einer humankapitalistischen liberalen Politik im Zusammenspiel mit einer normierenden „media governmentality“ (McRobbie 2013, S. 140) im reality TV um zwei Aspekte ergänzt werden: Eine humankapitalistische Staatspolitik ist nicht nur offen gegenüber jedem Rendite versprechenden Humankapital, sondern sie schafft durch Antidiskriminierungspolitik Bedingungen, die verhindern, dass dieses ungenutzt bleibt. Zudem werden Normierungen von angemessenen Lebensweisen im Sinne einer optimalen Ausnutzung des individuellen Humankapitals nicht allein über sogenannte ‚Unterschichts-Medien‘ verbreitet. Das humankapitalistische Ideal von Familie, Elternschaft und Vereinbarkeit ist Gegenstand staatlich betriebener Wissensproduktion159, der Gesetzgebung und agendabestimmender Medien wie Einzelpersonen. Elisabeth Klaus‘ Gegenwartsdiagnose zeigt auf diskursiver Ebene die Gleichzeitigkeit von konservativem Antife158 | Eine Mischform von populärem ‚Sachbuch‘ und politischer Streitschrift lieferte die ehemalige Familienministerien Kristina Schröder mit ihrem antifeministischen Titel „Danke, emanzipiert sind wir selber“ (mit Waldeck 2012). 159  |  Vgl. beispielsweise BMFSFJ 2011, 2011a und 2015 zu Vaterschaft und Elternzeit. Wie bei vielen anderen bevölkerungspolitischen und ökonomischen Analysen und Prognosen ist in den letzten beiden Publikationen die PROGNOS AG verantwortlich für die gelieferten Daten. PROGNOS wird seit Ende der 1950er Jahre von verschiedenen deutschen Ministerien als Beratung in Anspruch genommen (vgl. www.prognos.com).

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minismus und feministischem Konservatismus (vgl. Klaus 2008). Letzterer ist bedeutsam, weil er sich durch ein Elitedenken und Aufwärtsstreben von Frauen im gegebenen Wirtschaftssystem auszeichnet, ohne die gesellschaftspolitische und strukturelle Dimension zu berücksichtigen (ebd., S. 176). Für die stationäre Jugendhilfe bedeuten diese Veränderungen, dass sich die Geschlechterfrage von der Frage sozioökonomischer, struktureller Ungleichheit abgekoppelt hat. Unter den genannten Bedingungen bleibt offen, inwiefern die Themen und Probleme in der stationären Jugendhilfe mit dieser neokonservativ geprägten (anti)feministischen Diskussion noch in Verbindung gebracht werden können.

1.3.7 Transformationen von Geschlecht und stationärer Jugendhilfe im Neoliberalismus Die letzte Zäsur ist von widersprüchlichen Transformationen gekennzeichnet, die in einer gleichzeitigen Radikalisierung der politischen Agenda Ausdruck gewinnen. Diese politischen Interventionen sind keineswegs losgelöst voneinander, sondern greifen ineinander. Ausgehend von der eingeführten feministisch-genealogische Perspektive, wird deutlich, wie es zu einer Teilhabe von Frauen an der bestehenden Ordnung kommt. Dabei kommt es auch zu einer Erschütterung männlicher Rollenmodelle, insofern beispielsweise auch Väter als aktiv Pflegende und Erziehende adressiert werden. Jedoch erfolgen die Öffnungen im öffentlichen wie im privaten Bereich unter einer fortbestehenden Sphärentrennung. Das mag erstaunen, da zuvor darauf aufmerksam gemacht wurde, dass und wie die humankapitalistische Prämisse alle Lebensbereiche umfasst (vgl. 1.3.1). Es bleibt jedoch bei dieser Trennung, insofern es keinen Wandel in der Wertigkeit und Form von Aufgaben und Arbeit gibt. Der eine Maßstab bleibt, was sich in der unterschiedlichen Entlohnung von produktiven und reproduktiven Tätigkeiten zeigt.160 Zudem wird versucht, die infolge 160   |  Damit wird nicht etwa einfach der Forderung „Lohn für Hausarbeit“ (Bock 1976) nachgegeben, sondern es kommt zu einer partiellen monetären Berücksichtigung von Sorgearbeit (z. B. durch Elterngeld), ohne der Kapitalismuskritik und der Kritik an dem problematischen Verhältnis von Öffentlichem/Privatem der zweiten Frauenbewegung Aufmerksamkeit zu schenken. Vielmehr stellt gerade das Elterngeld eine Anreizstrategie dar, sich in die bestehende Arbeits- und Wirtschaftskultur einzugliedern. Die fortbestehenden berufsabhängigen Lohnunterschiede belegen ebenso die fortgesetzte Abwertung von Sorgearbeit. 2017 veröffentlichte die OECD eine Studie unter dem Titel „Dare to Share – Deutschlands Weg zur Partnerschaftlichkeit in Familie und Beruf“ (OECD 2017), in der eine starke Veränderung der Einstellung zu Erwerbstätigkeit von Müttern kleiner Kinder und der Beteiligung von Vätern an der Kindererziehung und -betreuung nachgewiesen wurde. Die veränderte Einstellung hat der Studie nach jedoch bezüglich der tatsächlichen Aufteilung von bezahlter und un-

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weiblicher Berufstätigkeit entstehenden Sorgelücken durch eine Standardisierung des reproduktiven Bereichs nach dem Vorbild der produktiven Sphäre zu schließen (vgl. dazu Kohlmorgen 2004, Lutz 2010).161 Diese gegenwärtigen Bedingungen sind für die Heimerziehung zweifach relevant: Erstens für die in den Einrichtungen als ‚Sorgearbeiter/innen‘ Tätigen, da sie, wenngleich anders gerahmt, weiterhin mit Zeitmangel und divergierenden Ansprüchen von Form und Inhalt ihrer Arbeit konfrontiert sind. Zweitens ergibt sich eine Relevanz für die dort Lebenden, weil die Konfiguration von Geschlecht und Ökonomie auch die (bewusste und unbewusste) geschlechterpädagogische Ausrichtung der Einrichtungen bedingt. Zentrales Moment ist das erneute Abreißen einer feministischen Genealogie, scheint ihr doch mutmaßlich durch die Gleichstellungspolitik ihre Berechtigung abhanden gekommen. Unter diesen Bedingungen lassen sich vier Transformationen beziehungsweise Stagnationen in der letzten Zäsur identifizieren: Erstens lässt sich mit den rechtlichen und institutionellen Änderungen eine Liberalisierung gegenüber den Repressionen vor der zweiten Frauenbewegung und der Heimkampagne ausmachen. Es geht nicht mehr darum, Frauen in ihrer Beruflichkeit und Erwerbsarbeit zugunsten des ‚Ernährermodells‘ einzuschränken und die öffentliche Erziehung auf die Problemfälle zu begrenzen. Stattdessen etablieren sich Mädchenförderung und öffentliche Kinderbetreuung (vgl. 1.3.2; KiFöG (2013): Betreuungsanspruch ab dem ersten Lebensjahr und SGB VIII (1996): Betreuungsanspruch ab dem dritten Lebensjahr). Zudem werden in Form des Elterngeldes finanzielle Anreize geschaffen, vor der Geburt von Kindern ein hohes Einkommen zu erzielen und nach dem ersten Lebensjahr von Kindern nicht die Hausfrauenrolle einzunehmen. Die Förderung von Frauen ist teils klassenspezifisch gebrochen, was sich in der einkommensspezifischen Verteilung der monetären Förderung zeigt. Dieser Veränderung im geschlechtlichen steht ein Wandel im generationalen Verhältnis zur bezahlter Arbeit wenig geändert. Die Argumentation der OECD bezüglich der Vorteile einer partnerschaftlichen Aufgabenteilung verläuft dabei zweigleisig: Erstens wird der individuelle (familiäre) Vorteil betont (sie verhelfe zu wichtigen sozialen „Güter[n]“, ebd., S. 14), zweitens ist ein zentrales Interesse der Studie, nachzuweisen, dass sich „Partnerschaftlichkeit auszahlt“ und zwar nicht nur für die einzelnen Familien, sondern für den Staat, insbesondere im Hinblick auf die demographische Entwicklung, d.h. in Form einer „Stützung der Geburtenraten“ (ebd., S. 19). 161  |  Am Beispiel von Pflege und Kinderbetreuung in Privathaushalten zeigt sich, wie auf alte Modelle ‚unsichtbarer‘ weiblicher Arbeit zurückgegriffen wird, weil Sorgearbeit und rationalisierte Arbeitsformen nicht passförmig sind. Die Folge ist die Ausbeutung vor allem weiblicher Arbeitskräfte ohne deutschen Pass, die nicht sozialversichert, ohne Wissen der Behörden und rund um die Uhr beschäftigt werden (vgl. Lutz 2010, Farris 2011). Vgl. zur „Rationalisierungsresistenz der Sorge- und Reproduktionstätigkeiten“ auch Dörre (2013, S. 83).

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Seite: Für die Heimerziehung ergibt sich die Liberalisierung aus dem KJHG und dem darin manifestierten Paradigmenwechsel hin zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. Diese Liberalisierungen sind allerdings an verdeckte Zwänge gekoppelt, die sich aus dem neoliberalen beziehungsweise humankapitalistischen Wandel ergeben. So stehen die Änderungen in der Gleichstellung- und Familienpolitik im Zusammenhang mit biopolitischen Überlegungen, die in der Demografiestrategie der Bundesregierung ebenso zu finden sind wie in der Intention des KJHG, Abtreibungen zu verhindern. Daneben sind es die neuen repressiven Seiten des Sozialinvestitionsstaates, die ökonomische Zwänge produzieren. Dies drückt sich in der Verlagerung von Verantwortung auf das Individuum aus und der Verteilung von Chancen statt materiellen Ressourcen. Zweitens stehen gesellschaftliche Liberalisierung und Konservatismus heute scheinbar unzusammenhängend nebeneinander. Die Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik bringt antifeministische Kräfte und ‚Elite-Feministinnen‘ (vgl. Klaus 2008) hervor, die einerseits eine Rückbesinnung auf die traditionelle Familie und benachteiligte Jungen und Männer problematisieren, andererseits eine Förderung von Frauen aus ohnehin schon privilegierten Kreisen unter Ausblendung der ökonomischen Verhältnisse vorantreiben. In diesem Kontext vermischen sich wissenschaftliche und politische Einflussnahme mit populärkulturellen Darstellungen.162 In der (stationären) Jugendhilfe drücken sich diese konservativen Kräfte im Backlash einer Feminisierungskritik durch Jungenpädagogen aus und in der Skandalisierung krimineller Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Während affirmativ ein liberaler Umgang mit Sexualität eingefordert wird, gibt es kaum Literatur zur Lage in der Heimerziehung oder Arbeiten über Tabuisierungen von Sexualität und sexualitätsbezogenen Problemen, wie beispielsweise von Prostitution.163

162   |  Beispiele für eine Allianz zwischen politischen Maskulinisten und Wissenschaftlern finden sich beim antifeministischen „Männerkongress“ (u.a. 2010 – maennerkongress2010.de); für die Rückbesinnung auf traditionelle Familien- und Geschlechterverhältnisse stehen die Bücher der ehemaligen Tagesschaumoderatorin Eva Herrmann (vgl. Klaus 2008) und der nordrheinwestfälische Elternverein (elternverein-nrw.de); als Beispiel für die Förderung von weiblicher Elite kann die Diskussion um die Frauenquote in Aufsichtsräten herangezogen werden. 163  | Zwar wird Prostitution vor allem von Mädchen in den Studien aufgeführt, jedoch gibt es keine Arbeit, die sich diesem Thema für die stationäre Jugendhilfe geschlechtertheoretisch noch einmal widmet. Bereits ältere Arbeiten problematisieren eher den Mangel an spezifischeren Untersuchungen zu diesem Thema und die vorurteilsbelastete geschlechtsspezifische Einweisungspraxis (vgl. Forum Erziehungshilfe 2/1999, Kluge 1991, Hartwig/ Kriener 2004, S. 50f.). Die Prostitution von Jungen bleibt ein – nicht nur – für die stationäre

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Drittens wird das Verhältnis von Erziehung und Bildung über die Naturalisierung des Marktes gestaltet. Freiheit und Individualisierung sind nur legitim unter der Voraussetzung, dass sie als wirtschaftliche Freiheit und Selbstoptimierung umgesetzt werden. Bildung hat demnach nicht zur Aufgabe, ein Bewusstsein über die Verhältnisse zu verschaffen, auf deren Grundlage Teilhabe und Mitgestaltung stattfinden können. Sie wird in Form von Humankapital auf Kompetenz reduziert, die Teilhabe am Markt ermöglichen soll. Vordergründig wird der Erziehung ihre repressive Seite entzogen, zugleich werden durch eine ‚Erziehung‘, die nicht als solche benannt wird, neue Gesetzlichkeiten des Neoliberalismus vermittelt. Ohne die Internalisierung des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) kann die gegenwärtige politisch-ökonomische Konstellation weder die Naturalisierung des Marktes noch dessen Umsetzung aufrechterhalten. Freiheit und Zwang stehen darin in einem verwobenen und undurchsichtigen Verhältnis. Die (stationäre) Jugendhilfe ist sowohl integraler als auch ausgeschlossener Teil des Systems, indem sie einerseits den auf Kompetenz reduzierten schulischen Bildungsbegriff, der das Spezielle der Berufsfähigkeit zum Allgemeinen erhebt, teilt, andererseits aber zu den Sozialausgaben gehört, derer sich der neoliberale Staat zu entledigen sucht. Viertens drückt sich insbesondere in der Differenz zwischen Mädchenarbeit und feministischer Theorie gegenüber den biologistischen und konservativen Tendenzen in der Jungenpädagogik und -forschung die Widersprüchlichkeit im Geschlechterverhältnis und -verständnis der Gegenwart aus. Während in der feministischen Theorie sowie in der feministischen politischen und pädagogischen Praxis ausdifferenzierte Modelle zu Geschlechtlichkeit, theoretische Konflikte und eigene Forschungsmethoden entwickelt werden konnten, gibt es nur wenig Berührungspunkte mit einer entsprechenden Jungenforschung und -arbeit. Nach der diskursiven Wende feministischer Theorie in den 1990er Jahren sind derzeit jenseits feministischer Theorie und Wissenschaft vor allem biologistische Darstellungen von Geschlechterdifferenz populär, die neurowissenschaftliche und evolutionsbiologische Beweisführungen nutzen. Das schließt jedoch nicht aus, dass Gegenstände feministischer Politik Bedeutung haben können, was sich in der Gleichstellungspolitik weiterhin zeigt. In der staatspolitischen und populären Adaption erhalten die Fragestellungen und ihre potentiellen wie tatsächlich umgesetzten Lösungen in Anbetracht der neoliberalen Rahmenbedingungen jedoch eine andere theoretische, politische und strukturelle Kontur. Die Forschungslücke für eine gesellschaftsanalytische Bearbeitung der Kategorie Geschlecht und der Situation von Jungen ist in der Heimerziehung überdeutlich. Geschlecht ist weiterhin eine auf Mädchen und Frauen bezogene Jugendhilfe unterbelichtetes Thema, während es zumindest einzelne Beiträge zu Streetwork und anderen niedrigschwelligen Angeboten in diesem Bereich gibt (z. B. Fink/Werner 2005).

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Kategorie. Die Indikationen der Heimerziehung sind weiterhin androzentrisch geordnet und Sexualität unzureichend theoretisiert und erforscht. Geschlechtertheoretisch geleitete Erkenntnisse über Jungen in der Heimerziehung sind praktisch nicht vorhanden. In der Datenerhebung der Jugendhilfestatistik sowie in den genannten Studien mangelt es an einer theoretischen und methodologischen Begründung der Kategorie Geschlecht. Das führt dazu, dass die Kategorie Geschlecht, trotz der in den Arbeiten zu Mädchen vorhandenen Gesellschaftskritik, einer biologischen Voraussetzung unterliegt. Die widersprüchlichen Transformationen in der Bedeutungszuschreibung an Geschlecht im Neoliberalismus und im darin befindlichen Feld der Heimerziehung lassen sich zu Normierungen von Sexualität auf den Ebenen von Geschlecht, Familie und Erziehung zusammenfassen. Sexualität wird darin zu einem biopolitischen Mittel zur Fortpflanzung derjenigen, die humankapitalistisch betrachtet Rendite versprechen. Die Familie hat den Rückzugsraum zu stellen, der die Risiken, die der Staat nicht auffängt, ausgleichen soll. Der Konservatismus in den Populärmedien ist damit kein absoluter Widerspruch zur vermeintlich offenen Gleichstellungspolitik. Unter den beschriebenen Bedingungen humankapitalistischer Produktion wie Selbstoptimierung verläuft Sexualität in der Heimerziehung in einem geschlechtlichen Rahmen, in dem der Ausschluss von ‚weiblicher‘ Sexualität und von Homosexualität fortgesetzt wird. Dies betrifft nicht nur die geschlechtliche Dimension, sondern steht im Zusammenhang mit klassenspezifischen Bedingungen: Jugendliche in der stationären Jugendhilfe sind damit einerseits Flexibilisierungsforderungen ausgesetzt, bezogen auf Bildung und Lebensform, und andererseits der Repression durch Klassismus und den ‚Bestrafungen‘ des Sozialinvestitionsstaates. Ebenso wie Familie ‚freiwillig‘ wertvolles Humankapital biologisch hervorbringen und humankapitalistische Ideale internalisieren und tradieren soll, ist die Erziehung selbst zu einem unsichtbaren Faktor geworden. Die Anreize, unternehmerisches Selbst zu sein, lassen Bildung im Sinne von Kompetenz als eine unumgängliche Notwendigkeit erscheinen. Im Zusammenspiel der Chancen-Rhetorik im Bildungs- und Wirtschaftssystem mit medialen Inszenierungen von individuellem Erfolg verschwimmen die Grenzen von Leistungsdruck und Identifikation. Die Erziehung durch diese normativen Erwartungen wird verdeckt, indem individuelle Handlungsmacht suggeriert wird. Selbst die Responsibilisierungen von Empfangenden sozialer Leistungen fallen darunter. Die Individualisierung erfolgt um den Preis kollektiver Aushandlungsprozesse und Solidarität. Gegenwärtige Gleichstellungspolitik begünstigt bereits sozioökonomisch Privilegierte und diejenigen, die nach neoliberaler Maßgabe bereit sind, ihre Chance zu ergreifen. Für Jugendliche in der (stationären) Erziehungshilfe fallen dabei die Überschneidungen von Geschlecht, Klasse und ‚Rasse‘/Nation ins Gewicht: Das betrifft die Reduktion von ‚Jungenproblemen‘ auf Gewalt und Migrationshintergrund ebenso wie die einseitige Adressierung

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von Mädchen in sexualpädagogisch relevanten Bereichen, wenn beispielsweise jugendliche Mutterschaft als mögliche Gefahr stilisiert wird. Insgesamt zeigt sich für die Entwicklung von Frauenbewegung, (stationärer) Jugendhilfe und das Verhältnis von Bildung und Erziehung, dass sich im neoliberalen Wandel eine Naturalisierung durchsetzt. Dies betrifft grundsätzlich die Prämisse eines unhinterfragbaren, quasi-naturhaften Marktes und die dazugehörige menschliche ‚Natur‘ der rational-choice-Entscheidungen. Mit dem Glauben an den natürlichen Markt geht eine (Staats-)Politik einher, deren Anliegen darauf zielt, die soziale Umwelt so zu modifizieren, dass sie optimale Ergebnisse im ebenso natürlich gedachten internationalen Wettbewerb erzielt. Dazu gehören die Steigerung des wirtschaftlichen Outputs insgesamt und der dazugehörigen Humankapital-Qualität sowie die Verringerung von unrentablen Humankapitalinvestitionen. In dieser Logik kommt Sexualität zwei Aufgaben zu: Als Fortpflanzung soll sie rentables Humankapital hervorbringen. Daneben ist sie Teil eines Flexibilisierungsangebots, in dem sexuelle Orientierung scheinbar keine Rolle mehr spielt, deren Vielfalt sogar einen weiteren Konsumfaktor eröffnet. Die Individualisierung und Privatisierung von Risiken führt damit dazu, dass Ungleichheit und Benachteiligung als eigenes Fehlverhaltens, als Folge nicht ergriffener Chancen oder nicht gemeisterter Risiken wahrgenommen werden. Ausgeblendet wird, wie Geschlecht als Geschlechterverhältnis und als grundlegende Kategorie hierarchische Dichotomien schafft. Es gibt keine Analyse von klassenspezifischer Benachteiligung – denn alle können es schaffen, wenn sie ihre Chancen mit ausreichend Leistung meistern – und rassistischer Diskriminierung – denn diese ist rechtlich ausgeschlossen. Durch die Liberalisierung der Gesetzgebung, die Gleichstellungspolitik und die naturalisierten Verhältnisse immunisieren sich Staat und Gesellschaft gegenüber der Notwendigkeit sozialen Protests. In der hier eingenommenen feministisch-genealogischen Perspektive richtet sich das Augenmerk zugleich auf das generationale und geschlechtliche Verhältnis als Bedingung von (stationärer) Jugendhilfe. Dadurch wird deutlich, dass Erziehung, Sorgearbeit, geschlechtliche Hierarchie und damit verbundene Klassenunterschiede abgespalten beziehungsweise verdeckt werden. Aus der genealogischen Perspektive kann die beschriebene Entwicklung zudem nicht auf eine Vormachtstellung oder Durchsetzung des Ökonomischen gegenüber dem Politischen und dem Pädagogischen reduziert werden (vgl. Casale 2016). Die ökonomischen Bedingungen und Forderungen sind vielmehr glaubhaft und annehmbar, weil sich eine Rationalität des Faktischen durchsetzen konnte. Diese hängt zusammen mit der Ablösung von generationaler wie geschlechtlicher Differenz und der damit einhergehenden Abkehr von der Repräsentation. Das Faktische erscheint als das Unmittelbare, das durch eine Vermittlung verzerrt würde. Durch die Gegenwartsbezogenheit des Faktischen wird dieses jedoch seiner Geschichtlichkeit und damit seiner Bedingungen entrissen.

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1.4 D ie B edeutung der K ategorie G eschlecht in der H eimerziehung aus der P erspek tive der gene alogischen R ekonstruk tion Das erste Kapitel als eine genealogische Rekonstruktion aufzubauen – im Sinne einer feministischen Genealogie, die sich dem väterlichen einen Ursprung verweigert –, war Folge der erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit der Frage, wie Geschlecht untersucht werden kann. In der ersten Anlage der vorliegenden Dissertation übte ich eine gendertheoretisch geleitete Kritik am bisherigen Forschungsstand (1.3.5) zu Mädchen in der Heimerziehung und nahm dies zum Ausgangspunkt für dekonstruierende fotografiegestützte Interviews (Kapitel 3). In der erkenntnistheoretischen Überlegung zu der feministischen Frage, was die Unterdrückung qua Geschlecht bedingt und wie diese Bedingungen mit dem jeweiligen Geschlechterverständnis verbunden sind, wurde jedoch deutlich, dass zunächst diese Bedingungen der Untersuchung selbst herausgearbeitet werden mussten. Es ging darum, die räumliche und zeitliche Bedingung des Gegenstandes wie auch des Denkens und Forschens zu erkunden. Dazu zählt erstens die genealogische Rekonstruktion, welche geschichtlichen Bedingungen das Verhältnis von Geschlecht und Heimerziehung in den unterschiedlichen Zäsuren ermöglichen. Zentral war dabei immer wieder die Konfrontation mit frauenbewegter beziehungsweise feministischer Kritik. In der letzten Zäsur (1.3) trat hingegen die ‚Übernahme‘ feministischer Forderungen unter den ökonomischen und politischen Bedingungen des Neoliberalismus in staatspolitische Programme in der BRD hervor. Diese Veränderung verlief gleichzeitig mit einem Wandel in der feministischen Theorie, der u.a. mit der Heteronormativitätskritik Judith Butlers verbunden wird.164 Neben der geschichtlichen Bedingung von Geschlecht und Heimerziehung ist damit zweitens diese theoretische Geschichte feministischen Denkens ebenfalls Bedingung der Untersuchung, wie insbesondere die Revision von Identitätskritik zeigt (vgl. 2.2.1). Aus der zu Beginn von Kapitel 1 stark gemachten feministisch-genealogischen Position und der Frage nach den Bedingungen der Unterdrückung erschien nun der gendertheoretische ebenso wie der entsprechende methodische Zugriff auf den Gegenstand selbst bedingt. Gängige Verfahren empirischer Forschung wurden so infrage gestellt, wie auch die zuerst angestrebte geschlechtertheoretische Verortung (Kapitel 2). Insofern ist die problematisierte politische Veränderung in Form von Gen164  | Das heißt jedoch nicht, dass die staatliche Gleichstellungspolitik in einem kausalen Verhältnis zur feministischen Theorieentwicklung steht. Vielmehr ist die Gleichstellungspolitik eher einem ‚Erfolg‘ gleichheitsfeministischer Ansätze zuzuschreiben, zugleich ist gerade bezüglich der Antidiskriminierungspolitik eine an diese Erfolge angelehnte gender-/ queer-politische Intervention mittragend gewesen.

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der Mainstreaming und neuen Anti-Diskriminierungsstrategien (vgl. 1.3) ebenso Bedingung der vorliegenden Arbeit wie der theoretische Wandel. Vor der erkenntnistheoretischen und methodologischen Verortung (Kapitel 2), soll noch einmal rekapituliert werden, in welchem geschichtlich bedingten Verhältnis Geschlecht und Heim stehen. Betrachtet man die Zäsuren als Rahmung, als ermöglichende Bedingung von Geschlecht in der Heimerziehung, kann von einer widersprüchlichen Entwicklung im Verhältnis von Freiheit und Herrschaft gesprochen werden. Die erste Zäsur ist von geschlechtlichen Wesensannahmen gekennzeichnet, die – gekoppelt an die Kategorien Klasse und ‚Rasse‘ – auf ein naturhaft ursprüngliches Geschlechter- und Generationenverhältnis zurückgeführt werden. Für die Heimerziehung kristallisiert sich im Begriff der ‚Verwahrlosung‘ und den damaligen geschlechtlich kodierten Sexualitätsvorstellungen heraus, welche Daseinsformen von Geschlecht intelligibel waren. Im weitesten Sinne bleibt die männliche Position darin sexuell unmarkiert und männliche Gewalt wird in die ‚kriminelle Jugend‘ ausgelagert. Hingegen wird Weiblichkeit auf drei geschlossene Konzeptionen, in Form von ‚Jungfrau, Mutter und Prostituierte‘ eingeschränkt. Die Naturalisierung eines so gedachten Geschlechterverhältnisses erreicht in der Reduktion des Menschen auf seine vermeintlich biologisch-evolutionäre Wertigkeit im Nationalsozialismus seinen ‚Höhepunkt‘. Während von Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts, trotz der aufkommenden Professionalisierung Sozialer Arbeit, noch deutlich die Disziplinierungsforderung mit dem Argument jugendlicher Verwahrlosung vertreten wurde, wird die Gewalt von Erwachsenen nach dem Nationalsozialismus zunehmend geleugnet. Dies drückt sich insbesondere in der anhaltenden Verwahrlosungsannahme der Nachkriegszeit bei gleichzeitigem Schweigen bezüglich der nationalsozialistischen Gewalt und der Gewalt in den Verfahren der Heimerziehung aus. Die Rolle der Mutter und der tatsächliche Verlust ‚väterlicher Autorität‘ in dieser Zeit werden ebenso ausgeklammert. Die geschlechtliche Ordnung des generationalen Gewaltverhältnisses und die Tabuisierung der Gewalt durch Erwachsene bleiben vorerst unsichtbar. Anders intendiert, aber in der Konsequenz ähnlich, verdrängt auch die antiautoritäre Bewegung der 1960er und -70er Jahre die disziplinierend-erzieherische Dimension des generationalen Verhältnisses, obwohl sie gerade gegen die Vätergeneration vorgehen wollte: Durch die Auffassung, dass das ungleiche Verhältnis der Generationen ausgehebelt werden könne, wird nicht nur gegen die durch die nationalsozialistischen Verbrechen in ihrer Illegitimität zutage getretene väterliche Herrschaft vorgegangen. Vielmehr wird die generationale Differenz verdeckt. Bezüglich der Kategorie Geschlecht zeigt sich in der Diffamierung alleinerziehender Mütter in der Nachkriegszeit die Abwertung weiblicher und privater Erziehung. Die Spaltung von zweiter Frauenbewegung und Heimkampagne der ‚68er‘ an der Frage, wer wen befreit,

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setzt die geschlechtliche Ordnung von öffentlich und privat beziehungsweise persönlich im generationalen Verhältnis fort. So sind es die Frauen, die mit der Kinderladenbewegung – zunächst aus der eigenen Ohnmachtserfahrung heraus – Möglichkeiten eines politischen Subjektstatus‘ ausloten. Hingegen verweigern sich die studentischen Akteure der Heimkampagne dieser persönlichen Erfahrung, indem sie die Befreiung anderer forcieren. Sie agieren als Subjekte, die sich die nachwachsende Generation – aus ihrer akademischen Perspektive betrachtet differente Objekte – durch die ‚Politisierung der proletarischen Jugend‘ gleichmachen wollen. Das Misslingen des Projekts führt zu einer Abkehr von diesen Anderen. Während die männliche Ohnmachtserfahrung ausgeklammert wird, indem weder männliche Gewalterfahrung noch die Erfahrung der Differenz von Klasse und Geschlecht thematisiert werden, wendet sich die zweite Frauenbewegung im Laufe der 1970er Jahre der körperlichen Gewalt zu. Weibliche Ohnmacht war nicht nur eine Folge des ökonomisch-strukturellen Ausschlusses aus der politischen und beruflichen Sphäre, sie wurde auch in der häuslichen und außerhäuslichen sexuellen Gewalt gegen Frauen körperlich spürbar. Den Körper und die geschlechtliche Bedingtheit zu spüren, eröffnete in der Folge das Engagement für Schutzräume, für die auch die Mädchenhausbewegung eintrat. Dass die männlichen Teile der Heimkampagne sich verwehrten, die Gewalt und den Körper als persönliches Erleben zu spüren, legt nahe, dass darin ein Grund für das verbreitete Schweigen bezüglich männlicher Opfer von sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen der Zeit liegen könnte. Einerseits wurde im Zuge der Aufarbeitung seit 2010 das Tabu männlicher sexueller Ohnmachtserfahrung gebrochen. Andererseits ist aufschlussreich, dass diese in den staatlichen Organen kaum anhand feministischer und erziehungswissenschaftlicher Kategorien der Erkenntnis analysiert wird (vgl. Windheuser 2014). Kennzeichnend für die Mädchenhausbewegung bleibt es, aus der eigenen Erfahrung von Bedingtheit und Ohnmacht heraus Ansätze zu der Reform der Jugendhilfe entwickelt zu haben. Die in den 1980er und -90er Jahren zunehmende Aufnahme der in den sozialen Bewegungen entstandenen neuen Konzepte von (stationärer) Jugendhilfe findet im Kinder- und Jugendhilfegesetz seinen Ausdruck. Die Adaption im Regelangebot kann angesichts des damit einhergehenden Verlusts kapitalismuskritischer Ansprüche als ‚Zugeständnis‘ an das Bestehende gewertet werden. Die Förderung der Gleichberechtigung von Frauen wurde nicht zuletzt durch die staatliche Implementierung von Gender Mainstreaming manifest. Hingegen blieben Forderungen nach einer anderen Ordnung außen vor beziehungsweise die Notwendigkeit einer vermittelten Ordnung an sich ist obsolet geworden, was dazu führt, dass sie nicht gestaltet, sondern totalitär wird. Zentral für die letzte Zäsur ist das zunehmend veränderte Verhältnis von Erziehung und Bildung. Bereits mit der zweiten Zäsur verloren die generationale Differenz und die darin unumgehbare Bedingung von Erziehung an

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Beachtung. Im Neoliberalismus der Gegenwart verliert der Erziehungsbegriff zugunsten eines auf Wissen und Kompetenz reduzierten Bildungsbegriffs an Bedeutung. Das bedeutet nicht, dass es weniger Erziehung gibt, sondern nur, dass diese unsichtbarer wird. Erziehung in ihrer disziplinierend-strafenden Form ist klassenspezifisch gebrochen, insofern sie erst dann greift, wenn Menschen aus der humankapitalistischen Logik herausfallen oder sich dieser ‚verweigern‘. Während in die bisher als Erziehung gekennzeichneten Bereiche (insbesondere in der frühkindlichen und vorschulischen Erziehung) ein neuer Bildungsbegriff Einzug hält, besteht selbstverständlich im Privaten weiterhin unbezahlte Erziehung. Mit dem Fokus auf output-orientierte Bildung wird die ihr vorgängige beziehungsweise sie bedingende Erziehung in öffentlichen Institutionen und der Familie verdeckt. In Form einer bejahenden Selbstdisziplinierung kommt es zugleich zu einer mehr oder weniger unsichtbaren Erziehung durch eine naturalisierte wirtschaftliche Notwendigkeit, in der das Individuum seine Chance nur zu ergreifen hat. Aus der hier eingenommenen genealogischen Perspektive der Angewiesenheit ist der so verstandene neoliberale Freiheitsbegriff geradezu konträr zu einer genealogischen Befreiung durch Aufklärung des Selbst in seiner Bedingtheit. Letztere würde jedoch einer Vermittlung bedürfen, die durch ein Abschneiden der generationalen Bezogenheit verunmöglicht wird. Die staatliche und wirtschaftliche Integration von Gleichheits- und Antidiskriminierungsforderungen sozialer Bewegung führt paradoxerweise dazu, dass Herrschaftsverhältnisse weiterhin oder in neuer Form bestehen können, aber aus dem generationalen und geschlechtlichen Konkreten ausgelagert werden. Sie werden als quasi-naturhafte wirtschaftliche Notwendigkeit, die für alle gleichermaßen gilt, ungreif bar. Das ist in der Leugnung der Autorität und des generationalen Verhältnisses nur konsequent, weil somit auch die Verantwortung für die Bedingungen und Möglichkeiten abgegeben wird.165 Das Primat des freien Willens (rational-choice-Anspruch) und die Reduktion auf das Faktische ökonomischer Verhältnisse entfaltet sich unter diesen Voraussetzungen als Paradigma der Oberfläche. Unsichtbar bleibt, was die Oberfläche bedingt und was das individuelle Begehren, nämlich seine Angewiesenheit auf das Andere (beziehungsweise ihre Leugnung), antreibt. Auf der Oberfläche bleibend und dem Anspruch von Chancengleichheit in der Diversität folgend, fehlen die Kategorien zur Analyse der Verhältnisse, die das Faktische hervorbringen. Eine Genealogie dessen, die sich der Bedingtheit widmet, spaltet so gesehen durch Zeit und Raum, indem sie den Spuren folgt, die Gegenwart und vermeintliche Identität ermöglichen. Sie öffnet die Oberfläche der Gegenwart zeitlich, indem 165   |  Damit ist gemeint, dass eine Autorität nach Hannah Arendts Verständnis im Sinne der auctoritas (vgl. Kapitel 1) eine geschichtliche Vermittlung zwischen Vergangenheit und möglicher Zukunft mit sich brächte, zu der die generationale Differenz verpflichten würde.

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sie ihr ihre Geschichte zurückgibt und führt den (geschlechtlichen) Raum der Differenz in ein Denken des absoluten Einen als dessen Voraussetzung ein. Im Anschluss an die metaphysikkritische – d.h. den einen Ursprung infrage stellende – Genealogie in der feministischen Theorie stellt das folgende Kapitel einen Versuch dar, die Bedingtheit methodologisch in den Blick zu nehmen und die wechselseitige (Un-)Möglichkeit von Geschlecht und Methode aufzuzeigen.

2. Die unmögliche Methode – erkenntnistheoretische und methodologische Perspektive

Das erkenntnistheoretische beziehungsweise methodologische Kapitel ‚mittig‘ in die Arbeit zu platzieren, ist auf mehrfache Weise Teil der unmöglichen Methode, insofern die Erkenntnistheorie zunächst nicht den Ausgangspunkt bildet, sondern die Arbeit spaltet und zugleich konturiert.1 Von der unmöglichen Methode zu schreiben, zielt nicht auf den Entwurf einer neuen Methode, sondern problematisiert eine doppelte Unmöglichkeit der Methode: Diese betrifft erstens die feministische Perspektive, weil sie im vorherrschenden Wissenschaftsverständnis nicht intelligibel ist. Zweitens handelt es sich in eben diesem vorherrschenden Wissenschaftsverständnis um die anerkannte Form der objektivierten Erkenntnis; sie ist aus feministisch-theoretischer Perspektive ‚unmöglich‘: sie kennt ihren Gegenstand nicht, weil sie sich verwehrt, seine und ihre eigenen Bedingungen wahrzunehmen. Im Folgenden werden diese Kritik und eine (un)mögliche Antwort darauf von einem Standpunkt feministischer Theorie aus entwickelt.2 1 | Mein Dank gilt an dieser Stelle Achim Scholz für seine konstruktive Kritik, die mir zu dieser Kapitelüberschrift verholfen hat. 2 | Michael Wimmer sieht die „wesentliche Bestimmung und Aufgabe“ der Pädagogik darin, „das ihr Unmögliche [...] in sich aufzunehmen. Der Sinn pädagogischen Scheiterns läge dann in der Chance, dem Anderen gerecht zu werden, und der Sinn ungelöster Probleme bestünde darin, die Zukunft – auch der Pädagogik – offen zu halten“ (Wimmer 2006, S. 153). Nach Wimmer ist Pädagogik eine „Wissenschaft des Unmöglichen“ (ebd., S. 146), weil sie von der Paradoxie (Zwang und Freiheit, ‚doppeltes Mandat‘ etc.) bestimmt ist: „in gewisser Weise wird die Pädagogik von ihrem Riß zusammengehalten, weshalb sie von den Versuchen, diesen Riß zu überwinden, gefährdet wird“ (ebd., S. 156). Die Dekonstruktion nach Derrida eröffnet auch für Wimmer eine (un-)mögliche Antwort, insofern das Paradoxie-Problem der Pädagogik eben nicht durch eine geschlossene Theorie oder Praxis aufgehoben werden kann (vgl. ebd.). Zwar nähere ich mich wie Wimmer der Pädagogik/Erziehungswissenschaft

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Geschlecht und Heimerziehung

In der genealogischen Rekonstruktion der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung (Kapitel 1) wurde Geschlecht zunächst als heuristisches Modell zeitgenössischer Vorstellungen gefasst. Jetzt geht es darum, einen Begriff von Geschlecht zu gewinnen, der es erlaubt, sich erkenntnistheoretisch vom bisher Heuristischen3 zu lösen. Diesem theoretischen Denken von Geschlecht wird eine spezifische Sichtweise auf das Verhältnis von Dekonstruktion und feministischer Theorie vorangestellt. Denn diese führt zurück zum Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit, dekonstruierend die Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung zu untersuchen. Die eingenommene Perspektive soll dabei weniger feministische Theorie und Politik vereinheitlichen als vielmehr eine Beziehung von Dekonstruktion und feministischem Denken und Handeln akzentuieren. Diese Beziehung ergibt sich aus der Frage, die grundlegend für ‚das‘ feministische Vorhaben ist: Was sind die Bedingungen der Unterdrückung qua Geschlecht? Unausweichlich gehört zu dieser Frage auch die Frage danach, was Geschlecht ist. Was hierbei unter der Kategorie Geschlecht verstanden wird, ist bereits eine zentrale Bedingung der Unterdrückung. Die Antworten auf beide Fragen sind vielgestaltig und nicht per se dekonstruierend. Ich schlage jedoch an dieser Stelle eine bestimmte Lesart der Beziehung zwischen feministisch-theoretischem wie feministisch-politischem Denken und Dekonstruktion vor: Insofern die Fragen nicht auf mögliche essentialisierende Antworten abzielen, sind sie gegen die metaphysische Ordnung4 gerichtet. Mit beiden Fragen öffnet feministische Theorie eine zuvor als geschlossene Einheit gedachte Kategorie von Geschlecht. Diese wird dann nicht mehr als unumstößliche und überzeitliche Kategorie vorausgesetzt. Wenn danach gefragt wird, was Geschlecht ist und was es bedingt, wird nach dem Sein von Geschlecht5 gefragt. dekonstruierend, allerdings nimmt das Unmögliche durch die feministische Perspektive und die Frage nach der Empirie eine andere Wende. Mein Dank gilt Denise Wilde für den Hinweis auf Wimmers Text. 3 | In Kapitel 1 ist mit ‚heuristisch‘ das vorläufige, noch nicht theoretisch tiefgreifend Erschlossene gemeint. In den erkenntnistheoretischen und methodologischen Überlegungen einer ‚unmöglichen Methode‘ werden zudem Vorstellungen einer Heuristik im Sinne eines problemlösenden Verfahrens oder einer methodischen Anleitung zur Erkenntnisgewinnung suspendiert. Eine unmögliche Methode oder andere Theorie sieht gerade im Anspruch einer (er)schließenden Problemlösung das Problem, weil sie kein Geschehen mehr zulassen würde. 4  |  Die metaphysische Ordnung ist bereits in Kapitel 1 aus der feministisch-genealogischen Perspektive als Ordnung des Einen und des Ursprünglichen hinterfragt worden, diese Kritik wird in der dekonstruierenden Verortung in den Kapiteln 2.1.1, 2.2.2 und 2.2.3 noch stärker ausgeführt. 5  |  Vgl. 2.1.1 und 2.2: Das Sein wird hier als geschichtlich im Sinne von Geschehen verstanden, das sich nicht auf eine verdinglichte Gegenwart reduzieren lässt.

Die unmögliche Methode

Dadurch wird sowohl die Objektivierung von Geschlecht als auch seine Un-Zeitlichkeit oder Geschichtslosigkeit infrage gestellt. Indem nach den geschichtlichen und epistemologischen Bedingungen von Geschlecht und geschlechtlich geordneter Ungleichheit gefragt wird, enthebt feministisches Denken Geschlecht der Prämisse, es handele sich um eine Kategorie absoluten Wissens, das nicht mehr zu hinterfragen sei. Es öffnet die Kategorie für mögliche Differenz gegenüber idealer Eigentlichkeit. Insofern sind die Fragen zugleich ‚Antworten‘: Sie lassen Geschlecht unentschieden beziehungsweise immer mit der Möglichkeit eines uneinholbaren Rests.6 In diese Perspektive sind Dimensionen „anderer Theorie [als der streng wissenschaftlichen]“ (Schlüpmann 1998, S. 36) verwoben. Während Heide Schlüpmann diese als geradezu konträr zur bestehenden Wissenschaft versteht, führt der hier vorgeschlagene Weg zu der Frage nach der Kategorie Geschlecht über den Um-/Rückweg Derrida’scher Dekonstruktion. Gezeigt werden soll, welcher Form von Wissenschaft dekonstruierende und feministischen Kritik gilt. Zugleich wird so das zuerst angestrebte theoretische Vorhaben einer Dekonstruktion, wie es aus einer gender-theoretischen Perspektive entwickelt wurde, mittels der französischen Differenzphilosophie verschoben. Im Anschluss daran wird die Frage nach Erkenntnistheorie und Methodologie in eine feministische gewendet. Materialität und Leiblichkeit werden so in Kapitel 2 und 3 von Postulaten unmittelbarer Evidenz und von der phallozentrischen Logik emanzipiert. Wie Gayatri C. Spivak (1992/1983) zeigt, eröffnet Derridas Dekonstruktion eine spezifische Kritik des Phallozentrismus, reicht jedoch nicht als ‚feministische Praxis‘ aus; sie bedarf einer erneuten feministischen Rahmung. Infolge der feministischen Wende von Erkenntnistheorie und Methodologie erfährt das dritte Kapitel7 eine vorweggreifende Revision (2.2.1), insofern Butlers Kritik der „Identitätskategorie“ (1991/1989, S. 21) in der so gewonnenen Sicht nicht mehr haltbar ist. Butlers gendertheoretischer Zugang und ihre Kritik von ‚Identitätskategorien‘ war der erste Ansatz in der vorliegenden Arbeit, um Geschlecht in der Heimerziehung zu untersuchen. Unter Revision ist weniger eine Berichtigung zu verstehen, sondern eher eine Rückschau8: Eine Rückschau auf den konkreten Text und das 6  |  „Damit ist die Tatsache des Geschlechts, des Geschlechtlichseins, konstituiert als unfreiwillige notwendige Frage mit begrenzten Antwortmöglichkeiten, die sich nicht in Fragen nach Identität/Identifizierung erschöpfen kann, und die gegebene Grenze ist gerade das ständige Verwiesensein auf den anderen als unfreiwilligen Bezugs­o rt“ (Rendtorff 2014, S. 45). 7  |  In Kapitel 3 erfolgt die Analyse des erhobenen Materials in Form von fotografiebasierten Interviews. Diese wurden zu einem Zeitpunkt konzeptionalisiert und erhoben, als ich noch von einer auf Derrida und Butler basierenden Dekonstruktion ausging. 8 | Rückschau und Rückweg sind hier nicht allein als rückwärtige Bewegungen gedacht, sie ‚ver-rücken‘, rücken Vorgehen und Gegenstand von der Stelle und de-linearisieren die Chronologie der vorliegenden Arbeit.

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Geschlecht und Heimerziehung

forschende Vorgehen; und eine Rückschau auf die aktuelle feministische Theoriedebatte, die Butler einerseits mit ihrer Kritik am Feminismus prägte, zu der sie andererseits im Kontext der hier vorgenommenen Rückschau bereits selbst gehört. In diesem Vorgehen erfährt der Begriff der ‚Identitätskategorie‘ eine andere dekonstruierende Perspektive gegenüber der von Butler. Zuvor muss jedoch veranschaulicht werden, wie eine dekonstruierende Perspektive den Blick auf das Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis wandelt und welche Konsequenzen daraus für eine empirische Vorgehensweise erwachsen.

2.1 P ädagogik als tätige D eutung – Z ur K ritik eines k ausalistischen W issenschaf tsverständnisses Ausgangspunkt für die verfolgte Problematisierung von Wissenschaft9 ist das grundsätzlich erkenntnistheoretisch zu bearbeitende Dilemma von Kultur und Natur. Begründungen für die Zuordnung zu oder Ableitung aus einer der beiden Seiten beziehungsweise davon, was sich aus dem einen oder anderen ergibt, basieren häufig auf einer geringen Trennschärfe von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Wissen. Bezogen auf Wissenschaft ist dies in die Trennung von Theorie, Empirie und Praxis bereits eingelassen, wie zu zeigen sein wird. Exemplarisch für eine erziehungswissenschaftliche Verhältnisbestimmung von Theorie, Empirie und Praxis kann Dietrich Benners Entwurf und Begründung einer „Systematischen Pädagogik“ (Benner 1998) herangezogen werden.10 In dieser Verhältnisbestimmung werden Theorie, Forschung und 9  |  Die Problematisierung verfährt zunächst dekonstruierend im Derrida’schen, fortfahrend im feministischen Sinne (s. 2.2 und 3). 10  |  Aus der Perspektive „empirischer Pädagogik“ (Tippelt 2009, S. 33ff.) wird diese Verhältnisbestimmung geteilt beziehungsweise erfolgt die Trennung der Wissensformen noch massiver: Rudolf Tippelt betont dazu im „Handbuch der Erziehungswissenschaft“ (2009, Bd. 1) die unterschiedliche Begriffsverwendung zwischen Allgemeiner Pädagogik beziehungsweise Bildungsphilosophie und empirischer Bildungsforschung (ebd., S. 38). Die Frage danach, was Bildungsforschung ist und zur Aufgabe hat, wird dort wiederholt auf deren Bestimmung durch den Deutschen Bildungsrat (1974) und die OECD (2006) rückbezogen. Es sind damit die politisch gesetzten Bedarfe der Praxis, die zum Ausgangspunkt genommen werden. Zu bemerken ist, dass der Theorie ein Platz im Bereich der Grundlagenforschung zugewiesen wird (vgl. Tippelt 2009, S. 35f.). Tippelt erwehrt sich einer Deutung von empirischer Forschung als Suspendierung von Normen und begründet damit eine ‚reine Empirie der Tatsachen‘: „[I]n deskriptiven und analytischen Verfahren [müssten] Tatsachenforschung und normative Erziehungslehren getrennt gehalten werden“ (ebd., S. 38). Cornelia Gräsel beansprucht für die Empirische Bildungsforschung die „Bildungsrealität“ (Gräsel 2015, S. 15) zu

Die unmögliche Methode

Praxis unterschiedliche Funktionen zugeordnet. Der Praxis kommt demnach in der ‚praxeologischen‘ Erziehungswissenschaft – unter der Prämisse einer für wissenschaftliche Aufklärung offenen Praxis – ein Primat zu, von dem ausgehend sich Theorie und Empirie mit praktischer Erfahrung konfrontieren sollen (vgl. Benner 1998, S.  135). Die Aufgaben der Theorie lägen auf einer „nicht-normativen, handlungsanleitenden“ (ebd., S.  134), wenngleich die Praxis nicht determinierenden Ebene. Die Forschung habe die Aufgabe einer „empirischen Kontrolle, welche die Theorie mit ihrem über Praxis vermittelten Praktischwerden und die Praxis über ihre Folgen [...] aufklär[e]“ (ebd.). Benners Plädoyer für eine systematische Pädagogik zielt darauf, Theorie, Empirie und Praxis in einer „Einheit der Pädagogik“ (ebd.) nicht-hierarchisch und ohne Kausalität miteinander zu verbinden. Nun ließe sich einwenden, dass mit Benners Intention das Problem einer Trennung dieser Bereiche und ihrer kausalen Hierarchisierung gar nicht gegeben sei. Um dies und die Einordnung in das genannte Dilemma von Kultur/ Natur zu klären, müssen die einzelnen Funktionsbestimmungen genauer betrachtet werden. Sie machen deutlich, dass die ‚Lücke‘ beziehungsweise ‚Nähe‘ zwischen dem Gegenstand und dem jeweiligen Zugriff darauf (theoretisch, praktisch oder empirisch) unterschiedlich groß ist. Zunächst sei dabei das Augenmerk auf Praxis und Empirie gelegt: Beiden wird implizit ein direkter Zugriff auf das Wirkliche oder Konkrete zugesprochen. Sie können (in der beschriebenen Perspektive) Theorie als ‚Praktischwerden‘ materialisieren beziehungsweise die Materialität in der Praxis kontrollieren.11 Dieser tatsächliche, konkrete Zugriff wird der Theorie abgesprochen. Im darin deutlich werdenden Materialitätsverständnis bleibt verborgen, dass die Materialität durchaus nicht unmittelbar erfolgt. Deutlich wird das anhand der alltagsweltlichen Bestimmung von ‚Identitätskategorien‘ in der empirischen Forschung.12 So ist Geuntersuchen. Im gleichen Handbuch wie Tippelt stellt Georg Cleppien unter dem Stichwort der „Praktische[n] Orientierung“ (Cleppien 2009) die Frage nach der Verbindung von Wissenschaft und Praxis vorrangig als „Theorie-Praxis-Problem“ (ebd., S. 72) dar. 11 | Der Theorie wird jedoch nicht nur ein mangelnder Zugriff auf Materialität unterstellt, in der Kontrolle der Praxis durch die Empirie wird der Praxis auch abgesprochen, sich selbst betrachten zu können. Alfred Schäfer und Christiane Thompson (2014) beschreiben die Auseinandersetzung in der (erziehungswissenschaftlichen) Forschung der Gegenwart als gegenläufig: Einerseits werde in der Diskussion „einer Vervielfältigung des Wissens“, die Gültigkeit einer einzigen Rationalität der Wissenschaft unterlaufen, zugleich werde andererseits „von einer wissenschaftlich erzeugten Empirie ausgegangen, die in sich von einer Rationalität beherrscht wird und dem (pädagogischen) Alltagswissen überlegen“ (ebd., S. 10) sei. 12  |  Ein solcher Kategorienbegriff als Identitätskategorie ist zu unterscheiden von einem gesellschaftsanalytischen Kategorienbegriff. Letzterer bezieht sich auf Verhältnisse, wie sie in Kapitel 1 als die Kategorien Geschlecht, Klasse und ‚Rasse‘/Nation zum Tragen kamen.

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Geschlecht und Heimerziehung

schlecht eine ‚erhebbare‘ Größe, die ebenso evident wie konkret erscheint, und der ihre Abstraktion von der Sache selbst nicht zum Mangel wird – zumindest im Hinblick auf die Forschungsarbeiten, die so eingeteilte Forschungsobjekte unhinterfragt voraussetzen (vgl. 1.3.5). Letztlich ist die Empirie selbst ihrer Materialität enthoben, ihr wird lediglich unterstellt, als einzige in der Lage zu sein, die Materialität objektiv betrachten zu können. Diesem empirischen Materialitätsverständnis liegt zugrunde, was bereits im Positivismusstreit konfliktreich war. Zwar wandte sich darin Karl R. Poppers Kritik gegen einen empirischen Naturalismus (vgl. Popper 1972/1962, S. 107ff.), die Voraussetzung von einem Zugriff auf den Gegenstand über Identitätskategorien lässt sich jedoch in der empirischen (Sozial-)Forschung kaum leugnen.13 Die Methode kann, trotz aller beanspruchten Gültigkeit, nicht über den mangelnden Sachbezug von Fragestellung und theoretischer Prämisse und deren gesellschaftlicher Herkunft hinweghelfen. Damit ist gemeint, dass eine Methode vielleicht an Gültigkeit gewinnt, wenn über Kategorisierungen von Untersuchungsteilnehmenden Vergleichbarkeit hergestellt werden kann, damit aber die Frage der Sachlichkeit dieser Identitätskategorien noch lange nicht geklärt ist. Die vorliegende Untersuchung zielt nicht darauf, diesem Verständnis von Methode und Empirischem nun die ‚richtigen‘ Prämissen durch Umkehrung oder ‚korrekte‘ Chronologie14 entgegenzusetzen. Ebenso wenig soll eine Hierarchisierung von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Wissen aufgestellt oder eine Trennschärfe dieser Wissensformen reanimiert werden.15 Vielmehr geht es darum, die gesellschaftliche Komplexität auch in der Wissenschaft fortzusetzen, da eine Reduktion die „Adäquanz ans Objekt“ (Adorno 1972/1962, S. 135) gefährdet. Damit ist weder ein empiristischer Erfahrungsbegriff noch Hingegen sind unter Identitätskategorien in der empirischen Forschung (soweit diese nicht gesellschaftsanalytisch vorgeht) solche zu verstehen, die als ideal und nicht als bedingt oder vermittelt angesehen werden. 13 | Selbst Studien, in denen beispielsweise die Kategorie Geschlecht als solche problematisiert wird, greifen in der Erhebung wieder auf die vermeintliche Möglichkeit zurück, die untersuchten Personen verdinglichten Kategorien zuzuordnen (z. B. Finkel 2004). 14 | In seiner ersten umfangreichen Auseinandersetzung mit Husserl verweist Derrida darauf, dass das „gesamte Problem der Genese“ auf der Frage beruhe, warum immer von einem „ursprünglichste[n] Moment“ (Derrida 2013/1990, S. 14, FN 2) ausgegangen werden müsse. Hingegen sei die „Unmöglichkeit einer jeden realen Bestimmung eines realen Anfangs [...] der letzte Sinn der Philosophie der Genese“ (ebd., S. 20). 15  |  Die Trennschärfe ‚reanimieren‘ zu wollen wäre auch bereits ein problematisches Unterfangen, da dies voraussetzen würde, diese Trennschärfe wäre bereits vorhanden gewesen. Bezogen auf Identitätskategorien begründet sich die Annahme von Trennschärfe in der Illusion, die Sache aus einer objektiven Position heraus erfassen zu können.

Die unmögliche Methode

eine Husserl’sche Phänomenologie der „Sache selbst“ (Casale 2011, S. 53) gemeint: „In beiden Fällen haben wir es mit einer Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse zu tun: als reifiziertes Objekt oder als verdinglichte Logik. Im Unterschied dazu ist jede Theorie konkret, die Gegenstände, Phänomene und Logik entnaturalisiert und die Konkretheit ihrer Bedeutung erschließt“ (ebd., S. 54).

Das Ziel einer solchen Theorie ist es laut Casale, „die Möglichkeitsbedingungen eines spezifischen Forschungsgegenstandes in Bezug auf seine erkenntnistheoretischen [...], aber auch auf seine materiellen Voraussetzungen zu erörtern“ (ebd.). Sachlichkeit bedeutet dann nicht, ein Objekt total zu erfassen, sondern es in dem spezifisch-historischen Gewebe zu verorten, das es hervorbringt. Im Vergleich zu einem von der Methode dominierten Wissenschaftsverständnis kann es sich eine Allgemeine Erziehungswissenschaft aus der „Tradition der philosophischen Theorie“ zur Aufgabe machen, „Erziehungs- und Bildungsprozesse in ihrer historischen Konkretheit“ (ebd., S. 58) zu bestimmen. Damit werden Theorie und Empirie keiner funktionalistischen Aufgabenteilung unterworfen, sondern als zusammengehörig verstanden – folglich wird eine neue Verhältnisbestimmung in Form einer theoretischen Empirie 16 oder empirischen Theorie eröffnet. Nun scheint die Praxis in der Ausführung bis hierher vernachlässigt worden zu sein. Querliegend zu der Vorstellung, Wissenschaft und Praxis seien getrennt voneinander, sei für die Erziehungswissenschaft an eine Pädagogik erinnert, die sich als ‚Reflexion von Erziehung‘ versteht. Darin äußert sich ein Zugang zur Welt, den Derrida in seiner Darstellung Nietzsches als „tätig[e] Deutung“ (Derrida 1976/1966, S. 441; Herv. JW) bezeichnet. So gesehen 16  | Herbert Kalthoff u. a. diskutieren im Sammelband „Theoretische Empirie“ (2008) aus soziologischer Perspektive den Zusammenhang von Theorie und Empirie. Der Begriff „theoretische Empirie“ (ebd., S. 9) wird von Kalthoff auf Georg Simmel zurück bezogen, der darunter „eine Form von Empirie, in der Wirklichkeit dargestellt werden kann“ (ebd., FN 3; Herv.i.O.) versteht. In der soziologischen Perspektive Kalthoffs ist das Anliegen einer theoretischen Empirie, Empirie und Theorie nicht getrennt zu betrachten (ebd., S. 10). Zwar ergibt sich daraus eine Verwandtschaft zu meinem Vorgehen, allerdings wird der Fokus auf Empirie und Theorie nicht meinem Anliegen gerecht, das erziehungswissenschaftliche Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis zu denken. Ebenso steht es mit dem – von Walter Hornstein problematisierten – sozialpädagogischen Fokus auf das Theorie-Praxis-Verhältnis, in dem die Empirie wieder zum Nebenschauplatz gerät (Hornstein 1995, S. 14). Spezifisch für die Sozialpädagogik beschreibt Sascha Neumann die gegenwärtige Entwicklung des Verhältnisses von Empirie und Theorie als eine, in der sozialpädagogische Theoriebildung „im Zeichen reflexiver Empirisierung“ (Neumann 2017, S. 77) stattfinde.

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betrifft Praxis sowohl die Deutung und Gestaltung von Erziehungs- und Bildungsprozessen als auch die Forschungspraxis, wenn diese die erkenntnistheoretischen und materiellen Voraussetzungen eines Forschungsgegenstandes deutet und die tätige Dimension dessen anerkennt. Eine solche Verhältnisbestimmung von Theorie, Empirie und Praxis als tätige Deutung bringt nicht nur deren Grenzen ins Wanken, sie führt zudem dazu, dass jeglicher Zugang zum Gegenstand als vermittelt anerkannt werden muss. Die Aneignung von Wissen über einen Gegenstand ergibt sich durch die tätige Suche danach. Aufgrund der geschichtlichen Bedingungen dieser Tätigkeit ist diese jedoch keineswegs durch ein autonomes Subjekt bestimmt. Die theoretischen, empirischen und praktischen Prämissen unterliegen bereits einer spezifischen Ordnung.

2.1.1 Metaphysik als Ordnung des Denkens Die Ordnung des Verhältnisses von Theorie, Empirie und Praxis und der darin enthaltenen Materialitätsprämisse können mit Jacques Derrida als metaphysisch17 bezeichnet werden. Im Folgenden werden dieser Zusammenhang und Derridas dekonstruierende Kritik daran eingeführt. Ausgangspunkt von Derridas Dekonstruktion ist seine Metaphysikkritik. Diese nimmt er vor, weil er alle Philosophie und ihre Geschichte mit der Metaphysik identifiziert. Das philosophische Denken setze, ebenso wie die Metaphysik, „die Einfachheit des Ursprungs, die Kontinuität jeder Ableitung, jeder Produktion und Analyse und die Homogenität aller Ordnungen“ (Derrida 2004/1971, S. 73) voraus. Das gesamte philosophische Denken, das Denken an sich, hat für Derrida nie die Metaphysik verlassen.18 Derrida wendet sich nur bedingt sozialwissenschaftlicher Forschung zu, er konzentriert sich auf philosophische und sprachwissenschaftliche Lektüren. Dennoch kann seine Lesart

17   |  Es mag zunächst befremdlich wirken, sich dem Problem von Identitätskategorien in der empirischen Forschung über eine philosophische Frage nach der Metaphysik anzunähern. Umso mehr, wenn einer der Höhepunkte der Metaphysik – wie bei Derrida – in Edmund Husserls Phänomenologie gesehen wird (vgl. u. a. Derrida 2003/1967, S.26). Die Phänomenologie Husserls ist für Derrida eine Fortsetzung des metaphysischen Denkens der Philosophie, deren Kritik der klassischen Metaphysik „das tiefste Vorhaben derselben“ (Derrida 1976/1959, S. 256) vollendet. Der Bezug zur empirischen Forschung ist zunächst verdeckt, da nach Derrida Husserl sowohl eine „historische Genese“ als auch eine „mundane“ (Derrida 2013/1990, S. 18) Wissenschaft zugunsten des Erlebens eines Ursprungs abgelehnt habe. Wie spätestens in 2.1.2 gezeigt wird, liegt der Schlüssel zu dieser Verbindung in der Idealität. 18 | Die einzige Ausnahme stellt für Derrida die Philosophie Friedrich Nietzsches dar, die sich durch einen Ursprungsverzicht charakterisiert (vgl. Casale 2001, S. 40).

Die unmögliche Methode

der Philosophie auf die Wissenschaft überhaupt übertragen werden.19 Insbesondere seine Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss verweist auf den Einfluss metaphysischer Philosophie auf die „Wissenschaften vom Menschen“ (Derrida 1976/1966, S.  422). Darin wird erläutert, inwiefern die metaphysische Prämisse eines Zentrums oder Ursprungs als „Bedingung der episteme als Philosophie oder als Wissenschaft“ (ebd., S. 423; Herv.i.O.) zu verstehen ist. Daraus leite ich meine These, dass diese Ursprungsidee mit allen ihren Implikationen das Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis bestimmt. Das Setzen eines Ursprungs als bestimmender Aspekt metaphysischen Denkens (und damit des philosophischen wie wissenschaftlichen Denkens) wird nun Ausgangspunkt sein, um in die Metaphysik und ihre Dekonstruktion einzuführen. Der metaphysische Versuch, philosophische beziehungsweise wissenschaftliche Gegenstände zu erfassen, beruht auf der Annahme, dass diese einen Ursprung haben.

Metaphysik Mit Metaphysik ist eine spezifische Denkform gemeint, die nicht einfach als eine unter anderen fungiert, sondern deren Ordnung zentral für die Sprache der abendländischen Logik überhaupt ist. Diese Ordnung ist so keineswegs universal, vielmehr muss sie als ethnozentrisch – abendländisch – verstanden werden. Für Derrida unterliegt die Wissenschaft einer „historisch-metaphysische[n] Epoche“ (Derrida 1983/1967, S.  14). Das heißt, dass die Metaphysik historisch-spezifisch wirkmächtig ist, insofern sie bereits seit einem langen Zeitraum fähig ist, unser (philosophisches) Denken, unsere Ideen von Wissenschaft und Sprache/Schrift 20 zu ordnen (vgl. ebd.): „Seit Aristoteles und mindestens bis Bergson hat [die abendländische Metaphysik] immer wiederholt, immer wieder angenommen, daß Denken und Sagen heißen müßten, etwas zu denken und zu sagen, das eine Sache und eine Sache wäre“ (Derrida 1984, S.  73; Herv.i.O.). Damit ist gemeint, dass Denken und Sagen vorerst keinen Einfluss auf die Sache21 hätten, über die gedacht und gesprochen wird. Die 19 | Derrida hält seine Dekonstruktion von philosophischen, literarischen und künstlerischen Texten für seine „persönliche Grenze“, andere sollten dekonstruierend „auch wissenschaftliche Texte untersuchen, sowohl aus den Sozial- und Humanwissenschaften als auch aus den sogenannten exakten Wissenschaften, wie Physik oder Mathematik“ (Interview Derrida in Rötzer 1986, S. 81). 20 | Derrida geht davon aus, dass das Verhältnis von gesprochener Sprache und Schrift durch eine Abwertung der Schrift gekennzeichnet ist, weil u. a. die Schrift durch ihre verräumlichende Eigenschaft das Zeichen zum Empirischen werden lässt und damit dem durch das Zeichen vermeintlich ‚nur‘ Repräsentierten seine Eigentlichkeit nimmt (vgl. dazu S. 98f.). 21  | Ich möchte hier explizit auf den Unterschied gegenüber der erkenntnistheoretischen Positionierung zu ‚Sache‘ und ‚Sachlichkeit‘ in 2.1 hinweisen.

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Sache steht – metaphysisch als Referenz verstanden – in einer einseitigen Beziehung zum Denken und Sagen. Eine so verstandene Sache hängt unmittelbar mit dem zusammen, was Martin Heidegger als die „durchgängig[e] Verwechslung von Seiendem und Sein“ (Heidegger 2007/1929, S. 12) ausmachte. In der Unterscheidung von Seiendem und Sein wird bereits ein Problem, eine Denk-Grenze, deutlich: Wenn Sein die Bewegung, das Geschehen ist, ist das Seiende dessen ‚Produkt‘, geronnenes Sein. Gemeint ist jedoch etwas anderes: Zwar kann man aus der Warte des Seins das Seiende als das, was seiend ist, verstehen, in der Metaphysik ist es aber genau das nicht. Das Seiende in der Metaphysik ist einfach. Es ist ein Sein der Sache ohne Sein, oder eines, in dem das Seiende das Sein vergessen hat.22 Sein reduziert sich dann auf ein ‚ist‘ ohne Vergangenheit und Zukunft; oder wenn, dann nur in der vergangenen wie zukünftigen Wiederholung des Selben. Um das Seiende, die Sache, metaphysisch zu fassen, ist der Begriff des ‚Seienden‘ bereits missverständlich. Die Sache und das Seiende sind ein Ding, das unabhängig von seiner zeitlichen und materiellen Bedingung ‚existiert‘. Ein solches ‚ursprüngliches‘ Seiendes ist eine reifizierte beziehungsweise verdinglichte Präsenz.23 Der Begriff der Präsenz, wie ihn Derrida als Prämisse der Metaphysik anzeigt, bringt stärker einen doppelten Charakter zum Ausdruck: Er verweist einerseits auf ein gegenwärtig sein, andererseits (und gleichzeitige) auf ein DaSein. In der Metaphysik wird Zeit als Sein24 – im Sinne des Seienden – verstanden. Zeit ist dann eine Aneinanderreihung von Gegenwärtigkeiten. Die Präsenz des Dinges25 ist dessen „ungeteilte Einheit“ (Derrida 2003/1967, S. 83), die in einer ebenso verdinglichten Zeit nicht der ‚Eigenschaft‘ von genetisch verstandener Zeit, „Eigenheit“ zu „zerspalten“ (ebd., S.  93; Herv.i.O.), ausge22 | ‚Vergessen‘ ist problematisch, weil das Geschehen des Vergessens geradezu unkontrolliert geschieht, jedoch ist das Vergessen des Seins in der Metaphysik kein Zufall. Das Sein muss vergessen werden, damit das Seiende präsent und einheitlich sein kann (vgl. zum Vergessen des Unterschiedes von Sein und Seiendem und dessen Spur auch Derrida 2004/1968, S. 141). 23 | Eventuell wäre es logischer hier von ‚verdinglichter Gegenwart‘ zu sprechen, allerdings ist dieser Begriff zu sehr zeitlich konnotiert. 24  |  Heidegger spielt durchgehend eine wichtige Rolle für Derridas Metaphysikbegriff. Nicht nur in Derridas expliziter Auseinandersetzung mit Heidegger, sondern auch in seinen Arbeiten zu Emmanuel Levinas ist dessen Ontologie, neben der Metaphysik als Lehre des Seins als Seiendem, von besonderer Bedeutung (vgl. Derrida 1976/1964, S. 124). Es ist aber nicht Aufgabe meiner Arbeit, dieses im Einzelnen nachzuvollziehen, ich beschränke mich auf die Dekonstruktion der Metaphysik als Weg, das Verhältnis von Empirischem, Methode und Theorie zu überdenken. 25 | Die Präsenz des Dinges ist zu unterschieden von einer sachlich verstandenen Sache.

Die unmögliche Methode

setzt wird. Die Zeitdimension metaphysisch verstandener Gegenstände, aufgefasst als verdinglichte Präsenz, ist dann geradezu un-zeitlich. Mit der metaphysischen Präsenz sind zwei wichtige Punkte angesprochen, die für die Auseinandersetzung mit Kategorien zu klären sind: Die unzeitliche Geschichte der aneinander gereihten Gegenwärtigkeiten und das Verhältnis zum Empirischen. Der (Un-)Zeitbegriff der Metaphysik leugnet nun nicht etwa Geschichte, sondern versteht in der eigenen Logik Zeit objektiv und damit auch Geschichte als Ding. Kritisch nennt Derrida dies eine Geschichte, in der die „Zeitlichkeit erstarrt“ (Derrida 2013/1990, S. 247). Der Gegenstand der metaphysischen Wissenschaft bleibt untangiert von empirischen Ereignissen im zeitlichen Wandel.26 Das heißt, der Gegenstand wird als Ding aufgefasst, das sich unabhängig vom Empirischen in einer objektivierten Geschichte wiederholt – also in unendlicher Gegenwart. Die Absage an das Geschichtliche hängt, wie Derrida in seiner Lektüre Edmund Husserls verdeutlicht, mit der Annahme ausdrücklicher Idealität zusammen. Husserls Phänomenologie beschäftige sich insofern mit dem metaphysischen Seienden, als dass auch er versuche, den Gegenstand – das Phänomen – unabhängig vom Sein zu erschließen. Das zeige sich im Bemühen, die Quelle von Phänomenen in einer „Selbstidentität des Jetzt“ (Derrida 2003/1967, S. 85) auszumachen. Diese Identität ist ideal, weil sie immer dieselbe bleibt, und ausdrücklich, weil sie sich im Jetzt (in jeder Gegenwart erneut) vergegenwärtigen kann. Das Tätige der Vergegenwärtigung bleibt jedoch ungesehen, Husserl geht davon aus, dass sich das ideale und ausdrückliche Phänomen – die verdinglichte Identität/Präsenz – intuitiv erschließen lässt (vgl. ebd., S. 46ff.). Das Seiende als Identität ist unabhängig von seiner empirischen Verkörperung präsent. Was empirisch beobachtbar ist, rüttelt nicht an seinem Ursprung des ideal Seienden (vgl. ebd., S. 34f.); und das Ideale lässt es zu, das Empirische im aktuellen Jetzt zu überschreiten. Diese metaphysische Argumentation wird insbesondere durch das Verhältnis von Präsenz und Repräsentation aufrechterhalten. Weiter oben wurde bereits der referentielle Bezug zwischen ‚Sache‘ und Denken/Sagen in der Metaphysik angedeutet. Die Sache – das Seiende, das Ding, die Präsenz – als Identität verstanden, steht einer Repräsentation ihrer selbst gegenüber. Die Repräsentation ist das Zeichen für diese Präsenz. Wenn überhaupt, hat sie nur einen Bezug zum ideal Seienden, insofern sich die 26 | Angesichts meines Vorhabens, gerade das Metaphysische im Theorie-Empirie-Praxis-Verhältnis, insbesondere in der empirischen Forschung zu zeigen, lässt dieser Satz aufhorchen. Schließt die Metaphysik das Empirische in ihrer Gegenstandsbestimmung nicht aus? Die Frage muss hier vorläufig zurückgestellt werden – vorerst unter dem Hinweis, dass ich eher die Frage umdrehen würde, inwiefern die empirische Forschung metaphysische Anleihen in ihrer Gegenstandsbestimmung voraussetzt.

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Identität in ihrer Repräsentation ausdrücken kann. Damit ist eine Differenz markiert zwischen dem, was repräsentiert wird, und der Repräsentation selbst, dem Zeichen. Werden Begriffe, Namen oder Kategorien als Zeichen für etwas verstanden, bedeutet das, dass sie dieses etwas, für das sie stehen, voraussetzen. Werden Signifikat und Signifikant einander gegenübergestellt, produzieren sie das Seiende. Das Zeichen ersetzt das Seiende doppelt und setzt es damit voraus: „vorläufig“ ist das Zeichen bezogen auf eine „aufgeschobene Präsenz, nach deren Wiederaneignung man strebt“ und „sekundär“ wenn es vermeintlich „nach eine[r] ursprünglichen und verlorenen Präsenz, aus der sich das Zeichen abgeleitet hat“ (Derrida 2004/1968, S. 120; Herv.i.O.), auftritt. Dieses Geschehen allerdings muss die Metaphysik ausschließen, weil sonst der Gegenstand weder einheitlich noch eigentlich wäre. Er wäre aus metaphysischer Perspektive ‚kontaminiert‘ mit einem ihm äußerlichen Zeichen. Die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant ist sicherlich eine entscheidende, aber die abendländische, „griechisch[e] Herrschaft des Selben und Einen“ (Derrida 1976/1964, S. 127) geht noch weiter: sie betrifft die Differenz überhaupt zwischen Eigenem und Anderem. Die Selbstidentität des Eignen (aber auch des Anderen) beruht auf der Annahme eines Eigentlichen, das eben nicht das (jeweilige) Andere ist. Präsenz und Eigentlichkeit sind die Abwesenheit des Anderen (vgl. ebd., S. 139f.). Die zentrale Differenz der Metaphysik ist die zwischen autonomen Eigentlichkeiten; autonom, weil sie ideal, zeit- und raumunabhängig und vom Anderen unabhängig wiederholt, ständig aktualisiert werden können. In ihrer idealen Eigentlichkeit sind metaphysische Gegenstände objektiviert, d.h. auch in sich indifferent, und in absoluter Opposition zu dem ihnen Anderen strukturiert.27 Dass diese Differenz zentral für die Metaphysik ist, deutet eine Ungeheuerlichkeit, eine Bedrohung der Metaphysik an, die die Dekonstruktion ermöglicht.

27 | Was als gegenwärtige Präsenz verstanden wird, ist nur anwesend durch das, „was es nicht ist, absolut nicht ist, nicht einmal eine Vergangenheit oder eine Zukunft als modifizierte Gegenwart“ (Derrida 2004/1968, S. 125f.). „Ein Intervall muß es von dem trennen, was es nicht ist, damit es es selbst sei“ (ebd., S. 126). Diese Abgrenzung erfolgt zeitlich und räumlich. Die Gegenwart ist abgeschnitten von Vergangenheit und Zukunft. Die so verstandene Präsenz ist durch nichts ihr Uneigenes ‚verunreinigt‘. Bezogen auf Kapitel 1 zeigt sich hier, wie das metaphysische Denken die Abspaltungen des generationalen und gesellschaftlichen Verhältnisses, der Gewalt und des Geschlechterverhältnisses in der Selbst- und Fremdbewertung durch Pädagog/innen (der Disziplin wie Profession) in der Heimerziehung ermöglichte.

