Gottesdienst als Interaktionsritual: Eine videobasierte Studie zum agendenfreien Gottesdienst im Gespräch mit der Mikrosoziologie und der Liturgischen Theologie [1 ed.] 9783666624377, 9783525624371, 9783647624372

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Gottesdienst als Interaktionsritual: Eine videobasierte Studie zum agendenfreien Gottesdienst im Gespräch mit der Mikrosoziologie und der Liturgischen Theologie [1 ed.]
 9783666624377, 9783525624371, 9783647624372

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© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 87

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

Christian Walti

Gottesdienst als Interaktionsritual Eine videobasierte Studie zum agendenfreien Gottesdienst im Gespräch mit der M ­ ikrosoziologie und der Liturgischen Theologie

Vandenhoeck & Ruprecht © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

Mit 220 Abbildungen, 26 Tabellen und 11 Grafiken Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-647-62437-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.1 Szenario: Agendenfreiheit als Gegenstand der Liturgik . . . . . . 21 1.2 Thesen und Fragestellungen: Ordo im Liturgischen Wildwuchs . . 25 1.2.1 Mikrosoziologie und die Interaktionsordnung (E. Goffman) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.2.2 Historische Liturgische Theologie (A. Schmemann, A. Kavanagh, G. Lathrop) . . . . . . . . 28 1.2.3 Empirische Liturgische Theologie . . . . . . . . . . . . . . 31 1.3 Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.4 Schreibweise, Sonderzeichen und Abkürzungen . . . . . . . . . . 36 1.5 Darstellung der Videodaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.1 Begriffe: Interaktion, Ritual, Ritualisierung, religiöses Ritual . . 42 2.2 Zum Rückgriff auf Durkheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.3 Modell: Charakterzüge von Ritualität (R. Collins) . . . . . . . . . 47 2.3.1 Körperliche Kopräsenz der Teilnehmenden (Charkterzug 1) 50 2.3.2 Geteilter Fokus der Aufmerksamkeit (Charakterzug 2) . . 56 2.3.3 Abgrenzung der Interaktion von ihrer Umgebung (Charakterzug 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.3.4 Gemeinsame Emotion der Teilnehmenden (Charakterzug 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.3.5 Symbolischer Effekt (Charakterzug 5) . . . . . . . . . . . . 66 2.4 Erweiterung: Extrinsische und intrinsische Orientierung . . . . 72 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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2.5 Kontext: Ritualität unter den Bedingungen der Moderne . . . . . 75 2.5.1 Antiritualismus als Grundstimmung der Moderne? (M. Douglas) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2.5.2 Ritueller Pluralismus und Ritualkritik (R. Grimes) . . . . 80 2.6 Religiöse und nicht-religiöse Ritualität (M. Riesebrodt) . . . . . . 83 2.6.1 Ontologische Kriterien für Religiosität . . . . . . . . . . . 83 2.6.2 Performative Kriterien für Religiosität . . . . . . . . . . . 84 2.6.3 Interaktionstheoretische Kriterien für Religiosität . . . . 85 2.6.4 Grenzfälle für interaktionstheoretische Kriterien . . . . . 88 3. Methodologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.1 Zum Gegenstand der empirischen Studie . . . . . . . . . . . . . . 90 3.2 Forschungsüberblick: Empirische Gottesdienstforschung . . . . 92 3.3 Interaktionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.3.1 Rekonstruktion der Interaktionsordnung . . . . . . . . . 95 3.3.2 Methodische Prinzipien der Interaktionsanalyse . . . . . 97 3.4 Audio-visuelle Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.5 Kontextuelle Einbettung der Videodaten . . . . . . . . . . . . . . 103 3.5.1 Fokussierte Ethnographie (H. Knoblauch) . . . . . . . . . 104 3.5.2 Sozialtopographie und Interaktionsarchitektur . . . . . . 104 3.5.3 Feldzugang und Forschungsethik . . . . . . . . . . . . . . 106 3.5.4 Videobasierte Interviews mit Teilnehmenden . . . . . . . 108 3.5.5 Positionierung der Kamera . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.6 Sampling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.6.1 Fokusgemeinde als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . 110 3.6.2 Erweiterung des Samples geleitet durch Pfarrpersönlichkeit, Region und Kasus . . . . . . . . . . . 110 3.6.3 Kontrastfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3.6.4 Makrosequenzialität des gesamten Gottesdienstes . . . . 112 3.6.5 Auswahl der Sequenzen für die Feinanalysen . . . . . . . 113 3.6.6 Analyseeinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3.7 Geltungsbereich und Grenzen der empirischen Studie . . . . . . 116 4. Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen . . . . . 121 4.1 Die interaktionale Konstitution einer rituellen Protagonist_in . . 122 4.1.1 Protagonist_innen in interaktionstheoretischer Hinsicht 122 4.1.2 Protagonist_innen in ritualtheoretischer Hinsicht . . . . 123 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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4.2 Auftritte im Kontext der rituellen Sequenz . . . . . . . . . . . . . 124 4.3 Übersicht über die Auftrittssequenzen . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.4 Sequenzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.4.1 Einzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.4.1.1 Einzug mit seitlicher Zuwendung . . . . . . . . . 126 4.4.1.2 Einzug eines Protagonist_innenpaares . . . . . . 129 4.4.1.3 Einzug mit Zuwendung zu einzelnen Teilnehmenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.4.1.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.4.2 Innehalten im Stehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4.4.2.1 Haltungsübernahme von einer Protagonist_in . . 133 4.4.2.2 Übernahme einer Haltung zwischen Protagonist_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.4.2.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.4.3 Sich-Setzen und Sitzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.4.3.1 Zeremonielles Sich-Setzen . . . . . . . . . . . . . 138 4.4.3.2 Koordiniertes Sich-Setzen . . . . . . . . . . . . . . 139 4.4.3.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4.4.4 Innehalten vor dem Aufstehen . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.4.4.1 Aufstehen als zuvor konstituierte Protagonist_in 142 4.4.4.2 Aufstehen als Konstitution der Rolle als Protagonist_in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.4.4.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.4.5 Aufstehen und zur Sprechposition Schreiten . . . . . . . . 143 4.4.5.1 Konstitution eines vis-à-vis zwischen Sprechenden und dem Publikum . . . . . . . . . 144 4.4.5.2 Wechselnde Kopfhaltung während des Auftrittes 146 4.4.5.3 Ständiger Blickkontakt mit dem Publikum . . . . 146 4.4.5.4 Auftrechte Kopfhaltung während des Auftrittes 146 4.4.5.5 Bewegung des Oberkörpers während des Auftrittes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4.4.5.6 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.4.6 Einnahme der Sprechposition . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.4.6.1 Gang zur Sprechposition hinter dem Lesepult . . 149 4.4.6.2 Auftritt am Rednerpult . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.4.6.3 Mischformen der Sprechposition . . . . . . . . . 152 4.4.6.4 Sprechposition ohne Rednerpult . . . . . . . . . . 152 4.4.6.5 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4.4.7 Zusammenfassung: Grundmerkmale der Interaktionsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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4.5 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.5.1 Nonverbale Interaktion und Bedeutung . . . . . . . . . . . 155 4.5.2 Die zwei Fokussierungen der Interaktion . . . . . . . . . . 156 4.5.3 Die Pfarrperson als Vermittler_in . . . . . . . . . . . . . . 157 4.5.4 Priming des Fokusses der gesamten Interaktion . . . . . . 158 4.5.5 De-Fokussierung als Anzeichen einer voraussetzungsreichen Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4.5.6 Antiritualität und Rollendistanz der Pfarrpersonen . . . . 161 5. Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst 163 5.1 Kommunikationstheoretische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . 164 5.2 Sprechakttheoretische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . 165 5.3 Das Sample im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.3.1 Abgrenzung der Ersten Sprecheinheit . . . . . . . . . . . . 167 5.3.2 Elemente der Ersten Sprecheinheit . . . . . . . . . . . . . 167 5.3.3 Kategorisierung von Elemente-Gruppen . . . . . . . . . . 170 5.3.4 Exkurs: Sprachvarietäten im Schweizerdeutschen . . . . . 170 5.4 Sequenzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5.4.1 Liturgische Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5.4.1.1 Im Namen-Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5.4.1.2 Kanzelgruss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 5.4.1.3 Adiutorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 5.4.1.4 Biblische Voten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.4.1.5 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.4.2 Begrüssung der Interaktanden und Deklaration der Interaktionsgattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.4.2.1 Begrüssung und Eröffnung der Interaktionsgattung . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.4.2.2 Begrüssung und Vorstellung der Interaktanden . . 185 5.4.2.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5.4.3 Thematische Hinführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 5.4.3.1 Verschiedene Ebenen der Fokussierung . . . . . . 187 5.4.3.2 Hinführung als performative Rede . . . . . . . . 190 5.4.3.3 Exkurs: Der Weg als Metapher erfahrungsbezogener Religiosität . . . . . . . . . 192 5.4.3.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 5.4.4 Rituelle Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.4.4.1 Anzeigen der interaktionalen Übergabe . . . . . . 195 5.4.4.2 Aufforderung und Modulation der Aufforderung 197 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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5.4.4.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5.4.5 Zusammenfassung: Grundmerkmale der Interaktionsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.5 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.5.1 Semantisierungen des Gottesdienstrituals (I. Werlen) . . 201 5.5.2 Nähe- und Distanzsprache (P. Koch/W. Oesterreicher) . . 205 5.5.3 Stilisierter Sprachgebrauch und hermeneutische Produktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 6. Stilisierte Gespräche – Gebete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.1 Vorbemerkungen zum theologisch-normativen Gebetsverständnis 212 6.1.1 Zur Wirklichkeit von Gebeten . . . . . . . . . . . . . . . . 212 6.1.2 Forderungen nach einem nicht-religiösen Gebet . . . . . . 214 6.2 Überblick über das Sample . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6.3 Sequenzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6.3.1 Gebetsansage und Einnahme der Gebetshaltung . . . . . 219 6.3.1.1 Konstative Ansagen . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6.3.1.2 Haltungseinnahme ohne explizite Aufforderung 221 6.3.1.3 Gebetshaltung mit expliziter Aufforderung . . . 224 6.3.1.4 Gebetshaltung im Sitzen . . . . . . . . . . . . . . 225 6.3.1.5 Einnahme der Gebetshaltung ohne Ansage . . . 227 6.3.1.6 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 6.3.2 Anrede des Gegenübers im Gebet . . . . . . . . . . . . . . 229 6.3.2.1 Exkurs: Theologische Diskurse zur Anrede im Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 6.3.2.2 Die Bedeutung der Pause nach der Anrede des Gegenübers im Gebet . . . . . . . . . . . . . . 235 6.3.2.3 Invertierte Anrede und Anrede ohne Pause . . . 237 6.3.2.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 6.3.3 Gebetskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.3.3.1 Anrededeskription bzw. Prädikat . . . . . . . . . 239 6.3.3.2 Lobesakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 6.3.3.3 Dankesakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 6.3.3.4 Bittakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 6.3.4 Abschluss des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.3.4.1 Explizite Markierung des Gebetsschlusses . . . . 256 6.3.4.2 Anzeigen des Gebetsschlusses durch Prosodie und Phrasierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 6.3.4.3 Fehlende Markierung des Gebetsschlusses . . . . 258 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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6.3.5 Zusammenfassung: Grundmerkmale der Interaktionsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 6.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6.4.1 Gebet als Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 6.4.2 Rituelle Rahmung des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . . 264 6.4.3 Ein distanziert-nahes Gegenüber im Gebet . . . . . . . . . 266 7. Verständliche Fremdworte – Lesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 7.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 7.1.1 Verstrickungen zwischen Gottesdienstinteraktion und biblischem Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 7.1.2 Empirische Einsichten über die Rezeption von Lesungen im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 7.2 Überblick über das Element Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 7.2.1 Definition des Elements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 7.2.2 Überblick über das Sample und Herleitung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 7.3 Sequenzanalysen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 7.3.1 Auftritte von Lesenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 7.3.1.1 Implizite Übergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 7.3.1.2 Explizit angezeigte Übergabe der Handlungsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 285 7.3.1.3 Explizit verbalisierte Übergabe der Handlungsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 288 7.3.1.4 Gemeinsamer Auftritt . . . . . . . . . . . . . . . . 293 7.3.1.5 Lesungen durch die Pfarrperson . . . . . . . . . . 296 7.3.1.6 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 7.3.2 Lesungsansagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 7.3.2.1 Normalform der Ansage . . . . . . . . . . . . . . 297 7.3.2.2 Erweiterung der Normalform . . . . . . . . . . . 298 7.3.2.3 Reduktion der Normalform . . . . . . . . . . . . . 299 7.3.2.4 Alternative Formulierungen . . . . . . . . . . . . 300 7.3.2.5 Präfamina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 7.3.2.6 Fehlen der Normalform . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.3.2.7 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 7.3.3 Das Lesekorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 7.3.3.1 Prosodische Hervorhebung der Lesung . . . . . . 303 7.3.3.2 Hervorhebung von direkter Rede innerhalb der Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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7.3.3.3 Blickführung während der Lesung . . . . . . . . . 308 7.3.3.4 Gestisch-mimische Markierungen während der Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 7.3.4 Abschluss der Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 7.3.4.1 Anzeigen des Endes innerhalb des Lesekorpus . . 313 7.3.4.2 Das Signalwort amen . . . . . . . . . . . . . . . . 314 7.3.4.3 Postfamina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 7.3.4.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 7.3.5 Zusammenfassung: Grundmerkmale der Interaktionsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 7.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 7.4.1 Die leibliche Gestalt biblischer Texte . . . . . . . . . . . . 319 7.4.2 Die semantisierende Alterität von Lesungen . . . . . . . . 322 7.4.3 Die Juxtaposition von Ritual und Text . . . . . . . . . . . 324 7.4.4 Zwischen Verfremdung und Vermittlung . . . . . . . . . . 326 8. Zögerliche Efferveszenzen – Höhepunkte des Gottesdienstes . . . . . . 328 8.1 Fallstudie 1: Die Symbolische Geste . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 8.1.1 Abgrenzung der Sequenz innerhalb des Gottesdienstes . . 329 8.1.2 Sequenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 8.1.2.1 Ansage des Grusswortes des Kirchgemeinderatspräsidenten . . . . . . . . 331 8.1.2.2 Grusswort des Kirchgemeinderatspräsidenten . . 332 8.1.2.3 Ansage der Symbolischen Geste . . . . . . . . . . 338 8.1.2.4 Segnung der Jubilare . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 8.1.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 8.1.3.1 Rituelle Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . 349 8.1.3.2 Der rituelle Höhepunkt . . . . . . . . . . . . . . . 351 8.1.3.3 Symbolisierung im Rahmen der Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste 352 8.1.3.4 Ein emotionales Regime (O. Riis/L. Woodhead) 353 8.2 Fallstudie 2: Gottesdienst mit Abendmahl . . . . . . . . . . . . . 354 8.2.1 Abgrenzung der Sequenz im Gottesdienst . . . . . . . . . 356 8.2.2 Rituelle Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 8.2.3 Sequenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 8.2.3.1 Thematische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . 358 8.2.3.2 Aufforderung zum Vollzug . . . . . . . . . . . . . 360 8.2.3.3 Aufforderung der Mitwirkenden . . . . . . . . . . 361 8.2.3.4 Liturgische Einladung . . . . . . . . . . . . . . . . 362 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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8.2.3.5 Aufforderung der restlichen Teilnehmenden . . . 362 8.2.3.6 Der Höhepunkt des Abendmahls . . . . . . . . . 365 8.2.3.7 Typen der Interaktion zwischen den restlichen Teilnehmenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 8.2.3.8 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 8.2.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 8.2.5 Zusammenfassung: Grundmerkmale der Interaktionsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 8.3 Diskussion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 8.3.1 Protagonismus der Pfarrperson im Umgang mit der rituellen Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 8.3.2 Stilisierte und authentische Interaktion . . . . . . . . . . . 382 8.3.3 Zögern und Peinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 9. Zwischenfazit: Interaktionsordnung in reformierten Gottesdiensten  387 9.1 Grundmerkmale der Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 9.1.1 Körperliche Kopräsenz (Charakterzug 1) . . . . . . . . . . 388 9.1.1.1 Wahrnehmungsbeschränkung . . . . . . . . . . . 388 9.1.1.2 Zitationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 9.1.2 Geteilter Fokus der Aufmerksamkeit (Charakterzug 2) . . 390 9.1.2.1 Deiktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 9.1.2.2 Hermeneutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 9.1.3 Begrenzung nach aussen (Charakterzug 3) . . . . . . . . . 392 9.1.3.1 Akustische Leere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 9.1.3.2 Additionslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 9.1.4 Geteilte Emotion (Charakterzug 4) . . . . . . . . . . . . . 395 9.1.4.1 Emotionale Mässigung . . . . . . . . . . . . . . . 395 9.1.4.2 Hemmung der Efferveszenz . . . . . . . . . . . . 396 9.1.5 Symbolischer Effekt (Charakterzug 5) . . . . . . . . . . . . 397 9.1.5.1 Mystifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 9.1.5.2 Unsichtbarkeit von face . . . . . . . . . . . . . . . 398 9.2 Zwischenfazit: Theologia prima der reformierten Interaktionsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 10. Interaktionsordnung in römisch-katholischen Gottesdiensten . . . . 405 10.1 Kirchenraum empirisch   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 10.2 Sequenzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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10.2.1 Auftritte der Protagonist_innen . . . . . . . . . . . . . . . 409 10.2.2 Erste Sprecheinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 10.2.3 Trinitarische Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 10.2.3.1 Vergleich mit der entsprechenden Sequenz aus Heilig-B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 10.2.3.2 Liturgischer Gruss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 10.2.3.3 Begrüssung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 10.2.3.4 Thematische Hinführung . . . . . . . . . . . . . . 423 10.2.3.5 Liedansage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 10.2.4 Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 10.2.4.1 Gebetsansage und Einnahme der Gebetshaltung 429 10.2.4.2 Anrede des Gegenübers im Gebet . . . . . . . . . 431 10.2.4.3 Das Gebetskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 10.2.4.4 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 10.2.5 Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 10.2.5.1 Makrostruktur normativ . . . . . . . . . . . . . . 433 10.2.5.2 Makrostruktur empirisch . . . . . . . . . . . . . . 434 10.2.5.3 Auftritt der Lektorin . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 10.2.5.4 Ansage der Lesungen . . . . . . . . . . . . . . . . 438 10.2.5.5 Schlussformeln und Wechselrufe . . . . . . . . . 440 10.2.5.6 Lesestile im Lesekorpus . . . . . . . . . . . . . . . 443 10.2.5.7 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 10.2.6 Höhepunkte des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . 446 10.2.6.1 Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 10.2.6.2 Einsammlung des Opfers . . . . . . . . . . . . . . 448 10.2.6.3 Friedensgruss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 10.2.6.4 Austeilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 10.2.6.5 Vergleich mit den entsprechenden Sequenzen aus Heilig-B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 10.2.6.6 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 10.3 Vergleichendes Fazit 1: Interaktionsordnung in römisch-katholischen Gottesdiensten . . . . . . . . . . . . . . 457 10.3.1 Grundmerkmale der Interaktionsordnung . . . . . . . . . 458 10.3.1.1 Körperliche Kopräsenz (Charakterzug 1) . . . . . 458 10.3.1.2 Geteilter Fokus der Aufmerksamkeit (Charakterzug 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 10.3.1.3 Begrenzung nach aussen (Charakterzug 3) . . . . 460 10.3.1.4 Geteilte Emotion (Charakterzug 4) . . . . . . . . 462 10.3.1.5 Symbolischer Effekt (Charakterzug 5) . . . . . . . 463 10.3.2 Theologia prima der römisch-katholischen Interaktionsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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11. Interaktionsordnung in Anbetungsgottesdiensten . . . . . . . . . . . 468 11.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 11.1.1 Auswahl der Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 11.1.2 Bisherige empirische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . 470 11.1.3 Kontext: Lokalitäten, Gottesdienstraum und technische Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 11.1.4 Datensorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 11.1.5 Makrosequenzen der Gottesdienste . . . . . . . . . . . . . 476 11.1.6 Konsequenzen für die Mikroanalyse . . . . . . . . . . . . 478 11.1.7 Auswahl der Sequenzen für die Analyse . . . . . . . . . . 479 11.2 Sequenzanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 11.2.1 Auftritt der Protagonist_innen . . . . . . . . . . . . . . . . 480 11.2.1.1 Herstellung eines gemeinsamen Fokus . . . . . . 480 11.2.1.2 Auftritte der Fokuspersonen . . . . . . . . . . . . 486 11.2.2 Erste Sprecheinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 11.2.2.1 Eine Anmoderation (Variante 1) . . . . . . . . . . 493 11.2.2.2 Ein Anspiel (Variante 2) . . . . . . . . . . . . . . . 500 11.2.2.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 11.2.3 Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 11.2.3.1 Gebet als Überleitung zur Anbetung . . . . . . . 503 11.2.3.2 Nähesprachliches Gebet . . . . . . . . . . . . . . . 509 11.2.3.3 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 11.3 Vergleichendes Fazit 2: Interaktionsordnung in Anbetungsgottesdiensten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 11.3.1 Grundmerkmale der Interaktionsordnung . . . . . . . . . 513 11.3.1.1 Körperliche Kopräsenz (Charakterzug 1) . . . . . 513 11.3.1.2 Geteilter Fokus der Aufmerksamkeit (Charakterzug 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 11.3.1.3 Begrenzung nach aussen (Charakterzug 3) . . . . 517 11.3.1.4 Geteilte Emotion (Charakterzug 4) . . . . . . . . 519 11.3.1.5 Symbolischer Effekt (Charakterzug 5) . . . . . . . 521 11.3.2 Theologia prima in Anbetungsgottesdiensten . . . . . . . 523 12. Liturgische Präsenz in interaktionstheoretischer Perspektive . . . . . 529 12.1 Präsenz als theaterwissenschaftlicher Begriff . . . . . . . . . . . . 529 12.2 Exkurs: Begleitdiskurse eines pastoraltheologischen Begriffes der Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 12.2.1 Präsenz in der Fundamentalliturgik . . . . . . . . . . . . . 535 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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12.2.2 Präsenz als Kategorie Populärer Spiritualität (H. Knoblauch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 12.3 Die didaktische Logik Liturgischer Präsenz (T. Kabel) . . . . . . . 538 12.3.1 Theaterwissen vs. Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 12.3.2 Liturgische Präsenz als spirituelle Arbeit . . . . . . . . . . 540 12.3.3 Liturgische Präsenz als Wahrnehmungstraining . . . . . . 541 12.3.4 Ein pastoraltheologisches Konzept der Anamnese . . . . 545 12.3.5 Zusammenfassung und kritische Hypothese . . . . . . . . 548 12.4 Eine interaktionstheoretische Relektüre des normativen Konzepts Liturgischer Präsenz . . . . . . . . . . 550 12.4.1 Die interaktionale Etablierung der Präsenz einer Protagonist_in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 12.4.2 Aufmerksamkeit auf die Gemeinde . . . . . . . . . . . . . 552 12.4.3 Extrinsisch orientierte Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . 553 12.4.4 Intrinsisch orientierte Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . 556 12.4.5 Grenzfälle zwischen extrinsischer und intrinsischer Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 12.4.6 Glücksmomente und kollektive Efferveszenz . . . . . . . . 561 12.4.7 Präsenz als Effekt einer performativen Juxtaposition von Skripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 12.5 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 13. Gottesdienstliche Partizipation in interaktionstheoretischer Perspektive 570 13.1 Gottesdienstliche Partizipation im römisch-katholischen Diskurs des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 13.1.1 Konzeptualisierungen der Partizipation im Umfeld der Liturgischen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 13.1.1.1 Partizipation am Mysterium Gottes (O. Casel) . . 571 13.1.1.2 Partizipation am Kosmos (R. Guardini) . . . . . . 573 13.1.2 Partizipation als Leitmotiv in Sacrosanctum Concilium (SC) 575 13.1.3 Konkretisierungen der Partizipation in der römisch-katholischen Liturgiereform . . . . . . . . . . . . 577 13.1.4 Kritik des römisch-katholischen Partizipationsdiskurses 580 13.2 Die Forderung nach gottesdienstlicher Partizipation im deutschsprachigen Protestantismus der Nachkriegszeit . . . . 581 13.2.1 Partizipation in der Erneuerten Agende . . . . . . . . . . . 582 13.2.2 Partizipation in der Disputation 84 . . . . . . . . . . . . . 583 13.2.3 Kritik des politischen Partizipationsbegriffs . . . . . . . . 587 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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13.3 Zwischenfazit: Zwei Grundmuster der Forderung nach gottesdienstlicher Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . 589 13.4 Eine interaktionstheoretische Relektüre der Forderung nach Partizipation im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 13.4.1 Rituelle Inklusion und Anschlussfähigkeit . . . . . . . . . 591 13.4.2 Partizipation als Kette von rituellen Vollzügen . . . . . . . 593 13.4.3 Anschlussfähigkeit an einen nonphänomenalen Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 13.4.4 Gott in und Gott mit der Gottesdienstinteraktion . . . . . 597 13.5 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 14. Fazit und Konkretionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 14.1 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 14.2 Das Kombinationsprinzip als theologische Norm für den Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 14.3 Empfehlungen für agendenfreie Gottesdienste . . . . . . . . . . . 606 14.3.1 Gottesdienst mit face . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 14.3.2 Gottesdienst mit Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 14.3.3 Gottesdienst mit Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 14.3.4 Gottesdienst mit Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 14.3.5 Gottesdienst mit den anderen . . . . . . . . . . . . . . . . 613 14.3.6 Gottesdienst mit Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Verzeichnis der Videoaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Phase 1: Aniswil* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Phase 2: Burgnellen*, Chiemtigen*, Dimels* . . . . . . . . . . . . . 639 Phase 3: Heiliggeist*, Vineyard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639 Makro-Sequenzprotokolle der Videodaten . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Anis-A Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Anis-B Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Anis-C Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 Anis-D Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Anis-E Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Anis-F Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 Anis-G Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Burg-A Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 Burg-B Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Chiem-A Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 Chiem-B Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 Dime-A2 Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 Dime-B Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654 Heilig-A Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Heilig-B Makrostruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Vine-A Makrostruktur (Vine-Adyn) . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Vine-B Makrostruktur (Vine-Bstat) . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 Verbaltranskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 Anis-A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 Anis-B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664 Anis-C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 Anis-D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672 Anis-E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 Anis-F . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Anis-G . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 Burg-A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 Burg-B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 Chiem-A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 Chiem-B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 Dime-A2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 Dime-B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706 Aushang an den Eingängen des Gottesdienstraumes . . . . . . . . . . 710 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Vorwort

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Erich Kästner

Bei der vorliegende Studie handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Promotionsschrift, die im Frühjahr 2015 von der Theologischen Fakultät der Universität Bern angenommen wurde. Sie ist das Dokument eines Übergangs aus einem Zustand der relativen Stabilität durch Phasen der Paranomie in einen neuen, etwas beschwingteren Zustand der relativen Stabilität. Im Rückblick könnte der Eindruck entstehen, all dies wäre nötig gewesen und plangemäss verlaufen. Mit mir Vertraute wissen aber, dass bei mir selten von guter Planung oder reiner Routine die Rede sein kann – ganz im Gegenteil: Gott sei Dank! Ich möchte meinen lieben Eltern Marlyse und Peter für die tiefschürfende Sozialisation als religions- und gesellschaftskritischer Bürger und die nahezu unendliche Geduld bei allen Anfechtungen danken. Des weiteren seien PD Dr.  ­ Rebekka Klein und PD Dr. Matthias Neugebauer dafür verdankt, dass sie keine Scheu hatten, mich schon früh zu fördern. Meinen spontanen Einstieg in die Praktische Theologie verdanke ich Prof. Dr. Ralph Kunz, der mir ohne Zögern eine Karriere als Akademiker ermöglichte. Die videographische Studie wäre nicht möglich gewesen ohne die Bereitschaft und den Mut zahlreicher Pfarrpersonen, Gemeinderäte und Gottesdienstteilnehmender verschiedener Kirchgemeinden, die zustimmten, ihre Gesichter und ihr gottesdienstliches Verhalten einem akademischen Publikum preiszugeben. Sie sind die eigentlichen Helden meiner Arbeit! Weiter erhielt ich während der Analyse wesentliche Impulse von Prof. Dr. Kristian Fechtner, der sich später auch dankenswerter Weise die grosse Mühe zur Zweitbegutachtung nahm. Ich profitierte überdies von einigen Datasessions mit den erfahrenen Teams von Prof. Dr. Bernt Schnettler und Prof. Dr. Hubert Knoblauch. Bei der Fertigstellung des Textes haben sich Herr Nikolaos Fries mit der Einrichtung der Internetseite sowie B.Th. Rahel Schär, Pfrn. Esther Schläpfer und Mag.Theol. Gergely Csukàs mit ihrem exakten Lektorat sehr dienlich gezeigt. Ich danke ausserdem den Herausgebenden der Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymno­logie für die wohlwollende Prüfung der Arbeit und die­ © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Vorwort

Aufnahme in ihre ehrenwerte Reihe. Last but not least sei Prof. Dr. David Plüss für die aufmerksame Begleitung meiner bisweilen verworrenen Entwürfe, das ungebrochene Zutrauen in meine Fähigkeiten und die einmalige Gelegenheit während vier Jahren als sein Assistent wirken zu können von Herzen gedankt. Die Praktische Theologie verblasst vor der Praxis und freut sich, wenn sie in ihr aufgehen kann. Das „Gute“ liegt jenseits der ihr eigenen Möglichkeiten. Der vorliegende Text ist somit meines Erachtens nur dann gelungen, wenn er im gottesdienstlichen Verhalten seiner Leser und Leserinnen Spuren hinterlässt. Christian Walti

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1. Einleitung

1.1

Szenario: Agendenfreiheit als Gegenstand der Liturgik

Die liturgiewissenschaftliche1 Erforschung der Gottesdienste in den reformierten Kirchen der Deutschschweiz erfolgte bislang vorwiegend anhand historischer Studien.2 Dabei wurde verschiedentlich aufgezeigt, dass sich die gegenwärtige reformierte Gottesdienstpraxis kaum auf Gründerfiguren oder bestimmte theologische Entwürfe zurückführen lässt. Obschon oft auf das Gottesdienstverständnis von Huldrych Zwingli, der Gallionsfigur des Deutschschweizer Protestantismus, hingewiesen wird, spielt dessen liturgischer Entwurf für die heutige Gottesdienstpraxis nahezu keine Rolle.3 Entscheidend für das gegenwärtige Szenario des reformierten Gottesdienstes in der Deutschschweiz können vielmehr Entwicklungen in der Aufklärungszeit4 und insbesondere in den Nachkriegsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Während Liturgien in verschiedenen Kantonen bis weit nach 1 Ich verwende die Bezeichnungen Liturgik und Liturgiewissenschaft synonym, wenngleich letztere mehrheitlich in der römisch-katholischen, erstere hingegen eher in der protestantischen Theologie verwendet wird. 2 Historische Studien zur Deutschschweizer Liturgik im Ausgang der Reformation finden sich bei Baschera 2013, Bürki 2000, Ehrensperger 1971, Ehrensperger 2003, Jenny 1968, Kunz 2006a, Schmidt-Clausing 1952 sowie Weisz 1954. 3 Ralph Kunz versucht in seiner Habilitationsschrift Zwinglis Gottesdiensttheorie aus dessen theologischen Schriften zu rekonstruieren und im Hinblick auf die moderne Semiotik zu kritisieren; vgl. Kunz 2006a, beso. 233–254. Dabei wird deutlich, dass sich die gegenwärtige Gottesdienstpraxis der Deutschschweizer Reformierten kaum auf litur­gische Überlegungen Zwinglis zurückführen lässt. Auch in anderen reformierten Kontexten der Welt dominieren andere theologische Entwürfe die Reformierte Gottesdienstkultur. Die reformierten Kirchen in der französischsprachigen Schweiz sind bereits seit dem 18. Jahrhundert (aussschlaggebend war die Neuenburger Gottesdienstordnung 1713 von Jean-­ Frédéric Ostervald) stärker durch Einflüsse aus der anglikanischen Tradition (insbesondere das Book of Common Prayer) geprägt; vgl. Bürki 2003, 163 f. Ähnliches gilt für die Kirchen in Frankreich, Schottland und den Niederlanden; vgl. ibid. 4 Vgl. Ehrensperger 1971.

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Einleitung

der Gründung der modernen Eidgenossenschaft 1848 sehr unterschiedlich gefeiert wurden, wie Alfred Ehrensperger in minutiöser Arbeit rekonstruiert,5 entstanden in den Nachkriegsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts vermehrt überkantonale Reforminitiativen, die sich auf die reformierten Kirchen in der ganzen Deutschschweiz bezogen. In den 1960er Jahren wandten sich verschiedene kirchliche Gremien auf nationaler Ebene einer umfassenden Überarbeitung der Grundlagen des liturgischen Lebens zu. Motive für den damals beabsichtigten liturgischen Wandel waren u. a. die Suche nach einer vertrauteren Sprache, nach Anbetung statt Information bzw. Überwindung der seit der Aufklärung vorherrschenden Pädagogisierung und Moralisierung der Gottesdienste, sowie nach zeitgemässer musikalischer Gestaltung.6 Die Initialzündung zu den neuen Verlautbarungen gab die Zürcher Gottesdienstreform. Ihr Zeitpunkt war durch seine Nähe zum 2. Vatikanischen Konzil und der aufkeimenden Studentenbewegung der Nachkriegszeit besonders brisant gewählt. Ähnliche Impulse gingen von der durch die Zürcher Landeskirche organisierten Disputation 84 und der Schweizerischen Evangelischen Synode von 1984 und 1987 aus, welche in Bezug auf den Gottesdienst die in der Nachkriegszeit entstandenen liturgischen Bedürfnisse programmatisch proklamierten.7 Sie hinterliessen einen liturgischen Rohbau, der anstatt einer Agende einen gottesdienstlichen „Weg“ mit „Wegmarken“8 vorzeichnete, nämlich ein Modell mit fünf Schritten: Sammlung, Anbetung, Verkündigung, Sendung und Segen.9 Dieses Modell wurde seit 1972 in den Material-Sammlungen der Liturgiekommission der evangelisch-reformierten Kirchen der Schweiz konsequent umgesetzt.10 Trotz der Forderung nach mehr Sinnlichkeit in den Gottesdiensten gelang es in den beschriebenen Reformprozessen nicht, das Abendmahl deutlicher in den Rohbau des Predigtgottesdienstes einzugliedern. Zudem blieben die geforderten ökumenischen Feierformen – ausgenommen von einzelnen Initiativen – erfolglos. Insgesamt hatte der neue Entwurf aber weitreichende Konsequenzen 5 S. Ehrensperger 2010, Ehrensperger 2011 sowie Ehrensperger 2012. 6 Vgl. Ehrensperger 2000, 196. 7 Die Disputanden halten fest: „Unsere Zeit ist von Worten überflutet, darum sprechen uns andere Medien oft unmittelbarer an, beispielsweise Musikimprovisation, meditative Formen, Bilder, Dias, Pantomime, Sketchs, Tanz, Dekoration, Kerzen usw.“ ERKZH 1987, 282. Alfred Ehrensperger destilliert aus den Forderungen der „Disputation“ v. a. das Verlangen „als ganzer Mensch mit Herz und Sinnen“ angesprochen zu werden sowie die Überwindung des „monologischen Charakters der bisherigen liturgischen Praxis“; vgl. Ehrensperger 2000, 200. 8 Vgl. Ehrensperger 2000, 201. 9 VHERGS 1998, Nr. 150. Als Architekt des Modells gilt der Musiker und Philosoph Adolf Brunner; vgl. Marti 2002. 10 S. LKDS 1972, LKDS 1983, LKDS 2000 sowie LKDS 2002; zur Arbeitsweise der Liturgiekommission vgl. Marti 2002.

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Szenario: Agendenfreiheit als Gegenstand der Liturgik

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und dies nicht erst seit der Aufnahme des fünfteiligen Schemas als Gottesdienstordnung (Nr. 150) in das Reformierte Gesangbuch 1999, das sämtlichen Deutschschweizer Kirchgemeinden vorliegt. Das Fünfschrittemodell wird gegenwärtig nahezu flächendeckend angewandt.11 Zugleich fehlt, wie schon im vorgelegten Entwurf, eine grundsätzliche theologische Bestimmung der Bedeutung des Gottesdienstes in reformiertem Verständnis. Selbst wenn mit der besagten Gottesdienstordnung ein dramaturgisches Schema vorliegt, kann diese nicht als Agende (das  – im Gottesdienst  – Auszuführende) bezeichnet werden.12 Die Ausformulierung der einzelnen Schritte, bisweilen auch die Reihenfolge einzelner Elemente innerhalb der Schritte steht den Gottesdienstgestaltenden jeweils frei. Die Sammlungen an liturgischen Texten der Liturgiekommission verstehen sich wiederum als Materialsammlung mit zahlreichen Alternativen. Weiter geben die Textsammlungen, ausser kurzen Einführungen, kaum Auskunft über die theologische Fundierung der gottesdienstlichen Akte.13 Die liturgische Ordnung in den reformierten Kirchen der Deutschschweiz ist somit sowohl bezüglich ihrer theologischen Fundierung als auch bezüglich ihrer konkreten Gestaltung unbestimmt.14 Dies bedeutet positiv gesprochen: Sowohl Form als auch Bedeutung der Form können jeweils der konkreten Situation angepasst werden. Das Szenario der Deutschschweizer Liturgik ermöglicht einerseits den von Ralph Kunz propagierten „liturgischen Wildwuchs“15 mit lokalen und zielgruppenorientierten Varianten der Sonntagsgottesdienste. Andererseits auferlegt das lose Schema den einzelnen Gottesdienstleitenden eine besonders hohe Verantwortung. Die einzelnen Gottesdienste werden jeweils als „Inszenierungen“ (Plüss) in Bezug auf einen bestimmten biblischen Text oder ein bestimmtes (biblisches) Thema entworfen.16 Sie verlangen von den Pfarrpersonen und ihren Mitarbeitenden beträchtliche Gestaltungskompetenz und einen erheblichen Zeitaufwand in der Planung. Zudem ist für die restlichen 11 Vgl. Bachmann 2009 sowie FGH50 2009. 12 Vgl. Ehrensperger 2000, 292. 13 Besonders unklar ist die Rolle des Schuld- bzw. Sündenbekenntnisses, das in einigen Entwürfen erwähnt wird, in anderen aber gänzlich fehlt. Auch im letzten liturgischen Entwurf der Liturgiekommission, der neuen Taschenliturgie von 2012, wird das Schuldbekenntnis nur in einzelnen Entwürfen erwähnt, in anderen aber weggelassen; vgl. LGBK 2011, 10. 14 Ein eindrückliches Abbild dieser Variabilität geben die gestalterischen und theologischen Kontroversen, welche im Band von Plüss, Marti und Kunz zusammengestellt wurden; s. Plüss et al. 2011. 15 Vgl. Ehrensperger 2000 sowie Kunz 2006b. 16 Wegweisende theologische und anthropologische Grundlagen hierfür hat David Plüss in seiner Habilitationsschrift mit Rückgriff auf religionspsychologische und theaterwissenschaftliche Konzepte erarbeitet; s. Plüss 2007. Für eine ausführliche Besprechung des Konzeptes von Plüss vgl. u., Abschnitt 12.3.4.

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Einleitung

Teilnehmenden das Mitfeiern und Nachvollziehen des liturgischen „Weges“ der Gottesdienstordnung besonders anspruchsvoll, da sie weder auf der Inhaltsebene noch auf der formalen Ebene bestimmte Erwartungen aufbauen können. Hiermit verbindet sich die rund um die Reformationsjubiläen verhandelte Problematik der mangelnden Identität bzw. Lesbarkeit der reformierten Gottesdienstkultur.17 Die Heterogenität der Gottesdienstgestaltung könnte gemäss religionssoziologischen Prognosen die Position der reformierten Kirchen auf dem religiösen Markt zusätzlich schwächen.18 Das Feld der reformierten Gottesdienste sperrt sich durch die beschriebene Agendenfreiheit gegen die in der römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Liturgiewissenschaft bislang vorherrschende Methodik, mittels historischer Forschung und systematisch-theologischer Fundierung Leitlinien und Reformen für die gegenwärtige Gottesdienstpraxis zu erarbeiten. Denn es fehlt an einer legislativen Institution (einem Episkopat oder einer Synode mit Weisungsbefugnissen im gottesdienstlichen Bereich), um konkrete Gottesdienstreformen flächendeckend durchzuführen, da die Verantwortung über die Gottesdienstgestaltung bei den einzelnen Pfarrpersonen und den jeweiligen Kirchgemeinderäten liegt.19 Die lokalen Gewohnheiten und Routinen erscheinen somit vielfältig, disparat und entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen. Die historisch-liturgiewissenschaftliche Forschung hat einen Gegenstand, der sich kaum auf die heterogene, reformiert-deutschschweizerische Gottesdienstlandschaft anwenden lässt. Unter den Bedingungen der besagten Agendenfreiheit, wo der Anschluss an eine ideale Gestalt oder eine bestimmte gottesdienstliche Tradition nicht gesucht wird, ist vielmehr ein konkreter Gegenwartsbezug notwendig, um Reformen in einem Gottesdienst zu begründen. Bevor konkrete Reformen in der gegenwärtigen reformierten Gottesdienstpraxis ansetzen können, müssen erst die Gesetzmässigkeiten der gewöhnlichen 17 Vgl. Krieg und Zangger-Derron 2003, beso. 11. 18 Vgl. Stolz und Ballif 2010, 190 f. 19 Dies gilt zumindest in der Kirchenordnung der Reformierten Kirchen Bern – Jura – Solothurn: „Für die Vorbereitung und Leitung des Gottesdienstes ist der Pfarrer verantwortlich. Er gestaltet die Liturgie […] im Einvernehmen mit dem Kirchgemeinderat.“­ RBEJUSO 1990, Art.  24. Eingeschränkt wird die Gestaltung einerseits dahingehend, dass ein Gottesdienst pro Wochenende in einer Kirchgemeinde (allenfalls gemeinsam mit einer Nachbarsgemeinde) durchgeführt werden soll; vgl. ibid., Art. 20. Andererseits sei bei der Gestaltung der Liturgie „in erster Linie“ auf „die von der Verbandsynode genehmigten Liturgien und Gesangbücher“ zurückzugreifen, doch könne „die Gemeinde auch mit Gebeten, Liedern und liturgischen Traditionen anderer christlicher Kulturen und mit neuen gottesdienstlichen Formen vertraut gemacht werden.“ ibid., Art. 26. Weiter werden etwa die musikalische Gestaltung und die liturgische Kleidung ausschliesslich durch ihre Funktion bestimmt; vgl. ibid., Art. 29.30; vgl. hierzu auch RBEJUSO 2011, Art. 16.17.

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Thesen und Fragestellungen: Ordo im Liturgischen Wildwuchs

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Gottesdienste, wie sie – ohne bischöfliche Aufsicht und ohne theologisches Programm – in den Gemeinden gefeiert werden, in ihrer impliziten theologischen und anthropologischen Logik verstanden werden. Die vorliegende Studie versucht bei dieser bislang kaum erforschten faktischen Situation anzusetzen.20

1.2

Thesen und Fragestellungen: Ordo im Liturgischen Wildwuchs

In der folgenden Studie soll mittels empirischer Beobachtungen die gegenwärtige Gottesdienstpraxis in den reformierten Kirchgemeinden der Deutschschweiz erforscht werden. Die Studie wird dabei einerseits von der These geleitet, dass Gottesdienste weder durch theologische Normen, noch durch Intentionen ihrer Teilnehmenden, sondern durch implizite Ordnungen der Interaktion geregelte Praktiken sind. Dabei wird Bezug genommen auf Einsichten der Mikrosoziologie über die Bedingungen und Effekte von fokussierten Interaktionssituationen und kollektiven Ritualen. Andererseits wird die Studie von der in der Liturgischen Theologie vertretenen normativen These geleitet, dass Gottesdienste auf Gott ausgerichtete und durch ihn bestimmte Interaktionen sind, und sie diesen Anspruch durch nichts anderes als durch seine Teilnahme an ihnen einzulösen vermögen. Mit dieser zweiten These wird das, was als Gottesdienst bezeichnet werden darf, von Eigenschaften Gottes im Sinne des Kanons der christlichen Tradition abhängig gemacht. Die Liturgische Theologie erklärt die formale und inhaltliche Gestaltung des Gottesdienstes somit zum herausragenden Ort für die Frage, an wen bzw. was in einer bestimmten Religionsgemeinschaft geglaubt wird (lex orandi – lex credendi21). Aus den beiden je fachspezifischen Thesen ergeben sich die drei zentralen Fragestellungen, die in der Studie beantwortet werden sollen. Erstens soll danach gefragt werden, welchen impliziten Regeln die faktische Gottesdienstinteraktion in reformierten Gottesdiensten folgt. Zweitens sei gefragt, welche implizite Theologie sich in diesen Regeln manifestiert. Drittens soll aufgrund der 20 Ich verzichte hier auf einen umfassenden Überblick über die bisherige Forschung zum „reformierten Gottesdienst“, da sich die vorliegende Studie in ihrem methodischen Zugriff deutlich von bisherigen Studien zum reformierten Gottesdienst in der Deutschschweiz abhebt. Methodisch ähnlich verfahrende Studien, deren Gegenstand allerdings vom hier gewählten abweicht, werde ich in der methodologischen Grundlegung nachliefern; vgl. u., Abschnitte 3.3–3.5. 21 Der Grundsatz geht auf Prosper von Aquitanien, einen Schüler Augustinus’ von Hippo zurück. In seiner ursprünglichen Formulierung ist er zu finden in der Schrift De Gratia Dei: „ut legem credendi lex statuat supplicandi“; Prosper von Aquitanien [PL 51, 1846], 209.

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Einleitung

Ergebnisse zu den ersten beiden Fragen erörtert werden, wo mögliche Ansatzpunkte für Reformen der Gottesdienstinteraktion liegen, um dem normativ-theologischen Anspruch eines Gottesdienstes gerechter werden zu können.22 In der folgenden Entfaltung der Thesen der Studie soll zunächst geklärt werden, wie sich gottesdienstliche Ordnung in mikrosoziologischer Perspektive verstehen lässt, bevor das in der vorliegenden Studie vertretene Verständnis Liturgischer Theologie und schliesslich die im Folgenden auszuführende argumentative Synthese beider Forschungstraditionen erläutert werden soll.

1.2.1

Mikrosoziologie und die Interaktionsordnung (E. Goffman)

In der vorliegenden Studie wird nach der „Interaktionsordnung“ (Goffman23) von reformierten Gottesdiensten gefragt. Die gottesdienstliche Ordnung lässt sich aus mikro-soziologischer Perspektive weder in Lehrbüchern zum Gottesdienst, noch in einer schriftlich fixierten Agende oder einem Ablauf finden. Ebenfalls lässt sie sich nicht direkt auf theologische oder ästhetische Überzeugungen von Pfarrpersonen oder anderen Teilnehmenden an der Interaktion zurückführen. Sie stellt vielmehr eine von allen Teilnehmenden ko-konstruierte Konvention dar, die den Teilnehmenden derart selbstverständlich vorkommt, dass sie oftmals gar nicht bewusst wahrgenommen werden kann. Dennoch ist die Interaktionsordnung effektiv, was sich besonders dann zeigt, wenn sich Teilnehmende nicht ihr gemäss verhalten. In solchen Situationen werden Ausgleichshandlungen wie etwa Entschuldigungen fällig. Allerdings gilt sogar dann die Interaktionsordnung, nämlich insofern, als diese Ausgleichshandlungen ebenfalls einem geordneten Muster folgen. Eine Interaktionsordnung begrenzt ein bestimmtes Interaktionsgenre im Hinblick auf die mit seinem Vollzug verbundenen Gefahren und Möglichkeiten für die einzelnen Teilnehmenden. Mehr noch: Nur wenn ein Mensch sich an einer Grundstruktur bestimmter erlaubter und erwarteter Verhaltensmuster ausrichten kann, kann er überhaupt in Kopräsenz anderer Menschen bestimmte Ziele erreichen. Insofern gleicht die Interaktionsordnung eines Interaktionsgenres den Regeln eines Spiels, welche die Teilnahme am Spiel und dessen Sinn überhaupt erst ermöglichen:

22 Die letzte Fragestellung ist insofern heikel, als sie per se schon eine theologische Unangepasstheit der gegenwärtig gültigen Interaktionsordnung impliziert. Damit sei nicht einer generellen Abwertung der faktischen Interaktionsordnung das Wort geredet, sondern sollen vielmehr Möglichkeiten der Weiterentwicklung angezeigt werden. 23 Vgl. Goffman 1983, 1–17, beso. 2 [dt. Goffman 2001, 50–104, beso. 55].

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Thesen und Fragestellungen: Ordo im Liturgischen Wildwuchs

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„The workings of the interaction order can easily be viewed as the consequences of systems of enabling conventions, in the sense of the ground rules for a game, the provisions of a traffic code or the rules of syntax of a language.“24

Von gelingender Interaktion ist die Rede, wenn Handlungen und Verhaltensweisen einzelner im Anschluss an Handlungen und Verhaltensweisen anderer Teilnehmender ausgeführt werden. Die Interaktionsordnung ist die Gesamtheit der in einer bestimmten Situation auftretenden regelmässigen Anschlussmöglichkeiten an vorangehendes Verhalten.25 Bei einer flüchtigen Begegnung auf der Strasse wird der Augenkontakt in aller Regel nach kürzester Zeit wieder abgewendet – eine längere Zuwendung würde als Übertretung der Regel erkennbar oder z. B. auf eine soziale Nähe hinweisen. Bei einem Rendez-vous hingegen sind langanhaltende Phasen des Augenkontaktes angebracht – eine längere Abwendung des Augenkontaktes könnte wiederum eine als unangebracht empfundene Abwesenheit eines Teilnehmenden anzeigen. Goffman unterscheidet die Regelhaftigkeit von empirisch stattfindenden Interaktionen von schriftlich fixierten Normen der Interaktion, wie sie etwa in Benimmregelwerken vorliegen.26 Ähnliches muss auch für die schriftlich fixierten Regeln im Zusammenhang mit Gottesdiensten gelten, wie sie in Agenden oder Messordnungen vorzufinden sind. In ihnen wird jeweils nur ein Bruchteil der faktisch gültigen Interaktionsordnung abgebildet. Auch dort, wo in ihnen beispielsweise alle durch die Pfarrperson zu sprechenden Worte festgeschrieben sind, enthalten sie nur ungenaue Angaben darüber, wie (in welcher Prosodie, mit welcher Gestik und Mimik) eine Pfarrperson sie vorzutragen habe. Ebenso wenig, meistens gar nicht, ist darin das korrespondierende Verhalten der restlichen Gottesdienstteilnehmenden geregelt (wo und wie sie zu sitzen haben; ob und wie sie dabei miteinander kommunizieren).

24 Ibid., 5. Hervorh. Ch.W. 25 Luhmann prägt den Begriff des „Anschlusses“ in seiner Gesellschaftstheorie: Anschlussfähigkeit in Kommunikationssituationen ist ihm zufolge „nichts weiter“ als ein „ständiger Prozeß des Reduzierens und Öffnens von Anschlußmöglichkeiten“ in der Kommunikation; vgl. Luhmann 1988, 41; zur grundsätzlichen Verwendung des Begriffes in der Gesellschaftstheorie vgl. Luhmann 2009, 359–393, beso. 363. 26 Vgl. Goffman 1963, 5 f.

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Einleitung

1.2.2

Historische Liturgische Theologie (A. Schmemann, A. Kavanagh, G. Lathrop)

Die Disziplin der Liturgischen Theologie entsteht in den Nachkriegsjahrzehnten im Umfeld des russisch-orthodoxen Theologen Alexander Schmemann im französischen und amerikanischen Exil.27 Laut Schmemann besteht die primäre Aufgabe der Liturgischen Theologie darin, ein Prinzip liturgischer Praxis zu rekonstruieren. Es gelte, so Schmemann in seiner Dissertationsschrift, „[t]o find the Ordo behind the ‚rubrics‘, regulations and rules –  to find the unchanging principle, the living norm or ‚logos‘ of worship as a whole, within what is accidental and temporary: this is the primary task which faces those who regard liturgical theology not as the collecting of accidental and arbitrary explanations of services but as the systematic study of the lex orandi of the Church.“28

Schmemann geht dabei von einem liturgischen Traditionsbestand aus, welcher die biblischen Texte ebenso umfasst wie Schriften der Kirchenväter und die rituellen Vollzüge der Kirche. Im traditionalen Bestand an Praktiken und Texten manifestiere sich, so Schmemann, eine „Ordo“, welche das richtige religiöse Verhalten, die Orthodoxie (richtige Anbetung) implizit bestimme. Liturgische Theologie versuche nun Leseordnungen, Gebete und liturgische Zeiteinteilungen (wie etwa das Kirchenjahr) als allgemeingültige Regelhaftigkeiten darzustellen. Die dabei erarbeitete Ordo ist mit den faktisch gefeierten Gottesdiensten nicht identisch, ist aber auch nicht ausserhalb von ihnen zugänglich, sondern wird in ihnen erkennbar. Liturgische Theologie soll somit nicht bloss die faktischen Texte oder rituelle Abläufe in einer bestimmten historischen Gestalt wiederherstellen, sondern ein theologisches Prinzip hinter den historischen kirchlichen Texten und Praktiken finden. Dazu sei gemäss Schmemann vorderhand eine diachrone, historische Erforschung von Entwicklungen in der Liturgie vorzunehmen.29 Die Ordo solle nicht als lex credendi einer lex orandi gegenüberstehen – eine Tendenz, die Schmemann insbesondere in der Scholastik und in der orthodoxen Schultheologie ausmacht –, sondern als die eine Gestalt des Glaubenslebens – lex orandi als lex credendi – durch theologische Arbeit freigelegt werden.30 27 Vgl. hierzu auch Bräker 2013, beso. 18 f. 28 Schmemann 1975, 31. Hervorh. Ch.W. 29 Vgl. ibid., 16 f. 30 Schmemann führt dies in Theology and the liturgical Tradition aus, wenn er meint: „Liturgical tradition is not an ‚authority‘ or a locus theologicus; it is the ontological condition of theology.“ Schmemann 1963, 175. Damit werde, wie Jürg Bräker einleuchtend darlegt, Schmemanns Ordo-Begriff zu einer „ontologischen Kondition“ weiterentwickelt, der eine „eschatische Wirklichkeit“ abbilde; vgl. Bräker 2013, 61; vgl. auch Bräker o. J.,

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Thesen und Fragestellungen: Ordo im Liturgischen Wildwuchs

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Schmemann konkretisiert sein Konzept in engem Bezug zur ostkirchlichorthodoxen Tradition, in welcher er steht, wie folgende Passage unschwer erkennen lässt: „The worship of the Orthodox Church is conducted according to Ordo, that is, according to definite regulations, according to an order or rite established once and for all. Our Church knows no worship which is not according to Ordo.“31

Somit bezieht Schmemann die Ordo auf den Traditionsbestand des orthodoxöstlichen Christentums, in welchem die Feier der Eucharistie das Zentrum der religiösen Praxis bildet.32 Sein Entwurf hat zugleich aber einen katholischen Anspruch, da er sein Verständnis der Ordo nicht auf konfessionell-partikulare Vollzüge beschränkt. Vielmehr geht er von einer liturgischen Ganzheit aus, die sich diachron und synchron im Zusammenhang aller richtigen liturgischen Praktiken ergibt.33 Damit enthält der Ordo-Gedanke auch eine kritische Note gegen ein konfessionell verengtes Verständnis von Liturgie, wie Schmemann es in östlich-orthodoxen Kirchen seiner Zeit erlebt hat.34 Zugleich entzieht er die Ordo den konkreten gottesdienstlichen Phänomenen, da die richtige Ganzheit eine eschatische Grösse darstellt, auf die sich die partikularen Gottesdiensttraditionen erst hinentwickeln.35 Wenngleich der praxis- und weltbezogene Impetus Schmemanns deutlich wird, belässt er das Konzept der Ordo eigentümlicherweise jenseits kritischer Diskursivität. Dies wird besonders dort deutlich, wo er sich gegen die Liturgiereform des 2. Vatikanums ausspricht. Schmemann sah in den Liturgiereformen eine durch säkulare Wissenschaften, insbesondere die Soziologie, weltlich fehl-

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18.41. Ich danke Dr. Jürg Bräker für zahlreiche Hinweise zum Werk Schmemanns und für die Bereitstellung eines unveröffentlichten Manuskriptes, das seine Monographie ergänzt. Schmemann 1975, 28. So etwa in Theology and Eucharist, wo Schmemann meint, dass die Tradition „begins with specific liturgical acts which are not only related to one another, but necessarily refer to the Eucharist as to their fulfillment.“ Schmemann 1961, 17; vgl. Bräker 2013, 61. Bräker rekonstruiert zwei Tendenzen in Schmemanns Ordo-Begriff: „eine, welche garantiert, dass in den Metamorphosen der Liturgie die eine lex orandi bewahrt bleibt, zum andern die gleichbleibende Grundstruktur der Liturgie, die lex orandi.“ Bräker 2013, 58. Vgl. Bräker 2013, 51. Schmemann versucht das kirchliche Leben als „passage“ zu beschreiben, durch das die Welt zu ihrer eigentlichen Schöpfungswirklichkeit findet; vgl. Bräker o. J., 6 f. Dies lässt sich mit Bräker dahingehend verstehen, dass für Schmemann in der Liturgie „korrigierende Kräfte am Werk [seien], welche sich dem Wesen der Liturgie widersprechenden Auffassungen widersetzen und diese korrigieren.“ Ibid., 37. Die Liturgie als Gesamtheit aller liturgischen Vollzüge der Kirche sei auf die eschatische Einheit bezogen und beziehe ihr eigentliches Wesen, ihre Einheit daher vom Eschaton her; vgl. ibid., 35.37 sowie­ Bräker 2013, 125–135.

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Einleitung

geleitete Theologie am Werk.36 Wenn sich die Ordo letztlich nur im ständigen Bezug auf liturgische Praxis erfassen lässt, könne liturgische Entwicklung nur in der Liturgie – und nicht etwa durch strategische Anwendung abstrakter theologischer Prinzipien – stattfinden. Wenn die Liturgie aber zugleich Ausgangspunkt als auch Gegenstand der Liturgischen Theologie bildet, wie Schmemann nahelegt, wird deren Vorgehen kaum mehr kritisierbar. Schmemann verschleiert somit durch seinen losen Bezug auf konkrete empirische Phänomene letztlich die offensichtliche Positionalität seiner Liturgischen Theologie.37 Die vor allem im angelsächsischen Raum erfolgte Rezeption Schmemanns wandte sich mit Robert Taft und Aidan Kavanagh, beides römisch-katholische Liturgiewissenschaftler, stärker den mit der Ordo verbundenen Strukturprinzipien der Liturgie zu. Taft entwickelte die Vorstellung, dass die Liturgie primäre, alltägliche Strukturen des menschlichen Lebens enthalte, die der Syntax einer Sprache gleichkämen.38 Kavanagh wiederum interpretierte den Ordo-Begriff Schmemanns als theologia prima, welche die Basis, das Medium und die Bedingung jeglicher theologischen Reflexion darstelle.39 David Fagerberg, ein Schüler Kavanaghs, präzisiert diese Lesart weiter, indem er im Anschluss an Ludwig Wittgenstein die theologia prima der Ordo als Grammatik des Glaubenslebens interpretiert.40 Weiterhin unklar bleibt in diesen römisch-katholischen Entwürfen allerdings, wie unterschiedliche liturgische Ordnungen zu beurteilen seien. Es überwiegt das Interesse an einem liturgischen „Brückenschlag“ über die konfessionellen Grenzen hinweg. Dieser liesse sich – so die Erwartung Ka36 Schmemann geht gemäss Bräker davon aus, dass eine Theologie, die versuche die Liturgie mittels weltlicher Wissenschaft zu beschreiben, den über diese hinausführenden Charakter der Liturgie verfehle; vgl. Bräker 2013, 53.63 f.; vgl. Schmemann 1985, 7 sowie Taft 2001a. 37 Bräker weist jedoch zu recht darauf hin, dass Schmemann in seiner Liturgischen Theologie keine „monohierarchische Denkfigur“ entwerfe; vgl. Bräker o. J., 38. Vielmehr praktiziere er eine „Verdoppelung des Interpretationsaktes“: Zuerst werde die lex orandi historisch rekonstruiert und dann die theologische Bedeutung dieser Struktur geklärt. Dabei zeige Schmemann, so Bräker, „kaum Bewusstsein für die Problematik, dass das Auffinden der Strukturen beretis eine Interpretation von Daten und damit von gewissen [theologischen, Ch.W.] Grundannahmen geleitet“ sei; vgl. ibid. 38 Vgl. Taft 2001b, 187–202, beso. 189. 39 Liturgische Tradition, so Kavanagh, sei „the dynamic condition within which theological reflection is done.“ Kavanagh 1992, 7 f.; vgl. ibid., 89. Damit sei laut Kavanagh aber keineswegs bloss die elaborierte Liturgie gemeint, sondern das gesamte kirchliche Leben in seiner nicht-elitären, „proletarischen“ Form, wie es alltäglich von gläubigen Christen vollzogen werde; vgl. ibid., 93. Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff theologia prima jüngst von Dorothea Haspelmath-Finatti aufgenommen und aus evangelisch-lutherischer Perspektive rezipiert; vgl. Haspelmath-Finatti 2014, beso. 97–108. 40 Vgl. Fagerberg 2003, 2 f. Fagerberg schliesst hier an die von Ludwig Wittgenstein entwickelte Vorstellung von Theologie als „Grammatik des Glaubens“ an. Ähnlich versuchte dies bereits Newman 1990; vgl. Bräker 2013, 46 f.

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Thesen und Fragestellungen: Ordo im Liturgischen Wildwuchs

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vanaghs und seiner Mitstreiter – durch die Freilegung einer allen Konfessionen gemeinsamen Ordo der Liturgie bewerkstelligen.41 Der evangelisch-lutherische Exeget und Liturgiewissenschaftler Gordon Lathrop sucht schliesslich im Anschluss an Schmemann und seine Rezipienten – ausgehend von dessen Begriff der eschatologischen „conjuction“ von Ewigkeit und Zeitlichkeit in der  – nach einer differenzaffinen Weiterentwicklung des Ordo-Begriffes.42 Damit wird das Konzept der Ordo zugänglich für liturgische Traditionen, welche sich in Abgrenzung zu anderen entwickelt haben, namentlich diejenigen der protestantischen Kirchen. Das Prinzip liturgischer Ordnung bezeichnet er als „Juxtaposition“, womit er die In-Beziehungs-Setzung unterschiedlicher Komponenten der Gottesdienstinteraktion meint.43 Lathrop stellt die These auf, dass die liturgische Tradition jenseits ihrer diachronen Veränderungen stets antagonistische und nicht aufeinander reduzierbare Elemente miteinander kombiniert hat. So seien Abendmahl und Predigt im Gottesdienst ebenso aufeinander bezogen wie der biblische Text und die Praxis des Abendmahls.44 So argumentiert er aus hochkirchlich-lutherischer Perspektive für eine nicht-hierarchische, kritische Bezogenheit von biblischen und rituellen Komponenten der Liturgie – ein Gedanke, der in der vorliegenden Studie als Kombinationsprinzip an verschiedenen Stellen kritisch aufgenommen werden soll. Zunächst sei festgehalten, dass Lathrop offenlässt, inwiefern das Prinzip der Juxtaposition auch dann gültig ist, wenn –  wie in der reformierten Deutschschweiz üblich –  entscheidende Komponenten wie etwa das Abendmahl oft weggelassen werden. Damit bleibt – trotz seiner grundsätzlich ökumenischen Perspektive – unklar wie etwa nicht-eucharistische Gottesdienste (die Mehrzahl der reformierten Gottesdienste) theologisch zu beurteilen seien.

1.2.3

Empirische Liturgische Theologie

Die Rekonstruktion von Gestaltungsprinzipien des Gottesdienstlebens, wie sie von Schmemann, Kavanagh und Lathrop versucht worden ist, soll in der vorliegenden Studie quasi in umgekehrter Richtung unternommen werden. Statt ihren Ausgangspunkt bei der historischen Rekonstruktion der Grundlagen liturgischer Komponenten und ihrer in der Gegenwart gültigen kritischen Konstellation zu nehmen, setzt die vorliegende Studie bei den Gottesdiensten der Gegenwart an: Die gegenwärtig faktisch gefeierten Gottesdienste und die in ihnen gelten41 42 43 44

Vgl. Taft 2001c sowie Haspelmath-Finatti 2014, 112–117. Vgl. Bräker 2013, 47. „The Christian ordo is the juxtaposition.“ Lathrop 1998b, 49 f. Vgl. ibid., 51 f.

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Einleitung

den Interaktionsordnungen sollen als Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion der theologischen Prinzipien dieser Gottesdienste genommen und erst in einem zweiten Schritt auch diachron und synchron auf andere Ordnungen bezogen werden. Damit wird die faktische Ordnung von Gottesdiensten als implizite lex orandi expliziert und im Vergleich zu anderen Ordnungen kritisierbar. Es entsteht ein Konzept von Theologie, das zwar nahe an den gelebten bzw. gefeierten Gottesdiensten steht, aber zugleich auch aus einem „methodisch gesichterten Rückgriff auf Erfahrung“ (Heimbrock und Meyer45) erfolgt, der für die empirischen Wissenschaften charakteristisch ist und kritischen Diskursen zugänglich bleibt. Eine empirisch rekonstruierte Ordo entspricht, wenn der vorliegende Versuch gelingt, einer phänomennahen Grammatik des christlichen Glaubenslebens, einer theologia prima praktizierter Religion.46 Die empirische Rekonstruktion einer Interaktionsordnung kann allerdings nicht dazu dienen, eine bestimmte Form des Gottesdienstes theologisch zu legitimieren. Sie erarbeitet alleine die Grundlage für eine theologia secunda, welche nach theologischen Kriterien für liturgische Ordnungen fragt. Theologisch verbindet sich mit dem Genre Gottesdienst die Erwartung, dass Gott selbst mit den kopräsenten menschlichen Teilnehmenden interagiert, d. h. an ihrer Interaktion sowohl teilnimmt wie auch kopräsent mit den menschlichen Interaktanden ist.47 Theologisch muss aber auch gelten, dass sich weder Gottes Teilnahme noch seine Kopräsenz durch die Handlungen und Verhaltensweisen der Menschen hinreichend bedingen lassen – ansonsten wäre Gott ein von menschlichem Handeln abhängiger Akteur. Die Handlungen und Verhaltensweisen der menschlichen Teilnehmenden können Gottes Teilnahme und Kopräsenz am Gottesdienst auf unterschiedliche Art und Weise erwarten. Die theologia prima rekonstruiert, wie Gott jeweils als Teilnehmer an der Gottesdienstinteraktion durch die Handlungsbeiträge der Gemeindeglieder bedingt wird. Sie macht dabei deutlich, dass unterschiedliche Interaktionsord45 Heimbrock und Meyer 2007, 15; vgl. u., Abschnitt 3.1. 46 Es soll damit nicht impliziert werden, dass die theologia prima der Gottesdienste eine das ganze religiöse Leben ihrer Teilnehmer_innen oder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe umfassende Theologie darstellen würde. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Gottesdiestteilnehmer_innen auch an nicht-gottesdienstlichen Interaktionen teilnehmen und dort u. a. auch religiöse Interaktionen und Rituale ausführen; vgl. u., Abschnitt 2.6.3. Der Gegenstand der empirischen Liturgischen Theologie ist ein Interaktiongenre und dessen faktische Gestalt – nicht eine implizite Weltanschauung, die sich über verschiedene Interaktionssituationen hinaus in Individuen ausbildet. In der mitteleuropäischen Gegenwart nehmen Individuen in der Regel an unterschiedlichsten Interaktionsgenres teil und interpretieren diese Teilnahme auf unterschiedliche Art und Weise. Es ist durchaus denkbar, dass einzelne Individuen dabei auch unterschiedlichen theologiae­ primae begegnen, die sich wiederum von ihrer eigenen Weltanschauung unterscheiden. 47 Dies zeigt sich in der bekannten Torgauer-Formel Luthers, die das Wesen des Gottesdienstes als Gespräch zwischen Gemeinde und Gott beschreibt; vgl. u., Abschnitt 6.1.1.

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Aufbau der Studie   

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nungen jeweils unterschiedliche Risiken und Chancen im Hinblick auf den normativen Anspruch bergen, Gottes Kopräsenz und Teilnahme am Gottesdienst zu erwarten. So kann etwa das Kollektiv, das einen Anbetungsgottesdienst feiert, derart spontan und situationsbezogen interagieren, dass dabei zwar Erfahrungen einer Transzendenz auftreten, diese sich aber nur schwer auf einen überzeitliche und übersituationale Teilnehmer beziehen lassen: Die Teilnehmenden sehen Gott in einem solchen Fall zwar als hier und jetzt kopräsenten, haben aber Mühe, sich ihn als ewigen und übersituationalen Teilnehmer, der zeitgleich und zu anderen Zeiten auch in anderen Versammlungen teilnimmt, vorzustellen. Umgekehrt wird in reformierten Gottesdiensten gerade die Überzeitlichkeit und Situationsunabhängigkeit Gottes antizipiert, indem die Sprechakte von Schriftstücken abgelesen werden und kaum spontane Handlungen erfolgen. Die Interaktionsordnung dieser Gottesdienste erschwert so die Erwartung der Kopräsenz Gottes mit den Gottesdienstteilnehmenden. Die knappen Beispiele verdeutlichen bereits ansatzweise, in welcher Weise verschiedene gottesdienstliche Interaktionsordnungen je auf spezifische Art und Weise Gefahr laufen, den Anspruch, der sich mit dem Interaktionsgenre Gottesdienst verbindet, zu verfehlen. Liturgik bleibt deshalb auch als empirische Wissenschaft einer kritischen Haltung gegenüber faktisch stattfindenden Gottesdiensten verpflichtet. Aus der Perspektive der theologia secunda kann sie faktische Gottesdienstordnungen als mögliche unter anderen Ordnungen auf ihre theologischen Anspruch hin befragen und kritisieren. Die theologia secunda legt Kriterien für angemessenes gottesdienstliches Handeln fest und spurt somit liturgische Reformen vor – sie bleibt Liturgische Theologie im Sinne Schmemanns. Damit diese Reformvorschläge aber empirisch messbare Erfolge zeitigen können, ist letztlich der Bezug auf faktische Interaktionsordnungen wieder herzustellen. Es sollen konkrete Veränderungen von bereits bestehenden Ordnungen vorgeschlagen werden. Solche Veränderungsvorschläge haben sinnvollerweise wiederum die Form einer theologia prima, die dann allerdings prospektiv entworfen wird und angemessenere Verhaltensweisen und Praktiken entwickelt, die den theologischen Anspruch an die Gottesdienstinteraktion besser einzulösen vermögen. Die Formulierung einer theologia prima steht somit am Ausgangs- und am Zielpunkt einer Studie in empirischer Liturgischer Theologie.