Die unmögliche Methode

Dekonstruktion Wird der bisherigen Darstellung gefolgt, können metaphysisch verstandene Gegenstände als voneinander differente, präsente Eigentlichkeiten gefasst werden. Ihre Existenz erschließt sich nicht durch ihre empirische Verkörperung, sondern aus ihrer ursprünglichen Identität. Die Identität ist scharf von dem getrennt, was sie weder zeitlich noch räumlich ist. Diese Differenz ist sowohl Bedingung als auch Bedrohung ihrer Existenz. Indem die Identität alles andere ausschließt, bedingt das Andere sie. Die Differenz ist Teil des Eigentlichen, weil es ohne die Differenz nicht eigentlich sein könnte. Diese Verstrickung der Metaphysik ist das Thema der Dekonstruktion Derridas. Dabei ist die Dekonstruktion selbst keine Alternative zur Metaphysik, weil die Kategorie des Alternativen ebenfalls eine metaphysische ist. Dieser Satz ist ebenso unmöglich wie Metaphysik und Dekonstruktion getrennt zu denken. Der metaphysische Versuch, sich der Differenz zu entledigen, ist unmöglich, weil er damit Differenz erst konstituiert. Die Dekonstruktion wäre unmöglich, würde versucht, sie alternativ, außerhalb der Metaphysik anzusiedeln, weil das ebenso die metaphysische Differenz wiederholen würde. Die metaphysische Verstrickung ist nicht nur die Aufgabe der Dekonstruktion, sondern auch ihre Verstrickung. Ich versuche hier daher die Dekonstruktion im Verhältnis zur Metaphysik zu entwickeln.28 Wenn Derrida von der Metaphysik der Präsenz als Möglichkeitsbedingung abendländischen Denkens ausgeht, kann die Dekonstruktion nur unmöglich oder undenkbar sein, weil sie sich gegen das richten muss, was sie ermöglicht. Die Dekonstruktion kann somit als Teil des unendlichen Unterfangens ‚Wissenschaft‘ betrachtet werden, insofern sie durch weitere Perspektiven noch ‚mehr‘ zu erfassen sucht.29 Das Besondere – das, was paradox einen Unterschied ausmacht – ist ihre kontrapunktische30 Position gegenüber Wissen oder Wissenschaft, die (er-)schließend vorgehen. Die zentrale Schließung der Me28 | Dabei stolpere ich sprachlich von einer metaphysischen Hürde der Differenzen und Oppositionen zur nächsten: Ist nicht das Verhältnis etwas, was sich zwischen zwei Dingen entspannt? Die Dekonstruktion kann ihnen nicht ausweichen: Sie „hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen [...]. Die Dekonstruktion wird immer auf bestimmte Weise durch ihre eigene Arbeit vorangetrieben“ (Derrida 1983/1967). Oder wie Gayatri C. Spivak (1974) Derridas emportée par mit to fall prey to übersetzt, hat sie sich selbst ‚zum Opfer zu fallen‘ oder ‚anheim zu fallen‘. 29 | „Die Idee der Wahrheit, das heißt die Idee der Philosophie oder der Wissenschaft, ist eine unendliche Idee, eine Idee im kantischen Sinne. Jede Totalität, jede endliche Struktur ist ihr gegenüber inadäquat“ (Derrida 1976/1959, S. 244). 30  |  Mein Dank gilt an dieser Stelle Rita Casale für die begriffliche Fassung der Dekonstruktion als ‚kontrapunktische Lesart‘.

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taphysik ist das Ausschalten des Seins, indem Zeit und Seiendes objektiviert werden. Identität ist vermutlich das Beispiel dafür. Die Dekonstruktion öffnet hingegen, indem sie auf die Genese und Bedingungen von Gegenständen blickt und Bedeutungsüberschüsse31 weniger opak werden lässt. Der Widerspruch, eine Dekonstruktion von Metaphysik vorzunehmen, ohne die Metaphysik verlassen zu können, ist eklatant. Dies zu benennen ist zugleich der Widerstand gegen die Metaphysik. Genau das macht Derrida: Er kritisiert in seiner anerkennenden Lektüre derjenigen, die vor ihm anstrebten die Metaphysik zu überschreiten, deren Versuch, die Metaphysik hinter sich zu lassen.32 Sicherlich lässt sich Derridas Vorhaben so lesen, dass sich in ihm das gleiche Problem wiederholt. Im Anliegen, diese Wiederholung zu markieren, eröffnet sich jedoch das dekonstruktive Potential, das metaphysische Denken durch ein Öffnen auf ein „Draußen hin [...], was sich nur von einem bestimmten Drinnen ausmachen lässt“ (Derrida 2003/1967, S.  80, FN 6; Herv. JW), zu verunsichern.33 Die Dekonstruktion von einem bestimmten Drinnen vorzunehmen, verweist auf die kontrapunktische Position innerhalb des metaphysischen Denkens, die die Bedingungen der Metaphysik als ihre inhärente Grenze auslotet: Was lässt das Seiende, die Identität, in Form idealer Eigentlichkeiten als ursprünglich objektiviert und in Opposition zum anderen strukturiert denken? Die zentralen Begriffe dazu finden sich im Ursprung und in der Differenz. Im metaphysischen Denken ist das Seiende eine ursprüngliche Identität. Derrida argumentiert, dass diese Idee eines Ursprungs keineswegs aus dessen Präsenz zu erfahren ist, sondern sich aus der Differenz zu ihrer vermeintli31 | Bedeutungen werden zugleich ausgeschlossen und herbei-/hervorgerufen. Jede sprachliche Artikulation ist der reinen „Vieldeutigkeit“ (Derrida 1976/1963, S.19) eines sprachlichen Systems ausgesetzt: „Sprechen macht mir Angst, denn da ich nie genug sage, sage ich immer auch zu viel“ (ebd.). Rede werden zu müssen erdrückt den Sinn und die Rede selbst erst recht (vgl. ebd.). 32 | Dazu zählt seine Kritik an Husserl, „einen Empirismus und eine Metaphysik“ als „Schreckgespenster der Phänomenologie“ (Derrida 2013/1990, S. 322) miteinander verbunden zu haben; und sein Umgang mit Heidegger, Freud und Nietzsche: „So haben beispielsweise Nietzsche, Freud und Heidegger mit den überlieferten Begriffen der Metaphysik gearbeitet. [...] jede Anleihe [beschwört] die gesamte Metaphysik herauf. Infolgedessen können sich die genannten Destrukteure gegenseitig destruieren“ (Derrida 1976/1966, S. 426). 33 | Im Grunde gibt eine solche Position die Idee einer von Bedingungen unabhängigen Subjektivität ab und setzt sich der Angewiesenheit auf sprachlich strukturiertes Denken aus: „Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte“ (Derrida 1976/1966, S. 425).

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chen Repräsentation entwickelt. Während metaphysisch die Repräsentation als Zeichen für Präsenz aus dieser abgeleitet beziehungsweise deren Tatsächlichkeit ankündigend verstanden wird, betont Derrida die Eigenschaft des Zeichens, iterierbar34 und durch das Zitat verständlich zu sein. Die Sache ist folglich nicht aus sich heraus erfahrbar, sondern durch die Einschreibung mittels Zeichen in ein Zitat-System. Die ideal-abstrakte Verdinglichung der konkreten Sache erfolgt durch Vergessen dessen, was sie erst der Erfahrung zugänglich macht. Weder macht das Zeichen die Sache noch macht eine vorgängige Differenz die unterschiedlichen Zeichen. Die Metaphysik dekonstruierend, ist die Entscheidung zurückzuweisen, ob Differenz eine Frage der Natur oder Kultur ist, ebenso wie die Frage nach dem Ursprung. Entscheidend für die Frage der Differenz ist, dass das Potential der Iteration die Identität gleichzeitig ermöglicht und dieser „niemals erlaubt, gegenüber sich selbst eine Identitätseinheit zu sein“ (Derrida 2004/1971, S. 84). Das Zeichen kann – muss – zitiert werden; „von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen. Das heißt nicht, daß das Zeichen (marque) außerhalb eines Kontextes gilt, sondern ganz im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.“ (Ebd., S. 89)

Das ist das „Normale/Anormale“ (ebd.) des Zeichens: zitierbar und mit verlorenem Ursprung zu sein. Das Zeichen bedroht die Differenz in der Metaphysik, weil es die strikte Differenz zwischen Realität und Repräsentation verunmöglicht, allein schon dadurch, dass das Zeichen als abgeleitet gedacht wird (vgl. Derrida 2003/1967, S. 71). Der Vorstellung, einen Referenten und/oder einen Sinn intentional erfassen zu können – und zwar restlos (vgl. ebd., S.  92) – wird dekonstruierend die Möglichkeit des Scheiterns zutreffender, restloser und ‚ursprünglicher‘ Erfassung gegenübergestellt. Metaphysisch wird diese Möglichkeit als Ausnahmeerscheinung gegenüber der gewöhnlichen, referentiellen Sprache ausgelagert und so verdeckt, dass das „Außen“ das „Innen“, „interne und positive Möglichkeitsbedingung“ (ebd., S. 97) der Norm ist.35 Die Differenz ist dann nicht das Gegenteil; sie ist Innen und Außen, ohne diese noch dualistisch betrachten zu können. Was vom Einen ausgeschlossen wird, ist „auf unsymmetrische Weise [...] allgemeine[r] Raum [seiner] Möglichkeit“ (ebd., S. 101). In der Grundannahme Derridas, wonach jegliches Zeichen ur34 | Es ist kein Zufall, dass Derrida auf das Verb ‚iterieren‘ gegenüber wiederholen oder reproduzieren zurückgreift. Es geht ihm nicht um das erneute Auftreten ein und des selben, sondern: „iter [...] kommt von itara, anders im Sanskrit“, was für Derrida die „Wiederholbarkeit mit der Andersheit verknüpft“ (Derrida 2004/1971, S. 80; Herv. i.O.). 35 | Nicht zuletzt ist die Unterscheidung von Idealität und Empirischem ein Versuch, die konkrete Abweichung aus der Identität auszuschließen.

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sprungslos iteriert ist, verstreut sich, löst sich die Möglichkeit des Identitären um so mehr. Die Differenz betrifft nicht mehr die Differenz von Unterschiedlichem, sondern die Differenz im Eigentlichen als seine Bedingung: Das, was in der Präsenz nicht gegenwärtig ist, ist die irreduzible Bedingung des Jetzt, was „radikal jede Möglichkeit einer Selbstidentität in der Einfachheit [zerstört]“ (ebd., S. 90). In dieser Vorstellung von Differenz löst sich nun zudem die Verdinglichung auf. Während in der Metaphysik Zeit als Seiendes gedacht wird, wendet die Dekonstruktion das Sein als Zeit.36 Dazu werden weder Sein noch Zeit verdinglicht gedacht. Beide sind nun als Ereignis oder geschehende Geschichte zu verstehen.37 Die Dekonstruktion macht sich so Präsenz als Identität zum Gegenstand in ihrer tätigen Deutung. Dieses Denken spitzt sich in dem von Derrida eingeführten Neologismus der différance zu. Damit unternimmt Derrida eine weitere Unmöglichkeit: Die différance soll kein Begriff, kein Ding sein. Die „différance ist (ich streiche auch das ‚ist‘ durch) [das]38, was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht“, was jedoch daran bindet, dass „sie sich nie als solche [gegenwärtigt]“ (Derrida 2004/1968, S. 114). Sie ist nur der Raum der Möglichkeit, was in ihr präsentiert wird, erscheint als wahr und dazu muss sie verschwinden.39 36 | Die Anleihe Derridas bei Heidegger ist auch hier deutlich: bei Letzterem ist Sein Zeit und damit das „Geschehen selbst“: Geschichte als „Geschichtlichkeit“ (Casale 2001, S. 33f.), als Geschehenem. 37 | Hier schließt Derrida an Nietzsches Idee an, das „ ‚Sein‘ vom Leben her zu denken“ (Derrida 1984, S. 76). Das Leben wird in Derridas Interpretation nicht als biologisch gedeutet, sondern in seiner Bewegung, Veränderung und Dynamik, die es von einem totalen Seienden trennen. Zugleich weist die Vergänglichkeit des Lebens („Das Leben und der Tod [...] sind auch keine Gegensätze“, ebd.) darauf hin, wie das Sein unweigerlich der Zeit ausgeliefert ist. 38 | Derrida bezieht sich auf Martin Heideggers „kreuzweise Durchstreichung“, die ermöglicht, das Signifikat als durchstrichene Präsenz lesbar zu lassen: „Verschwindet und bleibt dennoch lesbar, wird destruiert und macht doch den Blick auf die Idee des Zeichens selbst frei“ (Derrida 1983/1967, S. 43). Die Nutzung des Heidegger’schen Durchstreichens von sein hängt damit zusammen, dass die différance (so unverständlich das sein mag) „[alles] nicht ist“, in „keine Kategorie des Seienden, sei es anwesend oder abwesend“ gehört und sich der Suche nach einem „absoluten Ausgangspunkt“ (Derrida 2004/1968, S. 115; Herv.i.O.) entzieht. 39 | Als „Spiel der Spur“ trägt die différance den „Sinn des Seins“ (Casale 2001, S. 41), statt ihn sich selbst voraus zu setzen. Diese Möglichkeit ohne Vergegenwärtigung ist geradezu anti-phallogozentrisch, weil es keinen ‚Einen‘ darin geben kann beziehungsweise wenn, dann nur in einem heteronomen Verhältnis zum Raum. Ebenso verweist die Raummetapher auf das Ungreifbare. Der Begriff des Phallogozentrismus wird von Derrida mit der Metaphysik identifiziert (vgl. Derrida 1986/1973, S. 150): Darin machen die Wahrheit und der Phallus das

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Diese ‚Eigenschaft‘, zu verschwinden, übersteigt was vorstellbar ist. Sie ist das stumme „Spiel“ (ebd., S. 113), das Differenzen hervorbringt und sich selbst dem Gegensatz von Sinnlichem und Intelligiblem entzieht (vgl. ebd.; vgl. auch Irigaray 1980/1974, S.432ff.). Indem die différance sich nicht exponiert, exponiert sie die Differenz im Sinne des Präsenten oder Anwesenden. Die Dekonstruktion verleugnet nicht die Differenzen, aber sie ermöglicht sie in einer anderen Perspektive zu betrachten. Die Bewegung der différance ist das unaufhörliche Stiften von Differenz zwischen Präsenzen von Gegenständen oder Subjekten. Der Blick auf diese Vorgänge relativiert Vorstellungen von absoluter Differenz, Subjektivität und Unmittelbarkeit. Die Differenz ergibt sich nicht mehr aus den eigentlichen Gegenständen, aus deren Identitäten, sondern sie ist selbst als ‚Differenzierung‘ wirksam. Die französische Endung ‚ance‘ „verharrt“ in der différance „unentschieden zwischen dem Aktiv und dem Passiv“ (Derrida 2004/1968, S. 119; Herv.i.O.). Das verweist auf das, was die beteiligten ‚Elemente‘ (ich setze Anführungszeichen, um deren Unabgeschlossenheit zu markieren) nicht vollkommen ‚in der Hand‘ haben und sie verändert. Die différance unterscheidet, teilt jedoch nicht bis zum abgetrennten Unterschied. Mit dem Neologismus différance betont Derrida, dass die ‚Elemente‘, deren Differenz betrachtet wird, in einem genetischen Abhängigkeitsverhältnis stehen, in einem unaufhörlichen, sich ständig verändernden Wechselverhältnis.40 Ein solches Differenzverständnis unterläuft sowohl die metaphysische Differenz autonomer Eigentlichkeiten als auch ein strukturalistisches Differenzverständnis, soweit dieses am metaphysischen Zeichenbegriff festhält (vgl. ebd., S. 130). Die différance ist nicht die Opposition zum Seienden, sondern sie ermöglicht die „Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden“, das „Anwese[n] des Anwesenden“ (ebd., S. 114). Die Präsenz mit der différance zu verstehen, verschiebt das Substantiv zu seinem Verb. Daraus folgt ein anderer Materialitätsbegriff. In der Annahme von Seiendem oder Anwesendem liegt die Präsenz als Identität. Wenn diesen ursprünglichen Eigentlichkeiten die différance als Möglichkeitsraum ohne ursprüngliches Ding entgegentritt, erscheint Materialität unabgeschlossen, nicht verdinglicht. Da darin kein Abschied von der Materialität liegt, akzeptiert die Dekonstruktion das Verhältnis von Sein und Seiendem als unauflöslich. Indem im Metaphysischen das Empirische durch Idealität auszuschließen versucht wird, wird geltende Recht oder die Ordnung aus, sie sind eine „reaktiv[e] und negativ[e] Instanz“ (ebd.), die kastrierend gegenüber der Frau/dem so hervorgebrachten Nicht-Phallischen wirkt. 40 | Die différance ist für Derrida ein „ökonomischer Begriff“, um „die Produktion des Differierens im doppelten Sinne des Wortes (différer – aufschieben/von einander verschieden sein)“ (Derrida 1983/1967, S. 44) zu verdeutlichen. Im Vergleich zum Seienden ist die différance „zwar ‚ursprünglicher‘“, aber mit der Hinwendung zu ihrem unabschließbaren Produzieren, soll sie eben weder „Ursprung“ noch „Grund“ (ebd.) sein.

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die Eigenschaft des Materiellen als Sein in der Zeit umgangen, die das Seiende vergänglich werden lassen könnte. Von daher ist eine Materialität, die zeitlich ‚ist‘ (oder besser im Werden begriffen ist), ein „Moment der Krise“ (Derrida 2003/1967, S. 110) für die Präsenz. Damit ist das Dilemma von Materialität und Diskursivität jedoch nicht entschieden, weil Letztere an die Vermittlungsfunktion des Zeichens gebunden ist. Wie bereits dargestellt, ist es gerade die Vermittlung, die paradox Seiendes ideal hervorbringt wie konterkariert. In der Differenz von Präsenz und Repräsentation erscheint das Zeichen ebenso krisenhaft wie die Zeit für die Idealität. Insbesondere in Form der Schrift wäre das Zeichen nicht mehr allein Ausdruck seines Referenten, sondern würde empirisch der Zeit ausgesetzt. Die Schrift bleibt auch nach der Gegenwart verständlich. Sie braucht weder Präsenz noch ein anwesendes Subjekt, um verstanden zu werden. Ihr System ist vom Referenten unabhängig (vgl. Derrida 1983/1967, S.  120f.). Hingegen ist der vermeintliche Referent sehr wohl vom Zeichen abhängig, denn es „supplementiert“ als „Repräsentation [...] in der Regel die Anwesenheit“ (Derrida 2004/1971, S. 76; Herv.i.O.). In der Metaphysik wird dieses Verhältnis so gewendet, dass die Repräsentation nicht-anwesend erscheint und zugleich in ihrem ‚für die Präsenz‘-Stehen Anwesenheit produziert. Das Zeichen (vor allem als Schrift) gefährdet diese Anwesenheit des Idealen, weil es das Anwesende verräumlicht und verkörpert. Es nimmt ihm zugleich seine Originalität, weil es nicht allein auf den vermeintlichen Referenten rekurriert, sondern zur Vermittlung ein bereits verwendetes Zeichen benötigt. Das Sein des Referenten ist damit abhängig von den abwesenden Zeichen, solange es auf das Zitieren angewiesen ist. Wenn der Referent nicht Ausgangspunkt seiner Repräsentation ist und die Repräsentation vermitteln kann, weil sie zitiert, hat das Folgen für Präsenz und Ursprung. Die nachträgliche Repräsentation, also die Repräsentation in der Zeit kann keine Präsenz verdrängen, da es „keinen präsenten [...,] gegenwärtig-vergangenen [...,] ein vergangener Text, der gegenwärtig gewesen wäre [gibt]. Der Text lässt sich nicht in der ursprünglichen oder in einer modifizierten Form der Präsenz denken [...]; ein nirgendwo präsenter Text, der aus Archiven gebildet wird, die immer schon Umschriften sind. [...] Alles fängt mit der Reproduktion an. Immer schon, das heißt Niederschlag eines Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeutete Präsenz immer ‚nachträglich‘, im nachherein und zusätzlich (supplémentairement) rekonstruiert wird.“ (Derrida 2004/1972, S. 240, Herv.i.O.)

Damit ist das Supplement „ursprünglich“ und die Präsenz „nachträglich“ (ebd.). Die Reproduktion an die Stelle der Produktion zu setzen ist darin nur konsequent, da die Produktion nach einem ursprünglichen Produzenten verlangen würde, von dem sie ausgegangen wäre. Derrida entkommt nicht der metaphy-

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sischen Sprache (die keine Sprache sein will), da er sowohl die différance als auch den Aufschub in der Repräsentation zunächst als ursprünglich versteht. Auch hier wird ein Supplement benötigt: der Aufschub ist nicht ursprünglich im Sinne eines „vollen Ursprungs“ (ebd., S. 225): „Die Ursprungslosigkeit ist es, die ursprünglich ist“ (ebd., S. 226). Die Präsenz des Gegenstandes ist demnach nachträglich, sie hat ihren ‚Ursprung‘ in der Ursprungslosigkeit von Differenzieren und Zitieren.

2.1.2 Die Bedeutung von Metaphysik und Dekonstruktion für das Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis Die Argumentation, dass die Metaphysik das abendländische Denken überhaupt bestimmt und die Wissenschaft sich dessen nicht erwehren kann, hat Konsequenzen für die Bestimmung wissenschaftlicher Gegenstände. Diese betreffen die Frage, was das Wissen vom Gegenstand ist oder sein kann und die Position des Subjekts in der Wissenschaft. In der metaphysischen Perspektive41 ist der Gegenstand zunächst eine Frage der Eigentlichkeit, die objektiv zu erfassen ist. Das Objekt der Wissenschaft soll in seinem Sein (hier als Seiendes verstanden) und in seiner Abgrenzung zu anderen Eigentlichkeiten erschlossen werden. Die Trennung in Theorie, Empirie und Praxis, als unterschiedlich befähigte Formen des Zugriffs auf den Gegenstand, kann der metaphysischen Trennung von Referent und Repräsentation zugeordnet werden. Dabei kann die Zuordnung der Wissensformen zu der einen oder anderen Kategorie variieren, sie bleibt aber auf der Basis, dass ein der Forschung und Praxis oder Repräsentation äußeres ‚Ding‘ zu erschließen sei. Mit Derrida kann eine solche Vorstellung von Wissenschaft als der Glaube an das „absolute Wissen als Schließung“, an das „Ende der Geschichte“ (Derrida 2003/1967, S. 137; Herv.i.O.) gelesen werden. Eine Philosophie oder Wissenschaft, die von einem Wissen ausgeht, das die Präsenz des Gegenstandes erfassen kann, schließt die différance aus. Verstellt das Seiende so das Sein, handelt es sich um „Gegenwärtigung* des Seins, Hervorbringung und Versammlung des Seienden in der Gegenwärtigkeit, als Wissen und Herrschaft“ (ebd.; Herv.i.O.). Sobald das absolute Wissen vollendet wird, ist es das „Ende des Unendlichen, das nur die Einheit des Begriffs, des Logos und des Bewusstseins [...] ohne différance sein kann“ (ebd.). Entgegen dieser Schließung, die eine absolute Differenz setzt und die Differenz gegenüber dem Absoluten unterdrückt, verläuft die dekonstruktive Öffnung dieser Verdinglichung über die Suche nach den Vorgängen und ihren Spuren, die erst die absolute Differenz ermöglichen. Was darin ‚entdeckt‘ 41  | Die metaphysische Perspektive bleibt als solche unmarkiert im wissenschaftlichen Diskurs.

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wird, ist kein neuer ‚Ursprung‘, es sind vielmehr die ungedachten, inhärenten Grenzen der Metaphysik, ohne die sie nicht sein könnte. Sie betreffen die Bedingungen der Metaphysik, die verleugnet werden müssen, damit diese das Seiende der Differenz behaupten kann. Konkret ist damit die Heteronomie der metaphysischen Differenz als immer vermittelte Erfahrung bezüglich des Zeichens, des Anderen, der Zeit/des Genetischen/Historischen und des Seins gemeint. Wissen um den Gegenstand ist dann weder aus diesem abgeleitet, noch ist es ein willkürliches Spiel der Sprache. Das Seiende ist durch die zitierende Sprache vermittelt und durch die darin entwickelten Differenzen anwesend. Die différance ist nun der Weg um das metaphysische Denken seiner ungetrübten Präsenz zu entledigen. Indem mittels différance die Differenz und ihre Chronologien, Oppositionen, Hierarchien auf die Spitze getrieben, verdreht, überspitzt werden, gerät die metaphysische Ordnung ins Wanken. Dennoch entkommt ihr auch diese Form der Dekonstruktion nicht. Allerdings hat und ist deren Widerspruch ‚Methode‘. Die Sprache (die nur verständlich sein kann, solange sie sich an die metaphysisch begründeten Spielregeln hält) zwingt Derrida dazu, die différance vorläufig als Ursprung geordneten Seins (also oppositionell, eigentlich, seiend etc.) zu konzeptionalisieren. Sich dieser Notwendigkeit und damit verbundenen Vorwürfen der „Onto-Theologie“ (Derrida 2004/1968, S. 115) zu erwehren, gelingt und misslingt zugleich. Der différance ist das Scheitern eingeschrieben, daher ist sie un-möglich. Ihr Scheitern markiert durch die Überzeichnung das Scheitern des metaphysischen Denkens, es konterkariert Ideen absoluten (Ab-)Schließens, Siegens, Fortschreitens und Vervollkommnens. Statt das Differente und Andere zu erobern und sich als konturierten Besitz anzueignen, sind ihr Geschehen und ihre Beziehung zu denken. Die Schließung in der Wissenschaft zu verweigern, verändert über den zu untersuchenden Gegenstand hinaus auch das forschende Subjekt. Das Subjekt, als erforschtes Objekt wie als forschendes Subjekt verstanden, verändert sich in einem dekonstruktiv betrachteten Verhältnis von Präsenz und Repräsentation. Wenn die Präsenz, also der Referent selbst, von einem abwesenden Zeichen abhängig ist, das zitiert wird, kann seine Bezeichnung nicht durch die intuitive Erschließung eines Gegenstandes erfolgen. Das erforschte Subjekt kann nur in Beziehung zu seiner Repräsentation Subjekt sein und das forschende Subjekt kann ebenso wenig autonom den Gegenstand erfassen. Seine Erfahrung des Gegenstandes und seine sprachliche wie schriftliche Erfassung sind bereits strukturiert. Besonders deutlich wird das in der Schrift, die von den das Absolute bedrohenden Anteilen der différance berührt ist, insofern sie als „Name für Zeichen [gilt], die trotz der vollständigen Abwesenheit des Subjekts [...] funktionieren“ (Derrida 2003/1967, S. 125). Dazu zählt vor allem das „ich“, welches als Supplement einer Idealität gesehen werden kann, das keiner „empirische[n] Gegenwärtigkeit“ (ebd., S. 127) bedarf. Um ‚ich‘ oder ‚ich bin‘

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zu verstehen, muss weder das sprechende Subjekt noch der Gegenstand anwesend sein. Der „Gegenstand ich [ist] nicht nötig, um das Wort ich zu verstehen“ (ebd., S.128). In dem Wort ‚ich‘ drückt sich für Derrida die „Geschichte der Sprache“ überhaupt aus; ‚ich‘ ist ebenso namenlos, wie ‚ich schreibe‘ uneigentlich ist – das sei die „normale Situation“ (ebd., S. 129). Das führt Derrida allerdings nicht in die Situation, das Subjekt auszuschließen. Es ist vielmehr ein Abschiednehmen von einem konstituierenden Subjekt metaphysischer Diskurse, die „Selbstidentität, Bewußtsein, Intention, Selbstgegenwärtigkeit oder Nähe zu sich selbst, Autonomie, Objektbeziehung“ (Derrida (2004/1988, S. 266) unterstellen. Das Subjekt sei eher „neu zuzuordnen oder neu einzuschreiben, [...] weder dogmatisch oder empiristisch, noch kritisch [...] oder phänomenologisch“ (ebd., S. 266f.). Die Folgen dieses Perspektivwechsels auf Gegenstand und Subjekt in der Wissenschaft ergeben sich vor allem aus der dezentrierenden Bewegung der Dekonstruktion. In seiner Lektüre Claude-Lévi-Strauss’ wendet sich Derrida den „Wissenschaften vom Menschen“ (Derrida 1976/1966, S.  427) zu. Lévi-Strauss gibt in seiner ethnologischen Untersuchung von Mythen die Annahme eines „Referenzmythos“ auf, er sieht seine eigene wissenschaftliche Perspektive und seinen Gegenstand demselben „Status“ (ebd., S. 432) unterworfen. Für Derrida betrifft das „alle Sprachen [...], die das Feld der Wissenschaften vom Menschen teilen“ (ebd.). Für alle könnte ein „erklärte[r] Verzicht jeglicher Bezugnahme auf ein Zentrum, auf ein Subjekt, auf eine privilegierte Referenz, auf einen Ursprung oder auf eine absolute arche“ (ebd.; Herv.i.O.) erfolgen. Wenn ein Gegenstand von veränderbaren Strukturen bestimmt wird, kann für Derrida im Anschluss an Lévi-Strauss auch der „Diskurs über diese a-zentrische Struktur [des Gegenstandes] [...] selbst kein Subjekt oder absolutes Zentrum haben“ (ebd., S. 433; Herv. JW). Anhand der von Lévi-Strauss entlehnten Begriffe des „Bastlers“ und des „Ingenieurs“ (ebd., S. 431) verzichtet Derrida auf die Annahme eines objektiven Wissenschaftlers. „Nennt man Bastelei die Notwendigkeit, seine Begriffe dem Text einer mehr oder weniger kohärenten oder zerfallenen Überlieferung entlehnen zu müssen, dann muß man zugeben, daß jeder Diskurs Bastelei ist. Der Ingenieur [...] müsste dann aber seinerseits die Totalität seiner Sprache, Syntax und Lexik konstruieren. In diesem Sinne ist der Ingenieur Mythos: ein Subjekt, das der absolute Ursprung seines eigenen Diskurses wäre. Ein derartiges Subjekt, welches das Ganze seines Diskurses ‚aus einem Stück‘ erzeugte, wäre der Schöpfer des Wortes, das Wort selbst. [...] der Ingenieur [ist] ein vom Bastler erzeugter Mythos.“ (Ebd.)

In Sprache, Gegenstand und wissenschaftlichem Diskurs über den Gegenstand gibt es weder ein ursprüngliches Zentrum noch ein begründendes Subjekt. Insofern ist die Dekonstruktion ein Eingeständnis wissenschaftlicher Be-

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schränkungen. Die Grenze der Totalisierung mittels Schließung ist aber nicht durch den Gegenstand gegeben, der unendlich und damit unfassbar sei, sondern die verfügbare „Sprache, und zwar eine endliche Sprache“ (ebd., S. 436) schließt die Totalisierung aus. Diese Bewegung der Bezeichnung mithilfe eines Zeichens, das für eine Präsenz steht, erfolgt in Ermangelung eines Zentrums beziehungsweise Signifikats (ebd., S. 437). Das heißt, die endliche Sprache supplementiert die Präsenz.42 Indem das Signifikat bezeichnet wird, wird seinem Mangel ein Überschuss an Bedeutung zugeteilt; Derrida nennt diese die „supplementäre Ration“, die der „Ursprung der Ratio selbst“ (ebd.; Herv.i.O.) sei. Wissenschaftliches Denken wird durch das Denken und die Sprache der Metaphysik ermöglicht. Wenn diese keinen unvermittelten Zugriff auf den Gegenstand besitzt, sondern dessen Präsenz durch die bereits strukturierte bezeichnende Bewegung reproduziert, fügt Wissenschaft dem Gegenstand Bedeutung hinzu. Dieser ‚Ersatz‘ ist nicht beliebig, er erfolgt durch seine sprachlichen und geschichtlichen Bedingungen. Für das Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis im Sinne einer tätigen Deutung folgt daraus, dass alle drei Wissensformen einem „historischen Frage[n]“ (ebd., S. 442) nach ihren theoretischen, sprachlichen und konkreten Bedingungen zu unterwerfen sind. Keine der Positionen kann sich in eine von den anderen autonome Stellung begeben, die die jeweils andere in ihrer Sache (im verdinglichten Sinne) erschließen kann. Das bedeutet nicht das Ende der Wissenschaft oder der Empirie, sondern von Ideen von absolutem Wissen, eines unmarkierten forschenden Subjekts und einer Hierarchie zwischen den Wissensformen, die auf Annahmen eines tatsächlichen Zugriffs auf den verdinglichten und identitären Gegenstand beruhen.

2.1.3 Identitätskategorien in der Metaphysik empirischer (Sozial-)Forschung Die bereits angerissenen ‚Identitätskategorien‘43 gehören zu einer solchen schließenden Gegenstandsbestimmung. In der genealogischen Rekonstruktion (Kapitel 1) zeigt sich, wie in der Einteilung von Bewohnenden der Heimerziehung Geschlecht als seiendes Merkmal genutzt wurde; zunächst in der Praxis und dann fortgeführt in den auf diesen Kontext bezogenen Untersuchungen von Geschlecht oder Mädchen. Die metaphysische Dimension dieser Einteilung liegt im Setzen absoluter Differenz in Form von Zweigeschlechtlichkeit und der Ignoranz gegenüber inhärenter Differenz, indem Individuen 42 | Zudem ist die Sprache in Bedeutungsverkettungen selbst supplementiert. 43 | Der bei Butler entlehnte Begriff der Identitätskategorie wird in diesem Unterkapitel in einem engen Verständnis genutzt und mit der dekonstruierenden Perspektive Derridas verändert. Die Kritik an Butlers Begriff erfolgt in Kapitel 2.2.1.

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primär über ihre ‚Geschlechtszugehörigkeit‘ innerhalb der phallischen Logik betrachtet und damit hierarchisiert werden.44 Das war für mich der Anlass, die grundlegenden feministischen Fragestellungen nach den Bedingungen der Unterdrückung qua Geschlecht und der Kategorie Geschlecht differenztheoretisch zu wenden (2.2.2 und 2.2.3). Unabhängig von der Reflexion analytischer Kategorien in vielen empirischen Forschungsprojekten liegt eine metaphysisch verstandene identitäre Kategorie immer dann vor, wenn für Erhebungen sozialer Phänomene (gleich ob historischer oder gegenwärtiger Art) deren Einteilung in geschlossene Kategorien unhinterfragt im- oder explizit vorausgesetzt wird. Sowohl in einer empiristischen Zählerei von sogenannten Eckdaten als auch in einer ‚kritischen Methode‘, welche die Frage der Wahrheit allein auf der Ebene innerwissenschaftlicher Problemlösungen betrachtet, werden solche Kategorien als vordiskursiv existent begriffen (s. dazu auch Prieß-Buchheit 2013). Sie sind dann existent, weil die „zeitgenössischen Rechtsstrukturen“, die Identitätskategorien „erzeug[en], naturalisier[en] und verdinglich[en]“ (Butler 1991/1989, S. 21), gar nicht erst zum Teil der Agenda werden. Der Versuch, alltagsweltliche und wissenschaftliche Erfahrungsdimensionen zu trennen, wird bereits in dem Moment konterkariert, in dem ein Sampling ein nicht zu hinterfragendes Vorhandensein solcher Identitätskategorien impliziert. Warum beispielsweise ausgerechnet Geschlecht oder Migrationshintergrund relevant sind oder was ihre Merkmale bestimmt, wird in ihrer Erhebung meist nicht geklärt. Selbst Studien, in denen beispielsweise die Kategorie Geschlecht als solche problematisiert wird, greifen in der Erhebung wieder auf die vermeintliche Möglichkeit zurück, die untersuchten Personen vorausgesetzten Kategorien zuzuordnen (z. B. Finkel 2004). Unterbelichtet bleibt jedoch die Politik der Identitätskategorien, die auf eine „wechselseitig[e] Bestätigung von alltagsweltlichen Einteilungen von Subjekten in der pädagogischen Praxis und Forschung“ (Windheuser 2012, S. 66) hinausläuft. Differenzen voraussetzende Identitätskategorien unterliegen einem Denken des „Wissen[s]“ und der „Gewißheit“ (Derrida 1976/1964, S.  126), welches sich sowohl wissenschaftlich wie alltagsweltlich findet. Die Kategorie, als Identitätskategorie gefasst, ist ein Versuch, wissenschaftliches und professionelles Wissen in Bezug auf einen realen Referenten zu erzeugen. Damit wird eine Wahrheit dieses Wissens angenommen, die sich aus einer außerhalb diskursiver Vermittlung liegenden, vor-ausdrücklichen Welt speist.45 44 | Vgl. dazu auch Gayle Rubins Analyse der Geschlechterordnung, in der sie herausarbeitet, dass diese auf der Prämisse einer totalen Differenz zwischen Männern und Frauen und einer Unterdrückung persönlicher Ähnlichkeiten beruhe (vgl. Rubin 2006/1975, S. 88). 45 | Angesichts einer Metaphysik, die sich der materiellen Seite (mit Husserl) durch einen idealen Ausdruck entziehen möchte, kommt es hier zu einem scheinbaren Widerspruch. Je-

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Der Gebrauch von Kategorien, die eine ihnen vorhergehende Identität voraussetzen, lösen eine vermeintliche Komplizenschaft zwischen Schreibenden und Lesenden (der Praxis oder Forschung) aus: Die Identitätskategorien sind daher machtvoll, weil ihre Setzung mit einem stillen Einverständnis der Lesenden rechnet und rechnen kann.

Idealität der Identitätskategorie Annahmen über das Soziale und Kulturelle gehen zur Herstellung dieses Einverständnisses oder geteilten ‚Wissens‘ von naturalistischen oder biologistischen Prämissen aus. Diesen Bezug auf die ‚reale Welt‘ könnte ein metaphysisches Denken, das auf den idealen Ausdruck – ohne ‚wirkliche Welt‘ – abzielt, ausschließen. Dagegen spricht jedoch, dass gerade identitäre Kategorien ebenso Idealität voraussetzen wie eine metaphysische Gegenstandsbestimmung. Beispielsweise findet auch in medizinischen oder psychologischen Untersuchungen, soweit sie nicht explizit das biologische Geschlecht untersuchen, keine Zuordnung des Geschlechts anhand der biologischen Merkmale statt, sondern eine Selbst- oder Fremdzuordnung in eine Auswahl von in der Regel zwei Geschlechtern.46 Wenn metaphysisch vom idealen Ausdruck des Gegenstands ausgegangen wird, kann mit der Empirisierung des Kategorienbegriffs seit Beginn des 20. Jahrhunderts kaum von einem anderen Verfahren ausgegangen werden: Es wird eine Vereindeutigung der Kategorie angestrebt, indem Kategorien induktiv „am Objekt abgelesen“ werden (HWPh Bd. 4, 2007, S. 737). Die Kategorie ist keineswegs allein auf eine objektivierte Welt bezogen, sondern geht von einer idealen Wiederholbarkeit spezifischer Identität aus, die es ermöglicht, differente Gegenstände unter eine Kategorie zu subsumieren. Die Legitimation solcher Wesensannahmen, wie auch apriorisch-analytische Kategorien, bauen beide auf eine metaphysische Fundierung (ebd., S. 741f.). Allerdings verschiebt sich das Kategorienverständnis im empirischen Verständnis zur Gegenstandsbestimmung, die sich nach der objektiven Beschaffenheit und der Beziehungen der Gegenstände zueinander richtet (vgl. ebd., S. 757f.). doch braucht der Ausdruck die materielle Seite beziehungsweise erzeugt sie mit, obwohl er selbst ja schon immer Spur der Spur und damit ursprungslos ist. Es geht um die Unterscheidung und Hierarchisierung von „Sinnlichem und Intelligiblem“ in der „Geschichte der Metaphysik“ (Derrida 1983/1967, S. 27), die sich (ungewollt) umkehrt: das unmittelbar Sinnliche/Lebendige im inneren Ausdruck ist das Intelligible und das Intelligible ist das, was sich empirisch als unmittelbarer Ausdruck erfassen lässt. 46 | Werden Chromosomen, Hormone, Anatomie etc. untersucht, zeigt sich schließlich auch eine Varianz, wenn auch diese wieder aus der Perspektive der Zweigeschlechtlichkeit ‚gelesen‘ wird (vgl. Fausto-Sterling 1985). Zentral ist dabei wieder nicht allein die Zweigeschlechtlichkeit, sondern deren symbolische Ordnung, die sich in den Ordnungen von aktiv und passiv u. ä. wieder zeigt (vgl. Laqueur 1992/1990).

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Mit der Objektivität und der verlustfreien Übertragbarkeit der Kategorie auf einen weiteren Gegenstand, mit der Möglichkeit der Identitätskategorie überhaupt, ist deren Idealität deshalb bereits unterstellt. In der unendlich wiederholbaren Idealität liegt gleichzeitig der Tod der Originalität des Gegenwärtigen. Daran schließt sich die Frage an, wozu eine identitätskategorial arbeitende Forschung die Empirie benötigt. Ist die invariante Kategorie unendlich wiederholbar und ideal, kann ihr die Konfrontation mit dem konkreten Gegenstand nichts anhaben, letzterer variiert dann höchstens die Merkmalsausprägungen der Identitätskategorie. In einer doppelten Bewegung ist das Anwesende abwesend, weil die identitäre Kategorie kein konkretes Anwesendes braucht, und das Abwesende anwesend, weil die Vergegenwärtigung im Konkreten in der so beschaffenen Kategorie ‚mitgedacht‘ und zugleich ausgeschlossen wird.

Kategorie, Identität und Zeichen In der empirischen Forschung als objektive Erfassung von Welt ist die Identitätskategorie Teil metaphysischer Präsenz, weil sie über die inhärente Bedeutung, das logische „Meinen“ (Derrida 2003/1967, S. 97) des Gegenstands versucht, alles Wertende wie Erzeugende in der Sprache (und Grammatik) auszuschalten. Es geht darum, dass die Sprache nur mitteilender Zusatz, aber nie Teil des Signifikats sein soll. Differenz metaphysisch zu denken, bedeutet einen Referenten und/oder einen Sinn intentional erfassen zu können – und zwar restlos (vgl. ebd., S.  92). Darüber hinaus impliziert der Geltungsanspruch, den die Identitätskategorie in der empirischen Forschung bezüglich ihrer Referenten (die Untersuchungsteilnehmenden o.ä.) erhebt, diese in Form einer Kategorie adäquat fassen zu können. Der Rest wird entweder als nicht existent ausgeschlossen oder, sollte seine Möglichkeit thematisiert werden, als nicht relevant für die Aussagekraft der jeweiligen Forschungsergebnisse erachtet. Was Derrida in der Kritik an John L. Austins Sprechakttheorie47 für die Sprache formuliert, gilt auch für die Identitätskategorie als Strukturierung von Erfahrung: Eine Möglichkeit des Scheiterns zutreffender, restloser und ursprünglicher Erfassung wird ausgelagert aus der Sprache und der Kategorie – sie erscheint als Ausnahmeerscheinung gegenüber dem Gewöhnlichen und verdeckt so, dass das „Außen“ das „Innen“, „interne und positive Möglichkeits47 | Derrida kritisiert, dass in Austins Sprechakttheorie eine doppelte Totalisierung erfolge: Zum einen, weil Austin dem Performativ unterstelle, aus sich heraus etwas zu erschaffen und zum anderen, weil er einen totalen Kontext und ein entsprechend handlungsfähiges sprechendes Subjekt voraussetze (vgl. Derrida 2004/1971, S. 90ff.). Darüber hinaus liege ein Missverständnis vor, insofern Austin das Zitat als Ausnahme verstehe und nicht als entscheidende Bedingung eines gelingenden performativen Sprechaktes (vgl. ebd., S. 98).

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bedingung“ (Derrida 2004/1971, S. 97) der Norm ist. Das Zeichen ist also Teil, unhintergehbare Bedingung des Präsenten. Das hat Folgen für Annahmen identitärer Kategorien, insofern sich in ihnen Präsenz und Zeichen verweben. Die Kategorie bezeichnet nicht das Existente, sie bringt sich selbst hervor, statt daraus abgeleitet zu sein. Die Grenze zwischen der Kategorie und dem, was sie einfangen soll, ist nicht zu fassen. Wie alle anderen Zeichen unterliegt die Kategorie der eigentümlichen Struktur der Schrift, die Kommunikation ermöglicht, dabei jedoch codiert und iterierbar ist. Dieses Sein in der Schrift wird allerdings vergessen, wenn in der Identitätskategorie Seiendes und Repräsentation zusammenfallen. Durch dieses Vergessen ist die Kategorie brutal in ihrer Wiederholung ohne Spuren des Vorherigen, in der Ignoranz gegenüber dem Geschichtlichen und in der Setzung von Ursprünglichkeit, wo keine ist. Sie vereinheitlicht und verdinglicht, Intelligibilität und Subjektstatus außerhalb ihrer Bedingungen werden ausgeschlossen, solange sie ihre Idealität als einfach und evident begreift.48 Aus dem Bisherigen lässt sich vorerst zusammenfassen, dass in einer auf Identitätskategorien basierende Empirie erstens eine präwissenschaftliche Existenz der mit Identitätskategorien gefassten Gegenstände angenommen wird und damit eine Faktizität, die nicht weiter in ihrer begrifflichen wie geschichtlichen Genese zu untersuchen sei. Zweitens wird der Identitätskategorie als Begriff die Fähigkeit zugesprochen, ideal die bereits zuvor vorhandene Identität adäquat festhalten zu können, so dass diese operationalisierbar wird. Drittens seien Identitätskategorien verlustlos wiederholbar. Dies ist durch eine scheinbare Eigentlichkeit der identitär verstandenen Gegenstände bedingt, welche nicht durch Anderes ‚verunreinigt‘ werden kann. Das Andere wird darin nicht gesehen, ein Sehen der Differenz hingegen richtet sich gegen die Herrschaft des ‚Einen‘, der kein Anderes zulässt. In dieser Rückschau auf die Dekonstruktion gewinnt der Begriff der Identitätskategorie einen dekonstruierenden Charakter bezüglich empirischer Forschung im Denken der Metaphysik. Von hier aus geht es nun darum, die feministisch-theoretische Ausgangsfrage nach den Bedingungen der Unterdrückung qua Geschlecht wieder aufzugreifen. Der Weg dahin führt über eine Kritik an Butlers Begriff von Identität zu einem erneuten Anlauf, die Kategorie Geschlecht in Dekonstruktion und feministischer Theorie gemeinsam zu denken.

48 | Die différance ist somit keine begriffliche Spielerei, sondern ein Angriff auf ein Herrschaftssystem: „Eine Gegenüberstellung metaphysischer Begriffe (zum Beispiel Rede/ Schrift, Anwesenheit/Abwesenheit [...]) ist niemals das Gegenüber zweier Termini, sondern eine Hierarchie und die Ordnung einer Subordination“ (Derrida 2004/1971, S. 105).

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2.2 G eschlecht und feministische Theorie Bereits zu Beginn des Kapitels (2.) wurde eine Verbindung von feministischer Theorie und Dekonstruktion in einem differenztheoretischen Denken von Geschlecht eingeführt. Dieses verläuft konträr zu einer Vorstellung von Geschlecht als Identitätskategorie im metaphysischen Sinne. Nach der zuvor mit Derridas Dekonstruktion entwickelten Kritik an der Identitätskategorie wird zu zeigen sein, dass an dem anfänglich bei Butler entlehnten Begriff der Identitätskategorie für die vorliegende Fragestellung nicht länger festgehalten werden kann. Indem Butler zunächst betont, dass identity categories ihre Bedingungen ausschließen, erscheint ihre Deutung der metaphysikkritischen Herleitung über Derrida zwar ähnlich (2.1.3), wird jedoch der Kontext von Butlers Verständnis der Identitätskategorien berücksichtigt, zeigt sich ein weitgehender Unterschied, vor allem bezüglich des Verhältnisses von Natur und Kultur. Ausgehend von dieser Kritik an Butler (2.2.1) wird die Kategorie Geschlecht im Folgenden aus der Perspektive des Seins (2.2.3) betrachtet. Während Derrida ermöglichte, eine dekonstruierende Wissenschaftskritik einzuschlagen, wird die Dekonstruktion nunmehr mit Luce Irigaray feministisch vertieft, was letztlich über die bei Derrida nur angerissene Phallogozentrismuskritik49 hinausweist (2.2.2). Zugleich erlaubt Heide Schlüpmann einen weiteren Blick auf das Verhältnis von Geschlecht und Raum beziehungsweise Masse. Damit treffen zwei Theorietraditionen aufeinander: Der französische Poststrukturalismus und die Dekonstruktion mit der Kritischen Theorie. Der gemeinsame Bezugspunkt der so rezipierten Autor/innen findet sich nicht nur in ihrer sich 49 | Unter Phallozentrismus ist die Zentrierung des Phallus, eine Ordnung, die sich allein nach ihm ausrichtet, zu verstehen. „Penismangel der Frau und ihr Penisneid verbürgen die Funktion des Negativen, dienen als Repräsentanten des Negativen in einer Dialektik, die man phallozentrisch nennen könnte“ (Irigaray 1980/1974, S. 64; Herv.i.O.). Irigaray wirft der Psychoanalyse Freuds und Lacans vor, „[d]eterminiert [zu sein] durch einen Phallozentrismus, den sie zu prüfen vorg[ibt], nur um seine Macht noch besser abzusichern“ (ebd., S. 61; vgl. auch 1979/1977, S. 89ff.). Derrida bindet den Phallogozentrismus (Phallozentrismus und Logozentrismus) auf die Verknüpfung mit der Sprache zurück, d.h. die Sprache ist ebenfalls eingebunden in einen „Androzentrismus mit der ganzen paradoxen Logik und den Umkehrungen, die er erzeugt: beispielsweise, daß ‚sie [die Frau] in der phallozentrischen Dialektik das absolut Andere repräsentiert‘“ (Derrida 1987/1975, S. 262), wie Derrida in seiner Kritik an Jacques Lacan schreibt (vgl. hierzu außerdem Derrida 1986/1973). Spivak unterscheidet Phallogozentrismus als „eine Struktur des Arguments, zentriert um die Souveränität des erzeugenden Selbst und die Bestimmbarkeit der Bedeutung“ und Phallozentrismus als „eine Struktur des Textes, zentriert um den Phallus als das bestimmende Moment [...] oder Signifikanten“ (Spivak 1992/1983, S. 184).

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überschneidenden Lektüre50, sondern (u.  a. daraus erwachsend) in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von dem, was als vermeintlich autonomes Subjekt, als Objektivität und Eigentliches wie Ursprüngliches erscheinen kann, mit seinen Bedingungen. Vor allem die feministische Perspektive hebt dabei die Bedingung als notwendigen Ausgangspunkt der Analyse hervor. Sie verlangt danach, die Bedingtheit aus sich heraus wahrzunehmen, anstatt auf sie herab zu blicken.

2.2.1 Identität und feministische Kritik „Die genealogische Kritik [nach Foucault und Nietzsche] lehnt es ab, nach den Ursprüngen der Geschlechtsidentität, der inneren Wahrheit des weiblichen Geschlechts oder einer genuinen, authentischen Sexualität zu suchen, die durch die Repression der Sicht entzogen wurde. Vielmehr erforscht die Genealogie die politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorien als Ursprung und Ursache bezeichnet werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfältigen und diffusen Ursprungsorten sind. Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist, auf solche definierenden Institutionen: den Phallogozentrismus und die Zwangsheterosexualität die Aufmerksamkeit zu richten – und sie zu dezentrieren.“ (Butler 1991/1989, S. 9/Butler 2007/1989, S. xxxi; leicht veränderte Übersetzung durch JW)

Diese Kritik an einer vermeintlich ursprünglichen Geschlechtsidentität oder Sexualität richtet Judith Butler (1991/1989) an die feministische Theorie und Politik. Bereits in ihrer Fragestellung problematisiert Butler „Identität als gemeinsamen Grund“ (ebd., S. 10) feministischer Theorie (Politik und Theorie werden teils synonym verwendet). Dabei versteht sie ihre Arbeit „an den kritischen Grenzen“ ‚zwischen‘ Philosophie und Politik aus feministischer, schwuler und lesbischer Perspektive als einen Weg an, diskursiv „den Begriff der feministischen Kritik zu radikalisieren“ (ebd., S. 12f.). Die Prämisse, dass feministische Politik und Theorie auf der Annahme von Identität beruhe, bricht mit dem, was in der vorliegenden Arbeit eingangs als Aufgabe feministischer Theorie und Politik formuliert wurde. Wird von einer solchen Beziehung feministischer Theorie und Politik zur Dekonstruktion ausgegangen – wonach Geschlecht, sobald es nach seinen Bedingungen befragt wird, nicht mehr ideal un-zeitlich sein kann – liegt in Butlers Kritik am Feminismus bereits eine problematische Einschätzung. Anders gesagt: Butlers Kritik verfehlt den Ort bzw. die Adressatin. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass es eine Form

50  |  Dazu zählen unterschiedlich gelagerte Lektüre-Überschneidungen von jeweils zwei der Autor/innen oder aller drei: Georg W. F.. Hegel, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Edmund Husserl, Claude Lévi-Strauss, Martin Heidegger, Jacques Lacan u. a.

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von metaphysischer Identitätskategorie gibt (2.1 und 2.2.3), diese jedoch nicht in der feministischen Theorie ‚an sich‘ zu suchen ist. Der Grund für dieses örtliche ‚Verfehlen‘ liegt in der Gleichstellung Butlers von Subjekt und Identität begründet.51 Vorweg kann nicht ausgeschlossen werden, dass es in feministischer Theorie und Politik partiell identitäre Bestrebungen gibt. Jedoch versucht Butler diese größtenteils bei Autor/innen nachzuweisen, die gerade eine biologisch-metaphysisch begründete Identität infrage stellen. So wird Das Unbehagen der Geschlechter mit Zitaten von Simone de Beauvoir, Luce Irigaray, Julia Kristeva, Michel Foucault und Monique Wittig eingeleitet, in denen die genannten Autor/innen eine Herleitung des Sozialen aus der Identität nachzeichnen und dadurch dekonstruieren. Sie lassen auf je unterschiedliche Weise die Strukturen sichtbar werden, die dem Geschlecht seine identitär-ideale Existenz ermöglichen. Nun deutet Butler daran anschließend das feministische Bestreben, gegen die Unterdrückung und den Ausschluss des Weiblichen von der Repräsentation vorzugehen, als eine auf Identität fußende Subjekt-Begründung: „Die feministische Theorie ist zum größten Teil davon ausgegangen, daß eine vorgegebene Identität existiert, die durch die Kategorie ‚Frau(en)‘ bezeichnet wird. Diese Identität soll nicht nur die feministischen Interessen und Zielsetzungen in der Welt des Diskurses anleiten, sondern auch das Subjekt bilden, dessen politische Repräsentation angestrebt wird“ (ebd.). Dabei geht Butler davon aus, dass die Forderung nach einem Subjektstatus und nach Repräsentation in einem bisher ausschließenden Repräsentationssystem auf einer stabilen Identitätsannahme beruhe, worin bereits der Anspruch auf Repräsentation verfehlt werde (misrepresentation) (vgl. ebd., S. 20).52 Indem Butler der Subjektforderung eine Identitätsannahme unterstellt, setzt sie Subjekt und Identität in eins. Ihre Gleichsetzung von Subjekt und Identität beruht zudem auf der Annahme, dass Repräsentation die 51   |  Rita Casale sieht in Butlers Position eine veränderte „Frage der feministischen Theoriebildung. Im Zentrum steh[e] nicht mehr das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft, sondern der Prozess der diskursiven Konstruktion der sexuellen Identität. [...] Butler [befasse sich] mit der Konstruktion von Identität – der Geschlechtsidentität“ (Casale 2014 a, S. 83). An die Stelle der „subjektive[n] Erfahrung der Sexualität“ trete die „sexuell[e] Identität“ (ebd.). 52 | Darüber hinaus verfällt Butler, indem sie den feministischen Theoretiker/innen vorwirft, an einem ontologischen Ursprung festzuhalten, einem Gestus, der die eigene und unumgängliche Verhaftung in der Metaphysik verkennt. Die ‚Dekonstruktion der Destrukteur/ innen‘ erfolgt über deren vermeintlich logische Widerlegung, da sie auf die Kategorien der Metaphysik zurückgriffen (vgl. Butler 1991/1989, S. 18). Insbesondere in ihrer Lektüre Irigarays wird deutlich, wie Butler deren Dekonstruktion missinterpretiert. Indem Irigaray das nur in der symbolischen Ordnung existente Hysterische gegen die symbolische Ordnung wendet, bestätigt sie diese nicht, sondern wendet sie gegen sich selbst. Zur Hysterie bei Irigaray vgl. 2.2.2.

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Repräsentation von einer Identität bedeute.53 Sie kritisiert, dass die Möglichkeit, repräsentiert sein zu können, an den bereits vorhandenen Subjektstatus gebunden sei; dessen Bedingungen zuvor erfüllt sein müssten (vgl. ebd.). Casale fasst Butlers Ausführungen wie folgt zusammen: „Butlers Kritik an einer Betrachtung der Frau bzw. des Feminismus als Subjekt ist vor allem Kritik am System der Repräsentation und an der damit verbundenen Voraussetzung einer symbolischen Ordnung“ (Casale 2014 a, S. 83). In der vorliegenden Untersuchung wird angestrebt, die Dekonstruktion in ihrer metaphysikkritischen Perspektive im Sinne einer feministischen Theorie und Methodologie zu denken. Daher wird diese Argumentation der symbolischen Ordnung von ihrem psychoanalytischen Rahmen entkoppelt und – auf die Gefahr der Verkürzung hin – in den Kontext der Metaphysikkritik (2.1) eingebunden.54 Butlers Argumentation beruht demnach darauf, die metaphysische Ordnung zu negieren. Damit geht das Missverständnis einher, dass feministische Theorie, die Ordnung erst einsetze, anstatt sie bereits als Erkenntnis der Metaphysikkritik zu

53  |  Es gibt auch einige Stellen in Butlers Argumentation, bei denen sprachlich die Differenzierung von Identität, Subjekt und Identifizierung nicht mehr zu erkennen ist, so beispielsweise in „Körper von Gewicht“ (1997/1993): „Obwohl schwule und lesbische Subjekte nicht die soziale Macht [...] haben, die Heterosexualität [...] verwerflich zu machen [...], gibt es bei der schwulen und lesbischen Identitätsbildung dennoch zuweilen den Versuch [...]“ (ebd., S. 162). Oder: „In dem Maß, in dem Subjektpositionen in einer und durch eine Logik der Verwerfung und Verwerflichkeit [von Identifizierungen, denn um die geht es in Butlers Lacan-Lektüre zuvor, JW] hergestellt werden, wird die Spezifität der Identität durch den Verlust und die Verringerung von Verbundenheit erkauft, und die Landkarte der Macht, die Identitäten differentiell produziert und einteilt, kann nicht mehr gelesen werden“ (ebd., S. 164). 54 | Der Begriff der „symbolischen Ordnung“ wurde von Luce Irigaray durch eine Dekonstruktion Jacques Lacans Psychoanalyse in die feministische Theorie eingeführt. Bereits bei Irigaray fallen die symbolische Ordnung und Metaphysik wiederholt in eins, was an der Kopplung an die oder Herleitung der Psychoanalyse-Kritik aus einer Dekonstruktion der Geschichte der Philosophie liegt (vgl. Irigaray 1980/1974, S. 32; dies. 1991/1984, S. 120). Die symbolische Ordnung ist für Irigaray sowohl in der Philosophie(-Geschichte) als auch in der Psychoanalyse ‚hom(m)osexuell‘ organisiert. „[H]om(m)osexualité“ ist ein Wortspiel mit dem französischen ‚homme‘, das gleichzeitig Mann und Mensch meint (vgl. Anm. der Übers. in Irigaray 1980/1974, S. 124). Gemeint ist, dass die kulturellen und ökonomischen Beziehungen und deren Regeln nur durch die männliche Position bestimmt sind. „Frauen, Zeichen, Waren“ (Irigaray 1979/1977, S. 178) sind nur, was zirkulierend diese Ordnung aufrecht erhält beziehungsweise trägt. Wichtig ist zu betonen, dass ‚Frau‘ und ‚Mann‘ für Irigaray keine Essentialismen darstellen, sondern Positionen im Symbolischen beziehungsweise Ökonomischen bezeichnen.

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verstehen.55 Butler verkennt, dass die Forderung nach dem Subjektstatus diesen bereits dekonstruiert, weil sie die metaphysische beziehungsweise symbolische Ordnung des unzeitlich Einen und Selben spaltet. Für Butler ist das Streben nach Repräsentation ein Indiz für eine vorausgesetzte Identität. Trotz der Kritik an repräsentativen Bestrebungen geht Butler davon aus, dass es unter den gegebenen historischen Bedingungen unmöglich sei, die Repräsentationspolitik als solche abzulehnen (vgl. Butler 1991/1989, S. 20). „Daher ist der Ausgangspunkt dieser Kritik, nach den Worten von Marx, die geschichtliche Gegenwart. Und ihre Aufgabe lautet: innerhalb dieses konstituierten, vorgegebenen Rahmens eine Kritik jener Identitätskategorien zu entfalten, die von den zeitgenössischen Rechtsstrukturen erzeugt, naturalisiert und verdinglicht werden“ (ebd., S. 20f., Herv.i.O.). Dabei sei ‚Frau‘ (in Butlers Augen grundsätzlich eine identitäre Kategorie) eine Verdinglichung, die die Geschlechterbeziehungen erstarren ließe und damit auf eine ausschließende Repräsentationspolitik hinausliefe (vgl. ebd.). Zudem untergräbt eine solche Repräsentationspolitik von gender für Butler ein Zusammendenken politischer und kultureller Intersektionalität und konstruiert (im Negativen) eine gemeinsame Erfahrung der Unterdrückung (ebd., S. 19f.). Es ist bemerkenswert, wie Butler es schafft, aus einer genealogischen und zugleich auf Marx und Mehrfachdiskriminierung bezogenen Perspektive Kategorien zu politischen und kulturellen Diskurseffekten zu transformieren und dabei deren Eigenschaften als gesellschaftliche Verhältnisse aus den Augen zu verlieren. Aus dieser Argumentation schließt Butler: „Wenn sich herausstellt, daß die Grundprämisse feministischer Politik nicht mehr in einem stabilen Begriff der Geschlechtsidentität liegt, dann ist vielleicht eine neue Form feministischer Politik zu wünschen, die den Verdinglichungen von Geschlechtsidentität [gender] und Identität entgegentritt: eine Politik, die die veränderlichen [variable] Konstruktionen von Identität als methodische und normative Voraussetzung begreift, wenn nicht gar als politisches Ziel anstrebt. Die politischen Verfahrensweisen nachzuzeichnen, die das produzieren und verschleiern, was als Rechtssubjekt des Feminismus bezeichnet werden kann, ist genau die Aufgabe einer feministischen Genealogie der Kategorie ‚Frau(en)‘.“ (Ebd., S. 21; Herv.i.O.)

55  |  Diese Deutung ist ggf. in Butlers an Austin angelehntes Performativitätsverständnis begründet, auch wenn Butler dabei die Iteration (in Derridas Sinne) berücksichtigt. An dieser Stelle zeichnet sich sicherlich bereits der Unterschied zwischen einer differenzfeministischen Dekonstruktion und einer gender theoretischen Performativität ab. Zur ausführlichen Diskussion des Verhältnisses der Theoriepositionen Irigarays und Butlers, vor allem bezüglich der Subjektkonstitution vgl. Tove Soiland 2010.

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Angesichts des in Kapitel 2.1 eingeführten Verständnisses einer Geschichte als Geschehendem wird Geschichte in dieser Argumentation wieder zu einem Seienden: Zwar werden die Kategorie beziehungsweise Identität ‚Frau‘ als etwas Konstruiertes betrachtet, aber nicht mehr im Sinne eines historischen, gesellschaftlichen Verhältnisses. Vielmehr werden diese Bedingungen als performative Akte verstanden und die historische Bindung der einzelnen Identitäten als willkürlich überschreitbar dargestellt. Jedoch wäre es verkürzend, Butlers Verwechslung von Identitätskategorien (im mit Derrida revidierten Sinne) mit einer weiblichen Subjektbestrebung auf eine Abwehr einer geschehenden weiblichen Erfahrung zurückzuführen. Vielmehr zielt Butler darauf, die unhinterfragte Voraussetzung der Natur als ‚biologisches Schicksal‘ anzugreifen. Daneben sieht sie in der ‚Konstruktion Frau‘ eine Verengung, die keinen Platz für nicht-heteronormative Kontexte lässt. Dieses berechtigte Anliegen geht jedoch mit der Verfehlung der Adressatin und der Verwechslung von Subjekt und Identität einher. Ein damit zusammenhängendes, zentrales Problem stellt die Vorstellung von Identität als Norm und die daraus resultierende ‚subversive Politik‘ Butlers dar. Werden Identitätskategorien als normierend-ausschließend, aber nicht als bedingt schließend wahrgenommen, greifen die Mittel der Parodie beziehungsweise der Tabuisierung (durch Nicht-Benennung) nicht. Denn dass sie gegebenenfalls eine Norm sind, ändert nichts an den Bedingungen, die sie hervorbringen. Anders gesagt: Die Bedingungen der Identitätskategorien (jetzt als Seiendes verstanden), das was sie und die über sie verlaufende Unterdrückung hervorbringt – also das Sein – müssen erschlossen werden, statt das Seiende zu zensieren. Das Seiende wird nicht verschwinden oder willkürlich umgemünzt werden können, wenn seine Ermöglichung nicht wahrgenommen wird.56 Damit bliebe die Subversion auf der Ebene einer Symptombekämpfung, wenn sie nicht gar die Bedingungen des Seienden unterstützt. Nach Casale reduziert Butler durch ihr Identitätsverständnis „die Subjektbildung auf eine Identitätskonstruktion und vollzieht die Subjektwerdung der Frau mit dem Subjekt [der metaphysischen und phallozentrischen] Logik“ (Casale 2014  a, S.  85). Wenn jedoch das metaphysisch gedachte Subjekt eines ist, das aus einer männlichen (symbolischen) Position heraus die Natur objektivieren kann, dann ist der Versuch, diese unmarkierte Position mit der bisher naturalisierten ‚Frau‘ zu ‚verunreinigen‘, das Subjekt in die Materialität zu ziehen, unweigerlich nicht-iden-

56 | Die vorliegende Untersuchung fokussiert aus dekonstruktiver Perspektive das metaphysische Denken als Bedingung empirischer Forschung und der Kategorie Geschlecht. Dieses Anliegen könnte auch mit einem psychoanalytischen Schwerpunkt beziehungsweise aus Irigarays Kritik an Lacan heraus verfolgt werden, die Ermöglichung würde dann als symbolische Ordnung gedacht.

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titär.57 Dieser Versuch dekonstruiert geschlossene Vorstellungen von Subjekt und Objekt, überschreitet eine Trennung von Natur und Kultur und lässt sie nicht zuletzt unentschieden. Gegenüber diesem Weg, das Subjekt zu de-zentrieren, erscheint Butlers Argumentation als eine, die der Kultur weiterhin den Vorrang gegenüber einem – in ihren Augen – essentialistischen Verständnis von Natur lässt. Das Problem eines geschlechtlichen und sexuellen Ausschlusses liegt so betrachtet in der phallogozentrisch-metaphysischen Subjektkonstitution und nicht in der feministischen Kritik daran (was nicht ausschließt, dass es ein entsprechendes metaphysisches Denken in feministischer Theorie und Politik geben kann). Die Auseinandersetzung Butlers mit dem Natur/Kultur-Dualismus ist zudem aus einer Derrida’schen Perspektive auf der Ebene der Fragestellung problematisch. Butler kritisiert, dass in der Natur/Kultur-Unterscheidung in der Regel die Natur der Kultur vorausgesetzt und damit irreduzibel werde (vgl. Butler 1997/1993, S. 55f.). Auch wenn Butler gerade in Körper von Gewicht (1997/1993) versucht, Missverständnisse ihrer Kritik auszuräumen, beharrt sie darauf, dass Sprache Materialität bedingt beziehungsweise performativ produziert (vgl. ebd. 56f.). Im Kern bleibt sie bezüglich der Entscheidung, was Geschlecht und Materialität ist, auf der Ebene der Kultur. Dieser Ebene soll hier keine natürliche Materialität entgegengestellt, sondern eine naturalisierende Metaphysik, in der die Kultur auch die Natur umfasst beziehungsweise diese erneut ausschließt, dekonstruiert werden. Butler bricht den Dualismus von Natur und Kultur nicht auf, sondern weist nur eine seiner Dimensionen zurück. Dieses Problem manifestiert sich in der Zielsetzung einer „neue[n] Form feministischer Politik [...], die die veränderlichen Konstruktionen von Identität als methodische und normative Voraussetzung begreift, wenn nicht gar als politisches Ziel anstrebt“ (Butler 1991/1989, S. 21). Letztlich reproduziert Butler, was sie bekämpfen wollte: Geschlecht erscheint losgelöst von seinen Bedingungen, als Produkt des es einsetzenden Subjekts. 57 | An dieser Stelle zeigt sich wieder das ambivalente Verhältnis Butlers gegenüber den von ihr rezipierten Texten: Während Irigaray das ‚Muköse‘ (frz. für ‚schleimig‘, jedoch ohne die deutsche Konnotation zum ‚Ekligen‘) auf den weiblichen beziehungsweise mütterlichen Körper zurückführt (vgl. Irigaray 1991/1984, S. 131), thematisiert Butler das Problem der Reinheit über Konstruktionen von Krankheit insbesondere bezüglich der Verbindung von Homosexualität mit HIV (vgl. Butler 1991/1989, S. 194ff.). An besagter Stelle bezieht sie sich auf Mary Douglas, dennoch wird deutlich, dass sie das Problem der fließenden Körperübergänge ähnlich fasst: als etwas, das in der vorherrschenden Ordnung (Butler würde sagen: in den vorherrschenden Machtverhältnissen) ausgeschlossen werden soll. Während Irigaray die im Phallozentrismus als ‚unkultiviert‘ verstandene Frau in den Vordergrund stellt, betont Butler, dass der homosexuelle Körper „zugleich als unkultiviert und unnatürlich“ (ebd., S. 195; Herv.i.O.) gilt.

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Wenn die aufgezeigten theoretischen Schwierigkeiten in Butlers Argumentation auf die Frage nach der Materialität zurückbezogen werden, wird deutlich, dass Butler versucht, Geschlecht von der Materialität zu trennen. Butler selbst hat diesen Vorwurf insbesondere in Körper von Gewicht (1997/1993) zurückgewiesen.58 Dennoch soll er hier noch einmal aufgegriffen/erhoben werden und zwar in Bezug auf die Frage der Ökonomie beziehungsweise der Reproduktion. In der Reduktion von Geschlecht auf performative Praktiken und eine potentiell andere ‚Konstruktion von Identität‘ bleiben die ökonomischen Bedingungen von Geschlecht außer Betracht. Dabei sind es gerade die ökonomischen Verhältnisse, in denen sich Herrschaftsstrukturen entfalten beziehungsweise die zugleich über diese hergestellt werden. Die geschlechtlich geordnete Genealogie ist eng damit verbunden, schließlich werden über die so strukturierte Generationenfolge Besitz und Macht weitergegeben, ebenso wie Gesellschaft über weibliche Körper reproduziert wird. Indem Geschlecht auf gender reduziert wird, liegt der Versuch, die körperliche Wahrnehmung allein über einen diskursiven, geistigen Zugang zu erlangen.59 Es ist der Wissenschaftler der Moderne, den Heide Schlüpmann als denjenigen deutet, der „unabhängig vom Kontext des eigenen Leibes und seiner Wahrnehmung [denkt]“ (Schlüpmann 1998, S.  28). So könnte zwar eingewandt werden, dass die Einführung des queer-Begriffs ja gerade die Idee verfolgt, dass sich die Repräsentation nicht aus einer vorgeblich natürlichen Präsenz speise, aber zugleich geht diese Vorstellung mit einer rein über die soziale Konstruktion von gender erfolgenden Körperlichkeit einher; ggf. über den Einsatz von ‚Prothesen‘ oder ‚Technologie‘, wie Beatriz Preciado an Butler später anschließt (vgl. Preciado 2003/2002 und Stüttgen 2004).60 Das könnte als erneuter Sieg des modernen Subjekts über die Natur gelesen werden. Diese Position führt auch zu dem Missverständnis, dass eine Anerkennung des Körperlichen ontologisch beziehungsweise deterministisch sei.61 58 | Vgl. zur frühen Kritik an Butler: Feministische Studien 2/1993, zur deutschsprachigen Rezeption: Gudrun-Axeli Knapp 2011, S. 205ff. 59 | Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Butler in späteren Texten der Frage nach der leiblichen Erfahrung vor allem in der konkreten Auseinandersetzung mit der Transsexuellengesetzgebung und der zwangsweisen Körperanpassung von intersexuellen Menschen nachgeht (vgl. u. a. Butler 2009/2001, S. 97ff. und 2009/2004, S. 123ff.). 60 | Hier geht es mir nicht um die Befürwortung oder Ablehnung von Sexualpraktiken, sondern um das Problem, dass den Technologien des Körpers einfach ‚neue‘ Normen und Techniken vermeintlich subversiv entgegensetzt werden. Damit erfahren Sexualpraktiken geradezu eine Entsinnlichung. 61 | Vgl. hierzu Butlers Kritik (1991/1989, S. 116) an Gayle Rubin (2006/1975, S. 109): Während Rubin für eine ‚gender- aber nicht sexlose‘ Utopie eintritt, sieht Butler darin eine Voraussetzung eines biologischen Geschlechts. Rubin zielt jedoch hier auf etwas anderes,

Die unmögliche Methode

Im nächsten Kapitel wird auf der Grundlage der Revision der Butler’schen Theorie eine andere feministische Kritik an schließenden Kategorien in den Blick genommen. Ziel bleibt weiterhin, einen Begriff von Geschlecht zu entwickeln, der es ermöglicht, die Bedingungen der Unterdrückung qua Geschlecht zu untersuchen. Dass Butlers Zugang im Hinblick auf das Vorhaben letztlich zurückgewiesen werden muss, ist vor allem der genealogische Rekonstruktion (Kapitel 1) geschuldet. Butlers Heteronormativitätskritik lässt zwar den Ausschluss nicht-heterosexueller Lebensweisen aufscheinen, ihr Verständnis von Geschlecht als kulturelle Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit erlaubt jedoch nicht, die ‚zentrale Größe‘ im nachgezeichneten Geschlechterverhältnis zu erfassen. Diese betrifft die ungleiche Verteilung von geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung in einem spezifischen ökonomischen, generationalen und geschlechtlichen Verhältnis anhand der Positionen ‚Frau‘ und ‚Mann‘. Wird diese ungleiche Verteilung aber berücksichtigt, gerät der Phallogozentrismus als Maßstab in den Blick, der auch nicht-heterosexuelle Kontexte und geschlechtlich (nach medizinischen Normen) uneindeutige Körper betrifft.62

2.2.2 Die ‚andere‘ Theorie In diesem Unterkapitel wird die Verknüpfung von Dekonstruktion und feministischer Theorie erneut aufgegriffen, welche beide nach den Bedingungen des Seienden fragen und somit das Sein enttabuisieren. Wenn die Dekonstruktion „die Bedingungen der Metaphysik als ihre inhärente Grenze auslotet [und danach fragt, was] das Seiende, seine Identität, in Form idealer Eigentlichkeiten, als ursprünglich objektiviert und in Opposition zum Anderen strukturiert, denken“ (vgl. 2.1.1) lässt; lautet die Frage feministisch gewendet, welches ist es doch eher die Materialisierung des Körpers im Sozialen, der sie beschäftigt, aber nicht losgelöst vom Leiblichen. Wie hier deutlich wird, ist der Körper – soweit er allein über gender gedacht wird – ohne Leib, er ist ein zu habendes Objekt ohne Sein. 62 | In der Deutung der Ordnung geht es um das Herrschaftsverhältnis und nicht um die Frage einer essentialistischen Identität. Aus den queer/gay-and-lesbian-politics ergibt sich eine Ambivalenz in diesem Verhältnis: Soweit sie auf intersexuelle Körper verweisen, erzeugen sie selbst biologistische Anleihen, andererseits stehen sie für ein Extrem der Nicht-Zugehörigkeit, des Herausfallens gegenüber den beiden Positionen der symbolischen Ordnung. Hier stellt sich die Frage, ob ein solches imaginäres und öffentliches ‚Leben an der Grenze‘ nicht explizit das ist, was ‚der Frau‘ im Konkreten durch die phallisch bestimmte Position ‚der Frau‘ widerfährt. Mit der sexuellen Differenz ließe sich eine Perspektive gewinnen, die sich von der Oberfläche distanziert, anstatt die die Ordnung bestärkende performative Symptombehandlung zu unterstützen. Es ginge darum, die Differenz in die ‚anti-identitäre Identitätspolitik‘ zu bringen.