1.3

Aufbau der Studie   

Die vorliegende Studie ist in vier Teile gegliedert, die den erwähnten Schritten der argumentativen Synthese entsprechen. Im Teil  A werden mikrosoziologische und ritualtheoretische Konzepte im Hinblick auf den Gegenstand der Studie erarbeitet, theoriegeschichtlich einge© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

34

Einleitung

ordnet und ansatzweise kritisch beurteilt (Kapitel 2). Dabei werden die Grundannahmen der Mikrosoziologie im Anschluss an Emile Durkheim entfaltet und das Ritualitätsmodell von Randall Collins vorgestellt, das im empirischen Teil der Studie dazu dienen soll, die Phänomene des Gottesdienstes zu analysieren. Ausserdem wird der spezifische Kontext der beobachteten Phänomene, die pluralistische Gesellschaft Mitteleuropas, in seinen Auswirkungen auf die Bedingungen der Möglichkeit von Ritualität befragt. Hierbei wird der Diskurs der Ritual Studies aufgegriffen. Schliesslich wird gefragt, inwiefern Interaktionsrituale als religiöse Interaktionsrituale zu verstehen seien, wobei der Anschluss an die traditionsunabhängige, komparative Religionsdefinition von Martin Riesebrodt gesucht wird. Das methodische Vorgehen der empirischen Studie wird anschliessend in Abgrenzung zu vergleichbaren Methodiken begründet (Kapitel 3). Anhand einer Übersicht über bisherige empirische Forschungsarbeiten zum Gottesdienst wird dargelegt, dass der mikrosoziologischen Perspektive auf Gottesdienste am ehesten die Methode der videobasierten Interaktionsanalyse entspricht, da diese detailgetreue Beobachtungen zulässt ohne die kontextuelle Einbettung der Interaktion zu vernachlässigen. Die Auswahl des Samples und der beiden Kontrastfelder anhand landläufiger Hypothesen über den reformierten Gottesdienst wird hier ebenso begründet wie die Auswahl von kurzen Sequenzen für die Feinanalysen. Nachdem in Teil A die begrifflichen und methodischen Instrumente bereitgelegt sind, erfolgt in Teil  B die Durchführung der empirischen Rekonstruktion der Interaktionsordnung und der in ihr manifesten theologia prima. Hierzu werden die theoretisch ausgewählten Elemente der Gottesdienste (Auftritte der Protagonist_innen, Eingangsworte, Gebete, Lesungen und kollektive Rituale) in detaillierten Sequenzanalysen mit dichtem Bezug zu den Daten bearbeitet. Diese Elemente des Gottesdienstes sind zur Bestimmung der Interaktionsordnung besonders relevant, da sie den Rahmen für nachfolgende Interaktionen setzen: Indem sie einzelne Teilnehmende (Auftritte), das Genre der Interaktion (Eingangsworte), die nonphänomenalen bzw. transzendenten Teilnehmenden (Gebete, Lesungen) und die rituelle Dichte (kollektive Rituale)  aufbauen, lassen sie die Eckpunkte der Interaktionsordnung des gesamten Gottesdienstes erkennen.48 In der Sequenzanalyse von zuvor kodierten Clips der ausgewählten

48 In der Studie wird bewusst darauf verzichtet, die in den meisten reformierten Gottesdiensten zentral positionierte Predigt zu analysieren, da diese von den besagten Elementen interaktional bereits vorbestimmt ist: Der in der Predigt Sprechende, die Hörenden, der Bezug zum nonphänomenalen bzw. transzendenten Teilnehmenden (Gott) und das Genre der Interaktion sind zu Beginn der Predigt bereits konstituiert. Sollte die Predigt das unterscheidende Merkmal der reformierten Interaktionsordnung sein, müsste dies

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Aufbau der Studie   

35

Elemente werden Regelmässigkeiten und durchgehende Strukturen der Interaktion rekonstruiert. Die Studien zu den einzelnen Elementen münden jeweils in Grundmerkmale, welche im Anschluss an die Rekonstruktion mit geläufigen liturgiewissenschaftlichen Fragestellungen diskutiert werden. In einem resümierenden Zwischenfazit (Kapitel 9) werden die erarbeiteten Grundmerkmale entlang der fünf Charakterzügen von Ritualität nach Collins systematisiert und so für die folgenden Vergleiche und Diskussionen bereitgestellt. Die dabei erarbeitete theologia prima wird abschliessend als spannungsvolles Konstrukt mit Stärken und Schwächen im Bezug auf die theologisch-normativen Ansprüche an den Gottesdienst skizziert und für die liturgiewissenschaftliche Diskussion in Teil D aufbereitet. In Teil C folgen vorerst zwei Fallstudien aus Kontrastfeldern von historisch und kulturell ähnlich situierten Gottesdiensttypen, die wiederum in detaillierten Sequenzanalysen anhand von Videomaterial untersucht werden. Mit dem römisch-katholischen Gottesdienst und einem Anbetungsgottesdienst sind die zwei neben dem reformierten Gottesdienst in der Deuschschweiz am häufigsten gefeierten Gottesdiensttypen als Kontrastfälle ausgewählt.49 Als Resultat der beiden Fallstudien werden entlang dem Ritualitätsmodell von Collins wiederum Grundmerkmale der Interaktionsordnung der Gottesdienste dargestellt und so mit der reformierten Interaktionsordnung vergleichbar. Durch die Kontrastfelder in Teil C wird es möglich, die faktische Ordnung der Interaktion der reformierten Gottesdienste mit anderen Interaktionsordnungen in einem ähnlichen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld zu vergleichen. Somit wird die reformierte Interaktionsordnung als eine Möglichkeit der Gottesdienstordnung unter anderen erkennbar und ihre Geltung aus der meta-normativen Perspektive der theologia secunda kritisierbar. Teil D führt die in Teil  C eröffnete metanormative Betrachtung anhand zweier im 20.  Jahrhundert zentral geführter liturgiewissenschaftlicher Diskurse weiter. Es handelt sich namentlich um den Diskurs der Liturgischen Präsenz (Kapitel 12) und den Diskurs zur Partizipation im Gottesdienst (Kapitel 13). Beide Diskurse intendieren konkrete gottesdienstliche Veränderungen und begründen die Notwendigkeit solcher Veränderungen theologisch und

bereits in der Konstitution der Teilnehmenden bzw. der Deklaration des Interaktionsgenres zu Beginn des Gottesdienstes deutlich werden – es gilt zu zeigen, ob dies sich auch empirisch belegen lässt. 49 Von den 9 % der Schweizer Bevölkerung, die jedes Wochenende an einem religiösen­ Ritual teilnehmen, besuchen 37,9 % römisch-katholische, 29,1 % evangelisch-freikirchliche und 14 % reformierte Gottesdienste; vgl. Stolz et al. 2012, 24. Die in der vorliegenden Studie untersuchten Gottesdiensttypen stellen somit die drei verbreitesten Formen eines religiösen Rituals in der Schweiz dar.

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36

Einleitung

anthropologisch. Sie beleuchten dabei je unterschiedliche Seiten der Gottgemässheit der Gottesdienstinteraktion: Während der Diskurs zur Präsenz stärker auf Veränderungen im Verhalten der gottesdienstlichen Protagonist_innen (Priester, Pfarrpersonen) einzuwirken versuchte, wird im Diskurs der Partizipation vorwiegend auf Veränderungen im Verhalten des Publikums hingearbeitet. Beide Diskurse spiegeln sich in den drei rekonstruierten gottesdienstlichen Interaktionsordnungen wider. Die theologische Angemessenheit der Ordnung Interaktion wird in Bezug auf Präsenz und Partizipation in den verschiedenen Gottesdiensttypen auf je unterschiedliche Art und Weise ermöglicht bzw. behindert. Zu beiden Diskursen werden normative Konzepte dargestellt und anschliessend im Hinblick auf ihre Konkretisierung in den unterschiedlichen Inter­ aktionsordnungen hin neu interpretiert. Durch diese interaktionstheoretischen Relektüren der beiden Diskurse sollen im Sinne einer theologia secunda normative Prinzipien aufgezeigt werden, an welchen sich Gottesdienstgestaltung orientieren kann. In beiden Fällen lässt sich die Zielbestimmung der Diskurse auf ein theologisches Prinzip zurückführen, dass im Anschluss an Gordon Lathrops Konzept der „Juxtaposition“ als Kombinationsprinzip bezeichnet werden soll. Schliesslich soll in einem die Studie resümmierenden Fazit (Kapitel 14) nach Konkretisierungen des Kombinationsprinzips in der gegenwärtigen reformierte Gottesdienstpraxis der Deutschschweiz gefragt werden. In einer Reihe von praktischen Vorschlägen soll hier ansatzweise der Entwurf einer theologia prima gegenwärtiger Gottesdienstpraxis gewagt werden, mit welchem die empirische Liturgische Theologie erst ihr selbstgesetztes Ziel erreicht.

1.4

Schreibweise, Sonderzeichen und Abkürzungen

Das Genus von geschlechtlich bestimmten Nomen wird dort, wo kein bestimmtes Geschlecht gemeint ist, mit dem sog. „Gender Gap“50 markiert; beispielsweise Protagonist_in statt Protagonistin oder Protagonist bzw. Lektor_innen statt Lektorinnen und Lektoren. Die Bezugswörter solcher Nomen werden der Lesbarkeit halber jeweils feminin gehalten; beispielsweise eine Lektor_in. Eine Ausnahme bildet das Nomen Gott, das im Folgenden – der einfacheren Lesbarkeit halber und der sprachlichen Konvention folgend – als Maskulinum bezeichnet wird, obschon damit der Transzendenz kein bestimmtes Geschlecht zugeschrieben werden soll.

50 Zur geschlechtertheoretischen Logik dieser Vorgehensweise vgl. Hermann 2003.

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Darstellung der Videodaten   

37

Die Verbaltranskripte werden in abweichendem Schrifttyp (Elementa) abgedruckt. Ihre Schreibweise orientiert sich an den Regeln des Gesprächs­ analytischen Transkripts (GAT).51 Mit „↓“ und „↑“ werden besonders tiefe oder hohe Tonführungen bezeichnet, „:“ markiert einen verlängerten Vokal bzw. einen harten oder behauchten Konsonanten, „*“ markiert den „Stroke“52 einer Geste. Weitere Erläuterungen werden mit Eckklammern „< >“ in den Fliesstext eingefügt. Eine einfache Unterstreichung (z. B. „amen“) zeigt an, dass die Worte mit Blick zum Manuskript gesprochen werden. Orts- und Personennamen werden mit „××ד anonymisiert. Falls Schweizerdeutsche Mundart gesprochen wird, ist in einer Fussnote und in kursivem Schriftsatz eine Standarddeutsche Übersetzung wiedergegeben, auf die bei den folgenden Beschreibungen und Interpretationen referiert wird.53 Die vollständigen Transkripte der Eingangspassagen der Gottesdienste (ohne diejenigen der Kontrastfälle) befinden sich im Anhang der Studie. Bei längeren Deskriptionen werden Akteur_innen durch Kürzel bezeichnet. „P“ steht dabei jeweils für eine Pfarrer_in, „L“ für eine Lektor_in, „M“ für eine Musiker_in, „D“ für eine Diakon_in. Falls eine bestimmte Akteur_in gemeint ist, wird das Kürzel mit dem hochgestellten Gemeindenamen versehen; z. B. PDimels*.

1.5

Darstellung der Videodaten

Die Videoclips werden durch nummerierte Referenzen in eckigen Klammern in den Text eingefügt. Sie können auf einer Internetplattform abgerufen werden.54 Bei Namensnennungen wird die Tonspur zum Persönlichkeitsschutz kurz ausgeblendet. Auf die Clips bezogene Beobachtungsprotokolle werden jeweils an die Referenzen anschliessend in kleinerem Schriftsatz (10pt) in den Fliesstext ab­ gedruckt. Der Argumentationsgang der Arbeit ist ohne diese umfangreichen Deskriptionen nachvollziehbar, wenn gleich an verschiedenen Stellen Beobachtungen aus ihnen aufgenommen werden.

51 Vgl. Selting und Auer 1998. 52 Dt. Streich/Schlag. Der Stroke ist der Kulminationspunkt einer Geste, und liegt in der Regel synchron mit prosodischen Betonungen; vgl. Schwarze und Konzett 2014, 86. 53 Die Übertragung erfolgt soweit wie möglich Wort für Wort. Satzzeichen werden dabei am Sprechrhythmus orientiert. Diese Art und Weise der Übertragung soll das Transkript für Deutschsprachige erschliessen, die der Schweizerdeutschen Mundart nicht mächtig sind, ohne die Sperrigkeit des faktischen Sprech-Phänomens zu glätten. 54 http://interaktionsritual.unibe.ch (Zugegriffen: 30. März 2016)

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38

Einleitung

Bei längeren nonverbalen Passagen werden die Beobachtungsprotokolle durch Standbilder ergänzt. Wo diese Standbilder vergrösserte Ausschnitte wiedergeben, wurde jeweils eine Miniatur des gewählten Bildausschnittes am linken oberen Rand beigefügt. Alle Referenzen auf das Videomaterial werden jeweils mit einer Zeitangabe (auf die Zehntelsekunde genau) und dem Kürzel der Gesamtaufnahme versehen.

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Teil A: Voraussetzungen

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2.

Theoretische Grundlagen

„Not, then, men and their moments. Rather moments and their men.“ E. Goffman1

Im folgenden Kapitel soll ein Vokabular zur Beschreibung dessen, was in einem reformierten Sonntagsgottesdienst vor sich geht, bereitgestellt werden. Dazu wird eine anthropologische Sichtweise auf das Phänomen Gottesdienst eingenommen. Diese Sichtweise geht von der These aus, dass es sich bei einem Gottesdienst um eine soziale Situation handelt, in der Menschen miteinander interagieren. Gottesdienste werden somit zunächst als Interaktionen betrachtet, so wie ein Gespräch, ein Fussballspiel oder eine Kaffeepause als Interaktionen betrachtet werden können. Die Interaktion in Gottesdiensten verbindet sich jedoch mit bestimmten Bedeutungen, Emotionen und Symbolen. Sie sind daher überdies als Rituale zu betrachten.2 Der Begriff Ritual wurde schon verschiedentlich in der Liturgiewissenschaft verwendet.3 Im Folgenden soll eine spezifische Forschungstradition aufgegriffen werden, welche im Anschluss an Emile Durkheim die elementare Bedeutung von Ritualen für Sozialität herausgearbeitet hat: die Mikrosoziologie.4 1 Goffman 1967, 3. 2 Vgl. Bieritz 2003; der Begriff war im reformierten Kontext lange Zeit höchst umstritten vgl. Plüss 2007, 274–282, beso. 274 f. Eine weitreichende Rezeption in der deutschsprachigen Praktischen Theologie fand das Konzept der Liminalität von Ritualen des Sozialanthropologen Victor Turner; vgl. dazu Bahr 1998 sowie Strecker 1996. 3 Zu nennen sind folgende Monographien der deutschsprachigen Literatur, die den Gottesdienst als Ritual zu beschreiben versuchen: Jetter 1986, Josuttis 1991, Heimbrock 1993 sowie Odenthal 2002. 4 Die Mikrosoziologie versucht – im Unterschied zu repräsentativen Studien mit grossen­ Populationen – die situationale Verankerung sozialer Sachverhalte zu erforschen. Dabei gilt der Grundsatz, dass kein sozialer Sachverhalt (beispielsweise ein höherer sozialer Status) ohne eine Verankerung in konkreten Situationen (etwa besonders aufmerksame Bedienung in einem Restaurant) Gültigkeit beanspruchen kann; vgl. Collins 2000, 18. Sie beruht auf besonders detaillierter Beobachtungsmethoden, die auch Gebrauch von audiovisueller Aufzeichnungen machen: „Micro-sociology is above all a method. It pragmatically and open-endedly makes use of careful observation through ethnographic presence and participation, interviewing or de-briefing, and self-observation, as well as recent technologies for studying the details of human action in videos, sound recordings, time-diaries,

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Theoretische Grundlagen

Im mikrosoziologischen Modell der Ritualität von Randall Collins werden rituelle Interaktionen als dynamische Prozesse verstanden, die mit bestimmten Bedingungen („ingredients“) verbunden sind, sowie bestimmte Effekte („outcomes“) bei den Teilnehmenden bewirken.5 Die von Collins erarbeiteten Bedingungen und Effekte von Ritualität sollen im Folgenden begründet und an einer entscheidenden Stelle ergänzt werden. Das Modell soll so für die folgenden Videoanalysen von Gottesdiensten aufbereitet werden. Überdies soll geklärt werden, wie sich der spezifische kulturelle Kontext der reformierten Gottesdienste in der Deutschschweiz, die mitteleuropäische (Spät-)Moderne, auf die Ritualität der Gottesdienste auswirkt. Hierzu sollen Beobachtungen aus den sog. Ritual Studies aufgegriffen werden, welche die spezifische Qualität von Ritualen in der Moderne herausgearbeiten. Schliesslich soll deutlich gemacht werden, welches Verständnis von Religion und Religiosität sich im Anschluss an die mikrosoziologische Perspektive auf den Gottesdienst nahelegt, um terminologische Undeutlichkeiten im Modell von Collins zu bereinigen.

2.1

Begriffe: Interaktion, Ritual, Ritualisierung, religiöses Ritual

Die untenstehende Abbildung 1 stellt einen Versuch dar, die im Folgenden verwendeten Begriffe voneinander zu unterscheiden. Hierzu wurden jeweils eine knappe Definition und exemplarische Beispiele angefügt. Die Unterscheidung zwischen Interaktion und Ritual wird in der vorliegenden Studie analytisch, nicht ontologisch getroffen. Anders als etwa in systemtheoretischen Entwürfen verläuft sie nicht über einen Antagonismus der beiden Begriffe.6 Vielmehr bezeichnen die Begriffe unterschiedliche Qualitäten vergleichbarer Phänomene: Der Begriff Interaktion wird verwendet, um ganz allgemein soziale Situationen zu beschreiben, die einen zeitlichen Verlauf haben. Interaktion findet überall dort statt, wo zwei oder drei für eine gewisse Zeit sich gegenseitig wahrnehmen können (vgl. u., Abschnitt 2.3.1). Ein Ritual bzw. Interand reports on interior dialogue.“ Collins 2010, 1; vgl. ausführlich dazu Scheff 1990, 3–19. In der protestantischen Liturgiewissenschaft gibt es bislang nur die kleineren mikro­ soziologischen Beiträge von Hauschildt 1992 sowie Hauschildt 1993. Daneben ist im Fachbereich Poimenik die explizit mikrosoziologische Arbeit von Hauschildt 1996 erschienen. 5 Vgl. Collins 2005a, 48. 6 Mit Christoph Dinkels Worten stellt ein „Ritual“ anders als eine gottesdienstliche „Interaktion“ eine „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ dar; der evangelische Gottesdienst ist s.E. dezidiert im Unterschied zu „archaischen Ritualmorden“ als „reflexive“ Praxis anzusehen; vgl. Dinkel 2000, 291 f.; zur Kritik an Dinkels Ritualbegriff vgl. Plüss 2001.

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Begriffe: Interaktion, Ritual, Ritualisierung, religiöses Ritual    

43

Begriff

Beschreibung

Beispiele

Interaktion

Ein Phänomen, bei dem mehrere Menschen in gegenseitiger Kopräsenz stehen und das über eine bestimmte Zeit andauert.

– Strassenszene – Gemeinsames Warten auf einen Bus – Rave-Tanzveranstaltung – …

Ritual

Eine Interaktion, die (1) kopräsent bzw. in gegensei­ tiger Wahrnehmung der Teilnehmenden, (2) mit einem geteiltem Fokus, (3) von ihrer Umgebung unterschieden, (4) in gemeinsamer Emotionen bei den Teilnehmenden erfolgt und (5) über die Situation hinausweisende Bedeutung trägt.

– jede Interaktion (s. o.), wenn ein symbolischer Effekt vorhanden ist deutlicher: – Rockkonzert – Prozession – Vereidigung – Taufe – …

Ritualisierung

Eine Interaktion, in welcher ein Ritual entsteht bzw. durch Teilnehmende hergestellt wird.

– Schreiten (gegenüber Gehen) – Gesang (gegenüber Sprechen) – Versammlung (gegenüber einzelnen) – …

Religiöses Ritual

Ein Ritual, das die Kommunikation mit übermenschlichen Mächten in eine bestimmte Form bringt.

– Vater Unser-Gebet – As-Salath (rituelles Tagzeitengebet im Islam) – Ikonenbetrachtung – …

(bzw. Interaktionsritual)

Abbildung 1: Übersicht über zentrale Begriffe der Studie

aktionsritual bezeichnet hingegen Interaktionen insofern sie eine die unmittelbare Erfahrung der Teilnehmenden übersteigende Wirkung haben – m. a. W.: sie laden bestimmte Gegenstände oder Personen mit symbolischer Bedeutung auf. Zugespitzt liesse sich sagen, dass es sich bei Ritualen um fokussierte und bedeutungsgenerierende Interaktionen handelt. Mit Ritualisierung wiederum soll der Prozess bezeichnet werden, in welchem aus einer nicht-rituellen Interaktion eine rituelle Interaktion entsteht bzw. hergestellt wird, wobei diese Herstellung sich oft auch mit bestimmten Gestaltungsabsichten oder anderen Intentionen verbunden werden kann. Der Stellenwert solcher Intentionen wird im Gespräch mit den sog. Ritual Studies zu klären sein. Zuletzt soll zwischen Rituale von religiösen Ritualen unterschieden werden. Hierzu wird ein Religionsbegriff referiert, der im Anschluss an den Religions­ soziologen Martin Riesebrodt die Interaktion zwischen Menschen und über© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

44

Theoretische Grundlagen

menschlichen Mächten ins Zentrum stellt.7 Religiöse Rituale unterscheiden sich somit nicht durch den Gebrauch eines bestimmten Symbolkanons (z. B. bibli­ scher Geschichten oder eines Symbols wie dem Halbmond) von anderen Ritualen, sondern dadurch, dass sie dazu dienen, das Gespräch zwischen Menschen und übermenschlichen Instanzen interaktional zu organisieren. Dieser Gedanke soll am Ende des Kapitels entfaltet werden.

2.2

Zum Rückgriff auf Durkheim

Den theoriegeschichtlichen Hintergrund der jüngeren mikrosoziologischen und sozialanthropologischen Forschung über Rituale bildet Emile Durkheims Hauptwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens8 (Original: Les formes élémentaires de la vie religieuse9) von 1912, in welchem ein soziologisches Verständnis von Religiosität im Allgemeinen und von Ritualen im Speziellen entwickelt wird. Die Bedeutung von Durkheims Beobachtungen wurde in jüngerer Zeit vor allem vom amerikanischen Soziologen Randall Collins hervorgehoben. Wie aber lässt sich der Rückgriff auf diese theoriegeschichtlich längst überholte Konzeptualisierung von Ritualen begründen? Durkheim unterscheidet im Anschluss an die frühe Sozialanthropologie des 19. Jahrhunderts grundlegend zwischen „Glaubensüberzeugungen“ und Ritualen (er selbst spricht von „Kulten“ bzw. „Riten“) in der Religiosität.10 Letztere versteht er jedoch im Unterschied zur frühen Sozialanthropologie nicht als irrationale Verhaltensweisen, sondern schreibt ihnen in Bezug auf Gesellschaften, in denen sie auftreten, eine wesentliche Funktion zu: „Die barbarischsten und seltsamsten Riten, die fremdesten Mythen bedeuten irgendein menschliches Bedürfnis“11.

Genauer handelt es sich bei Ritualen gemäss Durkheim um „Handlungen, die nur im Schoß von versammelten Gruppen entstehen können und die dazu dienen sollen, bestimmte Geisteszustände dieser Gruppen aufrechtzuerhalten und wiederherzustellen.“12

Für Durkheim stellt Religiosität insgesamt „eine eminent soziale Angelegenheit“ dar, deren Funktion sich an der Unterteilung der Welt in „heilige“ und 7 8 9 10 11 12

Vgl. Riesebrodt 2007 sowie Riesebrodt 2011. Dt. Durkheim 1981. Frz. Durkheim 1912. Vgl. Durkheim 1981, 61. Ibid., 19. Ibid., 28.

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Zum Rückgriff auf Durkheim   

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„profane“ Bereiche festmacht.13 Anstatt aber auf bestimmte transzendente Grössen (Gott, Gottheiten oder einen bestimmten Mythos) bezogen zu sein, manifestieren und stärken Rituale kollektive Einstellungen bei den an ihnen Teilnehmenden.14 Solche Einstellungen regeln den „Übergang zwischen den beiden antagonistischen Welten“15, dem Heiligen und dem Profanen, und sind „Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat.“16 Für Durkheim ermöglichen Rituale somit „Kollektivwirklichkeiten“, d. h. gemeinsame Grundhaltungen, die den Teilnehmenden einer sozialen Gruppe auf für alle wahrnehmbare Weise verdeutlichen, was normativ gültig ist.17 Rituale erscheinen deshalb bereits im zentralen zweiten Teil von Durkheims Untersuchung, in welchem er die „elementaren Glaubensvorstellungen“ ausarbeitet.18 Für seine Herangehensweise ist dies bezeichnend: Glaubensvorstellungen sind nicht per se gegeben, sondern leiten sich aus rituellen Praktiken her und manifestieren sich in diesen. M.a.W. sind rituelle Interaktionen die Grundlage jeglicher Form von Religiosität und jeglicher Form von gesellschaftlich geteilter Überzeugung. Auch wenn Glaubensüberzeugungen als heilig und die Erfahrung transzendierend erlebt werden, sind sie gemäss Durkheim Effekte immanenter sozialer Interaktionen. Für Durkheims Untersuchung ist deshalb die empirische Grundlage jeglicher Erforschung von Religiosität entscheidend. Durkheim untersucht konkret elementare Formen des Zusammenlebens in der Lebenspraxis australischer Aborigines-Stämme, wie er sie in verschiedenen ethnographischen Berichten beschrieben sieht. Diese eigneten sich ihm zufolge besser dazu, das Religiöse an der Religion zu erfassen als komplexere Gesellschaften, da sie einzelne Elemente desselben zu isolieren erlauben.19 Durkheim möchte allerdings von diesen, wie er meint, „primitiven“ Elementen der Religiosität auf komplexere, gegenwärtige Gesellschaften schliessen.20 13 Vgl. ibid. 14 Vgl. ibid., 62. Riten unterscheiden sich von Moral nur durch ihr Objekt. Sie beziehen sich nämlich auf heilige Dinge. 15 Šuber 2012, 108. 16 Durkheim 1981, 67. 17 Vgl. ibid., 28. Ein früherer Arbeitstitel des Buches lautete: Les formes élémentaires de la pensée et de la pratique religieuse; vgl. Šuber 2012, 103–106; vgl. Collins 2005b, 114. Durkheims Werk entstand zur Zeit einer umfassenden Bildungsreform in Frankreich, die wesentlich aus der Verdrängung der Jesuiten aus den sekundären Bildungseinrichtungen bestand. Er vertrat, wie viele intellektuelle Juden des fin-de-siècle in Frankreich, eine säkularistische Bildungspolitik; vgl. ibid. 18 Vgl. Durkheim 1981, Kap. 7, 3, III–IV, 283–325. 19 Vgl. ibid., 22. 20 So versteht er die Soziologie als „positive Wissenschaft“, die „vor allem das Ziel [hat], eine aktuelle, uns nahe Wirklichkeit zu erklären“; Ibid., 17. 

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Theoretische Grundlagen

Da für Durkheim Glaubensvorstellungen untrennbar mit rituellen Interaktionen verbunden sind, die eine bestimmte Dynamik aufweisen, kommt die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit derselben stärker in den Blick als ihre strukturerhaltende und stabilisierende Funktion. Für Durkheim sind Rituale nicht in erster Linie sich wiederholende und veränderungsresistente Praktiken, sondern haben kreativen und rekreativen Charakter.21 Durkheim kann somit auch als ein Vordenker des Performative Turn gelten: Als einer der ersten Soziologen geht er davon aus, dass soziale Wirklichkeit im Vollzug sozialer Praktiken konstituiert und erhalten wird. Dies gilt in gegenwärtigen sozialanthropologischen Arbeiten als Konsens.22 Die empirische Grundlage (ethnographische Berichte aus zweiter Hand) sowie sein naiver Evolutionismus (Aborigines lieferten eine Vorstufe zu weiter entwickelten Kulturen) werden heute kaum mehr als wissenschaftlich redlich angesehen. Ausserdem wurde der von Durkheim eigentümlich verschleierte Gegenwartsbezug seiner Studie kritisiert.23 Diese Kritikpunkte haben die Durkheimrezeption  – besonders in der Religionswissenschaft und der Theologie – in den Nachkriegsjahrzehnten wesentlich erschwert und problematisch gemacht.24 Zur Erforschung von gegenwärtig gelebter Religion ist der Rückgriff auf Durkheim dennoch aus folgenden Gründen besonders fruchtbar: 1) Durkheim entwickelt eine Theorie über den Zusammenhang von Interaktion und Überzeugungen, welche die Entstehung von Überzeugungen durch Interaktionen erklärt. Rituale sind also nicht einfach wiederholbare geordnete Abläufe, sondern kreative und rekreative Interaktionen, die Überzeugungen und Emotionen bei ihren Teilnehmenden hervorrufen, erhalten, verstärken und verändern. Somit nimmt Durkheim wesentliche Thesen des Performative Turns der Sozialforschung voraus. 2) Durkheim leitet seine Ritualtheorie aus empirisch beobachtbaren Phänomenen her. Er geht dabei von den „Elementen“, den einfacheren Komponenten des sozialen Lebens zu den „Institutionen“, den komplexeren Komponenten der Gesellschaft. Diese empirische bottom-up-Vorgehensweise ist gerade für das Verständnis von komplexen multikulturellen Gesellschaften besonders wichtig. Nur so lässt sich vom einzelnen Ritual auf grössere Zusammenhänge schliessen, und die spezifische Bedeutung eines Rituals (z. B. eines Gottesdienstes) beschreiben.

21 Vgl. Pickering 1984, 385. 22 Vgl. Smith und Alexander 2005, 31 sowie Cossu 2010, 35.44. 23 So fragt etwa der Soziologe Hans Joas ironisch, „ob Durkheim von seiner langen imaginären Forschungsreise nach Australien jemals in seine französische Gegenwart zurückgekehrt ist.“ Joas 2004, 70 f. 24 Vgl. Collins 2005b.

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Modell: Charakterzüge von Ritualität (R. Collins)   

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3) Durkheim verwendet einen funktionalen Ritualbegriff, der empirische Phänomene vorurteilsfrei zu beschreiben versucht.25 Im Zentrum steht dabei nicht die Frage, ob eine bestimmte Interaktion ein Ritual ist oder nicht, sondern welche Qualität rituelle Interaktion im Unterschied zu nicht-ritueller Interaktion hat. Dies ist besonders wichtig, um die Gottesdienste im agendenfreien Kontext, die sich lange Zeit über in negativer Abgrenzung zum Ritual (nämlich dem römisch-katholischen Ritus) verstanden, in Bezug auf ihre rituellen Qualitäten untersuchen zu können. Angesichts der geistesgeschichtlichen Bedeutung von Durkheims Werk ist es erstaunlich, dass explizite Referenzen auf seine Ritualtheorie in der Praktischen Theologie und insbesondere in der Liturgiewissenschaft nahezu ausgeblieben sind.26 Im Folgenden soll diese theoriegeschichtliche Lücke geschlossen werden, indem die Gedanken Durkheims mittels jüngerer Systematisierungen seines Werkes, namentlich der Ritualtheorie von Collins, dargestellt und anhand dieses Modells von Ritualität wesentliche Aspekte für die Interaktionsanalyse von Gottesdiensten aufbereitet werden.

2.3

Modell: Charakterzüge von Ritualität (R. Collins)

Die besondere Qualität von rituellen Interaktionen lässt sich erstens nicht nur bei Interaktionen beobachten, die gewöhnlicherweise als Ritual bezeichnet werden, und zweitens bestehen auch landläufig als Ritual bekannte Interaktionen nicht gleichförmig aus rituellen Elementen, sondern weisen unterschiedliche Abstufungen von Ritualität auf. Daher soll im Folgenden bestimmt werden, welche Bestandteile ein Phänomen zu einem Ritual machen bzw. welche Charakterzüge einer Interaktion bei der Konstitution von Ritualität zusammenwirken. Damit wird hier die grundlegende Annahme des Diskurses der Ritual Studies unterstützt, dass es sich bei einem Ritual um einen Aspekt von Interaktion handelt, der sui generis ist und nicht als minderwertige bzw. überholte Vorstufe 25 Vgl. Durkheim 1981, 45. 26 Gibt es ausserhalb der Soziologie vielleicht ein Durkheim-Tabu? Schon aus der Sozialanthropologie stammende Ritualtheoretiker der jüngeren Ritual Studies (namentlich Ronald Grimes, Catherine Bell, Roy Rappaport, im deutschsprachigen Raum Axel Michels) verweisen in ihren Arbeiten oft nur auf Victor Turner und Mary Douglas, und kaum auf Durkheim. Während Douglas in ihren Arbeiten explizit auf Durkheim Bezug nimmt, sind die Referenzen bei Turner nur spärlich vorhanden. Die englischen Soziologen Smith und Alexander haben darauf hingewiesen, dass sich „virtually every major theme of Durkheim’s later work“ bei Turner nachweisen lässt; Smith und Alexander 2005, 11 f. Dies verwundert nicht, da Turner bei den ausgewiesenen Durkheim-Kennern Alfred Radcliffe-Brown, Meyer Fortes und Edmund Leach studiert hat; vgl. Šuber 2012, 125.

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Theoretische Grundlagen

zum rationalen bzw. aufgeklärten Handeln angesehen werden kann.27 Zugleich wird damit die vor allem durch Durkheim begründete und von Erving Goffman weiterentwickelte Einsicht vertreten, dass Ritualität nicht nur für religiöse Praktiken, sondern für menschliches Sozialleben überhaupt von grosser Bedeutung ist.28 Goffman weist darauf hin, dass Zeremonien, Begrüssungen, Aufführungen, Bräuche, Abläufe, Prozeduren und dergleichen jeweils auf ihre rituellen Eigenschaften untersucht werden können, ohne an und für sich – und schon gar nicht aus der Perspektive der an ihnen Teilnehmenden – Rituale sein zu müssen.29 Welche Phänomene Rituale sind, wird demnach im Folgenden nicht material, sondern formal definiert – nicht anhand bestimmter Inhalte oder Handlungsabsichten der Teilnehmenden, sondern anhand zentraler konstitutiver Elemente.

Abbildung 2: Randall Collins’ Modell von Ritualität 30

27 Vgl. Bell 2009, beso. 101. 28 Kritiker an diesem Gebrauch des Ritualbegriffes verfallen oft dem Missverständnis, dass damit eine religiöse Kategorie in unzulässiger Art und Weise auf nicht-religiöse (soziale) Phänomene ausgeweitet werde. So etwa Kemper, wenn er meint: „Religious ritual is a valid category of sociological analysis, but in blanketing all of social life with it, Goffman destroyed its uniqueness and cast social life into  a conceptual mode that offers no theoretical payoff.“ Kemper 2011, 280. Demgegenüber versuchen Durkheim und Goffman durch ihre Beobachtungen Aspekte an sozialen Phänomenen zu erläutern, die sich in üblicherweise als religiös bezeichneten Ritualen (d. h. Kulten, Zeremonien oder Gottesdiensten) besonders eindrücklich zeigen. 29 Anders sieht dies etwa die Sozialanthropologin Margret Mead: „An action is not ritual, if the participants are not aware that it is ritual“; zit. in Werlen 1984, 62. Demgegenüber gehe ich mit Iwar Werlen davon aus, dass weder eine Selbstbeschreibung noch das Bewusstsein, an einem Ritual teilzunehmen, bei den Teilnehmenden vorhanden sein muss, um ein Phänomen als Ritual beschreiben zu können; vgl. ibid. 30 Collins 2005a, 48.

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Modell: Charakterzüge von Ritualität (R. Collins)   

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Die vorliegende Studie orientiert sich am Modell von Ritualität des amerikanischen Soziologen Randall Collins (s. Abbildung 2), der eine Systematisierung der von Goffman und Durkheim erarbeiteten Ritualkonzepte liefert.31 Ein Ritual besteht Collins zufolge aus vier Charakterzügen: (1) Körperliche Kopräsenz der Teilnehmenden (2) Geteilter Fokus der Teilnehmenden (3) Hervorgehobenheit der Interaktion aus ihrer Umgebung (4) Gemeinsame Emotion der Teilnehmenden In meiner Zusammenstellung wird die Liste von Collins um den Punkt des symbolischen Effektes ergänzt:32 (5) Der Symbolische Effekt in Verbindung mit bestimmten Objekten oder Personen, die im Fokus der Interaktion stehen Den letzten Punkt bezeichnet Collins als Produkt („outcome“) von Interaktionsritualen.33 Die Bildung von Symbolen spielt allerdings bereits bei der Konstitution von Ritualen eine Rolle, insbesondere dann, wenn sie von denselben Teilnehmenden wiederverwendet werden. Symbole können dazu verhelfen, den Fokus der Interaktion zu verstärken, wenn sie den Teilnehmenden bereits bekannt sind. Gegenüber dieser Vorstellung zeigt sich Collins zurückhaltend, da sie eine vor-interaktionale Wirkung von Symbolen zu behaupten scheint: Collins’ Zurückhaltung nährt sich aus seiner „radikal mikrosoziologischen“ Forschungshaltung, die ohne über die Situation hinausweisende Annahmen auskommen will.34 Er möchte sich damit von der sozialanthropologischen 31 Es ist darauf hingewiesen worden, dass es sich bei Collins’ Konzeptualisierung um eine eklektische Lektüre von Durkheims Werk handelt; vgl. Barbalet 2006. Da in der vorliegenden Studie keine historische Rekonstruktion von Durkheims Theorie, sondern eine aktualisierte Systematisierung seiner wesentlichen Einsichten zur Ritualität beabsichtigt wird, ist dies nicht nur zulässig, sondern auch hilfreich. Denn das hier entwickelte Modell sollte den sozialgeschichtlichen und forschungstechnischen Veränderungen seit 1917 (Durkheims Todesjahr) Rechnung tragen; vgl. Collins 2005b, 126. 32 Die vier von Collins aufgezählten „ingredients“ eines Rituals sind: zwei oder mehr versammelte Individuen (1), die Interaktion zeigt Grenzen gegen aussen bzw. ist von ihrer Umgebung unterschieden (2), Teilnehmende haben einen geteilten Fokus der Wahrnehmung und Interaktion (3) und eine gemeinsame Stimmung bzw. Emotion (4); vgl. Collins 2005a, 48. 33 Vgl. ibid., 48. Die weiteren von Collins beschriebenen „outcomes“ – die Gruppensolidarität, die emotionale Energie in den Inviduen und die moralischen Standards – werden in der vorliegenden Studie eher beiläufig thematisiert, da sie auf weitreichende, gesamtgesellschaftliche Sachverhalte verweisen, die im Rahmen eines makrosoziologischen Diskurses auszuführen wären. 34 Man kann diesen Ansatz daher als immanentistische Religionssoziologie bezeichnen. Der Ansatz der von Collins begründeten „Radical Microsociology“ wurde bereits vom späten Erving Goffman kritisiert. Goffman lehnte die Vorstellung ab, dass sich jegliche

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Theoretische Grundlagen

Ritual­forschung distanzieren, welcher er implizite metaphysische Annahmen vorwirft: Die sozialanthropologische Ritualforschung, so Collins in impliziter Kritik an Victor Turner, verstehe Rituale fälschlicherweise als „doorway-to-thetranscendental“ und setze somit die Existenz transzendenter Sachverhalte voraus, statt sie an empirischen Phänomenen zu belegen.35 Für das Selbstverständnis von Gottesdiensten ist die Rolle der bereits bekannten Symbole und der in ihnen fokussierten nicht-immanenten bzw. transzendenten Sachverhalte jedoch zentral.36 Der Symbolische Effekt muss daher bereits bei den Bedingungen von Ritualität („ingredients“) auftreten. Es wird allerdings eine wesentliche Aufgabe der vorliegenden Studie sein, die immanenten Hinweise auf solche als transzendent erfahrenen Bedeutungen zu untersuchen.

2.3.1 Körperliche Kopräsenz der Teilnehmenden (Charkterzug 1) In seinem Hauptwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens illustriert Durkheim die zentrale Rolle von Ritualen anhand eines ethnographischen Berichts über die Versammlungspraxis eines Aborigines-Stammes. Normalerweise lebten die Aborigines in kleineren Gruppen weit über das Land verteilt. Zu besonderen Zeiten versammelten sie sich jedoch und – so Durkheim – „verdichte[n] sich für eine Zeit“ an einem Ort für ein sogenanntes corrobori.37 Während die gewöhnliche Zeit als ereignislos und gefühlsarm beschrieben wird, geschieht während der corrobori Versammlungen vollkommen Entgegengesetztes: „Sind die Individuen einmal versammelt, so entlädt sich […] eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt. Jedes ausgedrückte Gefühl hallt ohne Widerstand in dem Bewußtsein eines jeden wider, das Form von gesellschaftlicher Struktur aus situationalen Interaktionen ableiten liesse; vgl. Goffman 2001, 75, Anm.  6. Stattdessen sprach er von „Schnittstellen“ zwischen Interaktionsritualen und gesellschaftlichen Strukturen, etwa dort, wo Ordnungshüter in eine Demonstration eingreifen und so situational die öffentliche Ordnung verkörpern; vgl. Knoblauch 2001a, 38. In meinen Analysen versuche ich i. S. von Goffmans Einwänden nicht die in den Interaktionssituationen beobachtbare Ordnung mit makrosoziologischen Sachverhalten zu erklären. Die häufige situationale Verwendung von Manuskripten im reformierten Gottesdienst lässt sich beispielsweise nicht direkt auf das oft beobachtete überdurchschnittlich hohe Bildungsniveau der reformierten Bevölkerung zurückführen. 35 Vgl. Collins 2005a, 7 f. 36 Es wird noch zu diskutieren sein, inwiefern Durkheim bei der Beschreibung der elementaren Religion der Aborigines den christlichen Kult als hermeneutische Folie implizit benützt hat. Der christliche Kult lässt sich zumindest ebenso elementar als „Versammlung“ beschreiben, wie dies etwa Gordon Lathrop in der Monographie Holy Things versucht hat; vgl. Lathrop 1998b, 90.113 f. 37 Durkheim 1981, 296.

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den äußeren Eindrücken weit geöffnet ist. Jedes Bewußtsein findet sein Echo in den anderen. Der erste Anstoß vergrößert sich auf solche Weise immer mehr, wie eine Lawine anwächst, je weiter sie läuft.“38

Dieses laut Durkheim „gärende soziale Milieu“39 einer Versammlung ist der Entstehungsort für besondere „Kräfte“ im Bewusstsein der Teilnehmenden. Sie kulminierten „wie eine Lawine“ in einem Zustand, den Durkheim als „kollektive Efferveszenz“40 beschreibt. Er versteht die dabei wirksamen „religiöse[n] Kräfte“41 als „moralische Mächte, da sie völlig aus den Eindrücken aufgebaut sind, die jenes moralische Wesen, nämlich die Kollektivität bei jenen anderen moralischen Wesen, nämlich den Individuen, erweckt.“42

Die erlebten Mächte und ihre Äusserungen in der Interaktion haben gemäss Durkheim keinen anderen Ursprung als die – durch die Verdichtung von Menschen physisch hergestellte – gegenseitige Wahrnehmung der Individuen. Durch die Versammlung stellten die einzelnen Individuen ein überindividuelles „moralisches Wesen“, die „Kollektivität“ her. Diese werde wiederum von den einzelnen Individuen als „moralische Kraft“ wahrgenommen. Rituale bauen gemäss Durkheim somit eine „Kraft“ zwischen den Teil­ nehmenden auf, welche geteilte moralische Vorstellungen innerhalb der Gruppe ermögliche.43 Die physische Dichte der Teilnehmenden (die Versammlung von Körpern), die psychische Bindungskraft (die „moralische Kraft“) und die dynamische Steigerung des Geschehens in „kollektiver Efferveszenz“ sind für Durkheim dabei derart miteinander verbunden, dass keine einzelne Komponente jeweils von einer anderen hervorgerufen wird – sie sind gleichursprünglich. Der wesentliche Effekt der Versammlung bleibt bei allen unterschiedlichen Formen aber die Manifestation und Stärkung des kollektiven Gefühls der Gruppe, die mit einer Verminderung der Durchsetzungfähigkeit der an ihr beteilig-

38 Ibid., 297. 39 Ibid., 301. 40 Der Ausdruck „effervescence collective“ (dt. als „kollektive Erregung“ übersetzt) findet sich bei Durkheim lediglich in einer Fussnote; s. Durkheim 1912, 312. Dennoch hat er sich zur Bezeichnung des von Durkheim hervorgehobenen rituellen Phänomens in der Literatur durchgesetzt. 41 Durkheim 1981, 304. 42 Ibid., 306. 43 Die Mutualität der Wahrnehmung ist ein Motiv, dass auch aus der Gottesdiensttheorie von Schleiermacher bekannt ist; vgl. Meyer-Blanck 2011, 376. Bislang bleiben die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen den Denkern Durkheim und Schleiermacher ein Forschungsdesiderat.

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Theoretische Grundlagen

ten einzelnen Individuen einher geht (vgl. u., 0).44 Rituale seien gemäss Durkheim somit der Ort, an dem aus einer mechanischen Versammlung von einzelnen Menschen eine Gemeinschaft entsteht. Diese Beobachtung führt Durkheim zur zentralen These des Werkes: Gemeinschaft und Religion stellen eine Einheit her, wobei sich die Gemeinschaft selbst in den im Ritual als heilig bestimmten Symbolen manifestiert. Die soziale Gruppe symbolisiert sich so als machtvolle Grösse im Ritual selbst.45 Dies gilt umgekehrt nicht nur für dezidiert „religiöse“ Rituale, sondern auch auf für Versammlungen in nicht-religiösen Zusammenhängen. Im Anschluss an Durkheim haben Goffman und Vertreter_innen der Ethnomethodologie versucht, gesamtgesellschaftliche Sachverhalte aus situationalen Interaktionen wie etwa Begrüssungen, kurzen Konversationen oder Telefongesprächen herzuleiten. Hinter solchen Versuchen stand die Annahme, dass soziale Wirklichkeit im Zusammenhang der Gesamtgesellschaft nur dann Bestand habe, wenn sie auch in einzelnen Situationen implementiert und aufrechterhalten werde. Alle makrosoziologischen Realitäten müssen sich somit auf der Mikroebene situativer Interaktion bewähren. So argumentiert auch die Radikale Mikrosoziologie, wie sie Collins mit seiner Ritualtheorie vertritt: Die Gesellschaft als Ganze bestehe aus einer Aneinanderreihung einzelner situationaler Interaktionen. In ihr erlebte Wirklichkeit sei keine ontologische Grösse, die für sich existiert. Vielmehr entstünden und vergingen alle sozialen Tatsachen durch die Aneinanderreihung von Interaktionsritualen. Collins nennt daher soziale Sachverhalte „interaction ritual chains“ – aufeinander aufbauende Abfolgen von Interaktionsritualen. Collins entwickelt die Theorie von Durkheim allerdings noch phänomeno­ logisch weiter. Ein Ritual ist ihm zufolge dann gegeben, wenn

44 „Wenn die wahre Rolle des Ritus darin besteht, bei den Gläubigen einen bestimmten Seelenzustand zu erwecken, der aus moralischer Kraft und aus Zutrauen besteht, wenn die verschiedenen Wirkungen, die man den Riten zuschreibt, nur einer zweitrangigen und veränderlichen Unbestimmtheit dieses Grundzustands zu verdanken sind, dann ist es nicht erstaunlich, daß ein und derselbe Ritus, während er denselben Aufbau und dieselbe Struktur bewahrt, vielfältige Wirkungen hervorzubringen vermag. Denn die geistigen Dispositionen, die hervorzubringen seine beständige Aufgabe ist, bleiben in allen Fällen die gleichen. Sie hängen von der Tatsache ab, daß die Gruppe versammelt ist, und nicht von den besonderen Gründen, derentwegen sie versammelt ist. Andererseits werden sie nach den Umständen, auf die sie sich richten, unterschiedlich interpretiert.“ Durkheim 1981, 519. 45 Diese These wurde weit über wissenschaftliche Kreise zur Kenntnis genommen und hat als Hypothese von der „Selbstvergötterung der Gesellschaft in der Religion“ die fran­ zösische Soziologie in der Theologie nachhaltig suspekt erscheinen lassen; vgl. Šuber 2012, 110.

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„[t]wo or more people are physically assembled in the same place, so that they ­affect each other by their bodily presence“46.

Diese Formulierung präzisiert Durkheims Vorstellung der dichten Versammlung: Die besondere Wirkung von Ritualen lässt sich so auf die gegenseitige Wahrnehmung von dicht versammelten Teilnehmenden zurückführen, nicht bloss auf ihre soziale Dichte. Die so durch gegenseitige Wahrnehmung hergestellte Kopräsenz ermögliche einen maximalen Austausch von Informationen zwischen Individuen und zugleich ein zeitnahes gegenseitiges Feedback.47 Mit einem Begriff des Soziologen Alfred Schütz kann dieser Vorgang als „gegenseitiges Sich-aufeinander-Einstimmen“ bezeichnet werden.48 In ähnlicher Weise wie Collins hat auch der Linguist Heiko Hausendorf in seiner systemtheoretischen Gesprächstheorie die Wahrnehmung als entscheidend für die besondere Wirkung einer Interaktionssituation beschrieben: „Die Anwesenheit der Beteiligten erscheint […] nicht als eine physikalische Gegebenheit, sondern als eine über wechselseitige Wahrnehmungsvorgänge der Teilnehmer von ihnen gemeinsam erzeugte Hervorbringung.“49

Hausendorf nennt die Kopräsenz, die für ein Interaktionsritual notwendig ist, daher eine „Wahrnehmungswahrnehmung“.50 Hiermit ist der erste Charakterzug für Interaktionsrituale beschrieben. Rituale finden dann statt, wenn Körper so beieinander versammelt sind, dass sie sich gegenseitig wahrnehmen können – m.a.W. sie sich in Kopräsenz befinden. Gegen den Charakterzug der körperlichen Kopräsenz kann erstens argumentiert werden, dass unmittelbare Kopräsenz nicht notwendig sei, da die Teil46 47 48 49 50

Collins 2005a, 48. Vgl. Goffman 1963, 17. Vgl. Schütz 1972. Hausendorf 2004, 32. Vgl. Hausendorf 2004, 40. Hausendorf schliesst dabei an das Theorem der „doppelten Kontingenz“ von Interaktionssituationen von Niklas Luhmann an. Für Luhmann sind Wahrnehmungen in Interaktionssituationen besonders komplex, da in ihnen ein Teilnehmender nicht nur seine eigene Wahrnehmung eine aus allen möglichen Wahrnehmungen darstellt, sondern auch noch die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmungen durch andere Teilnehmende einen Einfluss auf seine Wahrnehmungsmöglichkeiten haben. Da diese doppelte Unbestimmtheit das System überfordern, tendieren Systeme dazu regelhafte Strukturen auszubilden, welche die Koordination der Wahrnehmungen erleichtern: „In der Sinnhaftigkeit allen menschlichen Erlebens liegt begründet, dass alles Wahrgenommene als Selektion aus anderen Möglichkeiten erlebt wird. Diese Selektivität alles bestimmt Erlebten potenziert sich, wenn man andere Personen wahrnimmt und deren Erleben miterlebt. […] Durch wechselseitig sich konditionierende Selektivität differenzieren sich dann Systeme aus, in denen das ‚im System Mögliche‘ nicht mehr identisch ist mit dem ‚überhaupt Möglichen‘.“ Luhmann 1976, 5 f.

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Theoretische Grundlagen

nahme an Ritualen auch in medial übermittelter Form, z. B. durch eine Fernsehübertragung oder ein Telefongespräch, möglich sei.51 Dabei wäre einerseits zu beachten, dass gegenseitige Wahrnehmung immer eine relative Intensität hat: Sie ist intensiver, wenn jemand nicht nur gesehen, sondern zusätzlich auch noch gehört wird; wiederum intensiver, wenn Körperkontakt zu anderen Personen möglich ist. Die Intensität eines Rituals wäre also proportional zur Intensität der gegenseitigen Wahrnehmung. Je stärker diese eingeschränkt wird, desto schwieriger ist die Konstitution eines Rituals. Collins illustriert dies an unterschiedlichen Teilnahmevarianten an einem grossen Sportanlass:52 Die körperlich-kopräsente Teilnahme am Anlass wird in der Regel jeder anderen Form der Beteiligung vorgezogen. Sie ist bei grossen Sportanlässen aber einem auserwählten und zahlungskräftigen Publikum vorbehalten. Interessant ist nun, wie sich Teilnahmewillige verhalten, die nicht zu diesen Auserwählten gehören: In der Regel bevorzugen sie eine audiovisuelle Übertragung des Anlasses, wobei bereits der Wegfall der Tonübertragung eine wesentliche Einschränkung ihres Teilnahmeerlebnisses zur Folge hat. Vergleichbares gelte für zeitlich versetzte Aufzeichnungen oder Reportagen über den Anlass. Dabei könne das eingeschränkte Teilnahmeerlebnis aber dadurch aufgebessert werden, dass die mediale Übertragung mit anderen Teilnahmewilligen geteilt wird – in körperlicher Kopräsenz. So versammelten sich Sportbegeisterte z. B. an öffentlichen oder halböffentlichen Orten, um gemeinsam einen Anlass zu verfolgen. Aber auch für bedeutungsvolle Unterhaltungen oder strategische Gespräche würden in der Regel face-to-face Situationen medialisierten Formen vorgezogen. Schliesslich gelte die Präferenz für körperliche Kopräsenz auch für Lern-Interaktionen, sei dies nun in Schulstunden oder im Arbeitstraining, welche sich nur unzureichend durch mediale Übertragung ersetzen liessen. Die von Collins angeführten Beispiele sprechen dafür, dass körperliche Kopräsenz nur unzureichend durch medialisierte Kommunikation ersetzbar sei. Theoretisch wäre denkbar, so ein Gedankenexperiment von Collins, dass durch verbesserte technische Mittel eine mediale Übertragung möglich würde, welche die körperliche Kopräsenz vollständig zu ersetzen vermag, beispielsweise durch eine Direktübertragung von Nervensystem zu Nervensystem.53 Eine solche Übertragungsform wäre zugleich aber auch ein machtvolles Instrument der sozialen Manipulation. Es dürfe aber, so stellt Collins in der Tradition der 51 Vgl. dazu Collins 2005a, 53–64. 52 Vgl. ibid., 57–60. Er wählt dieses Beispiel, da es – anders als institutionalisierte Rituale – ohne eine explizite rituelle Intention der Teilnehmenden entsteht: „Games are natural rituals insofar as they unconsciously or nondeliberately bring about the ingredients for a successful ritual.“ Ibid., 59. 53 Vgl. ibid., 64.

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Modell: Charakterzüge von Ritualität (R. Collins)   

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philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts fest, daran gezweifelt werden, ob ein körperloses Nervensystem überhaupt so etwas wie eine Wahrnehmung haben könne. Zweitens, könnte gegen den Charakterzug der Kopräsenz eingewendet werden, dass viele Praktiken, die landläufig als Rituale bezeichnet werden, auch durch einzelne Individuen durchgeführt werden können. So gebe es etwa bestimmte private Rituale des Gebets, der Körperpflege oder der Sexualität. Inwiefern darf dann Kopräsenz (von zwei oder mehr Teilnehmenden) ein wesentlicher Charakterzug von Ritualen sein? In Durkheims Werk wird die Möglichkeit von privaten Ritualen nicht direkt in Erwägung gezogen, da seine Argumentation ihren Ausgang von der „Gesellschaft als eine[r] Wirklichkeit sui generis“54 nimmt, und somit psychologische Erklärungsmuster rituellen Handelns, die bei den Motiven und Beweggründen einzelner Individuen ansetzen würden, zurückstellt.55 Collins hingegen erklärt individuelle Rituale als internalisierte Derivate kollektiver Rituale: „When  a particular human body walks away from  a social encounter, he or she carries a residue of emotions and symbols, and what he or she does in those moments alone comes from their interplay, whether reflecting backward in time, forward to future encounters, or into an inner space of thought, mind, subjectivity.“56

Gewisse Praktiken versteht er somit als innere Rituale, die eine Art Selbstgespräche zwischen verschiedenen inneren Instanzen des Einzelnen haben. Collins hat mit dieser These nicht nur die dialogische Subjektivitätstheorie von George Herbert Mead auf seiner Seite,57 die Gedankengänge als internalisiertes Gespräch zwischen „I“, „Me“ und einem Dritten versteht, sondern auch entwicklungspsychologische Ansätze, welche die Mutter-Kind-Interaktion in den ersten Lebensmonaten als eine Einübung in später alleine ausgeführte Verhaltensweisen verstehen.58 Die menschliche Fähigkeit zu Internalisierung von rituellem Verhalten ist demnach gemäss Collins der Fähigkeit der individuellen Ausbildung von rituellen Verhaltensmustern vorangestellt. Sogar so komplexe Sachverhalten wie ein Selbstbewusstsein oder Subjektivität wird so gesehen als ein Effekt einer­ zwischenmenschlichen Handlung betrachtet und nicht etwa umgekehrt Zwischenmenschlichkeit als Effekt einer subjektiven Einstellung.59

54 55 56 57 58 59

Durkheim 1981, 36 f. Vgl. Pickering 1984, 395–403. Collins 2005a, 345. Vgl. ibid. Vgl. ibid., 346 f. Eine Entfaltung dieser These findet sich bei Collins 2005a, 183–220, beso. 218–220.

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2.3.2

Theoretische Grundlagen

Geteilter Fokus der Aufmerksamkeit (Charakterzug 2)

In einem Ritual sind die in ihm versammelten Individuen auf etwas oder jemanden ausgerichtet; sie teilen die Wahrnehmung dieses Gegenstandes oder dieser Person. Deshalb können sie auch als Teilnehmende bzw. Teilhabende an etwas bezeichnet werden. Das Konzept des geteilten Fokus der Aufmerksamkeit wird von Durkheim selbst nicht erarbeitet. Collins entwickelt es im Anschluss an dessen Vorstellung von kollektiver Wirklichkeit. Das gemeinsame Wahrnehmen im Ritual, ver­ bunden mit der besonderen Dynamik der Versammlung, der „kollektiven Efferveszenz“, schafft die Grundlage dafür, dass die Gruppe einen gemeinsamen Referenzpunkt erhält und so ein allen Teilnehmenden gemeinsames Bezugsfeld, ein ihnen gemeinsamer Horizont entsteht. Collins verdeutlicht dies im Anschluss an die Beschreibung der menschlichen Ontogenese nach, wie sie der Verhaltensbiologe Michael Tomasello vornimmt: Mit neun Monaten entwickeln Kinder die Fähigkeit, sich mit einem Gegenüber auf ein drittes Objekt zu fokussieren, sie entwickeln einen „mutual focus of attention“.60 In dieser sogenannten „nine month revolution“ entsteht bei Kleinkindern die Fähigkeit als Individuen an geteilten Vorstellungen, dem Verstehenshorizont einer interaktionalen Gruppe, teilzunehmen. Das mit anderen Teilnehmenden geteilte Fokussieren auf ein von allen Teilnehmenden unterschiedenes Drittes erlaubt es überhaupt, erst den Standpunkt der anderen Teilnehmer einzunehmen. Erst so ist es ihnen auch möglich, Perspektiven anderer Teilnehmender zu verstehen – eine Fähigkeit, die bei autistischen Personen beispielsweise nur eingeschränkt vorhanden ist.61 Der geteilte Horizont bildet schliesslich auch die Grundlage für ein situationsunabhängiges Verständnis von Zeichen (gestische, prosodische oder emblematische), d. h. ein Verstehen von Dingen in der Welt, das deren situationale Bedeutung übersteigt. An der „nine month revolution“ hängt somit auch die spezifische Art und Weise der menschlichen Kommunikation, welche Solidarität zwischen verschiedenen Teilnehmenden voraussetzt.62 Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit wird meistens auf bestimmte Objekte gelenkt, die den Fokus aller Anwesenden auf sich versammeln. Solche Objekte eignen sich besonders dazu, in weiteren Interaktionen wieder aufgenommen zu 60 Vgl. Durkheim 1981, 522. 61 Vgl. Cole 1999, 151 f. 62 Michael Tomasello nennt diese spezifisch menschliche Kommunikationsform das „Kooperationsmodell“. In ihm sind grundsätzliche Beiträge zum Gelingen von Zusammenarbeit von den Teilnehmenden als wichtiger und dringlicher vorausgesetzt als ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen. Er spricht daher auch von „geteilter Inten­ tionalität“ unter den Teilnehmenden; Vgl. Collins 2005a, 79.

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werden (vgl. u., Abschnitt 2.3.5). Sie werden in der rituellen Interaktion zu Zeichen, die symbolischen Wert haben und länger als das Ritual selbst die Bedeutung der Versammlung transportieren. Gegen den Charakterzug des geteilten Fokus kann eingewandt werden, dass ein geteilter Fokus auch bei einer panisch flüchtenden Menge oder auch in einem mechanisch fortschreitenden Pendlerstrom, der eine U-Bahnpassage durchquert, auftreten könnten. Können solche Versammlungen gemäss Collins etwa auch als Rituale bezeichnet werden? Wohl kaum! Es ist zwar möglich, dass eine erschreckende Erfahrung oder ein notwendiger Sachverhalt zu einem gemeinsamen Fokus der Interaktion führt – dies ist aber nicht notwendig der Fall. Durkheim hat darauf hingewiesen, dass Rituale bei ihren Teilnehmenden eine Form von kollektivem Bewusstsein herstellen, eine „kollektive Wirklichkeit“, die zwischen den an ihnen Beteiligten eine nachdrückliche Solidarität bewirkt, die sich in der anhaltenden Bedeutung von Symbolen niederschlägt.63 Die emotionale Verbindung der Teilnehmenden und der geteilte Fokus sind nicht voneinander trennbare Merkmale der rituellen Situation, als gäbe es einen mechanischen und einen kognitiven Anteil. Vielmehr müssen der Fokus der Interaktion und sein symbolischer Effekt jeweils gemeinsam auftreten, damit eine Interaktion eine rituelle Qualität erhält.

2.3.3

Abgrenzung der Interaktion von ihrer Umgebung (Charakterzug 3)

Aus den ersten beiden erwähnten Charakterzügen wurde deutlich, dass Rituale mit einer bestimmten Anordnung von Körpern und einer bestimmten Form von Fokussierung verbunden sind. Durkheim macht in seiner Untersuchung auf eine weitere wichtige Bedingung von Ritualen aufmerksam: Rituale markieren die Differenz zwischen „heiligen“ und „profanen“ Zeiten, Räumen und Gegenständen. Durch den Vollzug von Ritualen werden diese beiden Bereiche überhaupt erst konstituiert: Orte und Zeiten werden heilig, indem Rituale sich von den normalen, profanen Handlungsformen des Lebens unterscheiden. Durkheim selbst verdeutlicht dies anhand der durch die kollektive Efferveszenz veränderten Gefühlszustände: „Die geistige Erregung, die sie [sc. die moralischen Kräfte] hervorrufen, bezeugen ihre Wirklichkeit. Das ist nur ein weiterer Beweis, daß ein intensives soziales Leben auf den Organismus genauso wie auf das individuelle Bewußtsein eine Art Gewalt ausübt, die deren normalen Ablauf stört.“64

63 Vgl. Pickering 1984, 407. 64 Vgl. ibid.

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Theoretische Grundlagen

Auch zeitliche Grenzen werden durch den Vollzug von Ritualen konstituiert: Sie sind zeitlich begrenzte, transitorische Phänomene. Durkheim begründet dies einerseits damit, dass die kollektive Efferveszenz zu einer emotionalen Überreizung führe, welcher die Beteiligten nur für eine bestimmte Zeit standhalten.65 Andererseits trügen Rituale nicht direkt zu überlebenswichtigen Arbeiten bei, wie etwa der Nahrungssuche. Sie müssen also zugunsten von subsistenziellen Tätigkeiten wie etwa der Beschaffung von Nahrung unterbrochen werden. Durch den geteilten Fokus der Teilnehmenden wird die von ihnen ausgeführte Handlung zugleich von ihrer Umgebung räumlich und zeitlich unterscheidbar. Dies ist beispielsweise dort gegeben, wo Menschen sich als Zuschauer einer bestimmten Situation gemeinsam auf ein Geschehen ausrichten. So lässt sich auf einem öffentlichen Platz schnell erkennen, welche Personen sich auf eine gemeinsame Interaktion ausrichten und welche nicht. Menschen, die sich im Gespräch befinden, stellen sich etwa in einer sogenannten „Face-Forma­tion“ einander zugewandt auf.66 Den Aussenstehenden den Rücken zugewandt, erschweren ihnen die Gesprächspartner den Zugang zur Interaktion. Sie signa­ lisieren so einerseits ihren gemeinsamen Fokus, andererseits ihre Hervor­ gehobenheit aus den sie direkt umgebenden Geschehnissen. An Durkheim anschliessend beschreibt Collins den hervorhebenden Effekt einer rituellen Versammlung folgendermassen: „[B]y shaping assembly, boundaries to the outside, the physical arrangement of the place, by choreographing actions and directing attention to common targets, the ritual focuses everyone’s attention on the same thing and makes each one aware that they are doing so.“67

Wiederum kann die hervorhebende Wirkung durch materielle Einschränkungen, z. B. abgeschlossene Räume oder Abstufungen innerhalb eines Raumes, erleichtert werden (vgl. u., Abschnitt 3.5.2). Zeitlich können durch Veränderungen in der Tagesbeleuchtung (so etwa die Dämmerung) oder durch bestimmte klimatische Bedingungen hervorgerufene Abschnitte den Beginn bzw. das Ende eines Rituals kennzeichnen. Allerdings geht die Hervorhebung in beiden Fällen jeweils nicht in diesen materiellen oder natürlichen Umständen auf, sondern muss, um effektiv zu sein, durch ein entsprechendes rituelles Verhalten der Teilnehmenden als Grenze oder Differenz interpretiert werden.68 Auch Catherine Bell hat in ihrer systematischen Ritualtheorie auf diese differenzierende Wirkung von Ritualen hingewiesen. Bell spricht von Ritualen als 65 Durkheim 1981, 311. 66 Vgl. Kendon 1990, 15.18 (dort: „facing formation“). In der Interaktionsanalyse wird der Kendons Begriff oft als „F-Formation“ abgekürzt. 67 Collins 2005a, 76 f. 68 Vgl. Durkheim 1981, 471 f.

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„a way of acting that is designed and orchestrated to distinguish and privilege what is being done in comparison to other, usually more quotidian, activities.“69

Rituale sind also eine Art und Weise von Praxis, der das Moment der Ausdifferenzierung eigen ist. Sie sind Handlungen, die innerhalb einer bestimmten Situation Grenzen und Unterscheidungen in einer Art und Weise markieren, dass die Situation als solche gegenüber ihrem Kontext hervorgehoben erscheint. Dies hat auch Konsequenzen für die Konstitution der Aussengrenzen des rituellen Kollektivs. In der rituellen Handlung wird grundsätzlich zwischen den Beteiligten und den von ihr Ausgeschlossenen unterschieden. Zusätzlich gibt es unter den Beteiligten jeweils Menschen, die näher oder weiter vom Fokus der Interaktion, dem im Ritual aufgeladenen Symbol, entfernt sind. Durch die Unterscheidung des Rituals von seiner Umgebung und des zentralen Fokus’ des Rituals von seiner Peripherie bilden sich somit Differenzen unter den einzelnen Beteiligten aus.70 Daraus wiederum bilden sich Kontraste, die direkt in der Konstellation der Ritualteilnehmenden manifestiert werden: „Acting ritually is first and foremost a matter of nuanced contrasts and the evocation of strategic, value-laden distinctions.“71

Weil die Unterscheidungen und Wertungen in der Praxis für die Teilnehmenden nie vollständig durchschaubar und immer bis zu einem gewissen Grade unbewusst verlaufen, sind Rituale gemäss Bell dazu prädestiniert, auf implizite Art und Weise Machtverhältnisse und Wertungen herzustellen.72 Denn im rituellen Handeln sei der gesamte Körper der Beteiligten involviert.73 Bell versteht den Körper dabei nicht als blosse Materie, die von einem rein geistigen Subjekt bearbeitet werde, sondern als Ort, an welchem soziale Strukturen in Haltungen manifestiert werden. Rituale würden bei ihren Teilnehmenden vielmehr einen „Habitus“ (Bourdieu) produzieren: eine verkörperte soziale Stellung.74 Das strategische Produkt eines jeden Rituals sei, so Bell, ein Körper, der eine bestimmte gesellschaftliche Strukturierung und mit ihr verbundene Wertungen in sich abbilde.75 Auch Collins erwähnt diese unterscheidende Wirkung von Ritualen, wenn er meint, dass Rituale verschiedene Individuen mit unterschiedlichen Mengen an 69 70 71 72 73 74

Vgl. ibid. Bell 2009, 74. Vgl. Kemper 2011, 63.98 sowie Collins 2005a, 125. Bell 2009, 90. Ibid., 93. Vgl. Bourdieu 1979; zur spezifischen Rezeption von Bourdieu bei Bell vgl. Quack 2010, beso. 175–179.183–185. 75 Vgl. ibid., 98.

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Theoretische Grundlagen

„Emotionaler Energie“ aufladen können.76 Die „Emotionale Energie“ ist dabei das Quantum an kollektiver „Kraft“, das im einzelnen Ritualteilnehmenden erfahren werden kann und in sozialen Situationen gesucht wird. Im Unterschied zu Bell sieht er in dieser Suchbewegung den Ursprung eines rituellen Marktes, der auch Statuswechsel bzw. Karrieren anhand von rituellen Situationen beschreiben kann: Individuen suchen Rituale auf, in denen sie mehr Energie erhalten und meiden Rituale, in welchen sie als Individuen solche Energie verlieren. Menschen können gemäss Collins sogar ganz allgemein als Lebewesen bezeichnet werden, die nach „emotionaler Energie“ streben.77 Gegen den Charakterzug der abgrenzenden Wirkung rituellen Handelns könnte angeführt werden, dass nicht jede Handlung, die sich von ihrer Umgebung unterscheidet bzw. Differenzierungen zwischen einzelnen Handlungen einführt, auch gleich ein Ritual sein muss. So stellt, um ein Beispiel von Bell aufzugreifen, das Kaufen von nicht zueinander passenden Socken noch keine Ritualisierung dar.78 Ebenso sind aus ihrer Umgebung deutlich hervorgehobene Auftritte, z. B. Formen des theatralischen Auftretens in einem Schauspiel, nicht schon per se Rituale. Bell meint, ihre Theorie verteidigend, dass das Ritualisieren von Handlungen alleine nicht gleichbedeutend sei mit „acting differently“79. Für sie liegt das entscheidende Kriterium im Resultat einer solchen Hervorhebung und Differenzierung. Eine rituelle Differenzierung habe eine Auswirkung auf die soziale Stellung der Ritualteilnehmenden. So etwa wechsle in einem Initiationsritual der soziale Status einzelner Beteiligter. Die im Ritual gezogenen Grenzen zwischen Innen und Aussen bzw. zwischen heilig und profan, müssen also nachhaltig im Leben der an ihm beteiligten Individuen weiterwirken. Durkheim selbst äussert bereits eine ähnliche Behauptung, wenn er meint, dass Rituale, auch wenn sie oft spielerische und kreative Züge aufwiesen, dennoch stets Anteil am „ernsten Leben“ der an ihnen Beteiligten hätten.80 Ritualen gegenüber können szenische Handlungen wie etwa Theateraufführungen zwar rituelle Anteile haben, jedoch nur, insofern sie für die an ihnen beteiligten Schauspieler und Zuschauer seriöse Konsequenzen haben. Charakteristisch für sie ist eben gerade die gegenüber dem „ernsten Leben“ geringere Konsequenz der in ihnen vollzogenen Handlungen. Ein Schauspieler, der auf der Bühne würdevoll vor einer Schauspielerin auf die Knie fällt, ändert dadurch kaum etwas an seinem Status oder der Beziehung zwischen ihm und ihr. Ganz anders wirkt es, wenn er dieselbe Handlung in gleicher Vehemenz nach einem guten Abend76 Vgl. ibid. 77 Vgl. Collins 2005a, 48.125. 78 Ibid., 141 ff.; vgl. auch die an Collins anschliessende Studie von Kemper 2011, 65–98. 79 Vgl. Bell 2009, 91. 80 Ibid.

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essen in einem Restaurant vor seiner Freundin machen würde. Es erscheint daher plausibel, dass etwa auch der Theaterwissenschaftler Andreas Kotte szenisches Handeln als „hervorgehoben und konsequenzvermindert“ von anderen Formen der Interaktion unterscheidet.81 Es darf allerdings davon ausgegangen werden, dass die hier getroffene Unterscheidung zwischen Ritualen und Theaterstücken unter den Bedingungen der Moderne nicht in gleicher Deutlichkeit getroffen werden kann.

2.3.4

Gemeinsame Emotion der Teilnehmenden (Charakterzug 4)

Durkheim hat darauf hingewiesen, dass sich Rituale durch kollektive Gefühlszustände bei ihren Teilnehmern auszeichnen. Er spricht von einer kollektiven Grundstimmung, die überdies meist von Freude und Vertrauen geprägt ist.82 Dabei sind weniger individuell erlebte Gefühle gemeint, die durchaus stark variieren können, sondern emotionale Äusserungen, insofern sie in einer Interaktionssituation für andere wahrnehmbar geteilt werden können.83 Diese gleichen sich in einem rituellen Kollektiv einander an und verstärken sich zunehmend. Die gegenseitige Ausrichtung des Fokus’ der Teilnehmenden wird oft dadurch verstärkt, dass rhythmische Zeichen, gemeinsames Singen, Sprechchöre, Gelächter oder Applaus eine Synchronisation des Verhaltens bei den Teilnehmenden bewirken.84 Dies wird bereits in kleinräumigen Interaktionen mit wenigen Beteiligten sichtbar: So übernehmen selbst Teilnehmende an einem informellen Gespräch den Sprechrhythmus der anderen Beteiligten. In ähnlicher Art und Weise gleichen sich auch Gefühlszuständen der Teilnehmenden an einem Ritual einander an: Der gemeinsame Rhythmus bzw. der geteilte emotionale Hintergrund von Interaktionen entsteht zwar unter Mitwirkung der einzelnen Individuen, aber nicht durch ein singuläres Individuum im Kollektiv.85 Dies haben auch Forschungsergebnisse der Neurobiologie, auf welche Collins in seiner Arbeit hinweist, bestätigt: Die sog. „Spiegelneuronen“ ermöglichen eine meist nicht bewusst erlebte Wahrnehmung von bei anderen beobachteten Körperbewegungen, verarbeiten diese und bewirken eine ebenso kaum bewusst erlebte Angleichung der eigenen Gestik und Mimik an diejenige der kopräsenten

81 Vgl. Durkheim 1981, 514. 82 Vgl. Durkheim 1981, 522. 83 Die Durkheim’sche Religionssoziologie vertritt somit ein vom Primat der Sozialität ausgehendes Verständnis von Emotionen; vgl. hierzu auch Riis und Woodhead 2012, 53. 84 Vgl. Collins 2005a, 75 f. 85 Die neuro-psychologischen Grundlagen dieses Effektes bespricht eingehend Schüler 2012, beso. 85–90.

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Teilnehmenden.86 Spiegelneuronen seien überdies für eine positive Grundstimmung verantwortlich, die sich in einem gestärkten Selbstbewusstsein bei den einzelnen äussere. So werde bei der Verabreichung von Antidepressiva versucht, die Ausschüttung von Neurotransmittern zu stimulieren, welche die besagten Abgleichungsprozesse üblicherweise begleiten.87 Mit der emotionalen Dynamik von Ritualen verbinden sich überdies zwei wichtige kulturelle Funktionen: Erstens eine ästhetische bzw. kreative Funktion: Rituale sind Phänomene, in welchen bei den Teilnehmenden neue Ideen entstehen und soziale Veränderungen bewirkt werden können; und zweitens eine rekreative Funktion: die Rituale bestärken die bereits bestehende Gruppe, indem sie diese als körperliche Einheit zur Darstellung bringen.88 Die kreativ-ästhetische Funktion erscheint vorderhand offensichtlicher zu sein. Durkheim selbst meint, dass es „vielleicht keine kollektiven Vorstellungen“ gibt, „die […] nicht Rauschzustände waren“89. Das Delirium der „kollektiven Efferveszenz“ führe dazu, dass die einzelnen Individuen ihre eigenen individuellen Erfahrungen zugunsten der kollektiven Erfahrung suspendieren. Ihre unmittelbaren Interessen würden der Erfahrung einer ihnen äusserlichen und übergeordneten Macht unterworfen. Sie erleben die von ihnen im Ritual geteilten Gefühle als ihnen äusserlich. Das selbstüberschreitende Erlebnis des Rituals liefert so die emotionale Basis dafür, dass das, was für das Kollektiv wirklich ist, in der individuellen Erfahrung verankert werden kann. Zugleich ist mit der Erfahrung der kollektiven Wirklichkeit auch eine Verminderung von direktem Nutzen und individueller Intentionalität verbunden. Durkheim weist darauf hin, dass die „heilige Zeit“ der Rituale sich von der „profanen“ Zeit dadurch unterscheidet, dass in ihr keine lebenswichtigen Tätigkeiten durchgeführt werden müssen und sie somit eine Form der „Erholung“ vom zweckgerichteten Arbeitsleben darstellt.90 Er meint: „Man […] glaubt, jeder Geste ein präzises Objekt und einen bestimmten Daseinsgrund zuweisen zu müssen. Es gibt eben welche, die zu nichts da sind.“91

Die Zweckfreiheit von Ritualen führt zu einem Überschuss an Energie, der sich in kreativen Äusserungen der Teilnehmenden manifestiert. Durkheim schreibt dies der efferveszenten Wirkung der Interaktion zu:

86 Vgl. Gallese 2000, beso. 29. 87 Vgl. Pickering 1984, 385. 88 Bei Durkheim selbst findet sich statt des Ausdrucks „kreativ“ der Ausdruck „ästhetisch“; Vgl. Pickering 1984, 384 sowie Durkheim 1981, 311. 89 Vgl. Pickering 1984, 385 sowie Durkheim 1981, 510. 90 Durkheim 1981, 311. 91 Vgl. ibid., 512.