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Geschlecht und Heimerziehung

Sein das Seiende in Form von hegemonialen Geschlechterverständnissen und Unterdrückung qua Geschlecht ermöglicht.63 Wie kann wahrgenommen werden, was ungedacht beziehungsweise tabuisiert ist? Auf mein Vorhaben bezogen geht es erziehungswissenschaftlich darum, die erkenntnistheoretischen und materiellen Voraussetzungen auszumachen, welche den Gegenstand ‚die Kategorie Geschlecht in der stationären Jugendhilfe‘ bedingen (vgl. 2.1). Kapitel 1 ist in diesem Sinne in erster Linie als Rekonstruktion der materiellen Bedingungen zu lesen64, wie sie sich in Form geronnener Geschlechtervorstellungen und den damit verbundenen sozialen und ökonomischen Verhältnissen zeigen. Hingegen fokussiert Kapitel 3 in der Analyse der fotografiegestützten Interviews die erkenntnistheoretische Dimension auf Seite der Interviewten wie der Interviewerin. Diese Trennung ist jedoch nur schematisch, letztlich bedingen sich materielle und erkenntnistheoretische Dimension. Beide sind historisch konkret – das Sein von Geschlecht braucht eine theoretische Vermittlung, die seine Intelligibilität trägt, und zugleich materialisiert es sich im spezifischen Seienden65 von Geschlecht. Dieses Konkrete ist die empirische Seite der alltagsweltlichen wie wissenschaftlichen ‚Theorie‘. Entscheidend für die Intelligibilität von Geschlecht unter metaphysischen Bedingungen ist das phallogozentrische Denken des Einen, insofern seine Gegenstände, sein Subjekt und seine Objekte geschlossener ‚Natur‘ sind. In diesem Denken geht es letztlich immer darum, das Eine zu bestätigen und es vor einer Vermischung mit seinen Bedingungen oder dem Anderen (ohne das das Eine ja gar nicht existent wäre) zu schützen.66 Über die in 2.1 angelegte Meta63 | Geschlecht als metaphysisch Seiendes wird im vorherrschenden Denken dualistisch und hierarchisch gedacht/verstanden. 64 | Der hier vornehmlich ökonomisch angelegte Materialitätsbegriff ist von dem im Weiteren entwickelten zu unterscheiden. Vor allem die feministische Kritik an der Trennung von Geist und Körper/Leib und von Natur und Kultur verändert das Denken der Materialität. Zugleich schließe ich mich an dieser Stelle Spivaks Forderung an, feministisch nicht bei der Dekonstruktion des Textes stehen zu bleiben, sondern die „politisch[e] und sozial[e] Geschichte“ (Spivak 1992/1983, S. 205) in den Blick zu nehmen, insofern sie die phallozentrische Metaphysik bedingt, gleichzeitig aber auch von ihr bestimmt wird. 65  |  Das Seiende betrachte ich an dieser Stelle nicht im metaphysischen Sinne, sondern als ‚geronnenes Sein‘, als das, was durch das Sein als Seiendes erscheint, aber ebenso anders möglich wäre. 66  |  Ich möchte hier nicht die Kritik an Butler vertiefen, nur ergänzen, dass Butler zwar auch von einer ausschließenden Funktion der Metaphysik ausgeht, deren ungleiche Ordnung jedoch nicht erkennt, insofern ‚Mann‘ und ‚Frau‘ in ihrer Heteronormativitätskritik prinzipiell gleichermaßen Identitätskategorien sind. Butler vernachlässigt, dass die Abwertung von Natur und Materialität konstitutiv für die Unterdrückung qua Geschlecht ist und auch entscheidend für die Frage danach, was Geschlecht ist.

Die unmögliche Methode

physikkritik Derridas hinausgehend werden im Folgenden feministische Ansätze einer ‚anderen Theorie‘ und ‚Wahrnehmung‘ des Empirischen67, wie sie von Luce Irigaray und Heide Schlüpmann entwickelt wurden, herangezogen.

Luce Irigaray: Die muköse Materie als Dekonstruktion der Empirie In der metaphysikkritischen Perspektive Irigarays (1979/1977, 1980/1974 u. a.) ist die Position des Einen eine männliche.68 Das jedoch nicht, weil sie biologisch aus dem männlichen Körper abgeleitet ist, sondern weil diese begehrende Struktur oder Ökonomie an das männliche Geschlecht gebunden wird beziehungsweise dieses erst epistemologisch ermöglicht. Während das Denken des Einen einen Ursprung voraussetzt, verweigert die feministische Metaphysikkritik von Irigaray die Entscheidung für einen solchen. Mit Schlüpmann könnte man sagen, die Herrschaft des Einen ist der Angst vor der unumgänglichen Ohnmacht menschlicher Existenz geschuldet (vgl. Schlüpmann 1998, S. 28). Diese Ohnmacht liegt zum einen in der „sinnlichen Abhängigkeit“ (ebd.) begründet, der Philosophie und Wissenschaft unterliegen. Wird das Sein als Geschehen anerkannt, bedeutet dies zum anderen, seine Zeitlichkeit zuzulassen 67 | Während ich eingangs über das Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis die methodologische und erkenntnistheoretische Verortung eingeleitet habe, ist dies nicht das explizite Thema Schlüpmanns und Irigarays. Bei beiden erfolgt der Zugang zur Metaphysikkritik eher über die Frage nach der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und über die Materialität der Körper – wobei sich der Ausschluss der Position ‚Frau‘ sowohl für Irigaray als auch für Schlüpmann insbesondere in der Wissenschaft und Philosophie zeigt. Dabei ist zudem zu betonen, dass – obwohl ich hier eine Nähe der Dekonstruktion Derridas und Irigarays herstelle – es hier nicht darum geht, in erster Linie eine Dekonstruktion im Sinne Derridas zu ‚vollziehen‘. Aus einer irigarayschen Perspektive könnte Derrida in seine eigene Reihe der die Metaphysik kritisierenden ‚Metaphysiker‘ eingereiht werden, insofern sie eine „entscheidend[e] Verschiebung“ gegenüber dem „Diskurs ihrer Zeit“ vornimmt, weil sie „das Denken der Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung nur eines einzigen Geschlechts“ (Soiland 2010, S. 186) herausarbeitet. Tove Soiland geht davon aus, dass insbesondere Irigarays Lacan-Bezug „in gewisser Weise die Opposition zwischen ‚Biologismus‘ und Dekonstruktion untergräbt“ (ebd., S. 193). Ohne die Lacan-Lektüre Irigarays zum Ausgang der vorliegenden Arbeit zu nehmen, ist diese zweifelsfrei eines der wesentlichen Motive, die es erlauben, Geschlecht mit Irigaray anders zu denken, ohne in der Dichotomie von Natur und Kultur verhaftet zu bleiben. 68 | Noch einmal sei betont, dass ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ für Irigaray symbolische Positionen sind, die jedoch nicht von der sinnlichen Wahrnehmung des Körpers – als leibliche Erfahrung – zu trennen sind. Das heißt nicht, dass sie unmittelbar aus dem Körper erfahrbar sind, sondern, dass die Erfahrung der Differenz des eigenen und anderen Körpers unterschiedlich strukturiert sein kann. Zudem lässt die Argumentation Irigarays die Differenzierung von Körper und Geist unentschieden.

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und damit auch die Vergänglichkeit des Lebens.69 Bereits der Eintritt ins Leben ist von einem mütterlichen Körper (und mindestens vom biologischen Beitrag eines väterlichen) abhängig und damit die eigene Existenz von Anbeginn auf Andere angewiesen. Ebenso bedarf die Subjektwerdung einer sprachlichen Vermittlung: Das Subjekt kann sich nur als solches verstehen, indem es in die Sprache eintritt.70 Das Subjekt, wie es für die Philosophiegeschichte als autonomes nachgezeichnet werden kann, ist nur möglich, indem es die intelligiblen Vermittlungswege nutzt – sich durch sie erst konstituiert und zugleich durch sie konstituiert wird. Das heißt, selbst wenn die Sprache, die geistige Auseinandersetzung mit Welt, suggeriert, sich von den körperlichen, leiblich erfahrbaren Widrigkeiten lösen zu können, ist genau dieses Medium bereits de-zentrierend für das Subjekt. Aber dennoch ist das metaphysische Denken als Schein wirkmächtig, indem es seine Bedingungen diskreditiert. Zu diesen Bedingungen gehört der Körper als eine Begrenzung des Subjekts, da der Körper als konkreter Leib immer wieder die Vergänglichkeit markiert. Um dieser abhängigen Endlichkeit zu entgehen, ist die Spaltung des Wissenschaftlers beziehungsweise seine Auslagerung aus der Natur nur konsequent (vgl. Irigaray 1991/1984, S.  148). So wird eine vermeintliche Objektivität ohne (sinnlich-ausgelieferte) Wahrnehmung hergestellt. Paradox ist das so Ausgeschlossene der unheimliche Untergrund dieser unterdrückenden Oberfläche (vgl. ebd., S. 135f.) und zugleich ihr Gegensatz, ohne den sie nicht existieren könnte (vgl. Schlüpmann 1998, S. 29). Denn das Andere 71 konstituiert die der empirischen Realität enthobene Position des erkennenden Subjekts und dessen vermeintliche Unabhängigkeit von psychischen und geschlechtlichen Bedingungen (vgl. Irigaray 1991/1984, S.  149). Die damit verbundene 69 | Das Leben ist der anhaltende Verlust des Gegenwärtigen. Das vergängliche Leben bringt mit sich, dass Leben und Tod nicht gegensätzlich, sondern gleichzeitig sind (vgl. Derrida 2000/1984, S. 23; Schlüpmann 1998, S. 59ff.). Leben bedeutet, ständig dem Tod ausgesetzt zu sein, weil Leben Sein und nicht verdinglicht seiendes Sein bedeutet. Derrida und Schlüpmann beziehen sich dabei auf Nietzsche: „Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Leben ist nur eine Art des Todten, und eine seltene Art“ (Nietzsche 1882, S. 109, zit. n. Zittel 2000, S. 270). 70  |  Auch der Philosoph ist auf eine „Muttersprache“ (Schlüpmann 1998, S. 121; vgl. S. 21) angewiesen; und auf einen mütterlichen Körper, wie Irigaray im Hinblick auf das französische Wort ‚connaissance‘ betont, vgl. hierzu die Anmerkung ihrer Übersetzerin:„Frz. Connaissance (co-naissance?), ‚connaissance‘ bedeutet Kenntnis, Erkenntnis, Erkennen, ‚naissance‘ Geburt“ (Irigaray 1990/1984, S. 34; Herv.i.O.). 71  | Das Eigene erschließt sich daraus, nicht das Andere zu sein, in Opposition zu ihm zu stehen, es bedarf der Vermittlung eines absolut abwesenden Anderen (vgl. 2.1.1). Das Andere ist hier die Auslieferung an das Sinnliche, den Körper, die Psyche und das Geschlecht. All dies wird in der phallisch orientierten Metaphysik der Frau zugewiesen.

Die unmögliche Methode

‚Gefahr‘ von „Instabilität“ (ebd., S.  148) wird in der hom(m)osexuellen Ordnung der Metaphysik durch deren Sprache und deren/eine Ökonomie des Tauschs unterbunden (vgl. Irigaray 1980/1974, S. 124). Beide strukturieren ein Wissenschaftsverständnis, das zwischen sinnlicher und unsinnlicher Wahrnehmung 72 unterscheidet, wobei letztere die sinnliche abwertet (vgl. Irigaray 1991/1984, S. 143ff.). Diese phallische Logik der Metaphysik ist eine, die sich dem Empirischen – im Sinne des sinnlich Erfahrbaren – verweigert. Während Derrida im Schreiben das Medium sieht, das die ideale Präsenz hervorbringt, zugleich aber deren Idealität immer gefährdet (weil die Schrift verräumlicht), ist bei Irigaray das Medium der Repräsentation der mütterliche Körper, der in der phallogozentrischen Logik abgewertet wird (vgl. Colebrook 1997, S.  87, ebd., S. 89). Gewissermaßen könnte dies auf die eingeschränkte Produktivität eines männlichen Subjekts zurückgeführt werden, die ohne bereits Bedingtes (die Schrift, den Körper der Frau) nicht möglich wäre. Ebenso wenig können der mütterliche Körper oder die Schrift für sich produktiv sein – sie bedürfen eines Anderen, eines ihnen Äußerlichen, das ihnen nicht äußerlich bleibt. In ihrer Analyse identifiziert Irigaray drei Verdinglichungen des nicht-männlichen Körpers, die diese Bezogenheit abwehren: „Mutter, Jungfrau, Prostituierte – das sind die gesellschaftlichen Rollen, die den Frauen aufgezwungen sind“ (Irigaray 1979/1977, S. 193; Herv.i.O.). Hier verbinden sich zwei Interessen: Das Unbehagen angesichts des potentiell unbestimmten Körpers verdinglichend ‚in den Griff‘ zu bekommen und durch Besitz die Ordnung zu bestimmen. Insofern fallen bei Irigaray Tausch und Begehren in der metaphysischen Ökonomie in eins: „Die Ökonomie des Tauschs – des Begehrens – ist Männersache. [...] Die Ökonomie des Begehrens – des Tauschs – ist Männersache.“ (ebd., S. 184, 195)

Die gesellschaftliche, metaphysische, symbolische Ordnung – „die Ordnung schlechthin“ – wird von Irigaray als eine solche verstanden, in der „Männer oder die Männergruppen unter sich Frauen zirkulieren lassen“ (ebd., S. 177). Der Zugang zu dieser Tauschökonomie ist gebunden an die Anerkennung des

72 | Durch die Abwertung der sinnlichen Wahrnehmung macht sich die unsinnliche zu einer unsinnigen Wahrnehmung, insofern Wahrnehmung immer eine sinnliche Erfahrung voraussetzt. Dekonstruierend wäre eine Erfahrung zu suchen, die den Gegensatz von sinnlich und intelligibel, von anwesend und abwesend infrage stellt und die das, was als präsent ‚erfahren‘ wird, in seiner Bezogenheit zu dem denkt, was in der Präsenz verschwindet (vgl. Interview Derrida in Rötzer 1986, S. 84).

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Inzesttabus.73 Für Irigaray unterliegt diese Sichtweise jedoch einem phallozentrischen bias, wonach die „Ausbeutung der weiblich-geschlechtlichen Materie [...] so sehr konstitutiv für unseren soziokulturellen Horizont [ist], daß sie innerhalb desselben nicht interpretiert werden kann“ (ebd., S.  177f.). Die Dekonstruktion Irigarays setzt daruf, die vorhandene Ordnung durch ihre eigenen Bedingungen zu irritieren. Während der phallische Blick die ‚Frau‘ zu seinem Spiegel erstarren lässt (die verdinglichte Frau ist, was er nicht ist – sein gespiegeltes Gegenteil und damit ihm doch gleich, zugleich jedoch nur reflektierendes Material ohne eigene Form), ver-stört die Hysterie in ihrer Körperlichkeit das autonome Selbst-Bewusstsein des Subjekts (vgl. Irigaray 1980/1974, S. 180ff.). Ein solches Vorgehen zielt darauf, „die logischen Raster des Leser-Schreibers [zu] zerlegen, [...] seinen Blick [zu] trüben, bis daraus ein unheilbares Doppeltsehen entsteht“ (ebd., S. 181; Herv. JW). Irigaray schlägt als Vorgehen vor, „das Missverständnis [des Weiblichen] bis zur Erschöpfung [zu] wiederholen [.] Bis das Ohr sich an eine andere Musik gewöhnt hat, die Stimme wieder klingt, bis der Blick aufhört, ausschließlich auf die Zeichen seiner Selbst-Repräsentation zu starren, bis die (Re-)Produktion nicht immer wieder auf das Selbe (die Selben) und zu den mehr oder weniger gleichen Formen zurückkommt“ (ebd., S. 182).

Für Irigaray weist die phallische Ordnung der Frau sowohl in der Philosophie als auch in der Psychoanalyse die Position der Hysterikerin zu. Paradox treffen sich in der Hysterie das Un-Artikulierbare und das ‚Frau-Sprechen‘. Denn das Hysterische hebt das Unaussprechliche – weil ohne Sprache – auf. Gleichzeitig markiert es einen Übergang, insofern die hysterische Körper-Bewegung „bewahrt [...], was sich nicht ausspricht im Verhältnis der Frau zu ihrer Mutter, zu sich selbst, zu den anderen Frauen“ und es zugleich zu einem Sprechen dabei kommt, das die „männliche Sprache [...] mimetisch reproduziert, kari73 | Im Inzesttabu offenbart sich die psychische und soziale Bedingung des Tauschhandels: Irigaray bezieht sich dabei kritisch auf die psychoanalytisch herausgestellte Ödipus-Situation (vgl. Irigaray 1980/1974, S. 36ff.; 1979/1977, S. 33ff.). Während für Freud die Anerkennung des väterlich aufgestellten Gesetzes zentral für den Kultureintritt ist, tritt in Irigarays Verbindung von Psychoanalyse und Ökonomie hervor, dass die väterliche Ordnung einen bestimmten Zweck erfüllt. Das Inzesttabu ist nicht darauf zu reduzieren, Sex zwischen den Generationen zu verhindern. Es ordnet vielmehr den männlichen Besitz an Frauen in Form von Gattinnen, Müttern und Töchtern. Der Vater/der Psychoanalytiker projiziert zudem seine (!) sexuellen Phantasien auf die vermeintlichen Übertragungen der Patientin (!). Ein weiterer Bezugspunkt für Irigaray ist ihre Kritik an Lévi-Strauss‘ Anthropologie des Frauenhandels (vgl. Irigaray 1979/1977 S. 177ff.). Vgl. zum Kultureintritt in der Psychoanalyse und der Kritik daran auch Benjamin (2009/1988).

Die unmögliche Methode

kiert und verzerrt“ (Irigaray 1979/1977, S. 142). Das von Irigaray angestrebte „Frau-Sprechen“ sucht jedoch mehr als eine bloße Diskontinuität, es geht um „eine andere Artikulationsweise zwischen dem Begehren und der Sprache“ (ebd.), die es Frauen überhaupt erst ermöglichen würde, „mit den Männern zu sprechen“ (ebd.; Herv. i.O.). Diese Möglichkeit ist bisher keineswegs gegeben, denn Irigaray versteht das Frau-Sprechen als „Kontinuität“ (ebd., S.  143) von Begehren und Sprache, wie sie das metaphysisch-phallogozentrische Sprechen bisher nicht kennt.74 Bei diesem dekonstruierenden Zugang beschreitet Irigaray mehrere Wege; hier werden insbesondere die Auseinandersetzung mit der Materie und dem Mukösen betont. So bezeichnet Irigaray das Ins-Verhältnis-Setzen der Frau zur Materie in der phallogozentrischen Logik als „Schize“, insoweit die Frau zugleich die Materie als körperlich-natürliche zugewiesen bekommt (von der sich das männliche Subjekt autonomisiert hat) und als ‚Kastrierte‘ (da ohne Penis und Phallus – der sie ist und über den sie nicht verfügt)75 einen „organlosen Körper“ (ebd., S.  147) innehat. Diese doppelte Zuweisung der ‚Frau‘ verdinglicht den weiblichen Körper und schließt ihn beziehungsweise die Position ‚Frau‘ aus der Sphäre des Denkens und Gestaltens aus. Undenkbar bleibt in der Logik des Einen, die zugleich eine des ‚Festen‘ ist (weil sie die metaphysisch geschlossene, reine Identität für das Intelligible schlechthin hält), was das Begehren und das Geschlecht der ‚Frau‘ sein könnten. An diesem Punkt greift Irigaray das „Muköse“ (Irigaray 1991/1984, S. 131) auf. Dieses könnte „möglicherweise dem [entsprechen], was in unserer Epoche zu denken ist [und das ist für Irigaray die sexuelle Differenz, JW]“ (ebd.). Das Muköse – 74  |  Für Irigaray handelt es sich bei der Hysterie um ein mögliches ‚Frau Sprechen‘; die Hysterikerin lässt etwas zur Sprache kommen, sie bewegt sich auf der Ebene der Erfahrung, im Übergang zur Erkenntnis kann sie jedoch nicht bei der bloßen Artikulation stehen bleiben. Derridas „Glas“ (Derrida 2006/1974) könnte ebenso wie Irigarays Schreiben auf andere Formen von Erfahrung und Erkenntnis hinweisen. Allerdings arbeitet Spivak eine Ästhetik der Schrift und des Drucks bei Derridas Versuch heraus, die eher auf eine ‚Wiederholung des Selben‘ hinausläuft: „Das Buch ist in zwei Kolumnen unterteilt – Hegel zur linken, Genet zur rechten, und dazwischen ein Schlitz. [...] Es ist der klassische Fall von Fetischismus, ein Objekt von einzigartiger Gestalt (sein aus zwei Kolumnen bestehendes Buch), das dem Subjekt erlauben wird, sowohl Mann und nicht Mann zu sein – den Phallus zu haben und doch Zugang zur Dissemination zu gewinnen“ (Spivak 1992/1983, S. 194). Für Spivak kann Derrida daher kein „Vorbild für feministische Praxis“ (ebd., S. 195) sein; in ihrer Lesart gelingt Derrida keine „neu erzählte Geschichte der sexuellen Differenz“ (ebd., S. 199). 75  |  In der phallischen Logik ist das einzige Genital der Penis, während die Genitale der Frau zum Nichts degradiert werden. Die Frau als Mutter, Jungfrau oder Prostituierte hingegen ist der symbolische Phallus, der von Mann zu Mann, vom Vater zum Sohn (jenseits der Mutter!) weitergegeben wird.

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Schleimige 76 – entzieht sich dem metaphysischen Denken, weil es zwar einerseits als gegensätzlich zum phallischen Denken des einen ‚Dings‘ angesehen werden kann, aber andererseits in der Gleichzeitigkeit von fluide 77 und klebrig in der Schwebe bleibt. Das Muköse steht für Irigarays Insistieren darauf, dass die Dekonstruktion der phallogozentrischen Metaphysik keineswegs über eine „Umkehrung“ (Irigaray 1979/1977, S.  162) verlaufen kann; sie würde nur in der Logik des Gleichen verhaftet bleiben. In diesem Sinne entreißt Irigaray die Differenz einem Denken, das das weibliche Geschlecht nur als dem männlichen zugehörig versteht (in dem ‚Frau‘ Spiegel und Besitz des Mannes ist). Das Muköse ist kein anderes Eines, das dem Einen dualistisch gegenübersteht. Es ist insofern unentschieden: an der Schwelle – im Übergang –, ohne fest zu werden.78 Indem der Schleim auch daran denken lässt, wie er anhaftet, klebt, 76 | Das französische Wort ‚mukoïde‘ für ‚schleimig‘ wird entgegen dem Deutschen nicht mit Ekel assoziiert. Wie an vielen Stellen in Irigarays Schreiben, bringt dieser Begriff wieder eine Polysemie mit sich: Er erinnert an die Gebärmutterschleimhaut, Körperflüssigkeiten und die Schwelle von Gewebe zwischen flüssig und fest. 77  | Hier tritt eine gewisse Schwierigkeit auf, da Irigaray neben dem Mukösen auch das Flüssige als nicht-fest thematisiert (vgl. Irigaray 1979/1977, S. 110ff.). Allerdings muss berücksichtigt werden, dass der von Irigaray genutzte französische Begriff ‚fluide‘ als chemischer Ausdruck eher mit ‚flüssiger Körper‘ übersetzt werden kann. So problematisiert Irigaray in „Die ‚Mechanik‘ des Flüssigen“ (ebd.), dass die Zuweisung zum einen oder anderen letztlich etwas „Halbfestes“ oder „Fast-Feste[s]“ (ebd., S. 119) zurücklasse. Das irritiert, weil es dem Mukösen zu ähneln scheint. Die französische Version mit „mi-solide“ und „presque-solides“ (Irigaray 1977, S. 112; Herv.i.O.) lässt jedoch mehr Bedeutungen mitschwingen: ‚solide‘ kann sowohl für ‚fest‘ als auch für ‚Körper‘ stehen. 78  |  Der unaussprechliche Teil der weiblichen Genitale (unaussprechlich, wenn man die Dominanz der Bezeichnung mit ‚Vagina‘ und/oder ‚Scheide‘ berücksichtigt, vgl. Sanyal 2009, S. 11ff.) – die Vulva, die Labien, die Glans der Klitoris – der doch nach außen gerichtete und sehr wohl sichtbare Teil (und dennoch innen und außen verbindend), ist nicht vereinbar mit einem phallischen Verständnis von einem Genital: Für Irigaray sind es vor allem die Lippen, die das Geschlecht in ihrer Anordnung als zwei beziehungsweise vier und in ihrer Asymmetrie vervielfältigen, dualistischen Vorstellungen entziehen (vgl. Irigaray 1980/1974, S. 285 und 1979/1977, S. 216ff.). Die Lippen sind für Irigaray ein „Übergang von innen nach außen und von außen nach innen“ und zwar „grenzenlo[s]“ (ebd.) und endlos, ebenso wie ihre Lust sich nicht in einem ‚Akt‘ erschöpft. Die Konfrontation mit uneindeutiger Materie nötigt im phallogozentrischen Denken zu der Entscheidung für ‚kein Genital‘, statt einem ‚Mehr an Genital‘ gegenüber dem ‚einen Genital‘. Darin liegt aber nicht nur eine Verweigerung gegenüber den Genitalen der ‚Frau‘, sondern auch eine Entsinnlichung des männlichen Körpers jenseits des erigierten und penetrierenden Penis‘. Diese Auseinandersetzung Irigarays ist bezeichnend für den ‚fließenden Übergang‘ in ihrem Materialitäts-Verständnis: Es gibt einen begrenzenden Körper, aber der Zugang zu ihm, seine sinnliche Erfahrung, ist symbolisch geordnet.

Die unmögliche Methode

verweist das Muköse auf den Bezug des Einen auf das Andere/den Anderen/ sein Anderes. Wenn das männliche Subjekt sich als ‚Festes‘ betrachtet und das Muköse auslagert, auf den ‚unreinen‘ Körper der Frau (mit ihrer Menstruation, ihrer fließenden Sexualität) und deren Beschäftigung mit dem Schmutz (dem Putzen, dem Windeln etc.) verschiebt, verleugnet es seine Angewiesenheit auf diesen Übergang.79 Das Muköse wird bei Irigaray zu einer Möglichkeit sexueller Differenz, weil es Differenz nicht addierend denken lässt, sondern das Differente aufeinander bezogen beziehungsweise angewiesen versteht. Es lässt das ‚Zwischen‘80 hervortreten, das aber durch seinen nicht-festen Charakter nicht verdinglicht oder festgelegt werden kann. Wenn in einem metaphysischen Sinne empirischer Forschung Gegenstände als schließende Identitäten objektiviert werden, werden diese von ihren Bedingungen ‚abgeschnitten‘. In der methodischen Operationalisierung hat dieser Vorgang ‚Methode‘, insoweit er das Empirische auf einen idealen Umriss, eine geschlossene Form reduziert. Während in einem objektivierten Wissenschaftsverständnis, die Methode als objektiv, bar jeglicher Verunreinigung 79 | In der Übersetzung von ‚mukoïde‘ ins Deutsche, bei der nochmals deutlich gemacht werden muss, dass die Assoziation von Ekel dem deutschen Wort ‚schleimig‘ anhaftet und in der französischen Sprache nicht evoziert wird, tritt eine weitere geschichtliche Bedingung von Weiblichkeit hervor. Diese betrifft den Hass auf das Uneindeutige und dessen Verbindung zum Ekel. Die nationalsozialistischen Reinheitsfantasien zielten darauf, die ‚Rasse‘ reinzuhalten und gingen mit einer mehrfachen Beschäftigung mit Blut und Körper einher: Es kam zu einer Gewaltorgie gegen den eigenen und anderen Körper. Der ‚eigene‘ Körper wurde ‚gestählt‘, die ‚anderen‘ Körper hingegen zu Dingen, mit denen ‚experimentiert‘ werden konnte, zu ‚Fleisch‘, das niedergemetzelt werden konnte. Stellt dies eine Möglichkeit dar, Blut ‚kontrolliert‘ fließen lassen zu können? Zugleich fällt in diese Zeit auch die verstärkte Technisierung von Mutterschaft, sei es in den kollektiven Erziehungsmaßnahmen oder in den Still- oder besser: Flaschenrhythmen für Säuglinge. Dem Fluss der Muttermilch konnte nicht vertraut werden, ebenso wenig dem sinnlichen Erleben der Mutter. Neben dem Stillen ist auch die Geburt ein Vorgang, in dem das Leben durch die Körpersekrete in die Welt tritt; sie ist ein Geben und verlangt Konzentration, zugleich sind die Wehen, ein Blasensprung, die Ausscheidungen, das Blut und die Nachgeburt (partielle) Kontrollverluste. Geburt und Menstruation bringen ein unkontrolliertes Fließen von Blut mit sich. Den Hass gegen den Schleim, das Blut, die Milch spiegeln die ‚Bestrafungen‘ von Mädchen in der Heimerziehung durch Entzug eigener Kinder (im Falle jugendlicher, unverheirateter Mütter) und die brutalen ‚Waschungen‘ der Genitale wider (vgl. 1.1 und 1.2). Der Frage nach dem Flüssigen im Geschlechtlichen und der Verbindung zur nationalsozialistischen Gewalt hat sich an anderer Stelle Klaus Theweleit 1977, 1978 gewidmet. 80 | Damit ist auch zu unterscheiden zwischen einer Reduktion der Frau und ihres Körpers auf ein ‚Loch‘ und der Betonung eines ‚weiblichen Zwischen‘, das Differenz ermöglicht (vgl. hierzu auch Soilands Erläuterung zu Irigarays Kritik an Lacan, Soiland 2010, S. 255f.).

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durch das Sinnliche, verstanden wird, sieht Irigaray darin eine Beschneidung der Erkenntnis: „Hat nicht gerade die Methode, der Weg zur Erkenntnis, immer durch Betrug und List vom Weg der Frau abgeleitet, abgebracht bis hin zur Besiegelung ihres Vergessens. Diese zweite Interpretation des Begriffs Methode, nämlich Ableitung, Betrug und List, ist übrigens seine zweite mögliche Übersetzung. Damit der Weg der Frau u. a. in und durch die Sprache wieder frei gemacht wird, war es also notwendig, herauszufinden, wie die Methode nie so einfach ist, wie sie sich gibt, wie ihr teleologisches, ihr teleologisch aufbauendes Unterfangen immer, bewusst oder unbewusst, im Vortäuschen des Gleichen, auf ein Ableiten, Abbringen und Reduzieren des Anderen hinzielt. D.h., in seiner größten Allgemeinheit, was die philosophischen Methoden angeht: des Weiblichen“ (Irigaray 1979/1977, S. 156f.).

Irigaray untersucht in ihren Schriften den Ausschluss der weiblichen Position. Deren Explikation ist bereits dekonstruierend; sie geht allerdings noch einen Schritt weiter, indem sie über das Muköse und die Materie des Körpers versucht, die phallogozentrische Metaphysik mittels ‚Frau-Sprechen‘ zu stören. Gelänge dies, würde die Ordnung zerbrechen – als jenseitige Utopie kann das aber nicht umgesetzt werden, das Metaphysische bleibt zunächst die einzig ‚verfügbare‘ Sprache.

Heide Schlüpmann: Ohnmacht der Masse als Aufklärung des Subjekts Eine ähnliche Richtung verfolgt Heide Schlüpmann (1998), die sich den ‚Frauen‘ als denjenigen zuwendet, deren Wahrnehmung beziehungsweise Erfahrung von Welt ausgeschlossen wird. Sie fasst diese Erfahrung als „Ohnmacht“ (ebd., S.12; Herv. JW), der die Frauen in einer männlich-philosophisch strukturierten Welt ausgeliefert sind, und nimmt sie zum Anlass für eine mögliche andere Wahrnehmung. Schlüpmann lässt „Ich und Subjekt zu den selbst Aufklärungsbedürftigen – statt die Aufklärung Betreibenden“ (ebd., S.  11) werden.81 Mit Schlüpmann ließe sich sagen: Die Normen, die letztlich die Identitätskategorien (in Butlers Sinne) fassen, sind ein Schein, den und dessen Natur das körperlose, autonome Subjekt zu beherrschen trachtet (vgl. 81 | Heide Schlüpmann entwickelt in ihren kinotheoretischen Schriften, geleitet von Nietzsches ästhetischer Philosophie und der kritischen Theorie, eine Theorie der Wahrnehmung (vgl. auch Schlüpmann 2007, 1990). Ihr Verständnis von Theorie, Philosophie und Ästhetik ist dabei keineswegs durch den Gegenstand des Kinos eingeschränkt, sondern immer wieder rückgebunden an die Wahrnehmung in der ‚Frauenemanzipation‘ beziehungsweise Frauenbewegung (sowohl der ersten wie auch der zweiten). Vor diesem Hintergrund spielt das Kino nur partiell eine Rolle für meine weitere Argumentation.

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ebd., S. 62). Wird dieser körperlose Schein ‚beherrscht‘, suggeriert dies, nicht mehr den Bedingungen des Selbst ausgeliefert zu sein. In einer Perspektive der Wahrnehmung als Liebe, wie sie von Schlüpmann entwickelt wird, könnte diese Position als die der Ohnmacht angesichts der „Vielheit hinfälligen, vergänglichen Lebens“ (ebd.) erfahren werden. Die Liebe zur Wahrnehmung öffnet das Subjekt für die „Impression der Anderen“ (ebd., S. 37). Diese Wahrnehmung stelle eine „ander[e] Theorie [dar], als [Philosophie] selbst war und Wissenschaft ist“ (ebd., S. 18).82 Damit stellt sich Schlüpmann zwar ‚außerhalb‘ der bestehenden Ordnung, aber indem sie die Wahrnehmung als eine ansieht, die in der Erfahrung der Ohnmacht geschieht. Wahrnehmung ist so betrachtet nicht eine von der männlichen komplett zu unterscheidende, eine in der phallischen Ordnung der Metaphysik ausgeschlossene oder unmögliche; sondern eine, in der die Ohnmächtigen – d.h. die Frauen und Arbeiter83 – eine „neue Erfahrung [machen], eine Erfahrung der Selbstwahrnehmung ihrer Ohnmacht“ (ebd., S. 54). Sie sind es auch, die für Schlüpmann „im gesellschaftlichen Raum des Kinos, in dem das Erleben des Einzelnen zugleich das der Masse ist“ (ebd., S. 11), ihre Ohnmacht als Teil der Masse erfahren. In dem so genutzten Masse-Begriff wird dieser seiner faschistisch bejahenden wie auch der bürgerlichen Deutung entzogen: In der Masse – wie Schlüpmann sie fasst – spürt beziehungsweise erfährt sich das Individuum in seiner Bezogenheit auf die anderen Körper, es ist Anderes in der Masse. Diese Bezogenheit, die auch die Erfahrung des Anderen mit sich bringt, wird im Nationalsozialismus negiert – das Individuum hat sich im Interesse der ‚Volksgemeinschaft‘ aufzulösen, alles andere wäre bürgerliche Dekadenz. Aus der bürgerlichen Warte erfährt die Masse der Arbeiter eine Abwertung, sie haben quasi keinen Subjektstatus, sind nur funktionalisiert als Arbeitskraft. Gleichzeitig wird in der Nachkriegszeit die Masse mit dem Nationalsozialismus identifiziert, was mit einem Individualisierungsparadigma einhergeht, das hinter jeglicher Kollektivität die Diktatur wittert. Insofern ist Schlüpmanns Begriff der ‚Masse‘ ein anderer, jenseits dieser beiden Deutungen.84 Die Konzentration auf das bürger82 | Die Trennung aufklärender Philosophie und positiver Wissenschaft ist für Schlüpmann eine Folge der „Transformation des Idealismus“ (Schlüpmann 1998, S. 86) in Form ästhetischer Philosophien im ausgehenden 19. Jahrhundert. 83  |  Im gemeinsamen Denken von Frauen und Arbeitern knüpft Schlüpmann an Helene Stöckers und August Bebels Argumentation an (vgl. Schlüpmann 1984, S. 12f., 15). 84 | Schlüpmanns Massebegriff geht auf ihre Re-Lektüre Siegfried Kracauers „Das Ornament der Masse“ (1977/1927) zurück. Kracauer unterscheidet die Masse vom „Volk“ (das aus seiner Gemeinschaft wachse) und von den „Individuen“; in der Masse seien die Menschen nur „Bruchteile einer Figur“ (ebd., S. 51). Während für Kracauer die Träger der Masse das durch sie erzeugte ‚Ornament‘ nicht mehr fassen können, sieht Schlüpmann in der Erfahrung der Masse gerade eine Position, mittels derer die eigene Bedingtheit wahrgenommen

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liche, autonome Subjekt kommt einem Individualitätszwang gleich, der die Erfahrung als angewiesen auf und Teil von einer generational und geschlechtlich bedingten Materie verleugnet. Später erweitert Schlüpmann diese ‚Ohnmachts-Perspektive‘ der Masse (als diejenige der Erfahrung und des Bewusstseins „des Raumes und damit der Frauen“) auf die „schwarze[n] Frauen und Männer [..., die] für die weißen Protagonisten professionelle Sorge“ (Schlüpmann 2014, S.  228) tragen. Diese Wahrnehmung der Ohnmacht und der Konstitution durch den Anderen dehnt Schlüpmann auf das erkennende Subjekt schlechthin aus. Indem sie sich (was aus der Warte hegemonialer Wissenschaft als unmöglich gilt) in der Erkenntnis wahrnehmen, genauer sich ‚selbst‘ als ohnmächtig wahrnehmen, können sich „die nicht an der bürgerlichen Öffentlichkeit Partizipierenden einer menschlichen Subjekthaftigkeit versichern“ (Schlüpmann 1998, S. 54). Die Ohnmacht betrifft das Denken selbst, insofern es einer Wahrnehmung zugehöre, die durch den Anderen konstituiert sei (vgl. ebd., S. 30f.). Im Gestus der Macht, diese Ohnmacht zu tabuisieren, komme es zur Desensibilisierung, werde sie der Erfahrung unzugänglich gemacht. Im Begehren nach dem Objekt teilt das Subjekt jedoch dessen Erfahrung der Ohnmacht, insofern es das Objekt für seine Position braucht, auf es angewiesen ist. Die Erfahrung der Ohnmacht weicht in der Tabuisierung einer Gleichgültigkeit gegenüber den Machtverhältnissen, wie sie auch die Wirklichkeit der Wissenschaft betreffen. Weiter sei der „Mann [...] Subjekt aufgrund gesellschaftlicher Macht und die Frau Objekt aufgrund gesellschaftlicher Ohnmacht, sie wird nicht Subjekt am Ende, weil sie Macht über den Mann gewonnen hätte [...], sondern weil sie den physischen Mann in Differenz zur abstrakten gesellschaftlichen Macht erfährt und ihr damit das männliche Subjekt selbst in seine ‚objektiven‘ Bestandteile zerfällt. Die Frau wird Subjekt nur, indem sie ein Selbstbewusstsein ihrer Objekthaftigkeit entwickelt: als physisches und als gesellschaftliches Objekt“ (ebd. S. 159). Damit tritt eine Wende im Subjektbegriff ein: Das Subjekt ist das zur Wahrnehmung (von Angewiesenheit) fähige Wesen. Ein solches Subjekt nimmt sich in seiner Bedingtheit und Ohnmacht wahr. Die Artikulation der eigenen Ohnmacht könnte ein Zugang zum ‚Frau-Sprechen‘ sein, wie Irigaray es sucht und auch praktiziert. Gewissermaßen kann bei Derrida, Irigaray und Schlüpmann ein spezifischer Clou ausgemacht werden: Die Metaphysik beziehungsweise die männliche Herrschaft gründet auf der Unterdrückung dessen, was sie ermöglicht. werden kann. Für Kracauer ist es das in der Populärkultur hervorgebrachte ‚Ornament der Masse‘, das ästhetisch die vom „herrschenden Wirtschaftssystem erstrebt[e] Rationalität“ (ebd., S. 54) umsetzt und damit reflektieren lässt. Schlüpmann hingegen lässt den Leib in der Masse auftreten, der die wechselseitige Abhängigkeit mit der Masse spürt. Für Schlüpmann ist dies ein potentieller Ausgangspunkt für die Kritik an einer männlichen Welt.

Die unmögliche Methode

Der Weg, diese Herrschaft zu unterlaufen – die andere Theorie und Erkenntnis als Wahrnehmung des Zwischen und Anderen –, ist ein unentschiedener; über das Außen, das inhärent und Bedingung ist, eine sich entziehende Repräsentation, eine Materialität, die sich nicht festlegen lässt, das unfassbar Andere. Die aufgeworfenen Perspektiven – Derridas ‚différance‘, Irigarays ‚Muköses‘ und Schlüpmanns ‚Masse‘ – fragen mit unterschiedlicher Gewichtung nach diesen Erfahrungen der bedingten Herrschaft. Oder anders gesagt: Wenn die entkörperlichte Metaphysik die Bedingung der Unterdrückung ist und Geschlecht ‚determiniert‘ beziehungsweise limitiert (als Eins, würde Irigaray sagen), dann kann die Dekonstruktion, die zur Wahrnehmung des Tabuisierten/der anderen Ordnung zwingt (die nicht außerhalb der bestehenden liegt, sondern deren Raum bildet), Intervention ermöglichen. Die Intervention zielt nicht auf eine Vervielfältigung, sondern auf die ‚Verunreinigung‘ des Eindeutigen und auf das Dazwischen der Bezogenheit und Angewiesenheit. Sie würde nicht in eine außermetaphysische ‚Glückseligkeit‘ führen, sondern wäre gerade deshalb intervenierend, weil es eine Anerkennung der Angewiesenheit mit sich brächte. Durch diese Öffnung des vermeintlich Eindeutigen ‚ist‘ dieses nicht-geschlossen, es wird zu einer ‚Identität‘, die keine ist.

2.2.3 Geschlecht zwischen Sinnlichem und Intelligiblem In diesem Kapitel wurde die Vorstellung zurückgewiesen, die Kategorie Geschlecht sei determiniert, eine Frage der Eigentlichkeit, betont wurde dagegen ihre Öffnung zur Differenz (vgl. 2.1). Wie in den Unterkapiteln 2.1 und 2.2 bisher herausgearbeitet, scheint Geschlecht als Kategorie zunächst ein metaphysisch geschlossenes Seiendes zu sein. Dieses konkretisiert sich in idealen Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit, die ihren Ursprung in der Natur hätten. Darin liegt ein ambivalentes Verhältnis zur empirischen Dimension des Seienden: Der natürliche Ursprung von Geschlecht ist in dessen konkreter Materie nicht relevant für das jeweils ideal vorhandene Geschlecht. Geschlecht ist in der metaphysischen Perspektive eine Ordnung der Erscheinungen nach deren ‚ursprünglicher‘ und ‚idealer‘ Identität. Insofern ist Geschlecht in der Anschauung gegeben, es entsteht zwar in der Erkenntnisbildung, ist aber zugleich ‚in sich‘ ursprünglich. Geschlecht ist aus dieser Perspektive ‚wahr‘ – als zwei ursprünglich voneinander unterschiedene und dichotom(-hierarchisch) angeordnete Identitäten. Aus dekonstruierender Sicht handelt es sich jedoch dabei um einen Schein, dem ein massiver Aufwand an Vergessen und Tabuisierung zugrunde liegt. Das Seiende – die geschlossene geschlechtliche ‚Identität‘ – erscheint ohne das Sein unveränderlich. Die Herrschaft würde als solche in Erscheinung treten und wäre, würden ihre ‚Grundlagen‘, würde ihre Bedingtheit explizit werden, gefährdet. Die Dekonstruktion der Metaphysik beziehungsweise die Kritik am phallogozentrischen Subjekt versucht genau

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diese Offenlegung und deshalb ist es kein Zufall, dass – wie auch in der genealogischen Rekonstruktion – diese Kritik zunächst bei der Ohnmachtserfahrung der ‚Frau‘ ansetzt. Geschlecht wird hier von dem in der Metaphysik Wahrnehmbaren aus gedacht und zwar zusammen mit dem, was in ihr ungedacht bleibt. So besetzt ‚Frau‘ bei Irigaray und Derrida dieselbe Position im Verhältnis zur Metaphysik (vgl. Armour 1997, S.  73). Für beide ist ‚Frau‘ kein Seiendes – nicht in der Ökonomie des Gleichen, im hierarchischen Dualismus von Anund Abwesenheit: „Für beide [...] meint ‚die Frau existiert nicht‘, dass – was auch immer ‚Frau‘ ist oder wird, wann immer sie ist oder wird – ‚sie‘ nicht das ‚Subjekt‘ in der Ordnung des Seienden, der Metaphysik als solcher, ist“ (ebd., S.  64; Übers. JW). In der phallischen Ökonomie ist ‚sie‘ unentscheidbar und beide Denker/innen wollen in dieser Unentschiedenheit bleiben (vgl. ebd.). Diese Unentscheidbarkeit unterbricht die phallogozentrische Ökonomie der Wahrheit, des Besitzes. So stellt sich heraus, dass das Begehren nach der Wahrheit geschlechtlich kodifiziert ist und zwar im Sinne eines männlichen Begehrens nach ‚der Frau‘ (vgl. ebd., S. 67). Dabei sind es die Unentschiedenheit und die Frau als différance 85, die die Erfüllung des Begehrens verhindern. In ihrer Explikation, die sich sofort wieder verflüchtigt, werden die Fixierungen des Seienden (von Geschlecht) unhaltbar.86 Zugleich lässt sich daraus keine unbegrenzte Freiheit schließen. Die Absage an das unbedingte Subjekt, das unabhängig von der Materie über das Seiende zu verfügen glaubt, besteht gerade in der Abhängigkeit von etwas, dass ‚wir‘ nicht ‚im Griff‘ haben: Der Zeit und dem Raum. Der Körper und seine Vergänglichkeit erinnern unaufhörlich daran. Ihre Rückbindung auf Geschlecht und Generation spaltet das Subjekt in seiner Einzigartigkeit ebenso wie Vorstellungen von Identität. Geschlecht und

85 | Vgl. hierzu auch Spivak 1992/1983: Der „ursprünglich verschobene Schauplatz der Schrift [ist] der Schauplatz der Frau“ (S. 187); es handelt sich um eine „zweifach[e]“ oder „doppelte Verschiebung bis hin zum Zeichen eines Abgrundes“ (S.189f.). Die Frau ist so grundloser Ursprung und ebenso wie die différance nie erreichbar. Dazu muss angemerkt werden, dass auch Spivak unentschieden ist: zwischen der Anerkennung Derridas und einer Kritik an seinem weiter bestehenden Phallozentrismus. In der vorliegenden Untersuchung eröffnet die „Feminisierung“ (ebd., S. 189) der Philosophie (der Wissenschaft) in Derridas Denken einen Weg in die Dekonstruktion, die aber zugleich feministisch verschärft/zugespitzt/gewendet werden muss. Ziel ist weniger, eine weitere Derrida-Kritik zu schreiben, sondern eine dekonstruierende, feministische Perspektive zu entwickeln und ihren Beitrag zur Fragestellung auszuloten. 86 | So beginnt Sporen. Die Stile Nietzsches (Derrida 1986/1972) damit, dass „die Frau [sein, also Derridas] Sujet, [sein] Subjekt“ (ebd., S. 131), sei, um später eine Kehrtwende zu machen: „die Frau wird also nicht mein Sujet gewesen sein“ (ebd., S. 158).

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Generation in ihrer Zeitlichkeit verweisen auf ein ‚vor‘ und ‚nach‘, welche beide immer anders und doch bezogen aufeinander sind. Schlüpmann (1998) deutet dies als Ohnmacht im Sinne von Angewiesenheit. So kann Materialität als die Verwiesenheit auf den Körper gedacht werden. Der Körper ist lebendig, in dem Sinne, dass er dem Sein in der Zeit und damit der Vergänglichkeit ausgesetzt ist. Angesichts der Erkenntnis, nicht über die Materialität verfügen zu können, stellt sich Ohnmacht ein. Dass Schlüpmann die Ohnmacht als spezifisch weibliche Erfahrung charakterisiert, ist nicht biologisch begründet, sondern materialistisch. Sie ist eine geschichtliche Materialität, insofern der Körper – und damit auch die Leiberfahrung – vor allem in seiner Verfügbarkeit historisch-gesellschaftlich formiert wurde. „Frauen passen sich in die Gesellschaft des Habens, der Machbarkeit und der Macht ein, wenn sie Verfügungsgewalt beanspruchen“ (Schlüpmann 2014, S.  229). Die Emanzipation bleibt darin solange begrenzt, wie sie in der „Eroberung von Positionen, die die Gesellschaft vorgibt“ (ebd.), verharrt. Schlüpmann argumentiert nun nicht für eine Umformung des Körpers oder für eine Umverteilung seiner Verfügbarkeit, sondern für eine Um-Ordnung seiner Wahrnehmung: Die Forderung nach angesehenen Positionen muss überschritten werden, denn es gehe darum, „als sinnliches, geschlechtliches Wesen zu leben, unter Menschen, Tieren, Dingen zu leben (vgl. Stöcker 1906). In einer erfahrbaren Körperwelt“ (ebd.). Das sei „ein anderer Kosmos [...], der der Einen Welt unterliegt“ (ebd.). Aktuellen Bestrebungen zur Gleichberechtigung von Frauen mit Männern setzt Schlüpmann einen neuen queer-Begriff entgegen: sie sieht queer 87 als Teil der Frauenbewegung, der nicht in der Gleichberechtigung innerhalb des bestehenden politisch-ökonomischen System aufgeht: Diese „andere Seite [des Feminismus] opponiert dem Diktat, dass Frauen und Männer ein Geschlecht haben“ (ebd., S. 230, Herv. JW). Schlüpmann sieht darin, was „innerhalb der Alten Frauenbewegung radikal [gesucht] wurde, unabhängig von Rollenzuschreibungen endlich im eigenen geschlechtlichen Körper zu sein und ihn zu erfahren, von innen heraus. Als was auch immer er sich dann zeigt. Gewollt war damit das genaue Gegenteil von Geschlechtsidentität und einer Ermächtigung aus der Identität heraus“ (ebd.; Herv. JW). Während in einer Ökonomie des Tausches, bei der die Frau auch tauschen darf, ‚alles mit Geld‘ möglich ist, „Sexualität, Freizeit [...]“, verhindert dieses Denken eines verfüg87  | Schlüpmann radikalisiert damit die queere Ablehnung von Identität und gibt ihr zugleich den Körper beziehungsweise Leib zurück. Ein so gedachter Begriff von queer widerspricht zu Recht queeren Selbstbezeichnungen und Identitätsbestrebungen. Ich schließe mich Schlüpmanns Argumentation bezüglich ‚Körper sein vs. haben‘ an, nicht aber ihrer Begriffsverwendung, weil der Begriff queer derzeit anders besetzt ist und die Diskussion um den Begriff/seine Infragestellung/seine Umdeutung eine eigene wissenschaftliche Theoretisierung erfordern würde.

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baren Körpers, „in der eigenen Physis zuhause zu sein, [...] verdrängt, was das überhaupt heißt“ (ebd.), ein Körper zu sein. ‚Im Körper sein‘ ist die gesellschaftlich abgespaltene Sphäre, die vor allem für Frauen dennoch erfahrbar bleibt (vgl. ebd., S. 231).88 Die Freiheit liegt in der Entscheidung für das „Unkontrollierbare“ gegen die jede Erfahrung immer schon „kontrollierende Macht“ (ebd., S. 233), die – so würde ich ergänzen – die metaphysische Ordnung des Schließens ausübt. Bezieht man Schlüpmanns Gedanken auf die sexuelle Differenz nach Irigaray, wäre die Aufgabe, den geschlechtlichen Körper zu erfahren. Zwar schreibt Schlüpmann in den zitierten Passagen vom Körper, als sinnlich erfahrbarer Körper geht es letztlich jedoch um den Leib. Dieser Körper/Leib ist nicht identitär festgelegt, sondern durch seine zeitlichen und räumlichen Grenzen nur bedingt zugänglich. Diese Grenzen sind geschlechtlich, insofern sie die Erfahrung von Generativität und Sexualität betreffen.89 Wir stoßen hier wieder auf die beiden Kategorien, die im 1. Kapitel den Ausgangspunkt für die genealogische Rekonstruktion bildeten: Geschlecht90 und Generation begren88 | Schlüpmann verwendet in den hier zitierten Stellen vor allem den Begriff ‚Körper‘. Allerdings arbeitet sie zugleich mit der Unterscheidung, einen Körper zu haben vs. ein Körper zu sein. Damit nimmt sie auf Helmuth Plessners (1961/1941) Unterscheidung von Körper und Leib Bezug, die insbesondere ihr Verständnis einer leiblichen Sinnlichkeit prägt (vgl. „sinnlich-leibhafte Welt“ in Schlüpmann 1998, S. 101). Ein weiterer Bezugspunkt für Schlüpmanns Körper- und Leibverständnis ist Nietzsche, der die „Unvereinbarkeit der Gegenwart der Philosophie in seinen eigenen Schriften mit seiner leiblichen Erfahrung“ (ebd., S. 79) reflektiere. 89  |  Ich danke an dieser Stelle Rita Casale für die Diskussion im Kolloquium von Geschlecht im Verhältnis zu Generativität und Sexualität. Zudem sei an dieser Stelle erneut auf Barbara Rendtorffs Diskussion des Zusammenhangs hingewiesen (vgl. Rendtorff 2008, S. 75). Im Hinblick auf die Generativität muss betont werden, dass es zwar eine Gebärfähigkeit des weiblichen Körpers gibt, das Gebären jedoch in einem historisch-gesellschaftlichen Kontext realisiert wird, ebenso wie die anschließende Arbeitsteilung nicht davon zu lösen ist (vgl. Becker-Schmidt 1985, S. 98). 90 | Ich bevorzuge hier das Wort ‚Geschlecht‘ nicht allein aufgrund der Unentschiedenheit, die es im Deutschen bezüglich seiner biologischen wie sozialen Dimension mit sich führt, sondern auch, weil Derrida diese Unentschiedenheit in der Frage danach, wie und warum Heidegger die geschlechtliche Dimension ausklammert und evoziert, als eine „Monstrosität“ (Derrida 2005/1987, S. 44) deutet. Derrida übersetzt das deutsche Wort ‚Geschlecht‘ nicht, auch und gerade weil es polysem ist: „dieses Wort [kann] eine Übersetzung durch sexe, race (Rasse), espèce (Art), genre (Gattung), souche (Schlag, Stamm), famille (Familie), génération oder généalogie, communauté (Gemeinschaft) mit sich geschehen[!] lassen“ (ebd.; Herv.i.O.). Das Generationale und das Geschlechtliche fallen so gesehen zusammen und überschreiten das Eigentliche durch ihre zeitliche und gemeinschaftliche Dimension. Trotz oder wegen der ähnlichen Offenheit von ‚genre‘ erhielt die Unterscheidung von ‚sex‘ und

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zen das menschliche Sein und öffnen es zugleich zum Anderen, über das das Subjekt nicht verfügen kann. Ohne die vorherige Generation wären weder Sein noch Materialität möglich. Wenn Generativität und Sexualität die spezifische Erfahrung des Körpers als Leib91 bedingen, kann Geschlecht als Verhältnis zur Materialität verstanden werden. Dieses Verhältnis ist jedoch nicht biologisch determiniert, sondern immer schon doppelt – sinnlich und intelligibel zugleich92 –, weil mit dieser Erfahrung mittels einer spezifischen Strukturierung – die metaphysische/phallogozentrische Ordnung – umgegangen wird: Das männliche Geschlecht beziehungsweise seine Position ist zugleich kein Geschlecht (da objektiv und neutral) und Geschlecht (ungedachter Weise), indem es der ‚Frau‘ ein verdinglichtes Geschlecht (Mutter, Jungfrau, Prostituierte) zuweist und sich so erst selbst konstituiert (in der verdeckten Abhängigkeit von Anderen). Zusammengefasst bedeutet dies, dass es einen Unterschied macht, in welcher Form der Körper Generativität ermöglicht, mit welchem Körper Sexualität gelebt werden kann (in welchem Verhältnis die Wahrnehmung von innen und außen und dem Dazwischen erlebt werden kann), ob er gebären kann oder nicht, ob ich Mutter, Vater, Tochter oder Sohn sein kann. Letzteres betrifft die Differenz in der Geschlechter- und Generationenfolge gleichermaßen. Aber wie das Verhältnis dazu verläuft, ist nicht unmittelbar durch einen biologischen Körper gegeben. Das heißt, geschlechtliche Differenz meint dabei keine verdinglicht wahrnehmbare Wahrheit von Materialität, sondern eine Erfahrung der Spaltung oder Grenze, die sich nicht in einer Einheit oder Kausalität aufheben lässt. Zum Beispiel kann aus der Gebärfähigkeit der Frau kein kausaler Besitzanspruch des Mannes oder eine Versorger-Ökonomie abgeleitet werden – letztere sind Materialisierungen des Körpers in einer phallogozentrischen Metaphysik. Die Kategorie Geschlecht ist darin untrennbar von der Kategorie der Generation, insofern Geschlecht immer in einem Verhältnis zur Generativität steht. Damit sind die grundlegende Angewiesenheit auf die ältere Generation und das Verhältnis zur generationalen Weitergabe gemeint – unabhängig davon, ob das Individuum sich biologisch oder geistig ‚fortpflanzt‘ oder

‚gender‘ in der französischsprachigen feministischen Theorie wenig Aufmerksamkeit, was insbesondere damit zusammenhängen kann, dass ‚genre‘ nicht nur Geschlecht, sondern auch Menschheit bedeuten kann (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 2011, S. 9f.). Diese Überschneidung nimmt Irigaray zum Anlass ihres Sprachspiels mit der ‚hom(m)osexualité‘ (s.o.). 91 | So bleibt in der unauflöslichen Verbindung von intelligibel und sinnlich auch die Unterscheidung von Körper und Leib in der Schwebe – der Körper/Leib ist dann weder absolut verfügbar noch unerfahrbar. 92 | Insofern ist die Frage danach, was oder welche Anteile ‚angeboren‘ und welche ‚sozial erzeugt‘ sind, uninteressant.

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sich beidem verweigert, alle drei Varianten sind ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen zur Generativität. Geschlecht ist insofern eine relevante Analysekategorie, in der Sinnliches und Intelligibles untrennbar miteinander verwoben sind. Wird sie jedoch als Identität operationalisiert, macht ein solches methodisches Vorgehen ungreifbar, was Geschlecht als gesellschaftliches und psychisch strukturierendes Moment auftreten lässt. Wenn Geschlecht ungedacht bleibt, bleiben auch die wesentlichen materiellen Bedingungen von Individuum und Gesellschaft unsichtbar. In einem schließenden Verständnis von Geschlecht wird dabei vor allem die Bezogenheit im geschlechtlichen wie generationalen Verhältnis unterschlagen. Geschlecht in seinen (un)möglichen Materialitäten bestimmt, welche angewiesenen und abhängigen Optionen ‚wir‘ im Verhältnis zu Generativität und Sexualität haben. Das heißt nicht, dass das jeweilige Geschlecht die soziale und politische Position bestimmt, sondern, welcher Weg beschritten werden kann, Leben zu geben. Zugleich sind es Generativität und Sexualität, in denen es zur Verbindung – Kopulation – kommt. Das Geschlecht/Geschlechtlich-Sein ist insofern unentschieden, als dass die sexuelle Differenz die wechselseitige Angewiesenheit und damit jeweils inhärente Spaltung des Menschen markiert. Der unauflöslich vermittelte sinnliche und intelligible Charakter von Geschlecht verweist zugleich auf die Zeichen-Dimension von Geschlecht. Aufgrund seiner Differenz und (zeitlichen wie räumlichen) Endlichkeit gefährdet Geschlecht, ebenso wie das Zeichen, eine eindeutige Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem. So kann Geschlecht „als ein Zeichen für Unterschiede in seinen Entstehungsprozessen“ (Casale/Larcher 2004, S. 66) untersucht werden. Die Verbindung von Geschlecht und Zeichen ist für das folgende Kapitel relevant, weil es nun darum gehen wird, sich ausgehend von der Dekonstruktion eines metaphysischen Wissenschaftsverständnisses und eines ebensolchen Geschlechterverständnisses den fotografiegestützten Interviews von Jugendlichen in der stationären Erziehungshilfe zu nähern. Das so verstandene Zeichen ist nicht konventionell: Es hat eine materielle Dimension, indem es intelligibel und sinnlich ist und auf keinen außerhalb liegenden Ursprung zurückgeführt werden kann. Ein solches Zeichenverständnis ist folgenreich für die Verbindung von (Interview-)Text, Fotografie und Geschlecht. Die in Kapitel 3 durchgeführte Auseinandersetzung mit dem erhobenen Material führt unter den genannten Voraussetzungen zu einer Verschiebung im Forschungsprozess: Die Interviews und Fotografien sind die Oberfläche, die Materialisierung und Fixierung von Geschlecht und seinen Bedingungen. Eine Perspektive unmöglicher Methode, die nach dem sucht, was ‚Zwischen‘ den ‚Elementen‘ liegt/was ‚Dazwischen‘ liegt, die versucht, die Angewiesenheitserfahrung der Interviewten und meine eigene als Forscherin zu artikulieren, steht dabei vor mehreren Herausforderungen. Wie kann das Ungedach-

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te zum Ausdruck gebracht werden? Verfällt diese Praxis nicht wieder einem schließenden Begehren nach Wissen? Die Perspektive unmöglicher Methode muss an gängigen Empirie-Vorstellungen scheitern, weil sie dem Eindeutigen die Eindeutigkeit nimmt, indem sie die Vereindeutigung explizit macht. Darin wird das Faktische zum Abhängigen, insofern es zu einem geschichtlichen Geschehen wird. Das mindert nicht die herrschaftliche Struktur von Geschlecht im Empirischen, doch es mindert ihren Anschein unabdingbar zu sein, es mindert ihre Macht.

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3. Grammatik des Sehens Wenn nun aber das „Objekt“ zu sprechen anfinge? Und zu sehen etc.? I rigaray 1980/1974, S. 171 Es gibt eine Grammatik und, wichtiger noch, eine Ethik des Sehens. S ontag 2008/1977, S. 9

Das Ungedachte, das Zwischen, das unter den Bedingungen der Metaphysik nicht Artikulierbare kratzt am Materialitätsverständnis etablierter (sozialwissenschaftlicher) empirischer Forschung. Unter diesen Vorzeichen sind die für die vorliegende Untersuchung erhobenen Fotografien und fotografiegestützten Interviews zu denken. Zu Beginn der Erhebung waren die fotografiegestützten Interviews anders angelegt und intendiert (vgl. 3.1 und 3.3), aber im Rück-Blick aus der Perspektive einer ‚unmöglichen Methode‘ gewinnen sie eine neue Bedeutung für die Forschungsfrage. Bereits in der Auseinandersetzung mit Derridas Dekonstruktion des Zeichens in einem kausalen Verhältnis von Präsenz und Repräsentation zeigt sich, dass Sprache und Schrift (und damit auch das transkribierte Interview) in ihrer sinnlich-intelligiblen Materialität uneindeutig sind (vgl. 2.1.1). Aus dieser Perspektive erscheint die Fotografie fast noch mehr dazu geeignet, das Eine infrage zu stellen. Dem Bild – und damit auch der Fotografie – kommt in der Wissenschaft eine schillernde Position zu. Es kann als ‚wahr‘ verstanden werden insofern es ab-bildend eingesetzt wird, beispielsweise bei bildgebenden medizinischen Verfahren, ebenso wenn es sich um Visualisierungen von Zahlen oder mechanischen Vorgängen handelt. Die Fotografie kann illustrierend oder dokumentierend ähnliche Funktionen erfüllen beziehungsweise ihr wird noch mehr zugesprochen, nämlich Indexikalität, d.  h. ein besonderer Bezug zur Wirklichkeit (vgl. Peirce 2010/1893, S. 77). Zugleich werden dem Bild und speziell der Fotografie Misstrauen entgegengebracht: Sie gehen mit einer sinnlichen Erfahrung einher, die nicht unmittelbar in Worte zu übertragen ist. Die Gefahr, getäuscht zu werden, scheint immer mitzusch-

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wingen. So ist das Foto in seiner Rezeptionsgeschichte immer schon ehrlich und nicht ehrlich zugleich (vgl. Sontag 2008/1977, S. 85). Sein Schillern, seine Uneindeutigkeit, ergibt sich gerade daraus, dass in der Fotografiebetrachtung eine sinnliche Erfahrung von Materialität erfolgt, die sich sowohl auf das ‚Faktische im Bild‘ wie auf das Abwesende bezieht. Es bleibt immer ein Rest, der nicht zu sehen ist, und dennoch ist das Sichtbare nicht von dem Geschehen zu trennen, dessen Teil der fotografische Akt und das Fotografierte sind. Das schriftliche und fotografische Zeichen gemeinsam wahrzunehmen, gibt Anlass, die ‚unmögliche Methode‘ im Folgenden in eine ‚Grammatik des Sehens‘ zu übersetzen. Es ist wieder nicht allein die Materialität des Gegenstandes – also Geschlechtlichkeit kritisch gegenüber einer entkörperlichten Metaphysik verstehend –, die dem unterzogen wird, sondern die Erhebung selbst ist ebenso Teil der verwobenen schriftlichen und fotografischen Zeichen. Es kommt zu einem Wechsel, oder besser: einer Dopplung des Objekts. Die Methode und das mit ihr Erhobene werden teil des untersuchten Materials. Dadurch wird die Forschung ihrer inhärenten Spaltung ausgesetzt und Phantasien einer unmittelbaren Evidenz entzogen. Bereits Susan Sontag unterstellt dem Sehen und der Fotografie eine Grammatik und lässt so die Grenzen zwischen Text und Bild verschwimmen (vgl. ebd., S. 9). Die Grammatik verweist jedoch auf mehr als das: Allgemein wird unter ihr die „sprachwissenschaftliche Betrachtung von Wortbildung (Morphologie) und Satzbildung (Syntax) verstanden“ (HWPh 2007, S.  852). Sie betrifft aber auch die Regelhaftigkeit der Sprache selbst, die Grammatik ist somit „wissenschaftlich[e] Analyse“ und „Struktur“ (ebd.) einer Sprache. In seiner Grammatologie erinnert Derrida (1983/1967) hingegen an einen antiken Gebrauch der Grammatik, und zwar an ein Verständnis, wonach es um die „Fertigkeit des Lesens“ (HWPh 2007, S. 846) geht. Die Dekonstruktion ist so gesehen ein verschriftlichtes kontrapunktisches Lesen. Damit soll im Folgenden allerdings nicht die Fotografie zu ihren Ungunsten mit dem Text gleichgesetzt werden.1 Eher wird den Fotogra1 | W.J.T. Mitchell unterstellt Derrida, das Bild sei für ihn „[n]ichts weiter als eine andere Schriftart, eine Art graphischer Zeichen, die vorgibt, eine direkte Abschrift des von ihr Repräsentierten oder der Erscheinungsform der Dinge oder ihres Wesens [zu sein]“ (Mitchell 1990/1984, S. 41). Derrida sieht jedoch sehr wohl eine „mediale Differenz zwischen bildlicher und sprachlicher Darstellung“ (Busch 2011, S. 127): Das „Bild [hält] ein anderes Wissen als die Sprache bereit“ (ebd.). Dennoch unterzieht Derrida auch Bilder einer ähnlichen dekonstruierenden Lektüre wie Texte; was in ihnen gesehen wird, ist bedingt durch die unsichtbaren und ihnen inhärenten Grenzen (vgl. ebd., 126f.). Eine besondere Dimension der Fotografie sieht Derrida in seiner Lektüre Roland Barthes. In dessen Konzept des punctum wendet sich der ‚Referent‘ als „absolute Singularität des Anderen“ (Derrida 1987/1981, S. 13) an den Betrachter. Mit dem punctum bezeichnet Barthes die Unterbrechung eines kultivierten studiums einer Fotografie durch das Zufällige, das Empirische, in der Fotografie,

Grammatik des Sehens

fien und Interviews in ihrer Visualität und Versprachlichung zugeschrieben, einer tätigen Deutung zu unterliegen, ebenso wie das Sehen und das Lesen spezifisch sinnliche und dekonstruierende Praxis sind. Lesen als Fertigkeit ist genealogisch, insofern eine Fertigkeit der Übung bedarf, also der wiederholten Erfahrung von Lesbarem. Das bedeutet auch, dass die Fertigkeit mit einer Tätigkeit einhergeht; sie ist nicht passiv gegenüber ihrem Gegenstand, obwohl sie sich dem Gegenstand aufgrund der notwendigen Erfahrung bis zu einem gewissen Grad ‚aussetzen‘ muss. Dabei hat das sich Aussetzen eine Grenze, insofern „Erfahrung – von dem, was ‚unter die Sinne‘ fällt, was mit den Sinnen wahrnehmbar ist –“ (Casale 2013, S. 17) nicht für sich alleine stehen kann. Der Gegenstand der (feministischen) Theorie ist die „Möglichkeit beziehungsweise die Unmöglichkeit von Erfahrung“; die Theorie „transzendiert [die Erfahrung], indem sie sich bemüht, die Logik des Gegebenen zu begreifen“ (ebd., S. 16f.), was auch die Beziehung zwischen Gegebenem – Seiendem – und Ausgeschlossenem – Sein – betrifft (vgl. ebd.). 2 Die feministisch-genealogische und dekonstruierende Revision der Untersuchung führt somit im vorliegenden Kapitel zu mehreren Aufgaben: Zum genaueren Verständnis wird zunächst das erhobene Material – Fotografien und fotografiegestützte Interviews mit Jugendlichen aus der stationären Erziehungshilfe – in seinem Entstehungskontext vorgestellt (Kapitel 3.1). Vor dem Hintergrund der methodologischen Überlegungen verändert sich allerdings die Bedeutung der erhobenen Fotografien und Interviews. Die Materialität der Erhebung wird deshalb eingebettet in einen Zusammenhang von Fotografie, Text und Geschlecht, der geschichtlich (d. h. zeitlich und räumlich) bedingt ist (Kapitel 3.2). Dieser Zusammenhang wird als Form, von Bildern zu sprechen das der Fotograf nicht beeinflussen kann. Ebenso gehört die Zeitlichkeit der Fotografie – auch in dem unweigerlich Vergangenen des Abgebildeten – zum punctum. Jedoch verweigert sich Derrida der Schlussfolgerung von Barthes, indem er die Anwesenheit des Anderen darin für unmöglich hält. Das punctum sei in erster Linie durch die Abwesenheit, den Verlust und das Verschwinden einer nie dagewesenen Präsenz gekennzeichnet (vgl. ebd. S. 40). 2 | Werden Kapitel 2.2.3 und die im folgenden Kapitel dargestellte Materialität der Methode (bezüglich des Objektstatuses) berücksichtig, lässt sich die sinnlich-intelligible Materialität von Geschlecht folgendermaßen beschreiben: Der Zeichencharakter von Geschlecht in Sprache und Bild bedarf einer sinnlichen Wahrnehmung, das Zeichen ist empirisch. Das Sinnliche bleibt jedoch nicht dort stehen, sonst ließe sich die Materialität als geistig hervorgebrachte kennzeichnen; es ist vielmehr mit der zeitlichen und räumlichen Endlichkeit in der sexuellen und generationalen Differenz konfrontiert. Diese ist aber auch nicht für sich (in einem biologischen oder idealen Sinne), sie unterliegt einer sprachlichen, kulturellen, ökonomischen, politischen wie psychischen Geschichte, einer Spur des ihr Vorgängigen ohne eindeutigen Ursprung, das Empirische ist zeichenhaft. Materialität verweigert sich dann dem Dualismus von Natur und Kultur.

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und Bilder sprechen zu lassen unter Kapitel 3.3 berücksichtigt. Geschlecht in der Heimerziehung wird so in Zeit und Raum von wissenschaftlichem Denken und geschichtlicher Bedingung in den fotografiegestützten Interviews betrachtet (Kapitel 3.4). Darin führt die Perspektive unmöglicher Methode zu einem „unheilbaren Doppeltsehen“ (Irigaray 1980/1974, S. 181) des Empirischen in seiner Angewiesenheit und Zeichenhaftigkeit. Dieses Vorgehen führt nicht in ein ‚Außerhalb‘ bisheriger empirischer Forschung, vielmehr wird ein konkretes empirisches Material – das fotografiegestützte Interview – in seine Bedingtheit verwoben.3 Der Rückblick der vorliegenden Arbeit hinterfragt damit die Idee des Fortschritts4, indem in diesem Kapitel den geschichtlichen Bedingungen von ‚Geschlecht und Heim‘ (Kapitel 1) und ‚Theorie, Methodologie und Methode‘ (Kapitel 2) eine dritte hinzugefügt wird: Die geschichtliche Bedingung der spezifischen Erhebung und Analyse. Diese drei Bedingungen gehören – als die geschichtliche Angewiesenheit der vorliegenden Arbeit – zusammen, sind also nicht additiv zu verstehen.

3 | Die angestrebte feministisch-theoretische wie erziehungswissenschaftliche Lektüre und Betrachtung der fotografiegestützten Interviews ist dabei weniger Methode als eine sinnlich-intelligible tätige Deutung, die Zeit und Raum und damit Generation und Geschlecht in ihrem geschichtlichen Geschehen denkt. Sie ist ebenso wie die Dekonstruktion weder Methode noch Technik (vgl. Interview Derrida in Rötzer 1986, S. 70). 4 | An dieser Stelle sei erneut betont, dass die ‚unmögliche Methode‘ nicht den Anspruch einer neuen, besseren Methode hat, sondern mit dem Begriff vielmehr die geschichtliche feministische und erziehungswissenschaftliche Revision der vorliegenden Arbeit und der Bedingungen erziehungswissenschaftlicher Forschung, mit denen sie verstrickt ist, eingeholt werden sollen.

Grammatik des Sehens

3.1 A nl age und B edingungen der fotogr afiegestüt z ten I ntervie ws Die vorliegenden fotografiegestützten Interviews entstanden zu Beginn der Arbeit (2010) und sind daher noch angelehnt an ihren Entstehungskontext, d. h. es handelt sich um ein Dekonstruktionsverständnis, das vor allem ausgehend von Judith Butlers gendertheoretischer Kritik gedacht war. Zudem war dieses Verständnis noch an eine Idee sozialwissenschaftlicher Operationalisierung gebunden. Diese Form des erhobenen Materials wurde nicht an sich – z.  B. durch eine erneute Erhebung – revidiert, sondern selbst in ein dekonstruierendes Lesen und Sehen aufgenommen. In Kapitel 2.2.1 wurde bereits dargestellt, dass Butler Geschlecht in Form von gender als eine Identität konstruierende Norm fasst. Nach Butler wird die Norm gender durch diskursiv-performative Praktiken hervorgebracht, sie beschränkt das biologische Geschlecht zweigeschlechtlich und das Begehren auf Hetero- und Homosexualität. Die entsprechenden Praktiken vollziehen sich demnach auch über den Körper und unterliegen der Heteronormativität.5 Die Idee, Interviews und Fotografien für die Untersuchung von Geschlecht in der Heimerziehung aus dem Blickwinkel Jugendlicher zu nutzen, sollte dieser Verquickung von diskursiv-performativen Praktiken in normierender Sprache und über den Körper gerecht werden. Vor diesem Hintergrund beteiligten sich siebzehn Jugendliche aus fünf Gruppeneinrichtungen der stationären Erziehungshilfe an einem Fotografieprojekt, das in eine Ausstellung mit dem Titel „Eine Woche ich“ mündete. Daran anschließend erklärte sich ein Teil der Jugendlichen zu einem fotografiegestützten Interview bereit.6 Konkret bekamen die Jugendlichen für eine Woche kompakte Digitalkameras ausgehändigt, mit denen sie ein Fototagebuch ebenfalls nach dem Motto „Eine Woche ich“ erstellten. Die zugehörige Ausstellung fand in einem Kulturzentrum statt und war öffentlich zugänglich. Beim Aushändigen der Kameras erhielten die Jugendlichen eine technische Einweisung in die Nutzung der Kameras. Der Großteil der Jugendlichen verfügte privat nicht über eine digitale (Handy-/Smartphone-)Kamera. Anhand der im Fotoprojekt entstandenen Bilder führte ich mit den Jugendlichen im Anschluss die fotografiegestützten Interviews durch. Die Fotografien lagen dazu als Abzüge vor. Da einzelne Jugendliche sehr viele Fotografien erstellten, wurden nur die in den Interviews thematisierten und die von den Jugendlichen 5 | Die heterosexuelle Matrix stellt für Butler das machtvolle Normgefüge dar, das Geschlecht allein als kontinuierlichen und kohärenten Zusammenhang von sex (biologischem), gender (sozialem Geschlecht) und desire (Begehren) intelligibel macht (vgl. Butler 1991/1989, S. 38f.). Demnach bringt gender als Norm überhaupt die Vorstellung eines ihm vorgängigen und kohärenten sex hervor. 6 | Zum weiteren Umgang mit den Interviews und Fotografien s. Kapitel 3.3.1 und 3.3.2.

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für die Ausstellung ausgewählten Fotografien als Material herangezogen. Der Leitfaden (3.3.2) wird in den folgenden Kapiteln zusammen mit den Interviews problematisiert: Neben Butlers gendertheoretischer Perspektive baute der Leitfaden bereits zum Zeitpunkt der Interviews auf Derridas Dekonstruktion auf, allerdings aus einer an Butler angelehnten Lesart. Die Interviewsituation und die Themen der Jugendlichen führten im Laufe der geführten Interviews zu einer Reduktion der dem Leitfaden entnommenen Fragen. In der Analyse des so erhobenen Materials besteht die Herausforderung darin, die visuellen und sprachlich-textlichen Anteile miteinander und mit den in Kapitel 1 und 2 erarbeiteten geschichtlichen und erkenntnistheoretischen Bedingungen zusammenzudenken. Die Perspektive einer ‚unmöglichen Methode‘ ist somit eine nachträgliche, erst in ihr wird das beschriebene Verfahren zum Objekt: Die Analyse überschreitet die visuellen und sprachlich-textlichen Artikulationen der Befragten, indem das Verfahren selbst Teil ihrer Bedingungen ist. Die Perspektive einer ‚unmöglichen Methode‘ ist eine solche, weil sie sich einem Methodenverständnis verweigert, nach dem das Empirische wissenschaftlich erfassbar wird durch eine objektivierende Ent-Sinnlichung des Gegenstandes. Eine Methode, die das Sinnliche – nämlich die Konkretheit des Gegenstandes – einholt, wäre demnach unmöglich. Die Konkretheit meint dabei die Wahrnehmung der Bedingungen des Gegenstandes, wozu auch die Praxis der Verdinglichung durch Methode und die so geformte Vermittlung eines Empirischen gehört. Der Anspruch objektiver Erkenntnis durch Empirie scheitert an seinem eigenen Vorgehen. Dieses Scheitern resultiert vor allem aus dem Versuch, die Wissenschaft selbst als empirisches Phänomen auszuschalten und den Gegenstand restlos festhalten zu können. Wenn das Empirische selbst aber zeitlich und räumlich bedingt ist, muss immer ein offener Rest bleiben, weil Raum und Zeit über genetische, fließende Eigenschaften verfügen. Ein ‚unheilbares Doppeltsehen‘ müsste nun diesen Riss in Zeichen und Referent zulassen. Dabei spielt auch der mit Derrida veränderte Begriff der Identitätskategorie eine Rolle. Entgegen einer empirischen Forschung, in der die konkrete Empirie der – invariablen – Identitätskategorie nichts mehr anhaben kann (vgl. 2.1.3), verfängt sich in der vorliegenden Untersuchung das empirische Vorgehen selbst in seinem Gegenstand. In den Blick geraten die ästhetischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Bildproduktion.

3.1.1 Visuelle Bedingungen: Digitale Fotografie und Selfie Zum Zeitpunkt des Fotografieprojekts (2010) war insbesondere die an internetfähige Smartphones gekoppelte Digitalfotografie und die dadurch ermög-

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lichte sofortige Verbreitung sogenannter Selfies 7 nicht dem heutigen technischen Stand entsprechend. Dennoch waren bereits Ende der 2000er Jahre unter Jugendlichen in Deutschland Mobiltelefone und entsprechende Modelle mit Kamerafunktion weit verbreitet.8 Durch die Ausstellung der für die Untersuchung erstellten Fotografien von Jugendlichen in einem Kulturzentrum erlangten diese eine gewisse Öffentlichkeit. Die Nutzung sozialer Medien wurde nicht forciert, die Jugendlichen konnten aber selbstverständlich die Fotografien dazu einsetzen.9 Wie bereits erwähnt, verfügten die beteiligten Jugendlichen größtenteils nicht über internetfähige Smartphones oder private Digitalkameras. Allerdings legte eine der beteiligten Einrichtungen großen Wert darauf, Medienkompetenz zu vermitteln; die dort lebenden Jugendlichen hatten in ihrem Zimmer einen eigenen Computer mit Internetzugang. In allen Einrichtungen konnten die Jugendlichen mindestens einen gemeinschaftlich genutzten Computer mit Internetanschluss nutzen. Auch wenn die materielle Ausstattung der Jugendlichen zum Zeitpunkt der Erhebung nicht die ständige Teilhabe an der Smartphone-Selfie-‚Kultur‘ ermöglichte, war den Jugendlichen dieser Teil der digitalen Fotografie und fotobasierten sozialen Medien durchaus bekannt.10 Trotz der genannten Einschränkungen ist es angebracht, die digitalen Selbstportraits der beteiligten Jugendlichen in den visuellen Kontext des Selfies zu stellen, weil die Anlage der Fotobefragung – also die Aufforderung, digitale fotografische Selbstportraits anzufertigen – bereits in eine Ästhetik des Selfies eingebettet war. Die Studienteilnehmenden nutzten zudem, wie in einem Fragebogen zur Mediennutzung deutlich wurde, sehr wohl entsprechende social media-Plattformen (vgl. Anhang I: Befragung Mediennutzung). 7 | Das Selfie ist zunächst ein mit digitaler Technik erstelltes, fotografisches Selbstportrait, das in der Regel über soziale Medien verbreitet wird. In der Online- und Kunstwelt ist die Unterscheidung zwischen Selbstportrait und Selfie umstritten (vgl. Murray 2015, S. 503). 2015/2016 wurden in verschiedenen renommierten Museen und Kunsthallen Selfie-Ausstellungen organisiert, in denen die Grenzen von privater und künstlerischer Fotografie ebenso wie die Trennung zwischen Selfie und ‚klassischem‘ Selbstportrait verschwammen (beispielsweise in der Ausstellung „EGO UPDATE. Die Zukunft der digitalen Identität“ im Düsseldorfer NRW Forum oder in der Wanderausstellung „Mit anderen Augen“ in Köln, Bonn und Nürnberg, vgl. http://www.mit-anderen-augen.info/selfies-aus-dem-fotoautomat-im-netz/). 8  |  Im Jahr 2007 hatten „94 % aller 12-19-Jährigen [...] ein Mobiltelefon, 83 % dieser Geräte besitzen eine Kamerafunktion und sind internetfähig (JIM 2007)“ (Fuhs 2013, S. 624). 9 | Einer der beteiligten Jugendlichen gab im Interview auch an, eine Fotografie aus dem Projekt für die social-media-Plattform Schüler-VZ genutzt zu haben. 10  | Insbesondere kannten und nutzten sie die Plattform www.jappy.de, die zum Zeitpunkt der Erhebung relativ einfach gestaltet war. Es handelt sich um eine Kontaktbörse, die vor allem Jugendliche anspricht. Sie ist deutschsprachig und mit weniger Funktionen als der Marktführer www.facebook.com ausgestattet.

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Im Folgenden werden die in der Erhebung berücksichtigten Fotografien jedoch nicht allein über das Genre Selfie gedeutet, sondern dieses als verbreitete Form visueller Artikulation betrachtet. Es ist also Teil der geschichtlich-visuellen Bedingungen des erhobenen Materials, insofern das Selfie zu einer spezifischen geschichtlichen Entwicklung in der Fotografie der Gegenwart gehört.

3.1.2 Die Materialität der digitalen Fotografie: Öffentlichkeit, Privatheit und ökonomische Ver wertung Die Fotografie erlangt in der vorliegenden Untersuchung aus der genealogischen und dekonstruierenden Perspektive der ‚unmöglichen Methode‘ insbesondere bezüglich ihrer empirischen Dimension eine andere Bedeutung: Sie wird weder anhand der Kritik ihrer Gleichsetzung mit Zeichen/Schrift verhandelt noch als eine rein sich entziehende Wirklichkeit. Aufgrund der entwickelten Vorstellung von Materialität (vgl. 2.2.2 und 2.2.3), die sich dem Dualismus von Natur und Kultur verweigert, wird die Fotografie, ebenso wie Text und Kategorie, als etwas angesehen, dem sich das Empirische und gleichzeitig Zeichenhafte aufdrängen. Sie lässt sich jedoch nicht darauf reduzieren, dass in ihr das Objekt das Wort habe (vgl. Baudrillard 2010/1998, S. 55). Zwar braucht die Fotografie im Augenblick der Aufnahme einen ‚Referenten‘ – ohne den kann sie nicht ‚sein‘ – aber der fotografische Akt bleibt eingerahmt von den codierten Entscheidungen beim Fotografieren und Betrachten (vgl. Dubois 2010/1990, S. 112). Das Empirische bedarf der bedeutenden Wahrnehmung. Zusammen mit dem Interviewtext verdeutlicht die Fotografie umso mehr, wie unauflöslich Natur und Kultur, Präsenz und Repräsentation sind. Dabei hat die Fotografie aufgrund ihres technischen Bezugs zur Welt einen besonderen Stellenwert in der bildwissenschaftlichen Forschung. Dieser technische Bezug zur Welt wurde im Laufe der Digitalisierung der Fotografie infrage gestellt. Eines der ersten Vorurteile gegenüber der Digitalisierung lautet, sie würde die physische Verbindung von Gegenstand und Fotografie unterbrechen, weil es nicht mehr zur Belichtung auf ein Trägermedium komme (vgl. kritisch dazu Lunefeld 2010/2000). Eine damit einhergehende Einschätzung der digitalen Fotografie betrifft die zunehmende Gleichsetzung der Fotografie mit der digitalen Grafik: für den Computer ist es unerheblich, ob die jeweilige Grundlage ein fotografischer Akt oder rein grafischer Natur ist, wodurch der Wahrheitsgehalt der Fotografie noch stärker in Zweifel gezogen werde (vgl. ebd., S. 352ff.). Dieser Argumentation zufolge hat das Foto gegenüber der Malerei seine Funktion der Evidenzerzeugung ebenso wie seine Sonderrolle unter den Bildern eingebüßt (vgl. ebd., S. 354f.).11 11 | Nach Peter Lunefeld verliert die Fotografie ihren Index-Charakter (vgl. Lunefeld 2010/200, S. 354f.). Unter Indexikalität der Fotografie (und des Films) versteht er deren besonderes — näm-

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In Abgrenzung zu diesen Auffassungen wird hier ein anderes Verständnis des Verhältnisses zum Materiellen in der Fotografie vorgeschlagen. Zwar kann dem zunehmenden Zweifel am Wahrheitsgehalt der Fotografie zugestimmt werden, jedoch betrifft er allein die fast bis zur Perfektion getriebene Möglichkeit der Bildbearbeitung und die Simulation fotografischer Darstellungen durch 3D-Rendering.12 Dennoch bleibt auch für die digitale Fotografie die Notwendigkeit ‚etwas‘ zu fotografieren, die Digitalkamera schafft ihr Motiv nicht aus sich selbst heraus. Wie jede Technik oder Maschine bedarf auch die digitale Fotografie eines Materials, das bearbeitet/verändert wird.13 Ebenso braucht das per 3D-Rendering erstellte Bild mindestens das geistige Bild von etwas Empirischen, um überhaupt als Fotografie täuschen zu können. Das heißt weder, dass sich die Fotografie alleine aus dem Referenten ergibt, noch, dass der Referent ein rein sprachliches oder grafisches Konstrukt sei. Eher erscheint das Zusammenspiel dessen als ein doppeltes Ausgeliefert-Sein: Der Versuch, Welt zu erfassen, scheitert sowohl an deren empirischer Differenz als auch an unserem schließenden Denken und Wahrnehmen durch die Metaphysik. Die Veränderung durch Digitalisierung wird gegenwärtig eher durch die zunehmende Verbreitung und ständige Verfügbarkeit von fotofähigen Geräten und digitalen Fotografien begründet. Vor allem die Verbreitung von Smartphones hat dazu geführt, dass in jeder alltäglichen Situation fotografiert werden kann und diese Fotografien praktisch sofort online gestellt und insbesondelich kausal zwischen Objekt und Zeichen vermitteltes — Verhältnis zur Wirklichkeit. Der Begriff geht auf Charles Sanders Peirce’ Zeichentheorie zurück; Peirce unterscheidet dabei zwischen Ikon, Index/„Indikatoren“ und Symbol (vgl. Peirce 2010/1893, S. 77). 12 | Unter 3D-Rendering wird das Erstellen eines zweidimensionalen Bildes verstanden, das aufgrund seiner räumlichen Darstellung, des virtuell erzeugten Lichtverhältnisses und der Simulation von Oberflächen und Materialeigenschaften die Illusion eines fotorealistischen Objektes erzeugen kann. Zu Beginn der Berechnung dieser Eigenschaften wird ein Modell als Drahtgitter entworfen, dem dann diese Eigenschaften zugewiesen werden. Die berechneten Daten können die fotorealistische Illusion erzeugen, weil der Eindruck von Licht, Materialeigenschaften, Perspektive etc. den Eigenschaften ‚realer‘ Gegenstände entsprechen. Ein alltagsweltlich verbreitetes Beispiel für durch 3D-Rendering hergestellte Bilder sind sogenannte ‚Musterfotos‘ in Einrichtungskatalogen. Mein Dank gilt an dieser Stelle Robert Kneschke für das Gegenlesen der Beschreibung gegenwärtiger technischer Entwicklungen in der (Digital-)Fotografie und ihrer Verwertung. 13 | Hier zeigt sich wieder die ‚eigentliche‘ Ohnmacht des männlich-autonomen Subjekts: Seine Produkte/Produktionen sind nicht ohne die darin veränderten, objektivierten Materialien möglich. Darüber hinaus hat sich die digitale Fotografie keineswegs – wie auch diskutiert wurde und wird – entkörperlicht beziehungsweise auf das Medium/einen Bildträger verzichtet: „Die Repräsentation des Bildes bleibt weiterhin an den Bildschirm gebunden“ (Belting 2014/2001, S. 252).

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re über soziale Medien ‚geteilt‘ werden können (vgl. https://www.flickr.com/ cameras – 10.12.2015). Zwei Gründe steigern zudem die Spontaneität zu fotografieren: Erstens kann das Foto sofort betrachtet und gegebenenfalls korrigiert oder gelöscht werden; zweitens entfallen bei der digitalen Fotografie Kosten für Filme und Entwicklung. Dadurch verändert sich nicht nur die Motivwahl und Anzahl privater und kommerzieller Fotografien, sondern auch das Verhältnis von Privatperson und öffentlich zugänglichen Fotografien: in die digitale Öffentlichkeit kann theoretisch jede/r Fotografien einspeisen. Es ändert sich sogar das Verhältnis zwischen den für den privaten oder kommerziellen Gebrauch erstellten Fotografien, denn mit speziellen Apps14 können Privatpersonen relativ einfach Fotografien über Bildagenturen zum Verkauf anbieten. Gegebenenfalls beeinflusst dies ebenfalls die Motivwahl und die stilistische Gestaltung von Fotografien. Das heißt, dass die digitale Fotografie und die digitale Bildbearbeitung zwar den Zweifel am ‚Wahrheitsgehalt‘ der Fotografie verstärkt haben, aber letztlich den Materialitätsbezug der Fotografie nicht aufheben können. Darüber hinaus führen die internetbasierten Verbreitungsmöglichkeiten 15 von Fotografien zu einem zunehmend hybriden Verhältnis von Öffentlichkeit, Privatheit und ökonomischer Verwertung. Obwohl sich in dieser Diskussion bereits zeigt, dass der Fotografie ein besonderer Stellenwert innerhalb der Bilder zufällt, sind fototheoretische Überlegungen nicht von bildtheoretischem Denken zu trennen. In den folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Interview-Text und Fotobefragung wird daher von der Fotografie als dem Medium der Befragung ausgegangen, aber verbunden mit bildtheoretischen Wissensbeständen.

14  |  Vgl. beispielsweise die Plattformen https://www.eyeem.com, https://www.foap.com/, und https://de.fotolia.com/instant. Die Bildagentur Fotolia wirbt wie folgt für das Einspeisen in ihren Bilderpool: „Mit der Instant Collection können Sie die spontanen Momente im Leben, die Sie mit Ihrem Smartphone einfangen, direkt verkaufen“ (ebd. – 12.01.2016). Sie verweist eindringlich darauf, dass sich die Verkaufschancen durch den Verzicht auf digitale Bearbeitung dieser Smartphone-Fotografie erhöhen: Die Agentur suche „nach inspirierten Bildern aus dem wahren Leben: frisch, authentisch und einzigartig“ (ebd., Herv. JW). 15 | Schade und Wenk (2011) kritisieren Argumentationen, in denen in Bezug auf die Entwicklung des Internets kulturpessimistisch von einer „historischen Wende“ (ebd., S. 37) gesprochen wird. Ihrer Einschätzung nach sind Bilder und Fotografien bereits zuvor in großem Ausmaß zirkuliert. Aus einer anderen, ebensowenig kulturpessimistischen Perspektive (!) lässt sich hingegen betonen, dass das Internet und online-fähige Mobiltelefone und Smartphones die ständige Zugänglichkeit von Bildern und Fotografien qualitativ wie quantitativ verändert haben.

Grammatik des Sehens

3.2 G eschlecht, F otogr afie und Te x t : Z eichen , M asse und A ufkl ärung des S ubjek ts Die einen denken, das Bild sei ein im Vergleich zur Sprache rudimentäres System, und die anderen, die Bedeutung könne den unsäglichen Reichtum des Bildes nicht ausschöpfen. B arthes 1990/1964, S. 28

Eine zentrale Aufgabe für das weitere Vorgehen ist, Fotografie, (Interview-)Text und Geschlecht gemeinsam zu denken. Diese Aufgabe betrifft sowohl deren theoretische Voraussetzungen als auch das konkrete Material aus den fotografiegestützten Interviews. Dazu wird nachfolgend deren Verbindung über das Zeichen als uneindeutig sinnlich-intelligibel erarbeitet. Damit ist gemeint, dass Geschlecht, Text und Fotografie zum einen nicht eindeutig, aber zum anderen auch nicht als jeweils Eines zu verstehen sind. Sie sind alle in ihrer jeweiligen Differenz und Abhängigkeit zu denken: eingebettet in eine Konstruktion des Seienden ebenso wie in die Schrift- und Bildkontexte, aus denen heraus sie verstehbar sind. Zentral für die Verbindung von Fotografie, Text und Geschlecht ist deren Zeichenhaftigkeit. Wie bereits in Kapitel 2.1.1 gezeigt wurde, geht mit der Materialität des Zeichens ein gewisses Unbehagen einher. Zur Erinnerung: Das Zeichen trägt eine gewisse Materialität, welche die angeblich ‚empirische Materialität‘ in eine Krise geraten lässt, ist doch das Zeichen selbst empirisch. Der Unterschied von Präsenz und Repräsentation lässt sich durch die Materialität des Zeichens und die Abhängigkeit der Präsenz vom iterierbaren Zeichen (denn nur dieses kann verstanden werden) nicht durchhalten. In der Wiederholung und Materialität des Zeichens fallen zudem intelligible und sinnliche Wahrnehmung zusammen.

3.2.1 Materielles Zeichen und bezeichenbare Materialität Sowohl das Zeichen als auch Geschlecht unterliegen einer Uneindeutigkeit und Vielgestaltigkeit. Derrida bezeichnet Geschlecht in seiner Polysemie nicht zuletzt als eine „Monstrosität“ (2005/1987, S. 46).16 Allerdings deutet Derrida das Monstrum in einer spezifischen Form, die sich aus der französischen Nähe

16  | Derrida beschäftigt sich in dem genannten Text in erster Linie mit Heideggers Denken. Diese Auslegung steht in meiner Lektüre von Derridas Text jedoch nicht im Vordergrund. Mich interessiert hier zunächst die Verwandtschaft von Fotografie und Geschlecht.

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von ‚monstre‘ und ‚montrer‘ (aufzeigen, zeigen, beweisen, darstellen)17 ergibt. Die Monstrosität speist sich nicht allein aus der Vieldeutigkeit von Geschlecht, sondern das Monstrum ist zugleich Zeichen (vgl. ebd., S. 54ff.).18 Drei Aspekte hebt Derrida dabei hervor: Das Monstrum als Zeichen, das etwas zeigt, erscheinen, hören, sehen lässt; als Zeichen, das als ‚monstre‘ gegenüber der „Normalität des Zeichens“ (ebd., S.  56) abweicht, indem es nichts zeigt; drittens verweise die Übersetzung von Monstrosität und Zeichen auf den Menschen.19 Derridas Frage, ob das Zeichen/Monstrum der Mensch sei (ebd., S. 55) ist provokant: Wird doch als Monstrum gemeinhin gerade das Nicht-Menschliche oder der entstellte Mensch bezeichnet.20 Das menschliche Monstrum ist der Mensch, der Unmenschliches tut oder dessen Antlitz/Körper nicht (mehr) menschlich erscheint. Damit verweist das Monströse auf die Gewalt und auf den Verfall beziehungsweise die Endlichkeit des Individuums, die jedoch alle betreffen: Weder können wir uns außerhalb möglicher Gewalt – in eine ‚unschuldige‘ Position – begeben noch der physischen Endlichkeit entziehen. Derridas provokante Frage wehrt sich gegen die Idee, das Monströse als das Nicht-Menschliche zu fassen, sie macht das Monströse zum Menschlichen, läutet ein, dass das Monströse einen inhärenten Grenzbereich des Menschlichen ausmacht. Das Monströse bereitet jedoch Angst und muss deshalb ausgelagert werden. Bereits in Kapitel 1 wurden die Kategorien Generation und Geschlecht als diejenigen Bedingungen ausgewiesen, die Abhängigkeit und Endlichkeit markieren und nicht von Herrschaft zu lösen sind. Zur Monstrosität des Menschlichen gehören so Geschlecht und Generation als Differenz, der gegenüber ‚wir‘ ohnmächtig sind. Geschlecht kommt hierbei nicht nur die Rolle einer begrenzenden Materialität zu, sondern Geschlecht ist auch Zeichen 17  | Diese Nähe leitet sich wiederum aus dem Lateinischen ab: monstrare = zeigen, monstruosus = scheußlich, widernatürlich. Zudem auch von monere = wahrnehmen; jedoch muss bezüglich dieser letztgenannten Übersetzung angemerkt werden, dass sie sich nur über einen Umweg erschließt, wonach monere in der Grundbedeutung ‚jemanden an etwas denken machen‘, ‚ermahnen, erinnern oder aufmerksam werden lassen‘ beziehungsweise ‚etwas bereits Bekanntes aufrufen‘ heißt. Ich danke Jörg Ruhloff für diese Erläuterung. 18  |  Derrida bestreitet damit einen anderen Weg als er aus der Geschlechtergeschichte gedacht werden kann. Tatsächlich gibt es eine wissens(chafts)geschichtliche Verwandtschaft zwischen dem Monströsen und Geschlecht beziehungsweise der Frau (vgl. Stammberger 2011, S. 209ff.; 309ff.). 19 | „Doch dieses ‚wir‘, das Zeichen/Monstrum, ist dies der Mensch?“ (Derrida 2005/ 1987, S. 55). 20  |  Dies lässt sich beispielsweise in der Boulevardpresse beobachten, wenn einem Gewalttäter unterstellt wird, kein Mensch, sondern ein Monster zu sein. Zudem kann hier an die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Unterhaltungs- und Wissenschaftskontexten ausgestellten behinderten oder einfach nur außereuropäischen Körper erinnert werden.

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menschlicher Differenz. Wird geschlechtliche Differenz explizit, wird ein Blick auf das Monströse gewährt. Die Vorherrschaft des Einen (Geschlechts) bannt das damit einhergehende Unbehagen, indem das es ermöglichende Andere ausgeschlossen oder in der Logik des Selben (also als kastriert oder als Besitz in Form von Jungfrau/Mutter/Prostituierter) verdinglicht wird. Geschlecht und Generation sind die monströsen Erinnerungen, die an die räumliche und zeitliche Angewiesenheit denken lassen. Mit dem Verweis auf die Materialität des Weiblichen, wird diese in der phallogozentrischen Metaphysik zugleich geleugnet, denn es ist eine aus dieser metaphysischen Logik hervorgehende Materialität, d.h. sie tritt unabhängig von einer sinnlich erfahrbaren Empirie auf.21 Geschlecht als ein Zeichen zu deuten, muss daher in dieser Perspektive mit dem Verweis auf die Natur abgewiesen werden. Würde Geschlecht als unauflöslich in der Dichotomie von Natur und Kultur verstanden, nähme dies den eindeutigen Ursprung. Es ließe die Gewalt des Einen gegen die Andere, gegen die sexuelle Differenz offenbar werden. Geschlecht als materielles Zeichen und bezeichenbare Materialität stellt insofern eine Monstrosität im Sinne von Unein(s)deutigem dar. Die unauflösliche Wahrnehmung von Geschlecht als Zeichen und als Bezeichnetem ohne Ursprung ist eine „Zeichensituation“ (Casale/Larcher 2004, S.  67). In einer solchen kommt es zur Interpretation des Verhältnisses von Objekt und Zeichen, in der Bedeutung erst geschaffen wird. Diese Beziehung – Casale und Larcher sprechen im Anschluss an Charles S.  Peirce (1893) von einem „triadischen Zeichenmodell (Zeichen-Objekt-Interpret)“ (ebd., S. 66) – ist diskontinuierlich und (auf Erfahrung und Codes beruhend) historisch wandelbar. Indem allerdings bei Geschlecht Zeichen und Objekt ‚mukös‘ verschmelzen (weil sinnlich und intelligibel zugleich) kommt es zu einer Materialität im Sinne körperlicher Begrenzung und des sprachlichen (und ggf. schriftlichen) Zeichens. Geschlecht zeigt über Sexualität und Generativität die räumliche und zeitliche, uneinholbare Differenz auf. Wie unter Bezugnahme auf Irigaray gezeigt wurde (vgl. 2.2.2), ist diese Differenz mukös, insofern sie die absolute Unterscheidung überschreitet und dabei die Differenz einen anhaftenden Charakter hat. Es handelt sich um eine angewiesene Differenz.

21   |  Bereits in 2.2.2 wurde auf die Leugnung der weiblichen Genitale zugunsten eines ‚Phallus-Penis‘ verwiesen (vgl. 2.2.2, FN 78) Indem hier zudem auf eine ‚sinnlich erfahrbare Empirie‘ verwiesen wird, setzt dies nicht die Erfahrung als bedrock (Scott 1991, S. 777), als Letztbegründung, wie Joan W. Scott ein solches Vorgehen in der Geschichtswissenschaft kritisiert. Zugleich wird Erfahrung nicht zu einer rein diskursiven Erscheinung, sondern Sprache und Sinnliches verbleiben in einem unentschiedenen Status.

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Die ‚Eigenschaft‘ von Geschlecht, uneindeutig zu sein, betrifft auch sprachliche und textliche Zeichen und die Fotografie.22 Zugleich sind alle drei mit einer Ambivalenz belegt: Sie werden als eindeutig oder wahr angesehen und rufen Misstrauen hervor, soweit ihre kulturelle, vermittelnde Funktion – ihr ‚für etwas Stehen‘ – betont wird.23 Dieses Doppelte durchzieht den wissenschaftlichen Umgang mit dem visuell Erfahrbaren.

3.2.2 Verräumlichung und Verzeitlichung der entsinnlichten und geschichtslosen Evidenz Einerseits ist Evidenz – als „Augenscheinlichkeit und offenkundig[e] Präsenz“ (HWPh 2007, S. 830) begriffen – ein Kriterium, das unmittelbar einzuleuchten scheint: was mit den eigenen Augen gesehen wird, wird geglaubt. Sehen im weitesten Sinne kann als Beleg von Tatsachen herhalten. Andererseits ist es gerade diese sinnliche Erfahrung, die misstrauisch macht.24 Bereits in der Philosophiegeschichte besteht ein „großer Teil des Nachdenkens über Evidenz [...] in der Zerstörung ihres trügerischen Scheins“ (Jornitz 2009, S. 68). Oder, wie Irigaray in der Kritik an Descartes schreibt: Die Materie (Körper, Erde) schade der Evidenz, nur die Seele biete Sicherheit, „und sei es nur, weil sie die Macht hat, alles zu verneinen“ (Irigaray 1980/1974, S.  228; Herv.i.O.). Dem eigenen Auge wie auch Bildern (und insbesondere Fotografien) wird unterstellt, täuschen zu können. Nicht nur das Zeichen/Bild25 kann manipuliert sein und ma22  |  „Sind die Erscheinungen, die von der Kamera transportiert werden, eine Gestaltung, ein von Menschen gemachter Artefakt, oder sind sie – wie der Fußabdruck im Sand – eine natürliche Spur, die ein Vorübergehender zurückgelassen hat? Die Antwort ist: beides“ (Berger 2016/1982, S. 95; Herv.i.O.). 23  |  In der Gegenwart werden Bilder nicht mehr als „transparente Fenster zur Welt“ begriffen, sondern als eine Sorte Zeichen, „die sich trügerisch im Gewand von Natürlichkeit und Transparenz präsentiert“ (Mitchell 1990/1998, S. 18). 24 | Wenn heute beispielsweise in der Empirischen Bildungsforschung von evidenzbasierter Forschung gesprochen wird, handelt es sich weniger um eine Evidenz als Resultat des ‚Schauens‘ als vielmehr um eine Evidenz, die aus empirischen Daten generiert wird. Sie ist nicht unmittelbar und anschaulich, sondern „wissenschaftlich erzeugte Evidenz“ (Jornitz 2009, S. 69). Schade und Wenk (2011) verweisen darüber hinaus darauf, dass „Evidenz [...] innerhalb spezifischer Apparaturen und Medienverbünde erzeugt [wird], in denen diese sich selbst gewissermaßen als Produktionsmittel des Evidenten unsichtbar machen (müssen), um Effekte der Evidenz erzeugen zu können“ (ebd., S. 99). 25 | Mitchell wendet sich gegen eine „einheitlich[e] Zeichentheorie“ (Breckner 2010, S. 23), der das Bild zu unterziehen sei. Dennoch wage ich es, Bild und Zeichen an dieser Stelle ‚in eins‘ zu setzen und zwar bezogen auf ihre irritierende beziehungsweise monströse Beziehung zur ‚Wirklichkeit‘, insofern sie selbst auch Wirklichkeit sind. Allein verstanden als

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nipulieren, sondern auch den eigenen Sinnen ist nicht zu trauen.26 Bilder und noch mehr Fotos sind nicht das, was sie abbilden. Wenn sie es aber doch sind oder werden, verlieren sie umso mehr ihre Abbild-Funktion, weil sie in diesem Moment ihre wirklichkeitsgenerierende Dimension öffentlich machen. Damit sie nichts ‚eigentlich‘ doch nicht Empirisches vortäuschen, muss das Gesehene und/oder Abgebildete bewiesen werden. Evidenz ergibt sich demnach nicht aus der sinnlichen Erfahrung, sie muss erst durch wissenschaftliche Verfahren sichergestellt, also stillgestellt werden; stillgestellt, insofern der Gegenstand in Form von Operationalisierung und Datengenerierung fixiert wird.27 Beispiele dafür finden sich in der sozialwissenschaftlichen Bildwissenschaft vor allem

Repräsentationen zementieren sie eine ihnen vorgängige Präsenz. Das Kapitel 3.3 geht näher auf die Materialunterschiede ein. 26 | Dem Auge kommt dabei noch eine Sonderrolle zu, weil das Sehen – ebenso wie das Denken und die Stimme – nicht auf unmittelbare Berührung des Gegenstandes/des Anderen angewiesen ist. Der Blick ‚trifft‘ zwar auf etwas, aber das Sehen ist auf eine gewisse Abstraktion vom Gegenstand angewiesen. Dieser Unterschied zwischen Sehen und Berühren betrifft auch die Ordnung von Sexualität beziehungsweise sexuellen Praktiken, wenn sie das Visuelle vs. das Sensuelle betonen. Der Blick ist dabei insbesondere bei filmischem (und fotografischem) Material ‚männlich‘ geordnet, wie Laura Mulveys feministisch-psychoanalytisches Konzept des male gaze (Mulvey 1988/1975, S. 62) zeigt. Ich danke Antonia Schmid für den Hinweis auf Mulvey. In ihrer gender-theoretischen Wissenschaftskritik an den technosciences stellt Donna Haraway (1988) einen ebensolchen Blick des männlichen Forschers aus dem ‚nirgendwo‘ heraus, ein göttlicher Trick („a god trick“, ebd., S. 582), der sich mit der Objektivierung des Blicks selbst in den Visualisierungstechnologien der Naturwissenschaften verbindet. Dabei ist die Insensibilität, und dazu gehört auch die Leugnung des Sinnlichen im Visuellen, Merkmal des vermeintlich neutralen, universellen Subjekts der Wissenschaft (vgl. Irigaray 1991/1984, S. 143f.). „Eine Logik, die den Blick privilegiert, schließt die Koexistenz und die Kommunikation mit dem anderen als anderen aus“ (Irigaray 2010/2008, S. 143); sie verführt dazu, quantitativ anhand eines Maßstabes zu messen, ob der/die andere „mehr oder weniger wert ist“ (ebd.). Aus Perspektive Heide Schlüpmanns ist jedoch eine einseitige Deutung des Kinos wie sie in Mulveys Deutung angelegt ist zurückzuweisen. Für Schlüpmann das Kino nicht auf ein Phänomen zu reduzieren, das Produkt eines männlichen Blicks sei (vgl. Schlüpmann 1998). Indem sie an das frühe Kino, die dortige Rolle von Schauspielerinnen und dem Körper der Zuschauerinnen im dunklen Kino erinnert, setzt sie einen entscheidenden Kontrapunkt. 27 | Ein Stillstellen der Objekte kann auch als erstarrte Zeitlichkeit oder verobjektivierte Geschichte anstelle eines Geschehens gedeutet werden (vgl. zu einer solchen Geschichte: Derrida 2013/1990, S. 247).

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dort, wo versucht wird, vermeintlich objektive Betrachtungen von Fotografien herzustellen.28 Stillgestellt wird darin die Unruhe des Bildes oder der Fotografie. Während ein Text zum linearen Folgen von Buchstaben, Wörtern und Sätzen zwingen kann, ist das Bild zunächst offen für den fliegenden Blick. Auch wenn die Leserichtung die Bildbetrachtung zu beeinflussen fähig ist, ändert dies nichts an der prinzipiellen Offenheit des Bildes. Ein Bild kann nicht in der ‚falschen‘ Reihenfolge betrachtet werden. Darüber hinaus ist es in alle Richtungen offen beziehungsweise über den Bildrand hinaus theoretisch in alle Richtungen unendlich fortsetzbar.29 Aber auch wenn es zunächst so scheint, als unterliege 28 | Dorle Klika und Thomas Kleynen (2007) informierten beispielsweise ihre Probanden vor einer Fotobefragung nicht über diese, um zu verhindern, dass sie „sich für den Termin besonders stylen“ (ebd., S. 125). Durch den technischen Aufbau von Kamera und Hintergrund strebten sie an, eine neutrale und vergleichbare Situation herzustellen, die zudem Distanz erzeugen und „die Gefahr einer krisenhaften Beziehung zwischen Interviewer/Fotograf und Fotografierten auf ein Minimum reduzieren“ (ebd.) sollte. Ralf Bohnsack weist der planimetrischen Komposition nach Max Imdahl eine zentrale Bedeutung für die methodisch kontrollierte sozialwissenschaftliche Bildanalyse zu (vgl. Bohnsack 2007, S. 82). Diese sei als „sehende[s] Sehen“ (ebd.; Herv.i.O.) und nicht als ‚Wiedererkennen‘ zu verstehen. Dabei wird jenem ein totalitärer – ich würde sagen idealer – Charakter zugewiesen, während dieses mit dem Problem behaftet sei, andere Kontexte ins Bild zu tragen. Neben dem ‚Ausschneiden‘ des ‚Gesehenen‘ beim ‚Sehenden Sehen‘, zeigt sich auch in dem Einfügen von formalen Linien im Rahmen der dokumentarischen Methode eine visuelle ‚Zerstückelung‘ von Bildern. Ähnliches lässt sich in der „Segmentanalyse“ (Breckner 2010, S. 287, 299ff.) beobachten, bei der im Analyseverlauf einzelne Bildteile/Segmente ausgeschnitten und anschließend nach und nach wieder eingefügt werden. Im Gegensatz dazu lehnt John Berger einen an die Malerei angelehnten Umgang mit Fotografien ab: „Der formale Aufbau eines Fotos verrät nichts“ (Berger 2016/1968, S. 37). Zu berücksichtigen sei weniger die Komposition, als vielmehr die Entscheidung des Fotografen, etwas festzuhalten und ihm damit Bedeutung zu geben. Neben den Folgen einer fetischisierten Methode zeigt sich insbesondere bei Bohnsack wie sich ein „bestimmtes Verständnis des Verhältnisses von Theorie, Empirie und Methode“ (Casale 2011, S. 50) durchgesetzt hat, das der Methode Vorrang einräumt: „Der methodisch kontrollierte Zugang zum Bild stellt eine der größten Herausforderungen gegenwärtiger sozialwissenschaftlicher Forschung dar“ (Bohnsack 2009, S. 25). Dabei stellt sich die Frage, ob eine Erforschung von Fotografien/Bildern adäquat ist, wenn es zu einer methodischen Kontrolle kommt, oder ob es nicht darum gehen müsste, sich dem Unkontrollierbaren des Bildes zuzuwenden. 29 | Im Gegensatz zum Rahmen (bei einem solchen „handelt [es] sich um Einfassungen der Gemälde“, Derrida 1992/1978, S. 80) ist der Bildrand (eines Fotos) theoretisch unendlich offen. Das umgrenzte oder abgeschlossene Bild ist imaginär begrenzt. Zugleich gibt es eine verkörperte Grenze der Fotografie, insofern der Abzug (aber auch der Rand einer digitalen

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ein Text (oder konkret ein Interview) zwangsweise einer gewissen Chronologie (unabhängig vom Sprechen, Hören oder Lesen) und als sei die Visualität des Bildes eine gleichzeitige, lässt sich auch diese Unterscheidung nur bedingt durchhalten. Gibt es im Interview Zeitsprünge, Bezüge auf Vorhergehendes oder wandert der Blick 30 bei der Bildbetrachtung, so verweist das auf die Verwobenheit der zeitlichen Logiken der Medien und bricht mit Vorstellungen von linearem Lesen oder gleichzeitigem Sehen. In der nachträglichen Analyse der Fotobefragung und des fotogestützten Interviews kommen alle Zeitlichkeiten zum Tragen und sind darin nicht zu trennen: Die theoretische vorgängige Anlage der Erhebung tritt zumindest in den gestellten Leitfragen in der Transkription wieder auf; das konkrete Interview und die Fotostrecken der Jugendlichen verweisen sowohl auf vorhergehende als auch auf nachfolgende Passagen und Motive; die theoretisch-methodologische Revision geschieht in einem Rückgriff auf die vergangene Erhebung. Die erhobenen Inhalte visueller wie sprachlicher Art sind zudem in einen geschichtlichen Kontext des Sozialen und des Denkens eingebettet. Diese zeitliche und auch räumliche Unruhe des Materials ist Zielscheibe objektivierender – stillstellender – Methoden. Ein Vorgehen, das die Sinnlichkeit von Fotografien mittels technisierter Auswertungsverfahren zu beherrschen trachtet, wird bedingt durch das, was unter der Legitimität und Illegitimität von Bildern diskutiert wird (vgl. Mitchell 1990/1984). Im Zentrum steht dabei die Unterscheidung von ‚eigentlichen/materiellen‘ vs. ‚geistigen‘ Bildern31; wobei jenen aufgrund ihrer Materialität mehr Legitimität zuerkannt wird, während uneigentliche (meist ‚geistige‘) Bilder einen Status „illegitime[r] Abkömmling[e]“ (ebd., S. 23) zugesprochen bekommen. Während W.J.T. Mitchell (vgl. ebd., S. 24) in erster Linie den Unterschied zwischen mit dem Auge sinnlich erfahrbaren Bildern und vorgestellten Bildern anzweifelt (weil auch die gesehenen Bilder der Vorstellung bedürfen), soll hier der Abbildungsaspekt betont werden. So geht es nicht allein um das Bild, das sichtbar ist und angefasst werden kann, sondern insbesondere auch um den Status der Fotografie

Vorschau oder der Computerbildschirm) die Entscheidung der/des Fotografin/en für einen spezifischen Bildausschnitt markiert. In dieser Ambivalenz verschwimmen Zeichen und Bezeichnetes, ist das Zeichen selbst körperlich. 30 | Vgl. dazu auch Breckner 2010, S. 274ff. Roswitha Breckner begrenzt jedoch die Offenheit des Bildes, insofern sie davon ausgeht, dass der Blick durch die Bildstruktur geleitet wird und eine methodische Segmentierung des Bildes anhand dieser empirischen Pfade zu verlaufen habe. 31 | In beiden Fällen schreibt Mitchell in diesem Text von images: als grafic, objective gegenüber solchen, die mental, verbal, d. h. improper seien (vgl. Mitchell 1984, S. 506ff.).

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als Abbildung von Wirklichkeit.32 „[E]ingespielte Norme[n], etwa zwischen natürlich und künstlich“ (Meyer-Drawe 2010, S. 809) versagen nicht zuletzt in der Fotografie. Das Bild ist nicht nur grundsätzlich uneindeutig, weil es weder rein ‚geistig‘ noch allein ‚eigentlich‘ ist, sondern weil es abbildet und zugleich nicht abbildet. Die Besonderheit von Bildern besteht darin, „daß ein Bild ohne einen paradoxen Trick des Bewusstseins nicht als solches gesehen werden kann: es bedarf der Fähigkeit, etwas zur gleichen Zeit als ‚da‘ und als ‚nicht da‘ zu sehen“ (Mitchell 1990/1984, S. 27; Herv.i.O.). Insofern wird im Bild offensichtlich, was das Spiel von Präsenz und Repräsentation ausmacht: das Paradox von An- und Abwesenheit. Vielleicht rührt daher das Misstrauen gegenüber der Wahrheit von Bildern (beziehungsweise Fotografien): Was sie zeigen, ist zugleich nicht da. Dazu bedarf es über die kognitive Leistung eines gleichzeitigen Sehens hinaus, einer bestimmten Fertigkeit – einer Grammatik des Sehens. Diese hat, wie zu Beginn des Kapitels erläutert, mehr mit einer gleichzeitig passiv-aktiven Wahrnehmung als mit einer Erfassung der Regelhaftigkeit zu tun. Es geht um ein doppeltes Sehen dessen, was anwesend scheint und zugleich abwesend ist – und umgekehrt. Mit der technisierten Analyse von Fotografien wird die zunächst sinnlich erschlossene Komplexität aufgestückelt, zerbröselt in verdinglichte Objekte. Die komplexen Auswertungsverfahren operationalisieren die Wahrnehmung und stellen so eine spezifische Form von Objektivität her, in der das Objekt hingegen an Komplexität verliert.33 Dabei eignet sich die Fotografie zunächst sehr gut dazu, insofern sie „die Erscheinungen eines zusammenhanglosen Augenblicks heraus[löst]“ (Berger 2016/1982, S.  92). Die Portionierung der Fotografie setzt dieses Heraustrennen fort und ermöglicht, sie in ihren Einzelteilen zu zählen und anzuhäufen: Die so gestückelten Objekte erhalten eine Warenförmigkeit und können zum Besitz, beziehungsweise in Form von 32 | Die Fotografie erscheint als prototypisches Abbild der Wirklichkeit, doch sollten technische Zeichnungen, anatomische Darstellungen oder bildgebende Verfahren nicht unterschätzt werden in ihrer wirklichkeitsvermittelnden Wirkung (vgl. Schade/Wenk 2011, S. 103). Susan Sontag beschreibt die ersten Fotografen als solche, die sich verhielten, „als könne das Sehen [mit der Kamera] als solches bereits, wenn es nur mit der nötigen Intensität und Zielstrebigkeit betrieben würde, der Forderung nach Wahrheit gerecht werden“ (Sontag 2008/1977, S. 86). „[Niemand kann] behaupten, etwas wirklich gesehen zu haben, solange er es nicht fotografiert hat“ (Émile Zola o.J. zit. n. Sontag ebd.). 33 | Die Vorherrschaft der Sprache und Schrift (vgl. Mitchell 1990/1984, S. 17) können darauf hinweisen, dass mit ihnen versucht wird, das Unbehagen angesichts der Macht der Bilder zu beherrschen. Allerdings entkommt auch das Wort als Zeichen nicht einem ambivalenten Status. Zudem wird von einem Wandel in der Vorherrschaft zugunsten des Visuellen ausgegangen, was Mitchell selbst bereits in den 1990er Jahren mit seiner These des pictorial turns herausstellt (vgl. Mitchell 1994).

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Erkenntnis zum Produkt des Forschers werden.34 Andere/r und Welt werden im Untersuchungsprozess zerstückelt und angeeignet.35 Diese Aneignung ist eine, die das Objekt dem modernen Subjekt gleichzumachen versucht: auch Letzteres ist fragmentiert, weil es sich verbietet, in Verbindung mit ‚seinem‘ Anderen zu stehen, sich aus der Genealogie ausschneidet und die Differenz leugnet. So wird eine entsinnlichte und geschichtslose Evidenz erzeugt.

3.2.3 Ohnmacht in der Masse: Aufklärung des Subjekts über seine Bedingungen Historisch haben sich das Theoretische und die Wissenschaft als Verdrängtes des Sinnlichen, des Körpers konstituiert. Von jenem ‚Theoretischen‘ habe ich genug. I rigaray 1976, S. 23 Ein Blick auf die Leinwand belehrt, daß die Ornamente aus Tausenden von Körpern bestehen, Körpern in Badehosen ohne Geschlecht. K racauer , 1977/1927, S. 51

Der bereits in Kapitel 2.2.2 eingeführte Masse-Begriff Heide Schlüpmanns (1998) erlaubt es, ohne mit der Postmoderne das Subjekt für obsolet zu erklären, dem oben beschriebenen Subjekt ein anderes Subjektverständnis entgegenzusetzen. Indem darin die Bezogenheit auf die Masse in den Vordergrund gerückt wird, wird der Ab-Trennung des Subjekts von seinen es ermöglichenden Bedingungen (und des ihm gleichgemachten Objekts) widersprochen: Das so gewendete Subjekt ist zur Wahrnehmung des paradox mit ihm verbundenen Anderen und der darin liegenden Angewiesenheit fähig (vgl. 2.2.2). Die Masse ist in Schlüpmanns Lesart keine ‚Ansammlung von Individuen‘, was eine „Unterwerfung aller Menschen unter die Form der bürgerlichen [männlichen] Existenz“ (ebd., S.  101) darstelle. In der Betonung der Masse wendet sich Schlüpmann gegen Vorstellungen von Subjekt und Individuum, die diese auf die bürgerlich-männliche Existenz reduzieren. Darin liegt jedoch kein 34 | Übersehen werde – wie John Berger seine Argumentation bezüglich der isolierten Fotografie fortsetzt –, dass „Fakten, Informationen [...] an und für sich keinen Sinn [haben]“ (Berger 2016/1982, S. 92). Die Fotografie erhielte erst durch die ihr in der Betrachtung geliehene Vergangenheit und Zukunft Sinn (ebd., S. 93). 35 | Dem könnte entgegengehalten werden, dass die Fotografie bereits die Welt ‚zerstückelt‘ und das Fotografierte aus Zeit und Raum löst (vgl. Baudrillard 2010/1998 S. 55ff.). Die Fotografie könnte jedoch auch als Teil eines geschichtlichen Geschehens betrachtet werden, indem die Zeit die Eigenheit der Fotografie spalten kann (vgl. 2.1.1).

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grundsätzlich anti-bürgerlicher Impuls, wie er im Nationalsozialismus forciert wurde, weil das Subjekt nicht zugunsten der Masse (beziehungsweise der ‚Volksgemeinschaft‘) aufgegeben wird, sondern sich im Bewusstsein seiner Bedingtheit in der Masse erst als Subjekt konstituiert.36 Um zu verstehen, wie diese Wende im Subjekt- und Masseverständnis zustande kommt, wird Schlüpmanns Gegenstand – die Erfahrung des Kinos als ästhetische Erfahrung – knapp rekonstruiert. Ihr Vorgehen könnte methodologisch aus der vorliegenden Perspektive bereits als empirische Theorie/theoretische Empirie (vgl. 2.1) gedeutet werden, denn ihre Darstellung der Erfahrung der Masse im Kino geht Hand in Hand mit dem philosophischen Denken des Subjekts. In dieser ‚anderen Theorie‘ versteht Schlüpmann die Erfahrung des Kinos als eine des Ausgeliefert-Seins. Das Kino stellt dabei für sie einen „gesellschaftlichen Raum“ dar, „in dem das Erleben des Einzelnen zugleich das der Masse ist“ (Schlüpmann 1998, S. 11). Als Phänomen der Massengesellschaft trägt es dazu bei, die „individuelle Wahrnehmung“ (ebd.) aufzubrechen. In diesem kollektiven Raum – zugleich öffentlich und intim – ist die Wahrnehmung nicht auf den Blick reduziert. Im Kino erfährt die/der Einzelne Emotionalität und zwar eine, die nicht allein ihre/seine ist (vgl. ebd., S. 12, S. 62f.). Die Erfahrung der Masse klärt das Subjekt über seine Angewiesenheit auf (vgl. ebd., S. 99). Damit verschiebt Schlüpmann auch den Subjektbegriff der Aufklärung (vgl. Casale 2014a). Was im Kino beziehungsweise in der Masse gesehen und gefühlt wird, ist dem Subjekt zugleich innerlich und äußerlich. Auch wenn diese Wahrnehmung als die eigene erfahren wird, entzieht sich im Gesehenen und durch die vermittelte Emotionalität etwas dem Zugriff des Subjekts. Das 36 | Alexander Mitscherlich geht – anders als Schlüpmann – von zwei Deutungen des Masse-Begriffs aus: „triumphierend[e] Identifizierung“ beziehungsweise „inflationäre[s] Wir-Gefühl“ vs. „Angst in ihren Schattierungen von Resignation bis zum Erlebnis bedrohlicher Ausgeschlossenheit“ (Mitscherlich 1973/1963, S. 326). „Einmal geht das individuelle Erlebnis ozeanisch in der Massenrichtung und -gestimmtheit auf, das andere Mal fühlt sich der Einzelne würgend von einer unabsehbaren Übermacht umklammert“ (ebd.). Die Masse (z. B. als Zuschauermasse beim wettkampforientierten Sportereignis) ermöglicht nach Mitscherlich eine anonyme Erfahrung von Nähe und Emotionalität, die unabhängig vom Einzelnen ‚funktioniert‘ (vgl. ebd., S. 338f.; vgl. dazu auch Adorno 1971/1959, S. 19 über „kollektiven Narzißmus“; für letzteren Hinweis danke ich Jutta Breithausen). Aufgrund dieser Ohnmachtserfahrung und der mangelnden Fähigkeit, personalisiert Verantwortung zu übernehmen, verfalle der Einzelne einer anonymen Abgabe von Macht und Verantwortung für gesellschaftliche Verhältnisse. Hingegen argumentiert Schlüpmann, dass gerade die Ohnmachtserfahrung der Frau (der Arbeiter/der Schwarzen) zum Erkennen der gesellschaftlichen Verhältnisse verhelfe: Davon ausgehend kann sich das Subjekt im Verhältnis zum Anderen und Sozialen konstituieren. Während so die Angewiesenheit anerkannt wird, wird mit dem Versuch, der Angewiesenheit zu entkommen, die eigene Bedingtheit geleugnet.

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Subjekt ist seiner Wahrnehmung und der Anderen (Filmschaffenden) ausgeliefert. Insofern eröffnet die so verstandene Masse die Erfahrung, die das moderne Subjekt über seine Bedingungen und Angewiesenheit aufklären kann. Folgt man der oben eingeführten Verbindung von Theorie und Empirie/Erfahrung (vgl. Casale 2013), muss diese Aufklärung jedoch über die Erfahrung hinausweisen, insofern sie nicht von einer Vervollständigung des Gegebenen ausgeht, sondern dieses mit seiner Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit in Beziehung setzt. Nun besteht ein Unterschied zwischen Fotografien und bewegten Bildern im Film.37 Die Darstellung zielt an dieser Stelle jedoch nicht darauf, Schlüpmanns Diskussion des Kinos aufzunehmen, sondern das ‚zur Masse abgewanderte‘ Subjekt als eines zu verstehen, das auch in der Wahrnehmung von Fotografien zum Tragen kommen kann. Die Erfahrung der Masse ist ebenso monströs (in dem Sinne, dass das Verdrängte in ihr aufscheint) wie Text, Fotografie und Geschlecht: in ihr ist der Mensch nicht mehr klar abgegrenztes und erkennendes Individuum, das menschliche Subjekt ist gerade es selbst in der Wahrnehmung der eigenen Angewiesenheit. Das heißt, es steht in einer Genealogie, ist different und damit bedingt. Dieses Verhältnis hat Gegenstand der eingenommenen Perspektive zu sein, wenn feministische Theorie darauf zielt, die Präsenz zu überschreiten (vgl. Casale 2013, S. 17). Die von Schlüpmann beleuchtete Erfahrung des Kinos zu Anfang des 20. Jahrhunderts und die in der vorliegenden Fotobefragung aufgegriffene Praktik des digitalen Selbstportraits – in Form des Selfies – sind gleichermaßen Massenphänomene. Sie unterscheiden sich jedoch im Verhältnis von Masse, Körperlichkeit und Öffentlichkeit. Der dunkle Raum des Kinos ist bei Schlüpmann eine geradezu körperliche Form der Masse, in der das Individuum – trotz und aufgrund seiner leiblichen Erfahrung im Kinosaal – zurücktritt. Die in der Gegenwart praktizierte Selfie-‚Kultur‘, als geschichtliches Phänomen erlaubt es hingegen jedem/r Einzelnen/m in die – wenn auch digitale – Öffentlichkeit zu treten. Aufgrund der massenhaften Verbreitung und des niemals für die Einzelnen vollständig erfassbaren digitalen Raums bleibt das Individuum im Selfie dennoch ‚nur‘ Teil der Masse der Bilder. Auf paradoxe Weise kann das Selbstporträt darin zu einer Kommunikationsform der Masse werden. Die an das digitale und öffentliche Selfie geknüpfte Bewertungskultur in sozialen Medien macht deutlich, dass das Selfie nur in Bezug auf Andere und auf die Masse ‚funktioniert‘. Das Genre Selfie zu beanspruchen, bedarf bereits eines Zitats.

37  | Vgl. dazu Ehrenspeck/Schäffer 2003. John Berger sieht einen der Hauptunterschiede in der unterschiedlichen Zeitlichkeit von Fotografie und Film, erstere sei retrospektiv, während letztere antizipatorisch sei (vgl. Berger 2016/1982 a, S. 134).

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In der Gegenwart können die digitale Fotografie und ihre Online-Verbreitung als Möglichkeit gesehen werden, in die Öffentlichkeit zu treten. In einem bürgerlichen Subjektverständnis tritt der Bürger insbesondere in einer gesellschaftlichen Funktion in die Öffentlichkeit: als Vertreter eines politischen oder ökonomischen Anliegens. Diese Auffassung ist Gegenstand der ästhetischen Theorie Schlüpmanns, insofern sie sie von ihrem Allgemeinheitsanspruch befreit (vgl. Schlüpmann 1998, S. 11). Das Persönliche wird in Schlüpmanns Betrachtung politisch und öffentlich, indem es zu einer Rezeption im Verhältnis von Zuschauerinnen und Filmemacherinnen kommt. Die Schauspielerinnen und Besucherinnen des frühen Kinos entwenden die Filmtechnologie ihrem sezierenden und wissenschaftlichen Zweck (vgl. ebd., S. 19 ff.). Es kommt zur Sichtbarmachung der „gesellschaftliche(n) Produktivkraft“ (ebd., S. 20) des Intimen und Privaten, statt zur vermeintlich objektiven – allgemeinen – Wahrnehmung. Die Öffentlichkeit des Netzes hingegen verwischt die Grenze von gesellschaftlich-öffentlich und individuell-privat. Eine neue Form der Masse entsteht, die sich auch von Schlüpmanns Deutung unterscheidet: Sie trifft sich nicht mehr in der körperlichen Nähe des dunklen Kinos, gebannt durch die präsentierte Emotion des Films. Privatpersonen präsentieren ihren Körper nun visuell, zugänglich für mehr oder weniger alle Teilnehmenden der Netz-Gemeinde. Im Produkt der Fotografie ist der Körper als Objekt zugänglich, nicht leiblich erfahrbar. Die Fotografien dieser Art sind individuell, insofern sie einen spezifischen Körper ‚abbilden‘ und dennoch Teil einer schier unüberschaubaren Masse ebensolcher Selfies, die sich gegenseitig zitieren. Sie präsentieren also nicht nur ihren Körper, sondern ‚konsumieren‘ auch die Fotografien anderer Präsentationen. Jedoch ist die Reduktion auf eine konsumierende Haltung nicht durchzuhalten: Im Zitat kommt es zu einer Materialbearbeitung, einer Aneignung und Veränderung des Gesehenen im ‚eigenen‘ Produkt. Gegenüber der Rezeption in der Öffentlichkeit des frühen Kinos wird dabei jedoch der ‚männliche‘ Blick wiederholt; er wird sich angeeignet, indem er auf den eigenen Körper gerichtet und mit anderen im Vergleich getauscht wird. Das Private – als konsumierbarer Körper – wird öffentlich. Verloren geht die Suche nach einer möglichen Wahrnehmung, „die nicht identisch ist mit dem objektivierenden Blick“ (ebd., S. 12). Wenn das Selfie ein Selbstportrait ist, das erst im Kontext der Masse verstehbar ist, verändert es das seit der Renaissance vorherrschende Verständnis des Selbstportraits als Ausdruck individueller und autonomer Subjektivität.38 38 | Wie Omar Calabrese in seiner „Geschichte des Selbstporträts“ (2006) zeigt, durchlief das Selbstportrait einen – keineswegs linearen – Wandel, in dem „die Künstler sich immer stärker darum bemühten, ihre qualitative Identität – der Künstler ist von allen anderen verschieden – und ihre numerische Identität – es gibt nur einen einzigen Künstler – geltend zu machen“ (ebd., S. 46). Mit der in der Renaissance hervorgehobenen Bedeutung des Indi-

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Dennoch war das Subjekt bereits vor dem Selfie angewiesen. Das eigene Gesicht ist ‚uns‘ nicht ohne (Spiegel-)Bild oder den Blick des Anderen zugänglich (vgl. Meyer-Drawe 2010, S. 813) und das Selbst abhängig von der Anerkennung durch den Anderen (vgl. Benjamin 2009/1990, S. 34). Das Bild (unseres wie das des Anderen auf uns) ‚setze uns ins Bild‘ (vgl. Meyer-Drawe 2010, S. 816), in unsere Bedingtheit. Dabei sind aber immer die Abstriche, die mit dem Bildlichen einhergehen, zu berücksichtigen, weil das Bild immer auch den Hintergrund zurücktreten lässt beziehungsweise etwas darin unsichtbar wird (vgl. ebd.). Angesichts dieser Überlegungen können die vorliegenden Fotografien der Jugendlichen als bedingte Artikulationen der Subjekte gesehen werden. Eingewoben in die geschichtliche ‚Sprache‘ des Selfies wird in ihnen das ‚sowohl als auch‘ zwischen Autonomie und Angewiesenheit deutlich: Es ist die individuelle Darstellung, die jedoch einer gängigen Sehgewohnheit bedarf, um wahrgenommen zu werden und die sich einreiht in eine Masse an Fotografien, sowohl innerhalb der Erhebung als auch innerhalb der digitalen Öffentlichkeit.39 In Form des Selfies und seines Zitats zeigt sich die digitale Öffentlichkeit als Ohnmacht erzeugend, insofern das Internet zu einem Ort wird, in den insbesondere weibliche Körper immer wieder massenhaft ‚eingeschrieben‘ werden.40 Die viduums gewinnen auch „zwei Formen der Identität (Erkennen von Seiten der anderen und Erkennen seiner selbst)“ (ebd.) an Gewicht. Im Hinblick auf die geschichtlichen Verschiebungen im Selbstportraitverständnis könnte weiterführend untersucht werden, ob das im vorliegenden Kapitel beschriebene ‚Selfie‘ eher zu der von Calabrese aufgeführten Kategorie von Darstellungen „spezifische[r] Identität“ gehört, die eher auf die Zugehörigkeit zu einer „Gruppe“ (ebd., S. 45) als auf die Spezifizität des Einzelnen abzielen. 39 | Allerdings ergibt sich aus den Gepflogenheiten von Online-Diensten, wie Eva Illouz (2006) anhand von Partnersuche-Plattformen zeigt, ein Paradox im Verhältnis von Individuum und möglichen Adressaten, das sowohl den Körper als auch den Geist betrifft. Anhand von sprachlichen und fotografischen Quellen erstellen die Nutzer/innen ihr Profil, das ihr ‚Selbst‘ repräsentieren soll. Die dazu genutzte Sprache richtet sich an Unbekannte, sie ist an keinen besonderen Anderen gerichtet (vgl. ebd., S. 121f.). Illouz geht davon aus, dass eine solche „sprachvermittelte Selbstrepräsentation zur Uniformität“ (ebd., S. 125) beitrage. Die Herausforderung bestehe folglich daraus, sich dennoch individuell darzustellen. Jedoch unterlägen die Fotografien der Profile einem „konkurrenzorientierten Mark[t] ähnlicher Photographien“ (ebd., S. 123). „Im Netz sind folglich diejenigen am erfolgreichsten, die sich über ihre sprachliche Originalität und ihre physische Konventionalität auszeichnen“ (ebd., S. 125). 40 | Die Körpererfahrung hierin erfolgt nicht über die körperliche Berührung oder die Nähe der Masse, die leiblich sein könnte. Die Fotografie des Körpers und die theoretisch extrem weite Entfernung der Betrachtenden kann eine Entsinnlichung des Körpers sein. Zugleich kommt es durch den imaginierten Blick eines möglichen Anderen zu einer leiblichen Erfahrung.

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Sichtbarkeit der Körper ist eine der Konformität in einer schein-individuellen Masse. Sie ist eingebettet in die paradoxen Anforderungen an Frauen im Neoliberalismus (vgl. Kapitel 1.3), insofern sich die Selbstdarbietung auf dem Markt der Wahrnehmung entzieht beziehungsweise als Freiheit verstanden wird. Mit Schlüpmann wäre dem phallogozentrischen Subjekt eines entgegenzusetzen, das über seine Wahrnehmung seiner selbst und seiner es ermöglichenden Bedingungen zu denken ist. Dieses Subjekt ist für Schlüpmann das der Frauen, der Arbeiter und der Schwarzen. Es ist gerade aufgrund seiner Wahrnehmung der eigenen Angewiesenheit Subjekt. Diese Wahrnehmung ist eine sinnliche, die sich der Reduktion auf den Geist erwehrt. Dennoch greift Schlüpmann auf das Kino als Medium dieser Wahrnehmung zurück. Es geht also um die Wahrnehmung in einem künstlichen Medium. Dieser ‚Umweg‘ ermöglicht es ihr weder im Trugschluss einer natürlichen Sinnlichkeit noch eines objektiven Geistes zu verharren. Das Kino gerät zum doppelten Außen, von wo aus die Vermittlung und die Bedingungen wahrgenommen werden können. Zugleich ist es selbst Objekt einer ästhetischen Betrachtung. Die Verbindung der vorgestellten Positionen von Derrida, Irigaray und Schlüpmann besteht in der Frage danach, wie Empirisches wahrgenommen werden kann, ohne es allein zu verobjektivieren.41 Schlüpmanns Denken der Wahrnehmung von Frauen (Schwarzen, Arbeiter) im Medium des Kinos als der Erfahrung von Raum und Angewiesenheit eröffnet so ein Denken der Bedingtheit in Verbindung von Fotografie und Interview. Bei allen drei Autor/ innen findet sich eine Unentschiedenheit beziehungsweise ein Hang dazu, Widersprüche nicht aufheben zu wollen und sich dieser Logik der phallogozentrischen Metaphysik zu entziehen. Das Kino ist bei Schlüpmann ein solcher Ort, der Konsum, und damit Verwertung von Emotionalität, Teilhabe und Bildung durch die Wahrnehmung der eigenen Subjekthaftigkeit in der Masse verwoben sein lässt. Die Fotografie versetzt die Betrachtenden in ihrem Zwang, sich ihrer sinnlichen Dimension erst einmal hinzugeben, in eine ähnliche Situation. Aus den erkenntnistheoretischen Überlegungen zu den Bedingungen von Geschlecht, Text und Fotografie wird im Folgenden aus Perspektive der unmöglichen Methode das Anliegen verfolgt, die Fotografien und zugehörigen 41  | Becker-Schmidt (1985) verweist zu Recht darauf, dass Verobjektivierung nicht komplett ausgeschlossen werden kann. Ebenso geht Astrid Messerschmidt davon aus, dass ein Forschungsprozess nicht „[j]enseits von Objektivierungen [...] erfolgen [kann]“ (Messerschmidt 2011, S. 94), sondern der Wille und der Zwang zur Objektivierung eher Gegenstand der Forschung sein solle. Eine Negation der Objektivierung würde dem Anliegen der vorliegenden Arbeit auch zuwiderlaufen, weil es der Illusion der Kontrolle und des Ausschlusses folgen würde. Es geht vielmehr darum, die Verobjektivierung als solche wahrzunehmen beziehungsweise sich der Objekthaftigkeit von Forschenden wie Erforschten bewusst zu sein.

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Interviews als bedingtes Material zu untersuchen. Die Bedingungen sind dabei die verstrickte Angewiesenheit und Wahrnehmung von Forscherin und Beforschten mit dem in der Fotografie und dem Interview hervorgebrachten Material. Im Moment der Fotografie und ihrer Vorbereitung wie auch im Interview reagieren die Jugendlichen auf die Forschungsfrage und stellen sie zugleich infrage. Ihre Beteiligung und ihr Umgang mit den Fragen verändert diese zugleich. Zudem sind das forschende Denken und das methodische Vorgehen eingebettet in den geschichtlichen Raum der wissenschaftsbiographischen Auseinandersetzung mit feministischer Theorie und erziehungswissenschaftlicher Forschung. Die unweigerliche Beteiligung der Jugendlichen an der Bearbeitung der Fragestellung ist eine Erfahrung der Ohnmacht gegenüber den empirischen Subjekten und zugleich erfahren die Jugendlichen Ohnmacht, insofern die Fotografien in ihrer Entstehung und Betrachtung eine Eigendynamik entwickeln: In der Fotografie werden die Jugendlichen zu Objekten ihrer subjektiven Betrachtung. Darüber hinaus lässt die Auseinandersetzung mit der (Un-)Wirklichkeit des Bildes in der Betrachtung der Fotografien und im Sprechen über die Fotografien deren sinnlich-intelligible Zeichenhaftigkeit erfahren. Im Interview wird über die Bedingungen eines Subjekt-Status’ gesprochen, insofern die Jugendlichen Autonomie und Angewiesenheit diskutieren. An dieser Stelle lassen sich auch die zeitlichen und räumlichen Bedingungen aus der biographischen Erfahrung der Jugendlichen im geschichtlichen Kontext der stationären Jugendhilfe verfolgen. In Kapitel 3.3 werden zuerst die Bedingungen von Fotobefragung und Interviews detaillierter erläutert und danach in Kapitel 3.4 die Ergebnisse dieser unmöglichen Visualisierung und Versprachlichung vorgestellt.

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3.3 B ilder sprechen : D ie G r ammatik der fotogr afiegestüt z ten I ntervie ws [...] und mit Wörtern könnte man sich vielleicht auch bewegen, was man mit den Bildern nicht machen kann [...] 42 V iviea N owak , Interview: 01:13:45-8 Ein Foto kann so sein, ohne Geschichte, kann auch total toll sein und schön und weiß ich nicht, aber hm ja (...) mir fehlt dann die Geschichte. Faradora , Interview: 01:09:24-3 [...] Bilder können einen schönen Moment festhalten, aber meistens bleibt das wirklich halt nur die Erinnerung auf dem Foto, weil im Leben bleibt nichts für immer. M ichelle , Interview: 00:32:55-6 Aber in der Regel ist bei mir das Foto das Wort. [...] deswegen würde ich sagen, dass ich mich mit Worten besser beschreiben kann. L ocoloco, Interview: 01:38:15-9

Die Eingangszitate aus den Interviews thematisieren das ambivalente Verhältnis von Fotografien, Sprache und geschichtlichem Geschehen. Dieses Verhältnis stellt die Herausforderung im Umgang mit dem erhobenen Material dar, das Visuelle und Sprachlich-Textliche muss in seiner Verquickung wahrgenommen werden. Die Fotografien kommen so auf mehreren Ebenen ‚zur Sprache‘: sie sind es, die ‚sprechen‘, mit denen ‚gesprochen‘ wird und über die ‚gesprochen‘ wird. Die Fotobefragung, der Interviewleitfaden und sein Konzept, die Fotografien der Jugendlichen, das (gemeinsame) Sprechen darüber und der transkribierte Text besitzen unterschiedliche Formen von Materialität. Das heißt, ihre (erkenntnis-)theoretischen Voraussetzungen und ihre sinnliche Wahrnehmung erfolgen unter verschiedenen Bedingungen und über ver42 | Eckige Klammern [...] markieren Einfügungen von JW, runde Klammern (...) stehen für Sprechpausen. Die transkribierten Interviews entsprechen dem gesprochenen Wort, an einzelnen Stellen in den zitierten Passagen im Text wurden leichte Veränderungen, z. B. bei der Kommasetzung oder bei ‚verschluckten Endungen‘ vorgenommen, um die Lesbarkeit zu unterstützen.

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schiedene Wege, ohne jedoch – aufgrund ihrer geteilten Zeichenhaftigkeit – eine absolute Trennung vorzunehmen. So unterscheiden sich Fotografie und sprachliches/schriftliches Zeichen vor allem in ihrer sinnlichen Qualität. Geschrieben oder gehört erschließt sich das Zeichen durch eine erfahrene Verknüpfung von Code und Gegenstand. Der ‚Referent‘ muss nicht anwesend sein. Auch die Fotografie bedarf keines anwesenden ‚Referenten‘ – sie bringt ihn quasi mit (vgl. Barthes 1989/1980, S.  13ff.). Das ist möglich, weil der fotografierte Gegenstand im Moment des Fotografierens in das Foto ‚eingeschrieben‘ wird (früher auf eine lichtempfindliche Fläche, heute festgehalten in Pixel). Dies ist allerdings nur ein „Riß, ein momentanes Aussetzen des Codes“ (Dubois 2010/1990, S. 112). Er findet statt zwischen den menschlichen Entscheidungen zuvor (etwas und dieses wie zu fotografieren) und danach (Auswahl der Bilder, der Bearbeitung etc.): „Nur zwischen diesen zwei Serien von Codes, allein im Augenblick der Belichtung selbst, kann das Foto als reine Spur eines Aktes (als Botschaft ohne Code) angesehen werden. [...] Dieser Augenblick [...] wird sofort wieder von den Codes eingeholt, die ihn dann nicht mehr loslassen werden“ (ebd.; Herv.i.O.). So bringt das Foto das Empirische zwar zutage, aber markiert im gleichen Moment, dass es ohne eine bedeutende Wahrnehmung dieser nichts über sie aussagen kann. Daraus lässt sich kein Vorrang des Intelligiblen schließen, denn es bleibt der Riss des Empirischen im Code. Der Gegenstand kehrt, „ob man will oder nicht“ (ebd., S.  103) im Foto wieder. Die Sprache und die Schrift sind beide nicht gefeit vor diesem Phänomen. Ihr Code ist ebenso gebunden an einen geschichtlichen Wandel und die in ihnen erzeugten Eindeutigkeiten werden durch die sinnliche Erfahrung einer prinzipiell immer anderen – weil differenten – Empirie gestört werden. Die Fotografie macht die nicht zu trennende Produktion sinnlicher und intelligibler Wirklichkeit explizit. Die vorliegende Untersuchung muss sich selbst dekonstruieren, weil sie letztlich auf die Sprache der Metaphysik zurückgeworfen ist. Das zeigt sich an der Notwendigkeit, sich in der wissenschaftlichen Community verständlich zu machen ebenso wie in dem zu Beginn angestrebten Vorgehen. Indem die Studienteilnehmenden durch ein Interview, durch die Aufforderung zur Selbstfotografie, angeregt wurden, etwas ‚aus ihrem Leben‘ zu extrahieren, ist die Untersuchung Teil der Fragmentierung von Welt.43 Der Versuch, die Bedingungen und die Ohnmacht gegenüber diesen Bedingungen wieder einzu43  |  Folgt man Irigarays Argumentation, stehen sich mit dem vorherrschenden empirischen Wissenschaftsverständnis und einer Perspektive von Angewiesenheit und uneinholbarer Differenz zwei unvereinbare Ordnungen gegenüber. Der Versuch einer Überwindung des gängigen Wissenschaftsverständnisses würde sich jedoch selbst torpedieren, weil er mit dem Ausschluss dessen Logik folgen würde. Daher kann es hier nur darum gehen, die inhärente Grenze des metaphysischen Denkens zu verfolgen.