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„Weil […] die intellektuellen Kräfte, die zu ihrem Aufbau dienen, heftig und turbulent sind, genügt die einzige Aufgabe, die darin besteht, das Wirkliche mit Hilfe von geeigneten Symbolen auszudrücken, nicht, um sie zu beschäftigen. Im allgemeinen bleibt ein Überschuß übrig, der sich in zusätzliche, überflüssige und verschwenderische Werke umsetzt, d. h. in Kunstwerke.“92

Es ist also ein inhärenter Bestandteil von Ritualen, dass sich in ihnen Innovationen oder neue Äusserungen bilden. Das kreative Moment der Emotion in Ritualen ist aber in Bezug auf das gesamte Leben einer Gesellschaft eher riskant, da sich in ihm unerwartete Vorstellungen bilden können, welche bestehende Strukturen wie etwas Machtverhältnisse in Frage stellen. In ihrer gesellschaftlichen Funktion darf man diese Seite des Ritus gemäss Durkheim also nicht überbetonen. Schliesslich muss, so die funktionalistische Prämisse Durkheims, die Kreativität und Freude in der Versammlung einen Nutzen für die gesamte Gesellschaft haben. Er meint: „Wenn ein Ritus nur mehr dem Vergnügen dient, ist es kein Ritus mehr. Die moralischen Kräfte, die durch die religiösen Symbole ausgedrückt werden, sind wirkliche Kräfte, mit denen wir rechnen müssen und mit denen wir nicht tun können, was uns beliebt.“93

Dem kreativ-ästhetischen Moment gegenüber sieht er daher das rekreative Moment der Emotion, das ermöglicht, beständige und wiederkehrende Vorstellungen und Gefühle in einer Gruppe zu verankern, und somit die Gruppe strukturell festigt. Pickering, ein ausgewiesener Kenner der Durkheim’schen Religionssoziologie, meint daher, dass in Ritualen „the spring of an eternally fresh realization of common, dearly-held beliefs and actions“94 zu finden sei. Allerdings sei diese „Quelle“ kollektiver Wirklichkeit nur so lange effektiv, wie rituelle Handlungen dieselben Symbole wieder und wieder ins Zentrum von rituellen Handlungen stellen würden.95 Es sei daher notwendig, dass die in der kollektiven Efferveszenz entstandenen sozialen Gefühle und Repräsentationen wiederbelebt würden. In einem solchen „Erinnerungsritual“ werde ein nicht unmittelbar vorhandener Sachverhalt vergegenwärtigt und im Ritual wieder neu mit sozialer Verbindlichkeit und „moralischer Kraft“ emotional aufgeladen.96 Durkheim sieht diesen Charakterzug von Ritualen bereits in einfachen „mime­tischen“ Riten der Aborigines, bei denen die Teilnehmenden durch bestimmte darstellende Handlungsweisen versuchen, ihr „Totem“, in der Regel 92 Ibid., 513. 93 Ibid., 512. 94 Ibid., 513. 95 Pickering 1984, 388. 96 Ibid.

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ein Tier, nachzuahmen. Durch die Nachahmung stellten sie, so Durkheim, eine Identität zwischen sich und dem Tier her, was sie mit der Kraft von dessen Wesen erfülle.97 Letztlich dienten solche identifizierende, mimetische und darstellende Riten dazu, den „Eindrücken der Sicherheit und der Achtung“, die sich mit der in der Versammlung präsenten moralischen Kraft verbindet, eine Handlungsform zu geben, welche die Exteriorität dieser Kraft verdeutlicht.98 Das kreative und das rekreative Moment würden letztlich ein und derselben Funktion dienen: der „moralischen“ Stärkung einer bestimmten Gruppe von Menschen. Das im Ritual als äusserlich erlebte kollektive Gefühl wird über mehrere rituelle Versammlungen hinweg zu einem Grundgefühl einer Gruppe. Es bewirkt eine gefühlte Solidarität unter den Teilnehmenden, ist also stets mit einem Gewinn an Solidarität verbunden: „[Das imaginäre Element des Rituals] macht einen Teil  des Wohlbehagens aus, das der Gläubige nach Beendigung des Ritus empfindet. Denn die Erholung ist eine der Formen dieser moralischen Wiedergeburt, die das Hauptziel des […] Kults ist.“99

Die Vorstellung einer Dialektik zwischen kreativen und rekreativen Momenten, die durch die emotionale Angleichung in Ritualen ermöglicht werden, wird am prominentesten in der Ritualtheorie von Victor Turner vertreten. Turner nennt Durkheim kaum als explizite Quelle, übernimmt aber implizit nahezu alle Thesen von ihm.100 Turner spricht in seinem Hauptwerk The Ritual ­Process (dt. Das Ritual) von der Anti-Struktur in Übergangsritualen, die sich vor allem im Schwellenzustand, der mittleren liminalen Phase der Riten, bildet.101 Die Ritualteilnehmenden werden während dieser Phase quasi statuslos und legen ihre wichtigsten Eigenschaften ab. Während dieser Phase herrscht strukturelles Chaos. Die Anti-Struktur der liminalen Phase zeitigt auch besondere Kreativität und Vitalität. Zugleich wird den Teilnehmenden ermöglicht, ein sie verbindendes Gefühl zu erleben. Turner nennt diese Form der unstrukturierten Gemeinschaft „communitas“. Letztlich sei die liminale Phase der Anti-Struktur aber nur sinnvoll im Bezug auf die Struktur der Gesellschaft zu denken und könne nur im Bezug auf diese ihre Wirkung entfalten.

97 Vgl. ibid., 393. 98 Vgl. Durkheim 1981, 520 f. Durkheim selbst spricht von den Nachahmungsriten sogar als „die erste Form des Ritus überhaupt“, da sich alle anderen Formen aus ihnen entwickelt hätten; vgl. ibid., 521. 99 Ibid., 514. 100 Dies verwundert kaum: Turner hat bei den Durkheim-Kennern Radcliffe-Brown und Leach in London studiert; vgl. o., 46, Anm. 22. 101 Vgl. dazu Turner 1989, 94–127.

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Der amerikanische Soziologe Thomas Kemper hat in seiner „Status-Power“Theorie eine umfassende Kritik an der Soziologie der Emotion, wie sie von Collins im Anschluss an Durkheim vertreten wird, vorgelegt. Insbesondere stellt er die Hypothese auf, dass die von Durkheim vertretene Vorstellung der kollektiven Efferveszenz die Vorgänge während einer rituellen Versammlung eher mystifiziere als erkläre.102 Er bezweifelt insbesondere den von Durkheim beschriebenen Mechanismus, dass während einer rituellen Versammlung gemeinsame Handlungsweisen, geteilte Gefühle und damit auch eine Verstärkung der Solidarität der Gruppe hervorgerufen würden. Die Angleichung von Gefühlen und Handlungen sind für Kemper nicht quasi-natürliche Reaktionen auf Situationen sozialer Dichte, sondern hätten ihren Ursprung vielmehr in vor, während und nach den Versammlungen bestehenden sozialen Status- und Machtbeziehungen unter den teilnehmenden Individuen: „Bonding and the assumption of moral obligation does not occur because of a ‚crowd psychology‘ of mutually-reinforcing violent gestures and howling that mysteriously release a sense of connection with fellow howlers. Rather, social relations are everywhere at work, from the reason for the original assembly to what happens when the assembled group does what it does.“103

Kemper erklärt die Dynamik der rituellen Situation somit aus ihrer Funktion für die Erhaltung und Bestärkung bereits bestehender Machtverhältnisse: während der Versammlung würden s.E. die Unterschiede zwischen den Individuen vorübergehend aufgehoben, in dem sich die Teilnehmenden auf ein und denselben Fokus und aneinander angleichende Verhaltensweisen einliessen. Diese Angleichung sei aber bei Teilnehmenden unterschiedlichen sozialen Status unterschiedlich motiviert: Für Individuen mit niedrigem Status sei der Anlass eine von wenigen Gelegenheiten, in welcher ihr niedriger Status keine Rolle spiele und sie mit höhergestellten auf derselben Ebene stünden. Für Individuen mit höherem Status bedeute die Angleichung an die anderen Teilnehmenden hingegen, dass sie ihre Autorität, auf eine allen vertraute Basis stellen können. Sie würden, so Kemper, durch die Momente, in denen sie zeigten, dass sie grundsätzlich zum selben Kollektiv wie alle anderen gehören, davon entlastet, im nicht-rituellen Alltag ihre Stellung durch Machtausübung sichern zu müssen.104 Kemper verlässt mit seiner Kritik aber die von Durkheim und Collins vertretene mikrosoziologische Perspektive. Wenn kleinste soziale Interaktionen für makrosoziale Tatsachen wie etwa Geschlechterverhältnisse oder Machtkon102 Vgl. Kemper 2011, 65–79. 103 Ibid., 78. 104 Ibid.

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stellationen verantwortlich seien, sind Interaktionen im (vermeintlich) nichtrituellen Alltag für die Erhaltung derselben ebenso konstitutiv wie zeremoniale Handlungen. Vielmehr, so könnte man etwa anhand der Studien Goffmans zum Alltagsverhalten argumentieren, würden Machtverhältnisse – etwa die Geschlechterdifferenz – gerade in Interaktionsritualen bestätigt, in denen sie nicht explizit verhandelt werden.105

2.3.5

Symbolischer Effekt (Charakterzug 5)

Als Effekt der bisher genannten vier Charakteristika von Ritualität entstehen Symbole, deren Bedeutung von den Teilnehmenden als „übernatürlich“ oder „ausserweltlich“ beschrieben werden.106 Die im Ritual entstehenden Symbole vereinen, so die Lesart von Collins, die kollektiven Vorstellungen einer Gruppe in sich und werden mit „emotionaler Energie“ gleichsam aufgeladen. Symbole sind aber nicht nur Produkte von Ritualen, sondern tragen häufig auch zur stärkeren Fokussierung in Interaktionen bei. Laut Durkheim sind sie geradezu notwendig, um den Fokus einer rituellen Gruppe zu vereinigen: „jedes individuelle Bewußtsein ist in sich verschlossen; es kann mit dem Bewußtsein der anderen nur mit Hilfe von Zeichen kommunizieren, in denen sich ihre Innenzustände ausdrücken.“107

Und weiter: „um uns selber unsere eigenen Ideen auszudrücken, müssen wir sie […] an materiellen Dingen fixieren, die sie symbolisieren.“108

Symbole und der gemeinsame Fokus einer Interaktion stehen somit in einem gleichursprünglichen, gegenseitigen Bedingungsverhältnis: Die Fähigkeit zum geteilten Fokus ist die Grundlage zur Entstehung von Symbolen und umgekehrt kann mittels bestimmter Objekte, die in der rituellen Situation zum Einsatz kommen, die geteilte Aufmerksamkeit ausgerichtet bzw. vorübergehend objektiviert werden. Zugleich werden solche Fokusobjekte dadurch, dass sie während einer rituellen Situation im geteilten Fokus der Teilnehmenden stehen mit dem unter den Teilnehmenden im Ritual geteilten Gefühl aufgeladen. Bei einem erneuten Aufeinandertreffen von ehemals Teilnehmenden kann sich der Fokus 105 Vgl. Goffman 2001b; zur differenzierten Kritik Goffmans an der Radikalen Mikrosoziologie vgl. Knoblauch 2001a. 106 Vgl. Collins 2005a, 48. 107 vgl. Tomasello 2011, 83 f. 108 Durkheim 1981, 315.

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wiederum auf ein bereits bekanntes Symbol versammeln, womit der gemeinsame Fokus und das damit verbundene Gefühl von Solidarität der vormals Versammelten wieder hergestellt werden können.109 Die Ladung des Objektes stellt also nicht nur den gemeinsamen Fokus her, sondern dient zugleich dafür, die kollektive Vorstellung der rituellen Gruppe zu erhalten.110 Ohne die Symbole, die im Zentrum der Interaktion stehen, wären soziale Wirklichkeiten von sehr kurzer Dauer: Sobald die Versammlung sich wieder auflösen würde, wären sie nur noch in den Erinnerungen der einzelnen Teilnehmenden vorhanden und würden bald nicht mehr dieselben Gefühle hervorrufen und, so Durkheim, „verblassen“.111 Für Ritualteilnemende sind Symbole Objekte, die das, was sie in der unmittelbaren Wahrnehmung material sind, übersteigen und auf etwas anderes bzw. eine vorgängige rituelle Situation verweisen.112 Sie können so im weitesten Sinne „transzendente“ Sachverhalte situationsimmanent darstellen.113 Gemäss Durkheim stellt die rituelle Versammlung eine Ekstase (aus-sich-­ stehen) bei den Teilnehmenden her, die sich als „kollektive Efferveszenz“ beschreiben lässt.114 Diese Überschreitung der individuellen und unmittelbaren sinnlichen Erfahrung ist nicht bloss ein möglicher Effekt der rituellen Situation, sondern begründet gemäss Collins die Attraktivität und den Fortbestand eines Rituals. Wenn sie nicht eintritt, dann gilt ein Interaktionsritual ihm gemäss als leer und emotional flach.115 Die Überschreitung der unmittelbaren Erfahrung hat Auswirkungen in Bezug auf die kollektiven Vorstellungen der Teil-

109 Vgl. Collins 2005a, 83 f. 110 Vgl. Ibid. 111 Vgl. Durkheim 1981, 316. 112 Collins spricht davon, dass Symbole sich in einem dreistufigen Vorgang ins Denken von Individuen internalisieren können: Zunächst entstehen sie in Interaktionsritualen, indem sie an ein bestimmtes Objekt oder an eine kopräsente Person geknüpft werden, dann kommt es zu einer Rezirkulation des Symbols in Konversationen, die sich an das erste Interaktionsritual anschliessen. Schliesslich werden die Symbole ein Teil von internen Konversationen von Individuen und tauchen in ihren Gedankengängen auf. Collins nennt solche internalisierte Symbole daher „3rd order symbols“; vgl. Collins 2005a, 103. 113 Durkheim und in seiner Folge auch Collins sprechen aus ihrer immanentistischen Forschungshaltung nicht von transzendenten Sachverhalten oder Personen. Gleichwohl haben religionsphänomenologische Entwürfe eine Lesart seines Symbolbegriffs entwickelt, demzufolge sie als Repräsentanten der Transzendenz zu deuten sind. So etwa Thomas Luckmann, der einen differenzierten Begriff von Transzendenz entwickelt; vgl. Luckmann 1985, 537–539. Bei Luckmann, wie auch bei seinem Schüler Knoblauch, wird dabei aber stets betont, dass es sich um Transzendenzerfahrung handle, welche im Umgang mit Symbolen konstituiert werde; vgl. Knoblauch 2006, 93–100. 114 Vgl. Durkheim 1981, 311. 115 Collins spricht von „forced rituals“; vgl. ibid., 53.

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Theoretische Grundlagen

nehmenden.116 Es ist somit auch wenig verwunderlich, dass Rituale oft als mit sog. transzendenten Personen oder Sachverhalten verbunden angesehen werden. Symbole sind daher auch mit den Ekstaseerfahrungen verknüpft und werden oft als Objekte mit der Transzendenz identifiziert. Kritisch muss in Bezug auf den symbolischen Effekt von Ritualen insbesondere das Verhältnis von immanenten und beobachtbaren Äusserungen und transzendenten Sachverhalten oder Personen angesehen werden. Dies zeigt sich insbesondere, wenn Collins Konzept mit demjenigen von Victor Turner verglichen wird. Turner spricht von Ritualen als „formal behavior prescribed for occasions not given over to technological routine that have reference to beliefs in mystical beings or powers“117.

In jüngeren Theorieentwürfen wurde zwar genau diese Verknüpfung in Frage gestellt. Dies insbesondere, um die implizit theologische Abwertung von Ritualen, wie sie in der Myth and Ritual School dominierte, auszuklammern. Ronald Grimes etwa stellt in seinem programmatischen Aufsatz Defining nascent rituals fest, dass bestimmte Rituale wie etwa diejenigen des Zen Buddhismus ohne bestimmte transzendente Gehalte und Vorstellungen auskommen.118 Und Randall Collins postuliert, dass rituelle Situationen an sich keine als transzendent vorgestellte Sachverhalte voraussetzen, sondern allenfalls die Verstärkung solcher Effekte begünstigen.119 Beide Einwände zielen darauf, Ritualität als Interaktionsgattung sui generis nicht von einer bestimmten Weltanschauung abhängig zu machen. Rituale, so das zentrale Anliegen der Ritual Studies, sollten als anthropologische Phänomene unabhängig von der Religiosität ihrer Teilnehmenden beobachtet werden können. Die mit Symbolen oft verbundene Erfahrung von Transzendenz bei den Teilnehmenden kann m. E. aber auch als rein anthropologischer Charakterzug eines Rituals verstanden werden. Allerdings nur dann, wenn Transzendenz nicht mit einem bestimmten Vorstellungsgehalt oder einer bestimmten Überzeugung identifiziert wird. Für Durkheim und in seiner Folge auch Collins ist 116 Ähnliche Beobachtungen wurden für das Erleben von Liturgien bereits anhand des Konzeptes „flow-Erlebens“ von Csikszentmihalyi gemacht. So beschreibt Karl-Heinrich Bieritz die Liturgie als fokussiertes und zugleich ekstatisches Handeln: „Alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf ein begrenztes Feld. Beachtet wird nur, was für die betreffende Handlung relevant ist. Die Realität wird radikal vereinfacht. Handeln und Bewusstsein verschmelzen. Die Grenzen des Selbst weiten sich, werden durchlässig. Solche Selbstvergessenheit vermag sich durchaus mit in höchstem Masse erweiterter, intensivierter, gebündelter Bewusstheit zu verbinden: Der Handelnde geht ganz in der Handlung auf und hat sie doch unter Kontrolle.“ Bieritz 2003, 123. 117 Turner und Turner 2011, 243; Hervorh. Ch.W.; vgl. auch Turner 1995, 19.  118 Vgl. Grimes 1982a, 540. 119 Vgl. Collins 2005a, 7 f.

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das, was im Ritual als Transzendenz erfahren wird, ein durch und durch situationsimmanter Sachverhalt, der sich direkt auf die im Kollektiv erfahrene „Kraft“ oder „Macht“ zurückführen lässt. Die Erfahrung der Ekstase ist ihrer Ansicht nach nichts als ein Effekt der dichten Versammlung im Ritual.120 Für Durkheim stellen Symbole somit nicht heilige Dinge an sich dar, sondern lediglich die physisch-materielle Seite eines interaktionalen Vorgangs, dessen Resultat die Einführung der sozial effektiven Unterscheidung von heiligen und profanen Dingen darstellt: „Der heilige Charakter, den eine Sache bekleidet, liegt also nicht in den inneren Eigenschaften einer Sache selbst: er ist dazugekommen. Die Welt des Religiösen ist also kein besonderer Aspekt der empirischen Natur, er ist ihr immer aufgesetzt.“121

Für Durkheim ist das in der rituellen Situation aufgeladene Symbol, das im Fokus der Teilnehmenden steht, demzufolge nicht das Subjekt der Interaktion, sondern lediglich Träger einer durch die Interaktion hergestellten Aufladung.122 Diese ist selbst auch transitorisch, d. h. von beschränkter Lebensdauer, hat aber längeren Bestand als die Situation selbst. Symbole, darauf weist Collins in seiner Lesart Durkheims hin, sollten daher auch nicht an und für sich analysiert werden, als handle es sich um materielle Darstellungen eines Sachverhaltes, sondern erhalten ihre Bedeutung nur in Bezug auf diejenigen Interaktionsrituale, in welchen sie angewandt bzw. erzeugt bzw. wiedererzeugt werden.123 Weiter kann eingewandt werden, dass nicht alle rituellen Situationen deutliche Transzendenzerfahrungen ermöglichen. Situationen wie Familienfeiern, die Verabschiedung eines Schulkindes am Morgen durch die Mutter oder die Eröffnung einer Schulstunde durch einen Lehrer können durch die Teilnehmenden als spannungslose, laue Geschehnisse erlebt werden – und dennoch haben sie klar rituellen Charakter. Inwiefern solche Situationen eine Überschreitung der unmittelbaren Wahrnehmung beinhalten, bleibt vorderhand unklar. Allerdings gilt es zu bedenken, dass eine Überschreitung der individuellen und unmittelbaren Erfahrung von den Teilnehmenden weder bewusst erlebt noch explizit ausgedrückt werden muss, um vorhanden zu sein. Collins argumentiert in seiner Theorie, dass die in rituellen Situationen erlebte kollektive 120 Diese radikal-mikrosoziologische Deutung von Transzendenz und Transzendenzerfahrung wird unten zu kritisieren sein; vgl. u., Abschnitt 2.4. 121 Collins 2005a, 314. 122 In theologischer Perspektive handelt es sich hierbei um eine heikle These: Wie soll für den christlichen Gottesdienst, in welchem Symbole teilweise auf Gott hinweisen (z. B. im Kreuzessymbol), deren Beteiligung am rituellen Geschehen beschrieben werden? Diese Frage wurde bereits zu einem frühen Zeitpunkt in der Kirchengeschichte im Byzantinischen Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts sowie erneut während der Reformationszeit zwischen links- und rechtsreformatorischen Positionen heftig diskutiert. 123 Vgl. ibid., 97.

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Efferveszenz in Form von langanhaltenden Stimmungszuständen, die er „emotional Energy“ nennt, bestehen können.124 Eine Transzendenzerfahrung kann so gesehen bei den Teilnehmenden unbewusst bestehen, beispielsweise dadurch, dass die Mutter in der Verabschiedungsszene am Morgen intuitiv das nächste Wort, die nächste Bewegung des Schulkindes antizipiert.125 Die Grundstimmung solcher Situationen übersteigt die unmittelbaren Erfahrungen der Teilnehmenden, ohne sich in einer hervorgehobenen Gefühlslage bewusst manifestieren zu müssen. Das rituellen Situationen zugrundeliegende Gefühl der Vertrautheit und Sicherheit, das sich gerade in der Unaufgeregtheit oder Normalität eines morgendlichen Verabschiedungsrituals zeigt, ist mitunter ein Indiz für die Präsenz von nicht-präsenten, vergangenen oder zukünftigen Vorstellungen. Wie undeutlich die Überschreitung der unmittelbaren Erfahrung im Vollzug eines Rituals sein kann, wird auch an einem Kritikpunkt von Theodore Kemper an Durkheims Vorstellung der kollektiven Efferveszenz deutlich.126 Er weist darauf hin, dass Durkheim die Problematik der Authentizität rituellen Verhaltens nicht ausreichend analysiere. Zwar weise Durkheim auf die Möglichkeit hin, dass die ausgelassenen Verhaltensweisen oft nicht mit ihren indivi124 Vgl. Collins 2005a, 105–111; Kemper 2011, Kap. 13. 125 Collins bezeichnet daher die Forschungshaltung Durkheims als „subcognitive ritualism“: „the point is that ideas and beliefs are not sufficiently explained in their own terms […]; the subcognitive program is to understand how ideas arise form social practices.“ Collins 2005a, 11. 126 Kemper hat mit seiner Status-Power Theory einen Gegenentwurf zu Collins’ Durkheimund Goffmanrezeption vorgelegt. Er geht davon aus, dass sich die von Durkheim beschriebenen Vorgänge in einem Ritual – die emotionale Angleichung, die kollektive Efferveszenz und die daraus resultierende Solidarität der Teilnehmenden – letztlich durch die individuellen Interessen der Teilnehmenden erklären lassen, ihren Status zu wahren bzw. zu verbessern. Der Status besteht für Kemper dabei auf einem „construct level“, das bei allen beobachtbaren Formen von Interaktion im Hintergrund mitspielt und von den Akteuren jeweils aktiviert wird, wenn sie bestimmte Verhaltensweisen zeigen oder sich in einer bestimmten Weise fühlen; vgl. Kemper 2011, 11. Demgegenüber geht Collins von beobachtbaren Interaktionen aus, in welchen Status bzw. Macht jeweils neu hergestellt bzw. ausgeübt wird. Dies ist m. E. eine empirisch validere Theoretisierung als diejenige von Kemper, da sie soziale Interaktion ohne die Voraussetzung von an die einzelnen Individuen gebundenen Konstrukten interpretieren kann. Kemper bleibt eine soziologische Erklärung schuldig, warum sich in einer Gesellschaft oder Gruppe überhaupt so etwas wie ein Interesse, den individuellen Status der einzelnen zu wahren, bildet – m.a.W. setzt er bei den Eigeninteressen der Individuen an, die er stillschweigend voraussetzt, und nicht bei der sozialen Situation. Durkheim – und mit ihm Collins und Goffman – hingegen sind umgekehrt stets davon ausgegangen, dass soziale Interaktion primär sozial ist und daher aus der Interaktion und nicht aus den Eigeninteressen der Beteiligten erklärt werden muss. Die beiden Theorieansätze kommen, abgesehen von ihren unterschiedlichen Prämissen, aber auf sehr ähnliche Interpretationen; vgl. dazu den gemeinsam verfassten Aufsatz vgl. ibid., 2. 

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duellen Einstellungen übereinstimmen würden; könne aber nicht erklären, aus welchem Grund die Individuen aber dennoch dazu angehalten sind, diese Verhaltensweisen zu zeigen.127 Kemper geht nun anders als Durkheim davon aus, dass rituelles Verhalten alleine der Sicherung bzw. Erhöhung der sozialen Status der Teilnehmenden diene. Das Verhalten, das auf die Besessenheit durch eine den Individuen äusserliche Kraft hinweise, sei gemäss Kemper alleine dem Umstand geschuldet, dass die einzelnen Individuen im Ritual ihren sozialen Status sichern oder aufbessern möchten.128 Der Vorwurf von Kemper trifft das Konzept Durkheims allerdings nur teilweise: Durkheim geht davon aus, dass sowohl soziale Strukturen als auch die individuellen Interessen der Teilnehmenden ihren Ursprung in kleinräumigen Situationen haben. Dies bedeutet, dass sowohl die Strukturen als auch die individuellen Einstellungen und Interessen den Erfahrungen und Gefühlen, die in sozialen Zusammenkünften erlebt werden, nachgeordnet sind und Verarbeitungen von solchen Erfahrungen und Gefühlen darstellen. Dass die Teilnehmenden von etwas, das ausserhalb von ihnen liegt, erfasst sind, muss sich für Durkheim aus der sozialen Wirklichkeit, die transitorischen und performativen Charakter hat, erklären lassen. Strukturen bzw. Konstruktionen, die über oder hinter der empirisch beobachtbaren Interaktion liegen, dürfen nicht zur Erklärung von Transzendenzerfahrungen herbeigezogen werden. Diese können allenfalls als individuelle Haltungen bzw. Vorstellungen von Individuen, die von den kollektiven Vorstellungen abweichen, das rituelle Geschehen mitbeeinflussen; sie sind aber wiederum nur durch in sozialen Situationen erlebte und in solchen wiederholte Sachverhalte produziert.129 Gegenüber der Collins’schen Ritualkonzeption bleibt jedoch der Vorbehalt bestehen, dass sich Erfahrungen der Ekstase, wie etwa das Erfasst-sein von einer Kraft in Ritualen empirisch nur schwierig zeigen lässt. Sie sind mit den subjektiven Einstellungen der Teilnehmenden verbunden, die nicht immer sprachlich ausgedrückt werden können. Insbesondere kann kaum beurteilt werden, inwiefern die in der kollektiven Efferveszenz geäusserten Emotionen bzw. kollektiven Einstellungen und Haltungen auch mit den inneren Gedanken, Gefühlen und Einstellungen der Teilnehmenden übereinstimmen.

127 Vgl. ibid., 66–69. 128 „Through apparent, though not real, loss of control, they [sc. the ritual participants] present themselves as credible members of the tribe“; Ibid., 69. 129 Vgl. hierzu die steile These von Collins, dass es sich bei dem, was landläufig als Individuum bezeichnet wird, streng genommen um nichts anderes handle als um eine zusammenhängende Aneinanderreihung von rituellen Situationen – eine „interaction ritual chain“; Collins 2005a, 5.

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2.4

Theoretische Grundlagen

Erweiterung: Extrinsische und intrinsische Orientierung

Erstaunlich mag wirken, dass im oben vorgeschlagenen Modell von Collins Wiederholbarkeit und die mit ihr gegebene relative Invarianz nicht als Charakter­ zug von Ritualen aufgeführt wird. Demgegenüber spielt der Begriff der Wiederholbarkeit bzw. Invarianz beim landläufigen Verständnis des Begriffes Ritual, im Diskurs der Ritual Studies wie auch in der Liturgiewissenschaft im Zusammenhang mit Ritualen eine grosse Rolle.130 Wie auch beim Ritualbegriff selbst ist dabei allerdings nicht immer klar, welche Phänomene in diesen Diskursen mit den Stichworten Wiederholung oder Invarianz bezeichnet werden. Das Durkheim’sche Modell der Ritualität von Collins erscheint in dieser Hinsicht jedenfalls ergänzungsbedürftig. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Mikrosoziologie mit ihrem Konzept von Ritualität eine analytische Absicht verfolgt. Das Modell der Ritualität hat einen heuristischen Wert, der an bestimmten Phänomenen fokussierte Beobachtungen ermöglicht. In der vorliegenden Studie wird zu erörtern versucht, welche Komponenten in Gottesdiensten dazu beitragen, dass bestimmte Effekte wie langanhaltende Gefühle, symbolische Bedeutungen und Solidarität unter den Teilnehmenden hervorgerufen werden. Der Fokus liegt dabei auf der beobachtbaren und in diesem Sinne äusserlichen Interaktion, nicht der Geschichte des Rituals oder des Erlebens der einzelnen Teilnehmenden. Was in der Literatur üblich unter Wiederholung verstanden wird, ist aber genau auf dieser subjektiv-rezeptiven Ebene angesiedelt, einer Ebene, die der Beobachtung nur sehr eingeschränkt zugänglich ist. Die Wiederholung von Handlungssequenzen ist weiter mnemotechnisch interessant, da sich solche Sequenzen nach und nach als Verhaltensmuster bei Individuen ausbilden können. Aus einem zunächst bewusst forcierten Ablauf wird nach und nach ein Verhaltensmuster, das ohne konzentriertes Nachdenken absolviert wird, aber zugleich gezielt abläuft. Ein solcher Vorgang der Verinner­lichung erinnert an das psychologische Konzept des „Flow-Erlebens“ des Psychologen Mihalyi Csikszentmihalyi, welches auch Turner in seiner Ritual­t heorie aufgreift.131 Es ist jedoch bezeichnend, dass weder Turner noch ­Csikszentmihalyi davon sprechen, dass die Wiederholung sequenzierter Abläufe zu diesem Flowerleben führen müssen. Empirisch könnte das Erleben eines Rituals, und somit das Vorhandensein eines „Flow-Erlebens“, nur über eine Befragung der Teilnehmenden geklärt werden. Die Konventionalität ritueller Vorgänge lässt sich dennoch beobachten, sofern sie von den Teilnehmenden situationsimmanent angezeigt wird  – etwa 130 So etwa in der offenen Ritualdefinition von Ronald Grimes; vgl. u., Abschnitt 2.5.2. 131 Vgl. Turner 1983.

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Erweiterung: Extrinsische und intrinsische Orientierung   

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dadurch, dass Teilnehmende sich nicht an anderen Teilnehmenden orientieren, sondern sich mit geschlossenen Augen oder mit abgewendetem Blick zeigen. Präziser sollte dabei allerdings nicht von Konvention, sondern von einer R ­ outine gesprochen werden. Entscheidend ist, dass in der Interaktionsanalyse diese Charakteristika nicht als Wiederholung eines situationsexternen, sondern als einmalige Manifestation eines situationsinternen Phänomens gedeutet werden. Die Perspektive der Analyse kann Vorwissen und Konvention nur dort feststellen, wo sie im Hier und Jetzt des Rituals sichtbar sind. In der vorliegenden Studie soll daher nicht von Wiederholungen, sondern von intrinsisch-rituellem Verhalten gesprochen werden: Gemeint ist damit ein Verhalten, das anzeigt, dass eine Teilnehmer_in ein Verhaltensmuster abruft, das sie in sich trägt, und nicht mit den anderen Teilnehmenden abgleichen muss.132 Demgegenüber ist auch von extrinsisch-rituellem Verhalten die Rede: Extrinsisch verhalten sich Teilnehmende, wenn sie durch Beobachten und Nachahmen Verhaltensweisen von anderen Teilnehmenden übernehmen. In einem Gottesdienst zeigt sich intrinsisch-rituelles Verhalten vor allem bei häufigen Kirchgänger und in Gemeinden, die ein bestimmtes Repertoire an Verhaltensweisen kodifiziert haben; so etwa steht man in einigen Gemeinden des vorliegenden Samples zum Singen eines Liedes auf. Hier sei noch darauf hingewiesen, dass in einem reformierten Gottesdienst – mit wenigen Ausnahmen – immer beide Verhaltensmuster dia- und synchron beobachtbar sind, da in der Regel nicht alle Teilnehmenden mit dem Repertoire und den kodifizierten Mustern vertraut sind. In einem weiteren Sinn treten Wiederholungen innerhalb einer Interaktion auf, wenn etwa im selben Gebet wiederkehrende Formulierungen verwendet werden oder in einem Lied ein Refrain mehrmals gesungen wird. In diesem Fall soll von Rhythmisierungen gesprochen werden. Der Rhythmus bestimmter wiederkehrender Zeichen erleichtert die gemeinsame Fokussierung der Teilnehmenden, die Koordination der Bewegungen und ermöglicht in gewissen Fällen auch eine kollektive turn-Übernahme.133 Oft wird darauf hingewiesen, dass wiederkehrende Feierformen wie etwa ein Gottesdienst, der wöchentlich statt132 Die Beobachtung, dass intrinsische Verhaltensmuster zu den meisten Interaktionen gehören, macht auch Goffman. Er weist darauf hin, dass solche Orientierungen nahezu jede Interaktion mit übersituationalen Gehalten durch einen, wie er sagt, „kognitiven Bezug“ verbindet: „At the very center of interaction life is the cognitive relation we have with those present before us, without which relationship our activity, behavioral and verbal, could not be meaningfully organized. And although this cognitive relationship can be modified during a social contact, and typically is, the relationship itself is extrasituational […].“ Goffman 1983, 4 [dt. Goffman 2001, 63]. Allerdings sind diese übersituationalen Bezüge nicht zu verwechseln mit dem, was Goffman eine „Interaktionsordnung“ nennt, nämlich mit den impliziten sozialen Strukturen der Interaktion, welche aus einer Beobachterperspektive rekonstruiert werden können; vgl. o., Abschnitt 1.2.1. 133 Vgl. Collins 2005a, 48.

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Theoretische Grundlagen

findet oder ein Geburtstagsfest, das jährlich stattfindet, ebenfalls eine Rhythmisierung des Lebens darstellen. Dieser Vergleich scheint eher metaphorischer Natur zu sein, da die Auswirkung solcher Langzeitrhythmen auf die situationsimmanente Interaktion kaum beobachtbar sind – es sei denn im obigen Sinne als intrinsisch-rituelles Verhalten. Anstelle von Invarianz bestimmter struktureller Merkmale spricht Collins von einer Kette („chain“) von Interaktionsritualen. Die Metapher der Kette weist einerseits darauf hin, dass Rituale in aller Regel an andere Rituale anschliessen bzw. diese fortführen, indem sie bestimmte Elemente, in aller Regel die Symbole eines Rituals, in ihren Fokus nehmen und so die symbolische Bedeutung wieder aufladen: „Ritual can be repetitive and conservating, but it also provides the occasions on which changes break through.“134

Hieraus folgt, dass nicht bestimmte kodifizierte Formen, Strukturen oder Symbole ein Ritual per se ausmachen, sondern umgekehrt bestimmte Symbole, Formen und Strukturen durch Interaktionen ihren je gültigen Wert erhalten und sich dieser Wert über eine Kette solcher Rituale hinweg verändern kann. Collins spricht somit der Ritualität jegliche ontologische Basis ab und macht jeweilige tatsächlich stattfindende Interaktionen (bzw. Ketten solcher Interaktionen) zum alleinigen empirischen Ort für Emotionen und Gegenstände, die Bedeutung tragen. Eindrücklich zeichnet Collins etwa nach, wie das Rauchen von Zigaretten durch ein Zusammenspiel bestimmter Interaktionen (der Zigarettenpause) und Medialisierungen dieses Verhaltens (etwa in der Werbung) zunächst an Ansehen und Akzeptanz gewonnen hat, und dann anschliessend wiederum durch medial abgebildete (diesmal in Form von Präventionskampagnen) und in einzelnen Interaktionen auftretende Ausschlussmechanismen allmählich stigmatisiert wurde.135 Dies bedeutet keinesfalls, dass Rituale nicht wiederkehrende, stark kodifizierte Muster und Handlungssequenzen ausbilden. Solche stehen aber ganz im Dienst der Fokussierung, der geteilten Emotionen und schliesslich des Symbolischen Effektes.136 Collins bringt dies mit Hinblick auf traditionelle rituelle Muster auf den Punkt: „Traditional formalities are not essential, since they only help to keep the group focused by doing the same thing, ‚uttering the same cry‘ as Durkheim said, or going through the same motions together. What makes or breaks  a ritual however is […], the extent to which the group builds up a strong collective emotion.“137 134 135 136 137

Ibid., 42 f. Vgl. ibid., 297–344. Vgl. das Modell von Collins ibid., 48. Collins 2010, 2.

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Kontext: Ritualität unter den Bedingungen der Moderne   

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Die Effekte von Ritualen können sich durch bereits bekannte Muster in den Erfahrungen der einzelnen Teilnehmenden als ‚Erinnerungsketten‘ einprägen. So lässt sich vermuten, dass eine regelmässig wiederholte Handlungskette zunehmend stärkere „ritual outcomes“ bei ihren Teilnehmenden hervorzurufen vermag, da die verwendeten Symbole bereits mit einer symbolischen Ladung eingebracht werden und die Wiederaufladung rascher zustande kommen kann und sich die Solidarität unter den Teilnehmenden vertieft. Allerdings lässt sich ebenso vermuten, dass eine veränderte kulturelle Einbettung oder ein Wechsel in der Teilnehmerschaft eines Rituals (beides für die Gegenwart typische Phänomene) solche Wiederaufladungen erschwert. Dies kann schliesslich zu leeren Handlungsabläufen führen, von denen die Teilnehmenden wenig oder gar keine „emotionale Energie“ mitnehmen können.138 Invarianzen und Wiederholungen führen somit nicht zwangsläufig zu effektiven Ritualen – eher ist häufig das Gegenteil zu beobachten. Für die vorliegende Studie ist der Ritualbegriff von einer ontologischen oder normativen Basis zu entkoppeln. Sofern Invarianz zu einer solchen aussersituationalen Basis gehört, ist sie nicht als hinreichender Charakterzug von Ritualität anzusehen.

2.5

Kontext: Ritualität unter den Bedingungen der Moderne

In der obigen Darstellung wurde versucht anhand eines mikrosoziologischen Konzepts von Ritualität eine analytische Basis für die folgende empirische Studie zu religiösen Ritualen in der Gegenwart zu legen. Die Beobachtungen von Durkheim beziehen sich aber dezidiert auf vormoderne – in seinem Jargon „primitive“ – Gesellschaften. Durkheim selbst führt den Gedanken, dass komplexere oder gar moderne Gesellschaften in ähnlicher Art und Weise Rituale vollziehen, nicht aus.139 Es kann aber kaum bestritten werden, dass auch in der Gegenwart noch Interaktionen die besagten Charakterzüge von Ritualität aufweisen und somit rituell sind. Collins legt mit seinem Ansatz nahe, dass die Einsichten Durkheims für mikrosoziologische Analysen zeitlich und räumlich begrenzter Situationen zu Einsichten über soziale Phänomene in der Gegenwart

138 Ähnlich wie Collins unterscheidet Mark Chaves in seiner Kongregationsstudie zwischen den Dimensionen „Ceremony“ und „Enthusiasm“, wobei mit Ersterem formalisiertes Handeln, mit Letzterem besonders starke emotionale Dynamiken gemeint sind, wie sie Collins mit dem Begriff „Emotional Energy“ oder Durkheim als „kollektive Efferveszenz“ beschreibt; vgl. Chaves 1999, 18. 139 Wie bereits oben (Abschnitt 2.2) erwähnt, ist dies problematisch angesichts der Tat­ sache, dass Durkheim die „primitiven“ Gesellschaften analysiert, um daraus Erkenntnisse über die gegenwärtige Gesellschaft zu erlangen.

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Theoretische Grundlagen

führen.140 Dennoch ist die elementare Ritualität wie sie Collins aus dem Werk Durkheims destilliert, nicht vom Verdacht frei, die spezifischen Merkmale der Moderne, insbesondere die Reflexionsfähigkeit des Individuums und die mit ihr verbundene Fähigkeit der inneren und äusseren Distanznahme zu rituellen Vollzügen zu ignorieren. Es gilt deshalb im Folgenden zu zeigen, inwiefern Interaktionen in der Gegenwart als Rituale im von Collins ausgearbeiteten Sinne zu verstehen sind. Grundlegend für die folgenden Überlegungen ist der sich seit den späten 1960er Jahren entfaltende Diskurs über Rituale, der seit den 1980er Jahren in den ­Ritual Studies geführt wird.

2.5.1

Antiritualismus als Grundstimmung der Moderne? (M. Douglas)

Die britische Sozialanthroplogin Mary Douglas stellte Ende der 1960er Jahre die These auf, „daß die zunehmende Auflösung des Gruppenverbands einen Niedergang des Ritualismus mit sich bringt“141. Die Moderne mit ihrer Betonung der Autonomie des Individuums führe ihres Erachtens zwangsläufig zu einem Niedergang ritueller Handlungsformen – sie sei geradezu „antirituell“. Allerdings, so Douglas, lassen sich in der Moderne nicht ausschliesslich antiritualistische Einstellungen finden. Diese seien nicht über die gesamte Gesellschaft verteilt, sondern vor allem in Gruppierungen, in denen die sozialen Bindungen lockerer seien, zu finden. Als Beispiel für moderne Ritualisten nennt Douglas die stark ritualisierte Praxis der Freitagsabstinenz der als Sumpf-Iren („Bog-Irishmen“) bezeichneten irischen Gastarbeiter in London. Inmitten einer modernen Grossstadt leben diese Iren in einem durch ihre Migrationssituation entstandenen Milieu in sehr engen sozialen Bindungen. Paradoxerweise tendierten die Geistlichen der Sumpf-Iren allerdings eher dazu, die Bedeutung der Freitagsabstinenz gegenüber einer grundsätzlichen karitativen Lebenseinstellung herunterzuspielen. Und auch die in der Heimat verbliebenen Iren verfügen über weniger ausgeprägte Ritualvorstellungen. Douglas untermauert ihre These weiter anhand einiger Beispiele aus Ethnographien von Naturvölkern, die je nach sozialer Enge (Lebensraum in engen Dörfern) bzw. Lockerheit (Lebens-

140 Dabei sieht er insbesondere eine Analogie zwischen der sozialen Gleichberechtigung (mit wenigen Einschränkungen wie Volljährigkeit und psychische Gesundheit) in der modernen Öffentlichkeit und den Verhältnissen nicht-stratifizierten Stammesgesellschaften, die Durkheim beschreibt; denn: „totemism is the religion of internally egalitarian groups, and the modern public is egalitarian.“ Collins 2000, 30. 141 Douglas 1986, 28.

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Kontext: Ritualität unter den Bedingungen der Moderne   

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raum über die weite Steppe ausgedehnt) eine ritualistische oder antiritualistische Kultur ausbilden.142 Sie erweitert ihre Beobachtungen durch die vom Soziolinguisten Basil Bernstein übernommene Unterscheidung zwischen restringierten und elaborierten Sprachcodes. Die sprachliche Kodierung wird in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Strukturen verstanden, in denen sie verwendet wird. Re­ stringierte Sprachcodes stellten eindeutige oder nahezu eindeutige Verbindungen zwischen verbalen und non-verbalen Äusserungen und Gegenständen bzw. sozialen Rollen her. So binden sie Aussagen direkt an bestimmte Sprechpositionen („du tust das jetzt, weil ich es sage“) und fördern dadurch die Solidarität mit der sozialen Gruppe, sozialisieren ein Kind auf eine bestimmte soziale Situation hin. Elaborierte Sprachcodes hingegen stünden in Verbindung mit lockeren oder wechselhaften sozialen Situationen. Die Personalität der einzelnen Individuen wird ins Zentrum der Sozialisation gerückt, ein Kind dazu ermutigt, eigene Äusserungen für Dinge zu finden bzw. seine Positionierung im sozialen Gefüge selbst zu erreichen. Die rituelle Kompetenz sei Douglas gemäss nur durch eine Sozialisation im restringierten Code gegeben, da sie auf starke Bindung ihrer Symbole an Institutionen angewiesen sei. Zugleich verbinde sich mit auf Individuen fokussierten Sozialisationsformen, die sich in der Moderne v. a. im aufstrebenden bürgerlichen Mittelstand finden, eine Tendenz zur Verinnerlichung bzw. zur „rein ethisch verstandenen Religiosität“, wie Douglas meint.143 Douglas stellt im Anschluss an Bernstein fest, dass „[d]er heute in bestimmten Sektoren der europäischen und amerikanischen Mittelschichten dominierende Antiritualismus […] offenbar das vorhersehbare Resultat eines Sozialisationsprozesses [ist], in dem das Kind zu keiner Zeit ein soziales Statusmuster internalisiert und nie unter dem Eindruck einer Autorität steht, die den Gehorsam gegenüber den Anforderungen des sozialen Systems selbstverständlich erscheinen läßt.“144 Der spezifisch moderne Antiritualismus könne also als Produkt der Tendenz zu gesellschaftlich flexibleren aber auch instabileren personalen Familienstrukturen verstanden werden: „Zweifellos dürfte ein guter Teil der heutigen Unempfänglichkeit und Abneigung gegenüber Ritualen auf mehr oder minder personale Familienstrukturen zurückzuführen sein.“145

Die von Douglas entwickelte Antiritualimus-These steht in vielfacher Hinsicht quer zur empirischen Situation des Feldes, das in der vorliegenden Studie unter142 Beispielsweise anhand der Navaho-Indianer, welche eine „dem Protestantismus nicht unähnliche“ Ritualreform durchgeführt hätten; vgl. ibid., 25 f. 143 Vgl. ibid., 57. 144 Vgl. ibid., 52 f. 145 Ibid., 55.

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sucht wird. Zunächst soll auf den spezifischen historischen Kontext der Antiritualismus-These hingewiesen werden:146 Douglas beurteilte die Liturgiereformen des 2. Vatikanums als Missachtung der Symbolkraft der Riten.147 Zugleich betrachtete sie die antiinstitutionellen Tendenzen der „neuen Linken“ und der Studentenbewegung mit besonderer Sorge.148 Dies wird vor allem in ihrer Charakterisierung der gegenwärtigen Industriegesellschaft deutlich. Diese zeichnet sich ihr zufolge durch starke soziale Zwänge aus, auf die das einzelne Individuum aber durch sein Verhalten kaum Einfluss nehmen könne. Das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft sei nicht mehr durch einen beständigen „Feedback-Prozess“ ausbalanciert. Es werde somit zunehmend unmöglich, die eigenen Rollenerwartungen an die sozialen Zwänge anzupassen. Paradoxerweise werde dann mit stärker werdenden Forderungen durch die Gesellschaft das Bewusstsein der Einzelnen für die Übertretung der Forderungen schwächer. Das Individuum entwickle daher in der Industriegesellschaft ein zunehmendes Bedürfnis nach ungehemmtem Ausdruck.149 Bemerkenswert ist insbesondere, dass Douglas durch ihre Zeitanalyse voraussetzt, dass rituelle Kompetenz nur in einem ungebrochenen Traditionszusammenhang erhalten werden kann. Hierzu dient ihr eigentümliches Konzept der „symbolischen Dichte“, die durch rituelle Abbrüche und antirituelle Bewegungen nachhaltig beschädigt und nicht wiederherstellbar sei.150 Douglas versteht die Traditionalität von Ritualen als ungebrochenes Überlieferungskontinuum, welches durch die antirituelle Tendenz der modernen Gesellschaften zu zerbrechen droht. Der elaborierte Code gehört laut Douglas zu einer Gesellschaft, die einen unvermittelten Ritualvollzug (ein rituelles „belonging“151) nicht mehr kenne, sondern das Verhältnis der einzelnen Individuen zum Ritual sprachlich thematisieren müsse. Einerseits sei damit überhaupt erst die Möglichkeit zur Thematisierung und bewussten, d. h. aktiven und entschiedenen, Teilnahme (ein rituelles „decided-to-belong“152) gegeben.153 Und andererseits verbinde sich da146 So etwa der Verdacht eines späten Rezensenten, „sie agiere weiniger [sic!] in wissenschaftlich neutralem Interesse denn in einer Art politischer Notwehr“; Groll 1996. 147 Vgl. Fardon 1999, 106. 148 Im Rückblick formuliert ein damaliger Student: „Wir waren davon überzeugt, daß es [das Buch „Natural Symbols“] gegen die Studentenbewegung gerichtet sei und zutiefst reaktionäre Thesen vertrete.“ Gottowik 1999, 293. 149 Vgl. Douglas 1986, 150 f. 150 Vgl. Ibid., 37. 151 Vgl. Groll 1996. 152 Fardon 1999, 122. 153 Diese Unterscheidung zwischen vormoderner und moderner Ritualität deutet auch Victor Turner in einem späten Aufsatz an; vgl. Turner 2009, 28–94. Vormoderne Übergangsrituale erhalten ihre Dynamik durch die in einer Schwellenphase vorherrschende

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Kontext: Ritualität unter den Bedingungen der Moderne   

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mit auch eine neue Form von restringiertem Code, der eine Dichotomie zwischen körperlichem bzw. äusserem und geistigem bzw. inneren Vollzug voraussetzt, und mittels dieser Unterscheidung die Vorrangstellung des körperlosen bzw. geistigen Individuums vor allem Äusseren als Problem produziere. Douglas bezeichnet diesen als „restringierten Code der Entfremdung“, da er zwar die Individualität des Individuums hervorruft, selbst aber nicht durch die Individuen gewählt werden kann.154 Es sei für moderne Menschen unausweichlich, von einem elaborierten Code Gebrauch zu machen, wenn sie mit Ritualen zu tun hätten, und gerade dieser Umstand stelle wiederum einen „restringierten Code“ her. M.a.W.: Moderne Menschen können ihre Teilnahme an Ritualen selbst wählen, aber nicht selbst wählen, dass sie sie selbst wählen müssen. Douglas’ Gegenüberstellung von Ritualismus und Antiritualismus beginnt an dieser Stelle zu verschwimmen. So scheint es ihr zufolge in der Moderne so etwas wie einen rituellen Antiritualismus bzw. einen antirituellen Ritua­lismus zu geben.155 Schon frühe Rezensenten haben deshalb moniert, dass Douglas ein Konzept für die Veränderbarkeit und Dynamik von Ritualen unter den Bedingungen der Moderne fehle.156 Im Folgenden soll deshalb der Diskurs der­ Ritual Studies aufgegriffen werden, welcher die spezifische Art und Weise, wie Ritualen in die Gesellschaft der Gegenwart eingebunden sind, zu beschreiben versucht.

„Liminalität“, einem Zustand erhöhten Gemeinschaftsgefühls (der „communitas“), der kreative Entwicklungen befördert und tiefergehende Bedeutungen erzeugt. In der Moderne gibt es demgegenüber vermehrt „liminoide“, d. h. schwellenartige Phänomene; vgl. Turner 2009, 49 f. Diese sind anders als die Schwellenrituale „freiwillig“ (ibid., 66), stellen eher „individuelle Hevorbringungen“ (ibid., 85) als kollektive Ausübungen dar und haben einen „pluralistischen, fragmentarischen und experimentellen Charakter“ (ibid., 86). Im nachindustriellen Zeitalter werden sie in der Freizeit verortet. Turner nennt verschiedene Beispiele aus den bildenden Künsten, der Wissenschaft und insbesondere aus theatralen Vorgängen. In der Moderne bestehen liminoide und liminale Phänomene nebeneinander; vgl. Ibid., 86. Turner macht allerdings weder deutlich, welchen Stellenwert die liminal verbleibenden Phänomene erhalten, noch, wie in einer modernen Gesellschaft liminale und liminoide Phänomene aufeinander zu beziehen sind. Dadurch bleibt undeutlich, ob liminoide Phänomene gleich oder nur ähnlich wie liminale Phänomene auf Gesellschaften einwirken oder ob sie letztlich keine treibende Kraft in gesellschaftlichen Veränderungen darstellen. 154 Fardon 1999, 122. 155 Vgl. dazu Soeffner 1988. 156 Vgl. Douglas 1986, 221. Es ist bezeichnend, dass Douglas die Unterschiede des Ritualverständnisses im Luthertum und im Calvinismus nur marginal bespricht; vgl. Groll 1996.

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Theoretische Grundlagen

2.5.2

Ritueller Pluralismus und Ritualkritik (R. Grimes)

Der kanadisch-amerikanische Sozialanthropologe Ronald Grimes entwickelte in den frühen 1980er Jahren einen neuen Zugang zu Ritualen in der Gegenwart. Seine methodologischen Überlegungen setzen mit der in seinen frühen Feldstudien gewonnenen Einsicht ein, dass Ritualität in der Moderne nur als pluriformes und dynamisches Geschehen verstanden werden kann. Als beispielhaft dafür beschreibt er die jährliche Fiesta von Santa Fe in New Mexico.157 Dieses Festival ist ein jährlich stattfindender Event, das verschiedene kulturelle und religiöse Riten der Nachkommen der Native Americans und den spanischstämmigen Einwanderern kombiniert und zugleich in verschiedenen Strassentheatern entscheidende Momente der Eroberung und Verteidigung der Stadt durch die Europäer inszeniert. Der Event wird von zahlreichen Schaulustigen aufgesucht und ist ein wichtiger Motor für die lokalen Geschäfte, die Gastronomie und die Tourismusbranche. Ein solcher Event entzieht sich den meisten herkömmlichen Kategorisierungen eines Rituals, weist aber viele Charakteristika auf, die an klassische Rituale erinnern. Ähnlich wie für Douglas zeichnen sich auch Grimes zufolge die westlichen, euro-amerikanischen Kulturen durch eine unhintergehbare Distanz zu rituellem Verhalten aus, was vor allem auf den Abbruch ritueller Traditionen, die erhöhte Mobilität einzelner Individuen, die mit ihr verbundene Multikulturalität, aber auch auf die zunehmende mediale Verfügbarkeit von Dokumentationen fremder Kulturen zurückzuführen sei. Moderne Menschen stünden, so ­Grimes, vor der paradoxen Ausgangslage, dass sie für viele Anlässe – er zeigt dies anhand der Lebenspassagen Geburt, Erwachsenwerden, Heirat und Tod158 – keine adäquate rituelle Form mehr kennen. Für viele Situationen herrsche somit ein rituelles „Vakuum“. Zugleich aber liege –  in medialer Form zumindest –  der Zugriff auf viel Anschauungsmaterial fremder Rituale vor.159 Moderne Menschen befänden sich somit zugleich im rituellen „Überfluss“ und erlebten dennoch das Gefühl eines rituellen „Unvermögens“.160 Oft bleibe ihnen daher als einzige Möglichkeit, rituelle Vorgänge aus nicht mehr praktizierten oder kulturell fremden Traditionen zu übernehmen. Dabei verändere sich laut ­­Grimes aber die Haltung der Menschen gegenüber Ritualen grundsätzlich: Sie könnten nicht mehr körperlich kopräsent erlernt, angeeignet oder erlebt werden, sondern würden als körper-, ort- und zeitlose „Phantasien“ entwickelt, die mittels medialisierter Dokumentationen von Ritualen (Videos, Internet) aus157 158 159 160

Vgl. dazu Grimes 1982b. S. ­Grimes 1995. Vgl. Ibid., 3 f. Vgl. Post 2004.

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Kontext: Ritualität unter den Bedingungen der Moderne   

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gebildet werden.161 Sie fungierten deshalb oft als Projektionsflächen für unerfüllte Bedürfnisse wie körperliche Nähe, Beziehung, Einheitserlebnisse, oder Entspannung.162 Rituale sind somit für moderne Menschen immer Möglichkeiten neben anderen.163 Sie können an ihre jeweiligen Situationen und den Interessen der an ihnen teilnehmenden Individuen angepasst werden und können so für unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert werden.164 Ausserdem sind sie stets als auf bestimmte Situationen und Anlässe hin gestaltete und in diesem Sinne kasualisierte Anlässe mit ex-tempore-Charakter. Sie befinden sich in ständiger Entwicklung, sind kulturelle Produkte im Prozess des Werdens („nascent“). Den Prozess ihrer Entstehung bezeichnet G ­ rimes als „ritualizing“ (ritualisieren), die modernen Rituale als „ritualizations“ (Ritualisationen).165 ­Grimes übernimmt diese Begriffe aus den Verhaltenswissenschaften, versteht sie aber grundsätzlicher als Bestandteile des Prozesses der Herstellung von Ritualität. Anders als Douglas beurteilt ­Grimes die Distanz moderner Menschen zu rituellem Handeln somit nicht als antirituell, sondern als ritualisierend, d. h. produktiv gestaltend. Damit bejaht er die in der Moderne gewonnene rituelle Reflexivität, weist aber zugleich auf mit ihr verbundene Gefahren hin.166 Moderne Menschen können ihre Teilnahme an Ritualen nicht nur grundsätzlich bejahen oder verneinen, sondern auch dosieren, wie stark sie sich auf bestimmte Rituale einlassen oder nicht. Ausserdem haben sie die Möglichkeit verschiedene rituelle Elemente und Stile miteinander zu kombinieren und somit regelrechte Patchwork-Rituale zu schaffen.167 ­ rimes aber wie alle intentional gestalDamit seien moderne Rituale gemäss G teten Produkte nicht mehr von kritischer Begutachtung auszunehmen. Ein moderner Ritualist habe einerseits wie jeder gestaltende Künstler eine künstlerische Verantwortung gegenüber seinem Kunstwerk. Da in einem Ritual aber immer auch soziale Geltungen und normative Kräfte erlebbar gemacht werden, ha161 Vgl. ­Grimes 2011, 20. 162 Vgl. G ­ rimes 1995, 111. 163 Diesen Gedanken entfaltet bereits Delattre 1978, wenn er im Anschluss an Goffman die These aufstellt, dass die Sozialisation von modernen Menschen in erster Linie eine „rituelle Kompetenz“ fordert, zwischen unterschiedlichen rituellen Szenen wechseln zu können; vgl. ibid., 293 f. 164 Die Bandbreite gegenwärtiger Ritualisierungen wird auch durch eine Studie über den gegenwärtigen Ratgeber Buchmarkt bestätigt; vgl. dazu Lüddeckens 2004, beso. 51–53. 165 Vgl. ibid., 10. 166 Wie abgründig die Effekte solcher ritueller Manipulationen sein können, zeigen nicht zuletzt die Rituale des Nationalsozialismus, etwa die Massenveranstaltungen auf dem Zeppelinfeld bei den Nürnberger Reichstagen; vgl. dazu Taylor 1981. 167 Vgl. Lüddeckens 2004, 48–50. Allerdings gilt dies nicht nur für erfundene Rituale, sondern auch und gerade für die traditionellen Rituale in den mitteleuropäischen Kirchen.

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Theoretische Grundlagen

ben moderne Ritualisten andererseits auch eine sozialethische Verantwortung für die von ihnen transportierten Formen und Inhalte zu übernehmen. G ­ rimes schlägt daher vor, Ritualforschung nicht mehr alleine aus anthropologischem Interesse zu betreiben, sondern sie – vergleichbar mit der Kunst-, Theater- oder Literaturkritik –  als metanormative Disziplin zu entwickeln. Eine kritische Ritualforschung würde dazu beitragen, dass Individuen, die an ihnen teilnehmen, sich zu ihrer Teilnahme verhalten können. Die moderne „ritual creativity“ brauche, so ­Grimes pointiert, einen „ritual criticism“ (dt. wiederzugeben mit „Ritual­ rimes selbst verortet das Betätikritik“168) als komplementäres Gegenüber.169 G gungsfeld dieser Ritualkritik gerade dort, wo eine „ambience of changing and borderline ritual contexts“170 vorherrsche. In den Kulturen der (Spät-)Moderne, die durch kulturellen Pluralismus, Traditionsabbrüche und eine fortschreitende Individualisierung und gesellschaftliche Differenzierung geprägt sind,171 werden daher gemäss G ­ rimes die kritische Analyse von Ritualen besonders virulent. Von einer kritischen Analyse können auch Gottesdienste, besonders reformierte Gottesdienste nicht ausgenommen werden. Sie sind unter den Bedingungen der Spätmoderne als intentionale Gestaltungen zu betrachten, für welche diejenigen, die sie planen und vollziehen Verantwortung tragen. In der vorliegenden Studie wird dies Kritik insbesondere in Bezug auf den theologischen Anspruch des Gottesdienstes ausgeführt werden.172 Gottesdienste sind insofern zu kritisieren, als sie die Teilnahme und Kopräsenz Gottes an ihnen ermöglichen sollen. Der Ritualkritik in den Ritual Studies entspricht in der Disziplin der Liturgischen Theologie somit die Perspektive der theologia secunda (vgl. o., Abschnitt 1.2.2).

168 Wörtlich könnte man von Ritualkritizismus sprechen. Die von mir vorgezogene Übersetzung Ritualkritik orientiert sich an den von G ­ rimes genannten Paralleldisziplinen der Literatur- bzw. Filmkritik. 169 Vgl. ­Grimes 1990, 10. 170 Vgl. ibid., 8.  171 Für die Deutschschweizer Reformierten vgl. Stolz und Ballif 2010, 29–35. 172 Damit ist nicht gesagt, dass sich aus dem theologischen Anspruch an den Gottesdienst auch Forderungen in Bezug auf die Umweltverträglichkeit oder die soziale Gerechtigkeit ritueller Praktiken ziehen lassen.

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Religiöse und nicht-religiöse Ritualität (M. Riesebrodt)   

2.6

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Religiöse und nicht-religiöse Ritualität (M. Riesebrodt)

Nicht alle Rituale sind religiöse Rituale.173 Der Umstand, dass die im Folgenden untersuchte Veranstaltung von Teilnehmenden als Gottesdienst bezeichnet wird, scheint kategorisch dafür zu sprechen, alles, was während des Gottesdienstes geschieht, als religiöse Interaktion zu verstehen. Ähnlich liesse sich auch behaupten, dass die Gegenstände, Handlungen und Personen in einer Kirche religiös sein müssten. Ein solches ontologisches Verständnis von Religion wäre nahe beim Alltagsverständnis vieler Mitteleuropäer. Für die vorliegende Studie wäre eine solche Deklaration jedoch zu ungenau, da ja gerade untersucht werden soll, inwiefern ein Gottesdienst zu einer religiösen Interaktion wird.

2.6.1

Ontologische Kriterien für Religiosität

Ein mögliches Kriterium für die Unterscheidung zwischen religiös und nichtreligiös könnte in der traditionell-kulturellen Verortung der Rituale gefunden werden. Religiös wären Rituale demnach dadurch, dass der in ihnen symbolisierte Gehalt an eine bestimmte traditionelle Religion bzw. einen Traditionsbestand einer Religionsgemeinschaft anknüpft. Bei den Gottesdiensten meines Samples wäre dies das Christentum, genauer das reformierte Christentum. Hierzu müsste allerdings genau definiert werden, welche Symbole zum Symbolbestand der christlichen bzw. der reformierten Tradition gehören und welche nicht. Obschon intuitiv ein solcher Symbolbestand ausgemacht werden könnte (eine bestimmte Art von Liedern, eine bestimmte Art von liturgischer Kleidung, bestimmte präferierte Texte), wäre damit der internen Differenzierung der Traditionsbestände kaum Rechnung zu tragen. Die Schwäche einer am Symbolbestand orientierten Definition von Religion bzw. Religiosität liegt in ihrer Positionalität, welche eine normative Geltung vor bzw. über den empirischen Phänomenen postuliert (vgl. auch die Kritik am Ordo-Begriff Schmemanns; o. Abschnitt 1.2.2). Ein bestimmter Symbolbestand, ein Kanon, stellt, wie weit oder eng er auch gefasst sein mag, eine normative Position dar, deren Geltung anerkannt werden muss. Es stellt sich deshalb immer die Frage, wer 173 Vom Prädikat spirituell wird hier abgesehen, da einerseits bislang kein wissenschaftlicher Konsens über die Unterscheidung von religiösen und spirituellen Praktiken herrscht und andererseits mit dem Prädikat spirituell kaum interaktionale Phänomene bezeichnet werden; vgl. Knoblauch 2006, 93–100. Als spirituell werden demgegenüber eher Phänomene bezeichnet, bei denen eine enge Verknüpfung von subjektivem Erleben und religiöser Erfahrung vorliegt – so ist im gegenwärtigen Sprachgebrauch z. B. der Lebenswandel oder die Weltanschauung eines Menschen spirituell. Es wäre somit kaum deutlich, worin sich spirituelle Rituale von nicht-spirituellen Ritualen unterscheiden würden.

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Theoretische Grundlagen

den Kanon zu verantworten hat oder allgemeiner, wie es dazu gekommen ist, dass genau diese Ordnung gilt und keine andere. Diesbezüglich ist das Feld der reformierten Gottesdienste äusserst undurchsichtig: Es gibt weder ein auf den Gottesdienst bezogenes Lehramt, noch einen approbierten liturgischen Verhaltenscodex. Damit ist noch nicht gesagt, dass in den reformierten Kirchen kein Kanon verwendet wird. Allerdings ist dieser empirisch nicht ausserhalb der Interaktion für Untersuchungen greifbar. Im Feld der vorliegenden Studie lässt sich deshalb jeweils nur aus der Art und Weise der situationalen und interaktionalen Verwendung bestimmter Symbole darauf schliessen, ob sie zum Tradi­ tionsbestand gehören oder nicht.174

2.6.2

Performative Kriterien für Religiosität

In der vorliegenden Studie soll daher ein kanonunabhängiges Kriterium zur Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Ritualen verwendet werden. Wiederum bestünden hierzu unterschiedliche Zugangsweisen. Collins selbst schlägt vor, religiöse Rituale nicht von ihrer Tradition oder Form her von nicht-religiösen Ritualen zu unterscheiden, sondern vom Grad ihrer Effekte her: „Religious interaction ritual involves especially strong, even extreme, emotional experiences; these announce themselves as of the highest significance, transcending all other experiences, and give pervasive meaning to life.“175

Formalistische religiöse Rituale, die solche Effekte nicht hervorzubringen vermögen, seien somit nicht (mehr) religiös im eigentlichen Sinne, sondern eher Imitationen von religiösen Ritualen.176 Collins bindet die Religiosität damit an die Effektivität von Ritualen und die in ihnen erfahrene „Kraft“ oder „Macht“, die er immanentistisch auf das Kollektiv selbst zurückführt. Als unterscheidendes Kritierium eignet sich Collins’ Konzeption allerdings nicht, denn sie kann nicht besagen, ab welchem Grad dieser Effekte ein Ritual als religiös gilt. Streng genommen müsste jedes Ritual, das auch nur einen geringen symbolischen Effekt hervorruft, bereits als religiös gelten.177 174 Catherine Bell weist darauf hin, dass das, was landläufig als Tradition verstanden wird, in Ritualen oft durch bestimmte rituelle Stilmittel, z. B. archaische Sprache oder den Gebrauch alter und grosser Bücher in der Situation hergestellt wird; vgl. Bell 2009, 118 f. 175 Collins 2010, 3. 176 Vgl. Ibid. 177 Dies scheint für Collins auch der Fall zu sein, wenn er behauptet, dass sich klassische religiöse Rituale in einer Marktsituation mit modernen Ritualen, etwa Fussballspielen oder Tanzveranstaltungen, befänden; vgl. ibid., 5. Auch hier wird deutlich wie Collins Religiosität von den Effekten, nicht von der Essenz von Ritualen her versteht.

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Religiöse und nicht-religiöse Ritualität (M. Riesebrodt)   

2.6.3

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Interaktionstheoretische Kriterien für Religiosität

Um in der Analyse mit einer klaren Terminologie arbeiten zu können, soll hier von Collins abgewichen und die theologische Ausgangsthese der Liturgischen Theologie aufgegriffen werden (vgl. o., Abschnitt 1.2). Die Religiosität der Rituale soll nicht vom Grad ihrer Ritualität, sondern von einem bestimmten Teilnehmenden her definiert werden, nämlich dem im christlichen Gottesdienst als Teilnehmer erwarteten Gott.178 Dazu soll auf die Religionsdefinition von Martin Riesebrodt verwiesen werden, die sich insbesondere durch ihre sogenannte „religiöse Prämisse“ von anderen Religionsdefinitionen unterscheidet. Für Riese­brodt besteht „Religion“ weder in einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion (so etwa Durkheim selbst, aber auch in unterschiedlicher Akzentuierung Luckmann oder Luhmann), noch in einer bestimmten subjektiven Erfahrungsqualität (so etwa Friedrich Schleiermacher, William James oder Rudolf Otto), sondern in Praktiken, die auf der „Existenz in der Regel unsichtbarer persönlicher oder unpersönlicher übermenschlicher Mächte beruhen“179. Riesebrodt geht davon aus, dass Religion in erster Linie im sog. „Handlungssinn“ besteht, den diese Praktiken beinhalten. Dieser Sinn liegt in den Praktiken selbst und ist umfassender als die subjektiv von den einzelnen Menschen erfahrenen Vorstellungen, ihre jeweilige individuelle „Religiosität“.180 Vielmehr beteiligten sich Menschen gerade an solchen Praktiken, weil sie dadurch einen „objektiven“ Sinn erleben, der ihre eigenen Vorstellungen bereichere oder in Frage stelle.181 Riesebrodt meint, dass nur eine solche, auf den Handlungssinn fokussierte Religionstheorie die Grenze zwischen Innen- und Aussenperspektive auf religiöse Phänomene überwinden könne.182 Für Riesebrodt existieren dreierlei solcher Praktiken: interventionistische, diskursive und verhaltensregulierende, 183 die in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Die verhaltensregulierenden Praktiken zielen auf „die Vermeidung von Sanktionen oder die Anhäufung von Verdiensten“184 in Bezug auf übermenschliche Mächte. Sie dienen im weitesten Sinne dazu, Ordnungen über 178 Zur sprachlichen Konvention, Gott als Maskulinum zu bezeichnen, vgl. o., Abschnitt 1.4. 179 Riesebrodt 2007, 113. Diese Theorie hat ihren Vorläufer in der Religionsdefinition von Melford Spiro, der bereits 1966 Religion als „an institution consisting of culturally­ patterned interaction with culturally postulated superhuman beings“ definierte; Spiro 2004, 96. 180 Für Riesebrodt ist „Religiosität“ die „subjektive Aneignung und Ausdeutung von Religion.“ Riesebrodt 2007, 115. 181 Riesebrodt spricht sogar davon, dass religiöse Praktiken ihre Teilnehmer „unter ihre Macht“ zwingen; vgl. Riesebrodt 2011, 332. 182 Vgl. Riesebrodt 2007, 108. 183 Vgl. ibid., 114 ff. 184 Ibid., 114.

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Theoretische Grundlagen

Erlaubtes und Verbotenes zu organisieren. Demgegenüber sind diskursive Praktiken dazu da, das „religiöse Wissen“ über die übermenschlichen Mächte und den sinnvollen Verkehr mit ihnen zu überliefern.185 Dazu gehören Theo- und Kosmologien, auch dort wo diese keinen intellektuellen oder wissenschaftlichen Massstäben genügen. Grundlegend für beide sind aber die interventionistischen Praktiken. In ihnen geht es darum, eine Kontaktaufnahme mit oder einen Zugang zu den übermenschlichen Mächten zu bewerkstelligen186  – dies etwa in Form von Gebeten, von Manipulation oder gar Fusion mit diesen Mächten. In gewissen Fällen geht es auch darum, solche Mächte in den Teilnehmenden selbst anzuregen, so etwa dort wo „Erleuchtung“ angestrebt wird.187 Die interventionistischen Praktiken sind deshalb grundlegend für alle anderen religiösen Praktiken, weil durch sie die übermenschlichen Mächte für die handelnden Menschen erst real werden. Riesebrodt drückt dies so aus: „Erst die Tatsache, daß man nicht nur an die Existenz übermenschlicher Mächte ‚glaubt‘, sondern mit ihnen verkehrt, gibt allen anderen Praktiken ihre Recht­ fertigung.“188

Denn nur in ihnen gingen „Glaube und Handeln, Symbolisierung und Ritualisierung […] Hand in Hand.“189

Das von Riesebrodt eingeführte Kriterium für Religion ist somit die Kommunikation mit übermenschlichen Mächten, die sowohl persönlichen als auch unpersönlichen Charakter haben können. Rituale sind, wie gezeigt wurde, eine Form von Interaktion, die sich durch die Charakteristika der körperlichen Kopräsenz, des gemeinsamen Fokus, der Hervorgehobenheit aus der Umgebung, der gemeinsamen Emotion und des symbolischen Effektes auszeichnen. Religiös wird ein Ritual also dadurch, dass in dieser Interaktion nebst den menschlichen Teilnehmenden übermenschliche Mächte teilnehmen. Diese Mächte sind allerdings empirisch nur in der Form vorhanden als die menschlichen Teilnehmen185 186 187 188 189

Vgl. ibid. Vgl. ibid., 113. Vgl. ibid., 113 f. Ibid., 127. Ibid. Damit vertritt Riesebrodt eine Position, die sich nicht nur gut mit der PerformanceTheorie, sondern auch mit dem von Durkheim entwickelten Ritualverständnis verbinden lässt. Riesebrodt selbst grenzt sich allerdings dezidiert von der durkheim’schen These, welche das „fait sociale“ mit Gott identifiziert, ab; vgl. ibid., 98. Diese sei überall problematisch, wo Religion nur einen Teil der Gesellschaft erfasse bzw. unterschiedliche partikulare Religionen nebeneinander in derselben Gesellschaft bestehen – so etwa in modernen Mitteleuropa. Durkheims Religionsverständnis rede, so Riesebrodt, am ehesten einer Zivilreligion innerhalb eines Nationalstaates das Wort; vgl. ibid., 99.