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fangen, läuft Gefahr ein ‚Ganzes‘ aus den Fragmenten machen zu wollen. Aus der Perspektive einer ‚unmöglichen Methode‘ liegt m.E. die Aufgabe jedoch darin, die Differenz in den Ergebnissen aufzuzeigen. Damit ist gemeint, sich der Schließung in ein Konzept von Geschlechtlichkeit in der Heimerziehung zu verweigern und eher eine ‚Genealogie ohne eindeutigen Ursprung‘ der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung zu erarbeiten. So betrachtet ist die folgende Darstellung eine, die sich wieder der verschiedenen Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten von Fotografie, (Interview-)Text und Methodologie ‚unterwirft‘. Auch wenn zeitlich an den unterschiedlichen Materialien nacheinander gearbeitet wurde, sind sie im vorliegenden Ergebnis de-linearisiert. Methodisch betrachtet geht es weder um eine etablierte Auswertung von Interviews noch um eine Fotografieanalyse.44 Die ‚unmögliche Methode‘ zielt vielmehr darauf, 44  |  Die in der vorliegenden Arbeit vollzogenen Delinearisierungen und Kontextualisierungen finden sich auch in sozialwissenschaftlichen Methoden, die ebenfalls die Bedingungen oder den Kontext des Erhobenen wie die Erhebungsvoraussetzungen selbst mitdenken und/oder auf eine starke ‚theoretische Sättigung‘ zielen. Gegenüber solchen Ansätzen ist die Arbeit jedoch zugleich zu unterscheiden, weil in ihr der Theorie ein Erkenntnispotential zugesprochen wird und zwar in einer spezifischen Verhältnisbestimmung von Theorie und Empirie, wonach ein Phänomen begrifflich und in seiner Bedingtheit zu erschließen ist und sich nicht in der „messbaren Empirie“ (vgl. Casale 2011, S. 50) erschöpft. Von einer ‚unmöglichen Methode‘ zu schreiben, etabliert keine neue Methode, sondern markiert vielmehr die Grenzen des Methodischen und versucht, das Verhältnis von Theorie und Empirie anders zu denken, jenseits eines Vorrangs der Methode. Gängige Verfahren, wie die Grounded Theory, stellen sich zu Recht gegen eine theorielose Datengenerierung oder eine Reduktion von Theorie auf Verifizierbarkeit und rücken die Theoriebildung in den Mittelpunkt. Jedoch ist auch für Autoren wie Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss (2005/1967) die Methode Ausgangspunkt der Theoriegenerierung: Für sie wird Theorie „auf der Grundlage von Daten“ (ebd., S.11) entdeckt; einigen „großen Theorien“ fehle es an „Fundierung in den Daten“, sie seien „ihrem Gegenstand nicht angemessen oder nicht hinreichend verständlich und deshalb für die Forschung, den theoretischen Fortschritt sowie die praktische Anwendung nutzlos“ (ebd., S. 20; Herv. JW). Die Kategorien des theoretischen Samplings – das eine „aktive, absichtsvolle Methode der Datenerhebung“ ist – werden dabei anhand der Daten „permanent kontrolliert“, sie seien damit sowohl für den „theoretischen Fortschritt als auch für die praktische Anwendung fruchtbar“ (ebd., S. 83). In der vorliegenden erziehungswissenschaftlich-feministischen Perspektive ist dies ein instrumentelles Verhältnis zur Theorie und es zeigt sich auch eine phallozentrische Ordnung von Wissenschaft, die darauf zielt, „zu beweisen, daß die Entdeckung effizient, produktiv, rentabel, verwertbar [sei]“ und einen „Fortschritt“ (Irigaray 1991/1984, S. 144f., Herv.i.O.) bezeichne. Die Ideologie des Fortschritts zeigt sich zudem im genannten Beispiel in der Idee einer ‚Neugründung der Jungen‘, die sich endlich von den ‚großen Theorien‘ zugunsten ‚neuerer und besserer‘ – methodisch generierter – Theorien verabschieden sollten (Glaser/Strauss 2005/1967, S. 20f.). Wie auch in der Auseinander-

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mit einer feministisch-erziehungswissenschaftlichen Dekonstruktion – die keine Methode ist –, d. h. anhand der geschichtlichen und erkenntnistheoretischen Kategorien Geschlecht und Generation, zur Erkenntnis beizutragen. Aus dem Materialkorpus wurden fünf Interviews und die darin thematisierten Fotografien genauer untersucht.45 Die Fotografien und Interviews von Michelle, Faradora, Viviea Novak (VNovak), Poldi44 und Locoloco46 verblieben dabei unter den genannten formalen Bedingungen in der Untersuchung; zugleich unterlag die ‚Auswahl‘ einer entscheidenden weiteren geschichtlich-erkenntnistheoretischen Bedingung der vorliegenden Arbeit, die erst in der Interviewsituation deutlich wurde und sich in der Auswahl und Untersuchung der ausgewählten Interviews zuspitzte: Es handelt sich um die in der ersten erkenntnistheoretischen Anlage der Arbeit verankerte Blindheit gegenüber der Kategorie Nation/,Rasse‘. In drei der Interviews aus dem Gesamtkorpus gab es wechselseitige Verständigungsprobleme, weil keine gemeinsame Sprache gefunden werden konnte. Zwar konnte ein Interview auf Englisch geführt werden und bei einem weiteren bestand die Möglichkeit, auch auf Französisch zu antworten (beides nicht die Muttersprachen der Interviewten und Interviewerin), dennoch blieb in allen drei Fällen47 eine sprachliche Unschärfe, die zu stark war, um die Interviews sinnhaft zu transkribieren. In der Untersuchung der fünf ausgewählten Interviews hingegen wurde die Frage nach Mehrsprachigkeit, nach eigener wie familiärer Migrationserfahrung und der damit zusammenhängenden Kategorie ‚Rasse‘/Nation, wie sie in Kapitel 1 als strukturierendes Moment im Zusammenhang von Geschlecht und Heimerziehung aufgezeigt wurde, nicht explizit thematisiert. Dabei spielt der Interviewleitfaden eine Rolle, insofern er, wie auch die Fotobefragung und das Interview, noch der Annahme unterlag, durch Nicht-Benennung identitäre Vorstellungen setzung mit den bildanalytischen Verfahren Bohnsacks (2009) und Breckners (2010) geht es um die Frage, welcher geschlechtlichen (und generationalen) Ordnung der Umgang mit Theorie und Empirie unterliegt und weniger darum, diese Ansätze innerhalb ihrer Kriterien sozialwissenschaftlicher Methodik zu verwerfen. 45 | Insgesamt wurden 17 Fotobefragungen und 15 darauf basierenden Interviews mit Jugendlichen aus fünf Wohngruppen von zwei unterschiedlichen großen Trägern geführt. Dabei kam es zu einem Ausschluss eines Teils des Materials, weil zwei Jugendliche nicht mehr am Interview teilnehmen wollten. Hinzu kamen drei trotz mehrfacher Nachfrage nicht mehr nachgereichte Einverständniserklärungen durch die Sorgeberechtigten. Der Kontakt war bei allen Jugendlichen immer durch die Jugendhilfeeinrichtung vermittelt, so dass ich keinen direkten Kontakt zu den Eltern der Jugendlichen aufnehmen konnte. 46  |  Es handelt sich hierbei um durch die Jugendlichen selbstgewählte anonymisierte Namen. 47 | Im dritten Fall war die gemeinsame Sprache Deutsch, allerdings blieb bereits im Interview unklar, ob die Interviewfragen vom Interviewpartner verstanden wurden.

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brechen zu können.48 In den fünf untersuchten fotografiegestützten Interviews lässt sich nun etwas anderes ‚beobachten›: Die gesellschaftliche Bedingung der Kategorie ‚Rasse‘/Nation kommt nicht zur Sprache. Sie bleibt im nicht transkribierbaren Akzent einer Interviewpartnerin wie in der unausgesprochenen Möglichkeit, eventuell rassistische Erfahrungen gemacht zu haben, und der im Moment verhafteten – geschichtslosen – und individualisierten Frage nach „Einer Woche ich“ ungehört. In der nachträglichen Lektüre bleibt nur die Lücke zwischen Fotografie, verklungener Stimme und dem im transkribierten Interview zugänglichen Wort. Die Kategorie ‚Rasse‘/Nation bleibt insofern im untersuchten Material schwach. Sie wird erst in der wieder hereingetragenen geschichtlichen Bedingung von Heimerziehung und Geschlecht zugänglich. Zugleich wird von den Jugendlichen ‚Kultur‘ als Distinktionsmerkmal eingeführt, insofern sie von ihnen als Grund für die eigene oder eine andere ‚Identität‘ wahrgenommen wird. Diese Unterscheidung ist teils explizit in den Interviews vorhanden (beispielsweise bei Faradora), teils als impliziter Bezugspunkt für Abwertung und Parodie (beispielsweise bei Locoloco). Zum Zeitpunkt der Erhebung zeigt sich damit eine Kulturalisierung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit als eine für die Interviewten einnehmbare Position. Die Leerstelle des Interviewleitfadens ist selbst dessen geschichtliche Bedingung, weil sie aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive entstand, die sich auf den Diskurs und weniger auf Gesellschaft und Geschichte stützte.49 Mit den Interviews ist das fotografische Korpus zu beachten: Von den insgesamt 600 Fotografien der fünf Jugendlichen wurden 128 in den Interviews durch die Jugendlichen thematisiert und/oder für die an das Fotoprojekt anschließende Ausstellung durch sie ausgewählt. Im weiteren Vorgehen stellen diese 128 Fotografien das visuelle Material. Dies beruht auf der Annahme, dass Fotografien etwas die verbale Sprache/Zeichenhaftigkeit Überschreitendes vermitteln, zugleich aber nicht von ihren visuellen und sprachlichen Bedingungen zu isolieren sind. Im fotografiegestützten Interview lagen den Jugendlichen die jeweils eigenen Fotografien vor. Fotografien mit Personen, die nicht am Interview teilnahmen, wurden bis auf einzelne Ausnahmen von Pädagoginnen der Einrichtungen zur Seite gelegt. Die beachtliche Zahl von insgesamt 600 Fotografien der fünf Jugendlichen kam vor allem durch Fa48  |  Darin zeigt sich die anfängliche Orientierung der Untersuchung an gendertheoretischen Paradigmen, die in der sozialwissenschaftlichen Forschung einer „Desexualisierung [...] lehrreiche Verfremdungseffekte“ (Hagemann-White 1995, S. 312) zusprechen. In dem beschriebenen Ausblenden einer weiteren ‚Identitätskategorie‘ zeigt sich hingegen ein Verlust im Zugang zu möglichen Bedingungen von Geschlechtlichkeit. 49 | Damit ist der genannte Verlust in den Interviews nicht allein als solcher zu deuten, er verweist auf den wissenschaftlichen wie geschichtlichen Entstehungszusammenhang des Interviews. Vgl. dazu auch Wierling 2003, S. 123ff.

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radora zustande, die 437 Fotografien erstellte. Zum Vergleich trug Poldi44 hingegen nur 14 Fotografien bei. Wie sich aber bei Faradoras Interview zeigt, in dem 41 Fotografien einbezogen wurden, war die Zahl im Interview zur Sprache kommender Fotografien begrenzt. Poldi44 sprach über alle seine Fotografien. In der Untersuchung von Fotobefragung und fotografiegestütztem Interview wurden die im Interview aufgegriffenen und die für die Ausstellung ausgewählten Fotografien herangezogen, weil diesen von den Jugendlichen Bedeutung beigemessen wurde. Die Fotografien erhalten eine doppelte Relevanz: „Hinter jedem Photo steht [bereits] ein Relevanzurteil“, insofern das „Wahrgenommene [...] bereits überbewertet sein [muss], ehe es die photographische Weihe erfährt“ (Castel 1981 zit. n. Brake 2009, S. 370f.); die Fotografie dokumentiert zunächst weniger, was geschehen ist, als den Entschluss, das Gesehene zu fotografieren (vgl. Berger 2016/1968, S. 36). Darüber hinaus ermöglichten die Digitalkameras, dass die Jugendlichen bereits auf dem Display eine Vorauswahl trafen, indem sie Fotografien löschen konnten. In den auf der Fotobefragung basierenden Interviews wählten die Jugendlichen noch einmal aus, welche Fotografie zu der jeweiligen Interviewfrage und zum Thema „Eine Woche ich“/Selbstportrait etwas beitragen sollte. Die doppelte Relevanz der Fotografien ergibt sich damit aus der Erhebung durch die Jugendlichen selbst und durch deren Auswahl im Interview. Diese Auswahl ist jedoch in beiden Fällen an den Forschungskontext ihrer Entstehung gebunden, weil die Jugendlichen jedes Mal eine Aufgabenstellung beziehungsweise einen von Erkenntnisinteresse geleiteten Impuls bekamen: zuerst durch die Aufgabe des Fotoprojekts und dann durch die Interviewfragen.50 Sowohl die Erhebung ist geschichtlich an den Umgang der Jugendlichen mit der Fotobefragung und dem Interview gebunden wie auch dieser Umgang mit beidem erst durch den Impuls des Forschungsprojekts entsteht. Zugleich ist die Erhebung in ihrer Anlage in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu berücksichtigen: Sie fragt nicht nach der Institution, sondern nach dem Individuum und weist damit einen bedeutsamen Unterschied zu früheren sozialpädagogischen Arbeiten mit Fotografien auf (vgl. Richter 2010). Diese Verschiebung hängt mit den erkenntnistheoretischen wie politischen Bedingungen zu Beginn der Arbeit zusammen, wie sie in den Kapiteln 1.3 und 2.2.1 dargestellt wurden. Die Anlage der Erhebung ist somit Teil einer geschichtlichen und theoretischen Bedingtheit, die weniger auf gesellschaftliche und institutionelle Zusammenhänge als 50 | Die Auswahl von Fotografien ist so erkenntnistheoretisch wie methodisch bestimmt, und dadurch, dass sie während des Interviews durch die Jugendlichen geschieht, in besonderem Maße „Teil des Forschungsprozesses“ (Buchner-Fuhs 1997, S. 190). Buchner-Fuhs’ Beschreibung bezieht sich auf ein Vorgehen mit vor dem Interview ausgewählten Fotografien in der volkskundlichen Forschung, dennoch treffen ihre grundlegenden Überlegungen auch auf das vorliegende fotogestützte Interview zu.

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auf (individualisierte) performative Praktiken abzielte, und zudem implizit von einer ‚bereinigenden‘ Technisierung empirischer Forschung beeinflusst war (vgl. auch 3.3.2). So betrachtet gerät die Erhebung selbst wieder zum Gegenstand der Revision. Die Materialität des Erhobenen wie der Erhebung ist damit die eines verkörperten und verkörpernden Zeichens, das nicht ideal, sondern in seinem Sein zu verstehen ist.

3.3.1 Körper – Zeichen – Fotografie Die Deutung von Körperbildern unterliegt besonders der Gefahr, vermeintlich universell verständlich zu verlaufen (vgl. Schade/Wenk 2011, S. 33f.). Dies sei nicht zuletzt in männlich-subjektzentrierten Projektionen begründet (vgl. ebd.). Eine solche Projektion meint einen Blick, der das gesehene Bild und den darin zu sehenden Körper zum Objekt des Betrachters macht. Damit wird das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt zu einem einseitigen, das den Bezug und die Angewiesenheit des Subjekts ausschaltet.51 Dabei geht es nicht allein um die Deutung von Körpern in Bildern, sondern bereits um das – im vorliegenden Fall fotografische – In-Szene-Setzen von Körpern. Die Entscheidung, etwas auf eine spezifische Art zu fotografieren, gibt diesem Etwas Bedeutung: „Was nicht im oder als Bild gezeigt wird, muss deswegen nicht ohne Bedeutung sein. Vor allem aber bestimmt Nicht-Sichtbares das, was zu sehen gegeben wird, in seiner Bedeutung mit – nicht nur auf kognitiven, sondern auch affektiven Ebenen“ (ebd., S.  34). Für die Fotografien der befragten Jugendlichen heißt das, dass – in den Bildern unsichtbar – die sozialen und geschichtlichen Bedingungen von Geschlecht und Heimerziehung mitzudenken sind. Die Fotografie eignet sich in ihrer Verdopplung des eigenen Körpers in der Betrachtung und aufgrund ihrer vermeintlich besonderen ‚Evidenz‘ dazu, diese Angewiesenheit wahrzunehmen. Es geht zudem darum, das Sein von Geschlecht als différance, Muköses und Masse zur Bedingung des in Erscheinung Tretenden zu machen, ohne seine Differenz schließen zu wollen (vgl. 2.2).

Fotografien in der Erhebung Ausgangspunkt für die Fotobefragung und das Interview der Jugendlichen war die Überlegung, dass Geschlecht in der Stationären Jugendhilfe einerseits eine Bedeutung beigemessen wird, insofern bis ins 21. Jahrhundert die Problemlagen von Jugendlichen in der Heimerziehung geschlechtsspezifisch gedacht wurden, andererseits aber die darin enthaltene geschlechtliche Ordnung institutionell wie wissenschaftlich nur unzureichend beleuchtet wurde. Zum Zeitpunkt der Erhebung der Fotografien beruhte die Arbeit noch auf 51  | Vgl. dazu auch 3.2.2, FN 26 bezüglich des männlich-körperlosen Blicks des Wissenschaftlers bei Haraway (1988), Mulvey (1988/1975) und Irigaray (1991/1984; 2010/2008).

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der theoretischen Voraussetzung einer primär heteronormativ verfassten Geschlechtlichkeit. Das Motto der Fotobefragung und der Titel der Ausstellung war mit „Eine Woche ich“ breit gewählt, um herauszufinden, ob Geschlecht beziehungsweise der geschlechtliche Körper für die Jugendlichen im Selbstportrait überhaupt eine große Rolle spielt, und wenn ja, auf welche Weise.52 Ein solches Vorgehen wird als visuelle Methode unter den Begriffen „Fotobefragung“ (Kolb 2008; Buchner-Fuhs 1997) oder „photo-elicitation“ (Rose 2007, S. 240ff.) gehandelt. Gillian Rose ordnet die photo-elicitation einer Gruppe von Fotografienutzung zu, die verbale Methoden (wie Interviews) unterstützt (vgl. ebd., S. 239). Das heißt, dass Fotografien dem Interview dabei nachgeordnet sind und in erster Linie durch die Forschenden interpretiert werden. Für die vorliegende Fotobefragung und ihre Einbindung in die Interviews gilt diese Einteilung jedoch nur bedingt. Als zweite Gruppe von fotobasierten Materialerhebungen nennt Rose solche, die eher ergänzend oder erweiternd gegenüber sprachbasierten Erhebungen zu verstehen sind und die eigene Logik des Bildes stärker betonen (vgl. ebd.). Unter Berücksichtigung dieser Unterscheidung kann die vorliegende Erhebung eher als Mischform betrachtet werden. Die Fotografien sind bereits visuelle Interpretationen der Frage danach, was die Befragten unter einem Selbstportrait verstehen. Das gemeinsame Betrachten der Fotografien kann nicht losgelöst davon gedacht werden. Wie sich in den Interviews zeigt, ist der Sprache durch das Visuelle zudem eine Grenze gesetzt: Immer wieder finden sich die Befragten in der Situation, die Fotografie nicht beschreiben zu können oder zu wollen.53 Zugleich sind die Fotografien nicht allein als Dokumentation oder Illustration zu denken, sondern sie rufen das Sprechen über sie auch hervor. So betrachtet soll hier keine Chronologie und mögliche Kausalität von Fotografie und verbalem Fragen und Antworten hergestellt werden.

52 | In diesem Vorgehen zeigt sich einmal mehr die implizite Annahme, dass eine objektive Forschungsposition realisierbar sei beziehungsweise, dass sich Objektivität durch eine offene Fragestellung oder möglichst weitgehende Nicht-Beeinflussung herstellen ließe. In der Gleichzeitigkeit einer gendertheoretischen Begründung der Nicht-Identifizierung und dem Festhalten an solchen Kriterien zeichnet sich die Ambivalenz von sozialwissenschaftlich-empirischen Paradigmen und postmodernen Positionen ab, wie sie das Verhältnis von Theorie und Empirie bis in die Gegenwart prägen (vgl. mit unterschiedlicher Gewichtung Scott 1991, Casale 2011). 53  |  Dabei handelt es sich um ein grundsätzliches Problem bezüglich des Einsatzes von Fotografien, wenn Personen befragt werden, die in der Verbalisierung von visuellen Eindrücken ungeübt sind: „[...] bei den Interviewten [besteht] häufig die Sorge, mit der Erklärung des vermeintlich Offensichtlichen Redundanzen zu erzeugen“ (Friebertshäuser/Langer 2013, S. 449).

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Erst im Anschluss an die auf der Fotobefragung basierenden Interviews wurde anhand eines kurzen Fragebogens noch nach der Mediennutzung der Jugendlichen gefragt, um ihren medialen Kontext zu berücksichtigen. Durch die Fotobefragung beteiligten sich die Jugendlichen an der Erhebung von Datenmaterial und damit am Forschungsprozess (vgl. Kolb 2008). Die Jugendlichen fotografierten nach einer spezifischen Aufgabenstellung und ihre Fotografien wurden Teil des Kommunikations- und Interpretationsprozesses im Interview. Der Einsatz von Fotografien erzeugte dabei einen eigenen, weiteren Gegenstand des Interviews, nämlich die Fotografie selbst, was insbesondere in Kapitel 3.4.1 deutlich wird. Das heißt, das Interview und die Fotografien sind zeichenhaft, möglicherweise mit unterschiedlicher sinnlich-intelligibler Qualität, im vorliegenden Vorgehen sind sie jedoch als miteinander verwobene Medien zu betrachten, die sich weder in eine Reihenfolge noch in eine Hierarchie bringen lassen. Allerdings gilt es zu beachten, dass im Gespräch und im Schreiben über die Fotografien, wie in der wissenschaftlichen Verständigung über Schrift, eine Sprache für die „Seherfahrungen“ (Krautz 2016, S. 737) gefunden werden muss. In der Versprachlichung kann nicht von einer unmittelbaren Übersetzung ausgegangen werden und obwohl dies an der besonderen Resonanz, die eine Seherfahrung hervorruft, liegt, ist auch diese nicht präkulturell, vielmehr muss auch das Sehen gelernt werden beziehungsweise es bedarf einer vermittelten Vorerfahrung (vgl. ebd., S. 736ff.).54 Die Fotografien sind, wie das methodische Vorgehen selbst, das Interview und die Fotobefragung, Gegenstände beziehungsweise Phänomene, die in ihrem historischen und erkenntnistheoretischen Horizont zu denken sind.

Körper in Fotografien Neben der Frage, in welchem Verhältnis Fotobefragung und fotografiegestütztes Interview stehen, ist das Verhältnis der abgebildeten Körper zur Fotografie zu berücksichtigen. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass der diskursivperformative Charakter des Körperlichen über Fotografien herausgearbeitet werden könnte. Abweichend von diesen frühen Überlegungen werden der Körper und die leibliche Erfahrung der Jugendlichen in der revidierten erkenntnistheoretischen und methodologischen Fassung der Arbeit zu sinnlich-intelligiblen Zeichen. Allerdings sind sie nur als Körper in Fotografien zugänglich. Das heißt nicht, dass eine Beobachtung der Körper einen ‚empirischeren‘ Gehalt hätte, sondern, dass sie den Forschungsgegenstand auf eine spezifische Weise – nämlich als visuelles Material, festgehalten im Medium der Fotografie – zugänglich machen. Die Fotografie selbst ist ein empirisches Zeichen,

54 | „Das Bild dient als Anregung. [...] Es öffnet einen Raum für Empfindungen und Reflexionen. Der Betrachter ist kein passiver Resonanzkörper“ (Kebeck 2017, S. 95; Herv.i.O.).

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wie bei Derrida die Schrift verkörpert beziehungsweise verräumlicht ist.55 Die Kennzeichnung des Körpers in der Fotografie als sinnlich-intelligibel, als zeichenhaft und materiell verweist bereits auf die Verwobenheit vom Körper als Gegenstand mit seiner vermeintlichen Repräsentation in der Fotografie. Die „Körperdimension“ wird in der Fotografie „ins Bild gesetz[t]“ (Breckner 2003, S.  34; Herv.i.O.). Keineswegs ist der Körper erst in der Fotografie ‚in Szene gesetzt‘, er ist uns vielmehr ‚prä-fotografisch‘ nicht unmittelbar zugänglich. Während die Sprache vermittelt, etwas dem anderen Zugängliches weitergeben zu können – was in einem restlosen Verständnis scheitert, folgt man Derridas Argumentation zur différance und Iterabilität – erscheint die räumliche Trennung von Körpern viel einleuchtender: Die Beobachtung des Körpers bleibt für Forschende, aber auch im Alltag, äußerlich. Die leibliche Wahrnehmung des Gegenübers ist nur durch ihre Vermittlung in Körper-‚Sprache‘ oder ihre Verbalisierung zugänglich. Im Körper bleibt immer ein Rest, der nicht zugänglich ist. Die Wahrnehmung von Körpern in Fotografien verstärkt dieses Phänomen noch. Das könnte nahelegen, den ‚Körper in der Fotografie‘ als einen Körper, den man als Objekt ‚haben‘ kann, anzusehen, und ihn damit von dem durch Schlüpmann von Plessner übernommenen Körper/Leib, der man ist, zu unterscheiden. In der Betrachtung der Fotografie kommt es jedoch auch zu einer leiblichen Erfahrung, z. B. im Moment der positiven Selbstwahrnehmung, in der Identifizierung oder in der Scham angesichts des Gesehenen, aber auch in der Ablehnung des Dargestellten. Somit bleibt auch der Körper 55 | In der Frage des Körpers zeigt sich eine Differenz zwischen Schlüpmann und Derrida: Während für Derrida die Schrift verkörpert ist und damit der weiblichen Position ähnelt, bezieht Schlüpmann gerade die gesprochene Sprache, die Mutter-Sprache, auf die weibliche Position. Die beiden Autor/innen nehmen hier eine geradezu gegenläufige Position ein: Für Schlüpmann ist die Wissenschaft eine Form von Erkenntnis, die die mündliche Sprache gegenüber der schriftlichen abwertet beziehungsweise letztere vom Mündlichen befreit (vgl. Schlüpmann 1998, S. 121). Ihr geht es jedoch nicht darum, eine „heile Muttersprache“ wieder hervorzubringen, sondern die so „zerstörte Schrift“ zu nutzen, um eine praktische „Erkenntnishandlung“ (ebd., S. 122) vollziehen zu können. Hingegen setzt Derrida den „Logozentrismus“ mit dem „Phonozentrismus“ (Derrida 1983/1967, S. 25) gleich und deutet dies in die andere Richtung: „Die Epoche des Logos erniedrigt also die Schrift, die als Vermittlung der Vermittlung und als Herausfallen aus der Innerlichkeit des Sinns gedacht wird“ (ebd., S. 27). Dabei könnte es sich um ein Zwischen oder eine Gleichzeitigkeit beider Positionen handeln: Sehr wohl wurde die Frau als Raum in der (Philosophie-)Geschichte betrachtet (vgl. Irigaray 1990/1984, S. 14), indem jedoch die Sprache der Mutter der vermeintlich vorkulturellen Betreuung zugeordnet wurde (vgl. Benjamin 2009/1988, S. 19ff.), und damit dem quasi-natürlichen Raum, der Symbiose, verklang sie für die Öffentlichkeit ungehört. Aus dieser Perspektive verbleibt die Frau in dem ungesehenen Raum, von dem letztlich Denken, Sprache und Schrift des Wissenschaftlers abhängig sind.

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in der Fotografie zugleich in den beiden Ordnungen von ‚Körper haben‘ und ‚Körper/Leib sein‘ (vgl. Schürmann 2012, S. 218). Die – um bei Breckners Worten zu bleiben – ‚körperliche Dimension‘ menschlicher Wahrnehmung ist eine sinnlich-intelligible der Forschenden, die nicht den ‚ganzen‘ Körper erfassen kann. Auch der beobachtete Körper kann sich selbst nicht ‚ganz‘ wahrnehmen. Die leibliche Erfahrung des Körpers hat ihre Grenzen in der Selbstbetrachtung, in der innere (leibliche) Vorstellung vom Aussehen des Körpers und äußere Betrachtung des Körpers miteinander kollidieren. Indem die Fotografie – selbst dreidimensional als entwickeltes Objekt, das in die Hand genommen werden kann – den Körper zweidimensional fixiert, eröffnet sie nur eine spezifische Perspektive, einen Ausschnitt des Körpers. Fotografie und Körper teilen die Eigenschaft, mehrdeutig zu sein – das verbindet sie auch mit dem Text (vgl. 3.2)56 – und sich zugleich nicht restlos in Sprache auflösen zu lassen (vgl. Breckner 2003, S. 34). Die Wahrnehmung des Körpers im Medium der Fotografie öffnet zwar die visuelle Seite und erweitert damit die sinnlich-intelligible Wahrnehmung im Medium der Sprache, aber zugleich reduziert sie auch die sinnliche Dimension. Mit Fotobefragung und Interview werden die Dimensionen des Hörens, Lesens und Sehens angesprochen, außen vor bleiben dagegen die Berührung des eigenen und anderen Körpers, Empfindungen von Wärme und Nähe oder Ferne eines anderen Körpers, das Spüren des eigenen Leibes, Gerüche und Geräusche des Körpers57. Die von Schlüpmann beschriebene körperliche Wahrnehmung des Subjekts in seiner Ohnmacht, wie sie in der Masse im dunklen Raum des Kinos erfahrbar wird, bleibt aus.58 Die Wahrnehmung kann nur eingeschränkt als räumlich gefasst werden. In Fotografie und Interview-Text ist der Körper nur über einen Umweg 56  |  Hier unterscheidet sich meine Argumentation von Breckners Trennung von Bild und Text. 57 | Dabei sind das Privileg insbesondere des Sehens und seine Formgebung im geschriebenen Wort selbst geschichtlich bedingte Phänomene: „Der bürgerlichen Schriftkultur, die die bürgerliche Ökonomie begleitet, liegt die Trennung des Auges von den übrigen Sinnen zugrunde, die sie sowohl verdrängt als auch reproduziert. Sie ist eine Kultur somit, die die Ökonomie des Besitzes nicht nur fördert und unterstützt, sondern die sie auch unwahrnehmbar macht: was wir empfinden, spielt keine Rolle für das Erkennen und Handeln, während unser Auge für die sichtbaren Folgen dieser Ökonomie — die Zerstörung der Landschaft, die Verläßlichkeit des Alltags — unempfindlich macht“ (Schlüpmann 1998, S. 166). 58  |  Schlüpmann schreibt in den Texten von 1998 und 2014 fast durchgehend vom ‚Körper‘, ebenso ergibt sich durch das französische ‚corps‘ bei Irigaray ein Entscheidungsproblem in der Übersetzung zwischen ‚Leib‘ und ‚Körper‘. Insbesondere in Schlüpmanns Thematisierung des Körpers in der Masse wäre es ggf. angemessen, vom Leib zu sprechen. Andererseits verweist Schlüpmann, indem sie den Körper in der Masse wahrnehmen lässt, auf die Gleichzeitigkeit von leiblicher Wahrnehmung und körperlicher Auslieferung (vgl. zur Unauflöslichkeit von Leib und Körper auch Meyer-Drawe 2005).

Grammatik des Sehens

wahrnehmbar, der nicht abgekürzt werden kann. Es ist ein Umweg, weil er unweigerlich mittelbar ist. Indem die Fotografiebetrachtung jedoch eine leibliche Erfahrung evozieren kann, ist auch die sinnliche Dimension nicht einfach reduziert, sondern ebenso über Umwege Teil der Fotografie. Der Körper in der Fotografie ist so betrachtet mehrfache Iteration, intelligibel wie sinnlich.

3.3.2 Die Materialität des Inter views: Der bedingte Leitfaden Wie die Fotografien setzt auch der Interviewleitfaden die anfängliche Annahme voraus, Geschlecht in der Heimerziehung aus einer gendertheoretischen Perspektive untersuchen zu können. Aufgrund der von Judith Butler thematisierten Performance von Geschlecht erschien jedoch ein Interview nicht ausreichend, um die Materialität des Körpers in den Blick zu nehmen. Neben ethnographischen oder videographischen Methoden stellte die Fotografie aus dieser Perspektive eine der non-verbalen Möglichkeiten dar, geschlechtliche Körper und ihre Inszenierung einzufangen. Im Nachhinein hat sich, auch mit der veränderten erkenntnistheoretischen Verortung der Untersuchung, durch die Fotografien und die dazu geführten Interviews ein anderer Zugang zum Gegenstand eröffnet. Dennoch sind insbesondere die Interviews durch den Leitfaden und die ihn begründenden Vorannahmen noch vom vorhergehenden erkenntnistheoretischen Denken durchzogen. Dazu gehört auch, dass sich die Anlage der Erhebung von einer methodologischen Position abgrenzen sollte, die einen ‚politikfreien Raum‘ suggeriert. Stattdessen wurde die Erhebung – im Anschluss an Edgar Forster – als Suche nach einer „radikale[n] Performativität“ (Forster 2007 b, S. 234) in der humanwissenschaftlichen Forschung verstanden.59 Forster beschreibt das entsprechende forschende Vorgehen als eines mit „operativ-strategische[r] Funktion“ (ebd., S. 227). Dem im Vergleich zum Beginn der Untersuchung gewandelten geschlechtertheoretischen und methodologischen Entwurf ist in der vorliegenden Fassung nicht abzusprechen, noch Elemente einer solchen ‚radikalen Perfomativität‘ zu enthalten. Allerdings hat sich insbesondere durch die Perspektive der Angewiesenheit und gleichzeitig sinnlich-intelligiblen Wahrnehmung – und damit der Unentschiedenheit von Natur und Kultur – der Weg über die Performance und die Heteronormativitätskritik verunmöglicht. Immer noch enthält die Studie einen intervenierenden Charakter, insofern sie Geschlecht und Generation in ihrer Bedingtheit in die 59 | „Davon ausgehend, dass die Erfassung quantitativer Eckdaten oder das bewusste Sampling spezifischer Kategorien ein politischer Akt ist, der Realitäten hervorbringt, stellt sich die Frage, wie damit umzugehen ist. Edgar Forster (vgl. 2007:232) folgend, verstehe ich die theoretische und methodologische Arbeit an der Kategorie als bewusst eingreifend [...]. Dies ist kein auszumerzender Mangel, der neutralisiert oder mittels kritischer Reflexion ausgeschlossen werden kann (vgl. ebd.)“ (Windheuser 2012, S. 63).

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metaphysische Ordnung einführt und diese somit stört. Dennoch bewegt sie sich weg von einem voluntaristischen Denken60, wie es die Perspektive einer sprachlichen Performativität von gender mit sich bringt. Diese Perspektive geht mit einer Entscheidung zwischen sex und gender einher, die in eine geistige Beherrschung der Materialität mündet. In der vorliegenden Arbeit kommt es dagegen zu einer Verschiebung, insofern Geschlecht in der Unentschiedenheit des „Dazwischen“ belassen und somit der vereindeutigenden Metaphysik entzogen wird. Das Vorgehen im Interview stellte zudem die eigenen Ansprüche infrage, insofern sich die Jugendlichen nur bedingt auf Fragen nach performativen Anteilen von Geschlechtlichkeit einließen oder indem sie ihre Erfahrung der Ohnmacht einbrachten, und damit dazu zwangen, in ein Leben zu schauen, das sich nicht allein über seinen heteronormativen Charakter deuten ließ. Im Laufe der Arbeit wurde die Annahme eines möglichen politischen Eingriffs im Rahmen von Forschung verstärkt selbst als bedingt betrachtet, was zugleich zu einer stärkeren Distanzierung von der allmächtigen Position eines objektivierten Forschungsverständnisses führte. Ferner kam es auch von Seiten der Jugendlichen zu einer Intervention in das geplante Vorgehen, sei es, dass sie nur kurz antworteten61 oder, dass sie – wie im Interview mit Faradora – die Erhebung selbst infrage stellten, indem sie Fotografien jegliche Aussagekraft absprachen. Die sinnlich-intelligible Erfahrung der Materialität verändert die Schwerpunktsetzungen im Interview gegenüber dem Leitfaden. Aus dem Fragebogen werden in der folgenden Übersicht diejenigen Fragen zugespitzt zitiert, die für die ausgewählten Interviews und die darin besonders dichten Antworten entscheidend sind. Ein Teil der im Leitfaden angelegten Fragen kam in den 60 | Eine solche Position findet sich insbesondere auch im wissenschaftstheoretisch-dekonstruktiven Genderfeminismus, wie er von Haraway vertreten wird, insofern sie zwar von der räumlich-zeitlichen Gebundenheit von Forschenden ausgeht, aber Wissen als erzeugtes Produkt versteht (vgl. Haraway 1988, S. 586ff.). 61 | Diese Widerständigkeit ist teilweise auch dem grundsätzlichen Problem von Leitfaden-Interviews geschuldet, wonach diese stärker strukturierend als erzählgenerierend angelegt sind (vgl. Friebertshäuser/Langer 2013, S. 439ff.). Die Interviews mit Locoloco und Faradora zeigen jedoch, wie in Kombination mit den Fotografien sehr wohl ein erzählender Charakter hergestellt werden konnte. Zugleich wäre jedoch auch die an Erzählungen beziehungsweise längeren Interviewpassagen orientierte Interviewforschung im weitesten Sinne hinsichtlich der damit vorausgesetzten Anforderungen an die Verbalisierungsfähigkeiten von Interviewpartner/innen zu hinterfragen. Bei den vorliegenden fotografiegestützten Interviews antworten beispielsweise Poldi44 und Viviea Nowak meist knapp, dennoch kommt es zu einer Auseinandersetzung mit den Fotografien und den Fragen/Themen des Leitfadeninterviews.

Grammatik des Sehens

Interviews nicht zum Tragen, weil das Interview von Anfang an darauf angelegt war, das von den Jugendlichen Geäußerte aufzugreifen, vor allem wenn es um Identitätskategorien ging. In den ersten Interviews hatte sich ein Teil der Fragen als ‚stark‘ erwiesen, insofern sie die Jugendlichen zum Sprechen brachten.62 Im Folgenden werden die Interviews daher nicht an den Leitfaden angelehnt rekonstruiert, sondern danach, was in den Aussagen der Jugendlichen für die Frage nach Geschlecht relevant sein könnte. Hier stehen nun die Fragen im Vordergrund, die quer zu den ausgewählten Interviews bezüglich der Fragestellung der Arbeit zur Erkenntnis beigetragen haben. 1. Einleitung/Erzählimpulse 6 3 • Wie war es, eine Woche lang Fotos/Selbstportraits zu machen? • Welches Bild gefällt dir besonders gut/findest du schön? Welches gefällt dir nicht? Warum? 2. Präsenz, Sichtbarkeit und Repräsentation; Sichtbarkeit und Überzeichnung • Bitte beschreibe, was auf den Fotografien/der Fotografie zu sehen ist. • Beschreibe die Fotografie bitte so, als würde ich sie nicht sehen oder wir würden telefonieren. • Kann man das erkennen, auch wenn man die Geschichte/den Kontext der Fotografie nicht kennt? • Fehlt etwas in den Fotografien? • Können Fotografien Wirklichkeit zeigen?64 3. Subjekt, Spur, Sein; Mimesis, Gegenwart und Verlust; Zeit und Spur • Welches Bild würdest du auswählen, um einem neuen Brieffreund/einer neuen Brieffreundin zu zeigen, wer du bist? Warum? 62 | Dabei ist die zu Beginn der Untersuchung getroffene Entscheidung für das Format eines Leitfadeninterviews sowohl wissenschaftsbiographisch wie geschichtlich in das spezifische sozialwissenschaftlich geleitete Verständnis erziehungswissenschaftlicher Forschung einzubetten. 63 | Kursiv sind die theoretischen Anlässe der Fragen gekennzeichnet. 64 | Die Frage nach der ‚Wirklichkeit von Fotografien‘ führte ich nach einem Pretest des Leitfadens mit einer Besucherin eines Jugendzentrums ein. Die Interviewpartnerin hatte darin den Wirklichkeitsgehalt von Fotografien in Zweifel gezogen.

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• Könnte die Fotografien auch jemand anderes gemacht haben? Könnte auch ein Junge/Mädchen65 die Fotografien gemacht haben? • Macht man etwas, weil man jemand Bestimmtes ist oder ist man jemand, weil man bestimmte Dinge tut? • Was hast du gemacht, um so auszusehen wie auf der Fotografie? • Du hast vorhin darüber gesprochen, dass ihr in einer besonderen Situation lebt, kann man das in den Fotografien sehen? 4. Geschlecht und Generation • Du hast vorhin gesagt, da sei ein Junge/Mädchen zu sehen, woran erkennt man das? • Muss man etwas dafür machen, um wie eine Frau/ein Mann auszusehen? Was? • Du hast vorhin gesagt, da sei ein Jugendlicher/eine Jugendliche zu sehen, woran sieht man das? • Wären die Fotografien anders, wenn ein Junge/ein Mädchen sie gemacht hätte? 5. Grenzen, Außen-Innen (Oberfläche?), Zitieren, Überschreiten, Ideal, Normen, Verbote, Erlaubnis • Woher kommen die Vorstellungen, was richtig oder falsch ist?/Du hast vorhin von normal/Norm gesprochen. Was heißt das? 6. Differenzen, Zweifel an Dichotomien • Stell dir vor, der Fotografie gegenüber hinge das Gegenteil, wie sähe das aus? 7. Codes, Chiffren, Normen, Ideale, Differenzen, Verschiebungen, Spuren • Hat die Gesellschaft Einfluss auf die Selbstdarstellung/auf richtig/falsch? Ziel war zunächst, Identitätskategorien (in Butlers Sinne) nicht selbst in die Interviews einzubringen, sondern solche identitären Selbstbeschreibungen, sobald sie von den Interviewten eingebracht wurden, wieder aufzugreifen (s. Punkt 4). Nach den ersten Interviews ging ich teils dazu über, dennoch nach 65 | Ob diese und weitere geschlechtsbezogene Fragen gestellt wurde, war jeweils davon abhängig, ob die/der Interviewpartner/in sich selbst im Interview als Junge/Mädchen bezeichnete.

Grammatik des Sehens

Geschlecht zu fragen, um Vergleichbarkeit herstellen zu können. An dieser Stelle zeigt sich, dass nicht nur die theoretische Verortung der Erhebungsanlage in Butlers Verständnis von Geschlecht und Identität das fotografiegestützte Interview beeinflusste. In dem Versuch, Vergleichbarkeit herzustellen oder an einem Leitfaden entlang zu fragen, äußert sich zudem der ‚Wunsch nach Methode‘. Dieser ist durch ein Wissenschaftsverständnis geprägt, wie es als sozialwissenschaftliches in der Methodenlehre der Triade Erziehungswissenschaft-Soziologie-Psychologie66 im früheren Diplom-Pädagogik-Studiengang zusammenfällt und in einem Teil der Bezugswissenschaften der Erziehungswissenschaft Ausdruck findet. Auch das ist geschichtliche und wissenschaftsbiographische Bedingung der vorliegenden Erhebung. Im Zuge des gewendeten erkenntnistheoretischen Rück-Blicks verliert der Leitfaden und dieses Denken jedoch an Bedeutung, sie wird abgegeben zugunsten ‚unmöglicher Methode‘. In der in den folgenden Kapiteln durchgeführten Iteration der Interviews als Grammatik des Sehens drängen sich bestimmte Interviewpassagen auf. Sie kommen immer wieder zur Sprache, als gebe es eine besondere Dichte in diesen Passagen, die andere Momente zurücktreten lassen. Der Versuch, empirisches Material – und speziell solche Passagen – durch Vergleichbarkeit und Standardisierung handhabbar zu machen, entreißt es seinen Bedingungen, die immer ‚anders‘ sind. Dieses Andere in Zeit und Raum taucht in den Fotografien und in den von den Jugendlichen aufgebrachten Themen (z. B. Gefühl oder Stigmatisierung) in der Erhebung wieder auf. Seine Wahrnehmung ist jedoch keine „Evidenz der Erfahrung“ (Scott 1991), sondern selbst durch die geschichtliche Bedingung bedeutend, zu denen die Relevanz der Fragestellung wie diese selbst gehört.67 66 | Der genannte interdisziplinäre Zusammenhang steht in Verbindung mit der geschichtlichen Entwicklung der erziehungswissenschaftlichen Disziplin, insoweit das Erkenntnispotential philosophischer Theorie hinter einem sozialwissenschaftlich orientierten Verständnis des Verhältnisses von Theorie, Empirie und Methode zurückstecken musste (vgl. Casale 2011, S. 50). Dies war Folge einer „doppelten Operation“, wonach die philosophische Theorie „erstens durch die Annahme des rational-kritischen Modells von Wissenschaftlichkeit und zweitens durch die unmittelbare Identifikation der philosophischen Theorie mit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ (ebd.) verdrängt wurde. Laut Casale ist es in der empirischen Bildungsforschung zu einer „Radikalisierung des Kritischen Rationalismus“ gekommen, der den „Rest der sozialwissenschaftlichen Erziehungswissenschaft unter den Druck einer empirischen oder empiristischen Legitimierung seiner Forschung oder Argumentation“ (ebd., S. 49) geraten lässt, wovon auch die Allgemeine Erziehungswissenschaft betroffen sei. Dabei orientiert sich das Popper’sche rationalistisch-kritische Modell an den Naturwissenschaften (vgl. ebd.). 67 | Vgl. dazu auch Becker-Schmidts (2003) Diskussion des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in der kritischen Theorie bei Adorno gegenüber dem postmodernen Entwurf Haraways:

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Wird die Wahrnehmung in einer sinnlich-intelligiblen Gleichzeitigkeit verstanden, „ist nicht ausgeschlossen, dass aufgrund von unerwarteten Widerfahrnissen das Ziel des Weges nicht erreicht wird“ (Meyer-Drawe 2008, S. 539).68 Bereits in der Antike wird zwischen dem sinnlichen Wahrnehmen und dem denkenden Erkennen unterschieden (vgl. ebd., S. 540ff.). Die Wahrnehmung ist jedoch Voraussetzung für das denkende Erkennen. In der weiteren theologischen und erkenntnistheoretischen Entwicklung gerät die sinnliche Wahrnehmung allerdings in Verruf. Sie wird als leibliche Verwirrung gegenüber einem „reine[n] Denken“, das „absolut sicher[e] Erkenntnis“ (ebd., S. 543) verspricht, abgewertet. Die geschlechtliche Dimension in dem so verstandenen Verhältnis von Sinnlichem und Intelligiblem ist naheliegend: Der vom körperlichen Empfinden unabhängige Geist erkennt die Welt, wobei auch die Emotionen nur stören würden. So verdeckt die Vorherrschaft des Denkens letztlich die Dinge (vgl. ebd., S. 54369). Die Interviewsituation, das pädagogische Setting und die gemeinsame Fotografiebetrachtung haben für die befragten Jugendlichen wie für die Interviewerin eine – mit Meyer-Drawe – aisthetische Dimension. Einleuchtend erscheint dies angesichts der Fotografien. Jedoch kommt im wiederholten Lesen der Interviews die sinnlich-ästhetische Seite der Gesprächssituation selbst sowie der Inhalte und Themen, die die Jugendlichen einbringen, zum Tragen, insbesondere durch die Widerstände der Jugendlichen in der InIn Adornos Perspektive sei erst von Erfahrung zu sprechen, wenn etwas „uns im Bewußtsein aufstört“, aber „nicht gleich wieder verdrängt, sondern verarbeitet und ins Gedächtnis aufgenommen wird“ (ebd., S. 7, FN 4). Diese Bedeutungsgebung sei für Adorno geschichtlich-gesellschaftlich vermittelt, für Haraway hingegen ein ahistorischer, semiologischer Prozess im Wissensspiel der Forschenden (vgl. ebd., S. 24). In Becker-Schmidts Diskussion der beiden Kritiken am Subjekt-Objekt-Verhältnis wird ein Dilemma deutlich, das auch in Irigarays und Schlüpmanns Frage nach dem Ausschluss des (weiblichen) Körpers beziehungsweise Leibes problematisiert wird: Wie können leibliche Erfahrung und generationale und geschlechtliche Differenz nicht verdrängt und zugleich in ihrer geschichtlichen, sprachlichen, philosophischen und psychischen Abhängigkeit gedacht werden? Indem die vorliegende Arbeit in einem sinnlich-intelligiblen Zwischen verbleibt, werden weder Körper noch Sprache als ‚ursprüngliche‘ Lösung vorgeschlagen. Es geht vielmehr darum, die Differenz in ihrer irritierenden, sich entziehenden Dimension und zugleich in ihrer Vergegenständlichung wahrzunehmen. Ich danke Ricarda Biemüller für den Hinweis auf Becker-Schmidts Text. 68 | Käte Meyer-Drawe geht bezüglich der Wahrnehmung von einem antiken Verständnis (aisthesis) aus; die Wahrnehmung geht mit einem „Widerfahrnis“ einher, verstanden als „eine gewisse Auslieferung des Menschen an seine Welt, welche er nicht ohne Rest in Beherrschung umwandeln kann“ (Meyer-Drawe 2008, S. 539). 69 | So analysiert auch Irigaray die gesellschaftliche und ökonomische Ordnung als eine, in der die „symbolischen und imaginären Produktionen“ (Irigaray 1979/1977, S. 178) die körperlichen Produktionen und damit auch ihre Wahnehmung überlagern.

Grammatik des Sehens

terviewsituation. Die Jugendlichen unterlaufen die Fragen nach den Normen und nach der Sichtbarkeit, indem sie beispielsweise nicht antworten oder mit Aussagen über Gefühle und Autobiographisches reagieren. Die Fragen nach den diskursiv-performativen Bedingungen, der Oberfläche, werden so mit der empirischen – d. h. geschichtlichen und sinnlichen – Erfahrung der Jugendlichen konfrontiert. Diese Erfahrung wird nicht als ‚Letztbegründung‘ verstanden (vgl. Scott 1991), sondern gewinnt eine eigene Vergegenständlichung in Form des geschichtlichen Geschehens, den Empfindungen der Jugendlichen oder der (auto-)biographischen Erzählung selbst. Darüber hinaus zeigen die miteinander verwobenen Text- und Fotografieanteile des erhobenen Materials, wie eine ikonographisch-ikonologische Analyse aufgrund unterschiedlicher bildkultureller Repertoires bei Interviewerin und Interviewten beziehungsweise Fotobefragten gegebenenfalls scheitern würde. Während entsprechende Interpretationen von Fotografien die Alltagsinterpretation auszuklammern suchen (vgl. Fuhs 2007, S.  211), wurden die fotografiegestützten Interviews mit den Jugendlichen zu Gesprächen gemeinsamer Deutung der von ihnen angefertigten Fotografien. Das heißt, die Widerfahrnis des Empirischen (von Geschichte, Methode, Sprache, Erhobenem und Körper) in den Interviews und Fotografien macht die Standardisierung eines Leitfadens ohnmächtig.70 Zugleich ist die Standardisierung von Leitfäden eine Form der verdinglichenden Herrschaft der Methode gegenüber der Theorie und Praxis. Der Leitfaden ist Bedingung der sinnlich-intelligiblen Zeichen in Fotografien und Interviews, aber er hat – aus der Perspektive der unmöglichen Methode – an ‚leitender Funktion‘ verloren. Im Folgenden geht es darum, statt auf Kontrolle zu zielen, die Angewiesenheit in der Betrachtung von Fotografien und Interviews anzuerkennen.

70 | Somit sind die Interviews nicht der Ort, „an welchem die Analyse die Kategorien zu generieren hat“ (Windheuser 2012, S. 64). Die Kategorien sind auch weder in sich ursprünglich noch sind sie diskursive Effekte. Sie sind empirische Zeichen in Zeit und Raum und zwischen Natur und Kultur.

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3.4 G eschlecht in Z eit und R aum : E in unheilbares D oppeltsehen

Abb. 1: Faradora 1 71

Die Fotografien und die Interviews in einem angewiesenen ‚Zwischen‘ von Aktivität und Passivität wahrzunehmen, geht mit der Aufgabe einher, doppelt zu sehen. Will man das Vorgehen im Modus des Methodischen betrachten, ist dieses von der existentiellen Erfahrung der ‚unmöglichen Methode‘ gezeichnet. Die Forschung selbst ist ebenso wie ihr Gegenstand gespalten, was durch die folgenden Verdopplungen wiederholt evoziert wird. Die Dekonstruktion liegt in der kontrapunktischen Lektüre der Untersuchung selbst, was dazu führt, sie Phantasmen einer unmittelbaren Evidenz zu entreißen und zugleich entsprechende gängige Verfahren methodischer Kontrolle zu entlarven. Das doppelte Sehen betrifft sowohl die beiden Materialien Fotografie und verschriftlichtes Interview als auch ihre Erhebung. Darin kommt die grammatische Dimension des unheilbaren Doppeltsehens zum Tragen: Das Sehen und Lesen der fotografiegestützten Interviews ist nicht nur wissenschaftliche Analyse von etwas ihr Äußerem, sondern selbst ebenso geordnet 72 . Im ‚kontrapunktischen Lesen/Sehen‘ tritt diese Dopplung von zeichenhafter Empirie und empirischem Zeichen auf (vgl. 3.).

71  | Soweit eine vollständige Abbildung des Gesichts auf den Fotografien es notwendig macht, sind die Fotografien durch Balken anonymisiert. Diese Veränderung schränkt zwar die Betrachtung der Fotografien ein, ist jedoch rechtlich und im Sinne der Jugendlichen unumgänglich. 72 | Das Verfahren folgt damit auch einer ästhetischen Theorie wie Schlüpmann sie in ihrer „Ästhetik am Leitfaden der Liebe“ – Nietzsches „Leitfaden des Leibes“ überschreibend – entwickelt, in der Methode und Gegenstand ineinanderfallen ohne unkenntlich zu werden.

Grammatik des Sehens

Die Erhebung zum Gegenstand der Analyse zu machen, erfordert die Rückkehr zu ihren Voraussetzungen: Wie wurden die Kategorie Geschlecht und ihre Bedingungen untersucht? Was waren ihre Voraussetzungen und wie fanden sie Eingang in die Erhebung (vgl. 3.3)? Zudem stellt sich die Frage, wie die Erhebung in der Revision durch die unmögliche Methode 73 gespalten wird und zugleich das Erhobene und damit auch die subjektive Erfahrung der Jugendlichen Methodologie und Erkenntnistheorie dazu zwingen, ihre Wahrnehmung als eine in der Differenz zuzulassen. In der Rückschau ist die Präsenz des Gegenstandes nachträglich (vgl. 2.1.1). Zu den geschichtlichen Bedingungen der Fotobefragung und der Interviews zählen sowohl die in Kapitel 1 dargestellte geschichtliche Verbindung von Geschlecht und Heimerziehung als auch die insbesondere in den Kapiteln 1.3 und 2.2.1 verdeutlichten geschlechtertheoretischen Voraussetzungen. Wie in den genannten Kapiteln deutlich wurde, unterliegt die Untersuchung der Kategorie Geschlecht der Annahme, dass die Unterdrückung qua Geschlecht und deren Bedingungen auf die Metaphysik als Ordnung wissenschaftlichen Denkens (vgl. 2.1.1) angewiesen ist. Diese Angewiesenheit wahrzunehmen, verhilft paradoxerweise zu deren Dekonstruktion. Die Interviews und Fotografien werden im Folgenden daraufhin untersucht, wie Geschlecht durch metaphysisch-phallogozentrische Herrschaft eingesetzt und ermöglicht wird, zugleich aber die Wahrnehmung von Angewiesenheit das Andere, Zeit und Raum in das Seiende einbrechen lässt. Die sexuelle Differenz sucht durch diese sinnlich-intelligible 74 Wahrnehmung die erstarrte zeitlich-räumliche Fixierung im Seienden der phallogozentrischen Ordnung als Muköses, Masse oder in Form der différance 75 heim und ist darin dennoch bedingt durch die Ordnung der Metaphysik (vgl. 73  |  An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass die unmögliche Methode nicht als Methode zu verstehen ist. Sie ist eine Perspektive, aus der Methode als unmöglich zugänglich wird.

74  |  In Irigarays Betrachtung des (phallozentrischen) philosophischen Denkens trennt „eine unaufhebbare Spaltung [...] Intelligible[s] und Sinnliche[s], die niemals beide auf derselben Seite [...] der Repräsentation [sein werden]“ (Irigaray 1980/1974, S. 432). 75  |  Muköses, Masse und différance sind dabei nicht gleichzusetzen. Insbesondere die différance ist nicht ‚in‘ dem Material zu ‚identifizieren‘, sie ist eher die der Metaphysik inhärente ‚Voraussetzung‘ der Dekonstruktion, weil sie die unaufhörliche Stiftung von Differenz betrifft. Das Muköse beschreibt die geschlechtlich geordnete Angewiesenheit beziehungsweise zugleich den Umgang damit, indem versucht wird, sich diesem Anhaftenden zu entledigen. Mukös ist, was die absolute Unterscheidung gefährdet. Der Masse steht aus der Perspektive einer ‚Ohnmacht in der Masse‘ ebenfalls für ein Moment, das die simple Addition Einzelner zu durchbrechen vermag, weil sie dazu befähigt, die Angewiesenheit wahrzunehmen und durch diese Wahrnehmung ein anderes Subjekt hervorbringt. Weder das Muköse noch die Masse sind im Material beispielhaft zu ‚identifizieren‘, sondern verhelfen dazu, die geschlechtliche Ordnung zu konturieren.

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2.2.2 und 2.2.3). Insofern wird die in den Fotografien und Interviews mittelbare Wahrnehmung von Erforschten und Forscherin zu einer mehrfach angewiesenen. Die so erzeugte Dekonstruktion aus der Ohnmacht heraus ist insbesondere aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft und feministischer Theorie möglich, weil beide die unumgängliche Angewiesenheit im Generationalen und Geschlechtlichen zum Gegenstand haben. Indem der Rückblick auch die erziehungswissenschaftliche Perspektive und deren Zusammenhang mit der Kategorie Geschlecht betont, erweitert sich die Arbeit um die Kategorie der Generation gegenüber der Fragestellung zum Erhebungszeitpunkt. Das Unterfangen, die Erhebung – als empirisches Material – zu untersuchen, läuft Gefahr, diese dem Sein, der Geschichte als Geschehen zu entreißen und einer Schließung zu unterwerfen. Zugleich stellen die folgenden Überlegungen eine Iteration der Fotografien und des verschriftlichten Interviews dar und spalten – wie die Fotografien und Interviews selbst – erneut den Referenten (vgl. Laner 2013, S. 143). Die Fotografien ebenso wie die Interviews zeugen bereits von der „Unmöglichkeit der eindeutigen Wieder-Holung eines Ereignisses“ (ebd., S.  128f.). Es besteht ein „Abgrund zwischen dem aufgezeichneten Augenblick und dem Augenblick des Anschauens“ (Berger 2016/1982, S. 92), der eine Doppelung in der Betrachtung hervorruft. Indem die Fotografien zunächst die Zeit räumlich zu fixieren scheinen, zeigen die Interviews auf, dass das Doppeltsehen unheilbar ist, weil auch die Sprache der Interviews den Fotografien ihre Zeit nicht im idealen oder totalen Sinne ‚zurückgeben‘ kann. Die Verknüpfung von Fotografie und Interviewtext bleibt in der Iteration different. Der ästhetischen Form nach ist der Umgang mit dem Material durch ein mehrfaches ‚Sehen‘ gekennzeichnet, indem Fotografien, Interviewpassagen und erneutes verschriftlichtes Sehen und Lesen in der Materialuntersuchung miteinander konfrontiert werden. In ihrem fotografischen Essay „A Seventh Man“ über europäische Arbeitsmigranten in den 1970er Jahren schreiben John Berger und Jean Mohr, die Fotografie von Angehörigen in der Jackentasche eines Mannes umreiße eine Abwesenheit. Dagegen arbeiteten die Fotografien in ihrem Buch in die gegenteilige Richtung (vgl. Berger/Mohr 2010/1975, S.  20f.). Die Autoren strebten an, einer Realität – die der Arbeitsmigration – eine Anwesenheit in der Wahrnehmung zu geben. In der vorliegenden Verbindung der Fotografien, des Interviewtextes und dem dekonstruierenden Schreiben im Nachgang finden sich Elemente eines fotografischen Essays, aber die Annahme von unmöglicher Methode und unheilbarem Doppeltsehen bringt die An- und Abwesenheit zugleich hervor.76 Die vorliegende Untersuchung unterscheidet sich in zwei Punkten we76  |  35 Jahre nach dem ersten Erscheinen resümiert John Berger im Vorwort der Auflage von 2010, das Buch habe damals im ‚Westen‘ kaum Resonanz erfahren und sei vor allem in den ehemaligen Herkunftsländern der Migranten beziehungsweise in den ehemaligen Kolonien

Grammatik des Sehens

sentlich von einem fotografischen Essay, wie Berger und Mohr es anstreben, insofern die Fotografien der Jugendlichen erstens weniger narrativ angeordnet und betrachtet werden und zweitens durch die Anlage der Erhebung nicht von einem sozialdokumentarischen Vorgehen ausgegangen werden kann. Darin liegt auch die Lücke der Arbeit, weil der Versuch, die Fotografien zunächst als Ausdruck von Normen zu betrachten, die Bedingtheit des Dargestellten ausschloss. Allerdings kann die Aufgabe aus der feministischen Theorieperspektive nicht darin bestehen, diese Lücke der Bedingungen in Form empirischer ‚Belege‘ zu schließen. Als ‚Zwischen‘ hat sich die theoretische Arbeit vielmehr dem „Überschuss“, der „Logik [...] der hierarchischen Geschlechterordnung“ (Casale 2013, S. 17) zu widmen. Darüber hinaus bricht die Iteration von Fotografien und Interviewpassagen in der Auseinandersetzung mit dem Material mit der Linearität im genannten Fotoessay.77 Wie in den Kapiteln 3.1 und 3.3 dargestellt, war die Anlage der Erhebung gendertheoretisch und an sozialwissenschaftlichen qualitativen Verfahren orientiert (vgl. Windheuser 2011; 2012). Deren geschichtliche Bedingung ist zum einen die im Vorwort bereits angesprochene erziehungswissenschaftliche Rezeption Butlers und zum anderen das in Kapitel 2 dargestellte Verhältnis von Theorie, Empirie und Praxis. Die Iteration in der Rück-Schau aus einer Perspektive der unmöglichen Methode ver-rückt die Anlage der Erhebung und das Erhobene in einen anderen Kontext. Die Interviews und die Fotografien sind nicht mehr Dokumentationen sprachlicher und körperlicher Performanz und Konstruktion, sondern Zeichen im Sinne der materiellen Verwiesenheit und Iteration im Sein. Das heißt weiterhin, dass sie unentschieden zwischen Natur und Kultur bleiben und ihr Kontext nicht individuell-biographisch, sondern geschichtlich zu verstehen ist.78 Diese Spalte in der Identität des Referenten wie gelesen worden. „A Seventh Man“ (2010/1975) wurde u.a. ins Türkische, Griechische, Arabische, Portugiesische, Spanische und Punjabi übersetzt. Berger und Mohr verfolgten keine Dekonstruktion, wie ich sie methodologisch begründe, aber in der Geschichte von „A Seventh Man“ deutet sich die Ordnung des Einen und die Erfahrung der Ohnmacht in ihr an: Die Verquickung von soziologisch motiviertem Text und individuellen Fotografien hat der Erfahrung von Raum und Zeit der Migration zu einer Präsenz verholfen. Diese Präsenz bedeutete kein Eindringen des Empirischen – d. h. der Erfahrung realer Menschen – in die Logik der nach Arbeitskraft verlangenden Industriestaaten, förderte aber das Selbst-Bewusstsein derjenigen, die die Ohnmacht erfahren haben – als Migrierende oder Zurückgelassene. 77  | Die drei Teile von „A Seventh Man“, „Departure“, „Work“ und „Return“ (Berger/Mohr 2010/1975), erwecken in ihrer chronologischen Anordnung und Titelei den Eindruck einer entsprechenden zeitlichen Abfolge. 78 | Das Biographische wird somit nicht negiert, sondern ebenfalls geschichtlich-geschehend verstanden; d. h. auch die ‚Produkte‘ der Jugendlichen sind möglich durch die geschichtliche Bedingtheit (vgl. 3.2.3).

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seiner vermeintlichen Repräsentation machen die Uneindeutigkeit aus, der eine Grammatik des Sehens zu folgen hat. In der folgenden Darstellung – die hier knapp vorweggreifend eingeführt werden soll – betrifft die Spaltung erstens die Ebene der Methode und das darin verortete Verhältnis von Empirischem und Zeichen. In einem Sehen und Sprechen zwischen Subjekt und Objekt (3.4.1)79 wird deutlich, wie Methode und Objekt zusammengehören und eine solche Betrachtung auch das Subjekt-Objekt-Verhältnis im Forschungsprozess beeinflusst. Die Verbindung von Körper und Zitat lässt in der gleichzeitigen Betrachtung von verbalen und visuellen Zitaten die sinnlich-intelligible ‚Eigenheit‘ des Körpers hervortreten. Zeichen und Empirisches brauchen einander und sind miteinander verwoben, was in den Interviews teils zu umgehen versucht wird. Der Zusammenhang von Verlust und Überschuss, Identität und Geschehen eröffnet einen Blick auf einen doppelten Charakter des Empirischen im fotografiegestützten Interview: Seine Fähigkeit, auf etwas ihm Äußerliches zu verweisen, ist für die Jugendlichen wie für die Erhebung zugleich Stärke und Verlust. Daran anschließend werden zweitens die fotografiegestützten Interviews als unheilbares Doppeltsehen von Geschlecht und Heimerziehung betrachtet (3.4.2): Was sind die Bedingungen für die Wahrnehmung von Geschlecht und Heimerziehung und wie geht die Geschichte von Geschlecht und Heimerziehung in die fotografiegestützten Interviews ein? Dabei handelt es sich um ein unheilbares Doppeltsehen, weil die Grammatik der geschichtlichen wie metaphysischen Zitate und Spuren ein isoliertes Empirisches oder die Individualisierung der Erfahrung von Heim und Geschlecht verunmöglichen. Damit sind die visuellen wie sprachlichen Selbstdarstellungen der Jugendlichen konkret als das bedingte Empirische zu verstehen, in dem ein schließendes Denken auch aussetzen kann.80 Wird der feministisch-genealogisch rekonstruierte Zusammenhang von Geschlecht und Heimerziehung berücksichtigt, zeigt sich in den fotografiegestützten Interviews, wie diese ebenfalls durch die Gegenwär79  |  In diesem und dem folgenden Absatz sind kursiv die jeweils herausgearbeiteten Unterpunkte benannt.

80 | Das heißt auch, dass das Konkrete sich keineswegs in der individualisierten Deutung erschöpft. Das Empirische als simplen – d. h. unbedingten – Ausdruck des Konkreten zu verstehen, wäre aus der beschriebenen Perspektive fatal. Es würde nicht nur nicht zur Analyse, sondern nicht zur Erkenntnis beitragen; oder wie Didier Eribon schreibt: „[...] droht jede Soziologie oder Philosophie, die den Standpunkt der ‚Akteure‘ mit ihren ‚Sinnattributionen‘ in den Mittelpunkt stellt, zur bloßen Mitschrift jener unreflektierten Beziehungen zu werden, die die sozialen Agenten zu ihren eigenen Praktiken und Wünschen unterhalten, zu einer simplen Fortschreibung der Welt, wie sie [vermeintlich wie in ihrer verobjektivierten Form; JW] ist, zu einer Rechtfertigungsideologie der bestehenden Verhältnisse“ (Eribon 2016/2009, S. 45).

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tige Geschlechterpolitik als Bedingung beeinflusst sind. Die geschichtliche Spur der Hysterie, im Sinne einer Orientierung von Sexualität an Besitz und Herrschaft, bei gleichzeitiger Abwertung weiblicher Sexualität, verschiebt den Verwahrlosungsbegriff unter seinen aktuellen Bedingungen. Dabei unterliegen neben Geschlecht auch Klasse und Kultur (bzw. ‚Rasse‘/Nation) einem Maßstab des Einen. Das Eine erneuert sich wiederholt durch die Abgrenzung des ihm Peripheren, wozu Frauen, Kinder, geschlechtliche Uneindeutigkeit wie auch Homosexuelle und ‚Asoziale‘ gehören. Werden Generation, Familie und Heim gemeinsam berücksichtigt, wird der Umgang damit in Form von Bezogenheit, Schließung und Tabu zur Sprache und nicht zur Sprache gebracht. Dabei verwischen zum einen familiäre, freundschaftliche und professionell-pädagogische Beziehungen, zum anderen wird entsprechende Angewiesenheit abgelehnt. Die zuschreibungsvermeidende Haltung in der Erhebung selbst und die geschichtliche Bedingung des Heims in der Verwechslung von Autorität und Herrschaft (in der Ausübung von Gewalt wie in der Kritik daran) sind Ausdruck der mangelnden Thematisierung des Generationalen. Die Kategorie Geschlecht berücksichtigend, bleibt besonders bezüglich der Mutter eine Leerstelle. Vorweggreifend kann davon ausgegangen werden, dass die Auseinandersetzung mit der Erhebung in der rückblickenden Bewegung weiterhin dazu auffordert, pädagogische Verhältnisse und ihre Erforschung im Hinblick auf die ihnen inhärente wie sie bedingende geschlechtliche Ordnung und auf das darin eingebundene Verhältnis zu Angewiesenheit zu betrachten. Der Rückblick verweist auf die Verluste, welche eine die eigene Bedingtheit und Angewiesenheit leugnende Subjektorientierung und eine Reduktion des Geschlechtlichen auf eine diskursive Konstruktion hervorbringen können. Es geht um das, was in der Metaphysik (des Einen) geleugnet werden muss, um eine vermeintliche Präsenz hervorzubringen (vgl. 2.1.2).

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3.4.1 Sehen und sprechen zwischen Subjekt und Objekt Die Fotografie ist die Möglichkeit einer Wiedergabe, die den Zusammenhang wegschminkt. B ertolt B recht (2010/1930, S. 44; H erv. i .O.) Fotografie ist ein Prozess, durch den die Wahrnehmung sich selbst reflektiert. J ohn B erger (2016/1968, S. 37)

Wird das Verhältnis von Empirie und Zeichen im methodischen Vorgehen der Erhebung in den Blick genommen, spalten im ‚unheilbaren Doppeltsehen‘ Zeit und Raum die empirische Forschung. Die Verdopplung betrifft den Gegenstand, der dann nicht mehr reduziert ist auf erhobene ‚Daten‘, sondern ebenfalls die Methode umfasst. Die Methode ist damit empirisch und konstituierend 81 für das Empirische, das als Fotografie- und Interviewmaterial vorliegt. Es geht darum, das methodische Vorgehen zu objektivieren, es zum Gegenstand der Analyse seiner geschlechtlichen Ordnung zu machen und so als geschichtliche Bedingung der Erhebung wahrzunehmen. Damit wird die Annahme einer in der Fotografie oder im transkribierten Interview präsenten Identität unterlaufen (vgl. 2.1.1). Zudem verdoppelt die Kontrastierung von Fotografien – das heißt auch von Körpern, fixiert in Fotografien – mit den Interviews das Empirische und Zeichenhafte. Diese Verdopplung ist eine mehrfache, sie bleibt nicht bei ‚zwei‘ stehen. Indem die Jugendlichen sich selbst fotografierten, fixierten sie, was ihnen als leibliche Erfahrung zugänglich war in Körper-Fotografien. Dies wurde im Interview erneut verdoppelt beziehungsweise gemehrt: Einerseits, weil die Fotografien nun von zwei Personen betrachtet wurden, andererseits, weil in der Betrachtung der Fotografien die leibliche Erfahrung zurückkehrte. In den Interviews kam es zu „Gespräche[n] im Angesicht der Bilder, [...] also in der triadischen Relation von Sehenden und Sprechenden in Bezug auf das präsente Bild“ (Krautz 2016, S.  736f.; Herv.i.O.).82 Dabei wurde der vergangene Leib nicht wieder-ge81 | Dass die Methode konstituierend für das Empirische ist, bedeutet nicht, dass sie Ursprung des Empirischen ist, vielmehr ermöglicht sie neue Objekte (in dem Fall die Fotografien und Interviewtexte), die etwas der Methode Vorgängiges in sich tragen. Die Methode ist also weder autonom gegenüber dem Objekt noch lässt sie das Objekt unberührt. 82 | Jochen Krautz’ Beschreibung bezieht sich auf „Situation und Bildungsziel“ (Krautz 2016, S. 736) der kunstpädagogischen Didaktik. Das im Kunstunterricht stattfindende Gespräch über ein Bild – die „geteilte Aufmerksamkeit“ (ebd., S. 747) – stellt dabei ein ähnliches Setting wie das fotografiegestützte Interview in der vorliegenden Arbeit dar. Ein

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holt/wiederholt und auch nicht willkürlich aktualisiert; die erneute leibliche Erfahrung war vielmehr geschichtlich bedingt und zwar durch die Betrachtung des seinerzeit fotografierten, fixierten Körpers. Das Objekt – der Körper in der Fotografie – ist nicht nur Gegenstand der Betrachtung, er haftet dem betrachtenden Subjekt an und erinnert die momentane leibliche Erfahrung an ihre Geschichte. Eine ideale Präsenz der Identität wird dadurch gestört (vgl. 2.1.3). In dieser sinnlichen Erfahrung kommt ein muköses Verhältnis von Subjekt und Objekt auf, weil eine absolute Unterscheidung durchbrochen und durch ein relationales Verhältnis ersetzt wird (vgl. 2.2.2). Zudem tritt die zeitliche Eigenheit von Fotografien hervor, erinnern zu können, wobei die Erinnerung wiederum erst in der Verbalisierung der Befragten zur Vergangenheit wird. In beiden Verdopplungen – der Methode als Objekt und der Verkörperung (in) der Fotografie – sind Forschungssubjekt und Forschungsobjekt wiederholt an- und abwesend: Erstens, weil die Methode nicht mehr ‚objektive‘ Betrachtung eines ihr äußerlichen Objekts ist, was das Forschungssubjekt vermeintlich autonom erscheinen ließe, sondern als verkörpertes und verkörperndes Zeichen zum Objekt wird. Zweitens weil die Erforschten sich in der Betrachtung der Fotografien als Objekte betrachten und darüber wiederholt an Subjektstatus gewinnen.83 Im „Bildgespräch“ kommt es zu einer „Bewegung zwischen den Polen, die das Objektive subjektiv macht und das Subjektive obzentraler Unterschied liegt jedoch im Bildungsanspruch, insofern der Kunstunterricht (in Krautz’ hermeneutischer Herangehensweise) das gemeinsame Ziel des Verstehens in der Unterrichtssituation setzt, was auch danach verlangt, in diesem Geschehen die kulturellen Vorverständnisse zu explizieren (vgl. ebd., S. 744). In der vorliegenden Untersuchung kommt es zwar zu solchen Momenten gemeinsamer Deutung, aber die Grammatik des Sehens und Sprechens der Bilder erfolgt retrospektiv im Schreiben der Arbeit beziehungsweise folgt weniger der von Krautz beschriebenen kunstpädagogischen Aufgabe als dem Forschungsinteresse. Die Berücksichtigung des Geschichtlichen ist im vorliegenden Vorgehen nachträglich und nicht im Bildgespräch des Interviews integriert. Die Erzählenden haben zwar – wie Becker-Schmidt für biographische Interviews festhält – die Expertise für ‚ihre Geschichte‘ inne, doch bleibt die geschichtliche Rekonstruktion „Aufgabe der Forschenden“ (Becker-Schmidt 1994, S. 175). 83 | Der Subjektstatus ergibt sich gerade daraus, dass der eigene Objektstatus in der Forschung wahrgenommen wird. Die vorliegende Arbeit entkommt einer die Untersuchenden „verdinglichende[n] Realität“ (Becker-Schmidt 1985, S. 95) nicht. Das kann auch nicht Ziel der Arbeit sein: Der Subjektstatus ist davon abhängig, in eine „sachlich-gegenständliche Beziehung“ (ebd.) zu sich zu treten, sich in den Verhältnissen, die die Individuen zu Objekten machen, zu verorten (vgl. auch 2.1.2). Oder wie Schlüpmann es für die Kinozuschauerinnen formuliert: „Sie machen eine neue Erfahrung, eine Erfahrung der Selbstwahrnehmung in ihrer Ohnmacht [...]“ (Schlüpmann 1998, S. 54). Diese Gleichzeitigkeit betrifft sowohl Forschungsobjekt als auch Forschungssubjekt.

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jektiv“ (Krautz 2016, S. 742). Das Bildgespräch ist so betrachtet eine Form der ‚tätigen Deutung‘ unter den genannten Bedingungen.

Methode und Objekt Abb. 2: Locoloco 7

Abb. 3: Locoloco 6 „als würde man selbst angeguckt. Es ist an den gerichtet, der sich selbst ansieht. [...] Es ist einfach hm in diesem Fall sind die Fotos so gesehen an nichts gerichtet. [...] fand ich mal lustig, ein bisschen rumzuspielen. Mit mir selbst so gesehen (Lachen)“ (Locoloco, 00:19:50-7).

Abb. 4: Faradora 1 „Also wenn man so einen geschliffenen Glasstein hat, dann zeigt der auch so viele Spiegelungen und das habe ich da eben mit meinen Augen versucht und hm ja das zeigt eben so ganz viele Facetten an mir, dass ich bestimmte Standpunkte  habe, das es aber auch andere Bereiche gibt, wo (...) andere Menschen mit dazu gehören [...], die für mich auch irgendwie zusammengehören, weil sie mich ergeben mit mir zusammen, aber hm ja wo ich eben teilweise auch ganz unterschiedlich einfach bin“ (Faradora, 00:36:29-8).

Das Medium Fotografie dreht die Verhältnisse um, der Blick fällt auf die Betrachtenden und zugleich ermöglicht die Fotografie den Jugendlichen, sich zu verobjektivieren, als Körper im Bild. Das Objektiv, das ‚sammelnd‘ technisch reelle Abbildungen erzeugt, wird im Spiegel zu einer zwischen Subjekt und Objekt geschalteten Methode. Die Methode ermöglicht erst das Objekt, zugleich lässt das Objekt zu, sich als Subjekt davon abzugrenzen. Indem aber die Fotografie an ‚den gerichtet ist, der sich selbst ansieht‘ wird das betrachtende Subjekt gleichermaßen zu Subjekt und Objekt, wie das betrachtete vermeintlich Empirische. Die gewendete Perspektive des Auges und des Objektivs lässt das Subjekt zum Objekt werden – sie veruneindeutigt das Verhältnis. Der Blick fällt durch das geschliffene Glas und die Vervielfältigung hindert daran, den Blick und das Objekt zu fixieren. Methode und ästhetisches Mittel bringen die Materialität der Fotografie hervor, sind ebenfalls tätige Deutungen des Empirischen.

Grammatik des Sehens

Dabei sind die Fotografien kein willkürliches ‚Spiel mit sich selbst‘, sondern in ihnen verselbständigen sich das Motiv und das neue Objekt ‚Fotografie‘: Abb. 5: Faradora 2

Abb. 6: Faradora 3

Abb. 7: Faradora 4

„[...] das ist dann einfach (...) ja so geworden, obwohl ich das eigentlich gar nicht so beabsichtigt habe“ (Faradora, 00:09:56-3). „[Dann hat] eben die Kamera quasi [...] ungünstig was eingefangen [...], so dass das einfach so geworden ist, wo ich so im Nachhinein sagen könnte, das spiegelt mich generell schon wieder, auch wenn es jetzt vielleicht nicht in der Situation so gewesen ist“ (Faradora, 00:10:37-2).

Abb. 8: VNovak 1 „also wie es wird, weiß ich ja vorher nicht, wenn ich die Bilder mache, das weiß man erst nachher, wenn man die Bilder sieht und (...) wenn man so ein bisschen über die quatschen kann. (...)“ (VNovak, 00:30:03-0).

Abb. 9: Locoloco 3

Abb. 10: Locoloco 4 „Und hier halt, so wie ich mich halt albern, verstellt, nicht so ganz Ich bin. Halt unter dem Aspekt so. Sowas mache ich normalerweise auch nicht, also das war glaube ich und hier zum Beispiel auch die Abb. 3 und Abb. 4 sind so wirklich finde ich, so die krassesten Bilder, wo ich sage, das bin nicht ich. Also das bin am wenigsten ich“ (Locoloco, 00:49:05-2).

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Die Erhebungsmethode ist Bedingung des Materials, erst durch die Aufforderung zur Fotografie und zum Interview kommt es zur Iteration von Körper und Bild im jeweiligen Medium, das selbst neue Objekte mit neuer Zeitlichkeit hervorbringt. Einerseits lässt die Fotografie das Empirische eintreten und reproduziert darin vermeintlich dokumentarisch ‚Wirklichkeit‘, weil sie über die jeweilige Abbildung hinausweist – also in den die Fotografie bedingenden Raum. Andererseits markiert die Fotografie einen Kontrollverlust, wenn der abgebildete Körper von den Jugendlichen als etwas abgelehnt wird, was sie nicht seien. Das Ausgeschlossene ermöglicht erst diese Abgrenzung; es bleibt als beunruhigende Voraussetzung (vgl. 2.2.2).

Körper und Zitat Die Fotografiebetrachtung ruft eine Erinnerung an die vergangene leibliche Erfahrung hervor und konfrontiert die aktuelle leibliche Erfahrung mit dem damals fixierten Körper in der Fotografie, sodass ein neues Verhältnis zur eigenen Leiberfahrung erzeugt wird. Die Interviews verweisen auf unterschiedliche, mögliche Verhältnisse zum fotografierten Körper, insofern eine ‚Identität‘, die sich in den Fotografien abbilden ließe, abgelehnt wird oder einer solchen zugestimmt werden kann. Diese ‚Identität‘ und Leiberfahrung entstehen jedoch in einem zeitlichen Verhältnis, das durch die Fotografiebetrachtung erst hervorgerufen wird, indem in der Rückschau eine Selbst-Betrachtung – in zeitlicher Distanz – erfolgt. Diese Spalte von Zeichen und Empirischem – die Fotografie und der in ihr sichtbare und zugleich nur durch sie ermöglichte Körper – lässt die Abhängigkeit der Präsenz von der Repräsentation aufscheinen (vgl. 2.1.1), was von den Jugendlichen in schließenden Beschreibungen zu ‚kitten‘ versucht wird. Die ‚nachträgliche Korrektur‘ ist jedoch von der wahrgenommenen Irritation durch die Dopplung durchzogen: Bei der neuen Erfahrung von Leiblichkeit und Körper durch die zeitliche wie räumliche, fotografisch erzeugte Distanz tritt mittels der Fotografien im Hinblick auf das Geschlecht etwas in das Wahrnehmbare ein, das als verbales Zeichen unausgesprochen bleibt: Abb. 11: Poldi44 1 „Für einen Casanova muss das natürlich ein befriedigendes Gefühl sein: Ach, ich bin ja richtig gut in meinem (...) mir rennen die Frauen hinterher“ (Poldi44, 00:29:20-1).

Grammatik des Sehens

Abb. 12: VNovak 2 „das hätte ja nicht jede Frau machen können (...) wenn ich da jetzt so stehe oder hocke, das heißt ja nicht, dass ich das jetzt jeden Tag mache oder irgendwie auch bei einem (...)“ (VNovak, 01:09:36-1).

Worin ein Casanova gut ist, oder was die Interviewpartnerin ‚irgendwie auch bei‘ was machen könnte, bleibt offen.84 In der Konfrontation von Sichtbarem und Sagbarem tritt vor allem in der Aussage VNovaks etwas Anwesendes in der Fotografie hervor, das aber unausgesprochen bleibt. Das Empirische ist verbal abwesend und zugleich visuell und verbal anwesend. Diese Anwesenheit ist jedoch eine nachträgliche, insofern von VNovak abgelehnt wird, das Motiv für aussagekräftig jenseits der Fotografie zu halten. Die Fotografie zeigt 85 etwas, dem sich VNovak nicht entziehen kann, weil es sich in seiner Anwesenheit nicht beherrschen lässt, zugleich ist dieser ‚Objektcharakter‘ erst in seiner Bedingtheit abzulehnen – als Zitat einer spezifischen Geschlechterordnung. Damit ist die Bedeutung der Abbildung oder dem abgebildeten Körper nicht inhärent, sondern sie ist gerade durch die in der Fotografie enthaltene geschichtliche Spur86 bedeutsam. Die Iteration von spezifischen visuellen wie verbalen Bildern sorgt für den Zeichencharakter des Empirischen und das empirische Zeichen: Für eine andere Fotografie (VNovak Abb. 3) nutzt VNovak die Bezeichnung ‚Stripperin‘, die aber durch ein Wiedererkennen hervorgebracht wird, so dass das Zeichen das Abgebildete überschreitet.

84 | Sexualität und Geschlecht kommen an anderen Stellen in den Interviews zur Sprache (vgl. 3.4.2), vorerst geht es hier um den Status des Zeichens in den zitierten Passagen und Fotografien. 85 | In der folgenden Darstellung der Analyse wird wiederholt auf das Verb ‚zeigen‘ zurückgegriffen. Es handelt sich dabei um ein Problem in der sprachlichen Vermittlung, insofern auch der Versuch, in der sexuellen Differenz zu schreiben oder dekonstruierend zu denken, auf die bestehende Sprache einer Metaphysik der Präsenz angewiesen ist. Zudem ist die Untersuchung der fotografiegestützten Interviews nicht abzulösen von dem zu Beginn der Arbeit leitenden Anspruch qualitativer Forschungsmethoden. In der gewendeten Perspektive unmöglicher Methode bleibt die Aufgabe, die inhärente Spaltung in beidem offen zu halten. 86 | Dabei gibt es keine „letzte Bedeutung der Spur. Die Spur verbirgt soviel [sic] wie sie zeigt, sie zieht sich zurück, macht nicht präsent. [...] Die Spur ist immer ein Verweisen auf andere Dinge“ (Interview Derrida in Rötzer 1986, S. 84).

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Abb. 13: VNovak 3 „ich bin überhaupt so ein Mensch, der sich ganz selten an die Regeln hält“ (VNovak, 01:09:36-1). „also ich meine, hier wollte ich was rüberbringen, da wollte ich das ja ebenso und da sind die ganz verschiedenen Sachen, die ich zeigen wollte. Aber dadurch habe ich mich ja nicht verändert (...)“ (ebd., 00:34:42-7). „so selbstbewusst“ (ebd., 01:11:38-4). „Also mit den Bildern wollte ich einfach zeigen, dass es (...) ja das kann ich (...)“ (ebd., 00:05:09-1). „Und ich muss schon sagen, ich kann meinen Körper gut beherrschen, also (Lachen) vor allem die Muskeln oder so etwas, das ist schon, da werde ich was mehr dran machen“ (ebd., 01:02:02-2). „Ja man (...) vielleicht kann man dann denken, dass die Frau auf viele Männer steht (...) und vielleicht, dass die auch darauf steht, die Männer zu verwöhnen (...) oder was auch immer (...)“ (ebd., 00:46:46-2). „Ein anderer Mensch kann das falsch beurteilen“ (ebd., 00:16:53-1), „denken, dass ich eine Stripperin bin und wegen der Stange und (...) wegen der Körperhaltung“ (ebd., 00:17:27-0). „das hätte ja nicht jede Frau machen können (...) wenn ich da jetzt so stehe oder hocke, das heißt ja nicht, dass ich das jetzt jeden Tag mache oder irgendwie auch bei einem (...) (ebd., 01:09:36-1). „Das sieht schon einladend aus [...] Also so etwas würde man auch irgendwie nicht ausstellen, ich weiß nicht (...)“ (ebd., 01:08:146), „[w]eil das eben so (...) einladend aussieht (Lachen), ne. Vor allem für die (...) das männliche Geschlecht (...)“ (ebd., 01:08:42-1). „Hier bin ich auf jeden Fall konzentrierter und auch ernster, anständiger“ (ebd., 00:33:24-7, Abb. VNovak 4). Abb. 14: VNovak 4

Während zunächst verbal Können und Freiwilligkeit, Unabhängigkeit von Regeln und gesellschaftlichem Einfluss betont werden, unterhöhlt das Empirische in Form der Fotografien diese Oberfläche. Dieser Einbruch des visuell Empirischen in die Empirie des Interviews ist jedoch nicht auf einen unmittelbar im Medium Fotografie – dem Zeichen – zugänglichen oder natürlichen Körper der ‚Stripperin‘ zurückzuführen, sondern diese Empirie ergibt sich erst aus dem Zitat: Indem mit der Stange das Strippen zitiert wird, ruft das Empirische als zitiertes Zeichen erst die Frage der Anständigkeit auf den Plan.87 Die Präsenz im Bild ist abhängig von dem Zitat und der damit einhergehenden Spur, aber auch von der Materialität des Körpers in der Fotografie; sie lässt sich so nicht auf einen eindeutigen Ursprung reduzieren (vgl. 2.1.2). Die Fotografie 87  | Diese Passage wird in Kapitel 3.4.2 noch einmal im Hinblick auf Geschlecht und Heim betrachtet, vorläufig geht es um die Frage des Zitierens in Fotografie, Betrachtung und Verbalisierung.

Grammatik des Sehens

folgt damit einer Grammatik des Bildes, die ein entsprechendes Sehen nach sich zieht, und die VNovak in der nachträglichen Betrachtung artikuliert. Die Grammatik als vorgegebene Struktur ermöglicht im produktiven Sinne die Fotografie und beschränkt sie zugleich.88

Verlust und Überschuss, Identität und Geschehen Bezüglich der Evidenz und Zeitlichkeit der Fotografien zeichnen sich zwei Positionen ab, die größtenteils quer zu den einzelnen Interviews liegen.89 Welche Eigenschaft der Fotografie jeweils zugeschrieben wird, ist davon abhängig, als welche Art von Objekt die Fotografie wahrgenommen wird, ob sie ohne Zeit in sich geschlossen oder als Teil eines Geschehens betrachtet wird. Es ist zudem davon abhängig, ob Wiederholungen oder Zitate als Steigerung oder Verlust von ‚Authentizität‘ angesehen werden. Die Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit in der Fotografie – insofern Fotografien etwas neues Empirisches hervorbringen oder auf ihnen Äußerliches verweisen – stellen einen Überschuss dar, der sowohl als Bestätigung von Identität als auch als deren Verlust gedeutet wird. Dabei differieren die Positionen in der Frage, ob Fotografien durch ihren spezifischen Bezug zur Geschichte fähig oder unfähig sind, etwas ‚Wirkliches‘ oder eine ‚Identität‘ zu zeigen. „[E]in Foto kann natürlich auch einfach so sein, aber das ist wahrscheinlich immer das, was mich stört, dass eben die Geschichte sonst fehlt bei mir. [...] [W]enn ein Foto mich beschreiben soll, dann fehlt mir eben immer die Geschichte. Ein Foto kann so sein ohne Geschichte, [...] mir fehlt dann die Geschichte“ (Faradora, 01:09:24-3). „Das ist ein Teil von mir, sag ich. Ich kann jetzt nicht sagen, in dem Bild, das bin ich, wie ich in allen Aspekten“ (Locoloco, 00:32:33-8). „im Grunde kann das Foto ja immer nur eine Sekunde zeigen, noch nicht mal. Das kann weder was davor oder danach gewesen ist zeigen und man kennt die Situation und die Geschichte nicht. Also man kann jetzt hier ganz viele Fotos sehen und würde trotzdem eigentlich kaum was über mich und mein Leben erfahren. Man würd‘ vielleicht sehen, da ist ein Mädchen, das findet man hübsch oder hässlich und die macht teilweise genauso Sachen wie andere auch. Die bügelt und isst und schläft. Die zieht sich vielleicht ein bisschen anders an oder eben genauso wie alle anderen auch, aber vielmehr über mich 88 | Bezüglich der Vieldeutigkeit von Fotografien hält Berger fest, dass die Zitierfähigkeit der Fotografie weniger eine des Erzählens sei, sondern darauf beruhe, Ideen hervorzurufen (vgl. Berger 2016/1982, S. 131). „Fotografien zitieren Erscheinungen“ (ebd.), was den Sinn der einzelnen Fotografie (insofern sie ausdrucksstark ist durch ihr Zitieren) erweitere. 89  |  Jedoch beharrt besonders Poldi44 auf der Unveränderlichkeit des Abgebildeten beziehungsweise seiner Person, während Michelle den Wandel in der Zeit hervorhebt.

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Geschlecht und Heimerziehung kann man ja mit diesen Fotos nicht erfahren“ (Faradora, 00:52:54-9). „weil (...) ja wie gesagt ich einfach nicht glaube, dass man eine Person oder ein Leben auf Fotos einfangen kann“ (ebd., 01:05:13-9). „Mit den Wörtern kann man vielleicht vergleichen (...) bereden, also (...) beschreiben (...) hm (...)“ (VNovak, 01:13:28-5). „Mit Worten kann man auch mehr ausdrücken, als man mit den Bildern. (...) Ja und mit Wörtern könnte man sich vielleicht auch bewegen, was man mit den Bildern nicht machen kann (...)“ (VNovak 01:13:45-8).

Demnach scheitert in den Augen der Jugendlichen die vom Wort isolierte Fotografie, weil sie – vermeintlich oder zu Recht – nicht auszudrücken vermag, was mit Wörtern ausführlicher und variationsreicher möglich scheint. Sie stellt still, was die Worte eventuell bewegen könnten. Die Fotografie steht darüber hinaus still, insofern sie die Zeit verloren hat: Der Moment der Fotografie dauerte nur ‚einen Augenblick‘, ‚eine Sekunde‘. Die Fotografie hat keine Geschichte beziehungsweise sie ist aus dieser ausgeschnitten. Das Verständnis der Jugendlichen bezüglich des Geschichtlichen beziehungsweise Zeitlichen in den Fotografien ist jedoch nicht eindeutig. Die Fotografien tragen für sie dennoch eine spezifische Form von Zeit in sich, wenn sie etwas Alltägliches vermitteln. Diese Fähigkeit der Fotografie ist in Faradoras Zitat aber ein Mangel, weil sie in ihren Augen das Individuum zum Teil einer Masse macht. Das Alltägliche, das Reproduktive – Mädchen sein, Haushalt, Essen, Schlafen – lässt so betrachtet keine eigene Identität zu. Der Zwang zu diesen existentiellen, da lebenserhaltenden Tätigkeiten und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe/einem Geschlecht scheinen gerade das Individuelle im Leben zu verhindern. Obwohl sich die Jugendlichen ‚empirisch‘ in den Fotografien (wieder)erkennen, nimmt in ihren Augen paradoxerweise der Überschuss den Fotografien etwas an Aussagekraft – nämlich der Verweis auf etwas ihnen Inhärentes und zugleich doch auch Äußerliches, auf das Alltägliche. Die Masse eröffnet in diesem Fall nicht die Wahrnehmung von sich unter anderen beziehungsweise in Beziehung zu dem, was mit anderen verbindet, sondern wird als Negation eines Eigenen – als Bedrohung der Autonomie90 – begriffen. In dieser Kritik an den Fotografien deutet sich ein Wunsch nach Eindeutigkeit und Identifizierung an, der vermeintlich durch den Bezug zu etwas ihnen Äußerlichem, zu etwas Anderem, unerfüllt bleibt. Zugleich sind die Fotografien nicht nur durch einen verallgemeinernden Überschuss gekennzeichnet. Teils sind sie auch über die oben genannte Zeitdimension hinaus für die Jugendli90  |  Damit handelt es sich eher um ein Erleben von Masse, wie Mitscherlich es mit dem „Distanzeffekt“ als „Verschmelzen de facto sehr unterschiedlicher Vieler zu einer homogenen Erlebnisgestalt“ (Mitscherlich 1973/1963, S. 335) beschreibt, als um eine Wahrnehmung des Selbst in der Masse (vgl. Schlüpmann 1998, 2014).

Grammatik des Sehens

chen defizitär, insofern sie zu einseitig erscheinen, wenn ‚nur ein Aspekt‘ oder ‚zu wenige Facetten‘ in ihnen in Erscheinung treten. Der Überschuss des Alltäglichen, der zuvor den Fotografien ‚Identität‘ entzieht, ist in anderen Passagen gerade der ‚Beweis‘ für die dokumentarische Kraft der Fotografie. In ihnen gerät der Körper in der Fotografie zum Referenten, der wiederzuerkennen ist. In den Fotografien scheint zudem etwas enthalten zu sein, das nicht unmittelbar zu sehen ist, es gibt einen Verweis auf das, wie es ‚sonst auch‘ ist. So gewendet wird die Unzeitlichkeit der Fotografie in den Darstellungen der Jugendlichen zu ihrer Stärke. Sie ist nicht nur ‚ein Moment‘, ein Ausschnitt, sondern Verbindung zu dem, ‚wie es immer‘ ist: Abb. 15: Michelle 1 „[...] auf dem Bild sieht man (...) dass Menschen sich gut verstehen können, aber (...) dass es auch nicht auf hundertprozentige Art und Weise ist, das sieht man auch. Weil die Gesichtsausdrücke sagen irgendwie was Anderes. Weil das nicht hundertprozentig von Herzen ist und (...) das ist wirklich wie der Alltag oft ist, deswegen (...) finde ich, dass dieses Bild wirklich sehr realistisch ist“ (Michelle, 00:19:41-8, Abb. Michelle 1). „[...] das spiegelt mich generell schon wieder, auch wenn es jetzt vielleicht nicht in der Situation so gewesen ist“ (Faradora, 00:10:37-2).

Abb. 16: Locoloco 5 „Also so wie ich sonst immer (...) wie ich sein kann oder wie ich normalerweise auch bin [...]. Das ist so, auch so, (...) da habe ich nicht auf die Kamera geachtet, habe ich einfach gemacht, machen lassen“ (Locoloco, 00:06:040). „[...] Ja, war gut und im Allgemeinen bin (...) ist meine Laune in der Regel immer gut. Dementsprechend passt das auch“ (ebd.; Abb. Locoloco 6). „Ja, halt so ein bisschen beim Vorbeilaufen, das war halt so (...) das bin halt so ich, wenn ich so entspannt bin, also man sieht mich hier nicht richtig grinsen oder lächeln, [...] wirkt so ein bisschen ausdruckslos, aber das war in jedem Fall wie so ein Standardbild, als würde man, wenn man mich filmt, beim durch die Küche gehen filmen und [unverständlich] gefilmt werde“ (ebd., 00:32:33-8, Abb. Locoloco 5).

Indem die Fotografien zeigen, was ‚normalerweise‘ oder ‚im Alltag oft‘ vorkommt, indem die Anwesenheit in der Küche oder die Ambivalenz von Gefühl und Gesichtsausdruck in den Fotografien sichtbar sind, stellen die Fotografien in den genannten Passagen für die Jugendlichen ‚Authentizität‘ dar. So be-

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Geschlecht und Heimerziehung

trachtet scheint es für die Jugendlichen Fotografien zu geben, die einen idealen – von Ausnahmen bereinigten – Ausdruck haben können; ebenso wie Fotografien, die weniger inszenierenden Charakter haben, weil nicht auf die Kamera geachtet wurde. Ein solcher Ausdruck wird von der geschehenden Geschichte nicht tangiert, weil er durch die Zeit hinweg bleibt. In dem Interview mit Poldi44 wird das geschichtliche Geschehen wiederholt geradezu negiert: Abb. 17: Poldi44 2

Abb. 18: Poldi44 3

Abb. 19: Poldi44 4

„Nichts [hat sich geändert]. Gar nichts. Mache immer noch dasselbe. Ich habe mich nicht wirklich verändert“ (Poldi44, 00:27:50-1). „Ich glaube, selbst wenn ich dreißig bin könnten die Fotos immer noch darüber aussagen, was ich dann noch bin“ (ebd., 00:28:16-8).

Der in der Fotografie erstarrte Sprung sticht aus den Fotografien heraus, verwischt die Konturen und verlässt die im weiteren Verlauf vorgezeichnete Bahn (vgl. Passagen von Poldi44 in 3.4.2). Die Fotografie erscheint wie eine Bildstörung, die im nächsten Augenblick wieder verschwindet, aber als Unbehagen bleibt (vgl. 2.2.2; 3.2). Dabei öffnen und schließen die anwesend-abwesenden Reste eines Geschehens die Fotografien, weil sie in den Fotografien nicht direkt zugänglich sind: Abb. 20: Faradora 5 „[sie] weiß aber genau, das weiß auf dem Foto keiner (...) so das bleiben die Geheimnisse, also die bleiben versteckt, [die] kann [man] auf dem Foto nicht dann sehen und als (...) als sind da irgendwie Gedanken im Kopf“ (Faradora, 00:41:50-9, Abb. Faradora 5).



Grammatik des Sehens

„aber dieser Tag war einfach nicht so schön und anstrengend und deswegen gefällt mir dieses Bild nicht so, weil ich die Erinnerungen davon auch habe (Lachen)“ (Michelle, 00:30:16-7, Abb. Michelle 2).

Abb. 21: Michelle 2

„[...] Bei manchen Bildern muss man natürlich auch den Hintergrund wissen, um auch sagen zu können, das bin ich“ (ebd., 00:32:33-8, Abb. Locoloco 5). „was man für ein Gefühl auf dem Bild sieht, denke ich, denkt sich jeder seine eigene Geschichte zu, was war und wie es weitergeht“ (Faradora, 00:26:36-5).

Die Identitätsannahme ist brüchig, weil Dichte und Überschuss der Fotografien, die in das ‚Immer‘ hineinreichen oder etwas Abwesendes mitbringen, einer Kontextualisierung bedürfen. Diese Kontextualisierung ist nicht aus dem Referenten zu schließen, weil sich die Fotografie eignet, etwas in sie ‚hineinzulegen‘. Was in der Betrachtung der Fotografien zu sehen ist, verdoppelt sich durch die Phantasie und die (individual-)geschichtliche Einordnung des Gesehenen seitens des Betrachters. In der rückblickenden Betrachtung wird die zeitliche Geschichte des Davor und Danach hervorgebracht.91 Damit erfährt auch der Körper in der Fotografie eine Verzeitlichung und Verräumlichung, indem das Abgebildete vergangen ist und zugleich in der Fotografie zum empirischen Zeichen wird (vgl. 2.2.3; 3.2.2). Dabei gefährden die empirischen Verselbständigungen wie die Be-Deutungen in der Fotografiebetrachtung aus Sicht der Jugendlichen die ‚Wirklichkeit‘, insofern die Fotografien erstens etwas Empirisches in sich tragen, das nicht von ihnen intendiert war oder ihnen unwirklich erscheint. Zweitens beinhaltet der Überschuss ein Zitat, das etwas Unerwünschtes jenseits der eigenen Identitätsvorstellung mit sich bringt – wie bereits oben mit VNovaks Ablehnung des Zitats in der Fotografie und mit der Thematisierung des Alltags gezeigt. Drittens kann erst eine ästhetische Verdichtung die Vermittlung des Referenten ermöglichen, aber auch die Abbildung manipulieren: „ich würde alle irgendwie komplett durcheinander legen, [...] [ich glaube,] dass auch alles total durcheinander ist, also ich bin ja auch jugendlich und da ist sowieso alles irgendwie durcheinander und in einer Phase von Umbruch [...]es müsste echt ein ein-

91 | Berger betont, dass immer wenn eine Fotografie für „sinnvoll“ befunden werde, „ihr eine Vergangenheit und eine Zukunft“ (Berger 2016/1982, S. 93) geliehen werde.

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Geschlecht und Heimerziehung ziger Wirrwarr sein, [...]das ist hm ja einfach so das Leben widerspiegelt, dass es nicht geordnet und in Reihe ist“ (Faradora, 01:26:38-3). 92

Abb. 22: VNovak 3 „Man [kann]die jetzt natürlich auch aus dem zeitlichen hm aus dem zeitlichen Zusammenhang, in dem ich sie fotografiert hatte, so ein bisschen rauslösen und sagen, neu mischen oder umverteilen“ (Locoloco, 00:22:46-6). „Man muss sich mittlerweile ja fragen, was ist auf dem Foto noch echt und was ist bearbeitet [...] Und es wird soviel retuschiert und geschminkt“ (Faradora, 01:08:37-7).„Weil man sich meistens für die Bilder besser machen will und besserstellt als man in der Wirklichkeit ist. (...) Man schminkt sich ja auch meistens für die Bilder und zieht was Schönes an, damit man auch (...) schöne Bilder hat. Und so ist man ja nicht im Alltag“ (VNovak, 00:17:58-2, Abb. VNovak 3).



Abb. 23: Locoloco 3 „Selbstparodie“ (Locoloco, 00:20:32-9).

Abb. 24: Locoloco 6 „Wirklichkeit [ist] immer so ein bisschen zweigeteilt. Einmal vom Bild selber, also ob es wirklich so gewesen ist das Bild oder ob ich das Bild mit einem anderen Hintergrund versetzte, dann hat es natürlich eine andere Wirkung hm dann ist es auch nicht mehr ganz wirklich. [...] Und noch ein zweiter Aspekt der Wirklichkeit ist also noch der Mensch, wie der fotografiert wird (...) ob er nun in Wirklichkeit so grinst oder ob er versteckt eigentlich ganz stinkesauer ist als Beispiel“ (Locoloco, 00:16:30-5).

92 | Faradoras Beschreibung der Anordnung der Fotografien als ‚geordnet‘ überrascht mich. Während des fotografiegestützten Interviews saßen wir beide auf dem Boden eines Besprechungsraums ihrer Einrichtung und hatten Not, noch freien Platz für die Menge ihrer Fotografien zu finden. Dementsprechend waren die Fotografien nur ansatzweise chronologisch geordnet.

Grammatik des Sehens

Die Existenz technischer und/oder künstlerischer Mittel zur fotografischen Gestaltung sind für die Jugendlichen, ebenso wie die geschichtliche Spur der Wiederholung und des Zitats, gleichzeitig Stärke und Verlust des Mediums Fotografie. Die tätige Deutung mithilfe der Fotografie kann deren Fähigkeit einer glaubhaften Repräsentation des Abgebildeten unterstützen, aber ebenso die dokumentarische Seite der Fotografie ‚verfälschen‘: Die nachträgliche Anordnung der Fotografien könnte – so Faradora – das Leben widerspiegeln. Die Evidenz wird methodisch erzeugt. Evidenz im Sinne des Augenscheinlichen ist aber dennoch ‚nur‘ Produkt der technischen Möglichkeiten, folgt man Locoloco: Die so verschobene Wirkung schwächt den Wirklichkeitsbezug der Fotografie. In beiden Positionen wird ein Referent (das Leben, die Wirklichkeit) vorausgesetzt, den es in der Fotografie zu reproduzieren, widerzuspiegeln gilt. Beide Argumentationen wenden sich gegen die Selbständigkeit des fotografischen Objekts beziehungsweise deuten an, die Vermittlung des Objekts kontrollieren zu müssen/können – entweder durch das ästhetische Eingreifen oder durch die Kritik an der technischen Manipulation. Diese Fotografiedarstellung steht im Zusammenhang mit gegenwärtigen Vorstellungen von Evidenz der Abbildung vs. Täuschung der Sinne. In der technischen oder ästhetischen Veränderung wird die abbildende Funktion der Fotografie infrage gestellt, weil sie deren wirklichkeitsgenerierende Dimension betonen (vgl. 3.2.1). In der Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt der Fotografien wurde die Methode bereits zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Mit ihr wird ein Blick auf die Anlage der Erhebung zurückgeworfen, insofern die Fotografien nicht mehr als erweiterter Zugang zu performativer Körperlichkeit, sondern als Medien in ihrem Beitrag zum Empirischen betrachtet werden. Dieser Beitrag erweist sich bezogen auf Fotografien und Interviews als doppelter, weil nicht nur das Abgebildete, sondern die Abbildung selbst zum Gegenstand wird. In der Betrachtung der Fotografie kommt es zu einer Distanzerfahrung der Jugendlichen, die es ihnen ermöglicht, das leiblich zunächst als unmittelbar Empfundene zu reflektieren. Es zeichnen sich zwei ablehnende Positionierungen gegenüber dem Empirischen ab: Zum einen, wenn die Fotografie als identisch mit ihnen selbst und somit ohne Möglichkeit der Veränderung angesehen wird, zum anderen, wenn die Fotografien als neue Objekte die Identität verfehlen. In beiden Varianten wird eine vorhergehende Präsenz angenommen, die entweder in den Fotografien widergegeben oder verfehlt wird. Diese ursprüngliche Präsenz ist auf die eine oder andere Weise abhängig von einer ihr adäquaten oder sie verfälschenden Repräsentation (vgl. 2.1.1). Im unheilbaren Doppeltsehen gerät der fotografierte Körper zu einer vermeintlichen Oberfläche, die jedoch in sich eine Spur trägt. Diese Spur betrifft die geschichtlich bedingte Erfahrung des Körpers in der Fotografie. Ohne diese Spur ist der Körper beziehungsweise die Fotografie nicht zu begreifen. Die Zitate und der Überschuss der Fotografien geben und nehmen den Fotografien ihre Eindeu-

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tigkeit. Dies löst ein Unbehagen aus, insofern der Körper oder seine Fotografie nicht ‚ursprünglich‘ mit dem Selbstbild referentiell verbunden werden kann. Diese Spalte in der Betrachtung betrifft die Aussagen der Jugendlichen wie auch den Versuch einer Objektivierung des Materials. Ebenso wie die wissenschaftliche Diskussion von Theorie/Empirie/Praxis in der Metaphysik aus Irigarays Perspektive phallozentrisch zur Starre des Einen gerät, während es ein muköses Anderes gibt, das darin ausgeschlossen und inhärent zugleich ist, zeigt sich diese Gleichzeitigkeit in der in das Interview hineingezogenen Methode wie auch in der ‚Alltags‘-Sprache im Interview: Der Versuch, den Gegenstand durch die Methode zu kontrollieren, wird gestört durch das verdoppelte Empirische, das der Methode jedoch bereits inhärent ist. Im Interview geht eine Interviewpartnerin (VNovak) davon aus, dass die Darstellung zeige, was sie zeigen wollte, aber verändert habe sie sich nicht dadurch. Die zitierende Fotografie wird somit zum Produkt, das ohne Beziehung zu dem in ihm verarbeiteten Material steht. In einem anderen Interview ist die Fotografie reine Dokumentation von etwas, was immer so bleibe (Poldi44). Methode und Technik, Geschichte und Zeit werden darin als einflusslos dargestellt. Wogegen an anderer Stelle die Bemerkung, das Leben sei als etwas zu begreifen, ‚in dem nichts für immer bleibt‘ (Michelle)93, auf die Einschätzung verweist, dass es möglich sei, in der geschichtlichen Bedingung zu leben. Die darin aufscheinende Geschlechterordnung ist im Folgenden Teil der Diskussion um Geschlecht und Heimerziehung.

3.4.2 Geschlecht und Heimerziehung Also ich kann die Frage nicht beantworten. Faradora , I nterview : 01:17:05-1 [...]was machen Mädchen anders? Kann ich jetzt nicht genau sagen. P oldi 44, I nterview : 00:18:20-6 [...] es ist ein Unterschied zwischen Junge und Mädchen, was das genau ist, kann man nie genau sagen, aber es gibt immer einen Unterschied. P oldi 44, I nterview : 00:17:26-6

93 | Das vollständige Zitat von Michelle lautet: “Ich finde Bilder können einen schönen Moment festhalten, aber meistens bleibt das wirklich halt nur die Erinnerung auf dem Foto, weil im Leben bleibt nichts für immer“ (Michelle, 00:32:55-6).

Grammatik des Sehens

Geschlecht und Heimerziehung werden im folgenden Kapitel in den fotografiegestützten Interviews in ein Verhältnis zueinander gestellt. Dieses Verhältnis ergibt sich nicht aus dem isolierten Material, sondern ist mit der Erhebung verwoben. Die anfänglich gendertheoretisch und in der qualitativen sozialwissenschaftlichen Methodik zu verortende Erhebung wurde im Verlauf der Untersuchung von dem erhobenen Material berührt: Erhebung und Erhobenes sind in die „ungleiche Verteilung von geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung in einem spezifischen ökonomischen, generationalen und geschlechtlichen Verhältnis anhand der Positionen ‚Frau‘ und ‚Mann‘“ (2.2.1) involviert.94 Das Umschwenken von einer gendertheoretischen Deutung zu einer Perspektive sexueller Differenz wurde angestoßen durch die Auseinandersetzung mit dem fotografischen Material und dem Interviewmaterial. Der Versuch, der Normierung zu entkommen, schien den Darstellungen der Jugendlichen nicht gerecht werden zu können. Geschlecht war „außer Kontrolle“ (Schlüpmann 2014, S. 227) geraten: sowohl für die Jugendlichen in der doppelten Betrachtung als auch für die Suche nach vergleichbaren Normen im Material. Da die Geschichte der Heimerziehung und ihre Verbindung zur Frauenbewegung die Untersuchung der fotografiegestützten Interviews bedingen, ist ihre zeitliche Wahrnehmung zu bedenken. Die Wahrnehmung ist jedoch auch eine räumliche, folgt man Schlüpmanns Argumentation. Eine rationalisierte Wahrnehmung würde hingegen danach verlangen, die räumliche Wahrnehmung auszuschalten. Damit ist gemeint, dass eine räumliche Wahrnehmung notwendig eine Bezogenheit und eine Auslieferung an das verlangt, was ‚uns‘ umgibt. Die Fotografien der Jugendlichen zwingen zu einer Auslieferung. Indem die Jugendlichen aufgefordert wurden, die Fotografien für die Forschung ‚herzugeben‘, hatten sie die Möglichkeit, etwas zu zeigen, dem die Betrachtenden sich dann allenfalls durch die Auswahl des Materials für die Analyse entziehen können. Da die Jugendlichen im Interview bestimmte Fotografien thematisieren und andere nicht, kann sich der forschende Blick manchen Fotografien nicht verweigern: Sie wurden von den Jugendlichen – im wörtlichen Sinne – ‚auf den Tisch‘ gebracht; sie sind Relevanzurteile der Jugendlichen (vgl. 3.3). VNovak zeigt etwa sexuell aufgeladene Fotografien, so 94 | Die ungleiche Verteilung betrifft beide Geschlechter: Die phallogozentrische Blindheit geht auch für Männer/Jungen unweigerlich mit einem Verlust einher; dem Verlust der Fähigkeit, sich in der eigenen Bedingtheit wahrnehmen zu können, aber auch in Form einer Abstraktion vom Sinnlichen (vgl. Irigaray 1979/1977, S. 197). Wie bereits durch die Bezeichnung von ‚Positionen‘ gekennzeichnet, sind das Denken der Metaphysik und die damit einhergehende ‚Empirie‘ nicht unmittelbar an biologische Körper gebunden. Vielmehr kann zwischen vorherrschenden schließenden Perspektiven auf Subjekt und Objekt gegenüber solchen, in die die Bedingtheit Eingang erhält, unterschieden werden.

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dass sich die Betrachtenden dieser Dimension ihres Lebens nicht verschließen können. Inszenierung und Auswahl zwingen dazu, hinzuschauen. Der Körper (in der Fotografie) zwingt dazu, hinzuschauen. Ebenso zwingen die anderen Fotografien dazu, in diese Leben zu schauen. Dieser Zwang ist allerdings in keiner vorkulturellen ‚Natur‘ des Objekts angelegt, sondern verwoben mit der kulturellen Bedeutung, mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Erfahrung, mit dem, was „unter die Sinne fällt“ (Casale 2013, S. 17). Die Jugendlichen haben auch keine absolute Verfügungsgewalt über das Gezeigte; eine ‚richtigstellende‘ Deutung durch die Jugendlichen tritt in den Interviews der Erfahrung des Empirischen in der Fotografie gegenüber. Dabei ist es nicht das Leben, das in der nachträglichen Betrachtung zu sehen ist. Es ist der zeitlich angehaltene Moment, der durch seine rein visuelle, ausschnitthafte und damit notwendigerweise unvollständige95 Aufzeichnung mehr Bedeutung erfährt, als wenn er undokumentiert vergangen wäre. Es ist zudem nicht das Leben der Jugendlichen, weil die Fotografien zwar insofern Teil des Lebens sind, als dass die Jugendlichen die Fotografien in ihrem Leben angefertigt haben – die Fotografien geschehen sind und verobjektiviert wurden in diesem Leben, dieser Geschichte; aber sie sind nicht unweigerlich Dokumentationen dieses Lebens. Einen solchen Anspruch würden sie auch verfehlen, aufgrund der genannten Einschränkungen der Fotografie (vgl. 3.1, 3.2). In der Iteration einzelner Fotografien und Interviewpassagen wird die vermeintliche Dokumentation von etwas, wie es gewesen ist oder gewesen zu sein scheint, gestört. Das Material wird wiederholt einer erneuten Betrachtung in einem anderen Licht ausgesetzt. Darüber hinaus sind die Fotografien mehr als die Darstellung eines vermeintlich seienden Selbst. Sie sind auch Entwürfe, Möglichkeiten, Phantasien eines erreichbaren oder utopischen Seins. Das zeigt sich insbesondere bei Locoloco (‚wie er gern sein würde‘ und wie er sich abgrenzt 95 | Damit soll nicht suggeriert werden, es gebe eine vollständige Form der Dokumentation. Eine Filmaufzeichnung wäre ebenso unvollständig, auch sie hätte einen Rahmen, wäre ohne Geruch, Temperatur etc. Insofern reicht es auch nicht aus, zwischen Sehen und Hören/ Sprechen zu unterscheiden. In einer visuell und sprachlich strukturierten Welt haben diese beiden Quellen von Wahrnehmung eine hohe Bedeutsamkeit, aber es ist gerade das sensuelle Abschneiden anderer Wahrnehmung, das diese von einem räumlichen Empfinden, wie es gerade in der Berührung mit anderen Menschen zum Ausdruck kommt, entfremdet. Der Körper zu fotografieren ist ein unzulänglicher Versuch, ihm näher zu kommen. Die Wahrnehmung des Körpers/Leibes ist an das Spüren gebunden. Um es auf die primäre Beziehung zu wenden: Die Mutter ist durch das räumliche Empfinden zum ungeborenen Kind mit diesem verbunden, sie kann es nicht sehen und sie kann von ihm noch keinen Ton vernehmen. Sie spürt es in sich, ohne dass es ein Teil ihrer selbst ist. Bereits im Bauch der Mutter hat es seine eigene Zeitlichkeit und Räumlichkeit. In den Medien der Berührung und des Raumes stellt sich die Beziehung her.

Grammatik des Sehens

von anderen, aber auch als Ausloten der Grenzen im Rahmen der beiden Optionen) und bei Poldi44 (so stellt Poldi44s sprachliche Beschreibung auch eine Projektion auf das eigene Selbstportrait dar). Insofern liegt in diesen Vorstellungen etwas Zeitliches, weil die Fotografien nicht nur in die Vergangenheit gerichtet sind, sondern mögliche – noch nicht eingetretene – Zukunft enthalten oder eröffnen. Der Versuch, geschlechtlicher Zuschreibung in der Anlage der Erhebung zu entkommen, war mit der Annahme einer möglichen Intervention verknüpft: Diese sollte – so die anfängliche Idee – die geschlechtlichen Normierungen in der stationären Jugendhilfe mit den Selbstdarstellungen der Jugendlichen konfrontieren. Daran war die Vorannahme geknüpft, dass es möglicherweise etwas Widerständiges bei den Jugendlichen geben würde, das identitäre Zweigeschlechtlichkeit unterlaufen könnte. Diese Möglichkeit kann im rückblickenden Lesen und Betrachten nicht ausgeschlossen werden, aber eine solche, die Zweigeschlechtlichkeit infrage stellende Untersuchung verlor im Forschungsprozess an Dringlichkeit. Die geschichtliche Rekonstruktion von Geschlecht und Heimerziehung sowie die Erhebung selbst führten vielmehr zu der Frage, wie sich Hierarchie und Differenz im geschlechtlichen Verhältnis denken lassen. Die geschlechtliche Ordnung war für den ersten theoretischen und empirischen Zugang aufgrund seiner neutralisierenden Position nicht zu fassen beziehungsweise er war selbst Teil einer spezifischen Trennung und Ausblendung im Geschlechterverhältnis, wie sie von Irigaray mit dem Begriff der sexuellen Differenz problematisiert wird. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden geschlechtliche und generationale Differenz in ihrer geschichtlichen Bedingtheit betrachtet, die auch weiterhin die vorliegende Erhebung selbst betrifft.

Gegenwärtige Geschlechterpolitik als Bedingung Die geschlechtlich geordnete Geschichte von Heimerziehung und erziehungswissenschaftlicher Empirie sind Raum und Zeit von Material und Erhebung: Diese Geschichte ist – wie in der Rekonstruktion des Verhältnisses von Heimerziehung und Geschlecht gezeigt – von einer geschlechtsspezifischen Verwahrlosungsannahme, nach dem Motto „Mädchen prostituieren sich, Jungen probieren sich“ (Werthmanns-Reppekus 2008, S. 111), bis heute durchzogen. Zudem ist die Gegenwart paradox geprägt, und zwar von der staatspolitischen Integration feministischer Forderungen nach Gleichberechtigung bei gleichzeitig weiterbestehenden kulturell-ökonomisch stereotypen Geschlechterverhältnissen (vgl. 1.3, 1.4). Neben der metaphysischen Ordnung der Wahrnehmung von Geschlecht sind auch das konkrete Bedingungen der interviewten Jugendlichen. Aufgrund der genannten politisch-rechtlichen Bedingungen wird Geschlecht zu einem Tabu, es darf nicht die Voraussetzung für Unterscheidung und Ungleichheit sein, aber genau das macht die Erfahrung des

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Empirischen ungreif bar, insofern Praxen von Unterscheidung und Hierarchisierung vor allem in der reproduktiven Sphäre dennoch fortgesetzt werden. Diese doppelbödige Ordnung drang in die Erhebung ein, insofern zunächst davon ausgegangen wurde, Geschlechterzuschreibungen dadurch entkommen zu können, dass die Interviewten im Leitfaden und in der Umsetzung der Interviews nicht geschlechtlich adressiert wurden. Beispielsweise hatte die so begründete Bezeichnung von ‚abgebildeten Personen‘ zur Folge, dass die Interviewten diese Formulierung übernahmen und Geschlecht zu einem Unausgesprochenen wurde, sofern es die Jugendlichen nicht an anderer Stelle einführten.96 Dieser Versuch, dem Geschlechtlichen zu entkommen, war zudem durch die gendertheoretisch geleitete Suche nach Normen und nach einer jenseits von gender möglichen Vorstellung der Jugendlichen geprägt. Wie hier beschrieben, spielt Geschlecht jedoch eine wesentliche Rolle für die Jugendlichen und das nicht nur auf der Ebene der Norm, sondern als empirisches Zeichen und zugleich zeichenhafte Empirie. Geschlecht ist darüber hinaus nicht auf einer prinzipiell austauschbaren Position der Normen bestimmt, sondern folgt phallogozentrisch einer spezifischen schließenden und hierarchischen Ordnung. So zeigt das bereits eingeführte Beispiel VNovaks bezüglich ihres ‚Stripperin‘-Zitats die paradoxe Adressierung von Frauen in der Gegenwart (vgl. 3.4.1).97 Die Vorstellung einer geschlechtsunabhängigen Freiheit im Ökonomischen geht vermeintlich widerspruchslos mit der gleichzeitigen Naturalisierung von Geschlecht einher, wie in Kapitel 1.3 deutlich wurde. Das hängt mit dem beschriebenen paradoxen Verhältnis der staatspolitischen und ökonomischen Sphäre mit der populärmedialen Sphäre zusammen und mit dem vermeintlich entpolitisierten des Ökonomischen. Der Geschlechtsunterschied wird damit gesellschaftlich ungreif bar, weil er evident erscheint. Die widersprüchliche Gegenwart von Geschlechtsneutralität und Geschlechternaturalisierung bedingt die Erhebung wie das Erhobene. Dies wird im Folgenden bezüglich der Selfie-Ästhetik, der Frage nach Geschlechtsunterschieden und der Thematisierung von Homosexualität und geschlechtlicher ‚Abweichung‘ diskutiert. Ein Teil der vorliegenden Fotografien zitiert populäre fotografische Darstellungen von Weiblichkeit, wie sie bereits bezüglich des Verhältnisses von Masse 96 | Bereits in der Anlage des Leitfadens wurde die Nennung von ‚Identitätskategorien‘ (in Butlers Sinne) systematisch berücksichtigt. Diese wurden im Interview durch die Nachfrage wieder aufgegriffen, was mit der genannten Selbstbezeichnung gemeint sei (vgl. Windheuser 2011, S. 164ff.). 97  |  VNovaks Erklärungen deuten hier etwas an, das Irigaray anspricht, wenn sie den männlichen Blick als Ausgangspunkt auch für das Sehen der Frau problematisiert: „[I]hr Auge ist an eine Evidenz gewöhnt, die eben das versteckt, was sie sucht“ (Irigaray 1980/1974, S. 241).

Grammatik des Sehens

und Selfie beschrieben wurden (3.2.3, vgl. auch 1.3.1: zu McRobbie und C. Kaindl). Das methodische Vorgehen der Fotobefragung mithilfe digitaler Selbstportraits greift diese verbreitete Form gegenwärtiger (populärkultureller) Fotografie auf (vgl. 3.1.1). Als zentrales Mittel des Selfies, um Weiblichkeits-Bilder hervorzubringen, gelten insbesondere bestimmte (Körper-)Posen (vgl. Neumann-Braun 2017, S. 344). Auch in der vorliegenden Erhebung operieren insbesondere die befragten Mädchen mit Posen und Gesten des Genres Selfie. Dabei spielt vor allem ein von unten nach oben gerichteter Blick in die Kamera eine Rolle, der nicht nur die Augen nach dem Kindchen-Schema vergrößert, sondern auch die Betrachtenden in einer von oben nach unten gerichteten Perspektive wähnt. Dieser Effekt wird mittlerweile durch ein weiteres Mittel der Selfie-Ästhetik verstärkt, einer maskenhaften Schminktechnik, die neben dem typischen Arrangement des Körpers im Bild eine weitere Iteration innerhalb der Selfie-Masse hervorbringt, nämlich eine spezifische Inszenierung des Gesichts.98

Abb. 25: Michelle 3

Abb. 26: VNovak 4

Die für die Vermittlung in der Fotografie eingenommene Pose und/oder das dazu hergestellte Make-up erlangen im vermeintlichen Zeichen – der Fotografie – einen empirischen Status und das Zeichen wird selbst zum Empirischen, 98  |  Im Kontext der Foto-Community Instagram und ähnlichen Plattformen wie Profilbildern hat sich eine Ästhetik entwickelt, in der sich spezielle Make-up-Techniken – insbesondere das sogenannte Contouring – etabliert haben. Mithilfe dieser Schminktechniken entstehen Selfies, die einen masken- beziehungsweise puppenhaften Effekt haben. Beispiele dafür finden sich bei entsprechenden Video-Tutorials, die häufig werbefinanziert sind (z. B. in Teni Panosians Youtube-Kanal: https://www.youtube.com/channel/UCojExR87u5xNXSkrJ26ORMA, 24.10.2016). Diese Entwicklung ist relativ jung, sie spielte zum Zeitpunkt der Erhebung keine der aktuellen Bedeutung vergleichbare Rolle. Mittlerweile lässt sich Contouring-Schminke in gängigen Drogerien erwerben. Die Jugendlichen griffen in der Erhebung mehr auf die Posen als auf das Make-Up zurück.

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insofern das Selfie ‚neues‘ Objekt einer digitalen Öffentlichkeit der KörperMasse wird. Es kommt zur digitalen Öffentlichkeit der Körper-Masse; wem das Zitat (der ‚Instagram-Maske‘ oder -Pose99, vgl. Anhang II: Instagram) ‚gelingt‘, der/die kann Eingang in sie finden und Sichtbarkeit erlangen. Die Individuen sind anwesend und abwesend, insofern sie ihre Anwesenheit in der entindividualisierten visuellen Sprache erst ermöglichen. Diese Online-Kultur ist Teil der von McRobbie beschriebenen „media governmentality“ (McRobbie 2013, S. 140, 1.3.1). Diese hat zwar eine repräsentative Dimension, sie ist aber jenseits der institutionellen Repräsentationen, die Anti-Diskriminierungs- und Gleichstellungspolitik betreiben. Die Stars der Szene können ökonomischen Erfolg aus phallogozentrisch geordneten Weiblichkeitsdarstellungen ziehen.100 Wie bereits oben diskutiert, wird auch hier das neoliberale Paradox insbesondere für Frauen deutlich, soweit einerseits individuelle Freiheit ermöglicht, diese Freiheit aber andererseits auf eine bestimmte Freiheit reduziert wird, nämlich auf eine, die den humankapitalistischen Spielregeln gehorcht (vgl. 1.3.7). Darin wird auch die Optimierung des eigenen Körpers zur freiwilligen Entscheidung für spezifische Weiblichkeitsbilder und geht, wie weiter unten anhand des Beispiels VNovak erläutert wird, mit einem gewissen Lustgewinn am Reproduzieren und Inszenieren von Stereotypen einher.101

99 | Über die Foto-Community Instagram können Fotos und Videos geteilt werden, mit dem Hashtag „Selfie“ (URL: https://www.instagram.com; 24.10.2016) sind dort über 270.000.000 Fotografien gekennzeichnet. Diese variieren sehr stark, aber es gibt eine Selfie-Ästhetik unter jungen Nutzerinnen des Online-Dienstes, die mit spezifischen Schmink-Techniken verbunden ist, wodurch ein maskenhafter Effekt entsteht. Wie der Anhang II zeigt, sind mit „Selfie“ gekennzeichnete Fotografien keineswegs auf klassische Portraits des Gesichts beschränkt. Das zweite Beispiel zeigt, wird auch der ganze Körper abgelichtet. 100  | Diese Verbindung zeigt sich insbesondere bei dem Selfie-Star Kim Kardashian, die vor allem durch ihre Online-Präsenz prominent wurde (auch wenn sie zuvor bereits durch ein Reality-TV-Format in der Öffentlichkeit stand), vgl. dazu auch den Fotoband „Selfish“ (Kardashian West 2015). Dabei ist die Normierung des weiblichen Körpers und die damit einhergehende Sexualisierung kein neues Phänomen, berücksichtigt man Simone de Beauvoirs Analyse des scheinhaften Spiels von weiblichen Künstlerinnen (vgl. Beauvoir 1997/1949, S. 868ff.). Eine Verschiebung entsteht aber aus der Prominenz, die sich allein aus der (online-)medialen Präsenz ergibt und die eine Wertschöpfung ermöglicht. Dazu bedarf es keiner Professionalität als Tänzerin oder Schauspielerin. Vor diesem Hintergrund ließe sich sogar eine Zuspitzung von de Beauvoirs damaliger Analyse vermuten. 101  | Unter dem Punkt Die Spur der Hysterie in diesem Kapitel geht es u.a. um die Reproduktion eines Klischees eines weiblichen Sexualobjekts und die Übernahme von phallischen Sexualitätsvorstellungen im fotografiegestützten Interview mit VNovak.

Grammatik des Sehens

Daneben werden schließende beziehungsweise vermeintlich unbedingte Geschlechtervorstellungen in der Erhebung evoziert: In den Antworten auf die Nachfrage, was denn die Abgebildeten in den Fotografien zu Mädchen oder Jungen mache, und was das jeweils andere Geschlecht machen würde, findet das so dramatisierte Geschlecht erst Eingang in die fotografiegestützten Interviews. Die Nachfrage gibt Anlass für eine identitäre Deutung von Geschlechtlichkeit und Stereotype: „ein Junge [denkt] anders als ein Mädchen“ (Michelle 00:17:23-4). „Mädchen sind (...) wa (...) sind meistens wahrscheinlich immer ganz anders drauf als Jungs (...) sind wahrscheinlich immer ganz ganz anders. Sie machen nichts, man kann nicht sagen (...) was machen Mädchen anders? Kann ich jetzt nicht genau sagen“ (Poldi44, 00:18:20-6). „weil man ja auch einfach so gemeinhin sagt, Jungs haben einen anderen Blickwinkel“ (Faradora, 01:11:13-0). „Die Blicke (...) meistens haben die Mädchen immer ganz andere Blicke. (...) Gucken ganz anders (...)“ (Poldi44, 00:17:41-7). „Mädchen sind vielleicht eher detailbewusster und [...] kreativer“ (Faradora, 01:12:02-0). „Was machen Jungs anders? Sie (...) sie sehen härter aus (...) härter als Mädchen. Mädchen sind ja auch meistens, wie man auch sagt, eher zerbrechlicher als die Jungs. Die Jungs sind eher härter, die Mädels sind (...) machen wahrscheinlich eher etwas mit ihrem Kopf“ (Poldi44, 00:18:42-8). „[Das Gegenteil von VNovaks Selbstportrait im Wald wäre] jemand anders (...) und der steht vielleicht mit einer Säge vor dem Baum oder so (Lachen). Ja und zeigt, dass er das gerade absägen möchte“ (VNovak, 00:26:04-2). „eine Frau mit einer Säge [kann ich] mir nicht so wirklich vorstellen, aber (...) ein Mann, so ein Waldarbeiter“ (VNovak, 00:26:52-3). „[eine Frau] müsste [...] eher so sexy rüberkommen mit einer Säge und (...) ist alles irgendwie anders bei der Frau. Ich mein, die würde (...) bei der würde es auch nicht passen mit dem bösen Gesicht und (...) dass die da [in der Natur] auch stört (...)“ (VNovak, 00:27:12-4). „Jungs [haben] einfach eine andere Erwartung an sich [...] [denken: , JW] Hauptsache man sieht meine Muskeln“ (Faradora, 01:13:16-3). „Die machen wahrscheinlich (...) die Jungs lassen die Muskelkraft meistens spielen. Die Mädchen (...) kann man sagen, geben einen Korb mit dem Kopf. Die (...) die dissen einen eher mit dem Gehirn“ (Podli44, 00:19:08-9). „Ein Junge würde vielleicht zwanzig Bilder machen aus verschiedenen Perspektiven, wo er mit einem Fußball zu sehen ist oder was weiß ich“ (Faradora 01:11:13-0). „Na sie hätte, [...] zum Beispiel ein Mädel, was mit einer Barbiepuppe in der Hand ein Foto macht, [...], ganz andere Eigenschaften, steht auf ganz andere Sachen als ich“ (Poldi44,00:32:58-3).

Die zentrale Figur ist die des starken, muskulösen und potentiell gewalttätigen Mannes, dem die ‚sexy‘ und positiv-idealisierte Frau zur Seite gestellt wird. Neben diesen identifizierenden Aussagen über Männer und Frauen, sind die Ausführungen der Jugendlichen durch Abgrenzung vom Anderen gekennzeichnet. Diese Darstellungen stehen neben Neutralitätserklärungen, die sich

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auf Individualität berufen: „Natürlich ist es unterschiedlich, weil hm halt solche Sachen aber sehr individuell sind, weil keiner ist so wie ich“ (Locoloco, 01:13:46-2). An anderer Stelle weichen Locolocos Ausführungen von den oben zitierten Passagen ab, vor allem in Bezug auf Männlichkeit, insofern in ihnen u.a. das Imitierende und das Ideal Verfehlende markiert wird. Allerdings tangieren diese Ausführungen seine phantasierten Identifikationen mit Helden und Talkmastern nicht, in denen die phallische Hierarchie weitertransportiert/reproduziert wird: Abb. 27: Poldi44 5 „Oh, kann man sagen so, kann man eher sagen so grimmig, aggressiv (...) in dem Sinne so, so ich bin ein harter Kerl, komm mir nicht näher“ (Poldi44, 00:16:38-6). „komm näher und du hast mit mir Ärger. (...) Oder das Gesicht sagt: Willst du mich verarschen?“ (ebd., 00:16:584). „Der Blick sagt einfach nur: Ey Alter, willst du mich verarschen?! Ich komm dir gleich da runter!“ (ebd., 00:35:43-0).

Abb. 28: Locoloco 3 „Möchtegern-Gangster [...] Es spiegelt insofern [...] meine Meinung zu so was wider, weil ich da versuche, so was nachzuahmen, nachzuäffen“ (Locoloco, 01:18:29-3, Abb. Locoloco 3). „Da [Abb. Locoloco 1] stell ich mir eben so eine Art Kinoplakat vor [...] irgendein Held von irgendeinem bekloppten Film“ (ebd., 01:01:44-9). „Irgendein Krieger (Lachen)“ (ebd., 01:06:56-9, Abb. Locoloco 1). „Bei Abb. Locoloco 8 und 9 habe ich [...] versucht einen auf Talkmaster zu machen [...]: Hi, ich zeig euch jetzt mal das Auto, das könnt ihr gewinnen[...]“ (ebd., 01:02:39-3). In der Deutung der Jugendlichen beruhen geschlechtliche Verhaltensweisen und Zugehörigkeiten zudem auf dem unhintergehbaren Körper und dessen Naturhaftigkeit. Dabei greifen die Jugendlichen durchaus die öffentliche Sichtbarkeit, teilweise auch die Frage der Anerkennung von Transgender und/oder Homosexualität auf. Die in ihren Aussagen explizit wie implizit thematisierte Distanz zu geschlechtlicher ‚Abweichung‘ kann jedoch nicht allein über eine Heteronormativitätskritik eingefangen werden. Bestimmend ist, wie an späterer Stelle102 noch zu zeigen sein wird, dass es ein Gefälle zwischen Männlichem und Weiblichem gibt. Das Andere zum Männlichen ist seine Peripherie, die in 102  | Vgl. weiter unten den Abschnitt Der Maßstab des Einen: Geschlecht.

Grammatik des Sehens

Form des Weiblichen wie der Homosexualität auftreten kann. Dabei kann gerade durch zu viel Nähe zum Weiblichen ein Verlust von Männlichkeit erfolgen. „Ja, so hm es ist vielleicht wäre jetzt ein bisschen komisch, soll’s auch geben, aber wenn jetzt irgendein hm Mann mit ’nem Bierbauch versucht einen Minirock anzuziehen und eine Netzstrumpfhose oder so. (Lachen) Das fände ich jetzt eher unnatürlich“ (Faradora, 00:43:46-5). Bei einer Frau komme es hingegen „darauf an, wie die Frau sich gibt, aber (...) das ist einfach denke ich Kleidung für Frauen und dann ist das für mich hm heißt das nicht, dass die Frau natürlich aussieht, aber es ist (...) einfach natürlich für das Geschlecht, so rumzulaufen“ (ebd., 00:44:46-1). „Weil ich finde im Fernsehen machen die das [gemeint ist Homosexualität, JW] immer so, als wäre das was ganz Schlimmes und in Wirklichkeit ist es was ganz Normales. Weil letztendlich kann das jedem Menschen passieren. Man sucht sich das ja nicht von alleine aus, in wen man sich verliebt oder für was man sich interessiert. Das kann jedem Menschen passieren“ (Michelle, 00:58:46-0). „wenn jetzt ein Junge eine rosa Hose anziehen will, dann bleibt er trotzdem ein Junge“ (Faradora, 01:14:40-9). „eigentlich erkennt man das [Geschlecht], wenn man halbwegs natürlich rumläuft“ (ebd., 00:43:21-4).

Welches Geschlecht wie begehrt wird und in welchem Körper man ‚steckt‘, sind demnach unhintergehbare Determinanten. Die Notwendigkeit, nicht zu diskriminieren, und die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht werden von Michelle und Faradora nicht in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit diskutiert, sondern mit Natürlichkeit begründet. „Wenn er sagt, ich will das so und hm dann zeigt das für mich eigentlich, dass derjenige eine Persönlichkeit hat und nicht einfach mainstream allen hinterherläuft sondern dann finde ich das eher gut. Klar, es ist erstmal dann komisch, wenn man über die Straße läuft und jemanden sieht, der (...) vielleicht nicht so rumläuft, wie man es erwarten würde, also von einem Jungen, der eine Hose anzieht, aber hm ich glaube, da gehört eine ziemlich starke Persönlichkeit und auch ganz viel Mut zu irgend (...) überhaupt sowas zu machen – von daher hm würde ich den nicht irgendwie verurteilen und sagen, oah der ist jetzt weiß ich nicht ein halbes Mädchen (Lachen)“ (Fardora, 01:14:40-9).

Indem Michelle fordert, Homosexualität nicht der Abwertung preiszugeben, und Faradora nicht-geschlechter-konformes Auftraten als mutig anerkennt, nehmen sie gesellschaftliche Bedingungen wahr. Sexualität und Körperlichkeit verbleiben jedoch im Unvermittelten beziehungsweise werden der Natur zugewiesen und aus der Kultur ausgelagert. Die stereotypen Gegenüberstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in den weiter oben zitierten Pas-

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sagen verschiedener Interviews dürfen jedoch nicht ohne den Kontext des Interviews betrachtet werden. Die meisten Antworten sind Reaktionen auf die Nachfrage, was die Geschlechter unterscheide beziehungsweise was die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht ausmache, falls Geschlechtlichkeit von den Jugendlichen selbst erwähnt wurde.103 In den Interviews wird damit allerdings auf ein zitierfähiges Repertoire möglicher Erklärungen zurückgegriffen. Ausgangspunkt ist dabei vor allem Heterosexualität, insofern diese zur Normalität erhoben wird (vgl. VNovak), Homosexualität erst zu etwas ‚ganz Normalem‘ erklärt werden muss (vgl. Michelle) und geschlechtliche Abweichung zu zeigen, Mut erfordert (vgl. Faradora). Bedeutsam erscheint die Unterscheidung von Heterosexualität und ‚natürlichem‘ Geschlecht gegenüber dem, was ihnen nicht entspricht. Allerdings kommt es zudem zu einer geschlechtsspezifischen Unterscheidung, bei der vor allem Männer Gefahr laufen, Grenzen geschlechtlicher und sexueller Eindeutigkeit zu übertreten. Wie im Zusammenhang mit der neoliberalen Kontextualisierung bereits gezeigt wurde und im folgenden Abschnitt zur Hysterie nochmals deutlich werden wird, kommt bezüglich Frauen, die männliche Attribute aufweisen, eher eine Anerkennung ihrer Autonomie (Faradora) oder eine Problematisierung mutmaßlicher/eventueller negativer Folgen (VNovak) zum Tragen.

Die Spur der Hysterie Die Hysterie wird in Irigarays Schriften ihrem Status einer psychiatrischen Diagnose entzogen und in einen anderen Kontext verschoben. Die Hysterie gibt für Irigaray Anlass, der Logik, dem Blick und der phallischen Penetration zu entkommen; indem Irigaray sich der phallogozentrischen Sprache bemächtigt, wendet sie die Hysterie zur Dekonstruktion (vgl. Irigaray 1980/1974, S. 242ff.). Die Hysterie verstört in ihrer Körperlichkeit das entkörperlichte, autonome Subjekt (vgl. 2.2.2). Im Folgenden ist die Hysterie im doppelten Sinne zu verstehen, erstens als dekonstruierende Zuspitzung, die den phallischen Blick auf weibliche Körper markiert, und zweitens als Verweis auf die Geschichte von sexuellen Verwahrlosungsannahmen, Pathologisierung und Psychiatrisierung weiblicher Sexualität unter Bedingungen einer Ordnung des Einen. In der Diskussion von VNovaks Fotografien erscheint die Hysterie in Gestalt des Verrückten als Teil männlicher Ordnung ohne sexuelle Differenz. Wird die Fotografie in ihrer Angewiesenheit auf sie bedingende Zeichen in Zeit und Raum hin betrachtet, findet mehr als die bereits in 3.4.1 erwähnte

103   |  Vgl. zur Neutralisierung im Interview ebenfalls den Abschnitt: Der Maßstab des Einen: Geschlecht.

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Poledance-Stange104 Eingang in sie. VNovak erwägt die Möglichkeit, andere könnten ihre Fotografien wie folgt beschreiben: Abb. 29: VNovak 3 „(...) Chaotisch (Lachen) (...) chaotisch, verrückt (...) hyperaktiv (...) bisschen (...) vielleicht ein bisschen geil (Lachen) (...) also jetzt, mein ich jetzt, nicht das Aussehen, Charakter (...)“ (VNovak, 00:38:40-8). „verrückt [ist] dann, wenn man ungewöhnliche Sachen macht (...) halt wie (...) es wird auch nicht jeder die Beine breit machen jetzt auf den Bildern und das dann ausstellen oder zum Beispiel auf dem Boden kriechen (...) hm sich direkt mitten in den Wald setzen, ich weiß nicht“ (ebd., 00:58:00-7).

Die Beschreibung der Fotografien als chaotisch und hyperaktiv steht im Kontrast mit der Körperbeherrschung VNovaks in den Fotografien. Zugleich bedient die sexuelle Bildsprache eine Vorstellung weiblicher ‚Verrücktheit‘: Sie überschreitet, wie VNovak selbst sagt, das, was als anständig gilt (vgl. ebd., 00:08:33-9). Zugleich bestätigt sie die Norm weiblich sexueller Selbstinszenierung: Abb. 30: VNovak 5 „Also wenn man so sitzt, ne, und (...) ja man sieht auf jeden Fall, dass ich richtiges Vergnügen daran bekomme, wenn ich rauche. (Lachen)“ (VNovak, 00:08:42-0). „nicht jede Frau würde so etwas machen“ (ebd. 01:00:31-2). „Auf jeden Fall sieht das [ Abb. VNovak 3] nach einem (...) Ausruf aus“ (ebd., 01:07:13-8): „Ja, so von wegen, ich will dich vernaschen oder so (Lachen)“ (ebd., 01:07:43-4). „[Man könnte] denken, dass die Frau auf viele Männer steht (...) und vielleicht, dass die auch darauf steht, die Männer zu verwöhnen“ (ebd., 00:46:46-2).

104  | Bei der abgebildeten Stange handelt es sich um einen Teil eines Spiel- oder Sportgeräts auf einem Spielplatz, einem Trimm-Dich-Pfad o.ä..

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Indem VNovaks Fotografien beispielsweise die Poledance-Stange zitieren und ein sexuelles Versprechen eröffnen, könnte ihre Inszenierung auf den ersten Blick phallozentrische Vorstellungen von Heterosexualität bestärken. Das schlägt sich auch sprachlich nieder, beispielsweise in der Formulierung ‚Beine breitmachen‘. Die Deutung wird jedoch ver-rückt, weil der Körper in Abb. VNovak 3 auf Distanz bleibt, bekleidet ist und zugleich den Blick diktiert; außerdem weil VNovak sich im Interview in der fordernden und konsumierenden Position (‚vernaschen‘) als diejenige beschreibt, die ‚auf viele Männer steht‘. Einerseits bestätigt VNovaks Darstellung und Selbstbeschreibung die phallozentrische Ordnung: Das weibliche Objekt genießt es, zu verwöhnen, für das sexuelle Wohlbefinden des Mannes zu sorgen. Andererseits bleibt es nicht nur Objekt, weil es aktiv die Sexualität einfordert und sich im Verlangen nach vielen Männern dem Besitz durch den Einen entzieht – ihm unterliegt vielleicht sogar der Anspruch darauf, an den Besitzverhältnissen zu drehen. Dieser Bruch stellt jedoch keinen emanzipativen Ausweg aus dem Dilemma dar, weil der damit beanspruchte Bereich männlicher Sexualität zugleich als verrückt erklärt wird. Darin gerät der Erfolg von Frauen nach den phallozentrischen Spielregeln zur Schize: Er ist zugleich ihr Scheitern.105 Die paradoxe Anforderung zeigt sich gerade darin, sich etwas zu nehmen und nehmen zu können, aber nach den Bedingungen phallischer Sexualität. Insofern VNovak Abb. 5 abspricht, anständig auszusehen (VNovak, 00:08:33-9), erhält die Thematisierung ‚sexueller Verwahrlosung‘ in neuem Gewand – nämlich unter den geänderten Vorzeichen von neoliberaler Freiheit und medialem Sexismus – Einzug in die Fotografie und das Interview: Die vermeintliche und phantasierte Objektivierung beziehungsweise Verkörperung männlich orientierter Sexualität durch Mädchen und junge Frauen war Grund für ihre Denunziation in der Geschichte der Heimerziehung (vgl. 1.1.; 1.2.1). Das ist nicht das Thema VNovaks, aber auch sie bezeichnet ihre fotografische Inszenierung nachträglich als abweichend, gar als ‚verrückt‘ und ‚chaotisch‘. Der selbstbewusste Umgang mit der eigenen Inszenierung gerät in der Iteration ins Wanken, weil in der erneuten Wahrnehmung des Körpers, diesmal objektiviert in der Fotografie, über die imaginierte Beherrschung des Körpers hinaus – in welcher der Körper wiederum vor allem als beherrschbarer Besitz angeeignet wird –, die Spuren der Zitation eintreten.106 105   |  Angesichts der Sex-Tipps in sogenannten Frauenzeitschriften und in TV-Produktionen, wie ‚Sex in the City‘, ist es auch nur bedingt nonkonform, als Frau Affären, One-Night-Stands etc. zu wollen und zu haben. 106  | Bereits die Iteration gängiger erotischer beziehungsweise pornographischer Posen verschiebt diese, weil VNovak bis auf den tiefen Ausschnitt auf vereinzelten Fotografien den Körper fast vollständig bedeckt hält. Die körperliche Präsentation in der Fotografie wird von der von VNovak thematisierten ‚Anständigkeit‘ so auch visuell tangiert.

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Die Distanzierung von dem, was ‚andere darüber denken könnten‘ ist Bestandteil der beschriebenen Schize: Die weibliche Hysterie ist eben „mimetische[s] Spielen, die Fiktion, das ‚So tun als ob‘[, das] von einem beherrschenden Signifikanten, dem PHALLUS, und seinen Repräsentanzen blockiert, gebremst und [!] vorgeschrieben wird. [...] Er ist nicht so sehr Kennzeichen eines Spiels zwischen den Geschlechtern als vielmehr Kennzeichen der Macht, die Beziehung zum Ursprung [...] zu kontrollieren [, sich anzueignen]“ (Irigaray 1980/1974; Herv.i.O.).

Die Hysterie ist nur ‚schlechte Kopie‘ oder ‚Karikatur‘ „einer ‚guten‘, anerkannten und wertvollen Beziehung zum Ursprung“ (ebd.). Der Phallus, wie Irigaray schreibt, gibt die Regel des sexuellen Ausdrucks vor107, aber seine Umsetzung durch die Frau kann nur misslingen, weil sie entweder in die geschlechtslose Position von Jungfrau oder Mutter verwiesen wird oder als Prostituierten gilt.