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Religiöse und nicht-religiöse Ritualität (M. Riesebrodt)   

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den sich an sie wenden bzw. ihre Interaktion in einer Art und Weise ausführen, dass diesen Mächten Raum als Gegenüber eingeräumt wird. Da die „Mächte“ selbst „unsichtbarer“190, oder allgemeiner gesprochen nonphänomenaler Art sind, erscheinen sie in der rituellen Interaktion vorwiegend durch offengelassene Leerstellen.191 Dies zeigt sich am ersten Charakterzug, der körperlichen Kopräsenz von zwei oder mehr Teilnehmenden, beispielsweise dadurch, dass eine Stille gehalten wird, oder noch deutlicher, eine Haltung mit geschlossenen Augen eingenommen wird. So etwa beim Gebet oder bei einer Meditation. Bei solchen Verhaltensweisen wird der akustische und visuelle Sinneskanal unterbeschäftigt, was die Möglichkeit einer Wahrnehmung eines nonphänomenalen Interaktionspartners eröffnet. Für den zweiten Charakterzug, den gemeinsamen Fokus der Interaktion, wird durch das Fokussieren eines bestimmten Symbols (das für die übermenschliche Macht steht, z. B. einem Kreuz oder einer Ikone) oder – im vorliegenden Sample wohl am häufigsten – durch die Ausrichtung des Fokus’ auf einen leeren Raum, die Möglichkeit einer Interaktion mit einer unsichtbaren übermenschlichen Macht eröffnet. Für die weiteren Charakterzüge von Interaktionsritualen ist die Beteiligung übermenschlicher Mächte empirisch nur indirekt zu beobachten: Im dritten Charakterzug der Ritualität nach Collins, der Hervorhebung der Interaktion aus ihrer Umgebung, erscheinen übermenschliche Mächte durch gezielte Unter­ scheidungen. So ist eine Hervorhebung religiös, wenn bestimmte Bewegungen wie ein würdevoller Gang oder auch ein zwangloses Atmen mit der Anwesenheit oder gar der Besessenheit durch eine übermenschliche Macht in 190 Vgl. Spiro 2004, 113. 191 Den Begriff des „Nonphänomenalen“ übernehme ich von Welz 2008. Der Begriff impliziert zugleich die notwendige Erkennbarkeit und die hinter ihr liegende Entzogenheit von Gegenständen der Wahrnehmung; vgl. ibid., 375. Welz verwendet Einsichten der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts im Ausgang von Husserl um das Phänomen der Präsenz Gottes in der Wahrnehmung theologisch zu differenzieren: Wenn man nicht von einer absoluten Transzendenz Gottes ausgehe, welche seine Nicht-Erkennbarkeit und die Nicht-Erkennbarkeit dieser Nicht-Erkennbarkeit implizieren würde, könne der Versuch unternommen werden, etwas Wahrgenommenes als Gott für einen Wahrnehmenden zu verstehen; vgl. ibid., 61. Allerdings müsse Gott, da er weder mit dem Wahrnehmenden noch mit einem bestimmten Wahrgenommenen identisch sein könne (er wäre dann nicht Gott), als komplexeres Phänomen als etwas für einen Wahrnehmenden Wahrgenommenes beschrieben werden; vgl. ibid. Für Welz ist es die Aufgabe einer „Phänomenologie Gottes“, die spezifische „Gegebenheit“ Gottes in unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung zu beschreiben und zugleich seine „Gegebenheit“ von anderen „Gegebenheiten“ zu unterscheiden; vgl. ibid., 58. In der folgenden Studie soll – dem religionsphilosophischen Verfahren von Welz nicht unähnlich  – an empirischen Beobachtungen zu zeigen versucht werden, inwiefern die Nonphänomenalität eines transzendenten Interaktionspartners in den phänomenalen verbalen und non-verbalen Zeichen einer Gottesdienstinteraktion wahrnehmbar gemacht wird.

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Theoretische Grundlagen

Verbindung gebracht werden. Hierfür ist es von grosser Bedeutung, dass die Hervorhebung nicht durch einen Teilnehmenden, sondern durch etwas von den Teilnehmenden Unterschiedenes hervorgerufen wird. Eine solche Wirkung könnte z. B. ein Kirchenraum oder eine erhöhte Fläche im Kirchenraum haben, in welche sich die Teilnehmenden einfinden. Der vierte Charakterzug, die geteilte Emotionalität wiederum ist dann religiös, wenn die Emotionen als fremd bzw. fremdverursacht verstanden werden. Auch dies lässt sich in der Analyse nur daraus schliessen, dass sich bestimmte emotionale Äusserungen nicht auf einen bestimmten Gegenstand oder einen der Teilnehmenden beziehen. Zuletzt ist der Symbolische Effekt (fünfter Charakterzug) dann religiöser Art, wenn ein Symbol mit einer übermenschlichen Macht identifiziert wird. Dies kann z. B. daran beobachtet werden, dass die Handhabung oder gar die Berührung eines Symboles besondere Verhaltensweisen hervorruft, es mit bestimmten Tabus belegt ist (so etwa die Torah-Rolle im synagogalen Gottesdienst) oder besonders geschmückt wird.

2.6.4

Grenzfälle für interaktionstheoretische Kriterien

Einschränkend muss festgehalten werden, dass alle diese beobachtbaren Verhaltensweisen nichts über die innere oder psychologische Haltung der Teilnehmenden aussagen können. Da die Fragestellung der vorliegenden Studie sich aber auf die Interaktionen bezieht, insofern diese empirisch beobachtbar sind, und nicht auf innere Zustände der an ihnen Teilnehmenden, wird das Prädikat religiös für solche Verhaltensweisen verwendet, die eine religiöse Interaktion, eine Interaktion mit übermenschlichen Mächten ermöglicht bzw. eine solche Interaktion gegenüber zwischenmenschlichen Interaktionen privilegiert. Zuletzt sei eine grundsätzliche Anfrage an die Theorie von Riesenbrodt formuliert: Was charakterisiert übermenschliche Mächte als „übermenschlich“? Oder: Wie können sie zuverlässig von menschlichen Wirkungen unterschieden werden? Riesebrodt lässt dies bemerkenswerterweise offen – wohl ganz in seiner Absicht, „sich für die religiösen Phänomene selbst in ihrer Eigenart […] interessieren“192 zu können. Der Begriff „übermenschliche Macht“ hat für ihn also weniger definitorische, sondern vielmehr heuristische Bedeutung: Die konkrete Bestimmung der „Macht“ ist gerade das, was in empirisch vorgehender Religions­forschung geklärt werden soll.193 192 Riesebrodt 2007, 118. 193 Diese heuristische Offenheit ist es auch, was meine Religionsdefinition von theologischen Definitionen von Religion unterscheidet. Sie fällt daher auch nicht unter die von Collins geäusserte Kritik an den Ritual Studies unter der Hand die Existenz transzendenter Akteure vorauszusetzen. Mit der alleinigen Anrufung eines nonphänomenalen

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Religiöse und nicht-religiöse Ritualität (M. Riesebrodt)   

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Aus theologischer Perspektive wird die Offenheit der Definition Riesebrodts dann problematisch, wenn sie mit der Möglichkeit rechnet, dass die Mächte zeitweise ganz mit einzelnen Teilnehmenden identifiziert werden –  so etwa beim Vorgang der „Erleuchtung“, wo die übermenschliche Macht in einem Menschen aktiviert wird.194 Rituale, welche die Persönlichkeit der an ihnen Teilnehmenden aufladen, wie diejenigen, die Goffman beschreibt,195 wären dann nicht zu unterscheiden von religiösen Ritualen. Von Goffman herkommend ist es in modernen Gesellschaften schwierig zu klären, inwiefern das, was landläufig unter einem Menschen verstanden wird, nicht selbst schon eine übermenschliche Macht i. S. von Riesebrodt ist. Es würde sich dann nahelegen, „Ehrerbietungsrituale“, gerade solche aus der bürgerlichen Kultur, wie etwa Begrüssungen, Danksagungen oder Entschuldigungen, als religiöse Rituale zu bezeichnen. Die folgenden empirischen Explorationen (Teil B) werden zeigen, dass einige der Grundmerkmale der Interaktion in reformierten Gottesdiensten theologisch so gedeutet werden können, dass sie versuchen, die Identifikation von Gott mit kopräsenten Menschen sowie die direkte Interaktion mit ihm zu erschweren.

Teilnehmenden ist dessen Existenz weder vorausgesetzt noch bewiesen, sondern alleine angezeigt. Die spezifisch religionssoziologische Fragestellung ist ja nicht ob eine Transzendenz („Gott“) in einem ontologischen Sinne (d. h. unabhängig von menschlicher Interaktion) existiert, sondern wie die Referenz auf eine Transzendenz in menschlicher Interaktion interaktional gestaltet ist. 194 Collins beschreibt etwa Meditation als eine Praxis, in welcher wesentlich eine interne kollektive Efferveszenz zwischen verschiedenen Instanzen mittels eines internen Dialogs herzustellen versucht wird; vgl. Collins 2010, 16. Dabei wird – etwa in Achtsamkeitsübungen  – das Selbst des Meditierenden zum Fokus der Aufmerksamkeit und zum Empfänger emotionaler Energie, was einem Gefühl erhöhten Selbstvertrauens gleichkommt. Der Meditierende nutzt den symbolischen Effekt dieses internen Rituals für sich selbst und lokalisiert die Transzendenz in seiner internen Wahrnehmung; vgl. ibid. 195 So die im bekannten Aufsatz The Nature of Deference and Demeanor beschriebenen „Ehrerbietungen“ gegenüber dem Individuum; vgl. Goffman 1967, 132–134.

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3.

Methodologische Grundlagen

„There is order at all points“. H. Sacks1

3.1

Zum Gegenstand der empirischen Studie

Die Liturgiewissenschaft, in deren Wissenschaftsdiskurs sich die vorliegende Studie einreihen möchte, hat ihren Gegenstand im „gesamte[n] gottesdienstliche[n] Leben“2. Sie macht das, was sie unter einem Gottesdienst versteht, jedoch meist am wöchentlich stattfindenden Ritual fest, das christliche Gemeinschaften seit den ersten Jahrhunderten n. Chr. in Anlehnung an den jüdischen Synagogengottesdienst durchführen. Auch in den reformierten Gemeinden der Deutschschweiz, dem hier zu untersuchenden Feld, findet ein zentrales Ritual wöchentlich statt –  der sogenannte „Sonntags-gottesdienst“3. Dass es sich bei diesem Ritual um das zentrale Ritual dieser Gemeinschaften handelt, ist empirisch bezweifelbar, da gemäss allen grösseren Studien der vergangenen Jahrzehnte nur eine sehr kleine Zahl der Mitglieder der Religionsgemeinschaft an ihnen teilnimmt.4 Dennoch spricht der Umstand, dass nahezu alle Kirchgemeinden wöchentlich einen Sonntagsgottesdienst veranstalten, dafür, dass dieser Form der Gottesdienstpraxis eine hohe Bedeutung zukommt.5 Sogar für distanziert religiöse Schweizer_innen hat gemäss einer Studie von Portmann und Plüss das Stattfinden von

1 Sacks 1995, xlvi. 2 Rupert Berger zitiert nach Bieritz 2004, 7. 3 Die Bezeichnung „Sonntagsgottesdienst“ wurde auch für den ersten von der Liturgiekommission herausgegebenen Liturgikband gewählt; vgl. LKDS 1972. 4 Vgl. Stolz und Ballif 2010, 69. 5 Chaves und Stephens weisen für den Kontext USA darauf hin, dass von den Menschen, die nicht an einem Gottesdienst am Wochenende teilnehmen, nur 2 % an einer anderen Form von religiöser Veranstaltung teilnehmen. Obschon die religionssoziologische Ausgangslage in Europa anders beurteilt werden muss, dürfte auch für das Feld der vorliegenden Studie eine enge Korrelation zwischen dem Besuch von Sonntagsgottesdiensten und der übrigen öffentlichen religiösen Praxis bestehen; vgl. Chaves und Stephens 2003, 85.

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Zum Gegenstand der empirischen Studie   

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wöchentlichen Gottesdiensten symbolische Bedeutung.6 Ebenso wird in der Presse oft argumentiert, dass leere Kirchenbänke am Sonntagmorgen ein Zeichen der zunehmenden Areligiosität seien.7 Schliesslich leiten verschiedene religionssoziologische Studien die Ab- bzw. Zunahme von christlich-religiöser Praxis von der Regelmässigkeit der Teilnahme bestimmter Bevölkerungsschichten an Sonntagsgottesdiensten her.8 Die Sonntagsgottesdienste gelten somit sowohl emisch (aus Sicht ihrer Teilnehmer) als auch etisch (aus Sicht der distanzierten Gesamtbevölkerung) als Normaltyp, an welchem „das gesamte gottesdienstliche Leben“ der reformierten Gemeinschaften gemessen wird.9 Daher sollen faktisch stattfindende Sonntagsgottesdienste zum Gegenstand der folgenden empirischen Untersuchung zur reformierten Liturgik werden.10 Als charakteristisch für einen reformierten Sonntagsgottesdienst lassen sich folgende Merkmale ansehen: Er findet wöchentlich und in der Regel sonntags statt, er beinhaltet eine Predigt, in ihm werden biblische Texte zitiert sowie das Reformierte Gesangbuch11 (RG) verwendet; ausserdem ist in ihm mindestens eine Pfarrperson (eine landeskirchlich ordinierte Theolog_in) aktiv. Ein Sonntagsgottesdienst unterscheidet sich innerhalb der reformierten Gemeinden insbesondere von folgenden anderen rituellen Genres: der Trauung, der Abdankung und der Konfirmation (d. h. den Kasualgottesdiensten), den Zielgruppengottesdiensten (für ältere Menschen oder Jugendliche), den Festtagsgottesdiensten (insbesondere Bettag-, Weihnachts-, Neujahrs- und Osterzyklusgottesdienste). Ein flüchtiger Blick auf die Makrostrukturen der Gottesdienste (vgl. u., Anhang) zeigt jedoch, dass letztere Unterscheidung kaum aufrecht er6 Plüss und Portmann nennen dies die „rituelle Funktion der Kirche“; vgl. Portmann und Plüss 2011, 192. 7 Vgl. Plüss 2000. 8 Die Kategorie des wöchentlichen Rituals wird auch dort angewandt, wo nicht-christliche Religionsgemeinschaften untersucht werden; so etwa bei Stolz et al. 2012. Da für jüdische und muslimische Religionsgemeinschaften wöchentlich stattfindende Rituale aber eine der täglichen Religiosität untergeordnete Rolle spielen, orientieren sie sich somit stillschweigend am Modell des christlichen Sonntagsgottesdienstes. 9 Ähnlich meint auch Mark Chaves, dass das, was landläufig unter einer religiösen Gemeinschaft („congregation“) verstanden wird, wesentlich durch das regelmässige Stattfinden eines zentralen Rituals ausgemacht wird: „A congregation that stopped producing regular worship services would no longer be a congregation even if it remained an organization that was active, even religiously active, in other ways.“ Chaves 2004, 128. 10 Gemäss Ingwer Paul stellt der Sonntags- bzw. „Hauptgottesdienst“ gegenüber den Kasualgottesdiensten unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten eine besonders knifflige Situation dar, denn „im Hauptgottesdienst bleibt die Hingabe, vor allem, wenn die liturgischen Text nicht mehr verstanden werden, eher abstrakt. Die Pastoren machen daher besondere Anstrengungen, die liturgischen Texte inhaltlich und formal zu remotivieren. Diese Probleme sind in den kirchlichen Amtshandlungen nicht so stark gegeben, weil es einen thematischen Kern oder eine zentrale Handlung gibt.“ Paul 1990, 229. 11 VHERGS 1998.

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Methodologische Grundlagen

halten werden kann, da in vielen Gemeinden die Mehrzahl der Sonntagsgottesdienste auf einen bestimmten Festanlass, eine Zielgruppe oder ein Thema hin veranstaltet werden.

3.2

Forschungsüberblick: Empirische Gottesdienstforschung

Empirisch ist Religionsforschung dadurch, dass sie, so Heimbrock und Meyer, „im methodisch gesicherten Rückgriff auf Erfahrung“12 Erkenntnisse über religiöse Phänomene erlangt. In Gottesdiensten (wie in allen Interaktionen) ist Erfahrung grundsätzlich im inneren Erleben oder im äusseren Mitvollziehen bzw. Interagieren gegeben.13 Empirische Untersuchungen zu Gottesdiensten haben diesen beiden Seiten des Phänomens Gottesdienst durch unterschiedliche Methoden aus der Sozialforschung Rechnung getragen (s. Abbildung 3). Als statistisch relevant und repräsentativ gelten Studien zur Besucherzahl oder Teilnahmehäufigkeit. Meistens werden ihre Daten über Fragebogen an gezielt ausgewählte Einzelpersonen erhoben, die etwa danach fragen, wie häufig eine Person im vergangenen Monat einen Gottesdienst besucht hat. Aus pragmatischen Gründen können solche Zahlen auch durch Drittpersonen (z. B. Gemeindeleitende)  in Erfahrung gebracht werden.14 Die Besucherzahl und Teilnahmehäufigkeit an Gottesdiensten kann –  in Kombination mit anderen soziologischen Grunddaten wie Alter, Geschlecht oder Bildungsstand  – sinnvolle Aussagen darüber zulassen, wie ein Gottesdienst als Ganzer in das gesell‑ 12 Heimbrock und Meyer 2007, 15. 13 Die Unterscheidung zwischen inneren und äusseren Gegenständen der Forschung ist nicht gleichbedeutend mit der Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Forschungsergebnissen. Beobachtungen zum äusseren (vermeintlich objektiven) Geschehen sind durch die subjektive Wahrnehmung der Beobachtenden stark geprägt. Ebenso sind Untersuchungen zur innerlich ablaufenden (vermeintlich subjektiven) Rezeption oder Produktion in einem Gottesdienst insofern auch objektiv, als die Befragten sich im Interview oder im Survey mittels intersubjektiv nachvollziehbarer sprachlicher Zeichen ausdrücken müssen. Ein Sachverhalt lässt sich durch die Unterscheidung von Innen und Aussen aber verdeutlichen: Da die Gottesdienstwirklichkeit beide Seiten, die innere und die äussere untrennbar umfasst, sind alle empirisch-wissenschaftlichen Aussagen jeweils nur auf bestimmte Aspekte dieser Wirklichkeit bezogen und immer als hypothetische Annäherungen zu verstehen; vgl. Ibid., 13 f. Stefan Huber hat ein Modell zur Messung von Religiosität entwickelt, welche unterschiedliche Dimensionen der Religiosität zu unterscheiden erlaubt; vgl. Huber 2004. Entscheidend beim Modell von Huber ist wiederum, dass sich alle Dimensionen der Religiosität sowohl als innere wie auch als äussere Gegenstände der Forschung verstehen lassen. Es wäre daher denkbar, das Modell von Huber nebst den bereits erfolgten Interviewstudien auch in Beobachtungsstudien zur Anwendung zu bringen. 14 So etwa in der Nationalen Kongregationsstudie für die Schweiz (NCSS); vgl. Stolz et al. 2012, 10.

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Forschungsüberblick: Empirische Gottesdienstforschung    Gegenstand

Beispielfragen

Methoden

Beispielstudien15

Gottesdienstbesuch

– Wieviele Menschen besuchen einen bestimmten Gottesdienst? – Wie häufig besucht eine bestimmte Person oder Personengruppe einen Gottesdienst?

– Survey – Expertensurvey – Beobachtung (Zählung vor Ort)

– Stolz et al.: Nationale Kongregationsstudie in der Schweiz (NCSS) – Campiche et al.: Die zwei Gesichter der Religion – Bovay et al.: Jeder ein Sonderfall? – Engelhardt et al.: Fremde Heimat Kirche

– Welchen Eindruck haben bestimmte Teilnehmende von einem Gottesdienst? – Welche Gefühle werden während des Gottesdienstes erlebt? – Was „verstehen“ Teilnehmende in einem Gottesdienst?

– Qualitatives Interview – Survey mit qualitativen Items

– Pohl-Patalong: Gottesdienst erleben – Kaiser: Religiöses Erleben durch gottesdienstliche Musik

– Welche Absichten haben Pfarrpersonen mit der Gestaltung in einem Gottesdienst?

– Qualitatives Interview – Survey

– Danzeglocke et al.: Singen im Gottesdienst

– Wie läuft die Interaktion in einem Gottesdienst ab? – Welche Regeln, Ordnungen und praktischen Fähigkeiten sind zum Gelingen der Interaktion notwendig? – Wie wird mit Fehlern/Ausrutschern umgegangen?

– Teilnehmende Beobachtung – Video-Inter­ aktions-Analyse – (Expertensurvey mit qualitativen Items)

– Staub: Prediger und Showmaster Gottes – Rüegger et al.: Mundart und Standardsprache – Ayaß: Das Wort zum Sonntag – Paul: Rituelle Kommunikation

(Phänomen Gottesdienst, äusserlich)

Gottesdienst­ erleben (Rezeption eines Gottesdienstes durch Teilnehmende, innerlich)

Gottesdienstgestaltung (Produktionsabsichten von Teilnehmenden: innerlich) GottesdienstInteraktion (Phänomen Gottesdienst: äusserlich)

Abbildung 3: Unterschiedliche Gegenstände der empirischen Gottesdienstforschung

15 Ich beschränke mich auf empirische Studien aus dem deutschsprachigen Raum, die sich explizit mit Gottesdiensten oder liturgischen Formaten auseinandersetzen: Ayaß 1997, Bovay et al. 1993, Campiche 2004, Danzeglocke et al. 2011, Engelhardt et al. 1997, Kaiser 2012, Paul 1990, Pohl-Patalong 2011, Rüegger et al. 1996, Staub 2002 sowie Stolz et al. 2012.

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Methodologische Grundlagen

schaftliche Leben eingebunden ist. Ausserdem lässt sich erkennen, dass der Besuch von Gottesdiensten in den letzten 50 Jahren stark zurückgegangen ist und in Zukunft voraussichtlich noch stärker zurückgehen wird. Über Motive für die Teilnahme bzw. das Fernbleiben können diese Studien allerdings nur Mut­ massungen anstellen. Anders gehen empirische Studien vor, die versuchen, das subjektive Erleben von Gottesdienstteilnehmenden oder -leitenden zu untersuchen.16 Meistens werden für solche Studien qualitative Interviews mit Personen im Anschluss an einen oder mehrere Gottesdienste durchgeführt. In den Interviews werden gewöhnlich offene Fragen zum Erleben, den Eindrücken oder den persönlichen Motiven zur Teilnahme gestellt, die eine Erzählung über das innere Erleben, Fühlen und Denken der Teilnehmenden elizitieren sollen.

3.3 Interaktionsforschung17 Die Fragestellungen der vorliegenden Studie beziehen sich auf die Interaktion in Gottesdiensten, d. h. auf das für alle Beteiligten als objektiv mitgestaltete und subjektiv mitvollzogene Geschehen. Dieses umfasst sowohl verbale als auch nonverbale Zeichenprozesse zwischen den in Kopräsenz versammelten Teilnehmenden.18 Es geht um die Ordnung, die den gegenseitigen Austausch der Teilnehmenden ermöglicht und zugleich in bestimmter Art und Weise orientiert (vgl. o., Abschnitt 1.2.1). Das oben (Abschnitt 2.3) eingeführte Modell von Ri16 Vgl. Pohl-Patalong 2011. 17 Die Bezeichnungen „Interaktionsforschung“ und „Interaktionsanalyse“ wähle ich hier als umbrella terms für verschiedene miteinander verwandte Forschungsrichtungen aus Ethnologie, Soziologie und interaktionaler Linguistik; ich verwende den Begriff nach Jordan und Henderson 1995. 18 Ähnlich wie in der Sprechakttheorie von John Austin und John Searle geht es auch in der Interaktionsanalyse darum, wie durch Kommunikation im Gottesdienst soziale Wirklichkeit hergestellt wird; vgl. Bieritz 2004, 252–258, der den Gottesdienst sprechakttheoretisch als „kommunikatives Handeln“ beschreibt. Allerdings steht im Unterschied zur Sprechakttheorie weniger die Bedeutung des einzelnen Sprechaktes in einem bestimmten (bereits bestehenden) sozialen Gefüge im Zentrum, sondern die jeweils durch die gegenseitige Bezogenheit von Sprechakten unterschiedlicher Teilnehmender erzeugte soziale Wirklichkeit. Vereinfacht gesagt geht es um das, was zwischen einem Sprechakt und einem weiteren, auf ihn bezogenen Sprechakt geschieht. Die gegenseitig anerkannten Regeln des Sprechens werden nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern als im Laufe der Interaktion durch gegenseitige Bestätigungen der Teilnehmenden sich konstituierend erklärt. Bezogen auf die reformierten Gottesdienste schärft dies den Blick für das Zusammenspiel von verbalen und nonverbalen Zeichen, da die meisten Teilnehmenden an wesentlichen Momenten des Gottesdienstes nur nonverbal an der Interaktion mitwirken.

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Interaktionsforschung   

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tualität wird dabei die analytischen Dimensionen der empirischen Befragung vorgeben. Es soll jeweils gefragt werden, wie die gegenseitige Wahrnehmung der Teilnehmenden angeordnet (Charakterzug 1) bzw. fokussiert ist (Charakterzug  2), wie sich die Interaktion von ihrer Umgebung unterscheidet (Charakterzug  3), welche Emotion geteilt wird (Charakterzug 4) und welche Symbole gebildet bzw. ins Spiel gebracht werden (Charakterzug 5). Diese Merkmale der gottesdienstlichen Interaktion sollen nach Möglichkeit in ihrer empirischen Gestalt zum Gegenstand der Forschung gemacht werden.

3.3.1

Rekonstruktion der Interaktionsordnung

Die Rekonstruktion von Interaktionsordnungen befragt bestimmte Interaktio­ nen nach den Möglichkeiten in ihr stattfindender gelingender Interaktion (vgl. o., Abschnitt 1.2.1). Eine Interaktionsordnung wird dadurch rekonstruiert, dass man die faktisch stattfindenden Handlungszüge und ihre jeweiligen Anschlüsse beschreibt und in ihnen eine Regelmässigkeit erkennt. Besonders heikel ist dabei die Unterscheidung zwischen regelgemässem Handeln und den Reparaturhandlungen (repair), welche dazu dienen, nicht-regelgemässes Verhalten auszugleichen.19 Diese Unterscheidung ist letztlich nur dadurch möglich, dass regelgemässes Handeln als konstitutiv für eine Interaktionsgattung bestimmt wird, während Reparaturhandlungen als nicht-notwendige Zusätze ausgemacht werden. So etwa ist eine bestimmte Form des verbalen Grusses für eine zufällige Begegnung von einander bekannten Arbeitskollegen auf der Strasse konstitutiv: „Hallo, N. N.!“ Nicht konstitutiv hingegen ist der eingefügte Sprechton im folgenden Beispiel: „Hallo, ähm, N. N.!“ Dieser Sprechton repariert eine Denk- bzw. Fokussierungspause und lässt darauf schliessen, dass eine nonverbale Pause in der Anrede nicht vorgesehen ist. Die zur Erforschung von Interaktion bevorzugte Methode ist die Teilnehmende Beobachtung. Bei ihr hat ein Forschender genügend Nähe zur Situation, in der die Interaktion faktisch abläuft: er wird zu einem gewissen Grad selbst zum Teilnehmenden. Zugleich baut der Forschende eine gewisse Distanz zur Situation auf, die ihm ermöglicht, Zusammenhänge der einzelnen Handlungen bzw. Muster im Ablauf der Handlungen zu erkennen. Diese Distanz benötigt er, weil Interaktion von den Beteiligten immer „online“ (d. h. im Moment da sie ausgeführt wird bzw. im „Hier-und-Jetzt“ der Situation) konstruiert wird.

19 Zum Begriff vgl. Schegloff und Sacks 1977. Hierzu gehören insbesondere diejenigen Interaktionsrituale, die eine Distanzierung der eigenen Person von der Situation sichern, was Goffman als „Rollendistanz“ bezeichnet; vgl. Goffman 1973a, 118.

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Methodologische Grundlagen

Das heisst nicht, dass Motive, Ideen und persönliche Fähigkeiten der Teilnehmenden keinen Einfluss auf den Ablauf einer Interaktion haben. Aber sie determinieren die Interaktion nicht so weit, dass sie ihren faktischen Verlauf erklären könnten. So können beispielsweise Teilnehmende an einem Geburtstagsfest eines Studienkollegen zwar über ihre Motive und Gedanken (das Vertiefen einer Freundschaft, das Einlösen einer „Einladungsschuld“ seit einer Gegeneinladung, das Geniessen von kostenlosem Essen, usw.) vor, während und nach der Feier Auskunft geben. Der faktische Verlauf lässt sich aber nur aus einer Beobachterperspektive klären. Die stillschweigende Unterstützung einer bestehenden Ordnung durch ihre Teilnehmenden ist nicht zu verwechseln mit deren subjektiver Zustimmung zur Ordnung. Dennoch zeigt sich in ihr, dass im gegebenen Verlauf der Interaktion der Nutzen der ordnungsgemässen Teilnahme die für ihre Erhaltung anfallenden Kosten übersteigt. Freilich darf die Abnahme von regelmässigen Teilnehmenden an einem bestimmten Interaktionsritual – zumal sie beim reformierten Gottesdienst drastisch erfolgt ist20 – als Zeichen dafür interpretiert werden, dass die interaktionale Kosten-Nutzen-Rechnung einer Teilnahme für eine Vielzahl von Menschen nicht mehr aufgeht. Daraus sollte aber nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Interaktionsordnung des reformierten Gottesdienstes per se dysfunktional sei. Gerade hier ist eine Beobachtung Goffmans von entscheidender Bedeutung: Die Beweggründe für eine Teilnahme an einer bestimmten Interaktion sind mannigfaltig und oft gemischt: „Effective cooperation in maintaining expectations implies neither belief in the legitimacy or justice of abiding by a convention contract in general (whatever it happens to be), nor personal belief in the ultimate value of the particular norms that are involved. Individuals go along with current interaction arrangements for a wide variety of reasons, and one cannot read from their apparent tacit support of an arrangement that they would, for example, resent or resist its change. Very often behind community and consensus are mixed motive games.“21

Die Interessen und Überzeugungen der Einzelnen lassen so gesehen nicht direkt auf eine Interaktionsordnung schliessen, sondern geben diese nur teilweise oder in paradoxer oder gemischter Art und Weise wieder. Die Rekonstruktion der Interaktionsordnung kann sich daher nicht ausschliesslich mit der Erhebung von Einschätzungen, Interpretationen oder Motiven einzelner Teilnehmender zufrieden geben, sondern muss solche subjektiven Wahrnehmungen immer wieder durch neue Beobachtungen in Frage stellen.

20 Vgl. Stolz und Baliff 2010, 68. 21 Goffman 1983, 6.

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Interaktionsforschung   

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In gewissen Fällen ist es sinnvoll zusätzlich zu den Teilnehmenden Beobachtungen Interviews mit Teilnehmenden, die über Erfahrungswissen über den üblichen Verlauf von solchen Veranstaltungen verfügen, zu führen. Da die Erfahrung durch diese Expert_innen aber nicht „methodisch kontrolliert“ gewonnen wurde (es ist schwer zu belegen, dass sie faktischen Tatsachen und nicht alleine subjektiven Eindrücken oder Absichten der Expert_innen entsprechen), sind Erfahrungen aus teilnehmenden Beobachtungen, die durch eine Forscher_in in entsprechender reflexiver Haltung22 gemacht werden, immer noch valider. Expertenwissen kann allenfalls als Ergänzung oder zur Bestätigung von gemachten Beobachtungen herangezogen werden. Vor allem aber liefern solche Interviews Informationen zum ethnographischen Kontext der Interaktion.

3.3.2

Methodische Prinzipien der Interaktionsanalyse

Interaktionsforschung in religiösen Veranstaltungen, insbesondere in Gottesdiensten, ist noch kaum wissenschaftlich etabliert. In der Verhaltensforschung, besonders aber in der Sozialanthropologie, der Soziologie und der Linguistik ist sie seit einigen Jahrzehnten aus zentralen Diskursen nicht mehr wegzudenken. Das Aufkommen von soziologischem Interesse an faktisch ablaufender Interaktion wird vor allem mit dem Soziologen Erving Goffman in Verbindung gebracht. Etwa zeitgleich mit Goffman23 wurden Interaktionsanalysen auch in der sogenannten Ethnomethodologie betrieben.24 Die Studien dieser Forschungsrichtung fragten im Anschluss an den amerikanischen Soziologen Harold­ Garfinkel nach den faktisch und situational von den Teilnehmenden selbst verwendeten Kommunikations- und Interaktionsmitteln. Die Ethnomethodologen entwickelten dabei immer detailliertere Beobachtungsmethoden und machten immer mehr auch von moderner Aufzeichnungstechnik, Tonband- bzw. Videoaufnahmen, zur Verfeinerung ihrer Analysen gebrauch. 22 Vgl. u., Abschnitt 3.5.1. 23 Inwiefern Goffman und Garfinkel sich als Vertreter ein und derselben Forschungsrichtung verstanden, bleibt schwer rekonstruierbar. Gegenseitige Bezugnahmen in den Werken der beiden sind rar; vgl. dazu Widmer 1991. 24 Die Ethnomethodologen folgen implizit der Strategie Durkheims, elementare Formen von Interaktion aufzusuchen. Bei ihnen wird die Elementarität allerdings als räumlichzeitliche Nähe verstanden, während sie bei Durkheim in genealogischer oder evolutionärer Vorherigkeit behauptet wurde. Die mikrosoziologische Methodik ist damit empirisch valider, da sie nicht auf sekundäre Daten oder transzendentale Spekulationen angewiesen ist, sondern mit zeitnah generierten Daten aus erster Hand arbeiten kann. Eine kritische Übersicht zur Durkheim-Rezeption bei Goffman findet sich in Gerhardt 2004, beso. 59–62.

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Methodologische Grundlagen

Perfektioniert wurde die Interaktionsanalyse schliesslich in der sog. „Conver­ sation Analysis“ (CA).25 Die CA geht auf den amerikanischen Soziologen ­Harvey Sacks, der in den 1960er Jahren mit Garfinkel zusammenarbeitete, zurück. In detailgetreuen Beobachtungen von „natürlich“ ablaufenden Gesprächen sollten in ihr sprachliche Regeln, wie sie von den Sprechenden selbst während des Gesprächs gebildet werden, untersucht werden.26Die CA hat dabei wesentliche Prinzipien der Interaktionsforschung systematisiert, die auch für die vorliegende Studie zu Gottesdiensten relevant sind:27 1) Unterstellte Ordnung: Faktisch auftretende Interaktion wirkt auf einen Beobachtenden prima facie oft chaotisch und bedeutungslos. Demgegenüber geht die Interaktionsforschung davon aus, dass hinter aller faktischen Interaktion eine Logik bzw. eine Ordnung steht. Sacks prägte dafür die Formel: „There is order at all points“28. Obschon eine solche Ordnung stets nur eine

25 Einen Überblick über die Forschungsrichtung der CA bieten Goodwin und Heritage 1990. Emanuel Schegloff, einer der wichtigsten Vertreter der CA , bezeichnet seinen Forschungsgegenstand lapidar als „talk-in-interaction“; vgl. dazu Vetter 2009. Im deutschsprachigen Raum wird die CA meist als „Konversationsanalyse“ oder „Gesprächsforschung“ bezeichnet. Ausserdem arbeiten die sogenannte „Diskurs-“ oder „Gesprächsanalyse“ teilweise mit ähnlichen Methoden. Im Folgenden wird der angelsächsische Begriff verwendet, um die umstrittene deutsche Nomenklatur zu vermeiden. 26 Obschon die CA das Interesse Goffmans an der Analyse situationaler Interaktion teilte, grenzte sie sich zunehmend von seiner Konzeptualisierung und seiner Methodik ab. Für die CA war Goffmans an Durkheim angelehnte rituelle Konzeptionalisierung des Images („face“) von Teilnehmenden problematisch. Goffman erklärt viele interaktionale Verhaltensweisen damit, dass die an ihnen Teilnehmenden ihr face oder das face anderer aufrecht erhalten würden. Für ihn war Interaktion im Wesentlichen ein Ritual, das die Ehrerbietung gegenüber den an ihm beteiligten Individuen sicherte. Schegloff wandte dagegen ein, dass Goffman damit bestimmte Intentionen (nämlich die Wahrung des eigenen Images) bei den beteiligten Individuen voraussetze. Diese seien aber psychologische Realitäten, die aus den Beobachtungen empirisch nicht ersichtlich werden und nur in bestimmten kulturellen Kontexten Gültigkeit hätten; vgl. Schegloff 1988, 93–100. Als Erweis der Inadäquatheit dieser Vorannahmen führt Schegloff zahlreiche Passagen an, in welchen Goffman mit konstruierten, aber nicht tatsächlich stattfindenden Gesprächssituationen gearbeitet habe; vgl. ibid., 104–109. Die Kritik Schegloffs ist aber nur insofern zutreffend, als sie den mangelhaften (und konstruierten) Charakter von Goffmans empirischen Analysen offenlegt. Goffman selbst hat auf den kulturell begrenzten Geltungsanspruch seiner Studien hingewiesen; vgl. Goffman 1973b, 223 f. Ausserdem bezeichnet Schegloff den von Goffman eingeführten Ritualbegriff zu Unrecht als „psychologisch“. Die Pointe von Goffmans Ritualbegriff ist, wie etwa Randall Collins bemerkt, nicht psychologisch, sondern soziologisch: Das, was Individuen ausmacht, was sie über sich selbst wissen und wie sie sich fühlen und erleben, sei Goffman zufolge ein Produkt ihrer Teilnahme an Interaktionen; vgl. Collins 2005a, 4 f. 27 Vgl. Gülich und Mondada 2008, 17–19. 28 Sacks 1995, xlvi.

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Audio-visuelle Sozialforschung   

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Annäherung an die faktisch gültige Interaktionsordnung darstellt, bleibt sie das Ergebnis jeder Interaktionsanalyse. 2) Sequenzialität und Temporalität: Einzelne Elemente von Interaktion dürfen jeweils nur als Bestandteile in einer Abfolge und niemals als isolierte Gegenstände erklärt werden. Sie stehen nicht für sich alleine, sondern folgen auf vorhergehende Handlungen und leiten zu nachfolgenden Handlungen über. Somit wird die Ordnung in einer Interaktion immer durch eine zeitliche Abfolge von aufeinander bezogenen Einzelhandlungen – eine Sequenz – konstituiert. 3) Perspektive der Teilnehmenden: Obschon die Interaktionsanalyse mit einer gewissen Distanz zur Interaktion aus einer Beobachterperspektive erfolgt, sollen keine abstrakte Grundsätze oder Normen zur Deutung herangezogen werden. Die Ordnung wird von den Teilnehmenden an einer Situation in der Situation selbst hergestellt und muss vom Forschenden anhand seiner Aufzeichnung der Interaktion rekonstruiert werden. 4) Primat der Interaktion: Im Zentrum der Analyse stehen nie die einzelnen Beiträge von Teilnehmenden, sondern das Zusammenspiel verschiedener Einzelhandlungen in der Interaktion. Dies gilt sogar, wenn in einer sozialen Situation nur ein einzelner Akteur spricht bzw. handelt. Für so einen Fall – in reformierten Gottesdiensten ist er besonders häufig – muss untersucht werden, inwiefern die anderen, scheinbar tätigkeitslosen Teilnehmenden, den monologischen individuellen Beitrag einer Einzelperson durch ihre schweigende Aufmerksamkeit ko-konstruieren.

3.4

Audio-visuelle Sozialforschung

Da Interaktionsforschung auf detaillierte Beobachtungen von transitorischen Phänomenen angewiesen ist, hat sich in ihr seit den 1960er-Jahren der Einsatz von Tonband- und Videoaufnahmen durchgesetzt. Technische Aufnahmegeräte haben den Vorteil, dass sie den faktischen Ablauf von Interaktionen bis weit über die üblicherweise wahrnehmbaren Sinneseindrücke dokumentieren können. Ausserdem können sie beliebig oft und in unterschiedlicher Verlaufsgeschwindigkeit (verlangsamt oder verschnellert) abgespielt werden. Die Beobachtung einer faktisch ablaufenden Interaktion kann sich neben der Erfahrung und der Erinnerung des Forschenden und seinen Beobachtungsnotizen also auch auf die technische Dokumentation abstützen. Notizen und Transkripte können anhand der technischen Aufzeichnung immer weiter verfeinert werden. Zudem können Beobachtungen und Interpretationen jeweils in Interpretationssitzungen (sog. „data sessions“) im Austausch mit anderen Forschenden direkt an der Aufzeichnung verifiziert bzw. falsifiziert werden. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

100

Methodologische Grundlagen

Die Video-Interaktions-Analyse29 unterscheidet sich in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand von anderen Methoden der audio-visuellen Sozialforschung, wie die folgende Abbildung verdeutlichen soll (Abbildung 4). Forschungsrichtung

Gegenstand

Vertreter_innen30

Beispielstudien31

Filmanalyse

Medium „Film“ als ästhetisches Produkt

– Werner Faulstich – Helmut Korte

– Fischer und Hembus: Der Neue Deutsche Film – Thiele: „Kiss kiss bang bang“ (Romeo und Julia, USA 1996)

Hermeneutischsozialwissenschaftliche Videoanalyse

Medium „Video“ als Produkt einer sozialen Lebenswelt

– Jürgen Raab – Jo Reichertz – Ralf Bohnsack

– Raab: „Der schönste Tag des Lebens“ (Hochzeits-videos) – Wagner-Willi: Kinderrituale zwischen Vorderund Hinterbühne (Schulalltag)

Video-Inter­ aktions-Analyse bzw. videobasierte Interaktionsanalyse

Interaktion

– Mikro-/Inter­ aktionssoziologie: Hubert Knoblauch und Bernt ­ Schnettler – Techniksoziologie /  Workplace Studies: Christian Heath – Linguistik: Lorenza Mondada

– Schnettler und Knoblauch: PowerPoint Präsentationen – Mondada: OperationssaalInteraktion

Abbildung 4: Überblick über audio-visuelle Forschungsmethoden in der Sozialforschung32 29 Die Terminologie ist noch in Entwicklung, das zeigen die variierenden Bezeichnungen bei Knoblauch: „Videoanalyse“, „interpretative Videoanalyse“, „videobasierte Analyse“, „Videographie“, „Video-Interaktions-Analyse“; vgl. Knoblauch et al. 2009, Knoblauch et al. 2010, Knoblauch 2008, Knoblauch 2004 sowie Knoblauch 2000. In der vorliegenden Studie wird die Bezeichnung „Video-Interaktions-Analyse“ verwendet, um den Zusammenhang mit anderen Methoden der Interaktionsforschung zu verdeutlichen; vgl. Knoblauch 2004. 30 Bohnsack 2009, Faulstich 2008, Gülich und Mondada 2008, beso. Kap. 10, Heath et al. 2010, Knoblauch et al. 2009, Korte 2004, Mondada 2008, Raab 2008 sowie Reichertz 2011. 31 Ich beschränke mich auf deutschsprachige Literatur: Fischer und Hembus 1985, Thiele in Korte 2004, Mondada 2007, Schnettler und Knoblauch 2007, Raab 2002 sowie WagnerWilli 2005. 32 Die Unterteilung erfolgt hier anders als bei Reichertz oder Knoblauch nicht anhand der unterschiedlichen Produktionsumstände der Videos (dort: von Forschenden produzierte versus von Erforschten produzierte Videos), sondern durch die Herausarbeitung unterschiedlicher Forschungsgegenstände; vgl. Reichertz 2011, 8 f. sowie Schnettler und Knoblauch 2009, 278.

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Audio-visuelle Sozialforschung   

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Eine erste wesentliche Unterscheidung kann zwischen Film- und Videoanalyse getroffen werden. Ein Film ist ein Kunstprodukt, das durch aufwendige Produktionsleistungen hergestellt wird. Meistens werden in Filmen nicht „natürliche“, sondern von Schauspieler_innen dargestellte Handlungen dokumentiert.33 Dabei erfolgen nicht nur hinter der Kamera, sondern auch vor der Kamera Produktionsleistungen. Die wissenschaftliche Filmanalyse ist im Wesentlichen eine Subdisziplin der Medienanalyse, die allerdings auf unterschiedlichen Ebenen produktionsästhetische Überlegungen miteinbeziehen muss.34 Von ihr zu unterscheiden sind wissenschaftliche Methoden, die mit Videodaten arbeiten. Bei einem Video handelt es sich um ein Medium, das in der Regel ohne Produktionsabsichten, die über die Dokumentation einer bestimmten Interaktion hinausgehen, in einem „natürlichen“ Umfeld produziert wird. Dabei kann auch ein Videodreh bestimmte darstellende Absichten verfolgen. Gewisse Videos, namentlich Hochzeits-oder Ferienvideos, verfolgen auch einen ästhetischen Anspruch und haben eine eigene Bildsprache.35 Charakteristisch für Videos bleibt aber, dass sie eher dokumentarischen als darstellenden Charakter haben. M.a.W. gilt ihr Produktionsinteresse dem Festhalten des Geschehens vor der Kamera, nicht einem ästhetischen Prozess, der sich beim Betrachten ihrer Aufführung vollzieht. Eine zweite Unterscheidung ist zwischen hermeneutisch-sozialwissenschaftlicher Videoanalyse und Video-Interaktions-Analyse zu treffen. Bei der hermeneutisch-sozialwissenschaftlichen Videoanalyse geht es um die Rekonstruktion von Sinngehalten im Medium des Videos. Ein Video wird als Dokument dieser sozialen Lebenswelt analysiert. In ihm dokumentieren sich sowohl synchrone als auch sequenzielle Strukturen, die auch für die soziale Welt, der es entstammt, charakteristisch sind. Das Video bleibt dabei ein an sich analysierbares Medium, ähnlich wie der Film in der Filmanalyse. Allerdings wird die Produktionsleistung des Kameramannes oder der Kamerafrau als durch das Geschehen vor der Kamera ko-konstruierte Leistung verstanden. In den von Jo Reichertz und Jürgen Raab entwickelten Interpretationstechniken, wird das Video jeweils als Ganzes analysiert, wobei das durch die Kameraeinstellung jeweils Gezeigte erstens als in sich stimmiges Bild und zweitens als sinnvolle Bilderfolge interpretiert werden soll.36 Noch detaillierter geht Ralph Bohnsack vor: Er beginnt mit einer detaillierten Studie von Video-Standbildern, die ähnlich wie Kunstbilder 33 Sogar dort, wo bewusst natürliches oder alltägliches Geschehen dargestellt wird, wie etwa in den Filmen des britischen Regisseurs Mike Leigh; vgl. Flöter 2011. 34 Vgl. Faulstich 2008, 12 f.16 f. Faulstich unterscheidet zwischen der Produktions-, der Distributions- und der Rezeptionsanalyse in der Filmwissenschaft, wobei die Produktionsanalyse das Schwergewicht heutiger filmwissenschaftlicher Studien bildet. 35 Dazu vgl. Raab 2002. 36 Vgl. Reichertz 2011, 14–16.

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Methodologische Grundlagen

untersucht werden. Dabei soll gemäss Bohnsack die „Eigensinnigkeit“ der Bilder erkennbar werden, die alleine „unterhalb“ des „verstehenden Interpretierens“ analysiert werden kann.37 Mit Panofsky nimmt er an, das „vor-ikonographische“ Strukturen eines Bildes, etwa Anordnungen und Linien auf dem Bild, solche Tiefenstrukturen einer Lebenswelt erschliessen. Sie seien gemäss Bohnsack entscheidend bei der Analyse des im Bild dokumentierten sozialen „Habitus“ (Bourdieu38), dem „inkorporierten Wissen“, das den sozialen Akteuren selbst oft nicht bewusst ist.39 Erst anschliessend werden die Einzelbilder in der diachronen Bilderfolge und erst ganz zuletzt zusammen mit der Tonspur des Videos analysiert. Hierbei kommen, so die Annahme Bohnsacks, nach und nach auch „reflektive“ Strukturen der untersuchten Lebenswelt zum Vorschein. Die in der vorliegenden Studie angewandte Video-Interaktions-Analyse untersucht anders als die hermeneutisch-sozialwissenschaftlichen Methoden nicht das Videodokument per se, sondern eine empirisch gegebene Interaktion, die sich in ihm dokumentiert. Die Videoaufnahmen werden dabei als Instrument zur genaueren Dokumentation des empirischen Gegenstandes der Forschung verstanden. Das Video wird als ein detailliertes, perspektiviertes und auf a­ kustische und visuelle Modalität beschränktes Beobachtungsprotokoll verwendet. Schnettler und Knoblauch vergleichen seinen Einsatz daher auch mit einem Mikroskop.40 Auch in der Video-Interaktions-Analyse wird sozialer Sinn rekonstruiert; allerdings nicht derjenige des Videos, sondern derjenige, der im Prozess der beobachteten Interaktion hergestellt wird. Die Produktion des Videos in der Video-Interaktions-Analyse erfolgt meist durch die Forschenden selbst. Die Produktion wird zum Bestandteil des Forschungsgegenstandes, da sich die Kamera in der Interaktionssituation befindet und in gewissen Fällen sogar die Interaktion verändert. Solche Reaktanz oder Reaktivität auf die Kamera, das zeigten bisher erfolgte videobasierte Studien, beschränkt sich aber in der Regel auf wenige Sekunden. Langanhaltende Reaktanz kann meistens auf die Anwesenheit einer Person hinter der Kamera zurückgeführt werden und erfolgt als Interaktion mit dieser.41 37 Vgl. Bohnsack 2009, 32 f. Es wurde allerdings bestritten, ob das von Bohnsack vorgeschlagene Vorgehen dem tatsächlichen Prozess des Verstehens bei der Rezeption eines Videos entspricht; vgl. Hietzge 2010. 38 Vgl. Bourdieu 1979. 39 Vgl. Bohnsack 2009, 15. 40 Vgl. Schnettler und Knoblauch 2009, 275. 41 Vgl. Ibid., 277. So auch im grössten bisher durchgeführten Forschungsprojekt, das mit Video-Interaktions-Analyse durchgeführt wurde: Schnettler und Knoblauch 2007. Anders berichtet Matthias Grünewald aus der videobasierten Ausbildung von Pfarrpersonen: „die Kamera ist direkt oder indirekt Interaktionspartnerin. Sie wird als Bewertungs- und Kontrollinstanz adressiert. […] Mehrheitlich wird sie im Laufe des Gottesdienstes vergessen, selten wird sie ganz ignoriert.“ Walti und Grünewald 2012, 97.

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Kontextuelle Einbettung der Videodaten   

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In der Video-Interaktions-Analyse wird die Analyse durch das Erstellen eines Transkriptes begleitet. Das Transkript selbst ist nicht Gegenstand der Analyse, sondern lediglich ein Mittel, um die Analyse zu strukturieren und das Videomaterial  – vorläufig –  zu kodieren.42 Da eine Videoaufnahme nicht als Ganze verschriftlicht werden kann, weil auf ihr zu viele Aspekte der Interaktion zugleich dokumentiert sind, beschränkt sich das Transkript in der Regel auf einige für die Fragestellung relevante Modalitäten der Wahrnehmung (Gesprochenes, Gestik, Mimik, Wege im Raum, etc.). In einigen Studien führte die Komplexität des Zusammenwirkens unterschiedlicher Modalitäten der Kommunikation zur Entwicklung von Transkriptions-Partituren, die jeweils eine Spalte pro Modalität aufführten.43 Solche Partituren sind wegen ihrer komplexen Darstellung aber nur mit erheblichem Aufwand lesbar. In der vorliegenden Studie wird die Verschriftlichung daher auf Verbaltranskripte beschränkt, die sich an den GAT-Transkriptionsregeln44 orientieren. In diese Transkripte wurden ausgewählte Modalitäten wie etwa die Orientierung des Blickes oder bestimmte Gesten mit jeweils definierten Zeichen eingefügt. Mithilfe der Transkriptionssoftware Transana45 konnten zudem Zeitmarken auf das Transkript bzw. die Notizen gesetzt werden. Dieses konnte jeweils zusammen mit der Videoaufnahme detaillierter kodiert werden. Zusätzlich wurden die Transkripte bei mehrheitlich nonverbalen Sequenzen durch Beobachtungsnotizen und Standbilder der Videoaufnahmen ergänzt (im Fliesstext in 10pt-Schrift wiedergegeben).

3.5

Kontextuelle Einbettung der Videodaten

Da die Video-Interaktions-Analyse ihren Gegenstand in einer faktisch ablaufenden Interaktion und nicht alleine im Video-Dokument derselben hat, muss der Kontext der Videoaufnahme sowie die Rolle des Forschenden bei der Produktion des Videos ebenfalls dokumentiert und reflektiert werden. Videobasierte Forschung erfolgt grundsätzlich in einer selbstreflektierten, ethnographischen Haltung.

42 Vgl. Schnettler und Knoblauch 2009, 280 f. 43 Exemplarisch dafür Bergman et al. 1993. Eine etwas übersichtlichere Partitur findet sich in: Schnettler 2001. 44 Selting und Auer 1998; vgl. o. Abschnitt 1.4. 45 Eine Dokumentation zur Software findet sich bei WCER 2014.

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3.5.1

Methodologische Grundlagen

Fokussierte Ethnographie (H. Knoblauch)

Bei der Interaktionsanalyse werden kleinräumige und transitorische Phänomene und nicht grössere Milieus oder gar ganze Gesellschaften erforscht. Hubert Knoblauch hat diese, auf kleinräumige soziale Interaktionen bezogene Form der Ethnographie als „fokussierte Ethnographie“ bezeichnet.46 Der Fokus auf die elementaren Bestandteile der Gesellschaft steht dabei in der Tradition der Mikrosoziologie.47 Das Vorgehen der Fokussierten Ethnographie ist dennoch mit demjenigen der klassischen Ethnographie vergleichbar: Eine Interaktion wird durch die Beobachtungen einer Forscher_in, die an ihr zugleich teilnimmt, zum Forschungsgegenstand. Dies ist für die Teilnehmenden an derselben Interaktion unnatürlich, insofern sie diese weitgehend als selbstverständlich erleben. Durch das gezielte Einnehmen der Beobachterrolle wird eine Interaktion einem Beobachtenden fremd. Aber auch die Anwesenheit eines Beobachtenden in einer Situation, die normalerweise nur Teilnehmende hat, bleibt für diese Situation nicht wirkungslos. Dies ist sogar dann gegeben, wenn die Forscher_in ebenso Teilnehmer_in sein könnte bzw. zuvor schon einmal Teilnehmer_in der beobachteten Situation war. Es entsteht eine ähnliche Situation, wie wenn der Beobachtende eine ihm fremde Gesellschaft besuchen würde.48

3.5.2

Sozialtopographie und Interaktionsarchitektur

Besondere Aufmerksamkeit erfordert der Raum, in welchem die zu beobachtenden Interaktionen ausgeführt werden. Die interaktionsanalytische Perspektive beschränkt sich dabei auf den Zusammenhang zwischen der möglichen oder tatsächlich stattfindenden Interaktion und den architektonischen Gegebenheiten. Die Interaktionsanalytiker Hausendorf und Schmitt haben jüngst für Raumanalysen die Unterscheidung zwischen Interaktionsarchitektur und Sozialtopographie vorgeschlagen.49 Bei der Beschreibung der Interaktionsarchitektur eines 46 Vgl. Knoblauch 2001b. Knoblauch hat darauf hingewiesen, dass er mit dieser Bezeichnung keine neue Forschungsrichtung begründet, sondern einen Sammelbegriff für eine gängige Forschungspraxis schafft; vgl. ibid., 125. 47 Die Grundannahme der „Mikrosoziologie“ ist genau dies: Soziale Bindungen werden nirgendwo sonst als in kleinräumigen Situationen geschaffen und erhalten. Ihre Bedeutung ist also kaum zu unterschätzen; vgl. o., 41, Anm. 4. 48 Ein Umstand der von Hirschauer et al. als „Befremdung in der eigenen Kultur“ beschrieben wurde; vgl. Amann und Hirschauer 1997. 49 S. Hausendorf und Schmitt 2013. Es ist wiederum erstaunlich, dass die Nutzung eines evangelischen Kirchenraumes durch einen speziellen Gottesdienst im Zentrum der Ana-

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Kontextuelle Einbettung der Videodaten   

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bestimmten Raumes wird ein bestimmter Raum inklusive vorhandene Möblierung auf die in ihm möglichen und präferierten Verhaltensweisen hin untersucht. So präferiert etwa die Ausrichtung der Kirchenbänke eine bestimmte Sitz- und Blickrichtung bei den Teilnehmenden, welche wiederum den sogenannten Chorraum als Fokus der Interaktion für die Teilnehmenden nahelegt. Die Sozialtopographie hingegen untersucht die tatsächliche interaktionale Nutzung eines Raumes durch Teilnehmende. Sie zeigt, wie in einem bestimmten Kontext einer Kirchgemeinde mit den in der Interaktionsarchitektur erarbeiteten Voraussetzungen umgegangen wird. So kann das Sitzen in den Kirchenbänken beispielsweise durch eine zur Seite ausgerichtete Sitzhaltung anders als im Sinne der Interaktionsarchitektur interpretiert werden. Verschiedene Personen und Kollektive entwickeln somit unterschiedliche Lesarten eines bestimmten Raumes.50 In den folgenden Analysen wird von der Sozialtopographie ausgegangen und der Raum so thematisiert, wie er innerhalb der Gottesdienstinteraktion von den Teilnehmenden gelesen wird.51 Dabei spielt der Rückgriff auf die Analyse der Interaktionsarchitektur aber immer dann eine Rolle, wenn sie die Normalform der Benützung des Kirchenraumes und seiner Möblierung erschliesst.52 Die tatsächliche Benützung des Raumes wird aufgrund der Interaktionsarchitektur erst als eine Möglichkeit unter anderen erkennbar. Die Videoaufnahmen dokumentieren die Architektur des Raumes jedoch nur perspektivisch eingeschränkt. Deshalb wird die Interaktionsarchitektur anhand von Raumplänen, die von den Gemeinden zur Verfügung gestellt wurden, wie auch anhand von Feldskizzen des Forschenden rekonstruiert. Besonders spannend wurde die Analyse des Raumes dort, wo der Umgang mit dem Mobiliar selbst als sozialtopographischer Eingriff in die Interaktions­ architektur des Raumes erfolgte, der zu einer neuen interaktionsarchitektonischen Ausgangslage führte. So wurde etwa für den Konfirmationsgottesdienst Anis-G eigens eine Bühnenkonstruktion in den Chorraum gestellt, die den dort zentral aufgestellten Taufstein nahezu unsichtbar machte (s. Abbildung 5). Insofern besteht im reformierten Feld eine Wechselwirkung zwischen Interaktionsarchitektur und Sozialtopographie, die durch eine Überlagerung verschiedener Gestaltungsphasen – den Bau, die Möblierung, die ad hoc-Gestaltung – zustande kommt.53

50 51 52 53

lysen dieser Interaktionslinguisten standen; vgl. auch die jüngst erschienene Studie Hausendorf und Schmitt 2014. Vgl. ibid., 17 f. Diese Entscheidung ergibt sich aus dem in der Interaktionsanalyse geltenden grundsätzlichen Primat der tatsächlich vollzogenen Interaktion. Vgl. Hausendorf und Schmitt 2013, 16. Vgl. ibid., 43 f.

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Methodologische Grundlagen

Abbildung 5: Bauliche Veränderungen im Gottesdienstraum und die Wegstrecke der Pfarrperson in Anis-G

3.5.3

Feldzugang und Forschungsethik

Zur ethnographischen Haltung der Video-Interaktionsanalyse gehört auch ein dokumentierter Feldzugang. Im zu untersuchenden Feld werden Gottesdienste meistens durch Kirchgemeinden, konkret durch einzelne Pfarrpersonen oder ein Vorbereitungsteam geplant und durchgeführt. Am Anfang der Datenerhebung steht daher der Kontakt zu einer solchen Schlüsselperson (einem „gate keeper“ oder „key participant“), welche die Zugangsrechte sowie die Rechte zur Videoaufnahme am ehesten gewähren kann.54 Da bereits in der Art und Weise der Kontaktaufnahme etwas über das Selbstverständnis der Forscher_in und ihre möglichen Absichten ausgesagt wird, muss die Kontaktaufnahme möglichst detailliert dokumentiert und im Laufe des Feldaufenthaltes sowie im Anschluss bei der Datenanalyse stets wieder für Aussagen mitberücksichtigt werden. Besonders wichtig ist ein methodisch kontrollierter Feldzugang für die Forschungsethik. Für sozialwissenschaftliche Forschung gilt grundsätzlich die Regel des „informed consent“, des informierten Einverständnisses aller Beteiligten.55 54 Vgl. Lamnek 2005, 605 f. sowie O’Reilly 2008, 45 f. 55 Vgl. Schnettler und Knoblauch 2009, 279. Die vorliegende Studie folgt somit den forschungsethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften; vgl. Bergmann et al. 2011.

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Kontextuelle Einbettung der Videodaten   

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Der „informed consent“ bei Videoaufnahmen ist besonders wichtig, da sich Menschen auf ihnen auch durch Äusserungen exponieren, die sie selbst kaum kontrollieren können. Problematischerweise war im Feld der vorliegenden Studie die Unterzeichnung einer schriftlichen Einverständniserklärung mit allen Gottesdienstteilnehmenden nicht zu bewerkstelligen. Daher wurden eine gestufte Absicherung des Einverständnisses sowie für eine Reihe von Anonymisierungsmassnahmen in der Analyse und der Veröffentlichung der Ergebnisse eingerichtet.56 Die jeweiligen Kirchgemeinden wurden vor der ersten Aufnahme angeschrieben. Ihnen wurde eine schriftliche Vereinbarung vorgelegt, die sie als für die Veranstaltung verantwortliches Gremium unterzeichnen konnten.57 Aus pragmatischen Gründen beschränkte sich der „informed consent“ in meiner Studie für die meisten Teilnehmenden in der Kenntnisnahme eines Einspracherechts. Von diesem wurde allerdings von keinem Teilnehmenden Gebrauch gemacht. Während den Erhebungsvorgängen wurden keine Anfragen an die weitere Verwendung des Materials gestellt. In der gesamten Korrespondenz gab es nur eine durch Teilnehmende initiierte Einschränkung der Datenerhebung: Die im Rahmen von Testaufnahmen erfolgte Anfrage für eine Aufnahme mit zwei Kameras (eine von hinten auf den Chorraum und eine von vorne auf die Kirchenbänke gerichtet) wurde von einer verantwortlichen Pfarrperson vehement abgelehnt.58 Dies führte zur Beschränkung aller weiteren Aufnahmen auf eine Kameraeinstellung von hinten. 56 Ein ähnliches Vorgehen schlägt Heath in seinem Methodenlehrbuch zur Videoanalyse für „halböffentliche“ Räume wie etwa Museumsräume vor; vgl. Heath et al. 2010, 24 f. Da die Gottesdiensträume der Landeskirchen nicht Privaträume sind, in ihnen aber teilweise intime Handlungen ausgeführt werden (vor allem die Bekundung von Religiosität durch Gebete), schliesse ich mich in meiner Studie seinem Vorgehen an. 57 Die Vereinbarung beinhaltete die Regelungen, dass (a) das Einverständnis über die Aufnahme im Vorfeld des Gottesdienstes (mindestens eine Woche vor dem Gottesdienst) mit der zuständigen Pfarrperson geklärt wurde; (b) dass im Gottesdienst jeweils zu Beginn angekündigt werden konnte (was allerdings nicht überall wahrgenommen wurde), dass Videoaufnahmen stattfinden; (c)  dass am Eingang des Gottesdienstraumes ein gut lesbarer schriftlicher Hinweis auf die Videoaufnahme angebracht wurde; (d)  dass alle aufgezeichneten Namen (inklusive Ortsnamen) in Transkriptionen und Veröffentlichungen anonymisiert werden; (e) dass Aufnahmen nur aus dem hinteren Bereich der Kirche gemacht werden (und so die Gesichter der meisten Teilnehmenden unsichtbar bleiben); (f) dass auf Standbildern gezeigte Gesichter für Veröffentlichungen anonymisiert werden; sowie (g) dass alle Veröffentlichungen zur Studie den beteiligten Kirchgemeinderäten mit einem Einspracherecht einen Monat vor Veröffentlichung vorgelegt werden. 58 Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass Videoaufnahmen für das Feld keine bedeutungslose Handlung darstellen. Sofern Aufnahmen innerhalb des Gesichtsfeldes der Teilnehmenden stattfinden, werden sie als problematisch erlebt. Dies belegt auch eine Begebenheit aus einer explorativen Vorstudie: Dort wurde von einem Pfarrer einer Gemeinde, welche die Teilnahme an der Studie absagte, argumentiert, man hätte für Hoch-

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3.5.4

Methodologische Grundlagen

Videobasierte Interviews mit Teilnehmenden

Darüber hinaus war es hilfreich, Gottesdienstteilnehmende zu ihrer Deutung der Situation in Interviews zu befragen.59 Solche „ethnographische Interviews“ dienen einerseits dazu vertiefte Kenntnisse über das Feld (den spezifischen Gottesdienstraum, seine Geschichte, die Gemeinde und ihre vergangenen oder aktuellen Problemlagen) zu gewinnen. Andererseits können sie zusätzliches Wissen über die Interaktionsordnung der Gottesdienste offenlegen. Die in einer solchen „Video-Elizitation“ gewonnenen Erkenntnisse unterliegen allerdings auch bestimmten Einschränkungen: Teilnehmende können das Geschehen in einer Interaktion nicht vollständig verbalisieren. Das Erleben des Vollzuges lässt sich oft kaum in Worte fassen.60 Die Rekonstruktion der Interaktion als Ganze bleibt daher eine Leistung, die aus der Distanz, d. h. durch Nicht-Teilnehmende geleistet werden muss.61 Daher werden Inhalte dieser Interviews in der vorliegenden Studie nur beiläufig zur Interpretation herangezogen.

3.5.5

Positionierung der Kamera

Die Kamera war im hinteren Bereich des Gottesdienstraumes positioniert und nach vorne ausgerichtet. Dabei wurde vorne im Gottesdienstraum durch den sog. Chorraum definiert, in welchem sich in der Regel ein Taufbecken, ein Lesepult und – meistens seitlich und erhöht – eine Kanzel befindet. Die Sitzgelegenheiten im Gottesdienstraum sind in den meisten Fällen auf diesen Raum zeiten und Taufen nach negativen Erfahrungen per Kirchgemeinderatsbeschluss ein Verbot für Fotographien und Videoaufnahmen während des Gottesdienstes erlassen. Dieses könnte nicht aufrecht erhalten werden, wenn die Gemeinde an der Studie teilnähme. 59 Zur Methodologie von Foto- bzw. Video-Elizitation vgl. Harper 2002 sowie Sayre 2006. „Video-Elizitation“ bzw. „videobased recall“ war auch ein wesentlicher Bestandteil der qualitativen Interviews in der Studie zu Familienritualen von Christoph Morgenthaler und seinen Mitarbeitenden; publiziert in Morgenthaler 2008, Morgenthaler und Hauri 2010 sowie Morgenthaler 2010. 60 Bei Video-Elizitation gilt ebenso wie bei anderen phänomenbezogenen Interviewtechniken das Problem, dass rituelle Praxis oft nur vage verbalisiert werden kann. So meint etwa G ­ rimes: „Interviewers frequently try to elicit what we might call a ‚narrative of feeling.‘ The results are typically not very informative because the responses are vague; the lexicon of emotions is small.“ G ­ rimes 1990, 43. Denn G ­ rimes geht davon aus, dass rituelles Wissen weitgehend nicht verbal vorhanden ist: „much ritual knowledge, and thus much ritual criticism, is tacit: it exists in the doing and is not explicitly articulated.“ (Ibid., 34) 61 Lamnek beschreibt die Verhandlung von Involviertheit und Distanz als klassisches Dilemma bei „teilnehmender Beobachtung“; vgl. Lamnek 2005, 622–630.

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Sampling   

hin ausgerichtet. Zwischen diesem Raum und den Kirchenbänken hinten spielen sich die wesentlichen Interaktionen des Gottesdienstes ab. Da die Erhebung mit einer High-Definition-Kamera62 erfolgte, die auch weiter entfernte Handlungen gut sichtbar dokumentieren kann, wurde jeweils versucht den Fokus so einzustellen, so dass der gesamte Bereich vorne auf der Aufnahme sichtbar war. Der Bereich hinten (die Kirchenbänke) waren so zumindest auch teilweise auf der Aufnahme dokumentiert. In einigen Gottesdiensträumen wäre eine Aufnahme von einer Empore möglich gewesen. So ist es in der liturgischen Praxisreflexion bei der Aus- und Weiterbildung von Pfarrpersonen seit Jahren üblich.63 Auf einer solchen Aufnahme wird aber nur schlecht nachvollziehbar, wie sich die Interaktion der Pfarrperson mit den Teilnehmenden auf Augenhöhe gestaltet. Insbesondere ist jeweils nicht erkennbar, welche Handlungen für alle Teilnehmenden sichtbar sind und welche nicht. Die Kamera wurde deshalb ebenerdig und seitlich im Raum aufgestellt. Die Höhe des Stativs betrug ca. 150cm über dem Boden.

3.6 Sampling In der vorliegenden Studie stellt je ein faktisch stattfindender reformierter Gottesdienst einen Fall dar. Die Rekonstruktion der Interaktionsordnung eines Interaktionsgenres ist aber nur dann erfolgreich, wenn eine Herausarbeitung der typischen Gattungsmerkmale dieser Interaktion möglich wird. Dazu musste eine sinnvolle Auswahl (das Sample) an faktisch stattfindenden Gottesdiensten ins Analysekorpus aufgenommen werden. Diese Auswahl erfolgte durch bestimmte Annahmen über Faktoren geleitet, welche hypothetisch die Interaktion im Gottesdienst beeinflussen könnten. Wenn die Interaktionsordnung des reformierten Gottesdienstes stabile Grundmerkmale aufweisen soll, muss sie Sachverhalte umfassen, die innerhalb des gewählten Samples kontextunabhängig sind. Es gilt daher das Sample so zu definieren, dass der Einfluss kontextueller Faktoren widerlegt werden kann bzw. diejenigen Grundmerkmale der reformierten Interaktionsordnung erkennbar werden, welche nicht kontextabhängig sind.

62 Ich verwendete bei allen Aufnahmen eine Sony HDR-CX500E Kamera, die in sehr hoher Auflösung Aufnahmen machen konnte. 63 Vgl. Plüss und Grünewald 2008, 57.

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3.6.1

Methodologische Grundlagen

Fokusgemeinde als Ausgangspunkt

In einer ersten Forschungsphase wurde die sonntägliche Gottesdienstpraxis in einer Agglomerationsgemeinde, die hauptsächlich einen Gottesdienstraum nützt, zum Feld der Untersuchung gemacht. Diese Gemeinde wird im Folgenden Aniswil* genannt. Die Beschränkung auf „Sonntagsgottesdienste“ ergab bereits in der Fokusgemeinde eine Schwierigkeit: Im Gottesdienstplan stellten Gottesdienste ohne Zielgruppenbezug oder Verknüpfung mit einem Festanlass oder einem Festzyklus (Passionszeit oder Adventszeit) eine Minderheit dar. Auf 52 Sonntage besehen erfüllten im Gottesdienstplan Januar 2011 bis Januar 2012 gerade einmal 21 Gottesdienste diese Vorgabe. Die beiden Beschränkungen könnte also nicht einmal die Hälfte aller Gottesdienste am Sonntag erfassen und würden somit nicht mehr die gewöhnliche Gottesdienstsituation abbilden. Diese Beschränkungen wurde daher aufgehoben und einige Zielgruppen und Festgottesdienste wurden ins Sample aufgenommen.

3.6.2

Erweiterung des Samples geleitet durch Pfarrpersönlichkeit, Region und Kasus

In der Literatur über landeskirchliche Gottesdienste, werden folgende Faktoren genannt, welche die Interaktionsordnung beeinflussen könnten: die spezifische Persönlichkeit oder Individualität der Pfarrperson, die Region, in welcher der Gottesdienst stattfindet (Agglomeration oder Land) sowie den Anlass des Gottesdienstes (seinen Kasus).64 Durch eine gezielte Auswahl von weiteren Feldgemeinden wurde versucht, diese Faktoren mitzuberücksichtigen. Mit dem ersten Faktor verbindet sich die Hypothese, dass es einen Zusammenhang zwischen den persönlichen Gestaltungsleistungen der gottesdienstleitenden Pfarrperson und der Interaktionsordnung eines Gottesdienstes gebe. Pfarrer_innen, so eine landläufige Meinung, beeinflussten die Interaktion in einem Gottesdienst durch ihr persönliches Auftreten. Ausschlaggebend könnten dabei die persönlichen theologischen bzw. ästhetischen Überzeugungen sowie biographisches Erfahrungswissen sein.65 Zur Überprüfung der Personalisierungshypothese wurde mit der Fokusgemeinde Aniswil* ein Ort ausgewählt, in welchem derselbe Gottesdienstraum von sieben verschiedenen Pfarrperso­ nen regelmässig bespielt wird. In der Fokusgemeinde wurden sieben Gottes64 Ich beschränke mich hier auf diese Faktoren im Wissen darum, dass weiter auch das Geschlecht der Pfarrperson und der Teilnehmenden oder auch das Milieu der Teilnehmenden als Faktor angesehen werden könnten. 65 Vgl. Stolz und Ballif 2010, 78.