Der Maßstab des Einen: Geschlecht Abb. 31: Michelle 4 „Natürlich ist es unterschiedlich, weil hm halt solche Sachen aber sehr individuell sind, weil keiner ist so wie ich und weil ich natürlich auch nicht so bin wie Lucas Barios108 oder wie Poldi44 oder wie ein Mädchen, das ich jetzt nicht kenne, ich sag jetzt mal irgendeinen Namen, wie eine Jacqueline oder irgendwie“ (Locoloco 01:13:46-2).109

107   |  Der Modus eines instrumentellen Verhältnisses zum Körper kann, Schlüpmann (2014) folgend, nicht überwunden werden, solange der Körper als Besitz betrachtet wird. 108  | Selbstgewählter Name eines weiteren Jugendlichen, der an dem Fotoprojekt beteiligt war. 109   |  Der Form nach berührt die Aussage über ihre Geschlechterdimension hinaus auch eine Klassendifferenz: Locoloco, dessen Klarname eher konservativ-bürgerlich beziehungsweise geradezu altmodisch ist für ein ‚Kind der 1990er Jahre‘, wählt als weiblichen Beispielnamen einen klassenspezifisch abgewerteten modischen Namen. In der gleichen Passage grenzt sich Locoloco von zwei anderen Jugendlichen ab, deren Klarnamen ebenfalls mit Bildungsferne assoziiert werden.

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Geschlecht und Heimerziehung „Ja, weil ich glaube, dann [, wenn nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen in der Gruppe leben würden,] würde es nicht so viel Streit geben oder es wäre einfach was anderes, also ich mein, ich weiß jetzt nicht, wie es ist, aber ich würd› davon ausgehen, dass es anders wäre, also ausgeglichener. (...) Weil ich glaube, die Mädchen würden dann eher auf die Jungs gucken und nicht mehr auf sich gegenseitig, um zu gucken, was mag ich an dem nicht oder an dem nicht, sondern (...) ich denke einfach, es wäre anders“ (Michelle, 00:15:04-9).

Abb. 32: Faradora 5 „es gibt Leute, die kleiden sich in bestimmter Weise oder (...) dann eher Männer, die Schminken sich dann in bestimmter Weise, dass man eben das andere Geschlecht oder sich nicht sicher sein kann, welches Geschlecht das denn jetzt ist“ (Faradora, 00:43:21-4). „[wenn Mädchen sich nicht schminken:] Ja, ich find das nicht so schlimm“ (Michelle, 00:17:43-8). „Unter natürlich sein oder sich geben, verstehe ich dann eher, dass man nicht völlig aufgetakelt ist, also hm völlig übergeschminkt und hm ganz unpassend gekleidet“ (Faradora, 00:44:46-1).

Während im Abschnitt Gegenwärtige Geschlechterpolitik als Bedingung die im Interview abruf baren geschlossenen Geschlechtervorstellungen als Stereotypen aufgegriffen wurden, ist das gesamte Interviewkorpus tendenziell anders gekennzeichnet: Die Bedingtheit von und durch Geschlecht bleibt in den Interviews größtenteils abwesend beziehungsweise findet sich nur implizit. Dies drückt sich in unterschiedlicher Weise aus. So wird Differenz eingangs in der Passage individualisiert und dem Geschlechtlichen enthoben. Die Unbenennbarkeit des Geschlechtlichen wird damit ungreif bar. Damit können das geschichtliche Tabu, Geschlecht zu benennen, – was sowohl die Autonomie des Individuums angreifen würde als auch eine mögliche Diskriminierung darstellen könnte – und das, gleichfalls geschichtlich in die theoretische wie politische Situation eingebundene Tabu des Interviews, nicht nach Geschlecht zu fragen, verbunden sein. Zugleich wiederholt sich darin eine Figur der absoluten Differenz und der Ungebundenheit, die mit einem (vermeintlich) geschlechtslosen Subjekt einhergeht. In den weiteren Passagen wird dagegen, wie Michelles und Faradoras Argumentationen zeigen, an einem wesentlichen Unterschied festgehalten. Dieser Unterschied ist hierarchisch, insofern es heißt, das ‚Mädchenkollektiv‘ könne nur durch Jungen befriedet werden, sich also selbst keine Form geben

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beziehungsweise ohne eine männliche Ordnung nicht zu einem vermittelten Verhältnis kommen. Zudem würden Jungen – folgt man Michelle – den Blick der Mädchen aufeinander abwenden, was positiv von Michelle gewertet wird. Damit wird die Negation einer Beziehung zwischen Frauen – in diesem Fall einer „horizontale[n] [...] zwischen Frauen oder zwischen ‚Schwestern‘“ (Irigaray 1991/1984, S. 130) – wiederholt.110 Eine Zuschreibung des Defizitären im Weiblichen zeigt sich auch in Faradoras Diskussion von geschlechtlichen Grenzgängen: Es seien ‚eher Männer‘, die ein Interesse daran haben könnten, ein anderes Geschlecht anzunehmen. Im weiteren Verlauf wird Faradora erklären, dass es natürlich für Frauen sei, Netzstrümpfe und Minirock zu tragen, während ein bierbauchiger Mann darin überzeichnet erscheine. Übertrieben gestylte Frauen, männliche ‚Transvestiten‘111 weichen ab, sie werden zur Parodie ihrer selbst; dabei bleibt die Frau auf ihre Geschlechtergrenze verwiesen, insofern der Dragking keinen Eingang findet (vgl. Windheuser 2012, S. 66). Zielscheibe dieser Abwertung scheint das Weibliche zu sein, das eigentlich doch alles erfüllt, als williges Sexualobjekt oder mit sichtbarem Make-up. Es ist sowohl Tabu für den Mann, wenn er es sich aneignet, als auch Anlass zur Abwertung für die Frau, wenn sie darin die Ordnung explizit, evident macht. Die Aneignung von weiblich konnotierten und erwünschten Praktiken kippt, sobald sie als ‚zu viel‘ oder unfreiwillig parodistisch auftritt. Wird die Geschlechtergrenze – die uneindeutig oder nicht-eigentlich ist, wenn eine Frau ‚zu weiblich‘ sein kann – überschritten, ist das Grund für die Abgrenzung vom Weiblichen oder die negative Bewertung ihres Äußeren:

110  | Indirekt berührt dies auch die abgeschnittene Genealogie unter Frauen (die unabgeschnitten auch eine Beziehung – generational gedacht – von ‚Schwestern‘ mit sich bringen könnte), insofern die Beziehung in der Gruppe durch die Ablehnung einer anderen (Identität) gekennzeichnet ist oder eine Bezogenheit über eine männliche Position eingefordert wird. In der Frage um den Neid und Hass zwischen Mutter und Tochter macht Irigaray deutlich, wie in der Ordnung des Einen, die „Rivalität um den Platz und die Funktion der Mutter [...] durch die Beziehung des Mannes zum Mütterlichen und durch das Fehlen einer weiblichen Identität bestimmt“ (Irigaray 1991/1984, S. 122) ist. 111  |  Ich verwende an dieser Stelle bewusst den Begriff des ‚Transvestiten‘, weil es um diesen, um den Verkleideten (frz. se travister = sich verkleiden, lat. trans = jenseits von, über etwas hinaus), in Faradoras Diskussion geht. Der Verkleidete ist nur verkleidet und kann nicht mit dem, als was er sich verkleidet, identisch sein. Damit unterscheidet sich Faradoras Deutung von der Selbstbezeichnung entsprechender Künstler/innen, die die überschreitende Dimension hervorheben. Indem der ‚Transvestit‘ nicht identisch mit seiner Darstellung ist, ermöglicht er als nicht-eigentliche Bedingung die eigentliche Identität des vermeintlich natürlich-eindeutigen Geschlechts.

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Geschlecht und Heimerziehung „bei Mädels mit Muskeln (...) das ist nicht so ansehnlich, würde nicht so gut aussehen“ (Poldi44, 00:19:38-9). „Auf Tonbandaufnahmen hört sich meine Stimme immer grausam an“ (ebd., 00:00:48-3), „[s]o mädchenhaft habe ich das Gefühl. [...] Ja, hört sich so komisch, so mädchenhaft an, so so höher die Stimme als sonst. [...] so kindisch kann man ja sagen [...]. So wie ein Vierjähriger“ (ebd., 00:01:08-8; 00:01:11-4; 00:01:28-9). „ich habe meine ganze Kindheit hm als Baby auch rosa gehasst“ (Faradora, 01:15:34-6). „für mich persönlich, würde ich sagen, würde nicht so gut aussehen, wenn Jungs mit schlaffi, bei denen alles so herunterhängt (...) und einen auf Klugscheißer machen (...)“ (Poldi44, 00:19:57-2). „Die Jungs sind eher härter, die Mädels sind (...) machen wahrscheinlich eher etwas mit ihrem Kopf“ (ebd., 00:18:42-8). „Ich war sehr lange der Auffassung, mit Brille sehe ich scheiße aus [...], dass ich ohne Brille besser aussehe. Halt weniger verbrillt, sondern auch erwachsener“ (Locoloco, 00:51:52-0). „Mädels, die plötzlich hier so richtig Bodybuilderin sind, das kann ich persönlich überhaupt nicht leiden“ (Poldi44, 00:19:57-2). „das ist für die [Männer] ja etwas zu dreckig“ (VNovak, 00:41:39-0, Abb. VNovak 3), „dann [wenn ein Mann das so machen würde] würde man erkennen, dass der Mann schwul ist, ne. (...) Also die meisten würden das so sagen, jetzt“ (ebd., 00:46:09-3), „untypisch für einen Mann, auf jeden Fall“ (ebd., 00:46:38-9). „Aber nur weil man hm weiß ich nicht 80 Prozent der Verhaltensweisen hat, die männlich sind, heißt das nicht, dass man zwingend ein Mann sein muss“ (Faradora, 01:17:05-4). „ich sehe [...] nicht so aus, wie jetzt jedes Nullachtfünfzehn-Mädchen. [...] Also diese ganzen Models auf den Laufstegen oder irgendwelche hm blonden Mädchengruppen, die irgendwie durch die Stadt von A nach B laufen“ (ebd., 00:38:27-3) „Also die Männer, die sind ja auch charakterlich so etwas ernster und ich glaub, die würden das schon nicht machen, also die normalen Männer, die jetzt auch auf Frauen stehen, nein“ (VNovak, 00:48:36-2, Abb. VNovak 3).

In den zitierten Interviewpassagen werden geschlechtliche und generationale Differenz zur Distinktion genutzt, sie sind die Peripherie des Einen, der ihren Maßstab bildet (vgl. Irigaray 1991/1984, S.  124): Wie eine Frau oder ein Mädchen zu sein, rosa zu lieben und in der Mädchen-Masse aufzugehen, ist zu vermeiden, ebenso ‚männliche‘ Muskeln, weil sie bei Mädchen deren Attraktivität gefährden. Erwachsen sein, ein normaler Mann zu sein bedeutet, keine Frau und kein Kind zu sein. ‚Erwachsene, normale‘ Männer begeben sich

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nicht in ‚so dreckige› Posen wie VNovak und stehen auf Frauen. Selbst wenn Mädchen oder Frauen Gefahr laufen, an weiblicher Attraktivität zu verlieren, wenn sie ‚Männliches› tun, führt dies nicht unmittelbar zum Übertreten der Geschlechtergrenze. Hingegen gefährden Männer umgekehrt ihre Männlichkeit. Interessanterweise verkehrt sich in Poldi44s Vorstellung die geschlechtliche Zuweisung von Körper und Geist: Es sind die Mädchen, die „einen Korb mit dem Kopf [geben]. Die (...) die [...] einen eher mit dem Gehirn [dissen]“ (Poldi44, 00:19:08-9). Ebenso gefährdet für Locoloco das ‚Verbrillte‘ sein erwachsenes Aussehen. Dieser Widerspruch – insofern der Geist doch gerade das autonome und somit erwachsene, männlich Subjekt kennzeichnet – verschiebt sich in den Aussagen von Poldi44 zur Annahme männlicher körperlicher Stärke und Überlegenheit. Geschlechterordnung kann in den herangezogenen Passagen als die des Einen verstanden werden, insofern Geschlecht über Autonomie und Abweichung gedeutet wird. Das drückt sich auf der formalen Ebene der Neutralität aus, mit der Individualität von ihrer Geschlechtlichkeit zu entbinden gesucht wird. Hingegen betonen die reifizierenden Deutungen von Geschlecht die geschlechtliche Gebundenheit, allerdings als natürliche Identität, die kulturell nur überformt werden kann. Eine kulturelle Dimension von Geschlecht wird darin relativiert bis negiert. Das Eine tritt davon ausgehend in einem doppelten Sinne auf: Als unabhängige Vereinzelung beziehungsweise absolut Identisches (abgeschlossenes Eines) und als Maßstab. Der Maßstab wird besonders in den oben zitierten Passagen deutlich, die Frauen und Kinder abwerten oder als zu vermeidende Positionen herausstellen. Wenn Geschlecht dazu zwingt, in ein Verhältnis zur Materialität zu treten (vgl. 2.2.3), kommen darin zwei sich vermeintlich widersprechende Bewegungen zum Ausdruck: Einerseits die Absage an eine körperliche und generationale Angewiesenheit, andererseits die Reduktion von Geschlecht auf eine identische Natur. Es handelt sich dabei um einen bloß vermeintlichen Widerspruch, weil beide Positionen das Individuum oder die Natur aus dem Geschichtlichen ausschneiden und sie somit verobjektivieren. Der Maßstab für diese Vorstellung von Geschlecht bleibt in den Darstellungen sichtbar und unsichtbar zugleich, weil von den Jugendlichen die Abweichung112 zwar deutlich problematisiert, das Ideal jedoch unmarkiert vorausgesetzt wird.

112  |  Die Abweichungen betreffen Darstellungen, wonach Männer, die nicht auf Frauen stehen, nicht normal seien und Männer, die sich wie Frauen kleiden und/oder schminken, unnatürlich seien.

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Der Maßstab des Einen: Klasse und Kultur (‚Rasse‘/Nation) Neben die Differenz von Geschlecht und Generation tritt die Klassendifferenz, was sich in der Unterscheidung und Hierarchisierung von intellektuellen Fähigkeiten und körperlicher Kraft in den zitierten Passagen bereits andeutet. Während in ihnen jedoch eine ähnliche Position vertreten wird, wonach ‚verbrillt sein‘ nachteilig sei oder Männlichkeit sich durch Muskelkraft ausdrücke, lässt sich in der Konfrontation zweier Interviews (Poldi44, Locoloco) auch eine umgekehrte Hierarchisierung herausarbeiten. Diese geht zudem mit einer Kulturalisierung einher, die jedoch zumeist implizit im Interviewkorpus bleibt. Damit fällt die Anlage des Interviews hinter die Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Bedingtheit zurück, weil nicht nach der Kategorie ‚Rasse‘/ Nation gefragt wurde. Zugleich beziehen sich die Jugendlichen teils explizit (Faradora), teils implizit (Locoloco) auf kulturelle Unterschiede. Aus der eingenommenen geschlechtertheoretischen Perspektive und unter Berücksichtigung der geschichtlichen Bedingung von Heimerziehung kann von einem strukturierenden Moment von Klasse und ‚Rasse‘/Nation für die Kategorie Geschlecht ausgegangen werden, was in den Interviews in unterschiedlicher Intensität zur Sprache kommt. Zudem zeigt sich an dieser Stelle ein weiterer Moment des Peripheren, insofern eine phallogozentrische Position nicht nur „Frau (Frauen) und Kind (Kinder)“ (Irigaray 2010/2008, S. 151) kontinuierlich zu dominieren und sich anzueignen sucht: Es handelt sich um ein Verhältnis zur Natur, in dem die Ohnmacht gegenüber der eigenen Angewiesenheit abgeschüttelt werden soll mittels der Beherrschung von ‚Natur‘ „jenseits von Frau und Kind, verachtet in der anderen Rasse, der anderen Ethnie und in dem, was [...] an eine natürliche Zugehörigkeit erinnert“ (ebd., S. 152).113 In der Verknüpfung mit der Kategorie ‚Klasse‘ kann die von Irigaray beschriebene ‚natürliche‘ Zugehörigkeit auch mit der vermeintlichen Gegebenheit der sozialen Ordnung verbunden werden, insoweit in den Interviews teils Abwertungen sozial Schwacher erfolgen. In der bereits angeführten Konfrontation von körperlicher vs. geistiger Stärke verbinden sich Männlichkeit und klassenspezifische Distinktionsbestrebungen: Das Recht des Stärkeren kann durch seine Muskelkraft oder seine intellektuelle Überlegenheit durchgesetzt werden. Locoloco ‚spielt nur mit sich selbst‘ mit der Figur des Gangsters, dadurch schafft er Distanz zu dieser Figur, macht sich beziehungsweise die Figur zum Objekt. Zugleich bezeichnet er Jugendliche, die die Kappe so aufsetzen, wie er in seiner Selbstinszenierung, als ‚Möchtegern-Gangster‘ und unterstellt ihnen damit, den eigentlichen Status als Gangster nicht erreicht zu haben. Die Position eines ‚gefährlichen‘ 113  |  Ein solches Herrschaftsverhältnis wird im Folgenden als Bedingung für die fotografiegestützten Interviews betrachtet und ist nicht im individualisierten Sinne einzelnen Jugendlichen zuzuschreiben.

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und gegebenenfalls auch machthabenden ‚Kriminellen‘ verfehlen sie aus dieser Perspektive. Diese Figur des ‚Gangsters‘ bleibt somit ein Maßstab für die Abweichung. In der Abwertung des ‚Deppen‘, des ‚Nachahmenden‘, der sein Ziel verfehlt, bleibt die Anerkennung für denjenigen, der ein tatsächlicher ‚Gangster‘ ist, bestehen. Männlichkeit erscheint hier doppelt: Als geistige Überlegenheit desjenigen, der weder die männliche Inszenierung noch ihre Gewalt benötigt, und in einem ambivalenten Verhältnis dazu als authentische Verkörperung des ‚Kriminellen‘, der sich Anerkennung verschaffen kann. Die beiden in der Jungenpädagogik bekannten Bilder von Männlichkeit – die der hegemonialen und öffentlich anerkannten wie auch der marginalisierten Männlichkeit – werden hier aufgegriffen (vgl. 1.3.4).114 Zudem gibt es im Interview Locolocos Abwertungen, die das geistige Unvermögen anderer betreffen, beziehungsweise Aufwertungen in Bezug auf eigene geistige Fähigkeiten. Trotz der eingeführten Hierarchie zwischen Geist und Körper treffen sich die folgenden Interviewpassagen in der Anerkennung einer männlich-dominanten Position: Abb. 33: Poldi44 5 „Wirkt da so ziemlich dämlich, [...] und mit der Mütze, die ich da so halb draufgesetzt habe, wie diese ganzen, ich nenn sie mal Möchtegern-Gangster, die dann halt mit dieser komischen Kappe so halb drauf, [...]. Das sieht wie ich finde immer so ziemlich deppenhaft aus. Da wollte ich mich einfach mal so ne Art Deppengrimasse machen. [...] Es spiegelt insofern vielleicht auch so ein bisschen meine Meinung zu so was wieder, weil ich da versuche, so etwas nachzuahmen, nachzuäffen“ (Locoloco, 01:18:29-3).



114 | Während in Teilen der Jungenpädagogik die Notwendigkeit betont wird, ‚defizitär‘ betrachteter, insbesondere mit Gewalt und Migration assoziierter, Männlichkeit entgegenzutreten oder vermeintlich ‚alternative‘ Angebote der ‚Initiation‘ zu machen (vgl. 1.3.5 und Hunsicker 2012), tritt unter den Jugendlichen die darin aufscheinende Hierarchisierung von physischer Gewalt gegenüber dem Geist zutage (vgl. Adorno 1971/1965, S. 73). Diese wird zugleich mit Locolocos Abwertung von ‚Dummen‘ gebrochen.

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Abb. 34: Locoloco 3 „Oh, kann man sagen so, kann man eher sagen so grimmig, aggressiv (...) in dem Sinne so, so ich bin ein harter Kerl, komm mir nicht näher“ (Poldi44, 00:16:38-6). „komm näher und du hast mit mir Ärger. (...) Oder das Gesicht sagt: Willst du mich verarschen?“ (ebd., 00:16:584). „Der Blick sagt einfach nur: Ey Alter, willst du mich verarschen?! Ich komm dir gleich da runter!“ (ebd., 00:35:43-0). Abb. 35: Locoloco 1 „Ich hab‘ mal so gesagt bei den Grimassenbildern [Abb. 3,8,9] hab ich mir einfach gedacht, ich tu jetzt mal einen auf blöd. Also wenn ich so eine Art Dummkopf wäre oder jemand der einfach gerade hm nur Schwachsinn macht, also der (...) ich alber‘ manchmal auch gerne rum“ (Locoloco 00:10:56-9).

Abb. 36: Locoloco 3

Abb. 37: Locoloco 8

Abb. 38: Locoloco 9

In den Interviews und Fotografien werden Kriminalität, Ausschluss von ökonomischer Teilhabe und das individuelle (ökonomische) Versagen thematisiert. Es geht in den Aussagen um die Abgrenzung der Jugendlichen von weniger Gebildeten und weniger ‚Schlauen‘, gleichzeitig um eine Kennzeichnung und Abwertung des ‚Asozialen‘ (s. nächste Passagen). Insofern wird insbesondere Männlichkeit ambivalent verhandelt: Deren (nicht-weibliche und nicht-kindliche) körperliche, autonome und rationale Dimension scheint erstrebenswert, zugleich wird ihr Kippen in gesellschaftliche Unangepasstheit abgelehnt und bewundert (‚Gangster‘). Die Annahme, selbst nicht ‚zu verarschen‘ zu sein, wird in Poldi44s Fotografiebetrachtung mit körperlicher Überlegenheit verbunden.

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Die im weiteren Verlauf insbesondere von Michelle genutzte Bezeichnung als ‚asozial‘ und damit einhergehende Beschreibungen von abzulehnendem Verhalten sind neben der spezifisch formierten Männlichkeit eine weitere sprachliche und inhaltliche Spur der Geschichte der ‚Verwahrlosung‘ (vgl. 1.1; 1.2). Ohne dass nach der Heimerziehung in den Interviews gefragt wurde115, wurden die sie begleitenden Themen der Kriminalität, Gewalt und ökonomischen Benachteiligung von den Jugendlichen eingebracht. Während Locoloco eine ästhetische Form der Abgrenzung über die Parodie sucht, distanziert sich Michelle explizit: Abb. 39: Michelle 5 „Also ich find das ist [auf meinen Fotos] nicht so, dass man denken könnte, dass die Leute asozial sind oder. Die Leute sind auch alle normal. Also was heißt normal, aber (...) halt höflich und nicht so asozial und machen andere Leute dumm an. Die Leute sind einfach hilfsbereit. Es gibt nicht mehr viele Jugendliche, die so sind“ (Michelle, 00:27:40-5). „Ja zum Beispiel, wenn jemand einen Ladendiebstahl oder ja einen Ladendiebstahl begeht, dann wird das sofort beurteilt, ja derjenige ist vielleicht asozial, wenn das eine jugendliche Person ist oder ja und da wird vielleicht nicht hinterfragt, warum das passiert ist, sondern das wird direkt gibt‘s ein Urteil, ja die Person ist asozial. (...) Und das finde ich ein bisschen schade, eigentlich“ (ebd., 00:46:56-5).

115  |  Ich fragte erst nach, was damit gemeint sei, wenn beispielweise Michelle von ‚besonderen Lebensumständen‘ im Kontext ihrer Wohngruppe sprach. Die erste Interviewpassage Michelles folgte einer Ausführung Michelles bezüglich Körpergewicht und seiner Abwertung. In dem Kontext fragte ich nach, ob es äußere Einflüsse bei der Wahrnehmung des eigenen Körpers gebe und wie Jugendliche ‚normalerweise‘ in den Medien dargestellt würden. Worauf Michelle von ‚asozial‘ dargestellten Jugendlichen sprach und ihre Fotografien und die abgebildeten Menschen davon abgrenzte.

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Abb. 40: Michelle 6 „Es gibt auch Leute, die machen das nicht einfach so, weil sie es cool finden. Vielleicht gibt es ganz viele, die aus dieser kriminellen Ecke kommen. Ich will das nicht alles hier abwerten oder verallgemeinern, aber es sind dann halt auch sehr viele, die sich dann irgendeinen Bushido oder Sido oder irgendeinen anderen Rapper als Vorbild nehmen und sagen, eine kriminelle Vorgeschichte ist cool, ich mach das jetzt genauso. Andere waren schon immer so und sagen, gut, der ist genauso wie ich, der ist cool, deswegen bin ich jetzt auch hier ein Rapper oder sonst was. Und dann gabs dann irgendeinen, der sich das Ding aufgesetzt hat und damit dann wie ein Depp aussah, aber andere fanden das dann doch wieder cool und (...)“ (Locoloco, 01:19:29-5). „Nein, es kommt natürlich auf den Charakter selber an. Manche sind dann auch wieder irgendwie gewalttätig, andere leben zwar in dem Milieu, sind aber nicht gewalttätig. Also, so lange man da nicht kriminell wird oder anfängt Leute anzupöbeln oder herunterzumachen oder sonst was, finde ich es nicht okay“ (ebd., 01:20:48-7). „[Normal ist,] das man einen Menschen so akzeptieren kann, wie der ist und nicht hinter dem Rücken redet oder andere Menschen damit verletzt, wenn man ihnen irgendwas sagt und dann noch so unfreundlich und (...) einfach (...) das man nicht auf solche Gedanken kommt, andere Leute zu schlagen und zu beklauen oder anzuschreien auf der Straße, das finde ich einfach nicht normal“ (Michelle, 00:28:20-4). „Sieht zwar ein bisschen deppenhaft oder halt auch ein bisschen gewöhnungsbedürftig aus, aber die sind okay. Ich mach halt viele Menschen auch eher am Charakter aus. Zum Beispiel ist jemand, der sich so anzieht und Leute anpöbelt natürlich nicht weniger okay als jemand, der sich so anzieht, aber dann völlig okay ist. Und es ist dann auch wieder auffällig, dass dann viele Leute, die sich dann irgendwie so anziehen und hier, ich bin voll cool mit den langen Haaren

Abb. 41: Locoloco 3

Grammatik des Sehens hinten, dass viele von denen asozial sind. Das soll nicht heißen, dass jeder asozial ist“ (Locoloco, 01:20:48-7).

‚Asozial‘ wird einerseits zu einem Sammelbegriff für negative Eigenschaften, andererseits zum Synonym für kriminelles und gewalttätiges Verhalten. Die Parodie eines solchen Verhaltens ist für Locoloco das, was er „am wenigsten“ (Locoloco, 00:49:05-2) sei. Locolocos Abgrenzung kann sowohl als Zitat populärkultureller Darstellungen von ‚Gangstern‘ im sogenannten ‚Gangsta-Rap‘116 kontextualisiert werden als auch aus dem Kontext der konkreten Bedingungen in seiner Einrichtung verstanden werden. Bei der Vorstellung des Forschungsvorhabens war seine Wohngruppe die einzige, in der die Pädagog/innen von vornherein nur bestimmte Jugendliche zur Teilnahme vorschlugen. In den Vorgesprächen mit den Pädagog/innen und den Jugendlichen wurde der Ausschluss eines Teils der Gruppe ausweichend beantwortet, dennoch deuteten die durch die Einrichtung zugelassenen Jugendlichen an, dass die anderen Jugendlichen ‚nur Mist machten‘ und nicht mit den Kameras umgehen könnten beziehungsweise das Projekt ‚nicht gut für sie sei‘. Unausgesprochen blieb, dass es sich bei den Ausgeschlossenen um Jugendliche mit sogenanntem ‚Migrationshintergrund‘117 handelte. Weil die zugelassenen Jugendlichen außerdem über eigene Kameras verfügten, war die Teilhabe an Besitz und – wie die beteiligten Jugendlichen im Gespräch andeuteten – an die Vermutung der Pädagog/innen geknüpft,

116  | Dabei geht dieses Sub-Genre des Rap auf die Black Popular Culture der 1980er Jahre zurück (vgl. Quinn 2005). Im neuen Jahrtausend gewinnt in Deutschland ‚Gangsta Rap‘ jugend- und populärkulturell an Bedeutung, wobei sich die für das Genre konstitutive Unterdrückungserfahrung verschiebt: „[N]icht Afroamerikaner bilden die marginalisierte Akteursgruppe, sondern Menschen mit vorwiegend arabischem Migrationshintergrund“ (Dietrich/ Seeliger 2013, S. 121). Wesentlich für die Akzeptanz und Glaubhaftigkeit der (vornehmlich männlichen) Künstler sind dabei ‚authentische‘ biographische Bezüge zu sozio-ökonomischer und rassistischer Benachteiligung und (Banden-)Kriminalität. Ein starkes textliches wie visuelles Motiv ist dabei, sich aus der Situation ermächtigt zu haben, ohne die Regeln der Subkultur dafür zu verraten. Die öffentliche Wahrnehmung schwankt zwischen Ablehnung und Affirmation, im Sinne einer Identifizierung als abzuwertende ‚migrantische Jugendkriminalität und Männlichkeit‘ vs. einer ‚Lesart als Emanzipation‘ (vgl. ebd.). 117  | Von ‚Migrationshintergrund‘ zu schreiben, geht mit einem Dilemma einher: Wie sich im beschriebenen Ausschluss zeigt, ist eine Benennung der Betroffenen unumgänglich, will man die enthaltene rassistische Dimension einfangen. Zugleich weist gerade der „Ausdruck [Migrationshintergrund] in rassistischer Weise immer wieder auf die scheinbar ‚fremde Herkunft‘ der so bezeichneten Person hin[...], deren Herkunft eigentlich keine Bedeutung haben sollte“ (Heinemann 2014, S. 17, FN 1), wie Alicia Heinemann die Kritik zusammenfasst.

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dass die geliehenen Kameras zu Schaden kommen oder entwendet werden könnten. Locolocos Darstellung lässt die Motive für ‚Kriminalität‘ von Jugendlichen offen beziehungsweise thematisiert eine solche als etwas, wozu sich Jugendliche entscheiden, was auf eine kulturelle Deutung schließen lässt. Zugleich kommt es zu benannten Abwertungen der ‚nicht Authentischen‘ oder der ‚Dummen‘, was darauf deutet, dass Locoloco von einer Naivität oder Dummheit derjenigen Anderen, über die er spricht und die er parodiert, ausgeht. „also es gibt einfach so Sachen, da weiß man oder kriegt man einfach beigebracht, wenn man‘s tagtäglich sieht, es gibt Dinge, die laufen soundso und hm es geht einfach nicht anders so“ (Faradora, 00:46:46-8).

Faradora geht in dieser Passage von einer kulturellen Bedingtheit aus, davon, dass bestimmte Verhaltensweisen und Vorstellungen „wahrscheinlich“ (ebd.) von den Eltern beigebracht werden. Dabei seien Werte und Normen an sich von „dem täglichen (...) Alltag hm der Kultur in einem Land quasi vorgegeben“ (ebd.). Als Beispiel führt Faradora religiöse Formen der Verschleierung und Vollverschleierung im Kontrast zu „Jeans und T-Shirt“ oder „Anzug“ (ebd.) auf und greift damit auf eine gegenwärtige Projektionsfläche des absolut Anderen zurück. Die jeweiligen Gründe für die spezifischen Regeln hätten sich – so Faradora – dabei kulturell, religiös und in Abhängigkeit von natürlichen Bedingungen (Wetter) entwickelt (vgl. ebd. 00:48:20-2). Allerdings bleibt Faradora nicht bei dieser Erläuterung stehen, sondern bezieht mögliche ökonomische Bedingungen mit ein: „weil wir in einem sehr reichen Land leben [haben wir] einfach andere Maßstäbe [...], als jetzt hm ja ein Land in der dritten Welt (...) dass sich das auch darüber entwickelt“ (ebd.). Faradoras Darstellungen verweisen auf einen geschichtlichen Wandel und eine regional begrenzte Vorstellung der Geschlechternormen. Zugleich rekurriert ihre Deutung auf eine kulturell und ökonomisch begründete ‚Identität‘, indem sie auf ein ‚Wir‘ zurückgreift in Abgrenzung zur ‚dritten Welt‘. In anderen Interviews wird erneut direkt die Frage von Abweichung thematisiert, insbesondere unter Rückgriff auf die Bezeichnung ‚asozial‘: „Ja, wie die halt andere Leute dumm anmachen oder Leute zusammenschlagen oder ja auch nicht so eine schöne Ausdrucksweise haben oder ja. Also das ist das was ich sehe im Fernsehen oder auch auf der Straße teilweise“ (Michelle, 00:27:19-7). „[Asozial,] also für mich heißt das einfach, dass man vor anderen Leuten keinen Respekt hat, dass man wirklich kriminelle Sachen, die wirklich nicht gut sind oder hm Leute schlägt, die sich nicht wehren können oder ja man hat einfach (...) ich weiß es nicht (...) diese Leute (...) ja ich weiß es selber nicht, weil ich selber nicht so bin. Also das ist das halt für mich

Grammatik des Sehens irgendwo und das geht für mich gar nicht einfach. Einfach Leute ohne Grund zu schlagen oder Leute, die sich nicht wehren können oder beklauen oder irgendwo einzubrechen oder ein Raubüberfall zu machen (...) irgendwas so. (...) Ja sich anderen Leuten gegenüber auch so respektlos und unhöflich zu verhalten“ (ebd., 00:48:09-2).

Bezüglich der angenommenen ‚Asozialität‘ grenzt Locoloco sich selbst und grenzt Michelle die in ihren Fotografien zu sehenden Jugendlichen ab. Für Michelle ist sie selbst und sind die von ihr mitfotografierten Jugendlichen insofern von der medial dargestellten Masse zu unterscheiden, als dass es nicht mehr viele Jugendliche gebe, die nicht ‚asozial‘ seien (s.o.). Indem der gegenwärtige Zustand mit dem ihm vorgängigen verglichen wird, erfährt Michelles Darstellung eine Verzeitlichung. Die Verzeitlichung geschieht jedoch ohne Geschichte, weil als Abgrenzungsfolie die medial verbreitete aktuelle Debatten um Jugendkriminalität dient und deren Bedingtheit, insbesondere in der Heimerziehung, nicht berücksichtigt wird. Letztere deutet sich jedoch in der Kritik an ‚vorschnellen Be-/Verurteilungen‘ an. Durch den Stempel ‚asozial‘ wird dem Geschehen seine geschichtliche Bedingtheit genommen. Trotz Michelles Kritik und Locolocos Relativierung bleibt die Spur dieser Bedingungen in den Interviews erhalten. Diese Bedingungen von ‚Verwahrlosung‘ und ‚Asozialität‘ reichen in die Vergangenheit, insofern ‚asozial‘ irgendwie ‚nicht normal‘ ist. Es handelt sich um etwas Eigentliches, soweit es unterschieden wird von einem möglicherweise Gewählten. Es ist auch eigentlich oder identitär, wenn es auf ein bestimmtes Seiendes im Charakter, im Milieu oder einer ‚kriminellen Ecke‘ zurückgeführt wird. Während die Gesellschaft in der in Kapitel 1.1 dargestellten Verwahrlosungs- und Asozialitätsannahme vor allem in der nationalsozialistischen Deutung durch den Biologismus und Rassismus ausgeschaltet wurde, tritt in die Passagen der Jugendlichen ein neues Moment ein118: Es besteht die Möglichkeit, sich individuell aus dem ‚Milieu‘ zu lösen oder sich individuell für etwas zu entscheiden. Besonders hervorgehoben wird dies in Poldi44s Diskussion von Faulheit und Versagen:

118  | Darin findet sich über die neoliberale Bedingung der Gegenwart und der zugehörigen Responsibilisierung hinaus die Diskussion krisenhafter Männlichkeit. In Bezug auf die Jugendhilfe in stationärer und haftvermeidender Form ist dabei die politische und mediale Diskussion seit 2008 – also zwei Jahre vor dem Erhebungszeitpunkt – um Jugendkriminalität, ‚Intensivtäter‘ und ‚Warnschussarrest‘ relevant. Diese Debatte war stark mit einer Verknüpfung ‚schlechter Männlichkeit‘ mit ‚Migrationshintergrund‘ verbunden und verweist damit auf die Verknüpfung von Geschlecht und ‚Rasse‘. Vgl. dazu CDU 2008, das Projekt Chance e.V. in Baden-Württemberg (www.projekt-chance.de) und zur wiederkehrenden Krisendiskussion bezüglich Männlichkeit Opitz-Blakhal (2008).

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Geschlecht und Heimerziehung „Leute, die etwas aus ihrem Leben machen. (…) Die einen Job haben, eine Familie versorgen (…) das sind keine Versager, das sind (…) die Menschen haben etwas erreicht. Man muss gar nicht mal reich sein, man muss nicht mal Millionär sein, reicht, wenn man einen Job, eine Familie, eine anständige Wohnung, ein anständiges Leben hat“ (Poldi44, 00:45:54-9). „Ja, eine normale Wohnung, muss nicht mal eine große Wohnung sein, eine ganz normale Wohnung, (…) eine Familie, ein Job. Da hat man schon, was, was ich mag. Hartz4-Empfänger, die einfach nur in der Bude hocken, vor der Kiste sitzen und nichts tun (…) die haben nichts aus ihrem Leben gemacht. Das sind einfach nur (…) das hat nichts mehr mit einem normal (unverständlich) (…) das sind einfach nur (…) wahrscheinlich solche fetten, faulen Vollidioten, die einfach nichts mehr machen wollen. Die einfach keinen Bock drauf haben. (…) Ich bin zwar faul, habe aber trotzdem vor, einen Job zu haben, um was aus mir zu machen. (…) Da kann selbst meine Faulheit nichts dran ändern. (…)“ (ebd. 00:46:16-1).

Demnach ist die Situation, Hartz4-Empfänger zu sein, Folge einer Entscheidung, faul zu bleiben, nichts aus dem eigenen Leben, aus sich selbst zu machen. Die Verantwortung liegt wie in der unter Kapitel 1.3 dargestellten Responsibilisierung bei den Individuen. Die Zielvorgabe dafür, ‚etwas erreicht‘ zu haben, wird durch die Parameter ‚Job, Wohnung, Familie‘ abgesteckt. Dem durch Poldi44 durchgehend männlich benannten Versager steht der Versorger der Familie gegenüber. An dieser Stelle treffen vermeintlich autonome Verantwortung und die fortgesetzte Ordnung von produktiver und reproduktiver Sphäre aufeinander. Dabei wird verdeckt, dass weder die beruflichen und familiären Verhältnisse, wie sie in den 1950er Jahren als vermeintliche ‚Normalität‘ den vermeintlich ‚Verwahrlosten‘ entgegengehalten wurden, noch die Gleichberechtigungspolitik und gleichzeitige Individualisierung der Gegenwart ihre Versprechen halten können und konnten.119 Eine mögliche Zukunft wird projiziert unter einem von seinen Bedingungen abgewendeten Blick. In der Konfrontation von Passagen Poldi44s, VNovaks und Faradoras treten Geschlechterbilder als Klischees hervor, die zugleich Teil der paradoxen Anforderungen an junge Frauen in der Gegenwart sind: 119  |  Die Veränderung des Geschlechterverhältnisses ist im Hinblick auf die Idee des männlichen Versorgers nicht eindeutig zu bewerten: Im Vergleich von Nachkriegszeit und Gegenwart kann zwar davon ausgegangen werden, dass sich mit einer Inanspruchnahme von Elterngeld durch 34,2 % der jungen Väter etwas getan hat, von einer Gleichberechtigung in den produktiven wie reproduktiven Arbeitsbereichen jedoch angesichts des geringen zeitlichen Umfangs (79 % der jungen Väter beziehen nur zwei Monate Elterngeld) kaum ausgegangen werden kann (vgl. destatis 2016). Bezogen auf die Erwerbstätigkeit nach der Elternzeit setzt sich dieser Unterschied fort, insofern der Anteil voll erwerbstätiger, in einer heterosexuellen Partnerschaft lebender Mütter von unter Dreijährigen zwischen 2006 und 2015 bei etwa 10 % lag (vgl. destatis 2017a).

Grammatik des Sehens

Abb. 42: Poldi44 2

Abb. 43: Poldi44 6 „Das [normale Männer] sind [...] zielorientierte, ernste (...) und meist auch (...) stolze und eingebildete Männer“ (VNovak, 00:49:11-2).

Abb. 44: VNovak 6 „Leute, die etwas aus ihrem Leben machen. (...) Die einen Job haben, eine Familie versorgen (...) das sind keine Versager, [...] die Menschen haben etwas erreicht“ (Poldi44, 00:45:54-9).

Abb. 45: Poldi44 4 „Aber die Frauen [die so sind,] sind dann meistens alleinerziehend, und die ziehen nur alleine irgendwohin und die haben auch meistens keine Männer. Wenn dann nur so kurzfristig“ (VNovak, 00:49:31-7). „Vielleicht will man was ganz Bestimmtes erreichen und muss dafür auch so hart sein“ (ebd., 00:50:07-6). Abb. 46: VNovak 7

Abb. 47: VNovak 8

Abb. 48: Poldi44 7 „[I]ch bin manchmal eben lieber allein, wenn die Alternative ist, mit irgendwelchen komischen Leuten abzuhängen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben will“ (Faradora, 00:33:03-4).

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Die Darstellungen der Jugendlichen sind nur oberflächlich betrachtet Klischees, tatsächlich sind sie geschlechterpolitisch bedingt, insofern für die Gegenwart weiterhin von einer Hierarchie der produktiven und reproduktiven Sphäre ausgegangen werden kann. Die Dichotomie scheint zwar ins Wanken geraten zu sein, allerdings nur in dem Maße, wie die reproduktive Arbeit Annäherungen an den Maßstab der Produktion erfährt (vgl. 1.3; 2.2.2). Zwar können Frauen in der Gegenwart in bislang männlich konnotierte Bereiche vordringen, dies geht jedoch, folgt man VNovak, mit einem Verlust einher. Dieser Verlust betrifft die Bezogenheit in einer Partnerschaft und/oder Familie. In den beiden Positionen verdeutlicht sich eine doppelte Logik120, wonach es in Poldi44s Augen keinen Konflikt zwischen privatem und beruflichem/ökonomischem Erfolg gibt, hingegen bei VNovak Erfolgsstreben für Frauen – und nur für Frauen – zum privaten Problem wird. Faradora betrachtet die Vertretung eines eigenen Interesses hingegen als selbstgewähltes – autonomes oder kontrolliertes – Alleinsein. In den Darstellungen der Jugendlichen kommen materielle-ökonomische und kulturelle Bedingungen von Geschlecht zum Tragen, die im Diskursiven allein nicht aufgehen (vgl. 2.2.1). Zusammenfassend tritt der durch Klasse und ‚Rasse‘/Nation bedingte Maßstab des Einen in den aufgegriffenen Passagen auf verschiedene Weise auf: Einerseits wird eine klassenspezifische Abwertung fortgesetzt, insofern ‚Asoziale‘, ‚(Möchtegern-)Kriminelle‘ und ‚Hartz4-Empfänger‘ zur Abgrenzung herangezogen werden. Andererseits kommt es partiell – bei Michelle und Poldi44 – zu Verteidigungen von ‚zu schnell Verurteilten‘ oder ‚Faulen‘. Darin wird die Zuschreibung von ‚Verwahrlosung‘ zitiert und die Erfahrung einer solchen Zuschreibung wiederholt beziehungsweise von sich gewiesen. Die Konsequenz liegt jedoch nicht in der Disziplinierung solcher Abweichender, denn Poldi44 eröffnet in der Projektion seiner eigenen, zukünftig möglichen Entwicklung eine durch Leistung erbrachte Veränderung. Ebenso lehnt Michelle ein zu schnelles Urteil ab, sie verweist auf ein eventuelles Potential der Veränderung, auch bei als ‚asozial‘ aufgefallenen Jugendlichen. Die ‚Verwahrlosung‘ wird so in das Versprechen eingebunden, ihren Bedingungen zu entkommen, jedoch nicht durch deren Kritik, sondern durch individuelle Veränderung. Diese Verschiebung in der Gegenwart spiegelt sich auch im Ansatz der Erhebung wider, insofern sich die Fotobefragung an Individuen richtet, die Institutionen dagegen nicht systematisch in den Blick genommen werden. Nur vereinzelt geraten Hinweise auf die ökonomischen Lebensbedingungen der Jugendlichen ins Bild. 120 | In den Interviews tritt etwas hervor, was trotz Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik nicht überwunden oder ‚abgestreift‘ werden konnte: Die „doppelte Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 1987) von Frauen als Voraussetzung für die kapitalistische Arbeitsteilung.

Grammatik des Sehens

Abb. 49: VNovak 9 Allerdings wird die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe in der Reflexion der Jugendlichen, insbesondere bei Locoloco, in Form der Parodie (der Gangster) oder der Dokumentation von sich selbst (der Schüler) zum fotografischen Gegenstand. Die eigene Situation, in einer wenig angesehenen Institution pädagogisch betreut zu werden und mit den damit einhergehenden Stigmatisierungen umgehen zu müssen, veranlassen die Jugendlichen, sich in ein Verhältnis zu der eigenen Ausgangslage zu setzen. Die Form dafür liefert ein Maßstab, der u.a. über wirtschaftlichen Erfolg und über die Abgrenzung von gesellschaftlichen ‚Verlierern‘ gekennzeichnet ist. Insbesondere der Maßstab und die Bedingungen von Erfolg im Sinne von ‚notwendiger Härte‘ (um etwas zu erreichen, vgl. VNovak) und die Kennzeichnung anderer als ‚Versager‘ bleiben dabei unberücksichtigt. Bezüglich der Kategorie ‚Rasse‘/Nation deutet sich eine Verschiebung zu der Kategorie Kultur an, die mit identitären Vorstellungen einhergeht (vgl. Faradora). Insgesamt bleibt diese Strukturierung jedoch eher impliziter Hintergrund der Erhebung beziehungsweise ist die Erhebung selbst durchzogen von dieser Kategorie, wie sich in dem Ausgeschlossenen des Leitfadens und der Blindheit bezüglich der Bedingungen in der Einrichtung von Locoloco und Poldi44121 zeigt. Insbesondere in Poldi44s und VNovaks Darstellungen ist eine durch Klasse und ökonomisch beeinflusste Geschlechtervorstellung relevant, insoweit der Erfolgsmaßstab an einem männlichen Familienernährer-Modell festgemacht wird und nur bezüglich der Position von Frauen ein Problem der Bedingungen für Erfolg thematisiert wird. Geschlecht ist, trotz der Versuche, es in der Erhebung auf diskursiv-performative Prozesse zu reduzieren, und trotz der neutralisierenden oder identifizierenden Deutungen der Jugendlichen, gespalten durch die klassenspezifischen und rassistischen Spuren seiner Geschichte.

Generation, Familie und Heim: Bezogenheit, Schließung und Tabu Ein weiterer Aspekt der geschlechtlichen Ordnung zeigt sich in der Auseinandersetzung mit Fotografien und Passagen aus den Interviews von Poldi44 mit jenen von Michelle. Indem darin ein doppeltes und darüber hinaus vermehrtes Sehen entsteht, kann von zwei Formen der Bezogenheit gesprochen werden, diese betreffen die Beziehung zum Konkreten und zum Abstrakten. Sie sind geschlechtlich geordnet, insofern Michelle konkrete Menschen, d.  h. in ihrem Fall Mädchen und Pädagoginnen aus ihrer Einrichtung, und die Beziehung zu ihnen in den Vordergrund rückt. Dem steht Poldi44s ‚Liebe als Fan zum 121 | Beide waren in einer Wohngruppe untergebracht.

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Fußballverein‘ gegenüber, in der keine konkreten Personen vorkommen. Das Computerspiel – das ‚so tun als ob‘ – abstrahiert die Beziehung zum Objekt in der Technik und steht im Gegensatz zu der Berührung zweier Hände, der Haut, dem Verwobenen (vgl. Abb. Poldi44 1 + Abb. Michelle 6). Der Verein und die Beziehung zu ihm verbleiben im Abstrakten: Abb. 50: Poldi44 1 „Wir sind wie eine Familie“ (ebd. 00:51:43-3), „[das zeigt sich daran, dass] man Vertrauen haben kann, dass man füreinander da ist, in guten und schlechten Zeiten einfach“ (Michelle, 00:52:02-9, Abb. Michelle 4). „Daran sieht man auch, ob man zu dem Verein steht oder nicht. Wenn sie mal Scheiße spielen und man trotzdem zu dem Verein steht – das sind dann richtige Fans“ (Poldi44, 00:45:02-4).

Abb. 51: Michelle 5 „Wenn man ehrlich ist, man kann sich aufeinander verlassen, egal wann. Dass der andere wirklich hinter einem steht und dass man sich über alles unterhalten kann und dass man vielleicht auch manche Sachen gemeinsam hat. Das macht für mich eine Freundschaft aus“ (Michelle, 00:53:12-2). „[Als Fan muss man für seinen Verein] einfach nur richtig dick die Daumen drücken und richtig für ihn da sein. [...] Hauptsache man weiß, für wen man steht“ (Poldi44, 00:43:09-7, Abb. Poldi44 1). „[Gina122 und ich] sind uns ähnlich vom Charakter her und trotzdem, egal wie das ist, wir können immer aufeinander zählen, also (...) und das ist gut“ (Michelle, 00:49:32-5, Abb. Michelle 5): „uns kann auch nichts so irgendwas schnell was trennen, [...] wir sind schon miteinander verbunden“ (ebd., 00:50:04-0). „Man hat [als Alleingänger], kann sein, man hat keine wirklichen Freunde (...) muss man auch nicht haben, um glücklich zu werden. Alleingänger sind meistens immer allein, mal gerne, mal glücklich. Ist bei mir auch so. Ich muss keine fünfzig Leute um mich herum haben, damit ich glücklich bin. Hauptsache ich habe mich selbst“ (Poldi44, 00:29:52-

122 | Ebenfalls am Foto-Projekt beteiligte Bewohnerin aus Michelles Wohngruppe.

Grammatik des Sehens 5). „ich bin nicht so der Frauenmensch, ich bin eher der Alleingänger“ (ebd., 00:29:426). „Mein Herz schlägt nur für einen Verein. Nicht für mehrere“ (ebd., 00:41:34-5).123

In beiden Positionen werden Liebe, Treue und Verlässlichkeit ein hoher Stellenwert eingeräumt. Dazu werden Anleihen aus der monogamen Paarbeziehung genutzt: Wie im Eheversprechen werden die ‚guten und schlechten Zeiten‘ zitiert.124 Das Herz – die wahre Liebe – schlägt nur für eine(n). Die Zitation betrifft zudem die Familie bei Michelle. Es sind wechselseitig aufeinander angewiesene Freundinnen, die nicht die Familie, aber wie eine Familie sind. Diese Freundschaften beruhen in Michelles Augen auf Verbundenheit, auf tiefgehender Kenntnis voneinander und auf reziproker Verlässlichkeit. In Poldi44s Darstellung haben die Erfolge und Niederlagen seines Vereins Einfluss auf ihn, während er selbst jedoch kaum Einfluss auf den Verein hat oder Gefühle konkreter Spieler tangiert. Poldi44s emotionale Beziehung ist einseitig, und obwohl der Einfluss von Erfolg und Niederlage anerkannt wird, bleibt er in der Beziehung vermeintlich autonom: „Man muss nicht immer ins Stadion gehen, man muss die nicht unbedingt auf Fernsehen sehen. (…) Hauptsache man weiß, für wen man steht“ (Poldi44, 00:43:09-7). Damit reicht 123 | Almut Sülzle (2011) zeigt in einer ethnografischen Studie über den Fanblock, wie Männlichkeit in der Fankultur eine spezifische Gestalt annimmt. Sie sei u.a. geprägt durch eine „Beschimpfungskultur, die dazu dient den Alltag [...] zu vergessen. [...] Zugleich ist Fan-Sein eine sehr ernste und leidvolle Angelegenheit“, insofern Männlichkeit im Fanblock „durch tiefe Gefühle wie ewige Liebe zum Verein, Leid und Treue“ (ebd., S. 348) gekennzeichnet ist. Poldi44 steht damit in einer männlichen Tradition, weicht jedoch gleichzeitig von ihr ab, denn er beschreibt zwar das Masse-Erlebnis im Fanblock, aber Poldi44 erwähnt keine Menschen, mit denen er zum Fußball geht. Sein Fan-Sein ist – jedenfalls soweit er Einblick gewährt – allein durch die Beziehung zum Verein gekennzeichnet. Während Sülzle davon ausgeht, dass der Fanblock auch von einer „Kameradschaftlichkeit“ und einem „sehr körperliche[n] Umgang untereinander“ (ebd.) geprägt sei, findet dies bei Poldi44 keine Erwähnung. Sülzle fasst Fußball in der Gegenwart als einen – in seinem Ansehen – männlich-proletarischen Sport und eine entsprechende Fankultur, was jedoch nicht einem ‚immer schon so gewesen‘-Sein entspricht (vgl. Sülzle 2011, S. 82ff.). Für Poldi44 gibt es jedoch keine Identifikation mit einem Proletariat, er individualisiert den erstrebenswerten Erfolg in der genannten Triade von ‚Job-Familie-Wohnung‘. Die gleichzeitige individualisierte, leistungs- und versorgerorientierte Position Poldi44s markiert an dieser Stelle auch eine Differenz zwischen gegenwärtigen Vorstellungen in der Jugendhilfe und den für die zweite Zäsur beschriebenen kollektivierenden und auf ‚Klassenbewusstsein‘ gerichteten Bestrebungen in der Heimkampagne (vgl. 1.2.2; 1.3.7). 124 | Sowohl in der evangelischen wie in der katholischen Kirche gibt es eine Variante des Eheversprechens, in dem sich die Ehepartner zusichern, ‚in guten und schlechten Zeiten‘ oder ‚an guten und bösen Tagen‘ zusammenzubleiben.

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die Identität als Fan und die Identität des Vereins aus. Es bedarf keiner spezifischen Handlung am oder mit dem konkreten Gegenüber, es reicht, durch das Wissen um die eigene Treue diese zu beweisen. Der Verein ist als Bezug ebenso abstrakt und ent-personalisiert wie die Vorstellung – obwohl sich Poldi44 derzeit als ‚Alleingänger‘ versteht – einer möglichen zukünftigen Familie, die er versorgen könnte. Die ‚hom(m)osexuelle‘ Ordnung unter Männern wird zu einer tatsächlichen Beziehung des Einen, in der es noch nicht einmal mehr einen Gleichen als Gegenüber gibt. Sie ist „autark“ (Irigaray 1991/1984, S. 120). Zudem gerät die mögliche ‚Masse‘ im Stadion oder der Masse-Charakter einer Gruppe von Männern ebenfalls zu einer Abstraktion und bleibt so einer Wahrnehmung in der Masse als Subjekterfahrung, wie sie Schlüpmann beschreibt, verschlossen. Die Masse bietet eine Identifikationsfläche, ist aber nicht über Bezogenheit und Nähe bestimmt. Die Erzählung und die Fotografien Poldi44s verweisen so auf die verlusthafte Seite vermeintlich autonomer Männlichkeit. Diese Spaltung tritt in der Erfahrung von Angewiesenheit in Zeit und Raum hervor; wobei sie auch Michelles Darstellung von Beziehung betrifft: Die zeitlich gebundene Veränderung und Angewiesenheit erschüttert die skizzierten Vorstellungen einer familienähnlichen Freundschaft in der Heimerziehung und einer kontinuierlichen Beziehung zum Verein durch Standhaftigkeit. Der Umgang damit unterscheidet sich in den impliziten Annahmen des Geschichtlichen gegenüber der zeitlichen Schließung: „Wir [Michelle und eine Pädagogin] hatten Vertrauen zueinander, aber irgendwann ist das kaputtgegangen hm und dieses Bild ist schon spontan gekommen, aber von beiden Seiten, dass wir so ein Bild machen können mit unseren Händen, dass es eigentlich ein Zeichen ist, miteinander, anstatt gegeneinander zu arbeiten und (...) das hat sich aber ziemlich ziemlich stark verändert, so dass wir eigentlich fast gar keinen Kontakt mehr haben und ja (...) deswegen. Ich mag dieses Bild zwar immer noch, aber hm das hat sich einfach von jetzt auf gleich wirklich so geändert und ist kaputt gegangen einfach“ (Michelle, 00:32:01-8, Abb. Michelle 6). „Nichts [hat sich seit dem Fotografieren geändert]. Gar nichts. [...] Ich habe mich, hat sich seitdem nichts wirklich verändert. (...)“ (Poldi44, 00:27:50-1). „[...] meistens bleibt das wirklich halt nur eine Erinnerung auf dem Foto, weil im Leben bleibt nichts für immer“ (Michelle, 00:32:55-6). „Ich glaube, selbst wenn ich dreißig bin, könnten die Fotos immer noch darüber aussagen, was ich dann noch bin. Also ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mit dreißig irgendwie anders bin“ (Poldi44, 00:28:16-8). „Man hat sich selbst gehabt und das wird sich auch nie verändern“ (ebd., 00:30:37-7). „Einfach, ich hab das einfach von mei-

Grammatik des Sehens nem Vater, mein Vater ist FC-Fan. Von dem habe ich das einfach, der hat mir das wohl eingetrichtert. Das hat mich wohl auch zum FC-Fan gemacht. (...) Wie sagt man sonst? Vererbt“ (ebd., 00:40:44-9).

Sowohl Michelle als auch Poldi44 berichten von etwas, das (vermeintlich und/ oder nachvollziehbar) nicht in ihrer Hand liegt. Deutung und Umgang mit dieser Erfahrung laufen dabei auf eine Schließung oder Annahme einer geschichtlichen Bedingtheit hinaus, insofern die Fotografien als Dokumentation eines bleibenden – von der Geschichte nicht betroffenen – Seienden oder als Darstellung von Vergangenem wahrgenommen werden. Bezüglich ihrer Abbildung 6 beschreibt Michelle eine Beziehung zwischen ihr und der Pädagogin, die geschieht, von ihnen gestaltet wird und endlich ist. Hingegen wird die generationale Beziehung bei Poldi44 auf die ‚Vererbung‘ reduziert. Diese Darstellung könnte zwar auch metaphorisch gelesen werden, allerdings verweist Poldi44s Annahme einer Fan-‚Identität‘ und der Unumgänglichkeit darin ebenfalls auf eine Schließung. Das Erbe kann ein Besitz, ein Objekt oder ein biologisches Merkmal sein, wobei die erbende Person auf das Erbe selbst zunächst keinen Einfluss hat, außer vererbte Gegenstände oder vererbtes Geld (oder Schulden) werden abgelehnt. Diese Distanzierung erfolgt in Poldi44s Interview jedoch nicht. Auch der Versuch, ‚ein anderer Fan zu werden‘ kann emotional wie finanziell nicht erreicht werden (vgl. Poldi44, 00:41:34-5). Dabei werden Geschlecht und Generation in den zitierten Interviewpassagen unterschiedlich impliziert. Die Begegnung mit dem jeweils anderen Geschlecht bleibt bei beiden spekulativ. So vermutet Michelle, was passieren würde, wenn die Mädchenwohngruppe zur koedukativen Gruppe würde und bringt dabei etwas zutage: Der Eintritt des Phallus würde die Beschäftigung der Mädchen miteinander unterbrechen, sie voneinander ‚ablenken‘ (s.o.), diese Vermutung ist erst einmal eine Spekulation über die männliche Repräsentation und ihre Fähigkeiten. Anstatt die Beziehung unter Frauen zu einem bewohnbaren Ort zu machen, wird ein ihnen ‚fremder Maßstab‘ eingeführt (vgl. Irigaray 1991/1984, S. 124f.). Ebenso mutmaßt Poldi44 über seine Beziehung zu Frauen, er sei kein ‚Frauenmensch‘, und dennoch kann er sich zukünftig vorstellen, eine Familie zu versorgen. An anderer Stelle zieht er in Erwägung, dass ein Mädchen sich vielleicht mit einer Barbiepuppe fotografieren würde (vgl. Poldi44, 00:32:583). Indem dies an der Lebensrealität gleichaltriger, jugendlicher Mädchen vorbeigeht, wird deutlich, wie wenig die Erfahrung mit Mädchen und Frauen Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist. In seinen Augen sind sie ‚ganz anders‘ und dieser Unterschied ist nicht benennbar. Das unbestimmte Weibliche ist der „Prozeß der Spekula(risa)tion** des männlichen Subjekts“ (Irigaray

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1980/1974, S.  24).125 Dabei muss zumindest in pädagogischen Institutionen, konkret auch in Poldi44s Wohngruppe, von einer Begegnung mit weiblichen Fachkräften ausgegangen werden. Die Beziehung zum anderen Geschlecht bleibt ausgespart beziehungsweise erstarrt in einem undefinierbaren Spiegel. Im Hinblick auf Generation zeigt sich in den Interviews bezüglich der Mutter, aber auch weitestgehend bezüglich des Vaters, eine Leerstelle. Eltern und Kinder im Allgemeinen kommen nur vereinzelt zur Sprache. Allein in Poldi44s Interview wird der Vater thematisiert. Dieser Bezug fällt auf, weil die Familie für Poldi44 zunächst nur unumgängliches Erbe, aber keinen Einflussbereich der Eltern mit sich bringt: „Nicht wirklich groß können die [Eltern] da Einfluss drauf nehmen. (...) Auf die ganzen Eigenschaften ja überhaupt nicht“ (Poldi44, 00:41:17-0).

Michelle nimmt zwar keinen Bezug auf die Herkunftsfamilie, beschreibt jedoch die Beziehungen in der Wohngruppe ‚wie in einer Familie‘. Sie macht allerdings keine generationale Differenz zwischen der Pädagogin und ihr aus: Abb. 52: Michelle 5

Abb. 53: Michelle 6 „Es gibt manche Freundschaften, die sind ein bisschen kaputtgegangen“ (Michelle 00:31:04-6, Michelle Abb. 6).

Die gleiche Geste, einmal mit einer anderen Bewohnerin, einmal mit der Pädagogin, erfährt keine Kommentierung durch Michelle. Ausgespart werden mögliche Konflikte mit der Pädagogin, die zum Bruch in der Beziehung oder der notwendigen Abgrenzung gegenüber einer generationalen Angewiesenheit geführt haben könnten. Generation bleibt damit unzugänglich. Dabei ist Beziehung zu der Pädagogin, in Michelles eigener Darstellung, an eine Zeitlichkeit gebunden: Indem sich die Beziehung verändern kann, ist das Verhältnis im Fluss und weniger durch Abgrenzung charakterisiert. Hingegen wird es in einem schließenden Verständnis, wie es in Poldi44s Interview zum Tragen kommt, zu einem einseitigen, nicht veränderbaren und ursprünglichen Verhältnis. Poldi44s Vater hat ihm seine Fußball-Leidenschaft ‚eingetrichtert‘ oder ‚vererbt‘, und dennoch kann das Kind von den Eltern isoliert betrachtet werden. 125 | Mit dem Neologismus wollen die Übersetzerinnen dem französischen „spécularisation“ gerecht werden, was für Irigaray „Spekulation und Spiegelung“ (Irigaray 1980/1974, S. 24; Anm. d. Ü.) bedeute.

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Abb. 54: Poldi44 8

Abb. 55: Poldi44 9

Das Geschehen der Genealogie wird somit als ein natürliches Erbe ausgeschaltet, es verliert an Dynamik, wird stillgestellt. Ambivalent bleibt das Verhältnis für Poldi44, insofern es eine gewalttätige Beeinflussung gibt, das Erbe ‚eingetrichtert‘ wird. Die Familie wird im ausgeschlossenen elterlichen Einfluss zwar zu einem absolut Anderen, dennoch bleibt der Vater als Ursprung der Gegenwart. Die Gegenwart verliert jedoch an Zeitlichkeit, wenn sie ohne geschichtliche Veränderung gedacht wird. Zwar wurde in der Vorbereitung des Leitfadens in Erwägung gezogen, dass die Jugendlichen ihr Leben in der stationären Erziehungshilfe thematisieren könnten, aber dies wurde systematisch nicht als Leitfadenfrage berücksichtigt. Vielmehr wurde die Frage nach der Situation als Heimkind, ebenso wie eine geschlechtliche Adressierung, als mögliche identitäre Zuschreibung ausgeklammert. Das generationale Verhältnis wurde so durch die Jugendlichen und den Leitfaden größtenteils tabuisiert. Es kam zu einer doppelten Ohnmacht, in der die Angewiesenheit einerseits nicht wahrgenommen werden konnte, andererseits durch eine Idealisierung der Gruppe teilweise umgangen wurde. Das zeigt sich in Michelles fotografiegestütztem Interview, die als einzige explizit auf das Leben in der Heimerziehung eingeht: Abb. 56: Michelle 7 „Weil ich denke, weil wir haben hier spezielle Lebensverhältnisse und das hat so nicht so jeder. Es gibt zwar immer mehr Jugendliche, die das haben, aber hier ist das noch mal was ganz Anderes. Hier sind wir unter Mädchen und (...) hier gehört manchmal sehr viel dazu, dass man sich gut versteht oder dass man zusammenhält und ich denke, das ist schon was Anderes als teilweise als andere Jugendliche, denke ich mal“ (ebd., 00:13:09-9). „Ja, da ist ja die Gina bei mir auf dem Bild und wir kennen uns schon über ein Jahr und wir mögen uns schon gerne und wir haben eine gute Freundschaft und auf dem Bild, finde ich, ist das auch so deutlich so zu sehen, dass wir uns gut verstehen (...) und dass wir eine richtig gute Freundschaft haben, dass wir uns auch mögen und so (...) ich finde, das kann man auf diesem Bild gut erkennen“ (ebd., 00:09:09-5, Abb. Michelle 7).

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Abb. 57 Michelle 8 „Es gibt manche Freundschaften, die sind ein bisschen kaputtgegangen. Manche Leute sind auch gegangen und sind nicht mehr hier“ (ebd., 00:31:04-6, Abb. Michelle 6). „es [ist] eigentlich ein Zeichen [...], miteinander anstatt gegeneinander zu arbeiten und (...) das hat sich aber ziemlich stark verändert, so dass wir eigentlich fast gar keinen Kontakt mehr haben und ja (...) deswegen“ (ebd., 00:32:01-8, Abb. Michelle 6). „wir verstehen uns gut. Wir sind beide herzliche Menschen und ich finde, man sieht das auch an unserem Gesicht auch schon, dass wir uns wirklich mögen und (...) und dass wir uns gut verstehen und dass das Lächeln auch von Herzen kommt“ (ebd., 00:50:47-4, Abb. Michelle 8). Abb. 58: Michelle 4 „Für mich wär das einfach dieses (...) ja ich weiß nicht, ja auf der einen Seite schon dieses alltägliche Leben mit den Freunden einfach (...) so wär das für mich einfach, weil wir verbringen viel Zeit, mal unternehmen wir da was, mal geh ich mit dem irgendwo hin und es ist wirklich schön. Wir sind wie eine Familie“ (ebd., 00:51:43-3). „Das man sich aufeinander verlassen kann, dass man Vertrauen haben kann, das man füreinander da ist, in guten und in schlechten Zeiten einfach (...) Das macht für mich eine Familie aus. (ebd., 00:52:02-9). „uns kann auch nichts so irgendwas schnell was trennen, [...] wir sind schon miteinander verbunden“ (ebd., 00:50:04-0, Abb. Michelle 5). „Wahre Freunde“ (ebd., 00:52:53-4, Abb. Michelle 4). Die Beschreibung des Lebens im Heim findet in einer spezifischen geschichtlichen Konstellation statt, die einen Wandel im Familienbezug der Heimerziehung in sich trägt (vgl. 1.2; 1.3). In Michelles Ausführungen finden sich Anteile der gewordenen geschichtlich-konkreten Bedingung ihres Lebens in der stationären Jugendhilfe: Laut Kinder- und Jugendhilfegesetz ergeben sich im Verhältnis zur Familie für die Heimerziehung oder eine „sonstige betreute Wohnform“ als „Hilfe zur Erziehung“ drei mögliche Ziele, die entweder einen ihr jenseitigen Familienkontext eröffnen oder selbst eine andere „auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbstständiges Leben vorbereiten“ (SGB VIII, § 34). Während sich darin die Geschichte der Heimerziehung in ihrer Abkehr von einem autoritären Familienmodell äußert, wie sie insbesondere durch die Kritik der Heimkampagne angestoßen wurde, ist für Michelle gerade die Familie der Maßstab für die Beziehungen in ihrer Wohngruppe. Das betrifft sowohl die Freundschaften unter Gleichaltrigen als auch zu den

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Pädagoginnen. Gleichwohl unterscheidet Michelle Familie von Freundschaft und Heimerziehung, insofern es sich bei den von ihr beschriebenen Beziehungen um etwas handelt, das ‚wie‘ in einer Familie sei. Daraus folgt jedoch keine Trennung, wie sie von professioneller Seite gesehen wird: Michelles Beziehungen zu den Erziehenden werden an Familie und Freundschaft gemessen. In dieser Vermengung von Familie und Freundschaft wird zudem die generationale Differenz für Michelle obsolet. Dieser Konflikt verweist auf offene Fragen in der Gestaltung von Sorgearbeit. Das SGB VIII war bezüglich der Fürsorgeerziehung, insbesondere hinsichtlich des Paradigmenwechsels hin zur Orientierung am Schutz des Kindes, eine Konsequenz und somit auch ein Erfolg der Heimkampagne, wenngleich mit Verzögerung. Sowohl in der Heimkampagne als auch in der antiautoritären Bewegung war das erklärte Ziel (zu Recht), pädagogische Institutionen aus herrschaftlich strukturierten Gewaltverhältnissen im Generationalen zu lösen. Unzureichend geklärt waren Fragen generationaler Differenz und Autorität, im Sinne von auctoritas und einer geschlechtlichen Kritik daran (vgl. Kapitel 1.2 und 1.4). Diese Fragen gehört zur geschichtlichen Bedingung gegenwärtiger Heimerziehung. Sie versteht Familie etwas, das die Heimerziehung ersetzt oder ergänzt, aber nicht in der Heimerziehung stattzufinden hat. Damit werden Interpretationen des generationalen Verhältnisses im Heim übergangen, wie sie Michelle in ihrer Familienanalogie formuliert. Anhand dieser Problematik deutet sich der in der Trennung von reproduktiver und produktiver Sphäre angelegte Widerspruch an. Dieser hat gegenüber der Absage an die generationale Differenz der 1970er Jahre neue Gestalt angenommen, insoweit die Trennung einseitig überschritten wurde: Sorgearbeit wird zunehmend in einer Logik der produktiven Sphäre organisiert und bewertet (vgl. Fraser 2016). An die Stelle einer Auseinandersetzung mit der generationalen wie geschlechtlichen Differenz und einer womöglich ‚anderen Ordnung‘, unter Berücksichtigung einer eigenen Logik der Reproduktion, ist die Orientierung an ein Freiheitsversprechen durch Individualität und Autonomie getreten.126 In den analysierten Interviews wird dies deutlich, wenn Michelles Position, die Bezogenheit, Freundschaft und familiäre Verhältnisse betont und fordert, mit Ausführungen zu der autonomen Verantwortungsübernahme in anderen 126 | Damit soll hier nicht für eine Rückkehr zur autoritären Familienorientierung in der Heimerziehung plädiert werden, sondern die Notwendigkeit betont werden, die Bedeutung generationaler und damit auch geschlechtlicher Differenz für pädagogische Institutionen zu berücksichtigen. Eine Form für eine pädagogische/generationale Beziehung zu finden, die das im Einen Ausgeschlossene berücksichtigt, eine ‚weibliche‘ Genealogie mit sich brächte, stellt in Irigarays (1991/1984) Augen eine besondere Schwierigkeit dar: So sei durch die bestehende Ordnung die Beziehung unter Frauen wiederholt auf eine vermeintliche Immanenz zurückgeworfen (vgl. ebd., S. 128).

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Interviewpassagen in Bezug gesetzt wird. Hier zeigt sich, dass die gegenwärtige Selbständigkeitsorientierung in der stationären Jugendhilfe für die älteren Jugendlichen, auf die sie sich bezieht, teilweise zu einer generationalen Hierarchisierung ihrer Selbstansprüche führt. Abb. 59: Faradora 6

Abb. 60: Poldi44 2

Abb. 61: Poldi44 4

„Also ich würde nicht sagen, ich bin nicht in allen Lebensbereichen so eine typische 17-Jährige und hm es zeigt so ein bisschen, ja so eine so eine Andersartigkeit, weil hm jetzt nicht, dass ich von einem anderen Stern käme (Lachen) aber hm dass es eben so ein bisschen was Verrücktes, Verspieltes ist aber irgendwie (...) ja es ist (...) vom Gesichtsausdruck her ja nicht so wirklich wie so ein kindisches Spiel, also dann wäre ich ja irgendwie lachend oder hm lustig oder so. Aber das hat auch schon irgendwie was Ernstes dabei und so würde ich mich eben auch beschreiben“ (Faradora, 00:32:02-6, Abb. Faradora 6). „dass ich mich auch besser mit Älteren unterhalten kann, dass ich eher Kontakte hm zu Älteren habe, die jetzt ein paar Jahre älter sind als ich, dass ich hm nicht so computerund handyverrückt bin, dass ich mir keine komischen Magazine oder TV-Serien angucke. Dass mir Schule nicht total egal ist, dass ich bei meiner Meinung bleibe und sage, ich nehme keine Drogen, auch wenn ihr es gerne hättet. Und dass ich dann auch sage, ich bin manchmal eben lieber allein, wenn die Alternative ist, mit irgendwelchen komischen Leuten abzuhängen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben will“ (ebd., 00:33:03-4). „also ich bin ja auch jugendlich und da ist sowieso alles irgendwie durcheinander und in einer Phase von Umbruch. Man ist nicht mehr Kind, man ist auch noch nicht erwachsen, aber es ist irgendwie in einem Kuddelmuddel-Durcheinander und hm das liegt jetzt halt noch so geordnet und es müsste echt ein einziger Wirrwarr sein, wo man hm wo man das gar nicht so zuordnen kann, [...] das ist hm ja einfach so das Leben widerspiegelt, dass es nicht geordnet und in Reihe ist“ (ebd., 01:26:38-3).

In den letzten Passagen kommt es zu einer Deskription des Jugendlichseins als Veränderung, die ohne Ordnung verläuft, von der sich Faradora jedoch zuvor auch abgegrenzt wird, indem sie sich nicht nur eher den Älteren zuordnet, sondern sich auch als zielstrebig und kontrolliert beschreibt. Sie stellt sich dar, als sei sie nicht von den Interessen ‚ihrer‘ Generation beeinflusst. Auch wenn sie sich selbst in die Nähe der ‚Älteren‘ rückt, erkennt sie dennoch eine Situation des ‚Zwischens‘, einen Übergang der Jugendlichen von der Kindheit zum Er-

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wachsenenalter an. Dominanter ist jedoch die Abgrenzung in den Interviews. Wie bereits an anderer Stelle die Abgrenzung von Frauen und Kindern erwachsene Männlichkeit konstituierte (vgl. Locoloco und Poldi44), so verweist auch hier ‚klein sein‘127 oder Kindisches auf etwas, das ausgelagert wird. Eine der Bezogenheit entzogene Autonomie und Orientierung an Älteren wird dabei idealisiert. Die eigene Generation eignet sich auch kaum zur Identifikation, da sie als ‚asozial‘ oder ‚kriminell‘ gekennzeichnet wird (vgl. auch Michelles und Locolocos Darstellungen). Die Angewiesenheit im generationalen Verhältnis scheint das zu sein, was überwunden werden muss. Damit orientiert sich die Frage nach dem Generationalen beziehungsweise der Entwicklung zum Erwachsenen an der Differenz von Autonomie und Angewiesenheit.