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Sampling   

dienstaufnahmen durchgeführt, wobei eine Pfarrperson zweimal aufgenommen wurde und eine Pfarrperson auf ihren Wunsch nicht zum Zuge kam. Hier wurde – wie im restlichen Sample – darauf geachtet, dass ähnlich viele Frauen wie Pfarrer_innen ausgewählt wurden (von den insgesamt 11 Protagonist_innen im Sample waren fünf Männer und sechs Frauen). Gemäss dem zweiten Faktor besteht ein Zusammenhang zwischen der regionalen Situierung der Kirchgemeinde und der Interaktion in einem Gottesdienst. Gottesdienste auf dem Land hätten folglich eine andere Interaktionsordnung als Gottesdienste in agglomerationalen Räumen oder in der Stadt. Der Grund dafür könnte z. B. in den unterschiedlichen religionssoziologischen Ausgangslagen von Land- und Stadträumen in der Schweiz gesucht werden.66 Zur Überprüfung dieser Regionalisierungshypothese wurden neben der Fokusgemeinde Aniswil* drei weitere Gemeinden ausgewählt, in denen in einer zweiten Forschungsphase jeweils zwei Gottesdienste videographiert wurden. Unter den ausgewählten Gemeinden befindet sich mit Burgnellen* eine weitere Agglomerations-gemeinde mit mehreren Pfarrpersonen, von denen allerdings nur eine an der Studie teilnahm. Zusätzlich wurden mit Chiemtigen* und Dimels* zwei Landgemeinden mit einem Einzelpfarramt ausgewählt, wobei sich Chiemtigen* im ruralen Schweizer Mittelland, Dimels* hingegen in einem Gebirgstal befand. Mit dem dritten Faktor verbindet sich die Hypothese, dass die Interaktion in Gottesdiensten von ihren Anlässen abhinge. Es mache einen Unterschied für die Gestaltung, ob ein Gottesdienst zum Thema „Erntedank“ oder zum Anlass einer Taufe durchgeführt werde. Diese Kasualisierungshypothese sieht das Gottesdienstgeschehen somit stärker funktional auf bestimmte Ereignisse biographischer, jahreszeitlicher oder kultureller Natur bezogen. Sie steht – provokativ – im Widerspruch zur normativen Vorstellung, dass es sich bei Sonntagsgottesdiensten um eine zentrale Veranstaltung für die christlichen Religionsgemeinschaften handelt, die für diese Gemeinschaften per se konstitutiv sei.67 Zur Überprüfung der Kasualisierungshypothese wurde mit der Periode von März bis Mai für die Fokusgemeinde eine Zeit im Kirchenjahr bestimmt, die durch den Wechsel von einer klassischerweise nicht-kasuellen Zeit (die Zeit zwischen Neujahr und Passionszeit) zu einer kasuelle Zeit (den Osterzyklus) geprägt war. Ausserdem wurde eine Aufnahme in einem Konfirmationsgottesdienst durchgeführt, da bei diesem eine überdurchschnittlich grosse Teilnehmerschaft zu erwarten war.68

66 Vgl. Stolz et al. 2012, 15. 67 Dies wird mitunter auch als notwendige bzw. begrüssenswerte Entwicklung gefordert; vgl. Gräb 2008. 68 Vgl. Fechtner 2003, 19–28.

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Methodologische Grundlagen

3.6.3 Kontrastfelder Das obige Sample von Sonntagsgottesdiensten aus landeskirchlichen Feldgemeinden impliziert, dass der liturgische Stil von reformierten Gottesdiensten etwas mit der konfessionellen Charakteristik seiner Trägerschaft zu tun habe und somit auch ein konfessionelles Profil aufweise. Um den reformierten Gottesdienst als rituelles Genre im Unterschied zu Gottesdiensten anderer Konfession darzustellen, wurden je zwei Gottesdienste aus zwei Kirchgemeinden römisch-katholischer Konfession und evangelikal-charismatischer69 Prägung als Kontrastfelder ins Sample aufgenommen. Die römisch-katholischen Gottesdienste gelten gemeinhin als stärker normativ determiniert als die reformierten, insbesondere da normative Lesetexte und Ausführungsanweisungen vorhanden sind. Ansonsten sind römisch-katholische Gemeinschaften von einer ähnlich verlaufenden demographischen Entwicklung betroffen wie die reformierten Gemeinschaften. Anbetungsgottesdienste haben demgegenüber eine andere rituelle Struktur: Ihre zentrale Rituale sind durchschnittlich länger als diejenigen aller anderen westlichen Kirchen70 und bestehen aus zahlreichen Ritualisierungen, die nicht dem traditionellen Bestand angehören – insbesondere verschiedenste Formen des Gebets.71 Die Daten der Kontrastfelder wurden in einer dritten Phase etwa ein Jahr nach den ersten beiden Phasen erhoben.

3.6.4

Makrosequenzialität des gesamten Gottesdienstes

Zusätzlich zu den Feinanalysen in kurzen Sequenzen wurde für jeden Gottesdienst ein grobes Logbuch erstellt, in welchem verschiedene Bestandteile des Gottesdienstes in ihrer Reihenfolge und mit ihrer jeweiligen Dauer festgehalten wurden. Eine Übersicht über diese Makrosequenzen der Gottesdienstaufnahmen diente der Diskussion der Dramaturgie bzw. der unterschiedlichen Gewichtung ritueller Phasen der untersuchten Gottesdienste.72

69 Ich unterscheide in der „evangelikalen“ Gottesdienstkultur im Anschluss an Jörg Stolz zwischen „evangelisch-klassischen“ und „evangelisch-charismatischen“ Gottesdiensten; vgl. Stolz et al. 2012. Evangelisch-klassische Gottesdienste zeichnen sich durch einen starken Bibelbezug und eher moderate emotionale Äusserungsformen aus. Demgegenüber sind evangelisch-charismatische Gottesdienste durch starken Erfahrungsbezug und zahlreiche ritualisierte Gebetsformen sowie moderne Musik geprägt. 70 Vgl. ibid., 26. 71 Vgl. Albrecht 1999, beso. 171–176. 72 Für Knoblauch und Schnettler steht ein sog. „Logbuch“ mit einer groben Auflistung der Sequenz am Beginn der Analyse; vgl. Schnettler und Knoblauch 2009, 280. Auch in meinem Fall habe ich diese Grobkodierung vor der Feinanalyse der Eingangsphasen vor-

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Sampling   

3.6.5

Auswahl der Sequenzen für die Feinanalysen

Die Aufnahmen wurden jeweils mindestens fünf Minuten vor dem Einsetzen der Eingangsmusik gestartet und frühestens fünf Minuten nach Ende der Ausgangsmusik beendet. Pro Fall ergab dies eine Videolänge von 41 Minuten bis zu 2 Stunden 20 Minuten. Für die Interaktionsanalyse eignen sich aber Sequenzen von wenigen Sekunden bis ca. 90 Sekunden.73 Es musste also eine sinnvolle Auswahl von Sequenzen für eine detaillierte Interaktionsanalyse gefunden werden. Dabei wurde nach einem Trichterverfahren vorgegangen, so dass kürzere Sequenzen ausgewählt wurden, aus denen dann wiederum kürzere Sequenzen in der Feinanalyse behandelt werden konnten. Aufgrund der Fragestellung waren vor allem Übergänge zwischen unterschiedlichen Gottesdienstteilen von Interesse. In einem ersten Auswahlschritt wurde die Analyse daher auf die Eingangsphase der Gottesdienste, die ersten 10–20 Minuten des Videomaterials, beschränkt. Diese Eingangsphase der Gottesdienste zeichnet sich durch die zeitliche Nähe und Abfolge unterschiedlicher Interaktionsgattungen aus: auf ein einleitendes Musikstück folgt eine Ansprache durch P, ein Gebet, eine Bibellesung manchmals sogar ein Psalmgebet in Wechsellesung. Der Unterschied zwischen unterschiedlichen Ausprägungen von Ritualität sowie zwischen nicht-religiöser und religiöser Ritualität treten bei diesen häufigen Wechseln am ehesten zu Tage. Die Eingangsphasen sind ausserdem dazu da, den Fokus der gesamten Veranstaltung zu versammeln und ihren Rahmen zu eröffnen. Schliesslich erscheinen in der Eingangsphase unterschiedliche liturgische Protagonist_innen: die Pfarrperson, aber auch die Musiker_innen (im Eingangsspiel) oder allenfalls Lektor_innen (in der Lesung). Als Beginn dieser Eingangsphase wurde der erste Ton der Eingangsmusik definiert. Die Phase endet mit der Ansage des Liedes vor der Predigt bzw. mit dem Beginn der Predigt selbst. Nach einer ersten Sichtung der Aufnahme und einer groben Transkription der Sprechpassagen sowie Anfertigung von Beobachtungsnotizen wurden charakteristische Elemente der Gottesdienstinteraktion ausgemacht. Anhand dieser Elemente wurden anschliessend in den Eingangsphasen wiederum einige Teilsequenzen für die Feinanalyse ausgewählt.

genommen, um die Eingangsphasen überhaupt aus dem Rest des Gottesdienstes heraus definieren zu können. 73 Schnettler und Knoblauch weisen darauf hin, dass videobasierte Forschung „feldintensiv“ und „datenextensiv“ sei, d. h., das im Feld bereits nach kurzen Aufenthalten eine grosse Datenmenge produziert wird. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, müssen daher möglichst kurze Sequenzen möglichst detaillierter Analysearbeit ausgesetzt werden; vgl. ibid., 278 f.

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Methodologische Grundlagen

3.6.6 Analyseeinheiten Im Anschluss an die Terminologie von Sacks et al. wurden turn-constructional units (TCU) als kleinste Einheit der Analyse in den Feinanalysen definiert.74 Es handelt sich dabei um einen Redebeitrag eines an einem Gespräch Teilnehmenden; vom Zeitpunkt, bei welchem er das Wort ergreift, bis zum Zeitpunkt, bei welchem ein anderer Teilnehmender erstmals den turn von ihm übernehmen kann, einem sogenannten transition relevance place (TRP).75 Zur Illustration mag ein Beispiel für eine sehr banale Sequenz aus einem frei erfundenen Gespräch dienen: Andrea: Wie geht’s? Bernd: Gut, danke. Die TCU stellen hier die jeweiligen Redebeiträge dar, für Andrea z. B. ist „Wie geht’s?“ eine TCU. Der TRP befindet sich hier am Ende dieser ersten TCU nach dem Fragezeichen.

Eine TCU kann unterschiedliche Formen und Längen annehmen. Sie können aus einer Äusserung, einem einzigen Wort, ganzen Sätzen oder längeren Redebeiträgen bestehen. TCUs haben in der Regel eine regelgemässe Verlaufsstruktur, sodass, während sie von einem Teilnehmenden ausgesprochen werden, andere Teilnehmende den nächsten TRP antizipieren können.76 Dies ist besonders wichtig dafür, dass das Gespräch einen reibungslosen Verlauf annehmen kann. Sacks et al. sprechen davon, dass Redebeiträge in einem Gespräch ein „recipient design“ aufweisen; d. h. sie sind so gestaltet, dass sie von den anderen Teil­ nehmenden als Beiträge verstanden werden und eine Reaktion von ihnen auf den Beitrag möglich sein kann.77 Am deutlichsten ist dies bei sogenannten „adjacency pairs“78, bei denen eine erste TCU, der sogenannte „first pair-part“ (im obigen Beispiel: „Wie geht’s?“), einen „second pair-part“ (im obigen Beispiel „Gut, danke.“) implizieren. Verschiedene Forschende haben unterdessen nach-

74 Vgl. Sacks et al. 1974. 75 Vgl. ibid., 702 f. Für die von Sacks et. al. entwickelten Begriffe übernehme ich die in der konversationsanalytischen Fachliteratur gebräuchlichen Abkürzungen; vgl. bespielsweise Young 2008, 32. 76 Sacks et al. 1974, 702. 77 Vgl. Ibid., 727. Gene Lerner schliesst aus dieser Eigenschaft der TCUs, dass sie nicht unbedingt teil eines erfolgten turns sein müssen, sondern schon ein antizipierbarer turn einen Interaktionsbeitrag zu einer TCU machen kann: TCUs „are emergent and directional. Thus they are available to participants as they unfold, not only on their completion.“ Lerner 1996, 307; vgl. Lerner 2004. 78 Vgl. Sacks et al. 1974, 716 f.

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Sampling   

gewiesen, dass solches turn-taking auch im nonverbalen Bereich und häufig sogar durch ein Zusammenspiel von verbalen und nonverbalen Äusserungen zustande kommt.79 Die von Sacks et al. entwickelte Systematik bezieht sich auf informelle Gespräche, deren Verlauf sich während der Redesituation, d. h. von turn zu turn entwickelt.80 Reformierte Gottesdienste sind demgegenüber wesentlich stärker in ihrem Verlauf determiniert. Ausserdem beschränkt sich die Beteiligung der Gemeindeglieder meist auf wort- und bewegungslose Ko-Konstruktion:81 Die Teilnehmenden hören und sehen zu und ermöglichen so den Monolog der Pfarrperson. Dennoch gibt es auch in den Gottesdiensten Interaktionen, bei welchen die Pfarrperson einen turn initiiert, so etwa bei der Aufforderung an die Teilnehmenden, sich zum Singen zu erheben. Häufig sind auch TRPs, bei welchen die Pfarrperson quasi stellvertretend für die anderen Teilnehmenden einen turn ausführt. Besonders interessant ist hierbei der Einsatz des Wortes „amen“, wie das folgende Beispiel aus meinem Sample zeigt: öffne uns die augen um dem rad der gewalt: (.) in die speichen ↓zu fallen. (. .) ↓amen.

[Anis-E 0:36:00.5–0:36:22.8]

79 Vgl. für die Konversationsanalyse (CA) Mondada 2007; für die Workplace Studies vgl.­ Heath 1997. 80 Es sei erwähnt, dass die TCUs somit oft (aber nicht immer) mit vollständigen Sätzen oder geprägten Formeln zusammenfallen. Die Analyse geht somit über weite Strecken ähnlich wie eine sequenzielle Inhaltsanalyse nach dem Muster Sinneinheit für Sinneinheit vor. Allerdings versteht sie die Sinneinheiten nicht als für sich stehende Teile des Gesamtsinnes, sondern als auf das Gelingen der Interaktion hin orientierte Beiträge. So warnen bereits Sacks et al. davor, die TCUs als für sich stehende Informationspakete misszuverstehen: „it is misconceaved to treat turns as units characterized by a division of labor in which the speaker determines the unit and its boundaries, whith other parties having as their task the recognition of them. Rather, the turn is a unit whose constitution and boundaries involve such a distribution of tasks as we have notes: that a speaker can talk in such a way as to permit projection of possible completion to be made from his talk, from its start, allowing others to use its transition places to start talk, to pass up talk, to affect directions of talk etc.; and that their starting to talk, if properly placed, can determine where they ought to stopp talk. That is, the turn as a unit is interactively determined.“ Sacks et al. 1974, 276 f. 81 Einen ähnlichen Vorschlag macht Young in Bezug auf Martin Luther Kings Rede I have a dream in seinem Lehrbuch zur interaktionalen Linguistik; vgl. Young 2008, 54. Im Gottesdienst gibt es aber auch ausgesprochenes bzw. sichtbares turn-taking, etwa zwischen der Pfarrperson und den Musiker_innen, sowie zwischen der Pfarrperson und anderen Protagonist_innen (Lektor_innen, Konfirmand_innen, o. ä.).

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Methodologische Grundlagen

Der durch das Ende des Gebetes antizipierbare turn wird, nach einer kurzen Pause, hier von der Pfarrperson durch das „amen“ selbst geliefert.82

3.7

Geltungsbereich und Grenzen der empirischen Studie

Durch die Auswahl des Samples an Gottesdiensten und das Sampling von Sequenzen zur Feinanalyse wird die Gültigkeit der im Folgenden gemachten Aussagen stark eingeschränkt. Insbesondere sind folgende Einschränkungen zu beachten: 1) Die Fallzahl ist mit 13 (plus 4 aus den Kontrastfeldern der evangelikal-charis­ matischen und der römisch-katholischen Gemeinde) für repräsentative Aussagen nicht geeignet, zumal in der Schweiz jedes Wochenende ca. 1000 Sonntagsgottesdienste stattfinden. Alle Aussagen der Analyse haben daher qualitativen Charakter. Das Ziel ist die Erarbeitung möglichst grosser Analogien bzw. Kontraste innerhalb dieses Samples.83 Gelingt dies, so liegt eine Typologie vor, die in weiterführenden Studien überprüft werden kann.84 2) Wichtige gottesdienstliche Genres in den reformierten Gemeinden wie etwa die Kasualgottesdienste, die in der Regel nicht am Sonntag gefeiert werden (Abdankungen und Trauungen), sind nicht berücksichtigt. Es wäre zu zeigen, inwiefern die Beobachtungen auch für diese Genres zutreffen bzw. worin sich diese wesentlich von einem Sonntagsgottesdienst unterscheiden. 3) Ebenso sind Religionsgemeinschaften wie etwa die ostkirchlich-orthodoxen Kirchen oder auch muslimische Gemeinschaften nicht berücksichtigt. Obschon diese Gemeinschaften in der westeuropäischen Gesellschaft noch weniger institutionalisiert auftreten können und insgesamt einen Minderheitenstatus innehaben, können sie für ein Verständnis der religionspluralistischen Situation nicht vernachlässigt werden. Es müsste gezeigt werden, inwiefern sich die religiösen Rituale dieser Gemeinschaften von den reformierten Sonntagsgottesdiensten unterscheiden. Hierzu müssten zwischen den unterschiedlichen Gemeinschaften vergleichbare Elemente in Ritualen definiert werden.85 Es ist zu wünschen, dass die Beobachtungen solche Vergleiche zulassen.

82 Sacks et al. 1974 beschreiben diese Form des turn-talking als self-selection durch einen Teilnehmenden. 83 Dieser Schritt entspricht dem sog. „theoretischen Sampling“ in Studien, die sich dem Forschungsparadigma der Grounded Theory verpflichtet wissen; vgl. Corbin 2006. 84 Vgl. Flick et al. 2007. 85 Vgl. die Kongregationsstudie von Stolz und seinen Mitarbeitenden, die sich deshalb auf christliche Religionsgemeinschaften beschränkt; Stolz et al. 2012, 27, Anm. 32.

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Geltungsbereich und Grenzen der empirischen Studie   

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4) Durch den Fokus der Analyse auf die Eingangssequenzen der Gottesdienste werden zentrale Elemente der Gottesdienste, insbesondere die Predigt, ausgelassen. Dieses Vorgehen führt dazu, dass insgesamt stärker auf nonverbale als auf verbale Interaktionen im Gottesdienst geachtet wird.

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Teil B: Empirische Rekonstruktion

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4.

Un-Sichtbarkeiten –  Auftritte liturgischer Protagonist_innen

„Im Grunde vermittelt der Pastor zwischen zwei schweigenden Gesprächspartnern: der Gemeinde und Gott.“ I. Paul1

Im folgenden Kapitel sollen Anfangssequenzen reformierter Gottesdienste untersucht werden. In ihnen wird die Interaktion durch nonverbale Handlungen einzelner Teilnehmender eröffnet.2 Die Sequenzanalysen setzen in dem Moment ein, in welchem Teilnehmende erstmals nach dem Glockengeläut und einem musikalischen Eingangsspiel innerhalb des Gottesdienstraumes einen Handlungszug ausführen und damit sich selbst und die restlichen Teilnehmenden in ein bestimmtes Rollenverhältnis setzen. Die empirische Studie beginnt somit bei den nonverbalen Voraussetzungen dafür, dass im Gottesdienst etwas geschieht, das von den Teilnehmenden als Gottesdienst verstanden werden kann. Bevor die Pfarrperson die ersten Worte spricht, muss bereits eine Wahrnehmung zwischen ihr und den restlichen Teilnehmenden hergestellt werden und geklärt werden, dass ihr bzw. ihren Handlungsbeiträgen eine gewisse Priorität zukommen.3 Ansonsten wäre unklar, in welchem Rahmen die folgenden Sprechakte erfolgen würden und zu verstehen wären. Das „Kooperationsprinzip“ der Kommunikation (Grice), gemäss welchem jede Äusserung auf potenzielle Verstehbarkeit angelegt sein muss, wäre nicht erfüllt.4

1 Paul 1990, 183. 2 Der Beginn des Gottesdienstes könnte auch beim Aufbruch der Teilnehmenden bei ihnen zu Hause oder bei ihrem Eintreffen im Gottesdienstraum angesetzt werden. In meiner Studie beschränke ich mich (mit begründeten Ausnahmen) auf die Geschehnisse nach Beginn der Eingangsmusik. Hausendorf et al. hingegen unternehmen in ihrer interaktions­a nalytischen Studie von Gottesdiensten den Versuch, schon den Eintritt in den Kirchenraum und die Wirkung des Glockenläutens auf die spätere Interaktion zu analysieren; Hausendorf und Schmitt 2010. 3 Vgl. Ibid., 58. 4 „Make your contribution such as it is required, at the stage at which it occurs, by the­ accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged.“ Grice 1989, 26; vgl. bereits Grice 1975, 45.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

Die Analysen der folgenden Sequenzen und ihre Diskussion sollen erstens auf die Frage antworten, wie die Teilnehmenden interaktional ihre Rollen übernehmen bzw. zugesprochen erhalten. Daraus sollen zweitens erste Grundmerkmale der Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste erarbeitet werden.

4.1

Die interaktionale Konstitution einer rituellen Protagonist_in

4.1.1

Protagonist_innen in interaktionstheoretischer Hinsicht

Im Folgenden werden Sequenzen betrachtet, in denen die Protagonist_innen des reformierten Gottesdienstes ihre liturgischen Rollen einnehmen.5 Die Rolle einer rituellen Protagonist_in ist jedoch nicht einfach zeit- und bezugslos vorhanden, sondern wird interaktional hergestellt. Das alleinige Tragen eines bestimmten Kleidungsstückes oder Innehaben einer bestimmten Position im Raum führt noch nicht zum Besitz einer Rolle. Die Rolle einer Protagonist_in ist erst dann eingenommen, wenn sie durch entsprechende Sekundierungen von Nicht-Protagonist_innen als Protagonist_in bestätigt wurde.6 Eine Protagonist_in ist nicht nur hierarchisch die erste unter den Teilnehmenden, sondern auch im wortwörtlichen Sinne diejenige Figur, die jeweils den ersten Handlungszug ausübt.7 Konversationsanalytisch gesprochen führt sie 5 Ich verwende im Folgenden einen dezidiert mikrosoziologischen Rollenbegriff. Dieser Begriff ist nicht zu verwechseln mit dem wissenssoziologischen Rollenbegriff von Luckmann, welcher „Rolle“ als institutionalisierte Verhaltensdisposition im Unterschied zu weniger institutionalisierten Verhaltensweisen betont, und in dieser Weise bereits auf die Gottesdienstinteraktion angewandt wurde; hierzu vgl. Güntner 1997, 34. Ich gehe somit ähnlich wie David Plüss vor; vgl. Plüss 2007, 244, Anm. 1. 6 Iwar Werlens Beobachtung aus den 1980er Jahren ist hierfür immer noch instruktiv: Es gibt genau genommen zwei Teilnehmende am evangelischen Gottesdienstgeschehen, wovon nur von einem die Initiativen ausgehen. So meint er: „Da die Gemeinde im hier betrachteten evangelischen Gottesdienst keine initiative Rolle hat – sie reagiert immer nur auf Aufforderungen des Pfarrers und hat normalerweise nur zwei verbale Äußerungsmöglichkeiten, nämlich das Mitsingen der Lieder und das Mitsprechen des ‚Unser Vater‘–, ist vor allem der Inhaber der initiativen Rolle zu betrachten, der Pfarrer.“ Werlen 1987, 45; vgl. auch Werlen 1996, 223 f. 7 Die Erforschung nonverbaler Interaktion steht noch am Anfang. Unter interaktionsanalytischen Linguisten hat sich über die Analogie zwischen Interaktion und Gespräch eine Debatte entfacht; vgl. Schmitt 2005. Dabei wird insbesondere verhandelt, ob die nonverbalen Modalitäten als Beiträge zur Konstitution eines turn-taking system (vgl. Sacks et al. 1974) zu verstehen sind, oder ob sie ein solches System eher kontrastieren und in Frage stellen. In der vorliegenden Studie hat sich die Analogie der Gottesdienstinteraktion mit einem turn-taking system insofern als sinnvoll erwiesen, als es in aller Regel einen zentralen Fortgang der Interaktion (den Ablauf des Gottesdienstes) gibt, der zwischen räumlich

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Die interaktionale Konstitution einer rituellen Protagonist_in   

123

den first pair-part einer Sequenz aus, und antizipiert einen bestimmten second pair-part durch andere Teilnehmende (vgl. o., Abschnitt 3.6.6). Mit einer Protagonist_in verbindet sich die Erwartung, dass sie Interaktionen initiiert und den Fokus der Interaktion durch ihre Handlungszüge vorgibt. In der Interaktionsforschung hat man diese prozesshafte Konstitution einer Rolle eines Teilnehmenden als „doing being“ (dt. in etwa: sich als jemand verhalten) bezeichnet. Diese Redeweise geht auf die von Sacks verwendete Formulierung „doing ‚being ordinary‘“ zurück.8 Sacks weist darauf hin, dass das Erreichen der mit einer Rolle verbundenen Erwartungen durch gegenseitige Bestätigungen der Interagierenden erfolgt.

4.1.2

Protagonist_innen in ritualtheoretischer Hinsicht

Die Konstitution der Rolle einer Protagonist_in kann auch unter ritualtheoretischer Perspektive beschrieben werden. Im Rückgriff auf das oben (Abschnitt 2.3) entfaltete Modell von Ritualität kann dargelegt werden, inwiefern verschiedene Elemente von Auftrittssequenzen der Protagonist_innen zur Ritualität der gesamten Interaktion beitragen. Der Auftritt einzelner Personen geht von der körperlichen Kopräsenz anderer Personen aus, die sich im Vorfeld bereits im Gottesdienstraum versammelt und in der Regel bereits ihre Sitzplätze eingenommen haben (Charakterzug 1). Die Versammlung befindet sich in der Regel also schon in einer bestimmten Konstellation (Kreisform oder Ausrichtung auf einen gemeinsamen Fokusraum) und lässt diese über einen bestimmten Zeitraum bestehen (Charakterzüge 2 und 3). Nun betreten eine oder mehrere Personen den von den Teilnehmenden fokussierten Bereich. Da sie die einzigen Teilnehmenden sind, die nicht sitzen, sind sie hervorgehoben und somit als Fokus der gesamten Interaktion privilegiert: für alle anderen Teilnehmenden bietet es sich an, die Wahrnehmung (insbesondere den Blick) auf diese Personen zu richten. Ausserdem wird ihr Erscheinen durch Musik untermalt, was dem Geschehen einen gemeinsamen Rhythmus und dadurch eine geteilte emotionale Stimmung verleiht (Charakterzug 4). Es wird somit auch wahrscheinlich, dass die auftretenden Personen vom Symbolischen Effekt des Rituals (Charakterzug 5) profitieren können und von den restlichen Teilnehmenden mit besonderer Bedeutung aufgeladen werden. Protagonist_innen werden durch ihre Auftritte somit auch symbolische Personen, welche – ähnlich wie Symbolobjekte – zum zentralen Fokus einer Interaktion werden können. klar definierten Teilnehmenden (in der Regel: die Pfarrperson und die Gemeinde, manchmal die Musiker_innen) verteilt wird. 8 Vgl. Sacks 1985.

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4.2

Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

Auftritte im Kontext der rituellen Sequenz

Die Auftrittssequenz wird definiert als die Sequenz vom Moment an, in welchem die Pfarrperson zum ersten Mal nach dem Glockenläuten zum Fokus der Aufmerksamkeit wird, bis zum ersten Wort der ersten Sprecheinheit der Pfarrperson.

4.3

Übersicht über die Auftrittssequenzen

Unter den 13 Gottesdiensten des vorliegenden Samples lassen sich zwei Arten von Auftrittssequenzen unterscheiden: Auftritte mit einem Einzug und Auftritte ohne Einzug. Im Falle eines vorausgehenden Einzuges tritt die Pfarrperson bereits vor ihrem Gang zur Sprechposition als Protagonist_in in Erscheinung. Bleibt der Einzug aus, wird die Pfarrperson erst am Ende oder nach dem Orgelspiel als Protagonist_in erkennbar. Die jeweiligen Elemente des Auftrittes, die in Abbildung 6 (s. u.) schematisiert dargestellt sind, werden von den Pfarrpersonen in den meisten Fällen rund um die Eingangsmusik organisiert, so dass der Auftritt durch den Anfang der Musik oder durch das Ende der Musik initiiert wird (in der Abbildung sind die Momente dieser nonverbalen turn-Übernahme mit den horizontalen gepunkteten Linien abgebildet). Ausserdem verlaufen parallel zu den einzelnen Elementen des Auftrittes verschiedene Fokussierungen, die sich bei der Pfarrperson erkennen lassen: Sie blickt jeweils zu den restlichen Teilnehmenden oder in ein ihr vorliegendes Manuskript. Die einzelnen Elemente der Sequenz sind hier grob schematisiert, so ist beispielsweise das Innehalten in verschiedenen Gottesdiensten sehr unterschiedlich gestaltet. Obschon das obige Schema die heterogene Gestaltung der Auftritte widerspiegelt, lassen sich aus ihm folgende Regelmässigkeiten entnehmen: 1) Die rituellen Elemente der Auftritte lassen sich in unterschiedlichster Art kombinieren. Dies zeigt sich besonders an der Verteilung der Alternativen: 2) Überall, wo es alternative rituelle Abfolgen gibt, werden sie jeweils ausgeglichen genutzt. Eine Ausnahme stellt der Kontakt mit dem Stehpult bzw. Taufstein oder Abendmahlstisch dar. Dieser liegt ausser in zwei Fällen immer vor. 3) Synchron zur Handlungssequenz erklingt auf akustischer Ebene die Eingangsmusik. Vor allem ihr Beginn und ihr Ende sind für die Auftritte relevant. Sie stellen jeweils einen möglichen turn dar, der von den Protagonist_ innen initiiert oder von ihnen übernommen wird. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

Übersicht über die Auftrittssequenzen   

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Abbildung 6: Übersicht über unterschiedliche Sequenzierungen der rituellen Elemente während der Auftrittssequenz

4) Auf der visuellen Ebene wird die Handlung seitens der Pfarrpersonen von zweierlei Blickrichtungen begleitet: einerseits von Blickkontakten zum Publikum, d. h. den anderen Teilnehmenden, andererseits von Blickkontakten zum Manuskript, das die Pfarrpersonen mit sich mitführen oder auf dem Stehpult, Tisch oder Taufstein vorliegend haben. 5) Zugleich lässt sich festhalten, dass einzelne Elemente – obschon teilweise in unterschiedlicher Reihenfolge – in nahezu allen Gottesdiensten vorkommen. Sie stellen somit einen Grundbestand an Elementen dar, der von den ein© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

zelnen Pfarrpersonen in unterschiedlicher Kombination zur Gestaltung des Gottesdienstes verwendet wird.9

4.4 Sequenzanalysen Die folgenden Analysen beziehen sich jeweils auf einzelne Elemente. Es soll zu erörtern versucht werden, wie unterschiedliche Ausführungen der Elemente aussehen. Dies soll anschliessend dazu dienen, die den Auftritten zugrundeliegende Interaktionsordnung genauer zu beschreiben.

4.4.1 Einzug Durch die detaillierte Analyse der Verhaltensweisen beim Eintritt einer Person in eine Versammlung, lassen sich Aussagen über die von der auftretenden Person eingenommene Rolle sowie über die durch den Auftritt eröffnete Situation machen. 4.4.1.1 Einzug mit seitlicher Zuwendung In Dime-A2 betritt P den Kirchenraum durch den Mittelgang und stellt sich an einem ersten Ort im Kirchenraum auf, um dort stehend innezuhalten. Dem Einzug geht der Beginn des Orgelspiels voraus. Während des Einzuges erheben sich die Teilnehmenden, die sich zuvor auf die Kirchenbänke gesetzt haben und bleiben stehen. [Clip 4.1, Dime-A2 00:03:33.8–00:03:43.7] Der Beginn der Orgelmusik stellt hier den ersten Handlugszug (TCU) der Interaktion dar. 1.2s nach dem Einsetzen der Musik richtet sich ein Gemeindeglied im Sitzen auf. Es dreht seinen Kopf nach links zum Mittelgang und leicht nach hinten aus. Die anderen Gemeindeglieder bleiben in ihrer Sitzrichtung nach vorne ausgerichtet. In dieser Ausrichtung können die Teilnehmenden keinen Blickkontakt miteinander aufnehmen. Ihre visuelle Wahrnehmungswahrnehmung ist bestenfalls peripher und lässt keine gegenseitige Wahrnehmung auf der visuellen Modalität zu. Dies bedingt, wie sich im Folgenden zeigen wird, auch ihre eingeschränkten Möglichkeiten zum gegenseitigen Abgleich des Verhaltens mit anderen Teilnehmenden. 9 Damit ist nicht gesagt, dass die Elemente von den Pfarrpersonen als solche wahrgenommen und geplant werden. Wie dargelegt, soll hier eine strikt interaktionsanalytische Perspektive eingenommen werden, welche über die Motive und Darstellungsabsichten von Pfarrpersonen keine Aussagen machen kann.

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Sequenzanalysen   

Blickrichtung

Abbildung 7: Der Gottesdienstraum von Dimels mit der Wegstrecke von P

Kurz nach der Ausdrehung erscheint P im Bereich der Kameraeinstellung und schreitet den Mittelgang entlang. Tabellarisch lässt sich der Auftritt von P wie folgt unterteilen (s. Abbildung 8). t in Dime-A2

Ereignis

0:03:31.5

Orgel beginnt zu spielen

0:03:32.7

Gemeindeglied dreht den Kopf Richtung Mittelgang aus

0:03:34.9

P betritt die Kameraeinstellung, Gang zu Ort 1

0:03:37.0

Ein erster Teilnehmer erhebt sich, anschliessend erheben sich nach und nach alle anderen

0:03:43.9

P bleibt an Ort 1 stehen, hält inne, seinen Blick nach vorne gerichtet

Abbildung 8: Sequenzprotokoll des Einzugs in Dime-A2

Das Orgelspiel fungiert hier als first pair-part, der durch zwei unterschiedliche second pair-parts abgeschlossen wird: einerseits das Ausrichten des Blickes eines Teilnehmenden zum Mittelgang hin, andererseits das (vor der Kamera verborgene) Anschreiten von P. Es lässt sich aufgrund des Videomaterials nicht genau sagen, welcher second pair-part zuerst auftritt oder ob die beiden second pairparts selbst wiederum aufeinander bezogen sind. Angenommen werden kann jedoch, dass der Teilnehmer sich umdreht, nachdem er die Bewegung von P akustisch wahrgenommen hat (vermutlich anhand der Schrittgeräusche). Die Ausrichtung des Teilnehmers zum Mittelgang hin weist darauf hin, dass er den © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

Einzug von P antizipiert. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser eine Teilnehmer mit der Praxis des Einzugs vertraut ist und sich nicht zum ersten Mal in einem Gottesdienst befindet, der einen Einzug vorsieht. Das Schreiten von P durch den Mittelgang wiederum wird von den sitzenden Teilnehmenden durch Sich-Erheben beantwortet. Besonders reibungslos erscheint dies bei der Frau ganz links im Bild zu geschehen. Sie erhebt sich unmittelbar als P an ihr vorübergeht. Sie verändert ihre Blickrichtung nicht einmal, um ihr Aufstehen zu bewerkstelligen. Die periphere Wahrnehmung, dass jemand an ihr im Mittelgang vorbeizieht, genügt offenbar, um ihr Verhalten auszulösen. Aus dieser Reibungslosigkeit kann geschlossen werden, dass sie mit der rituellen Sequenz vertraut ist und diese gezielt ausführt. Sie zeigt hier also ein intrinsisch-rituelles Verhalten: Das Verhaltensmuster ist ihr bekannt und von ihr ohne mimetischen Abgleich auslösbar. Ähnlich wie diese Frau verhält sich auch der Mann mit der weissen Jacke in der Bildmitte. Die übrigen Teilnehmenden verhalten sich jedoch anders. Sie stehen jeweils mit leichter Verzögerung zu den beiden Erstaufstehenden auf und scheinen ihr Verhalten am Verhalten der intrinsich-rituellen Teilnehmenden zu orientieren: Sie sehen das, was andere tun, und richten sich danach. Dabei zeigen sie ein extrinsisch-rituelles Verhalten. Auch die extrinsisch-orientieren Teilnehmenden folgen dabei einer Interaktionsordnung: Sie interpretieren das Verhalten anderer als der Norm korrespondierend und orientieren sich daher an diesen. P schreitet durch den Mittelgang und hält dabei den Blick stets nach vorne (nicht etwa auf die Teilnehmenden) gerichtet. Auch als er am Ort 1 (s. Abbildung 7) stehen bleibt, ist sein Blick nach vorne orientiert. P vermeidet dadurch, dass es zwischen ihm und den anderen Teilnehmenden auf der visuellen Modalität zu einer gegenseitigen visuellen Wahrnehmung kommt. Zudem gleich er seine Blickrichtung derjenigen an, die alle anderen Teilnehmenden aufgrund der Ausrichtung der Sitzplätze eingenommen haben. Nachdem sich alle Teilnehmenden erhoben haben und P an Ort 1 angekommen ist, besteht zwischen allen Teilnehmenden eine Kongruenz des Verhaltens: Alle stehen und sind nach vorne ausgerichtet.

Die Verhaltensabfolge des Einzuges verläuft im Fall von Dime-A2 somit folgendermassen: 1) die Teilnehmenden sitzen; 2) P betritt den Fokusraum der Teilnehmenden, die sich daraufhin erheben und stehenbleiben; und 3) P bleibt ebenfalls stehen. P begibt sich in den Fokus der Interaktion und initiiert (bei einigen Teilnehmenden zumindest) eine Antwort auf seinen Eintritt. Durch die Ausrichtung seines Blickes nach vorne weist er aber diese Antwort auf der interaktionalen © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

Sequenzanalysen   

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Ebene ab: Er kann nicht sehen, dass bzw. ob die anderen Teilnehmenden seinen Einzug mit Sich-Erheben erwidern. Vielmehr bleibt er in der vordersten Reihe stehen, als würde er sich als Letzter in die von ihm als erster initiierte rituelle Sequenz einfügen. Der Blick von P, der sich nie einem der anderen Teilnehmenden zuwendet, erfüllt dabei vor allem eine deiktische Funktion: Er weist auf das, worauf sein Blick gerichtet ist, hin.10 P ist also zugleich als Protagonist im Fokus der Interaktion (er führt den ersten Handlungszug aus) und weist zugleich von sich selbst als Person weg (nimmt den Symbolischen Effekt des Rituals nicht in Anspruch). 4.4.1.2 Einzug eines Protagonist_innenpaares Ein weiteres Beispiel für einen Einzug liefert der Fall Anis-A, in welchem die Pfarrperson zusammen mit einer Lektorin einzieht und ihren Sitzplatz bezieht. Der Einzug ist hier für die restlichen Teilnehmenden gut sichtbar, da er durch eine Seitentür des Kirchenraumes in Aniswil* erfolgt (s. u., Abbildung 9). Zugleich gibt es kein turn-taking zwischen Pfarrperson und Gemeinde wie im vorigen Fall. Vielmehr spielt sich die Interaktion alleine zwischen den beiden einziehenden Protagonist_innen ab. [Clip 4.2, Anis-A 00:55:59.6–00:56:20.5] Die gesamte rituelle Sequenz des Clips 4.2 (s. Abbildung 10) ist durch ein Folge-Schema bestimmt, bei welchem die nachfolgende Person jeweils das Handlungsmuster der vorausgehenden Person übernimmt. An zwei Stellen gibt es jedoch Wendepunkte, an welchen die führende Person die Handlungsleitung an die folgende Person abtritt. Der gesamte Ablauf erhält so den Charakter einer Choreographie. An Ort 1 wendet sich P um und lässt L vorgehen. L übernimmt den turn dadurch, dass sie weiter in den Raum schreitet und sich zu einem Platz auf der rechten Seite des Chorraumes begibt. An Ort 2 wiederum bleibt L stehen und schaut sich um. P bleibt gemäss dem Folge-Schema ebenfalls stehen, weicht dann aber von L ab durch eine langsame Drehung im Gegenuhrzeigersinn, die mit der Einnahme einer bestimmten Haltung (s. u.) verbunden ist. Diese Haltung übernimmt L schliesslich wiederum.

Aus der Beobachterperspektive, die zugleich der Perspektive der restlichen Teilnehmenden entspricht, ist das Vorlassen von L durch P also kein Angebot, den Fokus von P auf L abzuwenden. P erscheint dadurch vielmehr noch deutlicher als Erste unter den zwei Protagonist_innen. 10 Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Menschen mit dem Blick nicht nur sehen, sondern andere Menschen durch ihren Blick auch orientieren können; vgl. Tomasello 2011, 244 f. sowie Goodwin 1980, beso. 275.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

Abbildung 9: Der Gottesdienstraum von Anis-A mit den Wegstrecken von P (dunkel) und L (hell)

t in Anis-A

Interaktionsgeschehen

Leitung

0:56:01.7

P betritt den Raum, gefolgt von L (2.7s Abstand)

L folgt P

0:56:04.4

P wendet sich zurück, um L vorzulassen und die Türe zu schliessen

P überlässt L die Führung

0:56:08.2 0:56:09.8

L geht voran in den Chorraum, P folgt ihr (1.6s Abstand)

P folgt L

0:56:12.5

L bleibt vor einer Sitzgelegenheit stehen und schaut sich um

P folgt L; L schaut sich um

0:56:16.4

P bleibt hinter ihr ebenfalls stehen

0:56:21.0

P dreht sich ca. 90° zur Mitte des Chorraumes aus und nimmt eine vornübergebeugte Haltung mit vor dem Bauch verschränkten Armen ein

0:56:22.6

L folgt ihr nach

0:56:24.5

P setzt sich, L folgt ihr

0:56:34.9

P und L sitzen

L folgt P

L folgt P

Abbildung 10: Sequenzprotokoll des Clips 4.2

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turn-Übernahme

PàL

LàP

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4.4.1.3 Einzug mit Zuwendung zu einzelnen Teilnehmenden Das folgende Beispiel ist durch eine besondere Sozialtopographie bestimmt. Anis-D unterscheidet sich vor allem durch eine ovalförmige Sitzkonstellation von allen anderen Gottesdiensten im vorliegenden Sample: In der Mitte des Ovals wurde ein kleiner Tisch mit weissem Tischtuch aufgestellt, auf welchem Utensilien für eine Abendmahlsfeier bereit stehen. Ausserdem wurde ein Lesepult vor einen Sitzplatz gestellt. Als kurz vor Beginn des Gottesdienstes zusätzliche Teilnehmende eintreffen, werden zwei Sitzreihen als zweite Reihen an das Oval angefügt. Zusätzlich zur Sitzkonstellation kommt es bei Anis-D zu einer situationsbedingten Improvisation: P hat kurz vor Beginn des Gottesdienstes nicht genügend Liedblätter bereit. Sie eilt also ins naheliegende Kirchgemeindehaus, um Blätter nachzukopieren, während die anderen Teilnehmenden sitzend und schweigend auf den Beginn des Gottesdienstes warten. P verbindet ihren musikalisch untermalten Auftritt anschliessend mit dem Austeilen der fehlenden Liedblätter. [Clip 4.3, Anis-D 00:30:04.5–00:31:40.9] Die Auftrittssequenz beginnt damit, dass P durch die Seitentüre den Raum betritt. Sie unterbricht damit eine längere Sequenz, in welcher die Teilnehmenden ohne weitere Aktivitäten auf ihren Sitzgelegenheiten sitzen (die letzten Teilnehmenden setzen sich bei 0:26:22.9, die Sequenz des Schweigens im Sitzen ist somit 3min 40s lang). Bei Ort 1 bleibt P stehen, blickt in den hinteren Teil des Raumes hoch und nickt dabei – vermutlich ein Zeichen an den sich auf der Empore befindlichen Organisten. Anschliessend begibt sie sich zu Ort 2, an den Anfang der zweiten Reihe im Oval und gibt dort Liedblätter an die Teilnehmenden, die durch diese dann in der Sitzreihe weitergegeben werden. Während P sich bei Ort 2 aufhält, erhebt sich eine Frau vom Ort X aus dem Kreis und verlässt den vorderen Teil des Raumes mit schnellen Schritten. Sie kehrt auf demselben Weg zu ihrem Sitzplatz zurück, während P sich bei Ort 3 aufhält. P geht einen Schritt zurück. Anschliessend schreitet sie hinter dieser Sitzreihe durch zur zweiten Reihe auf der gegenüberliegenden Raumseite, wo sie bei Ort 3 wiederum Liedblätter in die Reihe hinein verteilt. Sie begibt sich anschliessend durch eine Lücke im Stuhlkreis in das Innere des Ovals hinein. Nach dem Betreten des Ovals schaut P kurz nach links und lässt ihren Blick durch die Reihe gehen. Anschliessend geht sie rechts an dem sich in der Mitte befindenden Tisch vorbei zur gegenüberliegenden Sitzreihe, die sie im Uhrzeigersinn abschreitet und dort einzelnen Teilnehmenden weitere Blätter verteilt. Danach begibt sie sich (sie muss einen Stuhl übersteigen) hinter das Lesepult und nimmt dort Platz.

Die Interaktion in Anis-D scheint spontan zu verlaufen und sich an keiner Interaktionsordnung zu orientieren. Dies liegt vor allem daran, dass P von allem Anfang an den Verlauf der Interaktion vorgibt, da sie jeweils die first pair© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

Abbildung 11: Der Gottesdienstraum von Aniswil* mit der Sitzanordnung von Anis-D und der Wegstrecke des Einzuges von P in Clip 4.3

parts der Interaktion ausführt: sie initiiert mit einem Kopfzeichen in Richtung Empore sogar das Orgelspiel, d. h. ihre eigene Auftrittsmusik. Da sie die Liedblätter verteilt, baut sie zudem mit vielen Teilnehmenden einen individuellen Blickkontakt auf. Auch dabei initiiert jeweils sie den Kontakt und gibt das Liedblatt heraus, das vom jeweiligen Gegenüber (teilweise mit Dankesworten) entgegengenommen wird. P blickt zu keinem Moment alle Anwesenden gemeinsam an; dies ist aufgrund der Sitzordnung im Oval auch nicht möglich. Gegen Ende der Sequenz lässt P ihren Blick über einige Teilnehmende schweifen. Der Blick erscheint erwartungsvoll bzw. stellt wiederum einen first pair-part dar. Da P durch ihre Haltung (sie ist die einzige stehende Teilnehmerin) und ihre Kleidung vom Rest der Teilnehmenden hervorgehoben ist, zieht sie die Blicke der Teilnehmenden auf sich. Der second pair-part der restlichen Teilnehmenden besteht somit in der sitzenden und schweigenden Beobachtung von P. Der Ausflug von X zeigt durch ihr zögerliches Anfangen und die ständige Fokussierung auf P, dass P für die Beurteilung allfälliger Sanktionen gegenüber eines abweichenden Verhaltens zuständig wäre. 4.4.1.4 Interpretation Wird der Versuch unternommen, die wesentlichen Merkmale der drei beschriebenen Einzugssequenzen zu umreissen, lassen sich folgende Grundzüge ausmachen: 1. sie sind (zumindest teilweise) musikalisch untermalt; 2. P legt eine Wegstrecke in einem den Teilnehmenden sichtbaren Raum zurück; und © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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3. P erwidert die visuelle Fokussierung durch die restlichen Teilnehmenden nicht, sondern wendet ihren Blick von den Teilnehmenden ab (Anis-A, Dime-A2) oder sich einzelnen Teilnehmenden zu (Anis-D). Die Beispielsequenzen unterscheiden sich jeweils in der Art und Weise des Fokus’ zwischen P und den restlichen Teilnehmenden. Beim ersten Beispiel Dime-A2 zeigt sich, dass die Interaktion zwischen P und den restlichen Teilnehmenden nach einer bei einigen Teilnehmenden vorhandenen intrinsisch-rituellen Verhaltensweise verläuft. Diese führt dazu, dass P zum Schluss der Sequenz eine Haltung einnimmt, die bei den Gottesdienstteilnehmenden schon vorhanden ist. Bei Anis-A hingegen ist die Interaktion auf einen turn zwischen den beiden Protagonist_innen beschränkt, die restlichen Teilnehmenden beobachten den Auftritt lediglich. Ausserdem ist P stets im Fokus der Interaktion, auch dort, wo sie ihre Mitauftretende vorangehen lässt. Im dritten Beispiel schliesslich ist der Auftritt von Zuwendungsinteraktionen, dem jeweiligen Aushändigen des Liedblattes an einzelne Teilnehmende, durchsetzt. Auch hier bleiben die meisten Teilnehmenden alleine durch ihre schweigende Beobachtung von P beteiligt. Die Protagonist_innen werden in allen Fällen als eigenständige Teilnehmer_ innen der Interaktion konstituiert. Dort, wo das turn-taking gelingt, so etwa beim Sich-Erheben oder auch bei der dankbaren Entgegennahme der Liedblätter, geben sich alle Teilnehmenden gegenseitig accounts für ihre Kopräsenz. Hier erscheinen die Protagonist_innen als Teilnehmende unter gleichgestellten. Da sie dabei aber immer die first pair-parts ausführen und die restlichen Teilnehmenden in ihren second pair-parts weitgehend auf schweigende Beobachtung beschränkt bleiben, wird P hervorgehoben und profitiert durch den Symbolischen Effekt (Charakterzug 5) von erhöhter Bedeutung für die gesamte Interaktion.

4.4.2

Innehalten im Stehen

Im hier besprochenen Sample von Auftrittssequenzen kommt das Innehalten im Stehen in zwei unterschiedlichen Ausführungen vor. Es dauert zwischen 15.5s (Dime-A2) und 5.5s (Anis-A). 4.4.2.1 Haltungsübernahme von einer Protagonist_in Beim ersten Typ stehen die Protagonist_innen aufrecht und nahezu ohne Bewegung und richten ihren Blick nach vorne. So im bereits besprochenen Beispiel Dime-A2 (vgl. Clip 4.1). © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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In Dime-A2 zeigt P durch seinen Blick auf den Chorraum, der sich in der Sitzrichtung der Kirchenbänke befindet. Da sich im vorderen Kirchenraum von Dimels* sich eine ganze Reihe von Gegenständen als visueller Fokus anbieten, von denen aber keiner eindeutig hervorgehoben ist, wird durch diese Ausrichtung kein bestimmter Gegenstand der Wahrnehmung angezeigt. Der Blick nach vorne ist vielmehr als „unfokussierter“11 Blick zu verstehen.

[Dime-A2 00:03:52.0] Das stehende Innehalten von P kann erstens als Zeigeleistung auf den Chorraum hin gedeutet werden. Verstärkt wird diese Deutung durch die Tatsache, dass der Chorraum mehr als ein Drittel der gesamten Kirchenraumlänge ausmacht. Die Teilnehmenden sind also auf einen relativ grossen, weitgehend leeren Teil des Kirchenraumes ausgerichtet. Der Chorraum wird somit per se als Fokus der Interaktion angezeigt. Die Ausrichtung von P lenkt die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden weg von sich als Protagonist_in und hin auf den Chorraum. Der unfokussierte Blick Ps weist zweitens auf einen äusseren aber nicht spezifischen Bezugsgegenstand hin und könnte daher auch einen nonphänomenalen Fokus anzeigen. Wenn jemand auf etwas blickt, das nicht direkt visuell fokussierbar ist, privilegiert er damit einen Fokus für die geteilte Interaktion, der nicht visuell ist. Ein solcher Fokus könnte im verborgenen sein bzw. in der inneren Wahrnehmung liegen.

11 Vgl. Goffman 2007b, beso. 83 sowie Goffman 1967, 132–134.

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4.4.2.2 Übernahme einer Haltung zwischen Protagonist_innen Der zweite Typ des Innehaltens im Stehen lässt sich im ebenfalls bereits besprochenen Fall Anis-A beobachten. Hier sind die beiden Protagonistinnen seitlich gegen die Mitte des Chorraumes ausgerichtet. Ausserdem ist ihr Kopf im Stehen vornüber gebeugt. Diese Verbeugung könnte als Zeigehandlung hin zum Chorraum gedeutet werden – dazu fehlt dort aber wiederum ein deutlich hervorgehobener fokussierbarer Gegenstand. Zusätzlich halten die Protagonistinnen ihre Augen entweder geschlossen oder von den restlichen Teilnehmenden abgewendet: eine gegenseitige visuelle Wahrnehmung ist so weder zwischen ihnen noch mit den restlichen Teilnehmenden möglich.

[Anis-A 00:56:20.0] In Anis-A wird überdies deutlich, dass das vornüber gebeugte Innehalten im Stehen mit bei den Protagonistinnen mit einer Veränderung der Muskelanspannung verbunden ist. Während P direkt aus ihrem Gang sich durch eine Linksdrehung in die vornüber gebeugte Haltung begibt, streckt sich L vor Einnahme ihrer Position zuerst einatmend ganz aufrecht durch. Erst anschliessend lässt sie ihren Kopf vornüber sinken.

Obschon die restlichen Teilnehmenden die stehende Haltung zum Ende des Einzuges nicht einnehmen, ist sie einigen von ihnen dennoch bekannt. Sie haben ein ähnliches Innehalten vor Gottesdienstbeginn bei der Einnahme ihres Sitzplatzes gezeigt.12 Dies ist für diese Sequenz insofern von Bedeutung, als

12 Da dies ausserhalb der von mir analysierten Videosequenzen geschieht, behandle ich diese Information als Kontextwissen.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

das Verhalten der Protagonistinnen von diesen Teilnehmenden als (zeitlich verzögerte) Bestätigung für ihr eigenes Verhalten verstanden werden kann. 4.4.2.3 Interpretation Das Innehalten im Stehen fungiert in den besprochenen Fällen als Zeigehandlung (Deixis13): die Protagonist_innen zeigen den anderen Teilnehmenden durch ihre eigene Fokussierung den Fokus der Interaktion an. Dieser Fokus ist nonphänomenaler Art, d. h. nach innen gerichtet. Der deiktische Charakter der Handlung wird dadurch unterstützt, dass sie jeweils für eine wahrnehmbare Dauer ausgehalten wird (im vorliegenden Sample immer länger als 5s). Dadurch sind mimetische Prozesse bei den restlichen Teilnehmenden erleichtert. Ausserdem wird durch die Dauer die Bedeutsamkeit der Handlung erfassbar, da sie durch P nicht mehr unwillentlich eingenommen worden sein kann. Dies gilt sowohl dann, wenn sie diese die Haltung selber ausführen wie in Dime-A2, als auch in Anis-A, wo die Protagonistinnen das Innehalten der restlichen Teilnehmenden mit zeitlicher Verzögerung bestätigen. Im Unterschied zum Einzug sorgt das Innehalten im Stehen für eine Relativierung: Nachdem die Protagonist_innen durch ihr Verhalten während des Einzuges selbst zum Fokus der Interaktion geworden sind und gemäss der Ritualtheorie von Collins als Individuen Symbolwert und eine damit verbundene Bedeutung bekommen, lenken sie hier den Fokus der Interaktion von sich als sichtbaren Individuen wieder weg. Ihr Fokus kann zwar nicht präzise identifiziert werden, ist aber eindeutig mit keinem spezifischen Gegenstand bzw. keinem sichtbaren Teilnehmenden identisch. Die Pfarrpersonen zeigen auf etwas, das nicht sichtbar ist, und weisen die restlichen Teilnehmenden darauf hin, dass dieser nonphänomenale Fokus und nicht etwa sie selbst der eigentliche Fokus der Interaktion sind. Diese deiktische Haltung ermöglicht den Pfarrpersonen zugleich im Fokus der Interaktion zu stehen und zu verhindern, selbst mit dem Fokus identifiziert zu werden. Sie bedienen sich damit einer Verhaltensweise, die auch aus Theateraufführungen bekannt ist: Auch bei Theateraufführungen können Protagonist_innen durch einen vom Publikum abgewandten Blick von sich selbst auf einen abstrakten Sachverhalt oder eine Interaktion zwischen ihnen und anderen Schauspielern wegweisen. Dies geschieht etwa in Situationen, in wel13 Der Verhaltensbiologe Michael Tomasello berichtet davon, dass der Einsatz der Augen, um auf etwas hinzuweisen zu den basalen Fähigkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation gehört. Nur Menschen unterstellen einander, dass sie in ihren Mitteilungen eine gemeinsame Intention verfolgen, und somit das was einer sieht für andere auch zur Wahrnehmung interessant sein könnte; vgl. Tomasello 2011, 211.

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chen die für das Theater typischen „asymmetrischen, nicht-reziproken Beobachtungsprozesse“ vorherrschen.14 Es ist demnach nicht verwunderlich, dass das Einziehen der Pfarrperson (insbesondere Clip 4.1) theatralisch wirkt. Dies darf aber gerade nicht dahingehend missverstanden werden, dass dadurch der Fokus der Gottesdienste auf die Interaktion zwischen P und den restlichen Teilnehmenden festgesetzt wird. Vielmehr wird die Interaktion durch die Verhaltensweisen während der Auftritte auf einen Fokus hingelenkt, der nicht direkt sichtbar ist. Ursula Roth stellt in ihrer Untersuchung zur Theatralität des Gottesdienstes15 fest, dass im Theater wie im Gottesdienst „Körper, Bewegungen und Requisiten […] zwischen Materialität und Semiotizität [schillern]; ‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘ […] in ein spannungsvolles Wechselspiel zueinander [treten], das neue Deutungsprozesse herausfordert.“16

Diese Deutungsprozesse entsprächen gemäss Roth der heilsgeschichtlichen Selbstverortung liturgischen Geschehens. Der Gottesdienst finde somit im Modus des „Als-ob“ statt und verweise so von seiner konkreten Performanz weg auf das kommende Reich Gottes.17 Die im Sample beobachtete Deixis in der Interaktion zwischen Pfarrperson und restlichen Teilnehmenden kann ebenfalls als Erzeugung einer Spannung zwischen Präsenz und Repräsentation gedeutet werden, die eine Semiose entstehen lässt: Das durch diese Interaktion Bezeichnete ist nonphänomenal und die Pfarrperson wird zum personifizierten Zeichen, das durch die auf sie ausgerichtete Fokussierung der restlichen Teilnehmenden als solches ko-konstruiert wird.

4.4.3

Sich-Setzen und Sitzen

Im vorliegenden Sample ist das Sitzen der Pfarrperson ein fester Bestandteil beinahe aller Auftrittssequenzen. Dort, wo ein Einzug der Pfarrperson erfolgt, wird es durch einen Akt des Sich-Setzens abgeschlossen. Im Folgenden soll die Analyse auf solche Fälle beschränkt bleiben.

14 15 16 17

Vgl. Roth 2006, 39 f. S. ibid. Ibid., 61. Vgl. ibid., 285 f.

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4.4.3.1 Zeremonielles Sich-Setzen In Burg-A geht dem Akt des Sich-Setzens ein Durchschreiten des Chorraumes voraus. [Clip 4.4, Burg-A 00:24:05.0–00:24.23.3] Vor dem Einsetzen der Musik legt P die Strecke von seinem letzten Standort zu seinem Sitzplatz zurück. Dieser Sitzplatz liegt an der linken Aussenwand des Kirchenraumes.

[Burg-A 00:24:15.7]

[Burg-A 00:24:19.3]

Kurz vor Erreichen seines Sitzplatzes wendet sich P linksherum um, wobei sein Talar auswallt. Die anschliessende Sitzbewegung erfolgt langsam und behutsam. P nimmt während der Sitzbewegung die Hände in seinen Schoss und zieht dabei auch den Talar zusammen. Sein Rücken bleibt während der gesamten Bewegung ­gestreckt. Ausserdem dreht er seinen Kopf nach unten und hinten aus und blickt so für auf die sich hinter ihm befindliche Sitzfläche. Schliesslich wippt er im Sitzen mit dem Oberkörper zurück und verharrt in einer nach oben und zum Chorraum ausgerichteten Kopfhaltung.

[Burg-A 00:24:22.2]

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Es ist auffällig, wie behutsam das Sich-Setzen im Unterschied zum zügigen Schreiten von P erfolgt. Die Sitzbewegung erscheint koordiniert wie aus einem Guss, durch keine Gestik der Hände begleitet und ohne Wiederholungen zu verlaufen. 4.4.3.2 Koordiniertes Sich-Setzen Ein anderes Verhalten zeigt sich in der folgenden Sequenz aus Anis-D. [Clip 4.5, Anis-D 00:31:09.3–00:31:24.7] Nachdem P (Kreis) mit einem letzten Blick in Richtung einiger Teilnehmender das Verteilen der Liedblätter ab­ geschlossen hat, wendet sie ­ ihren Blick von den restlichen Teilnehmenden ab (Pfeil).

[Anis-D 00:31:09.3]

Sie begibt sich ausserhalb des Stuhlkreises, indem sie eine enge Stelle zwischen den Stühlen überschreitet und legt dort – sich vorbeugend – die restlichen Liedblätter mit einer Hand hin (Pfeil).

[Anis-D 00:31:10.4]

[Anis-D 00:31:17.0]

Anschliessend steigt sie wiederum umständlich in den Kreis zurück, wobei sie mit der linken Hand ein Buch von ihrer Sitzgelegenheit aufnimmt. Sie stellt sich vor dem Lesepult auf und deponiert das Buch auf dessen Ablagefläche. Mit derselben Hand fasst sie sich kurz an ihre Albe, wobei ihr Blick vornüber gesenkt ist.

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[Anis-D 00:31:20.3]

P initiiert eine Sitzbewegung, hält ihren Blick über die Sichthöhe nach oben (Pfeil) und führt beide Hände zugleich zu Manuskripten, die auf der Ablagefläche liegen, um diese zurechtzurücken. In der Mitte der Sitzbewegung steht sie noch einmal kurz auf (bzw. wippt hoch), wobei sie ihren Kopf vornüber und nach unten sinken lässt. Sie setzt sich erneut und kippt auf der Sitzfläche angekommen mit dem Oberkörper zurück. Schliesslich nimmt sie den Oberkörper wieder etwas nach vorne und nimmt mit beiden Händen ein Blatt von der Ablagefläche des Stehpultes auf ihren Schoss, bevor sie in leicht vornüber gebeugter Sitzhaltung verbleibt.

[Anis-D 00:31:24.6]

Anders als im vorherigen Beispiel wirkt P in Anis-D beim Sich-Setzen wenig koordiniert. Sie führt wenig zielgerichtete Bewegungen aus, scheint zugleich mit der Anordnung der Manuskripte und mit ihrem Sich-Setzen beschäftigt zu sein. Vergleichbar bei diesen Sequenzen ist allerdings erstens, dass P während des Handlungsablaufes keinen Blickkontakt mit anderen Teil­ nehmenden sucht, und zweitens, dass P das Sich-Setzen verlangsamt und mit Blick auf die Sitzfläche ausführt. Während dies in Burg-A in einer fliessenden Bewegung ausgeführt wird, zeigt PAnis-D eine Selbstkorrektur18 während ihres Sitzvorganges.

18 Der Begriff wird von Schegloff und seinen Mitarbeitenden eingeführt, um das Verhalten von Gesprächsteilnehmenden bei Versprechern zu bezeichnen; vgl. Schegloff et al. 1977, 361.

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Eine ähnliche Selbstkorrektur lässt sich auch in der folgenden Sequenz aus Anis-A beobachten. [Clip 4.6, Anis-A 00:56:20.0–00:56:35.1] P initiiert das Sich-Setzen der beiden Protagonistinnen. Sie dreht sich dazu mit dem Oberkörper nach links aus, wobei sie für einen kurzen Moment zur Gemeinde blickt (ohne diese zu fixieren). Anschliessend senkt sie ihren Blick nach links unten zur Sitzfläche hinter sich und führt ihre linke Hand zu dieser Fläche. Zugleich beginnt sie mit der Sitzbewegung. Nachdem sie den Sitzplatz mit dem Gesäss berührt, folgt sie auch mit dem Oberkörper dieser Drehung und nimmt ihre linke Hand von der Sitzfläche zurück in ihren Schoss. Ihr Oberkörper richtet sich auf, wobei sie auf der Sitzfläche leicht zurückrutscht, und ihren Kopf für einen Moment richtung Chorraum ausgerichtet. Anschliessend setzt sich P mit der rechten Hand eine Brille auf und senkt den Kopf vornüber. In dieser Haltung verbleibt sie für den Rest des Orgelspiels. L folgt P im Bewegungsablauf mit 1s Abstand nach (vgl. o., Abbildung 10), allerdings dreht sie sich rechts herum aus. Anschliessend wippt L je noch einmal kurz von der Sitzfläche hoch. Zuletzt nimmt sie ein Manuskript in beiden Händen vor sich und rückt es mehrfach zurecht bis auch sie ihren Kopf vornüber senkt.

4.4.3.3 Interpretation Die bereits in Burg-A beobachtete Behutsamkeit zeigt sich in den beiden anderen Beispielen durch verschiedene Selbstkorrekturen in Bezug auf die Sitzhaltung. Beide Verhaltensweisen geben der eigenommenen Sitzhaltung eine besondere Bedeutung: Sie muss korrekt ausgeführt werden. Der Sitz ist nur dann regelgemäss, wenn er behutsam eingenommen wurde. Einerseits ist P weiterhin auch in ihrer Sitzhaltung als Fokus der Interaktion privilegiert – und zwar nicht nur durch ihre hervorgehobene Kleidung, sondern insbesondere auch durch den vorangegangenen Einzug und ihr Innehalten im Stehen. Andererseits gilt auch hier, dass P zwar im Fokus der Interaktion steht, jedoch die Blicke der Teilnehmenden nicht erwidert und ihren Blick von den anderen Teilnehmenden abwendet. Schliesslich ist der Umgang mit der liturgischen Kleidung und den Manuskripten interessant. Die liturgische Kleidung wird vor dem Sich-Setzen zurechtgerückt oder während des Sich-Setzens festgehalten (Burg-A). Sie wirkt also als eine Interaktionsressource19, um die Bewegungen sorgfältiger, langsamer und somit für die restlichen Teilnehmenden nachvollziehbarer auszu­ 19 Objekte, die in einer Interaktion als Kommunikationsmittel oder Symbole eingesetzt werden, werden in der Analyse als Ressourcen bezeichnet; vgl. Hausendorf et al. 2012, 13–16.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

führen. Die Bewegungen wirken so stilisiert und hervorgehoben. Sie ritualisieren den Auftritt von P und verhelfen, die Interaktion stärker auf P bzw. den von ihr angezeigten Fokus auszurichten.

4.4.4

Innehalten vor dem Aufstehen

Im Sample halten 5 (von insgesamt 12) Pfarrpersonen nach dem Ende der Eingangsmusik länger als 1.5s inne, bevor sie sich erheben. Die Dauer dieses Innehaltens macht es (wie beim Innehalten im Stehen, s. o.) wahrscheinlich, dass es sich um eine bedeutsame Unterbrechung handelt. Wie ist dieses kurze Verweilen in einer bewegungslosen Haltung interaktional zu verstehen? Zunächst lassen sich zwei unterschiedliche Varianten des Innehaltens vor dem Aufstehen unterscheiden: a) P ist bereits durch einen Einzug als Protagonist_in aufgetreten bzw. durch liturgische Kleidung oder einen Sitzplatz im privilegierten Wahrnehmungsfeld der anderen Teilnehmenden (dem Chorraum) hervorgehoben. b) P ist zuvor noch nicht aufgetreten und beendet die Pause mit ihrem ersten first pair-part als Protagonist_in. 4.4.4.1 Aufstehen als zuvor konstituierte Protagonist_in Für die erste Variante lässt sich wiederum Anis-A als Beispiel heranziehen. P wurde durch ihren Einzug mit der Lektorin zusammen bereits einmal zum Fokus der Interaktion, ausserdem ist sie als einzige Person im Kirchenraum liturgisch (mit einem Talar) gekleidet und sitzt überdies noch im wahrnehmungsprivilegierten Chorraum. Es dauert 5.2s zwischen dem Ausklang des letzten Orgeltones und der ersten Bewegung von P.

Wenn die Pause durch ihre Länge als solche erkennbar wird, ist es wahrscheinlich, dass die Protagonist_in sie ausführt (indem sie ihren first pair-part zurückhält) und dass sie diese durch einen weiteren first beenden wird. Die Pause bewirkt somit eine Anspannung und zugleich auch eine zusätzliche Fokussierung der Interaktion auf P. 4.4.4.2 Aufstehen als Konstitution der Rolle als Protagonist_in Die zweite Variante zeigt sich am Beispiel Anis-E. Obschon P hier kein liturgisches Gewand trägt und durch keinen Einzug bereits als Protagonist aufgetreten ist, wird die verstärkte Fokussierung auf P im Verhalten der restlichen Teilnehmenden deutlich sichtbar. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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[Clip 4.7, Anis-E 00:30:29.0–00:30:35.8] Nach Beendigung des Orgelspiels bewegen einige der Teilnehmenden ihren Kopf, um einen Blick nach vorne zu erhalten. Sie richten sich zu P hin aus, die in der vordersten Reihe sitzt. In der hinteren Reihe bewegen einige Teilnehmende ihren Kopf mehrmals hin und her, da ihre Sicht nach vorne teilweise durch Leute, die vor ihnen sitzen, versperrt wird. Die Pause dauert hier 5.4s.

4.4.4.3 Interpretation Die in beiden Sequenzen sichtbare Pause generiert einen Suspense-Effekt, da der erwartbare first pair-part seitens der Protagonist_in nicht erfolgt. Besonders gilt dies, wenn P durch einen vorangegangenen Einzug bereits als Protagonist_in vorbestimmt wurde und ein solcher first pair-part von ihr erwartbar ist. Momente, in denen weder etwas geschieht noch etwas gesagt wird, in denen die Kopräsenz und der gemeinsame Fokus aber bereits hergestellt sind, führen bei aufmerksamer Beteiligung zu einem direkten Erleben des Drucks, einen first pair-part zu erhalten. Diese Latenz der Interaktion führt dazu, dass die Wahrnehmungsspannung für den Moment des Wartens zunimmt. Wie sich in den oben beschriebenen Clips zeigt, versuchen einzelne Teilnehmende in der Pause durch Hin- und her Rücken des Kopfes einen Blick nach vorne zu erlangen. Diese Bewegungen sind keinesfalls zufällig, da sie sich vom nahezu be­ wegungslosen Verhalten während der Eingangsmusik wesentlich unterscheiden. Es lässt sich vermuten, dass die Spannung nach weiteren Sekunden auch wieder abfällt, nämlich genau dann, wenn die Teilnehmenden erkennen, dass das Geschehen vorne ein eigenständiges rituelles Element darstellt. Durch ihre Länge wird die Pause vor dem Auftritt zu einem eigenen Handlungszug im Ablauf des Gottesdienstes. Das lange Schweigen ist schliesslich im Hinblick auf den nachher erfolgenden turn, nämlich das Aufstehen von P, von Bedeutung. Dadurch, dass P den richtigen Moment möglichst hoch aufgebauter Spannung mit ihrem Aufstehen unterbrechen kann, konstruieren die restlichen Teilnehmenden P wiederum als Protagonist_in.

4.4.5

Aufstehen und zur Sprechposition Schreiten

In 11 der 13 Fälle des Samples erhebt sich P von ihrer Sitzposition und begibt sich zu einer Sprechposition, von wo aus sie ihre ersten Worte im Rahmen des Gottesdienstes (d. h. nach dem ersten Orgelton) sprechen wird. Spätestens mit diesem rituellen Element betritt P ohne gesonderten Einzug den visuellen © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Fokus­bereich des Gottesdienstraumes (s. Abbildung 6). Bei einer vorangehenden Pause beendet P dieselbe durch diesen Handlungszug. Das Aufstehen geht in der Regel direkt in ein Schreiten von der Sitz- zur Sprechposition über. Im Sample lassen sich zwei Typen dieses Elements ausmachen: a) P sitzt in der vordersten Reihe und begibt sich von dort zu einer Sprechposition im Chorraum (in 8 Fällen): Anis-B, Anis-E, Anis-F, Burg-B, Dime-A2, Dime-B sowie Anis-C (dort ist diese Sequenz allerdings zweigeteilt). b) P sitzt rechtwinklig zur Gemeinde auf einer Sitzgelegenheit, die sich seitlich im Chorraum befindet und begibt sich von dort zur Sprechposition (in 4 Fällen): Anis-A, Burg-A, Chiem-A und Chiem-B. Die Sprechposition ist in allen Fällen vis à vis der Blickrichtung der vordersten Sitzreihen ausgerichtet. Dies bedeutet, dass beim ersten Typus eine halbe Drehung von ca. 180°, beim zweiten eine Vierteldrehung von 90° ausgeführt werden muss, um von der Ausgangsausrichtung in die Zielausrichtung zu gelangen. 4.4.5.1 Konstitution eines vis-à-vis zwischen Sprechenden und dem Publikum Der Aufbau einer vis-à-vis-Konstellation lässt sich besonders deutlich an den folgenden zwei Wegstrecken aus zwei unterschiedlichen Gottesdienstgemeinden beobachten (s. Abbildung 12). Bei Chiem-A und Chiem-B schreitet P von ihrem seitlichen Sitzplatz direkt zu ihrer Sprechposition hinter dem Taufstein. P dreht sich dabei erst hinter dem Taufstein um 90° in Richtung des Mittelganges aus. Sie wechselt dabei ihre Blickrichtung von der Ausrichtung (1) zur Ausrichtung (2).

Abbildung 12: Der Gottesdienstraum von Chiemtigen und die Wegstrecke von P in Chiem-A und Chiem-B

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Sequenzanalysen   

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Abbildung 13: Der Gottesdienstraum von Aniswil und die Wegstrecke von P in Anis-F

Anders verläuft dies bei Anis-F, wo P beim Aufstehen von den anderen Teilnehmenden zunächst nur von hinten sichtbar ist (s. Abbildung 13). P erhebt sich hier von seinem Sitzplatz und ist dabei in Richtung des Chorraumes ausgerichtet (Ausrichtung 1). Er schreitet in dieser Ausrichtung bis zum Lesepult und dreht sich erst beim Lesepult in Richtung der restlichen Teilnehmenden (Ausrichtung 2) aus.

Die blosse Ausrichtung des Körpers ist für die Herstellung einer vis-à-vis-Konstellation nicht entscheidend. Es wurde bereits gezeigt, dass P als für die Wahrnehmung der restlichen Teilnehmenden privilegierte Person mit ihrer Blickrichtung ihren eigenen Fokus anzeigen, und somit denjenigen der gesamten Interaktion vorschlagen kann. Es lassen sich zwei Typen der Blickrichtung Ps während des Schreitens unterscheiden: a) P beugt sich beim Aufstehen deutlich vornüber und senkt ihren Blick auch während der ersten Schritte zum Boden; b) P beugt sich kaum vornüber und hält ihren Kopf während des Gehens aufrecht. Allerdings kommen beide Typen nur in wenigen Fällen in Reinform vor.

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4.4.5.2 Wechselnde Kopfhaltung während des Auftrittes Häufiger ist eine Kombination der beiden Kopfhaltungen. In Anis-F etwa liegt eine Mischung der beiden Typen vor: [Clip 4.8, Anis-F 00:33:04.9–00:33:13.4] Um sich zu erheben beugt sich P stark nach vorne, während er die Hände in seinen Schoss drückt. Sein Blick ist dabei zum Boden gesenkt. Aus dieser Haltung geht P in einen locker wirkenden Gang über, bei welchem er den Kopf zuerst kurz über die Sichthöhe hinaus hochhält, um ihn dann vornüber zu senken.

4.4.5.3 Ständiger Blickkontakt mit dem Publikum In Anis-C, wo der Auftritt in zwei Teilen erfolgt, die durch eine Sprechsequenz unterbrochen werden, bleibt der Blick von P während der gesamten Sequenz auf die restlichen Teilnehmenden ausgerichtet. Beim Auftritt hingegen ist die Kopfhaltung leicht zu Boden gesenkt: [Clip 4.9, Anis-C 00:33:48.0–00:33:53.5] 4.4.5.4 Auftrechte Kopfhaltung während des Auftrittes Im Unterschied zu den vorherigen Beispielen hält P in Chiem-B ihren Kopf während des Aufstehens und ihrem Gang zur Sprechposition aufrecht. [Clip 4.10, Chiem-B 00:14:19.8–00:14:25.5] Bereits während der Aufstehbewegung hält P ihren Rücken gerade und streckt ihr Kinn nach vorne. Sie hält den Kopf in dieser geradeausblickenden Position auch während der nachfolgenden Schritte. Erst als sie sich hinter dem Taufstein mittels einer Linksdrehung den restlichen Teilnehmenden zuwendet, senkt diese ihren Blick.

4.4.5.5 Bewegung des Oberkörpers während des Auftrittes Zuletzt lässt sich das in den bisherigen Beispielen gezeigte Schreiten mit dem Gang in Dime-A2 vergleichen. Hier wird im Unterschied zu den vorigen Sequenzen der Oberkörper nicht gerade gehalten, sondern wird hin und her schwankend mit den Schritten mitgeführt. [Clip 4.11, Dime-A2 00:06:47.4–00:06:55.7]

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Sequenzanalysen   

P erhebt sich von seiner Sitzgelegenheit bereits mit einer leichten Linksneigung.

[Dime-A2 00:06:48.2]

[Dime-A2 00:06:49.5]

Sein Kopf ist während des Aufstehens vornüber geneigt und verbleibt auch während der ersten Schritte in dieser Lage. Während der ersten Schritte neigt sich sein Kopf jeweils dem Schrittbein zu, ­ sodass er jeweils mit dem gesamten Oberkörper leicht hin und her kippt.

4.4.5.6 Interpretation Das Schreiten Ps von Sitzposition zu Sprechposition, die bereits von allen anderen Teilnehmenden visuell wahrgenommen werden kann, kann als Übergangsritual („rite de passage“20) verstanden werden. Beim starken Vornüberbeugen des Kopfes während des Aufstehens wird (wie auch beim oben besprochenen Innehalten im Stehen) ein nonphänomenaler Fokus durch P angezeigt. Ähnlich wie das Schliessen der Augen in der Kontemplation oder im Gebet stellt das vornüber gebeugte Gehen aber eine Selbsteinschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit dar. Mit einem zum Boden orientierten Blick ist ein zielgerichtetes Schreiten zwar möglich. P schränkt ihre eigene Wahrnehmung aber stark ein und wird auch nicht mehr fähig, auf visuelle Reize in ihrer direkten Umgebung zu reagieren. Dies lässt das Verhalten von P als wenig zufällig erscheinen: Ihr Weg wird nicht spontan anhand der in der Umgebung vorhandenen Reize unmittelbar vollzogen, sondern anhand einer intrinsisch-rituellen Orientierung.21 20 Vgl. Van Gennep 1999 sowie Turner 1995. 21 Zur Unterscheidung von intrinsisch- und extrinsisch-ritueller Orientierung vgl. o., Abschnitt 2.4.

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Bei einer aufrechten Haltung des Kopfes ist dies zwar ähnlich, es wird jedoch ein anderer Fokus angezeigt. P weist in diesen Fällen zwar immer noch von sich weg, nämlich in Richtung ihres Ganges bzw. zur Seitenwand. Aber sie zeigt sich zugleich als Protagonist_in, die ihre Umgebung visuell wahrnehmen kann, an. In Anis-F (ebenso in Anis-B oder in Anis-E) gilt dies nur teilweise, da P ihren Blick zwischen der aufrechten Stellung des Kopfes und der Bodenorientierung des Blickes hin und her wechselt. Ein solcher Wechsel wirkt weniger kontrolliert. Anders ist dies beim konsequenten Obenhalten des Blickes (vgl. o., Clip 4.10). Hier privilegiert P die im Raum geschehende Interaktion mit ihrem Blick als Fokus der gesamten Interaktion. Dieses Verhalten kann als Publikumsblick bezeichnet werden. Dieser Blick verdeutlicht bereits im Auftritt die Wichtigkeit des Vis-à-vis von Protagonist_in und den restlichen Teilnehmenden. Die aufrechte Haltung des Kopfes gibt diesem Publikumsblick zusätzlich einen hervorgehobenen Charakter, er wirkt stilisiert. Besonders hier fällt ein Unterschied zwischen den beiden analysierten Beispielsequenzen auf: Wenn die seitliche hin- und her-Bewegung während des Ganges vom Oberkörper mitvollzogen wird (Dime-A2), wirkt der Auftritt von P weniger hervorgehoben und alltäglicher als bei einem unbewegten Gang (Chiem-B). P bringt sich durch ihren Blick, ihre Haltung und ihre Schrittlänge während ihres Schreitens als Person noch stärker in den Fokus der Interaktion. Im Fall Dime-A2 hingegen wird die Hervorhebung (das Tragen eines Talars und den vorangegangenen stark stilisierten Einzug, s. o.) durch ein nicht-stilisiertes Verhalten, das hin- und her-Bewegen während des Ganges kontrastiert. PDimels* verhält sich im Vergleich mit dem rituellen Rahmen, den er durch seinen Einzug gesetzt hat, in seinem Schreiten weniger stilisiert.

4.4.6

Einnahme der Sprechposition

Im vorliegenden Sample lassen sich zunächst zwei Typen von Sprechpositionen unterscheiden, die eingenommen werden können: a) die Sprechposition befindet sich hinter einem Rednerpult oder hinter einem Tisch (bzw. dem zum Tisch umfunktionierten Taufstein); so bei Anis-A, Anis-B, Anis-C22, Anis-D, Anis-G, Burg-B, Dime-A2 und Dime-B. b) die Sprechposition befindet sich an einem freistehenden Ort, immer auf der Mittelachse des Kirchenraumes; so bei Anis-C, Anis-F und Burg-A. 22 Bei Anis-C handelt es sich um einen zweigeteilten Auftritt von P, wobei der erste Auftritt zu einem Standort im Zentrum des Chorraumes erfolgt und nach ersten Worten von einem zweiten Auftritt, dem Einnehmen der Sprechposition hinter dem Lesepult, abgeschlossen wird. Der erste Auftritt verläuft ähnlich wie in Anis-E, der zweite gleicht Anis-B und Anis-F.

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Sequenzanalysen   

4.4.6.1 Gang zur Sprechposition hinter dem Lesepult In interaktionsanalytischer Perspektive fungiert das Lesepult (sowie andere Gegenstände im Raum wie das Manuskript oder das Mikrophon) als eine Ressource, die eingesetzt werden kann, um die Interaktion zu gestalten. So etwa im Gottesdienst Anis-B: [Clip 4.12, Anis-B 00:33:39.5–00:33:48.9] Während des Schreitens zur Sprechposition hat P beide Hände frei. Er streckt seine Hand aber bereits in der Nähe des Rednerpultes nach dem Mikrophon aus. Dieses berührt er zwar nicht, dreht sich aber dennoch um dasselbe wie um einen Pfosten. [Anis-B 00:33:41.123]

Als P bei seinen Standort hinter dem Rednerpult zum Stehen kommt, rückt er zuerst mit beiden Händen das sich auf dem Pult befindliche Manuskript zurecht.

[Anis-B 00:33:43.0]

Erst anschliessend fasst er das Mikro­phon mit der linken Hand an und biegt es leicht nach oben, während er bereits zu den restlichen Teilnehmenden hochblickt.

[Anis-B 00:33:45.5] 23 Die Stills hier stellen jeweils vergrösserte Bildausschnitte dar.

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Er führt seine Hände an die Ränder des Pultes und beginnt dann zu ­sprechen.

[Anis-B 00:33:47.6]

Obschon dieser Vorgang spontan wirkt, scheint er einem routinierten Verhaltensmuster der Pfarrperson zu entsprechen. So zeigt sich der Vorgang nahezu unverändert auch im anderen von derselben Pfarrperson geleiteten Gottesdienst Anis-F: [Clip 4.13, Anis-F 00:33:09.8–00:33:18.0] Der Kontakt mit dem Rednerpult ist in beiden Fällen über das Mikrophon, über das sich auf dem Rednerpult befindliche Manuskript und über die Ränder des Pultes gegeben. In Anis-A findet eine ähnliche Form des Kontaktes mit dem Rednerpult statt, allerdings wird hier das Manuskript auf das Pult getragen: [Clip 4.14, Anis-A 00:58:54.2–00:59:00.6] P hält ihr Manuskript bereits während des Sitzens offen auf ihren Knien vor sich aufgeschlagen. In dieser Form trägt sie es hinüber zum Rednerpult, wo sie es auf der Ablagefläche ablegt.

[Anis-A 00:58:54.7]

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Sequenzanalysen   

[Anis-A 00:58:59.7]

Beim Hinübertragen hebt sie das Manuskript leicht über die Höhe der Ablagefläche. Nach dem Einschalten des Lichtes (bei 0:58:57.9) drückt sich P mit ihrem Oberkörper leicht vom Pult hoch und nimmt dabei eine über das Manuskript gebeugte Haltung ein, bei der zugleich das Gesicht etwas stärker zur Gemeinde hin ausgerichtet wird. P öffnet während dieses Hervordrückens am Pult den Mund, senkt ihren Oberkörper nochmals leicht. Aus dieser Haltung heraus werden die ersten Worte gesprochen.

Interessant bei diesen zwei Fällen ist, dass das Stehen am Pult mit diversen Vorbereitungshandlungen verbunden ist, die insbesondere das Manuskript, aber auch zusätzliche Einrichtungen wie eine Lampe oder ein Mikrophon am Pult betreffen. Der Blick zu den restlichen Teilnehmenden erfolgt in beiden Fällen erst kurz vor den ersten Worten. 4.4.6.2 Auftritt am Rednerpult Abweichend zu den vorigen Auftritten ist das Verhalten in der folgenden Sequenz, während der P sich durch ihr Aufstehen bereits hinter dem Rednerpult befindet: [Clip 4.15, Anis-D 00:33:10.1–00:33:22.1] P blickt hier in aufrechter Haltung in die Runde der anderen Teilnehmenden, nachdem sie sich erhoben hat. Anschliessend rückt sie aber, obwohl sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt unterschiedliche Manuskripte bereitgelegt hat, nochmals ihr Manuskript auf der Ablagefläche mit beiden Händen zurecht. Dazu senkt sie auch ihren Blick nochmals. Zuletzt blickt sie auf und lässt ihren Blick von links nach rechts ruhig in die Runde schweifen, wobei sie lächelt.

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4.4.6.3 Mischformen der Sprechposition Eine Mischform zwischen Sprechposition am Pult und freistehender Sprechposition wird von PDimels* gepflegt. In den beiden Fällen Dime-A2 und Dime-B stellt er sich hinter dem Taufstein auf, spricht dann aber frei stehend, ohne den Taufstein zu berühren. [Clip 4.16, Dime-A2 00:06:52.3–00:06:57.1] P legt sein Manuskript auf den Taufstein und schlägt es auf. Anschliessend nimmt er die Hände vom Tisch weg und faltet sie. Zeitgleich blickt er vom Manuskript auf und blickt die restlichen Teilnehmenden direkt an, während er die ersten Worte spricht.

4.4.6.4 Sprechposition ohne Rednerpult Bei Anis-E schliesslich nimmt P eine freistehende Position auf der Mittelachse des Kirchenraumes ein: [Clip 4.17, Anis-E 00:30:37.6–00:30:42.8] Der Gang von P ist gut abgefedert, sein Oberkörper bewegt sich stark von der linken zur rechten Seite. Die Bewegungen erscheinen nicht verlangsamt gegenüber einem alltäglichen Gang. P schwankt auch noch etwas mit dem Oberkörper als er mit den Füssen bereits den Stand gefunden hat. Die starre Haltung seiner Hände ist demgegenüber deutlich erkennbar. Er hält die von ihm mitgetragenen Notizzettel fest. P wendet seinen Blick von einer gerade nach vorne gerichteten Haltung, mit der er aus einer Drehung kommt, innerhalb von ca. 3s nach links (der rechten Sitzhälfte im Gottesdienstraum) zu. Aus dieser Position heraus beginnt er zu sprechen.

In Burgnellen* praktiziert PBurg schliesslich eine bestimmte Gestik, als er die Sprechposition ein erstes Mal erreicht: [Clip 4.18, Burg-B 00:23:42.0–00:23:45.5] P schreitet in einem deutlichen Bogen zu seiner Sprechposition hinter dem Abendmahlstisch. Zeitgleich mit seiner Zuwendung zu den restlichen Teilnehmenden blickt er hoch. Er hebt direkt anschliessend die Arme hoch in eine Orantenhaltung. Sobald diese erreicht ist (die Arme oben sind), atmet er ein. Dabei heben sich die Arme nochmals ein kleines Stück und sein Mund öffnet sich. Ausserdem beugt er sich leicht nach hinten über.

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Sequenzanalysen   

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4.4.6.5 Interpretation In der Gestaltung der Einnahme der Sprechposition in den untersuchten Gottesdiensten gibt es 1. unterschiedliche Haltungen, oft verbunden mit dem Aufbau einer ange­ spannten Gestik oder Mimik, sowie 2. unterschiedliche Fokussierungen bei P in kurzer zeitlicher Abfolge; namentlich die Ausrichtung des Blicks zum Manuskript oder zu den restlichen Teilnehmenden (den sog. Publikumsblick). Die interaktionalen Ressourcen24 Stehpult und Manuskript werden eingesetzt, um zu bestimmten Körperhaltungen oder einer bestimmten Fokussierung beizutragen. So wird beispielsweise das Manuskript in Anis-A durch präsentierendes Tragen als möglicher Fokus für alle Teilnehmenden angeboten. Ähnlich fungiert auch das Rednerpult in Anis-B, das P dazu dient, eine relativ bewegungsarme Haltung einzunehmen, in dem er mit seinen Händen die Ränder der Ablagefläche umgreift. Ausserdem ermöglicht das bereitstehende Pult P, auf Anhieb eine der Blickrichtung der restlichen Teilnehmenden entgegnende Ausrichtung (vis-à-vis) zu erhalten, ohne sich zuvor umherblickend orientieren zu müssen. In den Sequenzen wird ausserdem deutlich, dass bestimmte Fokussierungen und bestimmte Haltungen eingenommen werden. Denn bevor die ersten Worte gesprochen werden 1. wird eine relativ bewegungslose Haltung eingenommen; die Hände werden dazu vor dem Bauch gefaltet, ruhig hängen gelassen oder am Rednerpult festgeklammert; 2. wird ein Blickkontakt mit den restlichen Teilnehmenden (der Gemeinde) hergestellt; 3. wird haptischer und visueller Kontakt mit einem Manuskript hergestellt. Der erste Punkt lässt sich wiederum als Fokussierung auf etwas Nonphänomenales verstehen. Nicht die allfälligen sichtbaren Bewegungen von P, sondern die nichtsichtbaren Gehalte, die innerlich wahrgenommen werden können, stehen im Fokus der Interaktion. Der zweite Punkt legt einen gegenseitigen Fokus zwischen Pfarrperson und den restlichen Teilnehmenden nahe. Durch den Blickkontakt mit der Gemeinde (den restlichen Teilnehmenden) erwidert P die auf sie gerichteten Blicke und stellt „Wahrnehmungs-wahrnehmung“25 mit den

24 Vgl. o., 141, Anm. 19. 25 Vgl. Hausendorf 2004.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

restlichen Teilnehmenden her. Durch ihre Blickrichtung wird von P angezeigt, dass die restlichen Teilnehmenden diese Interaktion mitkonstruieren sollen. Man kann diesen Blick somit als Aufforderung (first pair-part) zur Beteiligung und das Zurückblicken der Gemeindeglieder als ihm entsprechender second pair-part verstehen. Der dritte Punkt schliesslich scheint dem zweiten zu widersprechen. Das Manuskript wird von P durch ihren Blick und in den meisten Fällen auch mit haptischem Kontakt als Fokus angeboten. Das durch P Fokussierte ist ein Schriftstück. Einerseits wird damit wiederum ein nonphänomenaler Fokus präferiert: das Schriftstück enthält Gehalte, die nicht in der Situation sichtbar sind. Andererseits ist dieser Fokus eindeutig symbolisch, genau genommen sogar anamnetisch: Der Gegenstand, auf welchen sich die Aufmerksamkeit richten soll, geht der unmittelbar stattfindenden Interaktion voraus  – er wurde zu einem vorherigen Zeitpunkt fixiert. P weist durch ihre Fokussierung des Manuskriptes über sich hinaus auf etwas, was der Situation selbst nicht immanent ist. Wie lässt sich das Nebeneinanderbestehen von so unterschiedlichen Fokussierungen, dem Blick zum Manuskript und dem Publikumsblick, verstehen? Es lässt sich zunächst festhalten, dass die unterschiedlichen Fokussierungen nicht zeitgleich auftreten, sondern sequenziell angeordnet sind. P wechselt ihren Blick vom Manuskript zu den restlichen Teilnehmenden, in den meisten Fällen findet dieser Wechsel sogar mehrmals statt. Somit ergibt sich eine zweifache Fokussierung, wobei P dafür zu sorgen scheint, die beiden Fokussierungen durch ihr Verhalten zu verbinden. Biblisch gesprochen vermittelt P wie ein lebendiges Scharnier zwischen zwei Foci der Interaktion: den verschriftlichten Fokus der Interaktion und dem phänomenalen Fokus des gegenseitigen Gegenübers zwischen P und den restlichen Teilnehmenden.

4.4.7

Zusammenfassung: Grundmerkmale der Interaktionsordnung

Der erfolgte Durchgang durch die nonverbal verlaufenden Auftrittssequenzen der Pfarrpersonen und die mit ihnen verbundenen Rahmungshandlungen der Interaktion ermöglicht eine vorläufige Konzeptionalisierung der Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste. Sie lässt sich zu folgenden Ordnungsmerkmalen verdichten: 1. die Interaktion ist durch zwei Klassen von Fokussierungen bestimmt: von einem Fokus auf die sichtbar anwesenden Teilnehmenden (Publikumsblick) und von einem unklaren Fokus, der auf einen nonphänomenalen Gegenstand schliessen lässt; 2. die Pfarrperson zeigt als Protagonist_in der Interaktion diese beiden Fokussierungen durch ihre Handlungsbeiträge (first pair-parts) an; © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Diskussion   

3. dabei privilegiert sie den nonphänomenalen Fokus und erzeugt damit eine „theatralische“ Semiose, die bei den Teilnehmenden viele Deutungen provoziert, ohne eine Deutung vorzugeben; 4. vereinzelte ihrer Verhaltensweisen, wie natürliches Auftreten oder Selbstkorrekturen, versuchen dieser Spannung jedoch entgegenwirken und sie abzubauen.

4.5 Diskussion Die erarbeiteten Grundmerkmale der Interaktionsordnung in den nonverbalen Auftritten der reformierten Gottesdienste sollen in der folgenden Diskussion im Gespräch mit liturgiewissenschaftlichen Konzeptionen entfaltet werden.

4.5.1

Nonverbale Interaktion und Bedeutung

Seit der Semiotischen Wende in der Liturgiewissenschaft wird davon ausgegangen, dass nonverbale Gestaltungselemente im Gottesdienst als „Sprachen“ verstanden werden können.26 Allerdings wird oft von einem grundsätzlicher Unterschied zwischen verbaler und nonverbaler Sprache ausgegangen. Karl-Heinz Bieritz etwa mit Verweis auf den Psychoanalytiker Alfred Lorenzer von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen „sprachsymbolischen“ (verbalen) und „sinnlich-symbolischen“ (nonverbalen) Formen von Interaktion aus, wobei letzteren eine zentrale Bedeutung für die Bildung grundlegender Eigenschaften der Persönlichkeit zukomme.27 So würden sich s.E. nonverbale Ausdrucksformen besser dafür eignen, das wofür man keine Worte findet, auszudrücken.28 Das Verhältnis von nonverbalem und verbalem Ausdruck ist aber nicht so klar zu bestimmen, können doch verbale Ausdrücke ebenso deutungsoffen gebraucht werden wie nonverbale Gesten, was sich z. B. im häufigen Gebrauch von Zeigegesten in Alltagsgesprächen zeigt: Ein Grossteil der Alltagskommunikation wäre ohne nonverbale Hinweise schlicht unverständlich. In interaktionsanalytischer Perspektive ist vielmehr von einem gleichberechtigten Nebenein­ ander von nonverbalen und verbalen Zeichen auszugehen. Beide, nonverbale wie verbale Zeichen, dienen letztlich dazu in einem bestimmten Interaktionsritual, einen bestimmten Fokus herzustellen bzw. ihn zu verschieben. 26 Vgl. Bieritz 2004, 224 f. 27 Lorenzer geht dabei davon aus, dass nonverbale Ausdrücke durch die Sprache im Laufe des menschlichen Lebens bewusst gemacht werden; vgl. Lorenzer 1981, 94 f. 28 Vgl. Bieritz 2004, 224.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

Der Verhaltensbiologe Michael Tomasello beschreibt Zeichen in ihrer kommunikativen Funktion als „gesellschaftliche Handlungen, die eine Person absichtlich an eine andere richtet (und hervorhebt, daß sie dies tut), um deren Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft auf bestimmte Weise zu lenken, so daß sie das tut, weiß oder fühlt, was die erste Person von ihr will.“29

Ähnlich bestimmt auch Goffman die Rolle des Blickes bei der Eröffnung einer Konversation. Das Anblicken einer anderen Person oder Personengruppe diene dazu, „ritually establishing an avowed openness to verbal statements and  a rightfully heightened mutual relevance of acts“30.

Die nonverbale Interaktion, die den ersten Worten in einem Gottesdienst voraus­geht, kann den Fokus der Interaktion nur auf im Raum präsente Gegenstände oder Personen lenken. Der Kontext bzw. Rahmen der Veranstaltung Gottesdienst setzt aber einen nicht gegenständlich vorhandenen Fokus, nämlich die Tranzendenz bzw. Gott, voraus (vgl. die theologische These der Arbeit, o. Abschnitt 1.2). Wer oder was auch immer in den Fokus der Interaktion gerät, ist privilegiert dafür, mit Gott, dem theologisch erwarteten Teilnehmenden der Interaktion, identifiziert zu werden. Theologisch muss jedoch gelten, dass weder sichtbare Personen noch Objekte im Gottesdienstraum mit Gott identisch sein können. Objekte und Personen in der Gottesdienstinteraktion können lediglich auf Gott verweisen.

4.5.2

Die zwei Fokussierungen der Interaktion

In den beobachteten Auftritten von Pfarrpersonen lassen sich verschiedene Verhaltensweisen erkennen, die darauf hinweisen, dass der Fokus der Interaktion nicht mit den Pfarrpersonen als Person identisch ist. Auch wenn durch Kleidung, Haltung und Interaktion deutlich wird, dass die Pfarrpersonen die zentralen Protagonist_innen der Interaktion sind, die durch das Innehaben sämtlicher first pair-parts das Geschehen bestimmen, zeigen sie zunächst eine deutliche Fokussierung auf etwas von ihnen und den anderen Teilnehmenden Unterschiedenes. Wo dies nicht ein menschenleerer Raum ohne eindeutig fokussierbare Mitte ist (so beim Einzug in Dime-A2) oder wo nicht eine signifikante Pause vor dem Auftritt ausgehalten wird, kommt besonders oft ein Manu29 Tomasello 2011, 362 f. 30 Goffman 1963, 92.

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Diskussion   

skript zum Einsatz, das so in den Blick genommen wird. Daneben wird in den meisten Fällen mit den anderen anwesenden Teilnehmenden Blickkontakt auf­ genommen. Dies geschieht in fast allen Fällen erst, nachdem die Pfarrperson das Manuskript oder den menschenleeren Raum fokussiert hat. Das Zurückhalten des Blickkontaktes zur Gemeinde im Rahmen eines Gottesdienstes lässt sich demnach als eine Massnahme zur Vermeidung der Identifikation mit dem nonphänomenalen Fokus, Gott, verstehen. Indem die Pfarrperson mit ihrem Blick von sich weg weist bzw. den Blick der anderen Teilnehmenden zunächst nicht erwidert, wird deutlich, dass der Fokus weder mit der Pfarrperson noch mit den restlichen sichtbaren Teilnehmenden identisch ist. Der einzige Gegenstand, der zu diesem Zeitpunkt fokussiert wird ist ein Manuskript, also ein Gegenstand, der mit nonphänomenalen Gehalten identifiziert werden kann. Erst nach dieser ersten Fokussierung wird ein Blickkontakt zwischen der Pfarrperson und den restlichen Teilnehmenden aufgebaut und der Fokus auf das Geschehen zwischen Pfarrperson und restlichen Teilnehmenden verschoben. In den meisten Fällen wechselt der Fokus nach dieser Kontakt­ aufnahme allerdings nochmals zum Manuskript hin.

4.5.3

Die Pfarrperson als Vermittler_in

Somit lässt sich die These aufstellen, dass die Pfarrperson die spezifische Interaktion des Gottesdienstes dadurch interpretiert, dass sie eine Mittlerrolle einnimmt. Sie wird in der Interaktion als Protagonist_in konstituiert, indem sie auf etwas von ihr Unterschiedenes hinweist und zugleich – wenn auch weniger gezielt und chronologisch später – visuelle „Wahrnehmungswahrnehmung“ mit den restlichen Teilnehmenden herstellt (Publikumsblick). Sie bringt damit zum Ausdruck, dass sie nur insofern im Fokus der Interaktion steht, als sie auf etwas von ihr Unterschiedenes hinweist und macht zugleich deutlich, dass dies nur dann effektiv ist, wenn zwischen ihr und den restlichen Teilnehmenden gegenseitige Wahrnehmung besteht. Die beschriebene interaktionale Vermittlung der beiden Foci lässt sich mit einer Beobachtung des Linguisten Ingwer Paul verbinden. Er beschreibt die Kommunikationssituation einer Pfarrperson im Gottesdienst folgendermassen: „Im Grunde vermittelt der Pastor zwischen zwei schweigenden Gesprächspartnern: der Gemeinde und Gott. Das Kommunikationsproblem des Pastors besteht in erster Linie darin, daß die Kommunikation zwischen diesen beiden Gesprächspartnern häufig nur durch seine Vermittlung möglich ist […].“31 31 Paul 1990, 183.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

Paul analysiert in seiner Studie zwar alleine die verbale Kommunikation im Gottesdienst. Das von ihm beschriebene „Kommunikationsproblem“ lässt sich unter interaktionsanalytischer Perspektive auch für die nonverbalen Vorgänge reformulieren: Angesichts der Bewegungslosigkeit der restlichen Teilnehmenden, ihrem verbalen und nonverbalen Schweigen, kommt der Pfarrperson die Rolle einer Protagonist_in zu, die die Interaktion in Gang bringt und vermittelt. Zugleich aber behält sie dabei einen nonphänomenalen Teilnehmender im Blick, der ebenfalls nicht durch sichtbare Handlungszüge an der Interaktion teilnimmt (also auch er schweigt in der Interaktion). Diese vertikale Interaktion (Gott mit den menschlichen Teilnehmenden) wird von der Pfarrperson auf einer horizontalen Ebene (zwischen ihr und den restlichen Teilnehmenden) verdeutlicht. Allerdings beschreibt Paul die Kommunikation im Gottesdienst (bemerkenswert für einen Linguisten) vom theologischen Selbstverständnis der Pfarrpersonen her. Dies hat damit zu tun, dass Paul den Gottesdienst als eine „institutionelle“ Kommunikationssituation interpretiert: Die religiöse Institution Kirche gibt s.E. die kommunikationstheoretische Ausgangslage für den Gottesdienst vor, m.a.W. kann ein Gottesdienst gar nicht nicht-religiös sein.32 Dies wird besonders deutlich an der von ihm aus offenbarungs-theologischen Modellen übernommenen Unterscheidung von „Wort“ (Menschenwort) und „WORT “ (Gotteswort).33 Für die in der vorliegenden Studie unternommene, die nonverbale Kommunikation umfassende, Analyse der Auftrittssequenzen darf die vermittelnde Rolle der Pfarrperson demgegenüber nicht in das offenbarungstheologische Muster eingezeichnet werden. Denn die Auftrittssequenzen weisen vorderhand keine expliziten Hinweise auf Gott auf. Somit ist die Pfarrperson zunächst nicht als Vermittlerin zwischen horizontaler und vertikaler Kommunikation, sondern als Vermittlerin von zwei noch näher zu definierenden Fokussierungen  – einer nonphänomenalen und einer phänomenalen – zu betrachten. Dabei bildet sie das Scharnier, welches durch proaktive Handlungszüge (first pair-parts), die Mischung beider Ebenen reguliert, indem sie den Fokus der Aufmerksamkeit der restlichen Teilnehmenden lenkt.

4.5.4

Priming des Fokusses der gesamten Interaktion

Die beiden Fokussierungen der gottesdienstlichen Auftritte stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern werden von den Pfarrpersonen in eine bestimmte Reihenfolge gebracht. Dabei kommt dem zuerst auftretenden Fokus 32 Vgl. ibid., 118 f. sowie Hausendorf und Schmitt 2010, 95 f. 33 Vgl. ibid., 25.

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Diskussion   

eine den späteren Fokus bestimmende bzw. ihn rahmende Funktion zu. Dies wurde in der Wahrnehmungs-psychologie als „Priming Effekt“ bezeichnet.­ Palmer und seine Mitarbeitenden stellten fest, dass zuerst auftretende Fokussierungen den Rahmen für nachfolgende Fokussierungen liefern und diesen gegenüber privilegiert sind, weil sie einfacher als nachfolgende Fokussierungen reaktiviert werden können.34 Da in den oben beschriebenen Sequenzen meist der nonphänomenale Fokus vor den anderen Fokussierungen auftritt, kann davon ausgegangen werden, dass er (zumindest innerhalb der Gottesdienst­ interaktion) gegenüber allen phänomenalen (gegenständlichen oder persönlichen) Foci bevorzugt wird. Der primäre Fokus des Gottesdienste ist somit gleichsam eine Leerstelle in der Wahrnehmung, die es noch zu identifizieren gilt. Die Interaktionsanalyse muss hier auf der Ebene der Deskription verbleiben: Es kann festgehalten werden, dass der primäre Fokus der Interaktion non­ phänomenaler Natur ist und es daher notwenig ist, ihn im weiteren Verlauf zu präzisieren. Dies verleiht dem Fokus der Interaktion Latenz und Spannung: Es wird erwartet, dass der primäre Fokus noch sichtbar werden wird. Hausendorf und Schmitt bezeichnen diese Wirkung des Zurückhaltens von Konkretisierungen zu Beginn von Gottesdiensten als „Vorverweisstruktur“.35 Von den non­ verbalen Verhaltensweisen her ist zu erwarten, dass diese Spannung im weiteren Verlauf der Interaktion durch einen gezielten nonverbalen Hinweis (eine Geste oder ein Zeichen) oder durch verbale Hinweise verdeutlicht wird. Die im folgenden Kapitel besprochene Erste Sprecheinheit könnte die Spannung abbauen und den Fokus weiter verdeutlichen. Es wird sich dort (Kapitel 5) allerdings zeigen, dass dies nicht der Fall ist.

4.5.5

De-Fokussierung als Anzeichen einer voraussetzungsreichen Interaktion

Gordon Lathrop hat das deiktische Verhalten von liturgischen Protagonist_innen aus lutherischer Perspektive normativ theologisch bestimmt. Er meint: „[T]he goal of the procession is to establish, by a human arrow, the clear center of the meeting“36. 34 So zeigte der Psychologe Stephen Palmer in den 1970er Jahren in einem berühmt gewordenen Experiment, dass Menschen, denen eine Zeichnung eines Brotlaibes gezeigt wurde, diesen mit beinahe doppelter Wahrscheinlichkeit identifizieren konnten, wenn ihnen zuvor eine Zeichnung einer Küche gezeigt wurde; vgl. Palmer 1975, beso. 519 f. 35 Vgl. Hausendorf und Schmitt 2010, 94. 36 Lathrop 1998b, 129.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

Die Einziehenden erzeugen gemäss Lathrop durch ihre eigene Fokussierung eine Deixis hin auf die zentralen Gegenstände im Gottesdienst, insbesondere den Altartisch und das Lesepult als Zeichen für die zwei heiligsten Handlungen des Gottesdienstes: die Verkündigung des Wortes und den Vollzug des Sakramentes. Ähnlich meint auch Michael Meyer-Blanck: „Die Amtierenden legen stellvertretend für die Gemeinde die Distanz zum heiligen Ort zurück, wo Wort und Sakrament dargeboten werden. Die Einziehenden haben die angemessene Spannung gegenüber Wort und Sakrament darzustellen, nicht sich selbst als heilige und würdige Persönlichkeiten.“37

Die von den Pfarrpersonen im nonverbalen Auftreten nahegelegte Verweisstruktur erhält so verstanden eine theologische Bedeutung: Sie zeigt, dass der Fokus der Interaktion nicht mit den Protagonist_innen der Interaktion identisch ist, sondern vielmehr bestimmte Gegenstände diesen Fokus ausmachen. Anders als in den Vorstellungen von Lathrop und Meyer-Blanck, die einen (hochkirchlichen) lutherischen Kirchenraum vor Augen haben, handelt es sich in den untersuchten Gottesdiensten jedoch gerade nicht um bestimmte Symbolgegenstände oder Orte wie das Lesepult oder den Altar. In Dimels* etwa wird der Chorraum deiktisch angezeigt, ohne das in ihm ein bestimmtes Objekt fokussiert werden könnte. Besonders deutlich wird dies schliesslich bei der primären Fokussierung des Manuskriptes. Durch dieses Textstück wird ein ausserhalb der Situation produzierter Zeichenvorrat, ein prämeditiertes Skript, zum zentralen Fokus in der Gottesdienstinteraktion. Der Fokus ist somit zugleich im Zentrum der Aufmerksamkeit und ausserhalb der unmittelbaren Interaktion. Das im Fokus der Interaktion stehende Manuskript transzendiert die Situation insofern, als es ein Dokument einer anderen Situation darstellt. Durch die Deixis der Pfarrperson auf das Manuskript wird ein Aussen­bezug in der Interaktionssituation des Gottesdienstes angezeigt, bevor überhaupt das erste Wort gesprochen wurde.38 Sie macht deutlich, dass der von allen Teilnehmenden geteilte Horizont über die unmittelbare Situation hinausreicht. Die Veranstaltung, die hier stattfindet, wird durch die Fokussierung des Manuskriptes als voraussetzungsreiche Interaktion bestimmt. Die theologischen Bestimmungen von Lathrop und Meyer-Blanck sind jedoch in den untersuchten Gottesdiensten kaum ersichtlich, da die Manuskripte und das Verhalten der Pfarrpersonen keine Hinweise auf eine theologische Besetzung des übersitua37 Meyer-Blanck 1997, 65. 38 Goffman bestimmte die interaktionale Funktion des verbalen Ausdrucks (der gesprochenen Sprache) folgendermassen: „Speech […] has another special role, allowing matters sited outside the situation to be brought into the collaborative process, and allowing plans to be negotiated regarding matters to be dealt with beyond the current situation.“ Goffman 1983, 3.

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161

Diskussion   

tionalen Horizontes der Gottesdienstinteraktion enthalten. Es darf also vermutet werden, dass die folgende Sprecheinheit den religiösen Charakter und die theologische Bedeutung der Interaktion klarer zu verdeutlichen vermag.

4.5.6

Antiritualität und Rollendistanz der Pfarrpersonen

Schliesslich lässt sich feststellen, dass die Fokussierungen der Interaktion auf die restlichen Teilnehmenden bzw. den nonphänomenalen Fokus in keinem Fall reibungslos verlaufen, sondern an vereinzelten Stellen abbrechen. Besonders deutlich wurde dies am Beispiel des Ganges von PDimels*, der den formalisierten Einzug durch einen informellen Auftritt zur Einnahme der Sprechposition kontrastierte. Noch häufiger ist der rasche und scheinbar nicht rhythmisierte Wechsel der Fokussierungsebenen in einigen Auftritten. Mit Rückblick auf die an Durkheim und Collins angelehnte Konzeption von Ritualität kann davon ausgegangen werden, dass der mit der Kopräsenz der Teilnehmenden gegebene Fokus der Interaktion dann den Symbolischen ­Effekt zeitigt, wenn der Fokus durch eine bestimmte rhythmische Abfolge bzw. Formalität von Handlungen aufrecht erhalten wird.39 Der spontan wirkende Wechsel der Fokussierung von P wirkt demnach weniger rituell als ein einmalig und formell erfolgender Wechsel derselben. Wo eine stark formalisierte Sequenz vorausging, wie etwa beim Einzug in Dime-A2 (vgl. Clip 4.1), die sowohl P als Fokus der Interaktion als auch den von P gewählten (unfokussierten) Fokus deutlich markierte, wirkt ein nachfolgender kaum formalisierter Auftritt der rituellen Dynamik entgegen. Damit ist aber noch nicht gesagt, ob solche Vorgehensweisen als Fehler oder Brüche im Rahmen der Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste zu interpretieren seien. Dazu müsste die normative Annahme unterstützt werden, dass es zu Beginn des reformierten Gottesdienstes alleine um den Aufbau von Ritualität ginge.40 Wird demgegenüber der Versuch unternommen, diese rituellen Temperaturwechsel als Bestandteile der Interaktionsordnung zu deuten,41 so wird deutlich, dass sie den Pfarrpersonen ermöglichen, ihren Symbolwert, den sie durch ihre deiktische Haltung erhalten haben, und somit ihre Rolle, im theatralischen Zeichenspiel des Gottesdienstes zeitweise zu verlassen. Solch 39 Collins spricht von gegenseitiger „rhythmischer Einstimmung“ („rhythmic entrainment“) der Teilnehmenden; vgl. Collins 2005a, 48. 40 Von dieser Annahme gehen die bereits zitierten linguistischen Untersuchungen zum Gottesdienst aus, da sie den reformierten Gottesdienst als Sonderfall institutioneller Kommunikation im Dienste der Religion verstehen; vgl. o., 138, Anm., 32. 41 Dies ist nach dem ethnomethodologischen Grundsatz „there is order at all points“ (Sacks) methodisch zwingend erforderlich; vgl. o., Abschnitt 3.3.

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Un-Sichtbarkeiten – Auftritte liturgischer Protagonist_innen

punktuelles Verlassen der Rolle ist insbesondere dann wichtig, wenn es darum geht, die Authentizität der ausgeführten Handlungen zu verdeutlichen. Kurzes Aussteigen aus der Rolle lässt eine Person hinter der Rolle erkennbar werden. Erving Goffman beschreibt diese interaktionale Funktionalität ritueller Brechungen als „Rollendistanz“: „Erklärungen, Entschuldigungen und Scherze sind alles Methoden, durch die das Individuum bittet, einige der bezeichnenden Merkmale der Situation als Quellen zur Definition seiner Person zu streichen. Da diese Manöver oft von den anderen Anwesenden akzeptiert werden, müssen wir erkennen, daß die Verantwortung des Individuums für die selbstexpressiven Konsequenzen der Ereignisse ringsum definitive Grenzen hat.“42

Durch Rollendistanz bildet sich also eine Differenz zwischen dem Verhalten einer Person und ihrer kurz zuvor angezeigten Intention. Dies umschreibt der Soziologe Roland Hitzler im Anschluss an Goffman folgendermassen: „Indem ein Mensch Rollendistanz ausübt, zeigt er im Rahmen eines Rollenspiels, daß seine Identität über diese Rolle hinausweist, daß er stets ‚mehr‘ ist als das, was er in seiner Rolle darstellt. Er deutet in der Distanzierung von einer Rolle an, daß er auch andere Rollen zu übernehmen vermag, und daß es einen jenseits der Rollen gelegenen ‚Fokus‘ gibt.“43

Dadurch, dass die Pfarrpersonen zeitweise sich von sich als Zeichen im Zeichenspiel des Gottesdiensttheaters distanzieren, machen sie deutlich, dass sie über ein handlungsfähiges Selbst verfügen, das hinter ihrer Zeichenfunktion steht. Dies tut ihrer Zeichenfunktion aber keinen Abbruch; im Gegenteil verstärken sie die von ihnen in der Rolle ausgeführte Deixis, weil sie zeigen, dass sie selbst mit der Ausübung der Rolle eine Intention verbinden. Würden sie jedoch immer im antirituellen Modus bleiben, wäre es nicht möglich, sich in diesem als Trägerinnen einer Rolle hinauszustellen bzw. wäre der antirituelle Modus gar nicht als solcher erkennbar. Die „Theatralität des Gottesdienstes“ (Roth) wird in der Interaktionsordnung der beobachteten reformierten Gottesdienste von den Pfarrpersonen so kontrastiert, dass sie selbst als von Schauspielenden zu unterscheidende echte Personen hinter ihrer Funktion sichtbar werden.

42 Goffman 1973a, 181. 43 Hitzler 1989, 342.

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5.

Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

„Religiöse Rede ist keine besondere Sprache, sondern gewöhnliche Sprache in besonderer Verwendung.“ Ingolf Dalferth1

Im vorangehenden Kapitel wurde dargelegt, dass die Interaktion in einem Gottesdienst durch bestimmte deiktische Handlungen der Pfarrperson und anderer Teilnehmender fokussiert wird und bestimmte zentrale Foci durch das Verhalten der Pfarrperson privilegiert werden. Diese Fokussierungen erfolgten mittels gestischer und mimischer Zeichen, die als nonverbal bezeichnet wurden, womit stillschweigend vorausgesetzt wurde, dass sie sich von einer weiteren Klasse von Zeichen, den verbalen Äusserungen unterscheiden. Tatsächlich werden durch das Hinzukommen menschlicher Rede in einer Interaktion die Fokussierungsmöglichkeiten erweitert. Dies gilt insbesondere für Sachverhalte, die ausserhalb der unmittelbaren Situation liegen und über die gesprochene Sprache mit der unmittelbaren Interaktion verknüpft werden können. Zu Beginn des Gottesdienstes stellt sich allen Teilnehmenden die Frage: Was für eine Art von Veranstaltung wird hier eröffnet? Zur Eröffnung einer Interaktion gehören in den meisten Fällen deklarative Sprechakte, welche die Interaktionsgattung benennen und sagen, was hier gespielt werden soll: „Ich begrüsse Sie zu …“ bzw. „Willkommen in diesem …“. Solche ersten Sprechakte setzen durch die Deklaration den Rahmen für die folgende Interaktion, da sie auf andere Interaktionssituationen mit ähnlicher Interaktionsordnung verweisen.2 Die folgenden Sequenzanalysen der ersten von einer Pfarrperson gesprochenen Worte im Gottesdienst sollen dies im Hinblick auf die Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste weiter verdeutlichen.

1 Dalferth 1974, 49. Mit dieser These fasst Dalferth den „Wittgensteinischen Fideismus“, die nachhaltigste Position der analytischen Religionsphilosophie des 20.  Jahrhunderts, zusammen. 2 Vgl. hierzu die konversationsanalytische Theorie von Schegloff 1972, beso. 1076.

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5.1

Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Kommunikationstheoretische Vorbemerkungen

Der Verhaltensbiologe Michael Tomasello sieht in der Kommunikation mit stimmlichen Zeichen den Vorteil, dass sie nicht nur an einen bestimmten Rezipienten gerichtet ist, sondern auch in der Umgebung der direkten Kommunikant_innen gehört werden kann. Daher, so Tomasello, seien „stimmliche Akte im Normalfall öffentlich und unter anderem deshalb relevant für die Etablierung bzw. Sicherung der Reputation [des Sprechenden] und dergleichen.“3 Ausserdem seien die stimmlichen Zeichen sehr variantenreich, was gegenüber Gesten eine komplexere Syntax ermögliche. Dieser Variantenreichtum habe über verschiedenste Interpretations- und Tradierungsprozesse zur Ausbildung der unterschiedlichsten Idiome geführt.4 Zugleich dürfe der Unterschied zwischen verbalen und nonverbalen Zeichen laut Tomasello nicht als fundamentales Kriterium für die Sprachlichkeit von Kommunikation betrachtet werden. Erstens stelle die ausschliesslich stimmliche Kommunikation einen seltenen Sonderfall situativer Kommunikation dar: in der überwiegenden Zahl von Kommunikationssituationen würden auch bei stimmlicher Verständigung komplementär und relevant Zeigegesten eingesetzt.5 Und zweitens seien gestische Sprachen, wie etwa Gebärdensprachen, funktional mit stimmlichen Sprachen äquivalent und ermöglichten vollständige Kommunikationsprozesse zwischen Individuen. Für Tomasello besteht daher das Spezifikum menschlicher Sprache nicht in den stimmlich produzierten Zeichen, sondern im Umstand, dass stimmliche und gestische Zeichen auf eine „geteilte Intentionalität“, d. h. einen von den Kommunikanten geteilten Verstehenshorizont, z. B. einen gemeinsamen Plan, hin geäussert würden.6 Die in diesem Kapitel untersuchten Sprechsequenzen stehen daher nicht im groben Kontrast zu den im vorigen Kapitel analysierten nonverbalen Auftritten. Vielmehr sind die gesprochenen Worte als Zeichenbestand auf derselben Ebene wie die gestischen Zeichen in der Interaktion zu analysieren. Allerdings wird deutlich werden, dass sich durch verbale Äusserungen feinere und komplexere Abstufungen von Fokussierungen erzeugen lassen, insbesondere was das Anzeigen von Sachverhalten anbelangt, die sich ausserhalb der unmittelbaren Interaktionssituation befinden. Diese ausser- oder übersituationalen Hinweise können als Erweiterungen des situationalen Horizonts der Interaktion betrachtet werden.

3 4 5 6

Tomasello 2011, 247. Vgl. ibid., 319–339. Vgl. ibid., 248. Vgl. ibid., 388.

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Sprechakttheoretische Vorbemerkungen   

5.2

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Sprechakttheoretische Vorbemerkungen

Die Sprechakttheorien von John L. Austin7 und John R. Searle8 wurden in der Liturgiewissenschaft etwa seit Beginn der 1980er Jahre intensiv rezipiert. Dabei ist insbesondere der von Austin dargelegte Sachverhalt von Interesse, dass auf der Ebene des situationalen Sprachgebrauchs (der Pragmatik) mit gesprochenen Worten nicht bloss Inhalte übermittelt werden, sondern auch Wirklichkeit hergestellt wird. Worte stellen in einer Gebrauchssituation nicht nur etwas bereits Vorhandenes fest (Austin spricht hierbei von „konstativen Äusserungen“9), sie setzen die Menschen, die sie aussprechen und hören, auch in bestimmte Beziehung zueinander und vollziehen so eine Handlung (in Austins Jargon handelt es sich um „performative Äusserungen“10). Solche Äusserungen können nicht wie Aussagesätze wahr oder falsch sein, sondern werden daran bemessen, ob sie gelingen oder nicht.11 Das Gelingen oder Misslingen einer Sprechhandlung wird an von den Teilnehmenden anerkannten, konventionalisierten Kommunikationsbedingungen bemessen. Die beteiligten Kommunikant_innen benötigen ein Wissen darüber, wer die Sprechhandlung in welcher Absicht und Haltung und mit welchen Konsequenzen aussprechen muss, damit sie „gültig“ ist.12 Es ist daher wenig verwunderlich, dass institutionelle und rituelle Kontexte sich besonders für Sprechhandlungen eignen. Austin weist in seiner Vorlesung zur Theorie der Sprechakte daher von allem Anfang an auf quasi-liturgische Sprechhandlungen als Beispiele für performative Rede hin. So sind das Ja geäussert in einer standesamtlichen Trauung, wie auch der Satz „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ‚Queen Elizabeth‘“, der beim Wurf einer Flasche gegen den Schiffsrumpf geäussert wird, Beispiele für performative Rede.13 In der Liturgiewissenschaft hat Josef Schermann eine systematische Untersuchung verschiedener gottesdienstlicher Sprechakte vorgelegt. So qualifiziert 7 8 9 10 11

Austin 2010. Searle 2003. Vgl. Austin 2010, 27. Ibid., 29. Genau genommen handelt es sich bei den Sprechakten nicht um eine gesonderte Klasse, sondern um einen bestimmten Aspekt von Äusserungen; vgl. Sadock 2004, 54. 12 Austin unterscheidet dabei die „Lokution“ (die gesagten Worte als Feststellung), die „Illo­ kution“ (die auf die zwischenmenschliche Konvention bezogene Aussage) und die „Perlokution“ (die Umsetzung bzw. tatsächliche Wirkung der Konvention); vgl. Ibid. 112–125. Ingolf Dalferth hat darauf hingewiesen, dass Sprechakte in religiösen Kontexten allerdings letztlich immer nach ihrer Wahrheit beurteilt werden, da sie nur dann „gelingen“, wenn sie gemäss religiöser Korrektheitsbedingungen (z. B. der Theologie) geäussert werden; vgl. Dalferth 1974, 48. 13 Vgl. Austin 2010, 28 f.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

etwa die Fürbitte unter dem illokutionären Aspekt betrachtet den Angesprochenen als Helfenden bzw. der Hilfeleistung Fähigen, unter dem perlokutionären Aspekt hingegen soll die Erhörung der Bitte durch den Angesprochenen bewirkt werden.14 Schliesslich teilt Schermann die Sprechakte in anabatische (zu Gott emporsteigende) und katabatische (von Gott herabsteigende) Handlungen ein, wobei die Unterscheidung nicht immer ohne Überlappungen der beiden Kategorien gemacht werden könne.15 In Schermanns Systematisierung wird deutlich, dass die Sprechsituation im Gottesdienst sowohl die Überzeugungen der Teilnehmenden betreffend (Gott ist zwar nicht sichtbar, aber ansprechbar) als auch betreffend des Selbstverständnisses der Sprechenden untereinander (die liturgischen Rollen) sehr voraussetzungsreich ist. Auch in einer anderen sprechakttheoretischen Untersuchung zum Eucharistischen Gebet macht Michael Merz deutlich, dass bei der gottesdienstlichen Kommunikation „nicht nur von den im realen Handlungszusammenhang der Eucharistiefeier visuell wahrnehmbaren Kommunikationsträgern“ ausgegangen werden sollte.16 KarlHeinrich Bieritz stellt schliesslich im Überblick über die sprechakttheoretischen Arbeiten zur Liturgie fest, „dass Sprechakte, die in allgemeiner zwischenmenschlicher Kommunikation vorkommen, eine neue Qualität zu gewinnen vermögen, sobald sie in religiösen bzw. liturgischen Kontexten erscheinen. Es ist sinnvoll, sie dann durchaus als Sprachhandlungen eigener Art zu behandeln.“17

Streng genommen wird mit solchen Feststellungen aber die Ebene der performativen Verankerung von Sprechakten verlassen. Gottesdienste mögen für sich genommen eine konventionalisierte Sprechsituation sein und spezifische (z. B. biblische oder traditionelle) Vorkenntnisse voraussetzen. Bei der Analyse von Sprechakten im Gottesdienst darf jedoch nicht von bestimmten Deutungshorizonten oder Vorstellungen bei den Teilnehmenden ausgegangen werden – es sei denn, solche würden sich als in actu-Wissen, d. h. als Wissen in der Beobachtung der Performanz, zeigen. Sprechakte können in der unmittelbaren Interaktion nur an ihre jeweilige Umgebung verweisende Verstehenshorizonte anbieten, die nur insofern bedeutsam sind, als sie in der Situation selbst von den Teilnehmenden (sicht- und hörbar!) interpretiert werden. Für die folgenden Analysen sind die Einsichten Austins und Searles also insofern aufzunehmen, als die für die Sprechakte konstitutiven konventionellen Bedingungen ihres

14 15 16 17

Vgl. Schermann 1986, 153. Vgl. Ibid., 138–154. Vgl. Merz 1988, 136. Bieritz 2004, 256.

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Das Sample im Überblick   

167

Gelingens aus den faktisch stattfindenden gottesdienstlichen Interaktionen abgeleitet werden. Nicht die intendierte Bedeutung der verbal mitgeteilten Zeichen steht in meiner Untersuchung im Fokus, sondern ihr Gebrauch im beobachtbaren, vorgefundenen Zusammenhang der Gottesdienste. Dabei ist –  wie im Eingangszitat von Ingolf Dalferth angetönt – nach den interaktionalen Bedingungen für einen religiösen Gebrauch von verbalen Ausdrücken zu fragen. Zu solchen Bedingungen gehören auch und in entscheidender Art und Weise die nonverbalen Zeichen in der Gottesdienstinteraktion. Die ersten Sprechakte der Pfarrperson werden somit im Folgenden in erster Linie als Beiträge zu einer fortlaufenden Interaktionssequenz analysiert, die parallel auf unterschiedlichen Sinnes­ kanälen verläuft. In der Weiterführung der oben (Abschnitt 1.2) formulierten Forschungsfragen wird in diesem Kapitel ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, inwiefern gemäss der Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste die notwendigen Bedingungen für einen religiösen Gebrauch von Sprache hergestellt werden.

5.3

Das Sample im Überblick

5.3.1

Abgrenzung der Ersten Sprecheinheit

Als Erste Sprecheinheit18 wird definiert als die Sequenz vom ersten von P in der Sprechposition gesprochenen Wort nach dem Eingangsspiel der Orgel bis zum Ende der Ansage des ersten Liedes. Da das Lied den Einsatz der Musiker_innen und der Teilnehmenden als Singende erfordert, kann die erste Sprecheinheit auch grob als initiale turn constructional unit (TCU) im Gespräch zwischen P und den restlichen Teilnehmenden verstanden werden.

5.3.2

Elemente der Ersten Sprecheinheit

Wiederum kann zunächst versucht werden, bestimmte Elemente der rituellen Sequenz auszumachen. Die Kategorisierung erfolgt dabei nicht nur anhand übereinstimmender Wortfolgen. Vielmehr wird der Versuch unternommen, Formulierungen, die einander vom verwendeten Vokabular her und/oder der

18 Diese Nomenklatur wird bewusst gewählt, da die liturgiewissenschaftlichen Begriffe (Grusswort, Eröffnung, Einleitung, usw.) vieldeutig gebraucht werden und jeweils bereits bestimmte rituelle Funktionen der untersuchten Sequenz bezeichnen.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Abbildung 14: Elemente der Ersten Sprecheinheiten; „*“ markiert uneindeutige Zuordnungen

syntaktischen Struktur her ähnlich waren, zu klassifizieren. Bei der Benennung der Elemente wird dort, wo ein traditioneller liturgiewissenschaftlicher Begriff vorhanden war, auf einen solchen zurückgegriffen. In Fällen, in denen es keine liturgische Bezeichnung gibt, wird anhand eines charakteristischen Merkmals einen neuen Kategorienamen kreiert.19 Überblickt man die rein quantitative Verteilung bestimmter Elemente, ergibt sich die folgende tabellarische Aufstellung (s. Abbildung 14). Aus der Übersicht wird deutlich, dass die Im Namen-Formel, das biblische Votum (ein einzelner Bibelvers), eine Proklamation der Gattung („wir sind versammelt zum/ feiern Gottesdienst“), eine Begrüssung der Teilnehmenden, eine inhaltliche Hinführung und eine Liedansage in mehr als der Hälfte aller Fälle vorkommen. Weiter ist die Liedansage zum Abschluss der Sprecheinheit das einzige Element, das in allen Fällen belegbar ist. In fünf Fällen liegt ein Hinweis zur Videographie im Gottesdienst vor. Es handelt sich dabei um das einzige Element in den Daten der vorliegenden Studie, das durch die Forschungsanlage explizit Eingang in die Daten gefunden hat.

19 Die Bezeichnungen Kanzelgruss und Adiutorium sind in der Liturgiewissenschaft etabliert. Die Im Namen-Formeln kennen unterschiedlichste Bezeichnungen, die sich an ihrer jeweiligen Platzierung in der Liturgie orientieren; vgl. Köber 1995.

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Das Sample im Überblick    Anis-C

Anis-B

Anis-A

Adiutorium

Adiutorium

Im Namen-Formel

Votum

Votum

Votum

Begrüssung

Begrüssung

Begrüssung

Hinweis auf Videographie

Im Namen-Formel

Thematische Hinführung

Thematische Hinführung

Thematische Hinführung

Information Musiker_innen Begrüssung Mitwirkende Entschuldigungen Liedansage

Hinweis zur Videographie

Hinweis zur Videographie

Liedansage

Liedansage

Abbildung 15: Vergleich der Elemente der Ersten Sprecheinheiten in Anis-C, Anis-B und Anis-A

Die Übersicht lässt – ähnlich wie bereits die Analyse der Auftritte gezeigt hat – darauf schliessen, dass ein Vokabular ritueller Elemente von den Teilnehmenden genutzt wird. Im Vergleich mit den nonverbalen Auftrittssequenzen werden die Elemente hier weniger als Alternativen eingesetzt, sondern oft in der Abfolge vertauscht. Dies wird in Abbildung 15 anhand des Vergleiches der Sequenz aus drei Gottesdiensten deutlich. Aus der exemplarischen Gegenüberstellung dieser drei Fälle lässt sich erkennen, – dass einige Elemente in allen Einheiten ungefähr an derselben Stelle in der Sequenz erscheinen (in der Tabelle kursiv); insbesondere ist die Begrüssung immer liturgischen Formeln oder biblischen Zitaten nachgeordnet. – dass einige Elemente alternativ verwendet werden können; so etwa kann anstatt des Adiutoriums am Anfang (so bei Anis-B und Anis-C) eine Im Namen-Formel stehen. Aus der Übersicht wird allerdings nicht ersichtlich, inwiefern die Prosodie (Intonation, Lautstärke, Betonung, Vokallänge, Phrasierung und Tonhöhenveränderungen)20 und die nonverbalen Zeichen zum Aufbau der Ersten Sprecheinheiten beitragen. 20 Vgl. die umfassende Definition bei Gumperz: „‚Prosody‘ […] includes: (a) intonation, i. e. pitch levels on individual syllables and their combination into contours; (b) changes in loudness; (c) stress, aperceptual feature generally comprising variations in pitch, loudness and duration; (d)  other variations in vowel length; (e)  phrasing, including utterance chunking by pausing, accelerations and decelerations within and across utterance chuncks; and (f) overall shifts in speech register.“ Gumperz 1982, 100.

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5.3.3

Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Kategorisierung von Elemente-Gruppen

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die ersten Sprecheinheiten strukturelle Grundmerkmale aufweisen, die durch eine Reihe von Alternativen und nicht-obligatorischen Elementen ergänzt werden. Für die weitere Analyse werden die Elemente in folgende Gruppen kategorisiert:21 – Liturgische Formeln und biblische Zitate – Begrüssungen und Gattungseröffnungen – Thematische Fokussierungen – Rituelle Impulse Diese Kategorisierung erfolgt nicht nach Strukturähnlichkeiten, sondern nach den unterschiedlichen rituellen Funktionen der Äusserungen. Da die vier Kategorien in nahezu allen Fällen auftreten, können sie als konstitutiv für die Interaktionsordnung des reformierten Gottesdienstes angesehen werden.

5.3.4

Exkurs: Sprachvarietäten im Schweizerdeutschen

Eine Besonderheit bietet sich in den Deutschschweizer Gottesdiensten durch die vorhandenen Sprachvarietäten. Das Schweizerdeutsche setzt sich aus einem Komplex unterschiedlicher dialektaler Varietäten der deutschen Sprache zusammen, die im alltäglichen Sprachgebrauch als sogenanntes Schweizerdeutsch mit dem Standard-deutschen konkurrieren. Üblicherweise wird dabei von einer „medialen Diglossie“ ausgegangen, d. h., dass Deutschschweizer_innen in der Regel Standard-sprache schreiben und Mundart sprechen.22 Die mediale Aufteilung wird aber in bestimmten Kommunikationsgattungen durchbrochen, so etwa in Rundfunkformaten wie den Nachrichtensendungen, in denen Standarddeutsch gesprochen wird, oder in modernen Medien, etwa bei SMS -Kontakten, wo Mundart geschrieben wird. Zu den klassischen Kommunikationsgattungen, an denen beide Sprachvarietäten zum Einsatz kommen, gehören auch die traditionellen Gottesdienste in der Deutschschweiz. Dabei stellt sich den Pfarrpersonen, zumal solchen, die mit einem Deutschschweizer Dialekt aufgewachsen sind, folgendes Problem, das Susanne Oberholzer in ihrer linguistischen Forschungsarbeit untersucht:

21 Nicht erfasst in dieser Kategorisierung sind die Hinweise auf die Videographie, die in Aniswil* aufgrund der Forschungsvereinbarung in die Ersten Sprecheinheiten eingefügt wurden. 22 Vgl. Sieber 2010, 374.

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Das Sample im Überblick   

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„Speziell an ihrer Situation ist, dass ihnen für die Ausübung des Berufes beide Varietäten für die Mündlichkeit zur Verfügung stehen, da die Kirche eine der Institutionen ist, wo Standarddeutsch (im Gottesdienst) auch als mündliche Varietät verwendet werden kann, selbst wenn die Gottesdienstbesucher alle aus der Deutschschweiz stammen und somit kompetente Dialektsprecher sind.“23

Dabei bezieht sich die Auswahlmöglichkeit nicht nur auf den mündlichen Vollzug, sondern auch auf die Vorlagetexte für den Gottesdienst. Denn, so Oberholzer, „[w]ill eine Pfarrperson Bibeltexte im Dialekt zitieren oder ein Dialektlied im Gottesdienst verwenden, stehen ihr eine Anzahl Dialektbibelübersetzungen und Dialektlieder zur Verfügung, jedoch bei weitem nicht immer im eigenen Dialekt.“24

Für die meisten Deutschschweizer_innen ist es allerdings sehr ungewöhnlich verschrifteten Dialekt zu lesen – besonders wenn er nicht dem eigenen Dialekt entspricht. Dies bildet sich auch im vorliegenden Sample ab: In keinem der videographierten Gottesdienste wird aus Dialektbibeln zitiert oder werden Dialektlieder gesungen.25 Ausserdem gibt es eine nicht zu vernachlässigende Zahl von (meist in Deutschland aufgewachsenen) Pfarrpersonen, die keine Deutschschweizer Muttersprachler sind und deshalb keinen Dialekt sprechen.26 Nichtsdestotrotz werden in den meisten Gottesdiensten des vorliegenden Samples beide Sprachvarietäten verwendet. In ihrer grossangelegten Studie zur Spracheinstellung von Pfarrpersonen kommt Oberholzer zum Schluss, dass die Abwechslung zwischen unterschiedlichen Sprachvarietäten innerhalb des Gottesdienstes nicht nur pragmatisch (aufgrund des Fehlens entsprechender Textquellen) zum Einsatz kommt, sondern sich mit Gestaltungsabsichten der Pfarrpersonen verbinden.27 Einige Pfarrpersonen verwenden bewusst Mundart und bezwecken damit näher bei der Alltagssprache ihrer Gottesdienstteilnehmenden zu sein.28 Im Folgenden soll der Wechsel von Mundart auf Standarddeutsch anhand einzelner Beispiele in ihrer Bedeutung für die Interaktionsordnung des refor23 Oberholzer 2014, 2. 24 Ibid. 25 Wie Oberholzer in ihrem Forschungsbericht anhand eines grösseren Samples darlegt, finden sich nur vereinzelte Pfarrpersonen, die aus Mundartübersetzungen vorlesen oder Dialektlieder singen lassen; vgl. Oberholzer 2014, 10 f.15. 26 In der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Graubünden stammen mehr als ein Drittel der Pfarrpersonen aus Deutschland; vgl. Meier 2007. Im vorliegenden Sample ist eine Pfarrperson, nämlich PDimels*, deutschstämmig und somit kein Deutschschweizer Muttersprachler. 27 Vgl. Oberholzer 2014, 17. 28 Vgl. ibid., 14.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

mierten Gottesdienste beschrieben werden. Dabei dient der von Gumperz entwickelte Begriff des „Code-Switching“29 als Konzept, um die interaktionstheoretische und rituelle Funktion des Wechsels zwischen den Sprachvarietäten zu erklären. Gumperz geht davon aus, dass Sprachvarietäten dazu dienen können, kontextuelle Informationen über den gesprochenen Inhalt zu geben.30 Dabei gilt in der vorliegenden Studie –  im Sinne der interaktions-analytischen Forschungshaltung – die Aufmerksamkeit dem Sprachgebrauch und nicht der Spracheinstellung.31 Die landläufigen Annahmen über die unterschiedliche Wirkung der Sprachvarietäten gilt es dabei zu differenzieren. So bemerkt Robert Schläpfer im Hinblick auf die Studie von Beat Rüegger zum Sprachgebrauch in Deutschschweizer Predigten: „Dass man dem Hörer eine Aussage in Mundart, seiner Primärsprache, näher bringt als mit der Standardsprache, trifft nur bedingt und nur unter bestimmten Umständen zu“32.

5.4 Sequenzanalysen 5.4.1

Liturgische Formeln

Liturgische Formeln und biblische Zitate stehen am Anfang aller Ersten Sprecheinheiten. Allerdings sind die Formulierungen sehr unterschiedlich gehalten. 5.4.1.1 Im Namen-Formeln Dies wird besonders deutlich bei den Im Namen-Formeln. In Chiem-A etwa wird die Sprechsequenz folgendermassen eröffnet: im namen gottes feiern wir diesen gottesdienst. (.) , ist die ↑fülle unseres lebens,

29 Vgl. Gumperz 1982, Kap. 5, 59–99. 30 So stellt er die Hypothese auf, dass „[i]n situational switching, where a code or speech style is regularly associated with a certain class of activities, it comes to signify or connote them, so that its very use can signal the enactment of these activities even in the absence of other contextual cues.“ Ibid., 98. 31 In der bereits erwähnten Studie von Oberholzer werden mittels verschiedenster Erhebungsmethoden sowohl Sprachgebrauch als auch Spracheinstellung bei Pfarrpersonen erhoben. Die Schwierigkeit dabei liegt auf der Hand: Die Pfarrpersonen zeigen ihre Spracheinstellung u. a. dadurch, wie sie Sprache im Gottesdienst verwenden. Die Gottesdienstteilnehmenden hingegen kommen mit ihrer Spracheinstellung nicht zur Sprache. 32 Schläpfer 1996, 26.

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jesus christus, leuchtet uns auf dem weg, ↑und der heilige ↓geist, führt und stärkt uns. (.) amen.

[Clip 5.1, Chiem-A 0:08:20.8–0:08:37.0]

Strukturell ähnlich aufgebaut, aber vom Wortlaut her anders formuliert ist dieses Element in Anis-E: wir feiern diesen gottesdienst:, im namen gottes des ↑schöpfers, (.) der und um↓fasst•:. (.) im namen gottes jesu von nazareth:, der starb,(.) um die zerstreuten zu sammeln. (.) und im namen gottes der heiligen geistkraft:, die uns (.) tröstet:, und ↓t:rägt:. (-) ↓amen.

[Clip 5.2, Anis-E 0:30:42.6–0:31:12.2]

Die Satzstellung von Chiem-A ist zu Beginn der Rede invertiert, so dass „im Namen Gottes“ vor den Rest des Satzes zu stehen kommt. Durch diese Inversion wird das vorangestellte Glied des Satzes hervorgehoben: Nicht das, was geschieht, sondern die Autorität, in deren Namen es geschieht, wird betont. Bei Anis-E hingegen ist derselbe Wortlaut ohne Inversion gegeben, was die entsprechende Betonung weniger deutlich werden lässt. Dafür wird der Zusammenhang zwischen der konstativen Formel („wir feiern diesen Gottesdienst“) und der Explikation der als „Gott“ angerufenen Autorität leichter möglich, da sich diese hier appositional anschliessen kann. In Chiem-A jedoch ist die wiederholte und (sowohl mimisch durch Kopfnicken als auch prosodisch durch einen höheren Sprechton) besonders betonte Nennung von „Gott“ in den zweiten Teil der Im Namen-Formel eingebaut.

Den zwei Fällen ist gemeinsam, dass sie die Explikation der Autorität dreigliedrig (entsprechend den drei Personen der Trinität) aufbauen und zu jedem Glied jeweils ausführliche Erklärungen anfügen. Die jeweiligen Zusätze unterscheiden sich aber sowohl vom Wortlaut als auch von der Phrasierung her beträchtlich. In Chiem-A sind sie als fortlaufende Sätze an die Nennung der jeweiligen Person angehängt. Die Formulierung in Chiem-A ist somit wesentlich schlanker, während in Anis-E vor jedem Glied die Formulierung „im Namen Gottes“ wiederholt wird und nach der Nennung der jeweiligen Person eine Explikation hypotaktisch angehängt wird. Ebenfalls gemeinsam ist, dass die Explikation gestisch-mimisch und von der Prosodie her stärker dramatisiert wird als der Anfang der Formel. Da die Formulierungen in beiden Fällen zugleich bildhafte als auch abstrakte Nomina („die Fülle unseres Lebens“, „Höhe und Tiefe“, „die Zerstreuten“) wählen, erhalten die Explikationen auch einen poetischen Charakter. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Schliesslich werden beide Formeln mit „amen“ abgeschlossen, wonach in beiden Fällen eine längere Sprechpause folgt. „Amen“ ist durch eine kürzere oder längere Pause von der Formel abgesetzt, aber dennoch deutlich auf sie bezogen, da es die Wortfolge prosodisch abschliesst (der Sprechton geht nach unten). 5.4.1.2 Kanzelgruss In anderen Fällen wird die Rede mit dem sogenannte Kanzelgruss eröffnet. Gemeint ist damit die paulinische Grussformel (1.Kor 1,3). Im Unterschied zu den Formulierungen bei der Im Namen-Formel, die lediglich die Wendung „im Namen“ sowie die dreigliedrige Explikation miteinander verband, geht es hier um einen in seiner verbalen Formulierung feststehenden Text. Dennoch unterscheidet sich die Aufführung dieses Textes z. T. erheblich. In Anis-F etwa wird folgendermassen gesprochen: gnade (.) sei mit euch und friede (.) von gott unserem vater (.) und dem herrn, ↑jesus:, ↓christus:. (.)

[Clip 5.3, Anis-F 0:33:17.6–0:33:25.7]

Dieselbe Formel wird in Dimels* auch verwendet, allerdings mit anderer Phra­ sierung: gnade sei mit euch, und friede. von gott unserem (.) vater, und dem herrn jesus (.) christus.

[Clip 5.4, Dime-A2 0:06:56.9–0:07:02.2]

Und schliesslich wird dieselbe Formel von derselben Pfarrperson in einem anderen Gottesdienst (Dime-B) wiederum leicht anders phrasiert: (.) sei mit euch, und ↓friede. von gott unserem vater und dem herrn ↓je↑sus christus.

[Clip 5.5, Dime-B 0:20:32.6–0:20:38.3]

Zunächst lassen sich zwei unterschiedliche Sprechstile bei PAnis-F und PDimels* unterscheiden. Während PAnis-F den Text teilweise abliest (der Blick geht an zwei Stellen zum Manuskript), spricht PDimels* jeweils ohne Blickkontakt zu seinem Manuskript. In beiden Formeln werden Pausen eingesetzt, die den Text in kleinere Redeabschnitte unterteilen. Diese Abschnitte entsprechen oft nicht den Sinneinheiten (deutlich bei „sei mit euch und Friede“), sondern versuchen die Formel mit einem Rhythmus zu unterlegen. PDimels* beispielsweise unterteilt den Spruch in beiden Fällen nach „Friede“ und vor „von Gott“ durch eine Pause, in Dime-B sogar durch Senken der Stimme. Durch diese Rhythmisierung wird deutlich, dass es sich beim Gesagten nicht um einen Aus© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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sagesatz im klassischen Sinne handelt. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die appositionale Stellung von „und Friede“, die eine unübliche Satzstellung bewirkt. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um eine wörtliche Übersetzung eines fremdsprachigen Textes handelt. Ähnlich wirken die Wörter „Gnade“ und „Friede“ (nicht Frieden), die für eine Anrede unüblich sind. Schliesslich ist die Anrede an „euch“ unüblich, sofern es sich bei den Angesprochenen nicht um nahe Vertraute handelt: Im institutionellen Setting wäre eine Anrede an „Sie“ (Höflichkeitsform) zu erwarten.