3.5 Z ur E mpirie von G eschlecht und H eim Die vorliegende Untersuchung ist durch eine revisorische wie verrückende Bewegung gekennzeichnet: Während die methodologischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen eine nachträgliche, mittige Platzierung erhielten, wurde der Ausgangspunkt – die Erhebung fotografiegestützter Interviews – nach hinten verschoben. Diese zeitliche wie räumliche Delinearisierung ist dem Anspruch geschuldet, wahrzunehmen, wie die Empirie zustande kommt. Die dazu verfolgte Rückschau nahm die geschichtliche, generationale128 wie geschlechtliche Bedingtheit von Gegenstand, Theorie und Methode in den Blick. Dabei durchzieht die Arbeit die in Kapitel 2 problematisierte doppelte Unmöglichkeit der Methode, wonach erstens feministische Theorie in dem beschriebenen metaphysischen Wissenschaftsverständnis nicht intelligibel ist und zweitens vorherrschende, nach Eindeutigkeit trachtende Verfahren ihren Gegenstand selbst ausschließen. Die Auseinandersetzung damit, inwiefern die Verbindung von Heimerziehung und Geschlecht, ebenso wie das vorgelegte empirische Unterfangen geschichtlich bedingt sind, versetzte die Empirie, im Sinne von Forschung und Erforschtem, in ein anderes Licht. In diesem gewinnt der Umgang mit den fotografiegestützten Interviews einen Charakter, der sich einem methodisch objektivierten Fortschritt durch die schließende Lösung eines Problems verweigert. Das Vorgehen ist vielmehr im Sinne eines „historischen Philosophierens“ 127 | „Wenn ich das jetzt nicht, wenn das jemand anders wäre, dann würde ich jetzt sagen: [es geht] Um einen hobbylosen kleinen Looser“ (Poldi44, 00:02:04-8, Abb. 2,4).

128 | Wenn in diesem Unterkapitel wiederholt die Kategorie Geschlecht stärker als die der Generation hervorgehoben erscheint, ist dies sowohl der Fragestellung der Arbeit als auch dem Umstand geschuldet, dass in den genannten Fragen nach der Heimerziehung bereits die generationale Differenz enthalten ist.

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(Casale 2011, S. 57) oder „historischen Fragens“ (Derrida 1976/1966, S. 442) zu verstehen, das sich dem „historischen Horizon[t] der Erfahrung“ (Casale 2011, S. 54) widmet, zu dem sowohl das Erhobene wie auch die Wissenschaft selbst gehört. Dadurch wird das Verhältnis von Subjekt und Objekt in der Forschung anders justiert: Zum Gegenstand des Rückblicks wurden auch die Methoden und Medien der Erhebung, was sich vor allem in dem Verhältnis von empirischem Zeichen und zeichenhafter Empirie ausdrückt. Der Gegenstand Heim und Geschlecht erhielt in der Erhebung eine Verobjektivierung im jeweils fotografischen und/oder sprachlichen Zeichen, das zugleich selbst empirisch ist. Diese Verkörperung des Gegenstandes ist abhängig von seinen räumlichen und zeitlichen Bedingungen, von den Spuren in ihnen. Dabei ist die Bedeutung, wie sie aus der Interpretation des Verhältnisses von Zeichen und Objekt hervorgeht (vgl. Casale/Larcher 2004, S. 66f.), an die Iteration gebunden. Dieses Zitieren erschöpft sich nicht in sich selbst, es ist gespalten durch die unauflöslich sinnlich-intelligible Beziehung von Zeichen und Empirischem. Die Frage nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung wird in der Untersuchung der fotografiegestützten Interviews von der ihr vorgelagerten erziehungswissenschaftlichen und feministisch-theoretischen Perspektive geleitet. Demnach teilen die ‚Gegenstände‘ beider Perspektiven, ‚Frau‘ und ‚Zögling‘, die mit der Erfahrung von Angewiesenheit einhergehende „Ohnmacht“ (vgl. Schlüpmann 1998; 2014). Diese Ohnmachtserfahrung ist jedoch nicht allein auf Angewiesenheit reduziert, sondern findet unter der Bedingung einer Unterdrückung qua Geschlecht (vgl. Rubin 2006/1976) und Generation statt: Die mit der geschlechtlichen wie generationalen Differenz einhergehende Angewiesenheit wird durch das männlich-bürgerliche Subjekt in den Erfahrungsraum des (vermeintlich) ihm Anderen ‚ausgelagert‘. Dabei kann von einer phallozentrischen Ordnung gesprochen werden, insofern Frauoder Kind sein als Peripherie des unmarkierten, körperlos-autonomen und dennoch geschlechtlichen Subjekts betrachtet wird. Die Dekonstruktion als kontrapunktische Position, die nicht alternativ zum metaphysisch-phallozentrischen Denken ist, sondern von innen her operiert, spaltet Annahmen von „Selbstidentität“ (Derrida 2003/1967, S.  90), indem sie deren Abhängigkeit von ihrer Möglichkeit markiert. Unter Berücksichtigung der feministisch-theoretischen wie erziehungswissenschaftlichen Perspektive sind Annahmen von Identität und eindeutigem Ursprung Versuche, die ermöglichende Differenz in der generationalen und geschlechtlichen Angewiesenheit abzustreifen. In der Geschichte der Heimerziehung lassen sich die gewalttätigen Folgen solcher Abspaltungen nachzeichnen.129 Die Revision der fotografiegestützten Inter129 | Dies spiegeln insbesondere die historische Forschung als auch die Aufarbeitung der Heimerziehung Mitte des 20. Jahrhunderts und die geschlechtsbezogene Analyse wider (vgl. Peukert 1986, Schmid 2002, Gehltomholt/Hering 2006, Wensierski 2006, Steinacker 2007,

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views vollzog sich vor diesem Hintergrund als „unheilbare[s] Doppeltsehe[n]“ (Irigaray 1980/1974, S.  181), in dem nicht nur das, was als präsentes Objekt – als Seiendes – erscheint, sondern auch seine zeitlichen wie räumlichen Bedingungen zum Tragen kommen. Indem Seiendes und Sein als (vermeintlich) Gegebenes und Ausgeschlossenes gemeinsam gedacht werden, geht es nicht allein um die Erfahrung als rein sinnliche, sondern auch um die Logik, die die Erfahrung erst ermöglicht oder verunmöglicht (vgl. Casale 2013, S.  16f.). Im Rückblick auf die Erhebung wird die Erfahrung in ihrer Bedingtheit unter den Punkten Geschlecht und Methode und Geschlechtliche Genealogie und Heim zusammengeführt.

Geschlecht und Methode Wird die geschlechtliche und generationale wie geschichtliche Bedingung der Empirie der fotografiegestützten Interviews betrachtet, sind diese von der Geschichte eines erziehungswissenschaftlichen und gendertheoretischen Wissenschaftsverständnisses, gegenwärtiger Geschlechterpolitik und der Heimerziehung durchzogen. Auf der Ebene der methodologischen wie methodischen Voraussetzungen war dabei eine Wissenschaftskritik bestimmend, die im Sinne einer „radikale[n] Performativität“ (Forster 2007 b, S. 234) die politische Dimension von Forschung als strategischen Einsatz begreift.130 Aus dieser Perspektive sollte bisherigen geschlechtsspezifischen Interpretationen eine andere Evidenz durch heteronormativitätskritische Interventionen in der Forschung entgegengesetzt werden (vgl. Windheuser 2012, S.  63). Zugleich blieb die Anlage der Fotobefragung wie der anschließenden fotografiegestützten Interviews in sozialwissenschaftlichen Prämissen verhaftet, die von einer empirischen Legitimation der Theorie und einer Kontrolle durch Methodik ausgehen (vgl. Popper 1972/1962). In der Aufforderung zur Fotografie wie im Interviewleitfaden wurden Geschlecht und Generation in der Vermeidung von normativen Zuschreibungen und möglicher Beeinflussung des Empirischen zum Unausgesprochenen. Die Nicht-Benennung ist gendertheoretisch in Butlers Analyse begründet, wonach die identitäre Kategorie ‚Frau‘ Verdinglichung, starre Geschlechterbeziehungen und Ausschluss aus der Repräsentation erst hervorbringe (vgl. Butler 1991/1989, S. 20f.; 2.2.1). In der feministischen Revision gendertheoretischer wie empirischer Voraussetzungen lässt sich zweierlei festhalten: Geschlechtliche Differenz wird vermeintlich neutralisiert durch ihre Reduktion auf Normen, die durch eine konstruktivistische Intervention unterlaufen werden könnten. Mittels meRunder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren 2010, Kapitel 1 der vorliegenden Arbeit). 130  |  Eine solche Strategie aktiver Konstruktion von Wissen findet sich insbesondere bei Donna Haraway (1988, S. 848ff.).

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thodischer Kontrolle hergestellte Evidenz vermittelt eine Faktizität, die ihren Ursprung im betrachteten Gegenstand hätte und über beide Wege bisherige Forschung umkehrend infrage stellen könne. Die unter diesen Umständen hervorgebrachten fotografiegestützten Interviews entzogen sich einer allein heteronormativitätskritischen Betrachtung, insofern konventionelle Geschlechtervorstellungen visuell wie verbal vorgelegt wurden, die zudem auf ein hierarchisches Gefälle zwischen männlichen und weiblichen Positionen hinwiesen.131 In der Verdopplung des Gegenstandes durch die Geschichte von Heim und Geschlecht verschärfte sich die Dringlichkeit, nach der Abwertung und Verdinglichung von Frauen zu fragen. Die differenzfeministische und dekonstruierende Wende in der Betrachtung der Arbeit selbst und des in ihr hervorgebrachten Materials eröffnete damit einen Blick auf die phallozentrische Ordnung des Einen. Diese betrifft die Erhebung in der vermeintlichen Unsichtbarmachung geschlechtlicher Differenz, indem sie nicht benannt wird: durch geschlechtsneutrale Formulierungen wie durch die Reduktion auf eine diskursiv-performative Norm. Zudem betrifft sie die Herangehensweise mittels einer zunächst dokumentarisch132 eingesetzten Fotobefragung und einem standardisierten Interviewleitfaden. Während die genannte Sprachpolitik einen Ausschluss des Körperlichen zugunsten von Sprache und Geist impliziert, stellt die methodische Kontrolle eine Verobjektivierung der Methode und des Gegenstandes dar. Letzteres verschließt Gegenstand, Methode und Forschende als abgegrenzte Entitäten und entzieht ihnen ihre jeweiligen sinnlich-intelligiblen Bezüge zueinander.133 Aus der eingenommenen feministisch-dekonstruierenden Perspektive heraus handelt es sich bei den beiden Einsätzen gendertheoretischer wie methodischer Art um ein Erstarren im ursprünglichen Einen, das auf Ausschlüssen des (weiblichen) Körpers und der Differenz beruht. Die in dem mehrfach rückblickenden Verfahren in ihre Geschichtlichkeit von Heim und Geschlecht wie von empi131  |  An dieser Stelle sei daran erinnert, dass in Butlers Heteronormativitätskritik ‚Frau‘ wie ‚Mann‘ gleichermaßen ausschließende Normen darstellen, die Identitäten jenseits davon unintelligibel machen (vgl. Butler 1991/1989, S. 38f.). 132 | Die Fotografien waren mit dem Ziel herangezogen worden, über sie etwas bezüglich des performativ-diskursiven Charakters des geschlechtlichen Körpers in den Darstellungen der Jugendlichen zu erfahren (s. Kapitel 3.3.1). Darüber hinaus wurden Geschlecht oder andere (im Butler’schen Sinne) Identitätskategorien im Leitfaden nur vorgesehen, soweit sie durch die Jugendlichen thematisiert würden. Das implizierte, dass die Bedeutung aus der Empirie zu ziehen war. 133  |  In einer solchen Trennung ist das forschende Subjekt neutraler Beobachter einer ihm äußeren Natur (dem Gegenstand), wobei diese Trennung und Objektivität durch die kontrollierende Methode/Technik gesichert wird (vgl. Kapitel 2.1, 2.2.2 und 3.2). In einer einseitigen Bewegung wird die Erkenntnis zu einem Produkt, einem Besitz des Forschers.

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rischer erziehungswissenschaftlicher Forschung bewegte Empirie, in der das empirische Vorgehen selbst als Objekt betrachtet wird, brachte beide Versuche der Kontrolle ins Wanken. Als unheilbares Doppeltsehen durchzieht die unmögliche Methode das so gemehrte Material der Empirie. Dabei entreißt die Erhebung selbst den Gegenstand einer eindeutigen Betrachtung, indem er in Form der Fotografien wie der Interviews wiederholt verdoppelt wird. Die Fotografien verdoppeln in der Aufnahme den Moment ihres Entstehens. Dadurch, dass Fotografien ihren Referenten ‚mitbringen‘ (vgl. Barthes 1989/1980, S.  13ff.), sind sie umso mehr Zeichen und Bezeichnetes zugleich. Die erneute Betrachtung und Besprechung der so erzeugten neuen Objekte sind selbst wiederum im transkribierten Interview objektiviert. Diese Bewegungen in der Erhebung rücken angesichts der verselbständigten fotografischen ‚Objekte‘ und Interviews sowohl die Jugendliche als auch die Forscherin in eine angewiesene Position: Die Fotografien versetzen das SelbstBild der Jugendlichen in eine zeitliche Distanz und zugleich bringen Fotobefragung und fotografiegestützte Interviews einen geschlechtlichen und generationalen Raum in die ‚bereinigte‘ Erhebungskonzeption. Die Verdopplung lässt Subjekt und Objekt in der Fotografiebetrachtung für die Jugendlichen zusammenfallen, mit entsprechenden Konsequenzen für das Forschungsprojekt: Sie erfahren sich in diesem Moment sinnlich und intelligibel, indem sie dazu aufgeforderten sind, über die Fotografien zu sprechen. Die zeitliche Verschiebung und die unheilsame Wieder-Holung ermöglicht diese Gleichzeitigkeit.134 Die so erzeugte Beunruhigung des Eindeutigen in der Fotografiebetrachtung hängt mit der Dopplung von Zeichen und Bezeichnetem zusammen, in der das Zeichen selbst materiell und zugleich das Empirische zeichenhaft ist. Vor allem an den Beispielen der Ablehnung der eigenen Fotografie durch die Jugendlichen zeigt sich eine schließende Abwehr dieser sinnlich-intelligiblen Ambivalenz. Die Fotografien provozieren dazu, weil sie mit dem beschriebenen Zeichencharakter eine Vieldeutigkeit mit sich bringen, die Objekt und Subjekt dezentrieren. So lässt die Fotografie und Diskussion von VNovak Abb. 3 die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem in der Schwebe. Das Objekt der Fotografie ‚zeigt‘ den in spezifischer Pose arrangierten Körper und das Objekt der Stange, die als Materialität des Fotos und der Vergangenheit nach Wahrnehmung verlangen. Zugleich ‚ist‘ diese Materialität nicht in einem einfachen Sinne, sie und ihre sinnliche Erfahrung sind verwoben in geschichtliche Zitate von Bild und Text. Damit ist Materialität keine Natur jenseits des Intelligiblen, aber weil sie als das auftritt, was als Seiendes empfunden wird, ist sie auch nicht auf ihre intelligible Be-Deutung zu reduzieren. An dem Bei134  |  „Die Vieldeutigkeit rührt aus jener Diskontinuität her, die zu der Sekunde der fotografischen Doppelbotschaft führt“ (Berger 2016/1982, S. 92). Damit meint Berger die Differenz zwischen „dem aufgezeichneten Augenblick und dem Augenblick des Anschauens“ (ebd.).

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spiel zeigt sich, wie Materialität das Denken bedingt und zugleich nicht ohne intelligible Vermittlung – in einer natürlichen Unmittelbarkeit – zugänglich ist. Die Wahrnehmung des Empirischen ist damit von einer inhärenten sinnlichen Grenze nicht zu lösen. Die Verschiebung der konkreten Abbildung in ihrer Wieder-Holung in der Fotografiebetrachtung zeigt jedoch auch, wie das vermeintlich Seiende im Sein unauflöslich verwoben ist. Materialität stellt damit die Verwiesenheit auf etwas – Raum und Zeit – dar, was nicht restlos beherrscht werden kann, zugleich ist der Umgang mit dieser – nunmehr materiell begründeten – Angewiesenheit gesellschaftlich und somit auch geschichtlich geordnet. Die Ordnung nimmt selbst eine materielle Gestalt an, insofern ihr nicht einfach zu ‚entkommen‘ ist. Ihren Ausdruck findet sie im Zeichen, das sich verselbständigt, weil es ohne den konkreten Gegenstand verstehbar ist und selbst in der dazu nötigen Wiederholung zur Bedingung des Bezeichneten wird. Werden dazu die Überlegungen zu Geschlecht wieder eingebunden, zwingt die Erfahrung geschlechtlicher Differenz in ihrer Unentschiedenheit zwischen Natur und Kultur dazu (vgl. 2.2.1), in ein Verhältnis zur Materialität zu treten. Dies betrifft auch die generationale Differenz, weil diese auf die ihr inhärente zeitliche Grenze verweist. Die Verselbständigung des Zeichens gegenüber dem vermeintlichen Referenten und bezüglich der Kontrolle durch die Jugendlichen evoziert unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Verhältnis zur Materialität: So können die Fotografien für die Jugendlichen authentische, unbedingte Reproduktionen der Wirklichkeit sein, oder aber, als neue Objekte und auf Zeichen reduziert, keinerlei Aussagekraft besitzen (vgl. 3.4.1). Dabei werden Versuche von Kontrolle und Eindeutigkeit der nachträglichen verbalen Korrektur wie der Methode durch Geschichte, Zitat und Überschuss der Fotografie gespalten. In der dargestellten Verwobenheit von Sinnlichem und Intelligiblem, von Natur und Kultur, stellt sich die Frage, wie die spezifische Gestalt des Geschlechterverhältnisses ermöglicht wird. Im Hinblick auf die fotografiegestützten Interviews ist das eine Rückkehr zu der Ausgangsfrage, unter welchen Bedingungen eine Unterdrückung qua Geschlecht verläuft. Diese Frage impliziert keine neutrale Position, die allgemein nach Geschlecht fragt. Sie wird aus der geschichtlichen Erfahrung der Ohnmacht heraus gestellt, die die Frauenbewegung und eine mit ihr verbundene Wissenschaftskritik zum Ausgangspunkt ihrer Reflexion nahm. Gängige empirische Forschung gerät dabei als Abstraktion, Trennung und Identifizierung des Objekts gegenüber einem (unmarkierten) Subjekt zur Obsession. Diese hat einen ‚realen‘ Grund, insofern angesichts der beschriebenen Unentschiedenheit und Angewiesenheit (oder des Mukösen) eine wiederholte Anstrengung erfolgen muss, um sich der Autonomie des Subjekts und der Identität des Objekts – aber auch dessen Autonomie vom Subjekt – zu vergewissern. Irigaray geht davon aus, dass das

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Muköse die sexuelle Differenz ausmacht (vgl. Irigaray 1991/1984, S.  131), weil sie anders als die phallozentrische Trennung und Ordnung des Einen ist. Dennoch ist das Muköse, unter Berücksichtigung der vorhergegangenen Überlegungen, nicht komplett jenseitig. Das Muköse ist vielmehr das, was dem fest Umrissenen immer schon anhaftet, dessen es sich nicht entledigen kann. Geschichtlich ist diese Unterscheidung geschlechtlich gebunden. Die in der Unterscheidung als männlich, d.h. androzentrisch, phallozentrisch markierte Position, geht mit einer Abwertung und Ausschließung des Weiblichen einher. Sie lässt sich auch in den fotografiegestützten Interviews aufzeigen: Sie sind gespalten in eine Starre von Faktizität, Ursprung und Eindeutigkeit einerseits und Geschehen von Angewiesenheit in der Differenz andererseits. Letztere ist der Erhebung zwar inhärent, aber wird in der Anlage des empirischen Vorgehens wie in den Aussagen der Jugendlichen wiederholt zurückgewiesen.

Geschlechtliche Genealogie und Heim Der anfänglich angestrebte heteronormativitätskritische Ansatz der vorliegenden Arbeit war an mehrfache Ideen eines Fortschritts in Geschlechtertheorie wie -politik, erziehungswissenschaftlicher Forschung und der Praxis der Jugendhilfe gebunden. Davon ist im Rückblick insofern auszugehen, als dass angenommen wurde, mit einer gendertheoretischen Perspektive die geschlechtsspezifische Kategorisierung von Mädchen und Jungen infrage stellen zu können. Folgt man dabei Butlers (1991/1989) Argumentation, sei eine differenzfeministische Analyse obsolet geworden beziehungsweise bringe diese erst als Identitätspolitik die Machtverhältnisse hervor, die sie zu bekämpfen meine.135 Diese theoretische Debatte fällt zeitlich mit einer staatspolitischen wie transnationalen Politik zusammen, die einem primär gleichheitsfeministischem Anspruch folgt, d.  h. im Sinne von Gleichstellungspolitik einem Maßstab des Einen folgt. Während pädagogische Angebote Gender Mainstreaming-Richtlinien folgen und zunehmend Anti-Diskriminierungs-Konzepte integrieren, kommt es zugleich in Populärkultur und Konsumwelt zu einer Festigung von Geschlechterstereotypen (vgl. McRobbie 2013). Hinzu kommt 135 | Die vorliegende Auseinandersetzung mit einer an Butler angelehnten Gender-Theorie bezieht sich auf Butlers Arbeiten der 1990er Jahre, weil die darin beschriebenen Konzepte von Heteronormativität, Identitätskategorie und Performativität den Ausgangspunkt für die weitere (insbesondere deutschsprachige erziehungswissenschaftliche) Rezeption bilden. Für die weitere feministisch-theoretische wie geschlechtertheoretische Geschichte sind diese Schriften in eine Kanonisierung von Gleichheitsfeminismus, Differenzfeminismus und Gender feminismus einzuordnen (vgl. Casale/Windheuser 2018). Zudem bedürfte es einer anderen Fragestellung und Analyse als der hier diskutierten, sollten Butlers jüngere Arbeiten untersucht werden (insbesondere bezüglich der Vulnerabilität und Versammlung, vgl. Butler 2015; Butler/Gambetti/Sabsay 2016).

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eine trotz geänderter Familienpolitik weiterbestehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den Sphären von Produktion und Reproduktion (vgl. OECD 2017). Vor dem Hintergrund dieser paradoxen Situation gerät die Annahme einer möglichen Überwindung geschlechtsspezifischer Kategorisierungen in der stationären Jugendhilfe, die entsprechende Spuren der Verwahrlosungsdebatte in sich tragen, mittels sprachpolitischer Kritik ins Wanken. Das im Zuge der erstarkenden empirischen Bildungsforschung weiter breit vertretene positivistische Empirieverständnis (vgl. Casale 2011, Radtke 2016) bringt ein weiteres Fortschrittsversprechen hervor, das aber in der vorgelegten Perspektive unmöglicher Methode vor allem als Ausschlussverfahren erscheint. Im revisorischen Blick sind diese Ideen von Fortschritt – wonach eine differenzfeministische Perspektive der aktuelleren Gendertheorie, die feministische Bewegung der staatlich institutionalisierten Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik und die philosophisch-erziehungswissenschaftliche Betrachtung des Phänomens der empirischen Bildungsforschung zu weichen habe – in ihrer Geschichtlichkeit und Geschlechtlichkeit zu betrachten. So verschiebt sich die Frage nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der stationären Jugendhilfe – bezogen auf fotografiegestützte Interviews in der Gegenwart – hin zu der Aufgabe, die geschichtlichen, geschlechtlichen wie generationalen Bedingungen dieses Gegenstandes zu denken. Für die Erhebung der fotografiegstützten Interviews zeigt sich in der Folge die wissenschaftsgeschichtliche Abhängigkeit von etablierten Theorie-Empirie-Praxis-Verständnissen, ihre Beeinflussung durch eine spezifische Lesart der Dekonstruktion in der Erziehungswissenschaft und durch neoliberale Bedingungen (vgl. Kapitel 1.4; 2). Aus dieser Betrachtung ergeben sich Leerstellen in der Erhebung, die durch die Tabuisierung von Herrschaftsverhältnissen in der Anlage der Erhebung zustande kamen (vgl. Kapitel 3.4.2). Die differenzfeministische Betrachtung problematisiert die Leerstellen, sodass ein anderer Zusammenhang von Geschlecht und Heimerziehung als der zunächst fokussierte hervortritt. Geschlecht und Generation sind dabei anund abwesend in den fotografiegestützten Interviews (vgl. ebd.). Die phallozentrische Ordnung bestimmt einen Großteil der Darstellungen, insofern Autonomie und Identität wiederholt Bezugspunkte bilden. Daneben wird Geschlecht zugleich auf eine dem Zeichen vorgängige Natur reduziert. Wird dieser Teil der fotografiegestützten Interviews betrachtet, kann von einer anhaltenden spezifischen Geschlechterordnung ausgegangen werden. Zu Recht wird deren langfristiger Bestand angesichts von Veränderungen136 im generationalen Verhältnis und anderen Lebensrealitäten infrage gestellt, was – wie die Erhebung und ihre 136 | Zu den Veränderungen zählen der Wandel des generationalen Verhältnisses, der, in Opposition zu den nationalsozialistisch-autoritären Strukturen, insbesondere durch die antiautoritäre Bewegung angestoßen wurde (vgl. 1.2), und die zunehmende Öffnung zuvor

Grammatik des Sehens

Geschichte zeigen – jedoch nicht ihr absolutes Verschwinden mit sich bringt. Sowohl in der beschriebenen staatspolitischen und gesellschaftlichen Veränderung als auch in den fotografiegestützten Interviews kann vielmehr von einer Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Entwicklungen des Geschlechtlichen ausgegangen werden (vgl. Kapitel 1.3; 3.4.2). Im erhobenen Material erweist sich die Orientierung an einer phallozentrischen Ordnung, die durch einen Maßstab des Einen geprägt ist, als konstant. Die Konstanz äußert sich in dem Versuch, generationaler und geschlechtlicher Angewiesenheit zu entgehen, in der phallozentrischen Orientierung weiblicher Sexualität und in der Hierarchisierung des Einen gegenüber Anderen und Schwächeren; allen drei Punkten ist dennoch etwas Widersprüchliches inhärent, das vermeintliche Eindeutigkeiten ‚stört‘: So führt die bereits genannte Verdopplung in der Erhebung zu einer Irritation der Eindeutigkeit, auf die mit einer Annahme der Angewiesenheit, insbesondere auf die zeitliche Dimension, reagiert wird, oder auch mit einer Leugnung der eigenen geschichtlichen und materiellen Verwobenheit (z. B. wenn die Darstellung des Körpers in der Fotografie als ‚Nicht-Ich‘ abgelehnt oder keine Veränderung in der Zeit wahrgenommen wird). Von einer Verschiebung im Geschlechterverhältnis kann ausgegangen werden, insofern der Maßstab des Einen in Teilen der Interviews geschlechtsunabhängig angenommen wird (3.4.2; Faradora, VNovak). Dabei handelt es sich jedoch nur um einen vermeintlichen Widerspruch gegenüber der phallozentrischen Ordnung, insofern eine spezifische Hierarchisierung bestehen bleibt. Diese betrifft vor allem den Versuch, sich aus der Angewiesenheit zu befreien und von gesellschaftlich bedingter Abhängigkeit Betroffene abzuwerten. Die Wahrnehmung der Jugendlichen selbst in der gesellschaftlichen Bedingtheit ihrer Situation in der Heimerziehung wird nur von Michelle thematisiert. In ihrer Darstellung könnte die besondere Situation etwas Anderes ermöglichen. Auf der geschlechtlichen Ebene endet die Suche nach diesem Anderen allerdings in der Überlegung, eine Befriedung des Mädchenkollektivs durch männliche Gruppenmitglieder zu erlangen. Michelles Anerkennung von Bezogenheit steht die in den Interviews verbreitete (und visuell durch Locoloco in Szene gesetzte) Distinktion gegenüber den Angehörigen einer abhängigen Masse entgegen. Der Masse werden jene zugewiesen, die auch Schlüpmann in ihren Überlegungen der Masse der Abgelehnten zurechnet: Frauen (die den Alltag verrichten, an die Wiederholung gebunden bleiben); Arbeiter (als aussortierte ‚Asoziale‘ und ‚faule Hartz-IV-Empfänger‘) und ‚Schwarze‘ (all jene, die als ‚kulturell anders‘ wahrgenommen werden). Diese Masse bietet den Jugendlichen jedoch nicht die Möglichkeit, ihre eigene Situation in dem Raum wahrzunehmen, der sie selbst betrifft. strikter Ehe/Beziehungs- und Familienbilder, auch durch veränderte rechtliche Rahmenbedingungen (vgl. 1.3).

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Sie wird zur Bedingung ihrer Selbstbeschreibung, zur Abgrenzungsfigur: zu dem, was das autonome Subjekt nicht ist. Während Schlüpmann (1998) die Ohnmacht in der Masse zum Gegenentwurf für das autonome Subjekt gestaltet, insofern erst die in der Masse ermöglichte Wahrnehmung von Angewiesenheit zu einem Subjektstatus verhilft, wird in den Interviews die Angewiesenheit auf das Generationale wie Geschichtliche weitestgehend tabuisiert oder abgelehnt. Dieser Ausschluss war jedoch bereits für die anfängliche Anlage der Erhebung charakteristisch, insofern in dieser die generationale und geschichtliche Bedingung der Heimerziehung als zu neutralisierende Zuschreibung betrachtet wurde. Die phallozentrische Ordnung tritt so betrachtet in der Hierarchisierung von Autonomie und Identität bezüglich der Thematisierung von Geschlecht, Klasse und ‚Rasse‘/Nation auf. Diese Hierarchisierung betrifft die Erhebung wie auch die Inhalte des Erhobenen, weil durch die Versuche einer empirischen Neutralität (durch die nicht selbst eingeführten Kategorien) ein Ausschneiden des Erhobenen entsteht, wie auch die Jugendlichen durch Abgrenzung und identitäre Zuschreibungen eine Verobjektivierung vornehmen. Bezogen auf die Kategorien von Geschlecht, Klasse und ‚Rasse‘/Nation137 wird deutlich, wie die Geschichte zur wirksamen ‚Empirie in der Gegenwart‘ wird. Diese bezieht sich vor allem auf die Abwertung der klassenspezifischen Situation, die die gesellschaftliche Bedingung der Jugendlichen selbst betrifft. Die Identifizierung von vermeintlich Anderen, die nicht so ‚funktionieren‘, wie es die ökonomischen und ideologischen Bedingungen vorgeben, verunmöglicht eine Wahrnehmung der (wechselseitigen) Bezogenheit. Der so entstehende Konflikt, auch bezüglich der anderen Kategorien, wird individualisiert, und zwar in einem doppelten Sinne: als Identität und als individuelle Verantwortung. Die Darstellungen der Jugendlichen sind so betrachtet nicht ohne die aktualisierte Variante der Verwahrlosung zu verstehen. In dieser ist die Verwahrlosung nicht nur identitätsbestimmend, sondern es gibt – so das Versprechen der Responsibilisierung – eine individuelle Möglichkeit, dem insbesondere wirtschaftlichen ‚Versagen‘ zu entkommen. Vorstellungen sexueller Verwahrlosung erhalten in der Spur der Hysterie ebenfalls ein neues Gewand, insofern es im fotografiegestützten Interview mit VNovak zu einer widersprüchlichen Verwobenheit vom Maßstab des Einen 137 | Im Zusammenspiel der genannten Kategorien hätte die Arbeit auch einer intersektionalen Analyse folgen können. Allerdings kommen der geschlechtlichen wie auch der generationalen Differenz eine Besonderheit zu, insofern sie keine Produkte einer geschichtlich gewachsenen ökonomischen Ordnung oder eines kulturell erzeugten Rassismus sind. Sie markieren eine unumgängliche Begrenzung und Angewiesenheit, die jedoch nicht auf einen vermeintlich natürlichen oder kulturellen ‚Ursprung‘ zurückzuführen sind. Vgl. weiterführend auch Rendtorff 2008.

Grammatik des Sehens

und der dafür notwendigen Abwertung und Unrepräsentierbarkeit kommt: Die Zitate in den Fotografien und Interviews sind als sexuelle zu verstehen, weil sie gängigen Darstellungen von weiblicher Sexualität entsprechen, die aber den phallischen Mustern der Verdinglichung von Frauen folgen (indem die Figuren der Prostituierten vs. der Jungfrau/Anständigen aufgerufen werden). Diese werden infrage gestellt, weil eine explizite und den Besitzstatus durch den Mann/einen Einzelnen überschreitende Sexualität eingefordert wird.138 Indem diese Forderungen nicht legitim, sondern als verrückt bezeichnet werden und die visuellen Zitate gerade durch die phallische Deutung möglich werden, geraten die Passagen in den geschichtlichen Kontext der Hysterie. Eine weibliche Sexualität bleibt darin im Rahmen des ‚männlichen‘ Maßstabs und wird, obwohl oder gerade weil sie ihn als solchen entlarvt, zum Verrückten erklärt.139 Indem die Abwertungsbewegung fortgesetzt wird, folgt die Argumentation zudem der Logik des Einen gegenüber der weniger wertvollen Peripherie. Die aufgezeigte Hierarchie verweist darauf, dass die Kategorie Geschlecht nicht allein aufgrund einer dualistischen Unterscheidung zum Ort von Unterdrückung und Herrschaft wird: Männlichkeit ist dadurch gefährdet, ‚wie ein Mädchen› oder ‚wie ein Kind› zu sein. Die hierarchische Ordnung ist von entscheidender Bedeutung. Eine an ihr orientierte Abwertung findet sich auch bei VNovak und Faradora, indem sie den Anspruch auf eine auf (Natur-)Beherrschung basierte Autonomie übernehmen und – wie Faradora – weiblich konnotierte Attribute explizit ablehnen. Zu der Peripherie gehört zudem das Überschreiten von (vornehmlich männlichen) Geschlechtergrenzen und der Heterosexualität. ‚Normale‘ Männer kennzeichnet dabei, auf Frauen zu stehen, nicht-weiblich und nicht ‚wie ein Kind‘ zu sein. Damit spielt für die Unterscheidung von Geschlecht und sexueller Orientierung die Abgrenzung zu Weiblichkeit eine Rolle; heterosexistische Abwertungen können nicht allein auf der Deutung von heterosexueller Norm und homosexueller oder geschlechtlicher ‚Abweichung‘ erfolgen, sondern bedürfen einer Analyse des Geschlechterverhältnisses. Über Abgrenzung zur und Abwertung von Weiblichkeit werden Eindeutigkeiten hergestellt. Zu einer weiteren Form der Eindeutigkeit kommt es im visuellen Raum der fotografiegestützten Interviews, insofern Weiblichkeit im Selfie einen spezifischen Ausdruck erfährt. Hiervon sind vor allem weibliche Darstellungen in der Online-Öffentlichkeit betroffen. Als visueller Raum der Erhebung ist darin 138 | Das widersprüchliche Verhältnis darin verstärkt sich zudem durch die Beherrschung des Körpers und den konsumierenden/besitzergreifenden Charakter in VNovaks Selbstbeschreibung (vgl. zur Ordnung des Habens und der Macht auch Schlüpmann 2014, S. 229). 139 | So löst sich Irigarays Darstellung einer Hysterie als Störung der Ordnung nur bedingt ein: VNovak erkennt im Interview ein Dilemma in ihren Fotografien, aber verschiebt dieses Problem von der Sexualisierung zur Frage der Anständigkeit.

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eine Erfahrung der Masse angedeutet, die zwar von den Jugendlichen kaum thematisiert wird, aber über die Fotografien Einzug erhält. Zugleich steht die Selfie-Ästhetik für eine gegenwärtig legitime Darstellung von Weiblichkeit, die sich darüber definiert, im ‚richtigen Zitat‘ gleich und individuell zu sein, wobei gerade die Wiederholung nach einem spezifischen Maßstab ein entsprechendes Erkennen hervorruft. Damit wird sowohl eine durch Abgrenzung markierte Männlichkeit als auch eine durch die ‚richtige‘ Darstellung erzeugte Weiblichkeit geschlossen, beide werden zu Identitäten. Wie die Differenz von Geschlecht, Klasse und ‚Rasse‘/Nation wurde auch das generationale Verhältnis nicht durch die Fotobefragung und das fotografiegestützte Interview forciert, was zu Beginn noch von der Annahme geleitet war, damit einer Identitätszuschreibung als ‚Heimkind‘ zu entgehen. Dadurch gerät das Generationale zum Tabu, es kommt nur am Rande zur Sprache; vor allem die Herkunftsfamilie ist praktisch kein Thema, nur Poldi44 erwähnt seinen Vater, die Mutter wird dagegen in keinem der Interviews angesprochen. Dieser Ausschluss der Mutter, die Wahrnehmung der Pädagogin jenseits des Generationalen (als Freundin bei Michelle) und die Fremdheit von Frauen (Poldi44) werfen die weiterführende Frage auf, wie eine generationale Beziehung insbesondere zur Mutter Bedeutung für die Heimerziehung haben könnte. Dazu trägt zudem die an die hierarchische Unterscheidung von Kindlichem wie Weiblichkeit gebundene Konzeption von Männlichkeit bei. In den vorliegenden fotografiegestützten Interviews können zwei Positionen zum Generationalen festgehalten werden: Einerseits der Vergleich der Wohngruppe (inklusive der Pädagoginnen) mit Familie und Freundschaft, andererseits der Versuch, sich der generationalen Bindung zu entziehen, indem diese auf ein (biologisches) Erbe reduziert wird.140 Die nicht-explizite Einbindung des generationalen Verhältnisses in der Erhebung wie im Erhobenen wiederholt die Tabuisierung von Erziehung, obwohl die Jugendlichen in einer pädagogischen Institution leben und dies auch zu spüren bekommen – wie der Ausschluss eines Teils der Jugendlichen vom Projekt durch die Erziehenden zeigt. In die Fotografien und Interviews tritt damit eine gleichzeitige An- und Abwesenheit ein: Die Institution in ihrer Geschichtlichkeit ist der Raum, die Bedingung, für die Darstellungen der Jugendlichen wie auch für die Erhebung. In einem genealogischen – d. h. nicht eindeutig-ursprünglichen – Sinne verlässt die vorliegende Untersuchung gängige Verfahren empirischer Erforschung eines Gegenstandes der Gegenwart.141 In ihr wird nach den Bedingungen von 140  |  Darin ist die Familie nicht zum Einfluss fähig, der Vater jedoch Ursprung des Sohnes (so Poldi44s Herleitung seiner Fan-Identität). 141 | Susanne Maurer betont insbesondere für die feministische Erforschung (der Geschichte) Sozialer Arbeit die Notwendigkeit „‚ander[e]‘ Forschungsperspektiven, -strategien

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Empirie und Geschlecht gefragt, was in der unmöglichen Methode zu einem Doppeltsehen führt. Dadurch wurde das empirische Vorgehen selbst zum Objekt der Forschung, so dass seine Bedingtheit in den Blick genommen werden konnte. Zum einen zeigte sich ein Evidenzverständnis, das an die Annahme eines ‚reinen‘ methodischen Vorgehens gebunden war, wenn davon ausgegangen wurde, dass die Jugendlichen die für sie relevanten Kategorien einbrächten. Zum anderen wurde deutlich, dass Geschlecht als diskursives Phänomen betrachtet wurde und so eine Reduktion auf das Intelligible erzeugte. Indem die Geschichte von Geschlecht in der Heimerziehung und die Geschlechtergeschichte der Empirie nachträglich in die Erhebung gezogen wurden, trat die Notwendigkeit hervor, sich mit der generationalen und geschlechtlichen Angewiesenheit von Gegenstand und Empirie weiter zu beschäftigen. Aus der Perspektive der geteilten Ohnmacht von ‚Frau‘ und ‚Zögling‘ ist dabei als geschichtliche Bedingung für gegenwärtige Heimerziehung und ihre Erforschung eine geschlechtliche Ordnung von Belang, die eine Abwertung weiblicher Sexualität, eine gleichzeitig unmarkierte männliche Sexualität und eine spezifische ökonomische Vorherrschaft der produktiven Sphäre mit sich bringt. Die so gekennzeichnete Abwehr des Reproduktiven – und damit des Weiblichen – zeigt angesichts der bisher gefundenen Alternativen von autoritärem Generationenverhältnis (vgl. 1.1), Negation des Generationalen (vgl. 1.2) oder Ordnung des Pädagogischen nach dem Maßstab der Produktion (vgl. 1.3) die Notwendigkeit, Geschlecht und Generation als zentrale Kategorien der (Heim-)Erziehung und ihrer Erforschung zu begreifen.

und -praktiken“ (Maurer 2017, S. 17) zu entwickeln. Die konkrete, materielle Seite im Sozialpädagogischen und seiner Geschichte sei dabei nicht auf Diskurse zu reduzieren; ebenso haben „Praktiken des Erinnerns [...] eine Doppel-Qualität: sie sind diskursiv und zugleich materiell vermittelt“ (ebd., S. 19).

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Revision II: Differenz und Angewiesenheit von Heimerziehung und Empirie Doch der Psychoanalytiker, gleichgültig welchen Gebrauch er von dem Gesetz [des Vaters] macht, hält sich in seiner Praxis im Allgemeinen hinter dem Analysanden auf, so wie die Mutter, zu der man sich nicht umwenden darf. Man soll vorankommen, voranschreiten, fortgehen, indem man sie vergißt. I rigaray 1989/1980, S. 35 In so einem System [, in dem alles was existiert quantifizierbar wird, weil es Fakt und Ware geworden ist,] ist kein Platz für Erfahrung. Die Erfahrung des Einzelnen bleibt ein individuelles Problem. Auf die einzelnen Personen bezogene Psychologie ersetzt Philosophie als Erklärung von Welt. B erger 2016/1982, S. 102

Die Studie beginnt mit dem Hinweis auf ihren wissenschaftlich-(auto-)biographischen Anteil, der nicht ohne die Geschichte der Erziehungswissenschaft und der feministischen Theorie zu denken ist. Im Geschehen des Schreibens ist die Arbeit mehr der Vergangenheit als dem Fortschritt gewidmet, aus der Erkenntnis heraus, dass die Gegenwart wie die Zukunft einer Vergangenheit bedürfen. Über die Krise der Autorität schreibt Hannah Arendt, dass mit „dem Verlust der Tradition“ der „Ariadnefaden verloren“ gegangen sei beziehungsweise mit der verlorenen „Sicherung“ (Arendt 2000/1956, S. 161) der Tradition die Gefahr bestünde, die Vergangenheit zu verlieren.1 Aus der hier vorgelegten Perspektive stellt sich die Frage, inwiefern von einem vorhandenen Ariadne1 | Arendt ist dabei sehr wohl bewusst, dass die Tradition sich „auch als die Kette erweisen könnte, an die jede Generation neu gelegt wurde und durch die ihr die Vergangenheit in einem im Vorhinein vorgezeichneten Aspekt erschien“ (Arendt 2000/1956, S. 161); was sich gerade im Hinblick auf die androzentrische Geschichtsschreibung als folgenreich erweist.

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faden einer feministischen Genealogie oder seiner zuvor bereits bestehenden Abwesenheit gesprochen werden kann. Die Historisierung von Methodologie und Erkenntnistheorie unter Bedingungen gendertheoretischer und sozialwissenschaftlicher Fortschrittserzählungen markiert einen Prozess des Wiederentdeckens2 eines durchsichtig gewordenen Fadens in Frauenforschung und feministischer Theorie. Die unmögliche Methode ist somit keine ‚neue‘ Perspektive, sondern als Erinnerung und Tradierung in einer feministischen Genealogie zu verstehen, die nach dem Vergessenen in der etablierten Wissenschaft fragt. Zu dem Vergessenen gehört auch, was in der empirischen Kontrolle des vermeintlich Faktischen/Quasi-Naturhaften oder dem gendertheoretischen Rückzug auf die Kultur nicht aufgeht; was nach der fortbestehenden Ordnung des Einen weiterhin als ungedachte sexuelle Differenz abwesend/anwesend bleibt. So betrachtet ist die unmögliche Methode ein Versuch, Worte für diese abgespaltene Angewiesenheit der Empirie zu finden. Sie knüpft an Schlüpmanns (1998) Idee einer anderen Theorie an, der sie noch als ‚Anderes der Wissenschaft‘ gilt; sie ist zudem verwoben mit Irigarays (1979/1977) der Hysterie bisher nicht entkommenem Frau-Sprechen.3 In der wissenschaftlich-(auto-) biographischen Verstrickung von Sinnlichem und Intelligiblem, wie auch persönlich-öffentlicher Geschichte, erinnert die vorliegende Studie zudem an eine „Politik der Erfahrung“ als feministischem Ansatz, „bewußt zu machen, was noch nicht ins Bewußtsein gedrungen ist“ (Ruth 1989/1979, S. 551).4 Dabei zwingt die Situation zugleich in der und gegen die Institution der Wissenschaft

2 | Zu der mit der Wiederentdeckung verbundenen „Nachträglichkeit und Diskontinuität“ als Aufgabe für feministische (Biographie-)Forschung vgl. Becker-Schmidt 1994. 3 | Die in 2.2.2 beschriebene Nähe von Hysterie und Frau-Sprechen ist auch im Hinblick auf die frauenbewegte Geschichte der Sozialpädagogik von Belang, folgt man der von Birgit Althans (2007) beschriebenen Ambivalenz von Begehren und Hysterie in den Anfängen der Bewegung. In Althans Lesart steht die Hysterie für den „Hunger nach geistiger Nahrung“ (ebd., S. 51) der Frauen; mit Irigaray erweiternd wäre hinzuzufügen, dass es auch um die Suche nach Ausdrucksformen in den und gegen die bestehenden Bedingungen geht. 4 | Sheila Ruth diskutiert in ihrem Beitrag insbesondere die Frage, inwiefern consciousness-raising eine „Methode“ darstelle, um die „Spielregeln“ (Ruth 1989/1979, S. 551) in der Philosophie bzw. Wissenschaft wahrzunehmen; wobei diese Praktik wiederholt als weniger ‚wahre‘ Erfahrung (da sie nicht nach gängigen Methoden verifizierbar, ableitbar und/ oder auszudrücken ist) von der etablierten Wissenschaft degradiert werde. Oder wie Elisabeth List schreibt, sei die feministische Theorie immer wieder antifeministischen Strategien ausgesetzt, die das „Recht auf intellektuelle Selbstbestimmung“ untergraben und die die „Unhaltbarkeit feministischer Ideen ‚streng wissenschaftlich‘ nachweisen zu können“ (List 1989, S. 9) anstreben.

Revision II: Differenz und Angewiesenheit von Heimerziehung und Empirie

und ihre Regeln5 zu denken, dazu, „Formen aus[zuborgen], [um] ins Wissen einzudringen“ (Irigaray 1980/1974, S. 438). Das führte zum Umweg über die Derrida’sche Dekonstruktion und erst in einem weiteren Schritt zu Irigarays und Schlüpmanns feministischen Perspektiven. Indem infolge der beschriebenen Erinnerung aus der Frage nach der Bedeutung von Geschlecht in der Heimerziehung die ver-rückte Frage wurde, wie Geschlecht überhaupt untersucht werden könne, vervielfältigte sich der Gegenstand der Untersuchung: Zu dem Verhältnis von Heim und Geschlecht kamen als weitere ‚Objekte‘ die Geschichte dieses Verhältnisses (Kapitel 1) und die Geschichte von Theorie und Methode hinzu (Kapitel 2 und 3). Heim und Geschlecht erwiesen sich somit als bedingt durch eine spezifische Entwicklung der Pädagogik in Gesellschaft und Ökonomie, der Geschlechterverhältnisse und ihrer feministischen bzw. geschlechtertheoretischen Analyse sowie der erziehungswissenschaftlichen Disziplin in Forschung und Lehre. Die vorliegende Wissenschaftskritik und Diskussion des Verhältnisses von Theorie und Empirie, Theorie und Praxis ist der Erziehungswissenschaft keineswegs absolut fremd.6 Die Besonderheit liegt in ihrem Fokus auf die sexuelle Differenz und ihrer Betonung einer genuinen Beziehung zwischen Erziehungswissenschaft und feministischer Theorie über ihre Gegenstände und Kategorien Generation und Geschlecht.7 Der Gegenstand ‚Geschlecht und Heimerziehung‘ und die ‚neuen‘ Gegenstände seiner Geschichte wie der der Empirie werden in diesem Vorgehen von feministischer und erziehungswissenschaftlicher Theorie in einem „historischen Philosophieren“ (Casale 2011, S. 57) gespalten – die Spalte, die Schize ist muköser und durchlässiger Art 8 und verweigert sich damit einer metaphysischen absoluten „Schließung“ (Derrida 2003/1967, S. 137, Herv.i.O.). Während die erste Anlage der Arbeit in einer politisch-performativen Perspektive Möglichkeiten der Intervention suchte, verfing sich dieses Vorgehen über die differenzphilosophische/-feministische Rezeption von Dekonstruktion in der 5 | In ihrer diskursgeschichtlichen Betrachtung von „Feminismus“ und „gender studies“ beschreibt Hark (2005) diese Problematik, allerdings deutet sich bereits in der Zuweisung von Feminismus als politischer Bewegung und gender studies als akademischem Konzept wie auch in der gender theoretischen Lektüre Harks an, dass hier noch einmal eigens zu betrachten wäre, welcher Logik diese Analyse folgt. 6 | Dies zeigen neuere Publikationen, beispielsweise der Kommission Wissenschaftsforschung in der DGfE (vgl. Meseth u.a. 2016), aber auch Thompson/Schenk 2017. 7 | Diese Besonderheit ist – wie die Anbindung an eine Genealogie in feministischer Theorie und Erziehungswissenschaft deutlich macht – nicht in sich ursprünglich. 8 | Irigaray würde von den Lippen schreiben, die mehr als zwei sind, von der durchlässigen Membran, der Haut, die mehr als Übergang und nicht als Innen und Außen zu verstehen sei (vgl. Irigaray 1976).

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Angewiesenheit der Gegenstände ‚Geschlecht und Heimerziehung‘ und ‚Empirie‘. In der öffentlich-sinnlichen Wahrnehmung, die nach einem unheilbaren Doppeltsehen von sexueller Differenz und der Herrschaft des Einen verlangt, werden die Gegenstände und damit auch die vorliegende Forschung an die sich bedingende Angewiesenheit erinnert. Empirie als Erfahrung wird damit einer objektivierenden Entkopplung aus Raum und Zeit entrissen beziehungsweise ihrer Komplexität ausgesetzt. Keineswegs bedeutet dies einen Versuch der ‚Vervollständigung‘, der lieferte als Totalität nur ein Mehr „desselben“ (Irigaray 1979/1977, S. 178). Indem Erfahrung dann nicht als vermeintlich unmittelbar-sinnliche Deutung gedacht wird, sondern durch das muköse Verhältnis von Sinnlichem und Intelligiblen bestimmt ist, wird von einer gleichzeitig zeichenhaften Empirie und einem empirischen Zeichen ausgegangen. Aus diesem Blickwinkel werden die Fotografien und Interviews der Jugendlichen zu ‚Objekten‘, die auf Iteration angewiesen sind und somit dem Bereich der Technik und/oder Methode im Forschungsprozess entgehen. Gerade in den Fotografien und ihrer Betrachtung wird ein unauflösliches Verhältnis von Subjekt und Objekt im Forschungsprozess deutlich, das Erforschte wie Forscherin betrifft: Dieses Moment verstärkt sich noch durch das ‚Eigenleben‘, das durch die Verdoppelung von Körper und Leib in der Fotografie bzw. ihrer Betrachtung entsteht, und in der Situation des geteilten Gesprächs sowie in der nachträglichen Lektüre des aus den Aufzeichnungen entstandenen Textes. Die Bedeutung von Geschlecht entsteht dann in der Interpretation des Verhältnisses von Objekt und Zeichen (vgl. Casale/Larcher 2004). Das Subjekt löst sich in der Beschreibung des Verhältnisses zum Objekt nicht auf, es wird – Schlüpmann (1998) folgend – durch die Wahrnehmung seiner Bedingtheit bestimmt, also weder durch Herrschaft über das Objekt noch den Besitz des Objekts. Das Verhältnis von Forschungssubjekt und -objekt ist so in der wissenschaftsbiographischen Geschichte ambivalent: Das Schreiben ist ‚tätige Deutung‘ (vgl. 2.1.1) und Aneignung des Objekts, zugleich ist es abhängig vom Empirischen. Diese Erfahrung schafft, in ihrer Bedingtheit durch die Geschichte des Gegenstands wie seiner Erforschung, andere Formen der Intelligibilität, worin die Ordnung des Besitzes überschritten wird (vgl. 3.2.2). In der ver-rückten Fragestellung, wie Geschlecht zu erforschen sei, kehrt die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht in der Heimerziehung zurück. Die Bedeutung ergibt sich aus der Sache, die nicht in der institutionen-spezifischen Betrachtung allein zu verorten ist, sondern zu berücksichtigen hat, dass Geschlecht theoretisch und geschichtlich dem Pädagogischen inhärent ist. Indem im Zuge der Revision die dreifache Geschichte – von Geschlecht und Heim, Geschlecht und Wissenschaft und Geschlecht und Erhebung – den Weg der Untersuchung darstellt, werden die Bedingungen der Frage gleichfalls zu ihrem Gegenstand. In diesem mehrfachen geschichtlichen Rückblick zeigt sich, obwohl sowohl die genealogische Rekonstruktion als auch die feminis-

Revision II: Differenz und Angewiesenheit von Heimerziehung und Empirie

tisch-theoretische Untersuchung der Empirie über den Kontext der Heimerziehung hinausgeht, dass gerade diese Institution geeignet ist, die geschlechtlichen wie generationalen Bedingungen gegenwärtiger Erziehungswissenschaft und Pädagogik zu untersuchen: Dies liegt erstens darin begründet, dass die Heimerziehung als staatliche Erziehungseinrichtung, die gleichzeitig zum Lebensort ihrer ‚Klientel‘ wird und somit – ob sie will/soll oder nicht – an die Stelle von Familie tritt, (explizit wie implizit) eine besondere Dichte (bewusster wie unbewusster) politisch und pädagogisch anerkannter Vorstellungen und Praktiken vertritt. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Fragen von Elternschaft und Aufwachsen, erscheinen Generativität und Sexualität bedeutsam. Zweitens weist sie mit ihrem geschichtlich begründeten Bezug zur Erziehung eine besondere Beziehung zu Fragen der reproduktiven Sphäre und verschiedenen Formen ihrer Leugnung auf. Dazu zählt die vornehmliche Deutung der Familie und der Erziehung in einem autoritär (d.h. herrschaftlich) gestalteten Generationenverhältnis, das darauf ausgerichtet ist, die nachwachsende Generation zu disziplinieren und zu kontrollieren (vgl. 1.1; 1.2.1). Hierzu zählen aber auch Versuche, diesen Verhältnissen zu entkommen, indem die Notwendigkeit von Autorität und generationalem Verhältnis tabuisiert wird (vgl. 1.2.2; 1.2.4). In der Gegenwart lässt sich eine Kombination aus beidem beobachten, indem eine unsichtbare, quasi-naturnotwendige Anpassung an vermeintliche ‚Freiheiten‘ und gleichzeitig eine Responsibilisierung ‚Abweichender‘ stattfinden (vgl. 1.4). Drittens ist die Heimerziehung von einer sexuellen Ordnung geprägt, die sich in der Schwerpunktsetzung weiblicher sexueller und männlicher krimineller Devianz ausdrückt (vgl. 3.4.2). Die Typisierung ist nicht einfach einem bias von pädagogischer Profession und Disziplin geschuldet, sondern nur in einem spezifischen geschichtlich, psychisch und gesellschaftlich begründeten Umgang mit geschlechtlicher Differenz zu verstehen, in der männliche Sexualität unmarkiert bleibt und weibliche ‚öffentliche‘ Sexualität weiterhin skandalisiert wird.9 In der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Empirie – d.h. mit der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Geschichte von Erkenntnistheorie und Methode sowie der Heim- und Geschlechtergeschichte und den konkreten Bedingungen der Erhebung – wurde deutlich, dass einer gendertheoreti9 | Wie in 3.4.2 herausgearbeitet, zeigt sich in den fotografiegestützten Interviews die Anforderung an junge Frauen in der Gegenwart, spezifischen sexuellen und körperlichen Regeln zu entsprechen. Wird daneben die neoliberale Adressierung an Frauen als Humankapital und Erzeugerinnen von Kindern berücksichtigt, scheint Lists Feststellung immer noch zutreffend, wonach „Macht über Frauen als Frauen [...] konkret und materialistisch gesehen, primär Macht über den weiblichen Körper, Macht über die Sexualität von Frauen, über ihr prokreatives Potential“ (List 1989, S. 12) sei; wobei das prokreative Potential eben auch die weibliche Arbeitskraft umfasst.

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schen Perspektive wesentliche Aspekte der Kategorie Geschlecht in der Heimerziehung entgehen würden.10 Die Erfahrung der Empirie – im Sinne einer aktiv-passiven Wahrnehmung, die auf Sinnliches wie Intelligibles angewiesen ist – ließ einen Schritt zurücktreten, einen Blick zurückwerfen. Unter welchen Bedingungen kann die Bedeutung von Geschlecht in der Heimerziehung überhaupt wahrgenommen werden? Die sprachliche, visuelle geschichtliche Spur erfährt in den fotografiegestützten Interviews eine Verkörperung. Diese ist nicht als unmittelbar aus den Objekten zu erschließende ‚Wahrheit‘ zugänglich, weder für das forschende Subjekt noch für die erforschten Objekte. In der Nachträglichkeit der Betrachtung kommt es zu einer doppelten Objektivierung, weil die Erforschten die von ihnen erstellten Selbstportraits als Objekte betrachten können und die Forscherin ihr eigenes Forschungsvorhaben zum Objekt macht. Beide Objektivierungen verweisen zurück auf die jeweilige Subjektposition, auf deren beschriebenen Bedingtheit: Es handelt sich um ein angewiesenes Subjekt. Die doppelte Geschichtlichkeit in der genealogischen Verbindung von Heim und Geschlecht und in der revisorischen Kritik der Erhebung verdeutlichen, dass die Kategorien Klasse und ‚Rasse‘/Nation ebenso wie ein hierarchisches Geschlechterverhältnis in der Konzentration auf eine nicht-zuschreibende, diskursiv-performative Forschungspraxis aus dem Blick geraten. Aus der zu Beginn der Untersuchung eingenommenen individualisierenden Perspektive blieb zudem das generationale Verhältnis unsichtbar, indem die Jugendlichen bezüglich ihrer Perspektive auf sich, aber nicht auf die Institution und/oder ihr Verhältnis zu den Erziehenden befragt wurden. Das zuschreibungsvermeidende Verschweigen der Situation als ‚Heimkind‘ setzte eine Tabuisierung des Generationalen fort. Darin werden die Grenzen der Erhebung wird die Ohnmacht der Empirie deutlich, insofern die standardisierte und auf Identitäten ausgerichtete Forschung ebenso wie eine auf Identitätskritik reduzierte Untersuchung letztlich an der Empirie, im Sinne einer feministisch gedachten Erfahrung, kapituliert.

10  | Wie in 2.2.2, FN 62 zu Beginn von Kapitel 2.2.2 bereits angemerkt, wäre die Frage, ob bisherige heteronormativitätskritische Ansätze zentrale Aspekte in einem phallozentrisch bestimmten Geschlechterverhältnis, die insbesondere Gewalt gegen Frauen umfassen, nicht erfassen können, insofern die weibliche Position als ebenso unterdrückende Norm oder Identität gewertet wird wie die männliche. Aus einer differenzfeministischen Perspektive heraus wäre zukünftig zu analysieren, wie der Ausschluss von homosexuellen oder sogenannten queeren Zusammenhängen im Sinne der Peripherie gedeutet werden kann. Zugleich wäre dabei tiefergehend der in der Arbeit anhand von Butler (Kapitel 2.2.1) aufgezeigten erneuten Abwertung des (mütterlichen/weiblichen) Körpers bzw. der Materie zugunsten des Geistes nachzugehen.

Revision II: Differenz und Angewiesenheit von Heimerziehung und Empirie

Erst die genealogische Betrachtung11 und die Revision im Sinne der sexuellen Differenz erlauben die ökonomischen, gesellschaftlichen, psychischen, politischen und institutionellen Verhältnisse als Bedingungen der Untersuchung und ihres Gegenstandes zu erkennen. Zugleich ist das vorherrschende Empirieverständnis nicht mittels einer berücksichtigenden Angewiesenheit absolut zu überwinden, das wäre auch Überwindung der angestrebten dekonstruierenden Kritik. In der geschichtlichen Betrachtung von Geschlecht und Heim kommt die erinnernde Seite der vorliegenden Studie zum Tragen, die eine feministische Genealogie herzustellen hat. Eine Erinnerung wie sie Feministinnen wachriefen, indem sie der Produktion ihren Raum der Reproduktion und dem Mythos des Kultureintritts durch den Vater die zeitlich vorausgehende Muttersprache zurückgaben. Indem dem geschichtlichen Geschehen in Vergangenheit und Gegenwart die Erinnerung an die geschlechtliche Differenz zurückgegeben wurde, eröffnet sich ein Denken des Zwischen und des Ausgeschlossenen, das neue Fragen für weitergehende Forschung aufwirft: Während bisherige Forschung Geschlecht in der Heimerziehung vornehmlich als Erziehung und/oder Lebenslage von Mädchen und vereinzelt von Jungen untersuchte, ermöglicht die vorliegende Untersuchung einen Blick auf Leerstellen, die nicht allein an eine Geschlechtszugehörigkeit gebunden sind. Der blinde Fleck betrifft das Geschlecht als Kategorie, weniger dessen zweigeschlechtliche Fixierung, und die Berücksichtigung des Geschlechterverhältnisses. In der Betrachtung von geschlechtlichen Positionen im Sinne sexueller Differenz tritt besonders ein Verlust hervor. Dieser betrifft die Dethematisierung des Generationalen beziehungsweise der Familie und die damit verbundene Geschlechtlichkeit. Zudem handelt es sich um eine Abwendung von der reproduktiven Sphäre, was auch deren kulturelle Bedeutung untergräbt. Nicht zuletzt gehört zu dem Verlust eine spezifische Einschränkung der Körper- beziehungsweise Leiberfahrung. Der so gekennzeichnete Verlust ist für Mädchen wie Jungen von Belang und hat darin Bedeutung für die pädagogische Praxis wie ihre Erforschung. Als Leerstelle in allen Interviews äußert er sich im Schweigen bezüglich der Mutter. Damit ist an dieser Stelle weniger eine individualpsychologische oder bindungstheoretische Deutung anvisiert.12 Diese 11 | Damit ist über die genealogische Rekonstruktion von Geschlecht und Heim (1.) hinaus auch die Geschichtlichkeit von Theorie, Methode (2.) und Erhebung (3.) gemeint. 12  |  Zwar zeigen Studien zu familienersetzenden Maßnahmen im Kleinkindalter (vgl. für eine kritische Rezeption Benjamin 2009/1988) und zu den Folgen im Jugendalter (vgl. Schleiffer 2009), welche Bedeutung bindungstheoretisch informierte Perspektiven für ein Verstehen der Situation von Kindern und Jugendlichen außerhalb der Herkunftsfamilie haben können, doch insbesondere bezüglich der letztgenannten medizinisch-psychiatrischen Studie muss auf die problematische Ausblendung der anhaltenden Verbindung von Psychiatrie und Hei-

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Abwesenheit soll vielmehr geschichtlich und aus differenzfeministischer Perspektive kontextualisiert werden. Wird das in der genealogischen Rekonstruktion herausgestellte Paradox von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik und manifesten Geschlechterstereotypen, inklusive der Sexualisierung und Abwertung von Frauen in der Populärkultur berücksichtigt, scheint ein spezifischer Erfolg gleichheitsfeministischer Anstrengungen eingetreten zu sein. Dieser konnte zwar den juristischen Schutz vor Gewalt erweitern, führte aber nur bedingt zu kulturellen und symbolischen Veränderungen. Aus differenzfeministischer Perspektive folgt der Gleichheitsanspruch einem Modell des Einen und muss daher erneut, den weiblichen Körper und die Reproduktion abschütteln.13 Für die Heimerziehung wie auch für andere pädagogische Bereiche ist das von entscheidender Bedeutung, insbesondere wenn die parallel dazu verlaufende Tabuisierung von Differenz – die auf dem Missverständnis von Subjekt und Identität beruht (vgl. Casale 2014a) – zu einem neuen „Verdeckungszusammenhang“ (Bitzan 2000) führt. Die Folge ist einerseits eine Anpassung der reproduktiven Sphäre an die produktive Sphäre, die sowohl den professionalisierten wie den privaten Bereich betrifft und eine zunehmende Bewertung unter humankapitalistischen Maßstäben. Indem Geschlecht zugleich aber zum Unbenennbaren14 gerät, verbleibt die Analyse im genannten Paradox. In der Leugnung des Reproduktiven, bei gleichzeitig bleibender ökonomischer Ungleichheit (in der schlechten Bezahlung in Sorgearbeitsberufen, zu denen auch die Pädagogik gehört, und in der unbezahlten privaten Reproduktion) und Sexualisierung des weiblichen Körpers, wird eine Ordnung deutlich, die für die Erziehung und Bildung für Jungen und Mädchen von Belang ist: „Die Ausbeutung der weiblich-geschlechtlichen Materie ist so sehr konsmerziehung in ihrer Geschichtlichkeit erinnert werden. Dabei stellt sich auch in der Konzeption von Studiengängen und in der Lehre die Frage, wie einem geschichtsvergessenen Wunsch nach Diagnosen und entsprechenden ‚Rezeptologien‘ angehender Pädagoginnen begegnet werden kann. Darüber hinaus hat Manfred Kappeler auf die zunehmend zu beobachtende Verwischung von Psychologie und Pädagogik in seinem Vortrag „Eine verhängnisvolle Verstrickung. Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Psychiatrie in der Geschichte der Heimerziehung“ (Vortragsreihe der Arbeitseinheit Sozialpädagogik, Bergische Universität Wuppertal, 19.07.2016) aufmerksam gemacht. Eine ähnliche Problematik findet sich in der Aufarbeitung von ‚sexuellem Kindesmissbrauch‘ seit 2010 (vgl. dazu Windheuser 2014). 13 | Als zentrale Referenz für den Gleichheitsfeminismus ist Simone de Beauvoir zu benennen. Sie sieht den Subjektstatus der Frau abhängig von einer Vermittlung über Arbeit und damit einem Verlassen der Immanenz; sie betrachtet den weiblichen Körper und insbesondere Mutterschaft als Hindernisse auf diesem Weg, reflektiert jedoch zugleich deren ökonomische und patriarchale Bedingungen (vgl. Casale/Windheuser 2018, S. 704f.; Beauvoir 1997/1949, S. 860f.). 14 | Knapp hat diesen Prozess als „Entnennung“ gefasst (Knapp 2013, S. 109).

Revision II: Differenz und Angewiesenheit von Heimerziehung und Empirie

titutiv für unseren soziokulturellen Horizont, daß sie innerhalb dessen nicht interpretiert werden kann“ (Irigaray 1979/1977, S. 177f.; vgl. 2.2.2). Dies zu berücksichtigen gewinnt an Dringlichkeit, wenn die gegenwärtige Lage der Jungenpädagogik einbezogen wird (vgl. 1.3.4). Indem das Reproduktive nach dem ökonomisch und symbolisch phallozentrischen Maßstab integriert wird, aber auch darin noch unterbewertet bleibt – d.h. es läuft letztlich auf eine anhaltende Übernahme von schlecht oder nichtbezahlter Sorgearbeit durch Frauen hinaus –, erfährt es keine Anerkennung seiner Differenz.15 Wie in den Interviews deutlich wird, geht damit ein Verlust für Jungen und Mädchen einher, insofern sie sich an einer Sexualität und einem Selbstverständnis orientieren, die Autonomie und Kontrolle sowie Besitz und Verfügbarkeit des eigenen (oder anderer) Körper(s) implizieren. Diese Schließung verschärft sich in der Abgrenzung und Abwertung von Anderen und Schwächeren, was vor allem in der Distanz zur vermeintlichen Peripherie ‚Kind‘ und ‚Frau‘ hervortritt, aber auch anhand der Kategorien Klasse und ‚Rasse‘/Nation. In den wenigen Passagen, in denen hingegen Bezogenheit und Angewiesenheit betont werden, erscheint der familiäre Bezug inklusive eines (weiblichen) generationalen Verhältnisses verloren. Das Heim wird (im besten Fall) zum Ort von ‚familienähnlicher Freundschaft‘. Die aufgezeigte Notwendigkeit, sich der Kategorie ‚Rasse‘/Nation in ihrer geschichtlichen generationalen und geschlechtlichen Bedingtheit in weiterführender Forschung zuzuwenden, wird am Ende dieser Arbeit durch gegenwärtige Entwicklungen unterstrichen: Im Jahr 2016 war der Grund für Inobhutnahme bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren in 67 Prozent der Fälle deren unbegleitete Einreise, d.h. ihre Flucht ohne Familie oder der Verlust ihrer Familie auf der Flucht (vgl. destatis 2017b). Insbesondere im Nachklang der Debatte um die sexuellen Übergriffe in deutschen Großstädten an Silvester 2015/2016 bietet die vorliegende Studie in diesem Kontext Ansätze für ein Denken der sexuellen Differenz, um das „Phantasma eines [von sexueller und geschlechtlicher Unterdrückung und Gewalt; JW] reinen Innenraums, der durch Migration verunreinigt worden“ (Messerschmidt 2016, S. 2) sei, zu dekonstruieren. Bezüglich des generationalen Verhältnisses wäre weiterführend zu erforschen, wie institutionelle Prozesse und Strukturen, aber auch das Professionsverständnis von Fachkräften in ihrer geschlechtergeschichtlichen Bedingtheit untersucht werden könnten. Die Aufgabe reicht über die in bisherigen Arbeiten hervorgehobenen Aspekte, wie den Bezug zur reproduktiven Sphäre, zur Mutter in der Geschlechterordnung und allgemein die generationale Beziehung ‚unter Frauen und Mädchen‘ hinaus: Diese Ansätze verfehlen die sexuelle Differenz, sie vernachlässigen, dass eine Geschlechterordnung unter Ausschluss des Weiblichen auch die männliche 15  |  Die Care-Debatte ist bereits ausführlich unter Berücksichtigung der mit Gleichheit einhergehenden Ambivalenz diskutiert worden (vgl. insb. Fraser 2016; Themenschwerpunkt in Das Argument 3/2011; Winkler 2015; Dingler 2016).

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Position nicht unberührt lässt.16 In der beschriebenen phallozentrisch-metaphysischen Ordnung ist Letztere gerade durch die Leugnung der weiblichen Position und der eigenen Angewiesenheit konstituiert. Wenn in der Gegenwart weiterhin Anlass besteht, eine „pädagogische Theorie der Heimerziehung“ (Winkler 1991, S. 68) zu entwickeln, muss diese unter Berücksichtigung der vorliegenden Untersuchung den Ausschluss der sexuellen Differenz in der Geschichte von Erziehungswissenschaft und Heimerziehung einbeziehen. Nicht zuletzt wäre aus der entwickelten Revision des Theorie-Empirie-Verhältnisses und der sich darauf stützenden Historisierung der Erhebung zu fragen, wie interview- und fotografiebasierte Verfahren bereits in der Anlage eine Perspektive ‚unmöglicher Methode‘ und sexueller Differenz berücksichtigen könnten. In der vorliegenden Arbeit stand das Verhältnis von Subjekt und Objekt und das Verhältnis des Forschungsgegenstands zur Methode im Vordergrund, wozu sich besonders das Betrachten der fotografiegestützten Interviews in der Doppelung des Materials anbot. Darüber hinaus könnte jedoch der fotografische Materialkorpus einer sinnlich-intelligiblen Bildbetrachtung unter besonderer Berücksichtigung eines populärkulturellen Bildarchivs untersucht werden. Dazu ließe sich insbesondere auf die in Kapitel 3 bereits benannten webbasierten Plattformen zurückgreifen. Die vorgelegte Untersuchung stellt ein Denken der Institution Heim und von Geschlecht aus differenzfeministischer Perspektive dar. Wenn in der feministischen Theorie neben der Analyse der „Logik des Gegebenen“ (Casale 2013, S. 17) auch ein utopisches Moment – hinsichtlich dessen was möglich ist und was möglich sein könnte – liegt, macht die Studie deutlich, dass es ein ‚Anderes‘ in der Erziehung und Bildung geben könnte, das in Differenzvorstellungen, die auf Negation oder absoluter Trennung beruhen, unmöglich bleibt. Die wenig ‚fortschrittlich‘ erscheinende Rückschau verharrt so betrachtet nicht in einem pessimistischen Sinne in der Ohnmacht. Sie mag angesichts derzeit vorherrschender geschlechtertheoretischer Positionen zwar ‚aus der Zeit gefallen‘ wirken, aber in einem umgekehrten theoretischen Blick von früher auf heute lässt sie etwas anderes wahrnehmen, insofern sie der Präsenz ihren seienden Charakter nimmt: Sie öffnet den Blick auf die Vergangenheit und Zukunft. Aus der eingenommenen Perspektive von Differenz und Angewiesenheit wären Erziehung und Bildung sowie ihre Erforschung so weiterzuentwickeln, dass eine Beziehung zu den eigenen generationalen und geschlechtlichen Bedingungen intelligibel würde. Das würde bedeuten, dass Möglichkeiten geschaffen würden, sich und die Gegenstände der Forschung zugleich als Subjekte und Objekte in Raum und Zeit wahrzunehmen. 16   |  Bereits Irigaray vergisst keineswegs die Verluste von Männern/Jungen, insofern sie berücksichtigt, wie die Abstraktion auch ihre Körper entsinnlicht und vereinheitlicht (vgl. Irigaray 1979/1977, S. 197).

Anhang I: Befragung zur Mediennutzung

Private (Handy-)Kamera oder Zugang zu einer Kamera vorhanden: 4 ja; 1 nein. Angegebene Kameras, soweit vorhanden/zugänglich: • Hatte Digicam, habe zusätzlich Handycam • Digitalkamera (Sony Cybershot) • Digitalkamera • Handykamera Sonstige Motive: • Spontan interessante Sachen wie z.B. schöne Landschaften, lustige Situationen • Straßenbahnen, Busse usw. • Freunde, Treffen, Konzerte, Landschaften • Mich, meine Freunde, Bekannten Bewertung des Projekts „Eine Woche Ich“: • Sehr interessant, da ich auch im Selbstversuch andere Methoden zum Fotografieren nutzen konnte • Eigentlich ganz gut • Es hat mich sehr über mich nachdenklich gemacht, es war spannend und informativ, die Kreativität „ausleben“ zu können, hat Spaß gemacht. • Das Projekt fand ich schon aufregend und lustig. • Ich fand es sehr interessant. Erfahrung mit solchen Projekten: 0 ja; 5 nein Tagebuchschreiben: 1 ja; 4 nein Fotoalbum: 4 ja; 1 nein Nutzung digitaler Fotoalben in Internetcommunitiy: 4 ja; 1 nein

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Dazu genutzte Internetcommunity/Plattformen: • Nur Schüler-VZ • Jappy (2x) • Facebook Bevorzugte Fernsehprogramme/Filme: • Serien: Dr. House, Fringe, manchmal auch Anime; Filme: Fantasy und Komödien seltener Sci-Fi und Krimis • Horror Filme • /(2x) • Action-Filme, Familiensendungen, Nachrichten Gelesene Zeitschriften: • Wenige und wenn, dann selten • Sport Bild • Popcorn, Joy, Shape, Bravo Häufig besuchte Internetseiten: • Schüler-VZ, Die Stämme (Browsergame), Facebook, Armor Games, Stupidedia • Jappy, comunio.de (Fußball), Bundesliga • Web.de, facebook.de, spiegel-online.de • Jappy, Schüler-VZ • Jappy

Anhang II: Instagram

Abb. 62: Screenshot Instagram.com 1 (24.10.2016)

Abb. 63: Screenshot Instagram.com 2 (24.10.2016)

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Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0

Reinhard Bernbeck

Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8

Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)

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