Die Phrasierung (Rhythmik und Pausen), Prosodie, Lexik (Wortwahl) und die gewählte Sprachvarietät (Standarddeutsch) weisen darauf hin, dass es sich bei der Formel um einen Satz handelt, der nicht in die unmittelbare Situation gesprochen wird. Da er dennoch eine Anredesituation konstruiert, könnte es sich um ein Zitat aus einer sich in der Vergangenheit befindlichen Redesituation handeln. Für bibelkundige Hörende ist der zitationale Charakter sogar sehr deutlich: Es handelt sich um die Anredeformulierung in paulinischen Briefen. Wie oben erwähnt kann dieser Bezug aber nicht vorausgesetzt werden. Gegen eine zitationale Redeform spricht weiter die auffällige Phrasierung sowie das Fehlen jeglicher Zitatmarkierungen und besonders bei PDimels* der Umstand, dass P mit Blick zu den Teilnehmenden spricht, also den Sprechakt als Anrede in die unmittelbare Situation vollzieht. Es bleibt also die Möglichkeit, dass es sich um eine Formel handelt, die von ihrer ursprünglichen Bedeutung abgelöst ist und hier im Rahmen der Gottesdienstsituation eine rituelle Wirkung entfalten soll. 5.4.1.3 Adiutorium Zwei Fälle aus der Gemeinde Aniswil* werden mit einem sog. Adiutorium eröffnet. Auch hier handelt es sich, ähnlich wie beim Kanzelgruss, um eine mehr oder weniger feststehende Formulierung, die jeweils unterschiedlich phrasiert wird. In Anis-C etwa folgendermassen: unsere hilfe steht im namen gottes:, der himmel und erde gemacht hat, (.) der ewig ↑wort: (.) und treue hält:, und nicht fahren lässt (.) das we:rk (.) seiner ↓hän↑de,

[Clip 5.6, Anis-C 0:33:56.9–0:34:11.1]

In Anis-B wird die Formulierung leicht verändert und durch eine andere Formulierung erweitert: unsere ↑hilfe steht: (.) im (.) namen (.) gottes, (.) der himmel und erde gemacht:, (. .)

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der ewig (.) treue hält, (.) und nicht: (.) ↓hände. denn gott hat uns ↑nicht den geist der ↑furcht gegeben,(.) sondern,(.) den geist der kraft:, und der liebe, und der besonnenheit:. (.) ↓am↑en,

[Clip 5.7, Anis-B 0:33:48.2–0:34:19.7]

Wenn die Erweiterung in Anis-B zunächst weggelassen wird, gleichen sich die beiden Adiutorien im Wortlaut nahezu vollständig. Es handelt sich um einen Hauptsatz, der durch einen den Träger der Autorität der Handlung (in dessen „Name“ „unsere Hilfe“ steht) erläuternden Nebensatz erweitert ist. Sowohl die Referenz auf eine Autorität als auch die im Verhältnis zur Nennung ausführlichere Explikation der Autorität erinnern an die oben analysierten Im Namen-Formeln. Lexikalisch kommen einige archaisierende Wendungen vor, insbesondere „im Namen stehen“ oder „fahren lassen“, die im modernen Standarddeutsch kaum mehr Verwendung finden. Die Syntax des Nebensatzes ist am Schluss invertiert. Beides sind Hinweise auf einen poetischen bzw. archaisierenden Sprachgebrauch. In Anis-B wird eine knappere Formulierung verwendet: Im ersten Satz wird bei „gemacht hat“ das „hat“ weggelassen, was dem Satz eine elliptische Dynamik verleiht. Ausserdem wird „Wort und“ weggelassen. Während in Anis-C die gesamte Rede ohne Manuskript und Lesepult und mit Blickkontakt zur Gemeinde gesprochen wird, spricht P (Anis-B) hinter dem Lesepult und blickt während der Rede gelegentlich in sein Manuskript. Auch die Phrasierungen sind sehr unterschiedlich: In Anis-C werden Sprechpausen jeweils übereinstimmend mit Sinneinheiten gesetzt; einzig bei den letzten fünf Wörtern der Rede verlangsamt P den Redefluss durch Pausen. Die Phrasierung in Anis-B wirkt demgegenüber dynamischer: Bereits bei den ersten Wörtern werden Pausen zwischen einzelnen Wörtern eingefügt. Die Passage „fahren lässt das Werk seiner Hände“ spricht P demgegenüber in einem Tonbogen und schneller als den Rest der Formel.

Insgesamt wirkt die Realisierung der Formel von PAnis-B poetischer als die­ jenige von PAnis-C, was vor allem die Phrasierung und der elliptische Kniff bei „gemacht“ verdeutlichen. Dies obschon PAnis-B den Text abliest, womit er anzeigt, dass der schriftlich-fixierte Text hier die Grundlage für diese Sprecheinheit bildet. Die Rede wirkt somit entweder zitational oder formal. Für Letzteres spricht wiederum der Umstand, dass der Blickkontakt zur Gemeinde und somit der Bezug zur unmittelbaren Situation deiktisch angezeigt wird (bei PAnis-B sieht man dies am ständigen Wechsel des Blickes vom Manuskript zur Gemeinde und zurück). In Anis-B wird dem Adiutorium mittels der Konjunktion „denn“ ein Satz angehängt. Der Redefluss von PAnis-B wird nicht unterbrochen und seine Phrasierung unterscheidet sich nicht von derjenigen beim Adiutorium. Semantisch suggeriert „denn“ eine Erklärung des zuvor Gesagten: „Unsere Hilfe steht im © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Namen Gottes“ gelte, weil „Gott […] uns nicht den Geist der Furcht gegeben“ habe. Die Satzstellung ist zwar nicht invertiert, weist aber eine mehrgliedrige Aufzählung auf, in der unüblicherweise nicht nur das letzte Glied, sondern auch das zweitletzte Glied mit der Konjunktion „und“ angehängt ist. Diese Doppelung wirkt poetisch, da sie einen Sinnüberschuss nahelegt. Interessanterweise ist hier  – ähnlich wie bei den Im Namen-Formeln  – nach einer kurzen Pause ein „amen“ an das Zitat angehängt, das allerdings nicht mit einem Full-stop (Ton geht vor einer kurzen Pause nach unten), sondern mit einem Half-stop (Ton bleibt oben) abschliesst.33 Wie auch beim Adiutorium handelt es sich bei diesem Zusatz vom Wortlaut her um ein Bibelzitat. Wie oben dargelegt darf aber nicht davon ausgegagen werden, dass der Text als Zitat erkennbar ist. Vielmehr gilt es zu fragen, ob die Sprechperformanz eine zitationale Rede nahelegt. Von der variantenreichen Phrasierung und dem Lesestil (Blickkontakt mit der Gemeinde wird immer wieder hergestellt) her liesse sich eher argumentieren, dass eine Formel vorliegt und nicht ein Text zitiert wird. 5.4.1.4 Biblische Voten Das Element biblisches Votum zeichnet sich weder vom exakten Wortlaut her noch durch eine syntaktische Struktur besonders aus. Es kommt im vorliegenden Sample nur dreimal als erstes Element innerhalb der Ersten Sprecheinheit vor. In weiteren sieben Fällen folgt es auf eine Im Namen-Formel, einen Kanzelgruss oder ein Adiutorium. Das Lexem der biblischen Voten lässt sich nur als Zitat erkennen, wenn der Ursprungstext der Bibel als bekannt vorausgesetzt wird und im Moment des Hörens reaktiviert werden kann. Dies lässt sich allerdings nicht voraussetzen. Die Zitationalität der Zitate muss daher unter interaktionsanalytischen Gesichtspunkten abgesehen vom Wortlaut markiert werden.34 5.4.1.4.1 Explizite Referenzangabe vor dem Zitat Die einfachste Form der Markierung erfolgt auf der lexikalischen Ebene dadurch, dass dem Zitat eine explizite Referenzangabe vorangestellt wird:

33 Ich verwende im Folgenden die englischen Bezeichnungen Full-stop und Half-stop, um im Unterschied zu Komma und Punkt deutlich zu machen, dass es sich um phonemische und nicht um graphemische Sachverhalte handelt. 34 Wenn die Zitationalität der Zitate nicht markiert werden würde, wäre allen Gottesdienstteilnehmenden, die sich nicht intensiv mit dem biblischen Text auseinandergesetzt haben und ihn aufgrund kurzer Zitate erkennen können, nicht deutlich, inwiefern sich diese Sprecheinheit vom vorherigen und vom nachfolgenden Satz unterscheiden würde.

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vom propheten (.) ↑MIcha=hören wir das wort, (.  .) es ist dir gesagt mensch was gut ist, und was der herr von dir fordert. nämlich gottes wort halten, (.) liebe üben, und demütich sein vor deinem gott.

[Clip 5.8, Dime-A2 0:07:11.4–0:07:31.0]

Die Referenzangabe ist in diesem Fall syntaktisch invertiert: Zuerst wird der Autor des Zitates als Quelle genannt („vom Propheten Micha“), wodurch dessen Name eine besondere Betonung erhält. Dann folgt eine Pause (nahezu 1s), an die sich das Zitat anschliesst. Das Zitat selber weist einige besondere Betonungen und Pausen auf, die sich nicht an den grammatischen Texteinheiten orientiert. Ausserdem ist die direkte Anrede nicht höflich (3. Person plural) formuliert und daher für die unmittelbare Kommunikationssituation unpassend. Das Zitat wirkt somit ähnlich wie eine liturgische Formel. Es wird mit einem Full-stop abgeschlossen, woran sich eine längere Pause von 2.1s anschliesst, bevor P die Rede wieder aufnimmt.

5.4.1.4.2 Explizite Referenzangabe nach dem Zitat Gerade anders herum wird die Referenzangabe in den beiden Gottesdiensten aus Chiemtigen* angehängt. So in Chiem-A: ge↑REchtigkeit (.) er↑HÖht ↓ein volk, (.) ↓aber die ↑SÜn↓de, ist der leute verderben. (2.1) das ist ein (.) ↑EINleitungswort

[Clip 5.9, Chiem-A 0:08:41.0–0:08:56.9]

Hier beginnt das Zitat unmittelbar nach einer Pause von 4s. Wiederum weist die Rede eine ähnliche Phrasierung auf wie die Im Namen-Formeln. Nach einem Full-stop folgt eine Pause, die 2.1s lang ist. Daran schliesst sich eine weitere Redeeinheit an, die die Referenz für das Gesagte nachliefert. Mit „das“ wird auf das eben Gesagte referiert. Es wird sogleich mit der Gattung „Einleitungswort“ bezeichnet, wobei weniger der (an liturgisch-theologisches Spezialwissen gekoppelte) terminus technicus, sondern eher die Wortkombination aus „Einleitung“ und „Wort“ deutlich macht, welche Bedeutung dem eben Gesagten zukommt. Die Gattungsbezeichnung wird innerhalb des Satzes durch eine besondere Betonung hervorgehoben. An die Gattungsbezeichnung schliesst sich eine Herkunftsbezeichnung an („aus dem Buch der Sprüche“), die sich hier – anders als im obigen Beispiel aus Dime-A2 – nicht auf einen Autoren, sondern auf einen Text bezieht. Die Bezeichnung des Textes wirkt durch bestimmte Artikel („das Buch der Sprüche“) allgemeingültig und abstrakt. An die Herkunftsbezeichnung schliesst sich appositional noch eine Verortung innerhalb des Textes an („Kapitel vierzehn“). © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Die Autorität des Zitates wird in dieser Referenz nicht nur über den wichtigen Text, der einen archaisch anmutenden Namen trägt, sondern auch dadurch, dass die Referenz innerhalb dieses Textes auf das Kapitel genau verortet wird, angezeigt. Durch die vermeintlich exakte Verortung des Zitates in der Quelle wird verdeutlicht, dass der Text auf der Ebene des Wortlautes herangezogen wird (und nicht etwa nur inhaltlich). Die Pause zwischen dem Zitat und der Referenzangabe erzeugt eine elliptische Spannung, die den Sinn und Zweck des Zitates für einen Moment in der Schwebe lässt. In der Rezeption könnte eine Pause als transition relevance place (TRP) gedeutet werden, da sie Raum für ein turntaking offenlässt. Die Pause könnte so von den restlichen Teilnehmenden zur inneren Verarbeitung des Gehörten bzw. zur Suche nach einem passenden Kontext oder einer passenden Quelle genutzt werden. Die Pause zwischen Zitat und Referenzangabe erzeugt in diesem Fall eine interaktionale Dynamik, indem sie eine Rezeptionsphase nahelegt. Zugleich verstärkt die Pause den Full-stop am Ende des Zitates und setzt somit die Zitatrede von der situationalen Rede durch P ab. 5.4.1.4.3 Abschluss des Zitates durch amen In den meisten Fällen des Samples werden biblische Zitate aber nicht mit Referenzangaben versehen. Vielmehr werden sie durch das Aussprechen von „amen“ im Anschluss an die zitierte Passage markiert. So etwa in Anis-D, wo das biblische Votum die Erste Sprecheinheit eröffnet: denn von ihm, und durch ihn und zum ihm sind ↑ALle=↓dinge. (.) ihm sei ehre in ewigkeit:. (1.6) amen, (2.6)

[Clip 5.10, Anis-D 0:33:20.4–0:33:33.5]

Mit „denn“ schliesst die Redeeinheit begründend an etwas Vorhergehendes an. Dieses ist aber nicht vorhanden – es handelt sich hier um die ersten Worte des Gottesdienstes. Diese Ellipse legt eine negative Rezeption nahe: Der Hörer kann sich fragen, an welche Aussage sich dieser Satz begründend anschliesst. Der Satz ist bis hierhin als Auszug aus einem grösseren Textzusammenhang erkennbar, da ihm wesentliche Rahmenbezeichnungen fehlen. Durch den Umstand aber, dass er mit einem Full-stop abgeschlossen wird, an den sich eine Pause von 1.6s anschliesst, wird verdeutlicht, dass er „für sich“ zu hören ist. Die Ellipse wird dadurch noch deutlicher. Schliesslich wird die Pause mit „amen“ beendet, dieses wird wiederum mit einem Half-stop versehen, an den sich eine weitere Pause von 2.6s anschliesst. Das „amen“ steht also ebenfalls für sich als eigener Sprechakt. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Das „amen“ erfüllt hier einerseits die Funktion, die mit der Pause nach dem Zitat verbundene elliptische Spannung aufzulösen. Es steht  – konversations­ analytisch gesprochen – an der Stelle eines möglichen turn-takings durch einen anderen Teilnehmenden. P übernimmt durch das „amen“ allerdings selbst den turn. Zugleich ist das „amen“ wiederum elliptisch, da der ihm folgende Halfstop eine Fortsetzung der Rede antizipiert. Das „amen“ beschliesst einen TRP und eröffnet sogleich einen weiteren. Somit führt es eine Schwelle in die trennende Pause zwischen Zitat und folgender Rede von P ein, welche verdeutlicht, dass ein rituelles Element endet und ein nächstes bevorsteht. Ähnlich fungiert das Wort „amen“ auch im folgenden Beispiel: ↑amen, ↓amen. ich sage euch. wenn das weizenkorn, nicht in die erde fällt und stirbt , wenn es (.) aber (.) stirbt bringt es (.) viel (.) frucht. (-) (amen). (3.8)

[Clip 5.11, Anis-F 0:33:27.0–0:33:50.3]

Eigentümlicherweise wird hier schon zu Beginn, d. h. innerhalb des Zitates das Wort „amen“ verwendet. Dies macht noch deutlicher, welche besondere Funktion dem Wort im Anschluss an das Zitat zukommt: Im Unterschied zum „amen“ im Anschluss wird „amen“ hier im Zitat nahezu ohne Pause an die nachfolgende Rede angeschlossen. Das „amen“ im Anschluss ist dann wesentlich leiser gesprochen (auf der Aufnahme ist es kaum hörbar), jedoch durch einen Full-stop und eine nachfolgende Pause von 3.8s vom Sprechakt getrennt.

Durch das „amen“ am Schluss wird auch hier eine Schwelle eingeführt, die den TRP nach dem Zitat unterbricht. Zugleich wird deutlicher als im obigen Beispiel durch den Full-stop das Ende der Verarbeitungsphase markiert. Die nachfolgende Pause verdoppelt somit nicht die Phase der Rezeption, sondern ermöglicht vielmehr eine Neufokussierung der Interaktion: Mit „amen“ sind das Gesagte und die nachfolgende Verarbeitung des Gesagten beendet, nun wird ein neuer Fokus gesucht. Insofern fungiert die Pause im Anschluss an das „amen“ als kurze Sequenz eines erneuerten Auftrittes von P. Bezeichnenderweise blickt P hier auch erneut in sein Manuskript, womit er wiederum von sich weg auf den ihm vorliegenden Text zeigt. 5.4.1.4.4 Kombination von Referenzangabe und amen Schliesslich sei noch auf eine eigentümliche Kombination der Markierung durch Referenzangabe und Abschluss mit „amen“ hingewiesen. In Burgnellen* © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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wird sie von P zusätzlich durch eine Geste mit erhobenen und ausgebreiteten Armen35 markiert:

[Clip 5.12, Burg-A 0:26:12.8–0:26:26.5]

P erhebt seine Arme über die Schulterhöhe bevor er zu sprechen beginnt und senkt sie nach dem „amen“ wieder, bevor er zur nächsten Sprecheinheit übergeht. Interessanterweise wird dadurch nicht nur das Zitat, sondern auch die vorgeschobene Referenzangabe sowie das „amen“ und die Pause im Anschluss hervorgehoben. Das „amen“ wird von P mit einem Kopfnicken nonverbal betont.

Die durchgehende Haltung weist darauf hin, dass es sich bei der Kombination von Referenzangabe, Zitat, „amen“ und anschliessender Pause um einen durchgehenden Sprechakt handelt. Es ist insofern auch sinnvoll, dass P während des Aktes seinen Blick zur Gemeinde gerichtet hält, da er mit den Worten, die er hier ausführt, nicht nur einen Sprechakt zitiert, sondern ihn in der unmittelbar stattfindenden Interaktion vollzieht. Allerdings grenzt P das „amen“ dennoch vom Zitat ab, in dem er es mit einem Kopfnicken nonverbal betont. Dieser Stroke36 kommt dabei auf der erste Silbe „am-“ zu stehen. Das Wort erhält so den Charakter eines pointierten Signals, das einen TRP anzeigt. Auch wenn P in der Folge weiterhin die einzige Person bleibt, die redet, und so als einziger die first pair-parts in der Interaktion liefert, zeigt er hier unmissverständlich einen vorläufigen Schluss an. Während der folgenden 3.6s steigt er aus der durch seine Haltung eingenommenen Rolle aus und orientiert seinen Blick nach unten zum Manuskript. P bereitet so einen neuen Fokus für die Interaktion vor. Das „amen“ dient ihm dazu, diese Vorbereitungszeit von der Rezeptionsphase im Anschluss an das Zitat zu unterscheiden. Es lässt sich festhalten, dass sich eine interaktionale Bedeutung des Wortes „amen“ abzeichnet, die von seiner hebräischen Bedeutung „(so) sei es“ oder „(so) steht es fest“ nicht erfasst werden kann.37 Dies gilt insbesondere dann, wenn das Wort von niemandem ausser P mitgesprochen wird. Anders als etwa in 35 In der liturgiewissenschaftlichen Literatur wird diese Haltung als „Orantenhaltung“ bezeichnet; vgl. dazu Heid 2009. Meines Wissens wurde in der Liturgik bislang noch nicht verhandelt, wodurch sie sich von der Segenshaltung, die in vielen Fällen bei den Segensworten am Schluss des Gottesdienstes eingenommen wird, unterscheidet. 36 Vgl. o., 37, Anm. 52. 37 Vgl. Jeremias und Krause 1978.

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römisch-katholischen Gottesdiensten findet in den reformierten Gottesdiensten auch keine Formel Anwendung, die zur Konstruktion eines turns, der von den restlichen Teilnehmenden übernommen wird, beitragen könnte.38 5.4.1.5 Interpretation In der Analyse der Ersten Sprecheinheiten wurden vorerst zwei unterschiedliche Gattungen von Sprechakten ausgemacht: die Formel und das Zitat. Die meisten Fälle verbinden die beiden Aspekte miteinander. Dabei steht jeweils die Performativität und somit die Formelhaftigkeit der Rede im Vordergrund.39 Die Pfarrpersonen unterstützen sie dadurch, dass sie die ersten Worte in der Regel mit Blickrichtung zur Gemeinde aussprechen und somit den Situationsbezug der Worte vor den Zitationscharakter stellen. Zitate aus der Bibel werden an dieser Stelle somit nicht als Zitate vorgebracht (obschon sie in gewissen Fällen als solche eingeleitet und markiert sind),40 sondern werden als rituelle Impulse verwendet. Ausserdem wird in einigen Fällen die Performativität durch nonverbale Elemente verstärkt, besonders eindrücklich in Burgnellen*, wo die ersten Worte in einer besonderen Haltung (Orantenhaltung) gesprochen wurden. Die Performativität der liturgischen und biblischen Formeltexte wird aber nicht nur innerhalb der Redeeinheiten deutlich, sondern auch dadurch, wie diese von den folgenden Sprecheinheiten abgetrennt werden. In den meisten Fällen folgt auf den Sprechakt eine längere Pause, in welcher P sich am Manuskript orientiert oder mindestens den Blick deutlich von den restlichen Teilnehmenden abwendet. Diese Pause zeigt, dass die losgelösten Zitate oder Formeln für sich stehen und bei den Rezipienten einen hermeneutischen Suchprozess nach möglichen Kontextualisierungen auslösen sollen. Dieser Prozess entspricht einer Verarbeitungszeit des Gehörten. Die Pausen lassen sich somit als rhetorische Ellipsen verstehen, die eine negative Rezeption nahelegen.

38 Eine geläufige Formel hierzu wäre: „dies bitten wir durch Jesus Christus [allenfalls noch mit Epitheta des Namens]“ worauf die restlichen Teilnehmenden mit „amen“ antworten. 39 Laut der Systematischen Liturgik von Alfred Ehrensperger versteht man unter einer liturgischen Formel „ein[en] Text […], der in geprägter Form über längere Zeit in bestimmten Kontexten verwendet wird.“ vgl. Ehrensperger 2004d, 1. Er betont weiter, dass Formeln als „Ausdruck menschlicher Interaktion“ aufzufassen sind und deshalb nicht „begründen“, sondern „thetischen Charakter“ haben und keiner zusätzlichen Erklärungen bedürfen; vgl. ibid. Diese Auffassung entspricht der oben dargelegten Definition eines Sprechaktes als eines in einem bestimmten Kontext effektiven, d. h. kontextverändernden Geschehens. Ich verstehe somit unter einer Formel eine Sprechsequenz, die in erster Linie verändernd auf die Interaktionssituation und ihre Teilnehmenden wirkt und weniger ein Akt der Information. 40 Dies im Unterschied zu den als Zitaten aufgeführten Lesungen; vgl. u., Kapitel 7.

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Noch deutlicher wird die Performativität durch das Signalwort „amen“ gebildet: Es schliesst sich nach einer kurzen Pause an eine Formel oder ein Zitat an und zeigt damit, dass die Performanz sowie eine darauf folgende Verarbeitungszeit abgeschlossen sind und sich nun eine Neufokussierung der Interaktion anbahnt. Somit fungiert das Wort „amen“ als eine Schwelle zwischen der performativen Rede und einer nachfolgenden Redeeinheit.

5.4.2

Begrüssung der Interaktanden und Deklaration der Interaktionsgattung

An die liturgischen Formeln schliesst sich in den meisten Fällen eine Rede­ sequenz an, die direkt auf die unmittelbare Interaktion und die an ihr teilnehmenden Personen bezogen ist. 5.4.2.1 Begrüssung und Eröffnung der Interaktionsgattung In den meisten Fällen wird die performative Eröffnung der Interaktionsgattung und die Begrüssung der Interaktanden zu einem Sprechakt verbunden.41 Am schlanksten in einer Formel wie der folgenden aus Chiemtigen*: liebi gmeind. ich begrüesse sie ↑GAnz herzlich zu dem gottesdienst.42

[Clip 5.13, Chiem-B 0:15:06.2–0:15:11.7]

Mit „liebe Gemeinde“ werden die Anwesenden als Kollektiv und nicht als Einzelpersonen angesprochen. Durch den deutlichen Full-stop am Ende der Nennung der Gruppe wird diese als für sich stehende Anrede verständlich. Der nachfolgende Satz, „ich begrüsse Sie“ ist gemäss der Anrede an ein Kollektiv gerichtet, wird hier aber als Höflichkeitsform im Plural formuliert: Die Anrede „Sie“ nimmt die einzelnen Teilnehmenden als Teilhabende am Kollektiv wahr.

41 Dass die Kombination nicht zwingend ist, zeigt sich in Dime-A2, in welchem gar keine Begrüssung der Teilnehmenden stattfindet. Stattdessen eröffnet P die Interaktionsgattung mit einer Deklaration: wir sind versammelt heute am (.) ↑LEtzten sonntag im kirchenjahr. [Dime-A2, 0:07:03.5–0:07:07.6] Ähnlich auch Anis-E, wo die Deklaration der Gattung direkt in eine Im Namen-Formel überleitet. In Anis-E wird anstatt einer Begrüssung eine Vorstellung verschiedener Mitwirkender vorgenommen [vgl. Anis-E, 0:32:10.0–0:32:46.6]. Die Beispiele ohne Begrüssung bilden Ausnahmen – jedoch wird dort die Gattungseröffnung jeweils durch andere Formulierungen ersetzt. 42 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Liebe Gemeinde. Ich begrüsse Sie ganz herzlich zu diesem Gottesdienst.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Zugleich wird durch die Formulierung deutlich, dass der Gruss vom redenden Subjekt („ich“) ausgeht, das sich hier erstmals im Gottesdienst nicht nur durch die Prag­ eklariert. matik (das Ausführen aller first pair-parts), sondern auch verbal als Subjekt d

Die Begrüssung erfolgt direkt auf die Interaktionsgattung bezogen, die somit ebenfalls zum ersten Mal verbalisiert wird: „zu diesem Gottesdienst“. Dadurch wird zugleich mit der Konstitution des Sprecherverhältnisses („ich“ spricht höflich zu einem Kollektiv, das aus Individuen besteht) auch die Interaktionsgattung auf einer Metaebene (nämlich der Rede über ihre Ausführung) eröffnet. Interessant ist in diesem Zusammenhang das demonstrative „dieser“, das auf die räumliche und zeitliche Nähe der Gattung hinweist: die Begrüssung bezieht sich auf den Gottesdienst, der gerade hier und jetzt stattfindet. Der Sprechakt bezeichnet somit ein Geschehen, das in der Gegenwart bereits im Gange ist und benennt es. Die Prädikation der Begrüssung als „ganz herzlich“ zeigt eine innere Regung oder Intention der Sprecher_in an. Dass sie die Intention aber explizit werden lässt, kann als Hinweis auf die Prekarität dieser Intention verstanden werden: Wenn eine Absicht angezeigt wird, kann dies das tatsächliche Vorhandensein der Absicht auch in Frage stellen; die Absicht müsste bei ihrem tatsächlichen Vorhandensein nicht zwingend angezeigt werden – sie wäre dann selbstverständlich. Die Verstärkung des Adverbs durch „ganz“ kann als Versuch gedeutet werden, die Prekarität der Intention durch stärkere Anzeige der Absicht aufzulösen. In ähnlicher Weise, aber weniger formalistisch, erfolgt die Begrüssung in Anis-D: ↑so begrüsse ich euch (.) ↑al↓le zu dieser feier heute (.) zum gründonnerstag,

[Clip 5.14, Anis-D 0:33:34.5–0:33:40.9]

Im Unterschied zur obigen Formulierung wird hier der standarddeutsche Sprachcode verwendet. Die Angeredeten werden nicht bürgerlich-höflich mit „Sie“, sondern wie Vertraute von P mit „euch“ angeredet. Das auffällig phrasierte „alle“ kann als Vereindeutigung der Anrede von „euch“ verstanden werden. Durch den Zusatz „alle“ wird der Rezipientenkreis explizit auf alle Personen ausgedehnt, die den Gruss hören können. Auch diese Vereindeutigung täuscht nicht über die Prekarität der Anweisung hinweg, nämlich die Möglichkeit, dass tatsächlich nicht alle mit der Begrüssung angesprochen werden. Die Interaktionsgattung wird hier als „Feier“ bezeichnet und wiederum in die zeitliche Nähe („diese […] heute“) verortet. Ausserdem wird ein Tag, genauer genommen ein jährlich wiederkehrender Festtag („Gründonnerstag“) als zeitlichen Bezugspunkt des Geschehens bestimmt. Interessant ist ausserdem das mit hoher Tonalität aus­gesprochene „so“ zu Beginn des Sprechaktes. Es kann als Referenz auf die zuvor (vor der vorangehenden Pause von 2.6s) gesagten Worte verstanden werden könnten. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Auch im Beispiel aus Anis-D zeigt sich, dass der Interaktionsraum im Vergleich zu den liturgischen Formeln in die räumliche und zeitliche Nähe gerückt ist und sich auf unmittelbare bzw. singuläre Kontexte bezieht. 5.4.2.2 Begrüssung und Vorstellung der Interaktanden Die Referenzen auf unmittelbare und singuläre Sachverhalte können aber noch expliziter werden. Dies zeigt die folgende Passage aus Chiem-A: liebi gmeind, (. .) (.) ××× ×××, (.) liebi gescht, (.) ich begrüesse sie ganz herzlich zu dem gottesdienst, am eidgenössische dank buess, und bettag.43

[Clip 5.15, Chiem-A 0:08:59.4–0:09:14.9]

Die Anrede ist hier nach drei unterschiedlichen Kollektiven aufgeteilt, wobei P diese nicht einfach nur erwähnt, sondern auch durch Handgesten bzw. durch ihre Blickrichtung anzeigt – besonders auffällig beim Chor, zu dem P sich umdreht.

In Chiem-A wird deutlich, dass die beteiligten Personen durch die Begrüssung in den Fokus der Interaktion gestellt werden. Genau genommen erscheinen sie erst durch diese verbale (und teilweise nonverbale)  Deixis von P als Inter­ aktanden in der Gottesdienstinteraktion, da P zum Zeitpunkt der Rede den Fokus der Interaktion auf sich versammelt hat. Andere Teilnehmende können aber auch als Autoritäten für den von P ausgeführten Sprechakt zur Sprache gebracht werden. Eigentümlicherweise geschieht dies mittels der Formel „im Namen von“, die bereits in den Im Namen-Formeln Verwendung fand. Sie wird hier aber auf phänomenale Personen angewendet, so etwa in Anis-B: (ich) (.  .) begrüssä (.) euch (.) , (.) im name vo de M×× ×× und me:r zu=däm, ↓gottesdienscht,44

[Clip 5.16, Anis-B 0:34:20.3–0:34:31.2]

43 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Liebe Gemeinde, lieber Jodelchor unter der Leitung von Xxx, liebe Gäste, ich begrüsse Sie ganz herzlich zu diesem Gottesdienst, am eidgenössischen Dank- Buss- und Bettag. 44 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: (Ich) begrüsse euch alle ganz herzlich im Namen von Xxx Xxx und mir zu diesem, Gottesdienst,

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Die Autoritäten, in deren Namen P hier spricht, sind eine mitwirkende Person (M), die im Gottesdienstraum anwesend ist und er selbst. P nickt M während der Aussprache ihres Namens kurz zu, was einer nonverbalen Deixis entspricht. P nimmt sich abschliessend auch selbst in die Reihe der ihn autorisierenden Personen auf.

5.4.2.3 Interpretation Die Begrüssungssprechakte sind wie die vorangehenden liturgischen Formeln – mit prosodischen, dialektalen und lexikalen Varianten – stereotyp und in diesem Sinne formell gestaltet. Allerdings verweisen sie auf die Nähe, d. h. in die unmittelbar ablaufende gottesdienstliche Situation hinein. Dies zeigt sich nicht nur am Einsatz von Demonstrativa („dieser Gottesdienst“, „hier in der Kirche“, „am Palmsonntag“, usw.) und im häufigeren Gebrauch der Schweizerdeutschen Mundart, sondern auch im Einsatz nonverbaler Mittel (Blick, Handgesten), um auf anwesende Personen hinzuweisen. Mit der Begrüssung verbindet sich eine explizite Benennung von restlichen Teilnehmenden, den Personen, die als Gegenüber von P auftreten. Durch diese Benennung treten die entsprechenden Personen verbal in Erscheinung und werden als Teilnehmende ohne Vorkenntnisse ansprechbar. Da P die einzige zu Beginn sprechende Person ist, hat sie es in der Hand, wer auf welche Weise überhaupt als Teilnehmender in der Interaktion auftreten kann. Durch die verbale (und teilweise auch nonverbale)  Fokussierung werden diese Parteien als weitere kopräsente Teilnehmende konstituiert. Zugleich lenkt P bei der Nennung dieser Personen den Fokus (teilweise) weg von ihrer eigenen Person auf diese Personen.45 Schliesslich zeigt P an, ob und inwiefern sie als kopräsentes Subjekt Trägerin der Interaktion ist bzw. zu sein beabsichtigt. Eine der häufigsten Wendungen in den Begrüssungen und Gattungseröffnungen ist das authentifizierende „ganz herzlich“, mit der eine willentliche Absicht hinter der Begrüssung explizit gemacht wird. Das häufige Vorhandensein solcher Verstärkungen lässt darauf schliessen, dass P bei den Begrüssungen seine Intention jeweils explizit machen muss, damit die Begrüssung gelingt.46 45 Eine ähnliche Funktion erfüllen in einigen Gottesdiensten auch die Vorstellungen von Musikern oder Mitwirkenden oder Verdankungen solcher Personen. Interessant wäre im Vergleich auch die in Anis-B vorkommende Entschuldigung abwesender Teilnehmender, da dort die Abwesenden auf verbaler Ebene deiktisch fokussiert werden, obschon sie sich mit dem Sprechenden nicht in Kopräsenz befinden. Auf diese Elemente kann hier der Kürze halber aber nicht eingegangen werden. 46 Daraus lässt sich folgende Hypothese ableiten, die noch zu diskutieren ist: Die Interaktionsordnung des reformierten Gottesdienstes sieht vor, dass hinter der Begrüssung eine Person mit einer ernst gemeinten Absicht steht.

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5.4.3

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Thematische Hinführungen

In den meisten Fällen wird innerhalb der Ersten Sprecheinheit ein Redeabschnitt eingefügt, der sich weder durch Formalität oder Zitationalität, noch durch direkte Situationsnähe auszeichnet, sondern einen thematischen Horizont des Geschehens aufspannt. 5.4.3.1 Verschiedene Ebenen der Fokussierung Häufig nehmen diese Ausführungen ihren Ausgang von einem Kasus (so die Konfirmation in Anis-G), in einigen erfolgen sie im Anschluss an ein biblisches Votum (so in Chiem-B), in den überwiegenden Fällen sind sie auf den Zeitpunkt des Gottesdienstes im Kirchenjahr bezogen, so etwa in Anis-F: am hüttig- ↑hüttige tag fi:re mir oschtere. mir fi:re d uferSTEhig vo jesus christus, (.) mir finde s liecht wo dunkelheit verdrängt. mir fi:re d hoffnig, wo d hoffnigslosigk:eit dürbricht, mir fi:re d freud, wo über d truurigkeit obsiegt.(.) (i)m hüttige abedmahlsgottesdienst isch thematisch der text us em lukas(.)evangelium vo de emmAUsjünger z grund gleit, die erzählig, isch sehr facetteri:ch, so dass sech s lohnt, (.) drüber nacheztänke, was üs die gschicht (.) hüt (.) wett necher(.)bringe. i lade euch also i: uf dä wäg wo die beide (.) emmAUsjünger am oschter↑tag mitenand ggange si, (.) , wie ihre ↑WÄg no hüt für ü:s christe und christinne, vorbild cha si. und ganz praktischi, bedütigum di ganz praktischi bedütig vom österleche gheimnis (.) vor ufer↑STEhig für üses HÜTtige EIgete konKREte (.) läbe z entdecke. (.) i r predigt dadezue, stütze ig me (.) de ou (.) uf gedanke u bilder wo (ig) ime buech vom jesuit (.) gläse ha mit em titel (.) erfüllt mit gottes licht.47

[Anis-F 0:34:21.4–0:35:51.9] 47 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Am heutig- heutigen Tag feiern wir Ostern. Wir feiern die Auferstehung von Jesus Christus. Wir feiern das Licht, das (die) Dunkelheit verdrängt. Wir feiern die Hoffnung, die die Hoffnungslosigkeit durchbricht. Wir feiern die Freude, die über die Traurigkeit obsiegt. Im heutigen Abendmahlsgottesdienst ist thematisch der Text aus dem Lukasevangelium von den Emmausjüngern zu Grunde gelegt. Diese Erzählung ist sehr facettenreich, sodass es sich immer wieder neu lohnt, darüber nachzudenken, was uns diese Geschichte heute nahebringen will.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Der Abschnitt ist sorgfältig gegliedert: Zuerst wird der Festtag deklariert („am heutigen Tag […] Ostern“) und in vier jeweils ähnlich konstruierten Sätzen expliziert („wir feiern […] obsiegt“). Anschliessend folgt ein Abschnitt über die thematische Quelle des Gottesdienstes („im heutigen […] näherbringen“). Dann werden die Rezipienten der Rede direkt angesprochen und beauftragt bzw. mit einer Prognose über ihr weiteres Verhalten konfrontiert („ich lade euch also ein […] Leben zu entdecken“). Schliesslich wird noch eine Quellenangabe zur Predigt gemacht („in der Predigt dazu […] mit Gottes Licht“). Der erste Abschnitt zeigt Merkmale einer Formel, sowohl in der Syntax als auch in der Phrasierung. Die formalisierte Rede nimmt ihren Ausgang von einer Deklaration, die sich nicht auf die Gottesdienstinteraktion, sondern den Kasus des Gottesdienstes, den Festtag bezieht. Die nachfolgende Erklärung („wir feiern die Auferstehung von Jesus Christus“) ist auf ein religiöses Spezialwissen (eine christliche Glaubensvorstellung) bezogen. Die drei sich anschliessenden Explikationen hingegen versuchen mittels jeweils eines Nomens, das in einem Relativsatz als positiver Gegenpart zu einem negativ konnotierten Nomen bestimmt wird, ohne direkten Bezug zum Spezialwissen auszukommen. Die Nomina wirken durch generalisierende Artikel („das Licht“, „die Hoffnung“, „die Freude“) abstrakt und allgemein. Der Glaubensinhalt, der sich mit dem Fest verbindet, wird durch die folgenden Sätze in eine allgemeine Struktur überführt, die man als Überwindung des Bösen durch das Gute bezeichnen könnte. Der zweite Abschnitt verweist nicht mehr auf den Kasus des Gottesdienstes, sondern den singulären Gottesdienst (den „heutigen Gottesdienst“). Die „thematische“ Grundlegung gibt eine Quellenangabe für das Thema des Gottesdienstes. Sie ist allerdings nur für mit den biblischen Schriften Vertraute direkt erkennbar. Für Leute ohne dieses religiöse Spezialwissen zeigt P hier lediglich, dass das „Thema“ mit einer schriftlichen Quelle verknüpft ist, also sich nicht als Überschrift ausdrücken lässt. Im nachfolgenden Satz wird der „Text“ weiter als „Erzählung“ und „Geschichte“ spezifiziert, die „facettenreich“ sei, und über die es sich so lohne, „immer wieder“ nachzudenken. Im dritten Abschnitt wendet sich P direkt an die Zuhörenden mit einer Einladung auf den „Weg, den die Emmausjünger am Ostertag gegangen sind“. Die Einladung hat metaphorische Qualität, da ihr Ort (der „Weg“ der Jünger) nicht direkt in der Interaktionssituation vorhanden ist, sondern entweder aus der Geschichte stammt oder bereits in ihr metaphorisch („Weg“ i. S. des Ablaufes der Ereignisse in der Geschichte) gemeint ist. Die Einladung erfordert in beiden Fällen die Verbindung von zwei Kontexten: dem situationalen Kontext der Interaktion, in welchem die Teilnehmenden angesprochen werden, und dem Kontext der Geschichte der Emmausjünger.



Ich lade Euch also ein auf den Weg, den die beiden Emmausjünger am Ostertag miteinander gegangen sind. Ihr werdet merken, wie ihr Weg noch heute für uns Christen und Christinnen Vorbild sein kann. Und ganz praktische Be- um die ganz praktische Bedeutung vom österlichen Geheimnis von der Auferstehung für unser heutiges eigenes konkretes Leben zu entdecken. In der Predigt dazu stütze ich mich dann auch auf Gedanken und Bilder, die ich in einem Buch vom Jesuit Piet van Breemen gelesen habe mit dem Titel: Erfüllt mit Gottes Licht.

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Diese Übertragungsleistung wird im folgenden Satz, der eine Prognose über die Rezeption der Geschichte stellt, thematisiert: P suggeriert, dass die Übertragung gelingen wird, und „der Weg noch heute für uns“ „Vorbild sein kann“. Der „Weg“ der Jünger wird somit zu einem vergleichbaren Dritten, das zwischen dem Nähekontext der Gottesdienstinteraktion und dem Kontext der Quelle steht. Durch die Prognose wird die Prekarität dieser Übertragung zugleich verneint und sichtbar gemacht. P selbst zeigt die potenzielle Unsicherheit seiner Prognose mit der dreifach verstärkten Betonung der Bedeutung für die räumlich-zeitliche Nähe der Interaktionssituation des Gottesdienstes („ganz praktische Bedeutung […] für unser heutiges eigenes kon­ kretes Leben“) an. Im vierten Abschnitt macht P nochmals eine Quellenangabe, die sich präziser auf die bevorstehende Predigt bezieht. Er führt als weitere Quelle ein Buch des Schriftstellers Piet van Breemen, dessen Titel „Erfüllt mit Gottes Licht“ genannt wird, an. Allerdings thematisiert sie weniger die Quelle selbst, sondern eher den Quellen­ zugang („die ich […] gelesen habe“). Ps Rezeptionsprozess des Buches rückt damit in den Fokus. Er sagt allerdings nichts darüber, welche „Gedanken“ er übernommen hat.

Im dritten Abschnitt wird eine Spannung zwischen dem Kontext der „der Interaktion in einer (biblischen) Geschichte und der Situation des Gottesdienstes aufgebaut und sogleich eine Lösung dieser Spannung im Laufe des Gottesdienstes versprochen. Die zweite Quellenangabe im vierten Abschnitt wiederum erweitert die Rezeptionssituation um einen weiteren Kontext, denjenigen des von P gelesenen Buches. P versucht aber auch hier eine Verbindung zwischen dem Kontext des Buches und der gegenwärtigen Interaktion herzustellen, in dem er seinen Rezeptionsprozess des Buches, sein Lesen, thematisiert. Überblickt man die thematische Hinführung in Anis-F, so lässt sich das Anzeigen einer Verbindung verschiedenster Quellenkontexte mit der unmittelbar stattfindenden Interaktion erkennen. Es scheint hier darum zu gehen, einen nicht-präsenten Sachverhalt (ein Thema oder eine bestimmte Erzählung) zu fokussieren und ihn zugleich mit der unmittelbar stattfindenden bzw. unmittelbar bevorstehenden Interaktion zu verbinden. Diese Übertragungsleistung wird in Anis-F durch eine Verallgemeinerung (Auferstehung Christi ist wie der Sieg des Guten über das Böse), durch eine (prognostizierte) Vorbildfunktion der in der Erzählung vermittelten Erfahrungen der Jünger sowie durch eine persönliche Rezeptionsleistung eines Anwesenden (nämlich P) bewerkstelligt.48

48 Die beiden Versprecher, sowie der ständige Blick zum Manuskript machen deutlich, dass P hier einen vorformulierten Text abliest. Da er dennoch den Blick zur Gemeinde sucht, privilegiert P die Interpretation, dass der Text in die Kommunikationssituation zwischen P und der Gemeinde hineingesprochen wird. Dafür spricht auch die direkte Anrede der Zuhörer im dritten Abschnitt der Rede sowie die Nennung von „ich“ als Subjekt der Rede an einigen Stellen.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

5.4.3.2 Hinführung als performative Rede In anderen Fällen ist die Verbindung der Kontexte stärker als Performanz gestaltet; so etwa in Anis-A: lä↑*TAre jerusalem, (.) ↑FREU dich. stadt jerusalem. (.) nach däm vers us em buech vom profet je↓SAIja, isch der hüttigi suntig benannt. (.) der sunntig lätare. (. .) dä *tag, wo uf em ↑DUnkle ↑hindergrund vo der *passiONSzit:, (.) schones ↑. (.) es stück tro:scht (.) mitz=iden=abgründ, und trostlosigkeite vo dere wält,(.) wonis über d mediä jede tag us ja:pan, libiä und us anderne länder, erreiche. (-) s ↑ (.) wird üs a dem morge drum dür üsi gmeinsami fi:r be↓gleite. i form vo tegschte, vo ge↑*BEt: und ge↓DANke, (.) vo ((blättert)) stilli, (.) und musig.49

[Clip 5.17, Anis-A 0:59:51.2–1:00:53.6; mit * markiert sind die Strokes einer Handgeste mit beiden Händen]

Das Element teilt sich hier in drei Abschnitte, die durch zwei etwas längere Pausen voneinander getrennt sind. Der erste Abschnitt wird mit einer kompakten Formulierung eröffnet, einem Motto, das in lateinischer Sprache wiedergegeben wird: „laetare Jerusalem“. Appositional angehängt folgt – nach einer kurzen Pause – eine Über­tragung (keine wörtliche Wiedergabe) ins Standarddeutsche: „freu dich, Stadt Jerusalem“. Wiederum appositional an diese Übertragung angehängt ist eine Erklärung des Vorherigen, wiederum eine Quellenangabe; diese wird nun in Mundart gemacht: es wird explizit, dass es sich um einen „Vers aus dem Buch […] Jesaja“ handelt. Ausserdem wird auch auf semantischer Ebene eine Verbindung zur unmittelbaren Si49 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Laetare Jerusalem. Freu dich, Stadt Jerusalem. Nach diesem Vers aus dem Buch vom Prophet Jesaja ist der heutige Sonntag benannt. Der Sonntag Laetare. Jener Tag, der auf dem dunklen Hintergrund der Passionszeit schon ein Stück österliche Freude aufleuchten lässt. Ein Stück Trost mitten in den Abgründen, und Trostlosigkeiten von dieser Welt, die uns über die Medien jeden Tag aus Japan, Lybien und aus anderen Ländern erreichen. Das Thema Trost wird uns an diesem Morgen darum durch unsere gemeinsame Feier begleiten. In Form von biblischen Texten, von Gebeten und Gedanken, von Stille und Musik.

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tuation, dem „heutigen Sonntag“, angezeigt. Wiederum appositional wird nun auch noch der konkrete Name des Tages genannt: „der Sonntag Lätare“.

Im laufe des ersten Abschnittes bewegt sich P jeweils von einer stilisierten zu einer situationsnahen und konkreten Ausdrucksweise. Diese Hinführung zur unmittelbar stattfindenden Interaktionssituation, die sich in Anis-A besonders klar in der Abfolge der Sprachcodes (Latein – Standarddeutsch – Mundart) zeigt, hat überdies eine dramaturgische Qualität, da P die Fokussierung erst nach und nach offenlegt und so die Rezipienten als Ko-Konstruierende des Sinns der Aussage aktiviert. Im zweiten Abschnitt folgen Explikationen „dieses Tages“ mittels einer langen Relativsatzkonstruktion, die wiederum zwei parallele Teile aufweist: Im ersten wird der „dunkle Hintergrund der Passionszeit“ dem „Stück österliche Freude“ gegenüber­ gestellt. Diese Gegenüberstellung ist abhängig von Spezialwissen über die kirchenjahreszeitlichen und theologischen Kontexte des Gottesdienstes. Im zweiten, der appositional angehängt ist, folgt allerdings eine chiastisch angeordnete Gegenüberstellung, die vom Spezialwissen absieht: „ein Stück Trost mitten in den Abgründen und Trostlosigkeiten von dieser Welt“. P konkretisiert diese Hinweise, indem sie auf aus den Medien berichtete Ereignisse verweist.

Wiederum lässt sich hier die Bemühung um Verbindung verschiedener Kontexte mit unterschiedlicher Situationsnähe erkennen. Das kirchenjahreszeitliche Spezialwissen wird mittels einer chiastischen Konstruktion durch einen allgemeinen, zeit- und ortlosen Sachverhalt erklärt: Trost angesichts von Trostlosigkeit. Schliesslich wird diese allgemeine Konstruktion hinsichtlich der Trostlosigkeit noch konkretisiert: Es geht um die Trostlosigkeiten, wie sie aus aktuellen Medienberichten bekannt sind. Somit vollführt P einen metaphorischen Dreischritt: Sie erklärt ein Spezialwissen über eine allgemeine Struktur für gültig im (wenn auch durch „die Medien“ vermittelten) zeitnahen Kontext der Gottesdienstinteraktion. Der dritte Abschnitt bietet eine Zusammenfassung der in den vorangehenden Abschnitten angelegten Fokussierung. Sie wird eingebettet in eine Prognose auf den restlichen Verlauf der Gottesdienstinteraktion. Das „Thema Trost“ verdichtet in abstrakter Form nochmals den von P in den Gegenüberstellungen erklärten Sachverhalt. Dieser abstrakte Sachverhalt wird durch die Feier „begleitet“. Schliesslich nennt P noch „Formen“, in welchen sich dieses Thema konkretisieren soll: biblische Texte, Gebete, Gedanken, Stille und Musik, womit P weniger die unterschiedlichen Medien (Text oder Musik) meint, sondern bestimmte rituelle Gattungen oder Elemente, die Bestandteil der Gottesdienstinteraktion sein werden.

Auch in diesem Abschnitt wird versucht, eine abstrakte Fokussierung mit der unmittelbaren Interaktion zu verbinden. Hier macht dies P so, dass sie verschie© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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dene Teilgattungen der Gottesdienstinteraktion als Ausdrucksformen eines Themas prognostiziert: Das, was in unmittelbarer zeitlicher Nähe von den Teilnehmenden im Gottesdienst getan werden wird, ist die Umsetzung eines übersituationalen kirchenjahreszeitlichen Topos. 5.4.3.3 Exkurs: Der Weg als Metapher erfahrungsbezogener Religiosität Nicht nur die eben untersuchten thematischen Hinführungen, sondern auch andere thematische und erklärende Sprechsequenzen im Gottesdienst benützen oft die Metapher des Weges um unterschiedliche Kontexte miteinander zu verbinden. Die Metapher des Weges unterstreicht einerseits die Prozesshaftigkeit und Verlaufsbedingtheit im Unterschied etwa zur Überzeitlichkeit und Verlaufsunabhängigkeit von Wahrheiten oder Dogmen. Andererseits wird durch die Metapher des Weges die Individualität und Subjektivität von Erfahrungen im Unterschied zu den kollektiv geteilten und verantworteten Sachverhalten betont. Durch die enge Bindung an das Subjekt wird der Weg einmalig und inkommensurabel mit einem bestimmten Kollektiv. Dies bedeutet auch, dass ein gegangener Weg keiner Bedingungen bedarf ausser der Entscheidungen des einen Subjektes, das ihn gegangen ist. Wenn nun, wie oben dargelegt, zwei Kontexte mit der Metapher des Weges verbunden werden, so wird suggeriert, dass sich der Zusammenhang der Kontexte im Modus einer subjektiven Erfahrung – und nur dort – erkennen lässt. Die Metapher des Weges spielt ein semantisches Feld an, das einem Idealtypus zeitgenössischer Religiosität nahesteht: demjenigen des „spirituellen Wanderers“.50 Gemäss einer Studie von Christoph Bochinger und anderen nehmen „spirituelle Wanderer“ an spirituellen Angeboten unterschiedlicher Organisationen teil, ohne sich an eine spezifische Organisation zu binden. Ihre Religiosität besteht gerade darin, dass sie sich selbst als kompetenteste Entscheidungsträger im religiösen Bereich erleben und allfällige religiöse Expert_innen eher als zeitweilige Ratgeber_innen heranziehen.51 Für einen Untertypus des „spirituellen Wanderers“ wird diese Suchbewegung zu einer geradezu „programmatischen“ Vorstellung: Sie interpretieren ihr Leben „als ‚ein[en] Weg‘ […] und frühere Lebensabschnitte des Suchens und Experimentierens werden als Phasen dieses ‚Weges‘ beschrieben, der damit eine ‚Kohärenz‘ und ‚Logik‘ gewinnt, die ursprünglich nicht intendiert war.“52 Die subjektive Erfahrung wird durch diese Menschen als unhintergehbare und somit auch nicht-kritisierbare zum universalen Prinzip von Religiosität gemacht: Jedes Individuum hat seine 50 S. Bochinger 2009. 51 Vgl. ibid., 38 f. 52 Ibid., 33 f.

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eigene Religion. Erfahrungen während der spirituellen Suche gemacht zu haben wird somit eine besonders plausible Form der religiösen Selbstbeschreibung. Bochinger und seine Mitarbeitenden resümmieren: „Den ‚eigenen Weg‘ zu gehen, ist die entscheidende spirituelle Herausforderung der Wanderer. Dementsprechend gilt die Fähigkeit und Bereitschaft sich individuell auf den ‚eigenen Weg‘ der einzelnen Teilnehmer einzulassen, als entscheidendes Gütesiegel eines jeden Pfarrers, Priesters oder sonstigen religiös-spirituellen Experten und/oder Deutungsbevollmächtigten. […] Anbieter werden daraufhin überprüft, ob sie den je individuellen Bedürfnissen Raum geben.“53

Die häufige Verwendung der Metapher des Weges in thematischen Hinführungen und anderen längeren Sprechstücken des Gottesdienstes könnte als konsequente Orientierung an dieser erfahrungsbezogenen religiösen Selbstbeschreibung verstanden werden. Das Antönen dieses semantischen Feldes wiederum lässt sich als eine Angleichung der liturgischen Rede an eine gegenwärtig in- und ausserhalb der etablierten Kirchen kursierende religiöse Selbstbeschreibung verstehen. Allerdings erfüllt die Wegmetaphorik innerhalb dieser liturgischen Sprechstücke eine ganz andere Funktion: Sie dient nicht mehr der Selbstbeschreibung von Individuen, sondern plausibilisiert, dass die unterschiedlichen angesprochenen Kontexte miteinander verbunden seien. Die unhintergehbare – weil nicht kritisierbare – Logik des subjektiv erfahrenen Weges wird als universalgültige und damit überzeitliche Struktur religiöser Sachverhalte strategisch eingesetzt. Sie versucht etwa im obigen Beispiel nachvollziehbar zu machen, dass die biblische Erzählung über die Emmausjünger mit den gegenwärtig von den Gottesdiensteilnehmenden gemachten Erfahrungen vergleichbar, ja sogar mit ihrer gegenwärtigen Situation identifizierbar ist. 5.4.3.4 Interpretation Die thematischen Hinführungen verbinden unterschiedliche situationsnahe Kontexte der Gottesdienstinteraktion miteinander. Sie stellen so einen expliziten Horizont für das im Gottesdienst zu vollziehende Handeln her. Die Übertragungsleistung erfolgt oft durch ein vergleichbares Drittes, so etwa in Anis-A durch eine abstrakte Figur (Trost inmitten von Trostlosigkeit) oder in Anis-F durch die Metapher des Weges. Dieses Dritte soll im näheren Kontext der Gottesdienstinteraktion von den Teilnehmenden nachvollzogen werden. Schliesslich wird in den thematischen Hinführungen das bevorstehende gottesdienstliche Interagieren der Teilnehmenden prognostiziert. Die Prognosen tragen wenig neue Informationen in die Situation hinein; die genannten Ele53 Ibid., 39.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

mente wie Gebete, Predigt oder Musik sind (ohne besonderes Spezialwissen) bekannte Elemente eines Gottesdienstes. Entscheidend ist aber, dass durch diese Prognosen das, was in der bevorstehenden Interaktion geschehen wird, mit einem bestimmten Sinn verknüpft wird. Ein solcher roter Faden ermächtigt die Teilnehmenden einerseits in der Interaktion auf einen geteilten Horizont des Verstehens, eine „geteilte Intentionalität“ (Tomasello), zurückzugreifen. Andererseits offenbart sich durch die thematische Fokussierung die Nicht-Selbstverständlichkeit der Gottesdienstinteraktion. Das, was geschieht, wird als ein Wissen von P und ein Nicht-Wissen bei den Teilnehmenden angezeigt. Dies verdeutlicht nicht nur das bereits im nonverbalen Auftreten von P angelegte Ungleichgewicht zwischen P und den restlichen Teilnehmenden, sondern setzt auch Kommunikationsbedingungen für die Interaktion fest: Ohne vorgängig erklärtes Spezialwissen kann die Gottesdienstinteraktion nicht beginnen. So wird ein Primat des Verstehens vor dem Vollziehen markiert, obschon die Interaktion zu diesem Zeitpunkt bereits im Gange ist. Zugleich wird in den Thematisierungen der Hintergründe deutlich, dass es sich beim angebotenen Hintergrundwissen nicht um ein Informationswissen handelt, sondern um ein Erfahrungswissen. Insbesondere die erstaunlich häufig verwendete Metapher des Weges legt dies nahe: Es geht hier offenbar nicht darum, dass ein bestimmter abstrakter Sachverhalt durch die Gottesdienstinteraktion verstanden werden soll, der dann in Form der Gebete oder der Musik verstanden werden könnte, sondern vielmehr soll eine Erfahrung wie etwa diejenige der Jünger in der Emmausgeschichte in der Gottesdienstinteraktion den Teilnehmenden selbst ermöglicht werden. Die thematischen Fokussierungen werden daher von den Pfarrer_innen als Erfahrungsangebote charakterisiert, die durch einen Reflexionsprozess bei den Teilnehmenden wahrgenommen werden können – in den Worten von PAnis-F: „Vorbilder […] deren Bedeutung“ durch die Teilnehmenden „entdeckt“ werden kann.

5.4.4

Rituelle Impulse

An die Ersten Sprecheinheiten schliesst sich in allen Fällen ein gemeinsam gesungenes Lied an. In allen untersuchten Fällen endet die Erste Sprecheinheit mit einem Element, in welchem das gemeinsame Singen eines Liedes angesagt und vorbereitet wird.54 54 Bereits bei der Herausgabe der „Liturgie“ für den Sonntagsgottesdienst 1972 wurde empfohlen „gut sichtbare Liedertafeln an verschiedenen Stellen der Kirche anzubringen, so dass mit der Zeit die Anzeige der Lieder überflüssig wird.“ LKDS 1972, 30. Die Praxis der Ansage von Liedern wird aber nach wie vor in allen untersuchten Gemeinden gepflegt, ausserdem folgt in allen untersuchten Gottesdiensten ein Lied im Anschluss an die Erste

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5.4.4.1 Anzeigen der interaktionalen Übergabe Die Liedansagen bereiten ein turn-taking in der Interaktion vor. Dazu gehört es, den Fokus auf die unmittelbare Gegenwart der Interaktion zu versammeln, damit die Partei, die den turn übernimmt (die Gemeindeglieder), die Übernahme antizipieren kann. Die meisten Liedansagen im Sample bewerkstelligen dies durch das Temporaladverb „jetzt“, so etwa Anis-A: und jetzt lad i euch ↑i: (.) musikalisch i üses zämesi *izstimme. (. .)55

[Clip 5.18, Anis-A 1:01:38.1–1:01:43.6, * markiert das erste auf der Aufnahme sichtbare Ausdrehen eines Gemeindegliedes]

Der Anschluss an das zuvor Gesagte erfolgt mittels der Konjunktion „und“, die in einer Aufzählungsreihe in der Regel das letzte Glied der Aufzählung markiert (z. B. Peter, Katja und Michael). Das Temporaladverb „jetzt“ weist auf die unmittelbare Gegenwart hin.

Die Einladung, die P ausspricht, gilt also unmittelbar für den Zeitpunkt, in dem sie ausgesprochen wird. Die Reaktion in der Gemeinde lässt nicht lange auf sich warten. Sobald P mit „einzustimmen“ einen prosodischen Full-stop ausführt, drehen sich die ersten Gemeindeglieder seitlich aus, um das neben sich gelegte Gesangbuch zu ergreifen. Ähnlich auch fungiert das Temporaladverb „jetzt“ in Chiem-B: zur ↑I:stimmig singed mir *jetzt,56

[Clip 5.19, Chiem-B 0:15:39.0–0:15:41.2, * markiert das erste auf der Aufnahme sichtbare­ Vorüberneigen eines Gemeindegliedes]

Hier kann sich „jetzt“ nicht auf die unmittelbare Gegenwart beziehen, da das Singen selbst erst noch bevorsteht. Auffällig ist, dass der Satzbau hier invertiert ist, was zusätzliche Aufmerksamkeit generiert. Einige Gemeindeglieder heben bereits nach „Einstimmung“ ihre Köpfe aus der Versenkung vor sich hoch zu P. Dies lässt vermuten, dass intrinsisch-orientierte Teilnehmende im Stande sind, bereits am invertierten Anfang der Rede zu erkennen, dass der nächste Schritt im Gottesdienstablauf vorzubereiten ist.

Sprecheinheit – das Lied ist also für intrinsische Ritualisten antizipierbar. Es handelt sich hier somit offenkundig um ein liturgisch überflüssiges Element, dessen gegenwärtige Funktion noch zu klären ist. 55 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Und jetzt lade ich euch ein musikalisch in unser Zusammensein einzustimmen. 56 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Zur Einstimmung singen wir jetzt,

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

„Jetzt“ fokussiert auf die zeitlich nahe Umgebung und bereitet den TRP in der Interaktion vor. Es wirkt als rituelles Signal für den Beginn der Vorbereitungen des Singens. Der Beginn der Vorbereitungen kann aber auch anders angezeigt werden. So wird in vielen Fällen die Liedansage mit einem Zitat des Liedtitels begonnen.57 So etwa in Anis-G: . (.) i laden euch *i: zum lied (.) zwöihundertdrüedrisg. (.)58

[Clip 5.20, Anis-G 0:27:05.9–0:27.13.0, „*“ markiert das erste auf der Aufnahme sichtbare Nach-vorne-Neigen eines Gemeindegliedes]

Die erste Liedzeile ist hier hervorgehoben und daher besonders fokussiert durch die rhythmische Phrasierung einerseits und die Sprachvariante Standarddeutsch andererseits, die in Anis-G ausser bei diesem Zitat nur noch in der liturgischen Formel zu Beginn der Ersten Sprecheinheit verwendet wird (ansonsten spricht P durchgehend Mundart). Die Wirkung dieser Hervorhebung lässt sich in der unmittelbaren Reaktion der Gemeindeglieder erkennen. Einige Köpfe blicken während des Zitates zu P auf. Die Aufnahme der Vorbereitungen beginnt bei einigen Gemeindegliedern nicht wenig später, gegen Ende der Einladung (markiert mit *). Das Gros der Teilnehmenden folgt dann während der Nennung der Liednummer, einzelne auch noch während der kurzen Pause danach.

Die abgestufte Übernahme des turns zur Vorbereitung des Singens lässt sich im Falle von Anis-G durch verschiedene Vertrautheitsgrade mit dem Ritual erklären. Denn es handelt sich um einen Konfirmationsgottesdienst, bei dem viele Teilnehmende mit dem Interaktionsgenre des Gottesdienstes wenig vertraut. Die intrinsisch orientierten Teilnehmenden erkennen offenbar bereits die Formulierung „ich lade Euch ein“ als rituellen Impuls. Weitere Teilnehmende übernehmen den Impuls bei der Nennung der Liednummer. Wiederum andere sind alleine extrinsisch orientiert und warten die Reaktion der anderen erst ab, um diese dann mimetisch zu übernehmen. Die Nennung des Liedtitels zu Beginn der Liedansage ist – ähnlich wie die zeitliche Verortung mit „jetzt“ – also nicht vorwiegend als Information zu ver57 Es handelt sich um die erste Verszeile des Liedes. Der Ursprung dieser Praxis ist in erster Linie pragmatischer Natur: Im Gesangbuch wurden die (teilweise vorhandenen) Liedtitel weggelassen, damit über liturgische Stücke (die über keinen Titel verfügen) eine Nummerierung durchgehalten werden konnte. Die Ansage mittels erster Liedtextzeile wiederum kann als Versuch angesehen werden, anstatt der Nummerierung mittels der zu singenden Worte das Lied in Erinnerung zu rufen. Ich danke Prof. Dr. Andreas Marti (Bern) für diesen und weitere Hinweise zur Hymnologie. 58 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Nun danket alle Gott. Ich lade euch ein zum Lied zweihundertdreiunddreissig.

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stehen, sondern hat durch ihren hervorgehobenen Charakter auch die Eigenschaft eines Signals, das insbesondere von intrinsischen Ritualisten zur Übernahme eines turns genutzt werden kann. 5.4.4.2 Aufforderung und Modulation der Aufforderung In einigen Fällen wird die Liedansage konstativ formuliert, so etwa in Chiem-B oder in Anis-E: wir stimmen (.) in dieses passionslied ein, bei der vierhundertsiebenundfünfzig.

[Clip 5.21, Anis-E 0:33:22.5–0:33.28.9]

Der Sprechakt ist hier prosaisch formuliert und erscheint als eine Feststellung. Aus dem Kontext lässt sich aber schliessen, dass es sich um eine performative Rede handelt. P spricht vor der Gemeinde in der von allem Anfang an konstituierten Rolle als Protagonist: Bislang hat er jeweils als erster Handlungen ausgeführt. Phänomeno­ logisch folgt dies auch aus dem Umstand, dass zum unmittelbaren Zeitpunkt der Rede noch niemand in ein Lied „einstimmt“.

Konstative Rede wird im Zusammenhang mit dem Ansagekontext als Sprechakt mit starkem illokutionärem Aspekt verstehbar: „Wir stimmen ein“ bedeutet dann: „Wir sollen einstimmen“ oder noch direktiver „stimmt ein“. Der illokutionäre Aspekt ist dabei auf der lexikalischen Ebene verborgen und ergibt sich alleine durch den Kontext des Sprechaktes. Von besonderer Bedeutung ist die schon im nonverbalen Auftritt hergestellte Konstellation der Rollen: P ist Protagonist_in der Gottesdienstinteraktion, ihre Feststellungen haben direktive Kraft. Für solche vermeintlichen Konstativa gilt aber dasselbe Verdikt wie für alle Sprechakte: Wenn der institutionelle Kontext durch einige Teilnehmende nicht geteilt wird  – so etwa ist es von extrinsischen Ritualisten zu erwarten – wirken solche Konstativa entweder sinnlos (sie sind angesichts der faktischen Situation schlicht falsch) oder vereinnahmend, da die von einer einzelnen Person ausgehende direktive Macht nicht anerkannt wird. In den meisten Fällen wird die Liedansage jedoch nicht konstativ formuliert, sondern mit Hilfsverben moduliert. Besonders häufig sind Konstruktionen mit „einladen“, so etwa im bereits erwähnten Fall Anis-A: und jetzt lad i euch ↑i: (.) musikalisch i üses zämesi izstimme. (. .)59

[Anis-A 1:01:38.1–1:01:43.6] 59 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Und jetzt lade ich euch ein musikalisch in unser Zusammensein einzustimmen.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Durch die Konstruktion mit dem Hilfsverb wird die Aufforderung zugleich explizit gemacht und eingeschränkt: Sie gilt nur noch unter der Bedingung, dass die angesprochenen Personen der Übernahme positiv eingestellt sind. Die turn-Übernahme wird mit einer positiven Absicht gekoppelt. Es ist nun nicht mehr direkt möglich, in das Lied einzustimmen, ohne damit die eigene positive Absicht kundzutun.

Noch expliziter ist die Modulation bei der Aufforderung an die Teilnehmenden, sich zum Singen zu erheben. So im selben Fall Anis-A: i bitte=n alli wo mögen=und=↓chöi, zum singe uufzstoh.60

[Anis-A 1:01:53.4–1:01:57.6]

Das hier benützte Hilfsverb ist „bitten“, das im Vergleich zu „einladen“ verdeutlicht, dass die Folgeleistung eine Anstrengung von den Angesprochenen abverlangt, die dem Bittenden zugute kommt. Der Bittende macht sich hier zum Empfänger einer Leistung, die er einfordert. Vergleichbar mit der Konstruktion mit „einladen“ ist die Verknüpfung der Folgeleistung mit einer Absicht. Auch dort ist es nicht mehr möglich, der Bitte Folge zu leisten, ohne damit auch seinen Willen zur Folgeleistung auszudrücken. Zusätzlich zum Hilfsverb wird bei der obenstehenden Formulierung auch der Kreis der Angesprochenen moduliert: Nur diejenigen, die mögen und können, sollen der Bitte Folge leisten. Die beiden genannten notwendigen Bedingungen, um zur Gruppe der Angesprochenen zu gehören, stellen semantisch gesehen Verdoppelungen der Modulation dar: Das „mögen“ (bzw. wollen oder geneigt sein, in der Mundart trägt das Wort auch diese Bedeutung) ist die Bedingung einer Bitte Folge zu leisten bzw. wird durch das Folgeleisten zwingend ausgedrückt.

In der Sequenz von Hilfsverb und eingeschränktem Adressatenkreis wird angezeigt, dass die Modulation im Hilfsverb nicht effektiv genug ist. Um deutlich zu machen, was P ausdrücken möchte, bedarf es einer weiteren Abschwächung der Forderung. P interpretiert ihre eigene Forderung also so, dass sie immer noch einen zu starken Folgezwang erzeugen würde, wäre sie direkt geäussert. Die Zurückhaltung der Forderung wird übereindeutig und damit wiederum prekär. Dass dies auch so bisweilen die Ambivalenz der Folgeleistung nicht aus­ zulöschen vermag, zeigt der Fall Anis-D: und die die MÖgen (und)  KÖnnen, (.) bitte ich (zum singen) aufzustehen.* aber ↑wirklich nur die (die es) können.

[Clip 5.22, Anis-D 0:39:09.3–0:39:17.3, bei * beginnt der erste Teilnehmer aufzustehen]

60 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Ich bitte alle, die mögen und können, zum Singen aufzustehen.

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Auffällig ist hier dabei insbesondere, dass die nachgeschobene Bedingung zeitgleich mit der effektiven Folgeleistung einiger der Teilnehmenden einhergeht. Ausserdem wiederholt P hier ausgerechnet die Bedingung des „Könnens“, das ja ohnehin eine logische Voraussetzung für das Ausführen der Folgeleistung ist.61

Die Modulation der Aufforderung konstituiert weniger die Möglichkeit bei den Teilnehmenden, sich frei in der Folgeleistung zu verhalten oder nicht. Tatsächlich ist eine Nicht-Folgeleistung sehr unwahrscheinlich: Der Aufforderung wird mit wenigen Ausnahmen immer und von allen Folge geleistet. Vielmehr konstituiert sie einen Deutungsrahmen der Folgeleistung, der diese als willentliche und positiv bewertete Handlung der Teilnehmenden erscheinen lässt. Es bleibt aber fragwürdig, ob das Sich-Erheben hier tatsächlich einer authentischen willentlichen Äusserung entspricht oder lediglich in Folge des interaktionalen Handlungsdrucks geschieht. Der Handlungsdruck wird durch die übereindeutige Abschwächung der Aufforderung nicht aufgelöst, sondern eher verstärkt, da eine Nichtfolgeleistung als Verweigerung der willentlichen Kooperation verstanden werden kann. Zuletzt seien noch zwei alternative Formulierungen erwähnt. In Dimels* formuliert P die Aufforderung zum Singen mittels einer Adhortativkonstruktion: lasst uns zum anfang (.) ↓SINgen,* (. .)

[Clip 5.23, Dime-B 0:21:04.9–0:21:08.5, bei „*“ beginnen erste Gemeindeglieder nach unten zu schauen, um das Gesangbuch zu suchen]

Die Adhortativkonstruktion („lasst uns“62) verknüpft anders als die Formulierung „ich lade Sie zum Singen ein“ die Folgeleistung nicht mit einer Willensbekundung und hat gegenüber der konstativen Feststellung den Vorteil, dass sie die Illokution explizit darlegt. Sie betont dabei weniger den direktiven, sondern mehr den ermutigenden Aspekt der Aufforderung. Zugleich wirkt der Adhortativ archaisierend und im Kontext von Dime-B unangemessen. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Aufforderung mittels Adhortativ eine enge gegenseitige Bezogenheit des Auffordernden und der Angesprochenen zueinander als Kommunikationsbedingung voraussetzt.63 61 Es besteht die alternative Deutungsmöglichkeit, dass P in der nachgeschobenen Bedingung einen ironischen Kommentar zur vorangehenden doppelten Modulation abgibt. Allerdings kann man dies an keiner besonderen Phrasierung oder sonst einem Zeichen verdeutlichen. P benützt während des gesamten Gottesdienstes Anis-D nie einen ironischen Stil. 62 In der schweizerdeutschen Mundart existiert als Pendant die Formulierung: „chum mir gönd go“ mit Infinitiv; Vgl. Stucki 1921, § 93, Abs. 2, 122. 63 Beim Adhortativ handelt es sich um die Bekundung einer „gemeinsamen, situationsgemäß scheinenden Willensrichtung“, die ein gewisses Mass an geteilter Intentionalität zwischen Sprecher und unter den Angesprochenen vorausetzt, um gelingen zu können; vgl. Erben 1983, 406; im Original kursiv.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Diese ist in einem Gottesdienst, an dem zahlreiche einander und P nur entfernt bekannte Menschen teilnehmen, nicht gegeben. Das „lasst uns“ suggeriert, dass sich hier alle gut kennen.

Die Übernahme des turns durch die Gemeindeglieder erfolgt relativ geschlossen auf das Wort „singen“, das P mit einem Tonwechsel (tief-hoch) hervorgehoben phrasiert. Das Wort wirkt hier als pointiertes rituelles Signal für einen TRP.

5.4.4.3 Interpretation Die Liedansagen beschliessen die Erste Sprecheinheit und sorgen dafür, dass die restlichen Teilnehmenden den turn von P übernehmen können. Dazu wird der Fokus der Interaktion von P durch eine zeitliche Nahverortung („jetzt“) oder durch deiktische Verweise auf den Interaktionsraum näher an die Unmittelbarkeit der Situation herangeführt. Die Übermittlung der Information (meist eine exakte Nummernangabe im Gesangbuch) erfolgt erst im Anschluss an diese Nähefokussierung. In den meisten Fällen genügt diese Versammlung des Fokus aber nicht, um die Übernahme des turns zu initiieren. Diese wird oft durch gezielte Signalwörter (z. B. das hervorgehoben phrasierte „singen“ bei Chiem-B) bewerkstelligt. Auf die Nähefokussierung kann also ein pointierter Impuls oder ein Signal dazu dienen, die Handlungsübernahme zu initiieren. Die turn-Übernahme wird so explizit verbal organisiert, obschon dies semantisch als überflüssig betrachtet werden kann: Die Lieder sind in allen Fällen angeschrieben oder liegen in gedruckten Programmen vor. Der rituelle Impuls wird durch die explizite Thematisierung auch dann verständlich, wenn gar kein intrinsisch-rituelles Wissen vorhanden ist. Interessanterweise wird der illokutionäre Aspekt der Liedansagen trotz ihrer rituellen Verankerung aber oft durch Modulationen mittels eines Hilfsverbes – in einigen Fällen sogar doppelt – abgeschwächt. Dies kann sowohl als Hinweis auf die Effektivität der bis zu diesem Zeitpunkt konstituierten Rolle von P als Protagonist_in verstanden werden, als auch gegenläufig als Versuch von P, ihren Protagonismus wieder abzulegen. Die Beteiligung, die durch die Modulation hier nahegelegt wird, ist keine bloss oberflächliche, sondern eine willentlich intendierte innerliche Teilnahme. Allerdings wird die innerliche Beteiligung gerade durch ihre explizite Deklaration problematisch, da vom Zeitpunkt der Deklaration an alle äusserlich sichtbaren Bewegungen als Ausdruck innerer Zustimmung verstanden werden müssen. Die Möglichkeiten zu einer der inneren Haltung widerstrebenden Verhaltensweise werden durch solche Aufforderungen also eingeschränkt. Die restlichen Teilnehmenden sind von nun an nolens volens authentische Teilnehmende. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Diskussion   

5.4.5

Zusammenfassung: Grundmerkmale der Interaktionsordnung

Die Interpretationen der Ersten Sprecheinheiten lassen sich auf folgende Ergebnisse zusammenfassen, die als weitere Grundmerkmale der Interaktionsordnung in reformierten Gottesdiensten verstanden werden können: 1) Die Sprechakte eröffnen die Gottesdienstinteraktion performativ; 2) sie erweitern den Horizont der Interaktionssituation durch Verweise auf aussersituationale Sachverhalte; 3) dabei werden unterschiedliche Sprechakte der Protagonist_in durch deutlich erkennbare Pausen voneinander abgetrennt aneinandergereiht; 4) die einzelnen Sprechakte werden stilisiert und regen qua negative Rezeption eine hermeneutisch produktive Rezeption bei den Teilnehmenden an; 5) demgegenüber sind einige Sprechakte aber auch deklarativ und anweisend, was eine extrinsische Orientierung der Gottesdienstteilnehmer nahelegt; 6) Sprechakte, die sich auf die unmittelbare Interaktionssituation beziehen (z. B. Begrüssungen), sind ein unumgehbarer Bestandteil der Interaktionsordnung.

5.5 Diskussion Die erarbeiteten Grundmerkmale der Interaktionsordnung sollen im Folgenden im Gespräch mit liturgiewissenschaftlichen und interaktionstheoretischen Überlegungen entfaltet werden.

5.5.1

Semantisierungen des Gottesdienstrituals (I. Werlen)

Der Ersten Sprecheinheit kommt eine wirklichkeitskonstituierende bzw. performative Wirkung zu. Von liturgiewissenschaftlicher Seite wurde betont, dass die Sprechakte der Eröffnung dazu dienen sollen, das Folgende als dezidiert religiöse Interaktion im Unterschied zu nicht-religiösen bzw. profanen Interaktionen herauszustellen. Gegenwärtig gefeierte Gottesdienste, so eine landläufige Diagnose, scheinen in diesem Bereich aber erhebliche Mängel aufzuweisen. So bemerkt etwa Manfred Kießig mit Bezug auf die Gottesdienstpraxis nach der Erneuerten Agende in Deutschland: „In vielen Gemeinden hat es sich eingebürgert, daß der Gottesdienst mit einer freien Begrüßung durch den Pfarrer oder einen Kirchenvorsteher eröffnet wird. […] Die Erneuerte Agende lässt Raum für eine freie Begrüßung, sieht diese aber im engen Zusammenhang mit dem liturgischen Gruß, mit dem die den Gottesdienst leitende Person zum ersten Mal der Gemeinde gegenübertritt. […] In dieser Kon© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

zeption stellte eine freie Begrüßung vor dem Eingangslied eine eigenartige Verdoppelung des Grußaktes dar.“64

Und noch drastischer fordert Michael Meyer-Blanck im Hinblick auf dieselbe Agende: „Eine Begrüßung mit freien Worten sollte um der Dramaturgie willen so knapp wie möglich gehalten sein. Was in der Begrüßung gesagt wird, gehört meistens entweder in die Abkündigungen nach der Predigt oder in die persönliche Begrüßung im Gottesdienstvorraum. Ein vermeintlich ‚lockeres‘, freundliches Gerede des Liturgen hat leicht einen Spannungsabfall zur Folge (das geflügelte Wort dafür lautet ‚liturgische Vollbremsung‘). Ein Agieren in dem Rollenmuster ‚Hausherr‘ oder ‚Conferencier‘ verdeckt die Spannung zwischen Nähe und Distanz zu Gott durch Entertainmentanalogien (dort geht es um die vermeintliche Nähe des Enter­tainers). Die Liturg_in soll keine sympathische Veranstaltung inszenieren, sondern das Evangelium, die Botschaft der Nähe Gottes, von dem wir Menschen uns immer wieder entfernen.“65

Im Rückblick auf die Analysen der Ersten Sprecheinheiten soll entgegen dieser Einschätzungen dafür argumentiert werden, dass die „eigenartigen Verdoppelungen“ und bisweiligen „Entertainmentanalogien“ ein Merkmal der Interaktionsordnung des reformierten Gottesdienstes sind.66 Die Erste Sprecheinheit stellt sich als ein verbaler Sprechakt mit deutlichem Bezug zur nachfolgenden rituellen Interaktion dar. Die rituelle Sequenz der reformierten Gottesdienste scheint somit vom „legomenon“ zum „dromenon“ zu schreiten.67 Diese Sequenzialität liesse sich knapp als Logik des Verstehens vor 64 Kießig 1995, 680. 65 Meyer-Blanck 1997, 68. 66 Auch im reformierten Kontext mangelt es nicht an bissigen Zeitzeugen. Der Reformierte Organist Gerhard Aeschbacher etwa diagnostiziert im fortwährenden Ebenenwechsel der Begrüssungen und der folgenden „Regieanweisungen“ ein Symptom der Konsumgesellschaft: „Der Spielcharakter des traditionellen Gottesdienstes wird nicht mehr unmittelbar verstanden. Das zeigen die Begrüßungsformen. Der Liturge fällt von einer Sprachebene in die andere. Auch während des Gottesdienstes muß er das Spiel durch gelegentliche Erklärungen und Regieanweisungen unterbrechen, um den weiteren Verlauf als sinnvoll erscheinen zu lassen. An die Stelle der Spielformen, die das gottesdienstliche Verhalten charakterisieren, tritt immer deutlicher das von den Massenmedien bestimmte Verhalten der modernen Konsumgesellschaft mit ihrem ungeheuren Konformitätsdruck.“ Aeschbacher 1985, 126. 67 Ich übernehme diese Begrifflichkeit von Heiler 1918. Die von Heiler entwickelte religionsethnographische Untersuchung zum Gebet ist vor allem insofern von Interesse, als sie die Behauptung aufstellt, der evangelische Gottesdienst zeichne sich (im Unterschied zum römisch-katholischen) dadurch aus, das dromenon durch das legomenon zu ersetzen; vgl. auch Heiler 1921. Die Konzeption von Heiler kann als typisch für die Liturgiekritik der jüngeren Liturgischen Bewegung betrachtet werden, vgl. dazu Deeg 2012, 262–267.

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Diskussion   

dem Vollziehen bezeichnen. Die Interaktionsordnung sieht also vor, dass dem Vollzug des Rituals der Aufbau eines geteilten Verstehenshorizontes, der erst einmal angezeigt und benannt werden muss, vorangeht. Zugleich impliziert der vorgängige Aufbau eines solchen Verstehenshorizontes, dass die Teilnahme an der Interaktion auch dann möglich ist, wenn dieser Verstehenshorizont nicht bereits von einem Teilnehmenden mitgebracht wird. Andererseits aber zeigen die Ersten Sprecheinheiten auch Formen der Rede, die sich auf die unmittelbare Situation beziehen und diese Situation als unmittelbares Umfeld anzeigen: Die Anrede der Teilnehmenden und das Nennen von Mitwirkenden, der Verweis auf den besonderen Anlass des heutigen Tages sowie Kontexte der unmittelbaren Situation wie etwa aktuelle Medienberichte. Diese Redestücke bringen keine weitere Erklärung mit sich, sondern werden selbstverständlich verwendet. Besonders deutlich gilt dies für die persönlichen Begrüssungen, die in keinem der Fälle eine Erklärung zu benötigen scheinen. Die eigentümliche Konstellation von Erklärungen und Zitaten in der Eröffnung reformierter Gottesdienste ist bereits in den 1980er-Jahren in Inwar Werlens linguistischer Untersuchung zur rituellen Logik68 ein Interpretandum. Werlen bezeichnet darin mit „Ritual“ eine institutionalisierte Kommunikationssituation, die ihre Bedeutung aus ihrem Vollzug gewinnt: „[Z]um einen ist das lückenlose und genaue Durchführen des Rituals für die Teilnehmer offensichtlich häufig wichtiger als das Verstehen dessen, was getan wird, und zum andern ist ein Verstehen häufig schon deswegen ausgeschlossen, weil Sprachen verwendet werden, die einige oder alle Teilnehmer nicht verstehen. Es scheint dann, daß die Bedeutung der durchgeführten Handlungen für die Teil­ nehmer nicht aufgrund der verbalen Botschaft eruiert wird, sondern allein im durchgeführten Vollzug liegt.“69

In der linguistischen Analyse legt Werlen sein Augenmerk auf Passagen des Gottesdienstes, in denen die in der Gottesdienstordnung vorgesehenen rituellen Elemente (ihm lag bereits die Liturgie aus dem Jahre 1972 vor70) miteinander verbunden werden, also einleitende Worte, Lied- und Gebetsansagen.71 Gerade für reformierte Gottesdienste verbindet sich gemäss Werlen die feststehende Abfolge von Elementen mit besonderen kommunikativen Aufgaben:

68 69 70 71

Werlen 1987. Ibid., 42. Hervorh. Ch.W. LKDS 1972. Werlen unterscheidet dabei zwischen einem rituellen „Kern“ und einer rituellen „Peripherie“, wobei den „Peripherien“ die Aufgabe, die Übergänge von einem Element zum nächsten zu organisieren, zukommt; vgl. Werlen 1987, 43.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

„Der [im Vergleich mit einem römisch-katholischen Gottesdienst] größere Spielraum des evangelischen Gottesdienstes macht […] mehr organisatorisches Handeln nötig. Zugleich bringt er – anders als bei der katholischen Messe – einen minimalen Begründungsspielraum für den Pfarrer mit sich.“72

Werlen gelangt somit zur These, dass erstens diese relative Autonomie in der Gottesdienstgestaltung der reformierten Kirchen, zweitens die schwache Institutionalisierung der Gottesdienstordnungen und drittens die mangelnde­ „rituelle Kompetenz“ der Teilnehmenden zu zusätzlichen Interpretationshandlungen der Pfarrperson führen.73 Diese, so Werlen, „Semantisierungen“ des institutionalisierten Vollzuges hätten einerseits die Tendenz, die inhaltlichtheologische Logik der Elemente und ihrer Abfolge zu verdunkeln.74 Andererseits tendierten die Erklärungen selbst wiederum dazu, zu Elementen zu werden, welche als rituelle Impulse die Übernahme von turns durch die restlichen Teilnehmenden erleichtern. Es ist dann schwierig, sie wieder wegzulassen, da sie zu wichtigen Bestandteilen der rituellen Sequenz geworden sind. Den diachronen Erweis für diese rituelle Bedeutung der Sprechakte liefert der Vergleich von Werlens Datenbasis mit den Daten aus meiner Studie. So lässt sich die folgende Passage leicht mit den oben analysierten Liedansagen vergleichen: (–.) wi der im i:gangswort ghö:rt heit (.) isch so (.) ts thema wo dür de gottesdienst düregeit (.) t freud (–.  .) unt für üs echli: i:zstimme uf di freud tüe jitz alli zäme ts lied zwöiesibezg singe (.) alli stro:fe vo eis bis sächs (.) all morgen ist ganz frisch und neu75

[Ausschnitt aus einem Transkript aus Werlen 198776]

72 Ibid. 73 Werlen bringt diese Gedanken auf die Formel: „Je weniger sich der Pfarrer an die institutionalisierte Form hält und je weniger er sicher sein kann, daß die Mitglieder der Gemeinde rituell kompetent sind, umso mehr instruktiven Diskurs muß er leisten.“ Ibid., 48. 74 Vgl. ibid., 57. 75 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: wie Ihr im Eingangswort gehört habt ist so das Thema, das durch den Gottesdienst durchgeht die Freude und für uns ein wenig einzustimmen auf diese Freude, tun jetzt alle zusammen das Lied zweiundsiebzig singen alle Strophen von eins bis sechs all Morgen ist ganz frisch und neu 76 S. Werlen 1987, 50. Die von Werlen gewählte Transkriptionsregeln wurden der Lesbarkeit halber in das angewandte GAT übertragen. Nicht übertragen werden konnte die Prosodie, da diese bei Werlen nicht notiert war. Da die Originalaufnahmen nicht vorlagen, sind Übertragungsfehler nicht auszuschliessen.

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Diskussion   

Einige Merkmale der oben entwickelten Interaktionsordnung von Gottesdiensten, die ein Vierteljahrhundert später stattfanden, sind deutlich erkennbar: Die Fokussierung auf die Nahezeit mit „jetzt“ sowie der Abschluss der Ansage mit dem in Standarddeutsch wiedergegebenen Titel des Liedes entsprechen direkt den oben gemachten Beobachtungen. Die Modulation der Ansage wird hier anders bewerkstelligt: Sie erfolgt indirekt dadurch, dass sie mit einer Begründung verknüpft wird: „für uns ein wenig einzustimmen“. Die Lexik dieser Begründung  – „einstimmen“  – ist mit den oben analysierten Gottesdiensten identisch.

Obschon sich die Pfarrpersonen zur Ansage von Liedern nicht auf einen feststehenden Kanon von Formulierungen berufen müssen, hat sich über die vergangenen Jahrzehnte eine implizite Ordnung etabliert, die sich in der scheinbar informellen und (vermeintlich) nicht-rituellen Situation abbildet.77

5.5.2

Nähe- und Distanzsprache (P. Koch/W. Oesterreicher)

In den Sequenzanalysen der Ersten Sprecheinheiten hat sich gezeigt, dass unterschiedliche Sprechakte erfolgen, die sich voneinander abgrenzen und unterschiedliche Qualitäten besitzen. Dabei gibt es verschiedenste Hinweise darauf, dass sich die Sprechakte auch im Hinblick auf ihre Ritualität voneinander unterscheiden. Die in der Liturgiewissenschaft rezipierte Sprechakttheorie hat Sprechperformanzen im Gottesdienst unterschieden, indem sie einerseits den institutionellen Kontext der Gottesdienste voraussetzte und andererseits eine fundamentale Differenz von Sprechakten innerhalb dieses Sprechkontextes zu Sprechakten in anderen Kontexten voraussetzte. Dies kann aber nur wenig über die unterschiedlichen Sprechakte innerhalb des Gottesdienstes aussagen. Da die gottesdienstliche Interaktion reformierter Gottesdienste nicht als institutionell determiniert angesehen werden kann (eine Agende fehlt), muss nach einem Konzept gesucht werden, das die unterschiedlichen Sprechakte aus der empirischen Interaktion selbst erklären kann. Die Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher entwickeln hierzu ein Theoriemodell, das unterschiedliche Sprachvarianten innerhalb derselben Sprache systematisiert.78 Anders als bei der landläufigen Unterscheidung von 77 Es kann von einem sekundär gebildeten Sprechritual ausgegangen werden, das aus einer tatsächlich nähesprachlichen Situation heraus durch häufige Wiederholung hervorgegangen ist und über die Zeit so mehr und mehr hervorgehoben wurde. Dies im Unterschied zu primären Sprechritualen, die von Anfang an im rituellen Kontext verwendet wurden (Primärsprache); vgl. Hug 1985, o.P., Absch. 2.2.1.2. 78 Ich danke Susanne Oberholzer (Universität Zürich), die sich mit einer linguistischen Studie zur Sprachvarianz in Gottesdiensten promoviert, für den Hinweis auf dieses Theoriemodell.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

schriftlich-fixierter und mündlich-zirkulierender Sprache bestimmen Koch und Oesterreicher die typischen Charakteristika von „Mündlichkeit“ und „Schriftlichkeit“ nicht über unterschiedliche Medien der Sprache (Tinten­hügel auf Papier bzw. Schallwellen in der Luft), sondern anhand unterschiedlicher „Kommunikationsbedingungen“.79 Zur Verdeutlichung der Differenz zur medialen Mündlichkeit und Schriftlichkeit sprechen sie daher von „konzeptioneller Mündlich- bzw. Schriftlichkeit“.80 Grundlegend für die Systematisierung von Koch und Oesterreicher ist die Nähe bzw. Distanz zwischen den an einer Sprechsituation Teilnehmenden. Wenn diese im selben Raum anwesend sind und sich in Kopräsenz zueinander befinden, sind die Produktion und die Rezeption der ausgetauschten Zeichen jeweils unmittelbar aneinander gekoppelt, sie erfolgen synchron. Die Teilnehmenden können einander mittels unterschiedlichster verbaler und nonverbaler Zeichen und Referenzen auf den unmittelbaren Kontext, der durch die Situation der Kopräsenz gegeben ist, ständig über den Verlauf der Kommunikation durch Rückfragen oder accounts (bestätigende Zeichen) verständigen.81 Der Verlauf einer solchen Kommunikation erfolgt daher tendenziell ohne starre Planung, scheinbar spontan und mit einer höheren „Affektivität“ und „Expressivität“ zwischen den Teilnehmenden.82 Sie ist zugleich stark vom unmittelbar vorhandenen Kontext, der konkreten Situation, etwa des Raumes oder der Uhrzeit der Interaktion abhängig. Anders verläuft eine Kommunikation, wenn sich die Distanz zwischen den Kommunikant_innen vergrössert. Sobald die räumliche oder zeitliche Nähe zwischen den Kommunikant_innen nicht mehr gegeben ist, müssen die gesprochenen Äusserungen auch ohne konkreten Kontextbezug verständlich bleiben. Dies bedeutet auch: Je grösser diese Distanz zu konkreten Interaktionssituationen ist, desto abstrakter werden bestimmte Äusserungen. Eine distanzsprachliche Äusserung erfordert einen grösseren „Planungsaufwand“, da bei der Produktion mehrere mögliche Lesarten der Äusserungen 79 Vgl. Koch und Oesterreicher 1985, 19. 80 Vgl. den Titel von Koch und Oesterreicher 1985. Das Konzept überschneidet sich mit der von Douglas im Anschluss an Bernstein getroffenen Unterscheidung zwischen dem elaborierten und dem restringierten Sprachcode: Der elaborierte Sprachcode ist typisch für die Sprache der Distanz, während der restringierte Code typisch ist für nähesprachliche Kommunikation. Im Unterschied zu Douglas und Bernstein, welche die Unterscheidung an makrosoziologischen Kategorien festmachen, zeigen Koch und Oesterreicher, wie die beiden Sprachtypen auf der mikrosoziologischen Ebene unterschiedlich naher bzw. distanzierter Situationen ihren Ursprung haben. 81 Vgl. ibid., 20. 82 Übereinstimmend mit dem in Kapitel 2 elaborierten Theoriemodell von Collins stellen Koch und Oesterreicher fest: „Spontaneität bedeutet zumeist auch stärkere Expressivität und affektive Teilnahme, Faktoren die in [konzeptionell] geschriebener Sprache zurücktreten.“ Ibid., 21.

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207

Diskussion   

Abbildung 16: Kommunikationsgattungen im Schema der „Konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (Koch/Oesterreicher)83

mitbedacht  werden müssen  – inklusive möglicher Missverständnisse.84 Dies führt dazu, dass die Äusserungen kompakter und elaborierter werden, was sich etwa durch eine verschachtelte Syntax (hypotaktischer Satzbau) und ein vielfältigeres Vokabular zeigt. Somit lassen sich unterschiedliche Kommunikationsgattungen unabhängig von ihrem jeweils gebräuchlichen Medium auf ein Kontinuum von nahen bis zu distanzierten Kommunikationsbedingungen aufteilen (s. Abbildung 16). Die Gottesdienstsituation, wie sie sich in den untersuchten Gemeinden zeigt, ist vorderhand durch die Kopräsenz der an ihr Teilnehmenden gekennzeichnet. Die Kopräsenz ermöglicht es grundsätzlich, dass eine durch spontane Ereignisse bestimmte Kommunikation stattfindet. Solche Spontaneität bleibt aber weit­gehend aus. Vielmehr kommen elaborierte Formulierungen zum Einsatz, die sich durch eine Sprache der Distanz auszeichnen. Dies lässt sich mit dem Modell von Koch und Oesterreicher erklären: Der situationale Kontext des Gottesdienstes ist entgegen einer Gesprächssituation durch die feste räumliche Anordnung der Teilnehmenden und die klare Rollenverteilung, zu der auch die ungleiche Verteilung der technischen Hilfsmittel (insbesondere das Mikrophon) gehört, schon stark von situationaler Rede entfernt. Es ist somit auch nicht weiter erstaunlich, dass die durch die Kopräsenz gegebene Nähe nur teilweise zum Zuge kommt. Dennoch wurde in den obigen Sequenzanalysen zu zeigen versucht, dass situationsnahe Sprache konstitutiv zu den Ersten Sprecheinheiten dazugehört. 83 Ibid., 18. 84 Vgl. ibid., 20.

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208

Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

So führen die Linguisten in ihrer Übersicht (vgl. o., Abbildung 16) die Beispielgattung „Predigt“ („h“) auf und unterscheiden sie von einem Vortrag („i“) als sprachlich weniger distanziert und verglichen mit einem „Vorstellungsgespräch“ als distanzierter.85 Die Redesituation der Gattung „Predigt“ ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit anderen Redestücken im Gottesdienst, gerade weil die in ihr gehaltene Rede zugleich als Anrede in einer besonderen Situation gedacht ist aber dennoch stilisierte Elemente aufnimmt. Im Hinblick auf die oben untersuchten Ersten Sprecheinheiten lässt sich nun aber noch detaillierter vorgehen. Die unterschiedlichen Ebenen der sprachlichen Distanz bzw. Nähe können unterschieden und die rituelle Wirkung der Konstellation von sprachlicher Nähe und sprachlicher Distanz beschrieben werden.

5.5.3

Stilisierter Sprachgebrauch und hermeneutische Produktivität

Koch und Oesterreicher halten präzisierend fest, dass Versatzstücke der „konzeptionellen Mündlich- bzw. Schriftlichkeit“ im Rahmen der jeweils anderen sprachlichen Konzeption eine besondere Funktion erfüllen.86 So etwa, wenn in einem Roman dialogische Stücke mit direkter Rede eingefügt sind oder besonders affektive Beschreibungen eingesetzt werden. Im Gottesdienst liegt oft der umgekehrte Fall vor: In einer durch Nähe gekennzeichneten Sprechsituation treten komplexe, archaische oder hervorgehoben phrasierte Redestücke auf. Dieses Aufeinandertreffen unterschiedlicher Sprachkonzeptionen nennen Koch und Oesterreicher einen „stilisierten Gebrauch“ der konzeptionellen Schriftlichkeit. Wo er vorliegt, produziert er jeweils einen Überschuss an Sinn und regt eine aufmerksame und aktive Rezeption an. Ein Gebrauch von distanzsprachlichen Versatzstücken in nähesprachlicher Rede ist interpretationsbedürftig, produziert so einen Sinnüberschuss in der Rezeption durch die Teilnehmenden. Er kann daher dazu dienen, Parodie oder Ironie in die spontane Redeform einzufügen. Es ist wenig verwunderlich, dass solche Versatzstücke oft auch mit besonderen nonverbalen Zeichen (laute Aussprache, Verziehen des Gesichtes, usw.) einhergehen.87 In den Ersten Sprecheinheiten werden solche Wechsel des Sprachcodes von der Distanz in die Nähe dadurch angezeigt, dass einzelne Sprechakte durch längere Pausen voneinander getrennt werden, oder dass eine besondere prosodisch-rhythmische Gestaltung eingenommen wird, die bisweilen fast als verstellte Stimme verstanden werden kann. Ein solcher Sprachcode-Wechsel kann 85 Vgl. ibid. 86 Vgl. ibid., 24. 87 Vgl. ibid., 22.

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209

Diskussion   

zudem an der Wahl einer distanzierteren Sprachvariante des Idioms (Standarddeutsch statt Mundart) erkannt werden. Ein Beispiel, das diese Hervorhebungstendenzen miteinander vereint, ist das folgende aus Anis-B: unsere ↑hilfe steht: (.) im (.) namen (.) gottes, (.) der himmel und erde gemacht:, (. .) der ewig (.) treue hält, (.) und nicht: (.) ↓hände. denn gott hat uns ↑nicht den geist der ↑furcht gegeben,(.) sondern,(.) den geist der kraft: (.) und der liebe (.) und der besonnenheit:. (.) ↓am↑en, (. .) (ich) (.  .) begrüssä (.) euch (.) , (.) im name vo de D××× ×× und me:r zu=däm, ↓gottesdienscht,88

[Clip 5.24, Anis-B 0:33:48.2–0:34:31.2]

Für die Ersten Sprecheinheiten der reformierten Gottesdienste sind solche Konstellationen von Nähe- und Distanzsprache charakteristisch. Der stilisierte Gebrauch kommt dadurch zustande, dass zwei stilistisch deutlich unterscheidbare sprachliche Kodierungen aufeinander bezogen werden.89 Dies kann durch gestische oder prosodische Elemente ebenso bewerkstelligt werden wie durch einen Wechsel in der Sprachvariante von Standarddeutsch in Mundart oder umgekehrt. Beim stilisierten Gebrauch von Sprache wird auch eine Spannung auf sinnproduktive Weise verdeutlicht: Durch die Kombination von Nähe- und Distanzsprache im Gottesdienst wird angezeigt, dass der Fokus dessen, was hier situational geschieht, zugleich von übersituationaler Bedeutung ist. Der stilisierte Gebrauch löst somit eine theologisch-normative Forderung an den Eröffnungsteil eines Gottesdienstes ein, die von Michael Meyer-Blanck etwa folgendermassen formuliert wurde: „In der Eröffnung wird das Distanzbewußtsein dargestellt, in der Anrufung wird mit und trotz Distanzbewußtsein die Anwesenheit und Nähe Gottes liturgisch gesetzt.“90

88 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: [Zitat Standarddeutsch] ich begrüsse euch alle ganz herzlich, im Namen von der Dxxx xxx und mir zu diesem Gottesdienst, 89 Vgl. ibid., 24. 90 Meyer-Blanck 1997, 59.

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Nicht-Selbstverständlichkeiten – Erste Sprecheinheiten im Gottesdienst

Die Ersten Sprecheinheiten verdeutlichen, dass das gottesdienstliche Sprechen mit Sachverhalten rechnet, die nicht in der Situation selbst gegeben sind. Allerdings wäre die Stilisierung überinterpretiert, wenn sie als direkter Hinweis auf einen transzendenten Teilnehmenden (die „Anwesenheit und Nähe Gottes“) gelesen werden würde. Sie vermag lediglich die Übersituationalität des Horizontes einer Interaktion zu verdeutlichen, nicht aber das transzendente Gegenüber.91 Hierzu wäre ein bestimmtes Vorverständnis der Situation nötig, welche alle übersituationalen Hinweise als Hinweise auf die Transzendenz verstünde – dieses kann aber nicht vorausgesetzt werden. Die dialektische Bezogenheit von nähesprachlichen (auf die unmittelbare Interaktion bezogenen) und distanzsprachlichen (den Verstehenshorizont des Gottesdienstes verdeutlichenden) Redestücken erzeugt eine Dynamik, die das Gottesdienstgeschehen einerseits als unmittelbares Geschehen konstituiert. Dafür ist die Sprache der Nähe besonders wichtig. Sie erzeugt eine affektive Nähe, die von Teilnehmenden als Solidarität erfahren werden kann. Andererseits wird diese rituelle Nähe durch die distanzsprachlichen Einheiten unterbrochen. Dieses Wechselbad zwischen ritueller Dynamik und antiritueller Unterbrechung ist wiederum nur dann als folgerichtige bzw. logische Sequenz nachvollziehbar, wenn durch die restlichen Teilnehmenden eine hermeneutische Leistung erbracht wird. Diese hermeneutische Leistung wird durch ein Nichtvorhandensein von Sinn ausgelöst. Sie stellt eine Rezeption ex negativo dar. Dies zeigt sich in den Sprechpausen zwischen den einzelnen Sprechakten: Die deutlich wahrnehmbaren Pausen legen einen turn zu den restlichen Teilnehmenden nahe, ohne dass dieser mit bestimmten Handlungen oder eigenen Sprechakten äusserlich übernommen wird. Die Pausen lassen somit Zeit für eine innere Rezeption des Sprechaktes sowie zum Nachvollzug der Sequenz des Sprechaktes auf den ihm vorangegangenen. Der stilisierte Gebrauch von Sprache legt eine rezeptive und verstehende Haltung bei den Teilnehmenden nahe, obwohl und gerade weil nicht gesagt wird, was verstanden werden soll.

91 Der hier verwendete theologische Transzendenzbegriff unterscheidet sich von sozialanthropologischen Konzeptionen der Transzendenz, etwa derjenigen von Thomas Luckmann. Luckmann versteht Transzendenz als unterschiedlich stark ausgeprägte Repräsentanz von etwas Abwesendem; vgl. Luckmann 1985, 537. Transzendenz meint in der vorliegenden Studie nicht nur schlichte Nicht-Immanenz in einer Situation, sondern Nicht-Immanenz in Bezug auf alle möglichen Situationen.

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6.

Stilisierte Gespräche – Gebete

„C’est le rituel qui reste la base même de la prière la plus individuelle.“ M. Mauss1

In den vorangehenden Kapiteln wurde der Versuch unternommen zu zeigen, dass die Interaktion in reformierten Gottesdiensten durch bestimmte Fokussierungsangebote der Pfarrperson gelenkt wird. Dabei ist in Kapitel 4 von einem „Priming“ der Gottesdienstinteraktion gesprochen worden, das bereits in den nonverbalen Zeigeleistungen auf das Manuskript und das Publikum zwei unterschiedliche Foci anzeigt. In Kapitel 5 wurde dann deutlich, dass diese zweifache Fokussierung auch durch die verbalen Hinweise der Pfarrperson, insbesondere den stilisierten Gebrauch von Sprache, fortgeführt wird und ein rezeptiv-verarbeitendes Mitvollziehen bei den restlichen Teilnehmenden nahelegt. Im folgenden Kapitel soll die Analyse an einem Element der Gottesdienstinteraktion weitergeführt werden, das einen direkten Sprechakt mit dem transzendenten Teilnehmer des Gottesdienstes, Gott selbst, vorsieht. Besonders prominent wird diese normative Auffassung in Luthers sogenannter Torgauer Formel ausgedrückt, wo der Kirchenraum als Ort bestimmt wird, indem „nichts anderes […] geschehe als daß unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang.“2 Das Gebet ist somit theologisch gesehen kein beiläufiges Interaktionsgenre, sondern gleichsam das Grundmuster aller gottesdienstlichen Interaktion. Evangelische Liturgiewissenschaftler_innen betonen daher auch die Nähe der gesamten Gottesdienstinteraktion zur Gattung des Gesprächs.3 Ist dieser Vergleich für die faktisch stattfindende Gebetspraxis zutreffend? Sind Gebete als Gespräche zu verstehen? Im Folgenden gilt es die Interaktionsordnung der Gebetssequenzen im vorliegenden Sample zu beschreiben und nach interaktionstheoretischen und theologisch-normativen Erklärungen für ihre Gestalt zu suchen. Dabei beschränkt

1 Mauss 1909, 20. 2 Luther [Luther Deutsch 8, 1965], 440. 3 Vgl. Koll 2011.

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212

Stilisierte Gespräche – Gebete

sich die Analyse auf die Eingangsgebete, deren interaktionale Gestalt als exemplarisch für andere gottesdienstliche Gebete gelten kann.

6.1

Vorbemerkungen zum theologisch-normativen Gebetsverständnis

Aufgrund der eminenten theologischen Bedeutung der Gebete sei zunächst ein normativer Diskurs aus den Nachkriegsjahrzehnten aufgegriffen, der die bei Luther angelegte Bestimmung des Gebetes in entscheidender Weise hinterfragt hat. An diesen Diskurs schliesst dann die spezifische Fragestellung zu diesem gottesdienstlichen Element an.

6.1.1

Zur Wirklichkeit von Gebeten

In einem Diskussionsbeitrag zur Tagung Gebet und Gebetserziehung im Jahre 1971 stellte Gert Otto als Exponent einer anthropologisch ausgerichteten Praktischen Theologie folgende zwei Anfragen an ein seiner Meinung nach überholtes Gebetsverständnis: „1. Heißt beten mit Gott als einem ansprechbaren personalen Gegenüber rechnen? 2. Heißt beten, mit einem von außerhalb der Welt kommenden unmittelbaren Eingreifen Gottes in die weltlichen Geschehensabläufe rechnen?“4

Otto selbst verneint die Fragen erwartungsgemäss: Seiner Meinung nach ist die in der Gebetspraxis über traditionelle Formen tradierte „Vorstellung eines unmittelbaren oder durch den Gottesmann vermittelten Eingriffes Gottes in den Weltenlauf […] an geistige Voraussetzungen gebunden, die auf der ganzen Linie nicht mehr die unseren sind.“5 Statt diese Voraussetzungen naiv wiederherzustellen plädiert er dafür, „jede unreflektierte Vorstellung von Gott als einem ansprechbaren personhaften Gegenüber hinter sich [zu] lassen.“6 Wo diese dennoch erfolgt, sollte ihm gemäss das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass es sich um eine „vielleicht notwendige, rhetorische Figur der Tradition“7 handle. Entgegen der traditionellen Auffassung destilliert Otto aus (vorwiegend paulinischen) Passagen des Neuen Testaments und der Schriften Luthers die Funktion des Gebetes als selbstvergewissernde Handlung, die direkt auf die Situation 4 Otto 1971, 53. 5 Ibid., 34. 6 Ibid., 39. 7 Ibid.

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Vorbemerkungen zum theologisch-normativen Gebetsverständnis   

213

des Betenden einwirken soll. Beten ist für Otto weniger eine Transzendenzanrufung angesichts immanenter Problemlagen, in denen sich nichts mehr machen liesse, sondern gerade umgekehrt, ein aktiver Eingriff in die Gegenwart: eine „Tat“, welche die eigene Lebenssituation und die eigene Haltung zu dieser Situation zum Ausdruck bringe, – kurz: eine „[k]onkrete Besinnung auf die Situation, in der man jeweils verhaftet ist.“8 Auch das kollektive Gebet im Gottesdienst ist für Otto aus dieser Funktion abgeleitet. Der Gottesdienst sei der Ort, „an dem die Klärung des Lebens- und Glaubensverständnisses immer neu“9 erfolge. Gebete seien somit möglichst situationsimmanent und mit konkretem Handlungsbezug auf die Situation hin zu formulieren. In vielen Fällen leisteten s.E. Gedichte und andere Redegattungen diese Funktion weitaus besser als traditionelle Gebetsformulierungen. Im Stil der Bonhoeffer-Rezeption der Nachkriegsjahrzehnte entwirft Otto damit ein Programm für die „nichtreligiöse Interpretation“ der religiösen Praxis des Betens.10 Aber auch andere Gebetsverständnisse kursierten in der erwähnten Debatte der Nachkriegstheologie. Im erwähnten Tagungsband antwortet der junge Praktologe Peter Cornehl auf die provokanten Thesen von Otto. Zwar steht auch für ihn „affirmatives Reden von Gott in direkter Anrede wie in mitmenschlicher Vermitteltheit unter dem Verdacht, ‚altgewesene Vertrautheit‘ nur vorzuspiegeln.“11 Doch sei es gerade angesichts der veränderten Erfahrungen moderner Menschen, welche „die Realisierung der ‚Vertrautheit‘ mit dem Unsichtbaren erschweren“, sinnvoll, die Form der Liturgie zu pflegen, „weil damit ein intersubjektiver Rahmen erstellt wird, dessen Inhalte nicht vom Einzelnen je und je neu geleistet werden müssen, in den er sich mit seiner ambivalenten 8 Ibid., 40. Dieser Gedanke wird auch im Büchlein von Walter Bernet aufgenommen, der von drei Funktionen des Betens spricht: Reflektieren, Erzählen und Situieren; vgl. Bernet 1970, 87–152. 9 Otto 1971, 45, Hervorh. Ch.W. Bernet geht in diesem Punkt noch ein Stück weiter, in dem er schreibt: „Das Gebet ist Sache des Einzelnen. Das ist eine notwendige Einschränkung. Beten geschieht nicht als öffentlicher oder gemeinschaftlicher Vorgang, sondern durchaus im ‚stillen Kämmerlein‘. Beten ist keine Aktion und keine Proklamation, sondern eben Re-flexion.“ Dies aber sei keine Anleitung zum Quietismus, denn es gelte: „Weil Beten alles, was die Erfahrung ihm bietet, in Frage stellt, befreit es zur Tat.“ Bernet 1970, 118.119. 10 Der Beitrag von Otto referiert über weite Strecken die von Walter Bernet in seinem Büchlein Gebet 1970 publizierten Thesen; s. Bernet 1970. Allerdings wird bei Bernet deutlicher aus psychologischer Perspektive argumentiert, dass das Gebet eine Technik der Verarbeitung von Erfahrung darstellt. So meint er etwa: „Beten ist nicht Gutes tun, Beten ist nicht richtig denken oder theologisch denken. Beten ist ein besonderer Akt – und als Akt ein exercitium, eine Übung. Beten ist Einübung auf die Reflexion der Erfahrung. Beten übt solche Reflexion ein, indem es erzählt, episch formt und gestaltet, was das Denken von der Erfahrung vernimmt.“ Ibid., 138. 11 Cornehl 1971, 107.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

Erfahrung von partieller Distanz und Identifikation hineinstellen kann.“12 Die von Otto beargwöhnte „vielleicht notwendige, rhetorische Figur der Tradition“ könnte also, wenn man Cornehl folgt, in der Tat nicht bloss „vielleicht notwendig“, sondern eine grundlegende Bedingung für die individuellen Erfahrungen der Gottesdienstteilnehmenden im Gebet darstellen.

6.1.2

Forderungen nach einem nicht-religiösen Gebet

Die Debatte über die Wirklichkeit des Gebets aus der Epoche der „nicht-religiösen Interpretation religiöser Begriffe“ (Bonhoeffer) in den Nachkriegsjahrzehnten ist für die vorliegenden Sequenzanalysen einerseits von historischer Bedeutung, weil sie im deutschsprachigen Protestantismus den Grundstein für eine kreative Öffnung der Gebetssprache gelegt hat, in deren Folge veränderte Formulierungen in das rituelle Vokabular eingeführt wurden. Es soll daher im Folgenden darauf geachtet werden, inwiefern die geforderten Veränderungen in der Gattung Gebet in die Praxis der reformierten Gottesdienste eingegangen sind. Andererseits ist die damals neue Fokussierung auf die Immanenz der Gebete aus interaktionsanalytischer Sicht höchst virulent. Die Anrede eines transzendenten Gegenübers, dessen Ansprechbarkeit und Relevanz für die immanente Situation vorausgesetzt wird, lässt dieses Gegenüber zu einem Teilnehmenden an der Interaktion werden, auch wenn es selbst nicht sichtbar ist. So meint etwa Iwar Werlen in seiner Untersuchung reformierter Gottesdienste: „Rein linguistisch gesehen scheint es mir unabdingbar, daß man unterstellen muß, daß für die Teilnehmer am Gottesdienst Gott ein Teilnehmer ist, da er mehrfach direkt angesprochen wird. Wie diese Teilnehmerschaft genau beschaffen ist, kann linguistisch natürlich nicht entschieden werden.“13

Diese linguistische bzw. interaktionsanalytische Beobachtung kann die theologische Frage nach der Realität des transzendenten Gegenübers, wie Werlen zutreffend feststellt, nicht tangieren. Zugleich lässt sich aber in Anlehnung an die von Cornehl vertretene Ansicht fragen, wie die Anrede qua Form die Teilnehmerschaft Gottes erwartet und welche Art und Weise der Teilnahme durch eine solche Form angezeigt wird. Im Folgenden wird es daher nicht darum gehen, empirisch zu zeigen, ob das angesprochene Gegenüber tatsächlich da ist oder nicht, sondern inwiefern seine Kopräsenz interaktional organisiert wird.14 12 Ibid., 109. 13 Werlen 1987, 45, Anm. 4. 14 Die Untersuchung hat insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit den von Schegloff in der Konversationsanalyse untersuchten Telefonanrufen; vgl. Schegloff 2002. Auch in Telefongesprächen wird alleine im hörbaren Modus kommuniziert, was die Kopräsenz des

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Überblick über das Sample   

215

In der Gottesdienstinteraktion kommt der Umstand hinzu, dass Gebete nicht als Zwiegespräch zwischen Mensch und Gott stattfinden, sondern – wie Michael Meyer-Blanck treffend formuliert –  eine „Dreieckskommunikation“ darstellen.15 In den meisten Fällen stehen sich eine Protagonist_in, eine Gruppe mit restlichen Teilnehmenden und der nonphänomenale Angeredete gegenüber. Obschon diese Konstellation durch das institutionelle Umfeld des Kirchengebäudes und zahlreiche ungeschriebene Regeln (die Pfarrperson spricht, die Gemeinde schweigt etc.) zureichend determiniert zu sein scheint, bleibt doch offen, inwiefern die Interaktionssituation selbst und ihre Teilnehmenden im Gebet fokussiert werden. Hier haben auch die Anfragen Ottos ihre Berechtigung: Seine grundsätzliche Infragestellung des Vorhandenseins eines transzendenten Gegenübers im Gebet schärft die Aufmerksamkeit auf die Entstehung des Transzendenzbezuges in der konkreten Situation. M.a.W., Die Teilnehmenden thematisieren und fokussieren als Sprechende im Gebet auch sich selbst und die Interaktionssituation. Zugleich müssen sich Betende in adäquater Weise von der Situation distanzieren, was insbesondere durch non- und paraverbale Zeichen, etwa eine bestimmte Haltung und eine bestimmte Prosodie beim Sprechen, ausgedrückt wird.16 Die Art und Weise dieser Selbstthematisierung und die Gebetshaltung wird in den zu analysierenden Fällen besonders zu beachten sein.

6.2

Überblick über das Sample

Die Eingangsgebete sind in den untersuchten Gottesdiensten immer nach einem ersten Gemeindelied oder einer musikalischen Darbietung in die Abfolge der Gottesdienste eingereiht. Sie kommen in allen Fällen vor einer ersten Textlesung zu stehen. Gegenübers immer wieder fragwürdig erscheinen lässt (nach dem längeren Ausbleiben einer akustischen Bestätigung, folgt oft die Frage: „bist du noch da?“). Trotzdem sollte die Vergleichbarkeit von Telefongesprächen und Gebeten nicht überstrapaziert werden: Insbesondere die untersuchten Gebete im Gottesdienst zeichnen sich gerade durch ihre Verankerung im Kontext von Kopräsenz aus. 15 Vgl. Meyer-Blanck 2003, 779. Meyer-Blanck meint, dass das spezifische am evangelischen Gottesdienst darin liege, dass in ihm diese Dreieckskommunikation mit einer dynamisch wechselnden Protagonist_in gestaltet sei: Die Teilnehmenden nähmen „abwechslungsweise“ die Rolle der Protagonist_in ein, was dem Gedanken des allgemeinen Priestertums entspräche. Beobachtet werden können solche Wechsel allerdings selten – allenfalls in der Rolle der Lektor_in. Somit muss die von Meyer-Blanck geforderte Profilierung für den untersuchten Kontext wohl eher als frommer Wunsch angesehen werden. 16 Auf die fundamentale Bedeutung einer adäquaten Gebetshaltung für die religiöse Sozialisation haben Capps und Ochs in ihrer interaktionslinguistischen Studie zu Gebeten in Familien mit Kleinkindern hingewiesen; vgl. Capps und Ochs 2002.

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216

Stilisierte Gespräche – Gebete

In der folgenden Tabelle (Abbildung 17) sind grundlegende Charakteristiken der ersten Gebete im Sample einander gegenübergestellt.17 Folgende Beobachtungen lassen sich aufgrund dieser groben Übersicht über die Eingangsgebete festhalten: 1) Die Gebete weisen eine strukturelle Gleichförmigkeit auf, die sich insbesondere am abschliessenden Wort „amen“ und der in allen Fällen vorhandenen Anrede zeigt. 2) Eine solche Anrede eines Gegenübers kommt in allen genannten Beispielen vor, wenn sie auch in vier Fällen invertiert, d. h. als Teil des ersten Sprechaktes erfolgt. Daraus lässt sich schliessen, dass das von Otto und Bernet anfang der 1970er Jahre geforderte apersonale und ausschliesslich immanenzbezogene Gebet in keinem der Fälle umgesetzt wird. 3) Das Gebetskorpus, der mittlere und längste Teil des Gebetes, wird von der Anrede (sofern diese nicht invertiert ist) und dem abschliessenden „amen“ durch kurze Pausen abgetrennt. 4) In den meisten Gebeten wird eine Gebetsansage vorangestellt. Auf sie folgt eine Sprechpause, bevor die Gebetsanrede gesprochen wird. 5) Die Blickführung von P während der Kombination „Anrede  – Gebets­ korpus – Amen“ bleibt auf das Manuskript gerichtet (Ausnahme PAnis-B,F). 6) Die Gestaltungen des Gebetskorpus sind sehr inhomogen. Zwar tauchen jeweils ähnliche Sprechakte auf, diese werden aber in unterschiedlichen Konstellationen kombiniert. Auffällig ist neben den erwartbaren Sprechakten Lob, Dank und Bitte eine häufige konstative Rede, die im Folgenden als Anrededeskription bezeichnet wird. In der Liturgiewissenschaft werden solche Sprechakte oft „Prädikat“ genannt, womit bezeichnet wird, dass in ihnen „eine Eigenschaft oder eine Verhaltensweise Gottes, beziehungsweise de[r] Grund, warum gerade dies oder jenes zum Gegenstand des Gebetes erhoben wird“18 expliziert wird. 7) Die Selbstthematisierung des Betenden ist entweder im Singular („ich“) oder Plural („wir“) gehalten, wechselt aber teilweise zwischen Gebetsansage und Gebetskorpus. 8) Die Sprachkodierung der Gebete ist unterschiedlich gestaltet. In 6 von 13 Fällen kommt Schweizerdeutscher Dialekt zum Einsatz – manchmal nur in der Ansage, in einem Fall (Burg-B) wechselt P die Kodierung innerhalb des Korpus. Die restlichen Gebete werden ausschliesslich in Standarddeutsch angesagt und gesprochen. 17 Ich habe wiederum versucht, so weit wie möglich mit liturgiewissenschaftlich etablierter Terminologie zu arbeiten, und dort, wo keine Bezeichnungen vorhanden waren, neue Begriffe zu prägen. 18 Rotzetter 2002, 95; vgl. auch Köber 1995.

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1

1

Burg-A

(-.)

1

1

Anis-G

(5.4)

1

Anis-F

Invertiert

(-)

Anis-E

1

1

1

1

Anis-D

(4.9)

(3.8)

Anrede

1

1

1

Pause

Anis-C

Anis-B

Anis-A*

Ansage

Anrededeskription Dank Anrededeskription Bitte Anrededeskription Bitte

(. .)

Anrededeskription Bitte

Anrededeskription Bitte

Anrededeskription Bitte

Anrededeskription Bitte Dank Bitte

Lobpreis Anrededeskription Bitte Dank

Deskription Anrededeskription

Gebetskorpus (Sequenzierung von Sprechakten)

(. .)

(-)

(-)

(. .)

(.)

(1.8)

Pause

(-)

(. .)

(.)

(-)

(. .)

(. .)

(.)

(3.7)

Pause

1

1

1

1

1

1

1

1

„Amen“

Wir

Wir

Ich

Wir

Wir

Wir

Wir Ich

Ich

Subjekt

MT

MT

SD

SD

SD

SD

MT SD

MT

SprachCode

Fokus Ms

Fokus Ms

Wechselnder Fokus Ms/G

Fokus Ms

Fokus Ms

Fokus Ms

Wechselnder Fokus Ms/G

Fokus Ms

Blicklicher Fokus von P

Überblick über das Sample   

217

1

1

1

Chiem-B

Dime-A2

Dime-B

(10.3)

(6.7)

(2)

(-)

Pause

1

Invertiert

Invertiert

1

Invertiert

Anrede

(.)

(.)

Pause

Anrededeskription Bitte Endformel

Anrededeskription Selbstverpflichtung Bitte

Anrededeskription Bitte Anrededeskripton Deskription Aufforderung Deskription

Anrededeskription

Anrededeskription

Gebetskorpus (Sequenzierung von Sprechakten)

1 1

(. .) (.)

(. .)

1

1

„Hallelujah“

(. .)

(-)

„Amen“

Pause

SD

SD**

Ich / Wir

Wir

SD

MT/SD SD

MT

SprachCode

Wir Ich / 3. Person

Wir

Ich

Subjekt



Fokus Ms

Fokus Ms

Fokus Ms



Blicklicher Fokus von P

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Abbildung 17: Übersicht über die Makrostruktur der Gebete im Sample

* In diesem Fall wird dem eigentlichen Gebet eine Lesung vorangestellt, die sowohl sprachlich anders kodiert ist als auch die Strukturelemente des Gebets vermissen lässt. ** In Dimels* ist die Pfarrperson Deutscher Herkunft und spricht auch ausserhalb des Gottesdienstes keine Mundart.

1

1

Chiem-A

Burg-B

Ansage

218 Stilisierte Gespräche – Gebete

Sequenzanalysen   

219

Aus der groben Übersicht wird noch nicht deutlich, in welcher Art und Weise die Gebete auf die Interaktionssituation und das in ihnen angesprochene Gegenüber bezogen sind. In den folgenden Sequenzanalysen sollen daher spezifische Kombinationsmuster anhand von einzelnen Fällen aufgezeigt werden.

6.3 Sequenzanalysen 6.3.1

Gebetsansage und Einnahme der Gebetshaltung

Gebetsansagen sind kurze Redestücke, die dem eigentlichen Gebet vorangestellt werden. Auf sie folgt eine längere Pause (1–10.3s, vgl. Abbildung 17), während deren meistens bei der Pfarrperson und oft auch bei den restlichen Teilnehmenden eine Verhaltensänderung beobachtet werden kann. 6.3.1.1 Konstative Ansagen Werden die verbalen Äusserungen betrachtet, so kommen ähnlich wie bei den Liedansagen oft konstative Formulierungen zum Einsatz. Die einfachste Form einer solchen Formulierung findet sich etwa in Anis-E: ↑wir ↓beten. (5)

[Clip 6.1, Anis-E 0:35:28.1–0:35:34.1]

P phrasiert diese konstative Aussage deutlich (hoher Ton bei „wir“, tiefer Ton bei „beten“). Zusätzlich bildet er die Prosodie durch seine Blickrichtung ab: Während er bei „wir“ noch direkt zur Gemeinde blickt, schaut er bei der zweiten Silbe des Wortes „beten“ hinunter auf sein Manuskript, wo sein Blick bis zum Ende der Gebetssequenz verbleibt. Anschliessend führt er seine Hände, nachdem er mit der linken Hand noch kurz das Mikrophon am Lesepult zurechtrückt, vor sich zusammen.

Sowohl prosodisch (durch den überzeichneten Full-stop bei vorangegangenem hohen Sprechton) als auch in der Blickführung zeigt P eine bevorstehende Übergabe der Handlungsleitung (TRP) an. Der von den restlichen Teilnehmenden abgewendete Blick deutet darauf hin, dass sich der Fokus der Interaktion nun verschiebt. Während er immer noch im Fokus der Aufmerksamkeit steht, zeigt P mit seiner Blickführung an, dass der Fokus sich verändern wird. Die­ Illokution der Rede wird also nicht in erster Linie auf der semantischen Ebene (dort herrscht Ambiguität: die Aussage könnte futurisch gemeint sein, dies bedingt aber, dass die Anwesenden in der Einschätzung übereinstimmen, das © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Stilisierte Gespräche – Gebete

noch nicht gebetet wird), sondern vor allem durch die Prosodie und die Bewegung von P verdeutlicht. In anderen Fällen wird der illokutionäre Aspekt der Ansagen deutlicher thematisiert, etwa in Anis-G: mer tüe zäme bätte.19

[Clip 6.2, Anis-G 0:30:18.3–0:30:19.8]

Auch hier wird die Ansage mit einem Full-stop abgeschlossen und P bewegt während der letzten Silbe der Rede seine Blickrichtung zum Manuskript. Allerdings wird das Verb „beten“ durch das Hilfsverb „tun“ moduliert. Diese Konstruktion betont in der Schweizerdeutschen Mundart üblicherweise den Aktivitätscharakter der Aussage.20 Zusätzlich wird dieses „tun“ adverbial als gemeinschaftliche Aktivität bestimmt: es geschieht „zusammen“.

Ähnlich auch in der folgenden Ansage aus Chiemtigen*: wir ↑wollen zusammen beten.

[Clip 6.3, Chiem-B 0:19:07.2–0:19:09.2]

Diese Ansage ist abgesehen von der sprachlichen Kodierung (Standarddeutsch) und dem verwendeten Hilfsverb ähnlich aufgebaut. Das Hilfsverb „wollen“ unterstreicht allerdings die Intentionalität und die Zukünftigkeit der Handlung.

Durch die Modulation mittels der Hilfsverben „tun“ und „wollen“, und deren adverbiale Bestimmung „zusammen“ wird die Gebetsansage als eine die Angesprochenen und P involvierende Aktivität deklariert. Dadurch wird nahegelegt, dass die äusserliche Teilnahme in authentischer und aktiver Partizipation erfolgen soll. Eine nicht-authentische Teilnahme wird auf interaktionaler Ebene erschwert, da sie nun eine sichtbare Distanzierung von der geforderten Handlung bzw. das Nichtbefolgen der Aufforderung erfordert. Im eben erwähnten Beispiel aus Chiem-B wird die Gebetsaufforderung über solche Modulationen hinaus mit Zusatzinformationen versehen: wir ↑wollen zusammen beten. (.) nach dem ↑psalm hundertdreissig.

[Clip 6.4, Chiem-B 0:19:07.2–0:19:13.0]

19 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Wir tun zusammen beten. 20 Vgl. Stucki 1921, § 93, Abs. 2, 121: „In Verbindung mit tue steht der Infinitiv oft, wenn der Verbalbegriff hervorgehoben werden soll.“

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Sequenzanalysen   

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Die an die Gebetsaufforderung angehängte Information über die Textquelle des Gebetes wird nach einer kurzen Pause wesentlich leiser gesprochen. Prosodisch wiederholt P die Abfolge hoch-tief aus dem ersten Satz und konstruiert so einen zweiten TRP. Ihre Blickrichtung verändert sie allerdings nicht mehr.

Die einmal eingenommene Blickrichtung, die auch der Gebetshaltung entspricht, wird hier nach der Aufforderung zum Gebet nicht mehr aufgelöst. Auch dann, wenn P eine Selbstkorrektur21 ihrer Ansage ausführt. 6.3.1.2 Haltungseinnahme ohne explizite Aufforderung Die Gebetsansagen fungieren in allen Fällen als rituelle Impluse, die von den Gemeindegliedern aufgenommen werden können. Am deutlichsten wird dies in den Fällen der Gemeinde Dimels* sichtbar. Ähnlich wie schon beim Einzug der Pfarrperson, gibt es dort intrinsisch-rituelle Teilnehmende, welche die Gebetsansage ohne weitere Erläuterung mit der Einnahme einer bestimmten Haltung (stehend, hier allerdings mit vornüber gesenktem Kopf) beantworten. P äussert in den beiden Gottesdiensten jeweils dieselbe Formel. In Dime-A2 ist die Sequenz folgendermassen gestaltet: lasst uns beten. (6.7)

[Clip 6.5, Dime-A2 0:10:38.5–0:10:46.7]

Auf der verbalen Modalität äussert P eine Anweisung im Adhortativ, die zwar archaisch wirkt, aber den illokutionären Aspekt explizit verbalisiert. Wie bei den oben beschriebenen Ansagen, wird auch hier die Prosodie zur Markierung eines deutlichen TRP eingesetzt. Ebenfalls korrespondiert diesem Umstand die Blickführung, die noch vor dem Absenken des Sprechtons auf das Manuskript zielt und dort verbleibt. Während die Teilnehmenden den turn übernehmen senkt sich P noch etwas stärker vornüber.

Wiederum wird deutlich, dass P die Ansage nicht nur spricht, sondern auch eine Haltungsveränderung nahelegt. So zeigt er nicht nur die veränderte Blickrichtung an, sondern senkt seinen Blick nach der Ansage auch zunehmend vornüber. Die Übernahme des rituellen Impulses durch die Teilnehmenden verläuft unterschiedlich. In Dime-A2 ist insbesondere das Verhalten der Jugendlichen in der hintersten Bankreihe im Unterschied zu den restlichen Teilnehmenden interessant. 21 Vgl. o., 140, Anm. 18.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

Unmittelbar nach dem Ausklingen der Gebetsansage von P regt sich bei den Teilnehmenden noch nichts.

[Dime-A2 0:10:39.1]

[Dime-A2 0:10:39.9]

[Dime-A2 0:10:41.8]

Erste Teilnehmende reagieren binnen nur weniger Zehntelsekunden, indem sie sich nach vorne beugen und ihre Hände vor ihren Oberkörper führen. Der Mann mitte links behält dabei noch das Gesangbuch in Händen, das er zuvor offenbar vor sich auf dem Schoss liegen hatte. Innerhalb von ca. 1s nehmen die meisten Teilnehmenden im Stehen eine vornübergebeugte Haltung ein. Die Hände sind dabei entweder vor dem Bauch verschränkt oder wie im Falle des Mannes mitte links auf die Vorderbank abgestützt. Wiederum etwa 1s später dreht sich der Jugendliche hinten links nach links und legt zeitgleich seine Hände auf die Rückenlehne der Vorderbank. Der andere Jugendliche blickt in die Gegenrichtung neben sich nach unten.

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Sequenzanalysen   

[Dime-A2 0:10:43.7]

[Dime-A2 0:10:44.6]

[Dime-A2 0:10:45.9]

Der Jugendliche links stösst sich an der Vorderbank hoch und dreht seinen Oberkörper nach rechts zum anderen Jugendlichen aus. Der andere Jugendliche dreht seinen Blick langsam nach links aus, bleibt mit ihm aber unten, so dass kein direkter Blickkontakt zwischen den beiden hergestellt wird. Der Jugendliche rechts nimmt beide Arme mit den Ellbogen auf die Rückenlehne der Vorderbank hoch und richtet seinen Blick in Sitzrichtung nach vorne aus. Nun besteht eine periphere gegenseitige visuelle Wahrnehmung zwischen den beiden Jugendlichen. In 0.2s stösst sich der Jugendliche rechts hoch und verbleibt auf die Rückenlehne der Vorderbank mit den Ellbogen abgestützt und vorübergebeugt. Sein Blick ist nach vorne gerichtet. Der andere Jugendliche links hat sich zeitgleich nach vorne gebeugt und sich ebenfalls auf die Rückenlehne mit den Ellbogen abgestützt. Die Jugendlichen verbleiben mit ihren Blicken einander peripher zugewandt.

Während sich die leichte Verzögerung von ca. 1s zwischen den ersten und den restlichen Teilnehmenden durch unterschiedliche Aufmerksamkeit und physische Reaktionsfähigkeit (z. B. Beschwerden beim Aufstehen) erklären lässt, erfolgt die turn-Übernahme bei den Jugendlichen mittels Nachahmung. Dies zeigt sich daran, dass der Jugendliche links seinen Blick zuerst zu anderen Teilnehmenden in der linken Hälfte des Raumes hinwendet. Er gewinnt so die nötige © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Stilisierte Gespräche – Gebete

Information darüber, welches Verhalten durch den rituellen Impuls ausgelöst werden soll. Anschliessend wendet er sich aber auch seinem Sitznachbarn zu, der den rituellen Impuls zuerst gar nicht aufnimmt. Nach einer peripheren Herstellung von visueller Wahrnehmungswahrnehmung zwischen den beiden Jugendlichen reagiert nun auch der Jugendliche rechts, indem er sich mit den Ellbogen auf die Rückenlehne der Vorderbank aufstützt. Der Jugendliche links wiederum gleicht seine Haltung, die zuvor annähernd derjenigen der restlichen Teilnehmenden entsprach, derjenigen des Jugendlichen rechts an. Die visuelle Wahrnehmung und die durch sie mögliche gegenseitige Abgleichung des Verhaltens ist für die Jugendlichen relevant. Sie organisieren ihr rituelles Verhalten extrinsisch. Die restlichen Teilnehmenden hingegen reagieren auf den rituellen Impuls mit einer (mehr oder weniger) gleichförmigen Haltungseinnahme, die keine weitere äussere Orientierung benötigt. Sie verhalten sich (was die Gebetsansage betrifft22) als intrinsisch-orientierte Teilnehmende. Bei den Jugendlichen entsteht durch diesen gegenseitigen Verhaltensabgleich eine extrinsisch-rituelle Subgruppe, die, abgeschirmt von der Wahrnehmung der anderen Teilnehmenden (die ja alle vornübergebeugt oder nach vorne ausgerichtet sind), eine eigene Interpretation der Interaktionsordnung ausführt. Sie erfüllen die rituell geforderte Haltung zwar insoweit als sie nicht sitzen, aber sie stehen auch nicht vollständig. 6.3.1.3 Gebetshaltung mit expliziter Aufforderung Im Fall Burg-B wird die Gebetsaufforderung durch eine explizite Verhaltensaufforderung ergänzt: mer bätte mitenand (.) und ich bitte sie dadezue* u:fzstah.23

[Clip 6.6, Burg-B 0:28:13.6–0:28:27.6]

Die Verhaltensaufforderung wird hier direkt mit der Konjunktion „und“ an die Gebetsaufforderung angehängt. Die zweite Aufforderung wird –  ähnlich wie bei den Liedansagen beobachtet – durch das Hilfsverb „bitten“ moduliert. Durch „dazu“ wird die zweite Aufforderung mit der ersten in zweierlei Hinsicht verbunden: es wird deutlich, dass es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Aufstehen und Beten gibt und das Aufstehen so zum Beten hinzukommt. Es wird aber auch deutlich, dass es einen instrumentellen Zusammenhang zwischen beiden Handlungen gibt: Das Aufstehen 22 Wird das Verhalten hier mit demjenigen beim oben besprochenen Einzug verglichen, so zeigt sich, dass die Gebetsaufforderung als rituelles Element stärker intrinsisch verankert ist als der Einzug der Pfarrperson zum Gottesdienstbeginn. 23 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Wir beten miteinander. Und ich bitte Sie dazu aufzustehen.

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Sequenzanalysen   

verhilft dem Beten. Auch prosodisch und mit der Blickführung bindet P beide Aufforderungen zusammen, indem sie den Sprechton und ihren Blick erst zum Ende der zweiten Aufforderung senkt. Auffällig ist, dass eine Teilnehmende die Illokution bereits nach dem Wort „dazu“ antizipiert und damit beginnt sich nach vorne zu beugen, um sich zu erheben (s. Abbildung 18). Die meisten Teilnehmenden bewegen sich aber erst, nachdem P ihre Worte beendet hat.

[Burg-B 0:28:17.4]

[Burg-B 0:28:17.9]

Abbildung 18: Antizipation des turns in der Gebetsaufforderung

Diese ausformulierte Verbindung von Gebetsaufforderung und Aufforderung zum Aufstehen eliminiert gemäss dem Prinzip des Verstehens vor dem Voll­ ziehen mögliche Missverstädnisse in der Übernahme des turns. Dennoch kann die Aufforderung auch selbst als ritueller Impuls gelesen werden. Sie ist selbst verbal und nonverbal so kompakt gestaltet, dass der TRP für die restlichen Teilnehmenden deutlich erkennbar ist. Dies zeigt sich an der Antizipation der Befolgung durch eine Teilnehmerin. 6.3.1.4 Gebetshaltung im Sitzen In den meisten Fällen wird allerdings keine so deutlich sichtbare Gebetshaltung eingenommen, die Gemeindeglieder bleiben zum Gebet sitzen. So etwa im bereits besprochenen Clip 6.1: ↑wir ↓beten. (5)

[Clip 6.1, Anis-E 0:35:28.1–0:35:34.1]

Auf die Gebetsaufforderung von P reagieren einzelne Gemeindeglieder unmittelbar dadurch, dass sie ihren Kopf geradeaus vornüber senken (s. Abbildung 19, Pfeile). Das Gros der Gemeindeglieder rückt sich im Sitzen zurecht (s. Abbildung 19, Oval), lässt den Blick kurz schweifen und verbleibt nach dem Zurechtrücken in einer aufrechten Sitzhaltung. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Stilisierte Gespräche – Gebete

[Anis-E 0:35:28.1]

[Anis-E 0:35:30.2]

Abbildung 19: Haltungseinnahme beim Gebet im Sitzen

Während einzelne Teilnehmende die knappe Gebetsansage nahezu unmittelbar durch die Einnahme einer Haltung mit vornüber gesenktem Kopf sequenzieren, löst die Anweisung bei den meisten Teilnehmenden ein Sich-Zurechtrücken oder Zur-Seite-Blicken aus. Das Zurechtrücken des Körpers benötigt einige Zeit und zeigt an, dass eine Haltungsänderung vorgenommen wird. Es macht deutlich sichtbar (und hörbar), dass der Aufforderung Folge geleistet wird. Die von nahezu allen eingenommene vornübergebeugte Haltung verunmöglicht die Sicht auf P und andere Teilnehmende. Sie zeigt durch das zeitgleiche Falten der Hände eine Nichtbereitschaft zur Aktivität an. Die so vornübergebeugten Teilnehmenden machen so deutlich, dass ihr Fokus nun nicht mehr sichtbar in der Situation selbst liegt, sondern sich nonphänomenal, vor ihrem inneren Auge befindet. Im besprochenen Fall gibt es aber auch Teilnehmende, die weiterhin aufblicken und sogar ihren Kopf bewegen. Auch sie rücken sich zurecht und zeigen so, dass sie der Aufforderung Folge leisten. Aber sie zeigen einen anderen Fokus an: Sie partizipieren am Gebet dadurch, dass sie mit Blick nach vorne eine aufmerksame Haltung einnehmen und P weiterhin für sie der Fokus der gesamten Interaktion bleibt. Dass die Gebetsansage bei einigen Gemeindegliedern intrinsische Verhaltensmuster auslöst, zeigt sich gerade dort, wo die Ansage durch P ergänzt wird: wir ↑wollen zusammen beten. (.) nach dem ↑psalm hundertdreissig.

[Clip 6.4, Chiem-B 0:19:07.2–0:19:13.0]

Einige Gemeindeglieder reagieren auf die Gebetsaufforderung bereits nach „beten“ dadurch, dass sie sich nach vorne beugen. Die zusätzliche Information wird von ihnen dann in dieser Haltung gehört. Andere Teilnehmende benötigen einige Zeit um sich zurechtzurücken. Da PChiemtigen* nur wenig Zeit nach der Gebetsansage lässt, gibt es auch einige Teilnehmende, die sich noch zurechtrücken, während das Gebet schon begonnen hat. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

Sequenzanalysen   

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6.3.1.5 Einnahme der Gebetshaltung ohne Ansage Noch deutlicher wird der sich hier andeutende Unterschied zwischen intrinsischen und extrinsischen Teilnehmenden in denjenigen Fällen, in denen gar keine Gebetsansage erfolgt, sondern direkt mit der Anrede begonnen wird. So etwa in Anis-D: (9.7) lebe:ndiger go:(d).

[Clip 6.7, Anis-D 0:52:45.8–0:52:57.3]

Als sich die Vikarin (D) nach einigen Sekunden des Schweigens nach der Moderation durch P erhebt, nehmen die meisten Teilnehmenden sie in den Fokus. Auch als D zu sprechen beginnt, nehmen die Teilnehmenden keine besondere Haltung ein. Einige blicken anschliessend wieder von ihr weg zu anderen Teilnehmenden im Oval. Andere nehmen nach der Anrede oder im späteren Verlauf des Gebetes eine vornübergebeugte Haltung ein.

Ähnliche Verhaltensunterschiede zeigen sich auch in Anis-F: (10.7) herr.(. .) ((Knallgeräusch))

[Clip 6.8, Anis-F 0:38:53.4–0:39:09.4]

[Anis-F 0:39:08.4]

Die Gemeindeglieder setzen sich nach dem im Stehen gesungenen Lied. P befindet sich bereits hinter dem Lesepult und fokussiert sein Ms, rückt das Mikrophon zurecht und blickt kurz auf. Nachdem sich alle Gemeindeglieder wieder gesetzt haben, beginnt er zu sprechen. Als P die Anrede spricht, sind die meisten Gemeindeglieder © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Stilisierte Gespräche – Gebete

nach vorne zu ihm hin ausgerichtet. Eine Teilnehmende (Pfeil) nimmt im Anschluss an die Anrede „Herr“ unmittelbar eine vornübergebeugte Haltung ein.

In desen Gebeten ohne vorherige Ansage kann lediglich an das erste Redeelement innerhalb des Gebetes mit der Einnahme einer Gebetshaltung angeschlossen werden.24 Denn ausser dieser Anrede eines Gegenübers gibt es keinen Hinweis darauf, dass nun ein Gebet stattfindet. Allerdings gibt es nur wenige Teilnehmende, die durch unmittelbar anschliessendes Sich-Versenken auf die ersten Worte des Gebetes reagieren. Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine viele Gottesdienstteilnehmende die Gebetshaltung nur dann einnehmen, wenn sie in der Gebetsansage und einer darauf folgenden Sprechpause auf die Haltungsänderung vorbereitet werden.

6.3.1.6 Interpretation Die Gebetsaufforderung und die darauffolgende Pause ist einer der deutlichsten TRP in der Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste. Die Pause, die auf die Gebetsaufforderung folgt, ist erstens von entscheidender Bedeutung für die vermittelnde Funktion der Pfarrperson (vgl. o., Abschnitt 4.5.3). In ihr beugt sich die Pfarrperson in der Regel noch etwas stärker nach vorne unten und verschränkt meist die Hände. Dies dient nicht nur einfach der inneren Versenkung, sondern zeigt allen Teilnehmenden einen Übergang von der Fokussierung weg von Sichtbaren hin zu nonphänomenalen Gegenständen an. Besonders deutlich wird die Bedeutung dieses Übergangs dort, wo die Ansage wegfällt oder die Pause zu kurz ausfällt (v. a. Chiem-A) und das Zurechtrücken der Teilnehmenden mit den ersten Worten des Gebetes koinzidieren. Zweitens, handelt es sich bei der Gebetsansage um einen rituellen Impuls, bei dem mit aller Deutlichkeit das intrinsisch-rituelle Wissen der Teilnehmenden aktiviert wird. Wo ein solches vorhanden ist, zeigen sich unmittelbar anschliessende Reaktionen. Wo hingegen Teilnehmende ein eher extrinsisches Verhältnis zur Interaktionsordnung haben, wird auf die Aufforderung durch Zurechtrücken und Fremdfokussierung (Blick zu den anderen Teilnehmenden oder P) reagiert. Ausserdem ist die Gebetsansage dazu geeignet, rituelle Parodie bzw. Kritik anzubringen. Diese ist nicht nur durch Nicht-Folgeleistung, d. h. unverändertes Sitzenbleiben, möglich, sondern auch durch parodistische Interpre24 Hieraus lässt sich auch erkennen, wie wenig der Makroablauf der Gottesdienste den Anwesenden als abstrakte Struktur innerhalb des Gottesdienstes präsent ist. Sogar in Anis-D, wo den Teilnehmenden ein Ablauf in schriftlicher Form vorliegt, erkennt niemand vor den ersten Worten der Vikarin, dass nun ein gemeinsames Gebet gesprochen wird.

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Sequenzanalysen   

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tationen der Gebetshaltung, wie etwa die lockere Haltung der beiden Jugendlichen in Dime-A2. Drittens wurde in den Beobachtungen deutlich, dass die Ansagen unterschiedlich ritualisiert werden können, und dies durchaus einen Einfluss auf die Beteiligungsmöglichkeiten der Teilnehmenden hat. Die Gebetshaltung im Sitzen, die in den meisten Fällen vorgesehen wurde, ist weniger sichtbar. Intrinsisch-orientierte Teilnehmende, welche die vornübergebeugte Haltung mit gefalteten Händen einnehmen, sehen die anderen Teilnehmenden nicht. Auch die Pfarrperson (ausser PAnis-B,F, der von seinem Ms während des Gebetes immer wieder aufblickt) hat keine Möglichkeit zu sehen, wer diese Haltung eingenommen hat und wer nicht. Daher ist es auch leichter, sie nicht zu vollziehen. Als Folge davon gibt es auch weniger Teilnehmende, die eine Gebetshaltung einnehmen. Beim Aufstehen ist ein Nichtbefolgen der Aufforderung auffälliger, weil dies aus der peripheren Wahrnehmung durch andere Teilnehmende festgestellt werden kann. Es ist daher nachvollziehbar, dass sich in diesen Fällen alle Teilnehmenden sich erheben.

6.3.2

Anrede des Gegenübers im Gebet

Die Anrede eröffnet das eigentliche Gebet, wird aber meistens durch eine Pause vom darauffolgenden Gebetskorpus unterschieden. Eine Ausnahme bilden die oben als invertiert bezeichneten Anredeformen, wo die Anrede in das Gebetskorpus (meistens den ersten Satz) eingebaut und somit erst nachgeliefert wird. Abbildung 20 lässt erkennen, dass am häufigsten Anredeformen mit dem Wort „Gott“ auftreten, allerdings ausser in einem Fall stets mit einem Adjektiv oder mit einem vorausgehenden „Du“ prädiziert. In zwei Fällen wird „Herr“ als Anredeformel gebraucht, in einem Fall wird „Jesus Christus“  – allerdings auch mit vorausgehendem „Du“  – verwendet. Abgesehen von den Prädikaten erscheint die Auswahl an Anreden eingeschränkt. Ausserdem wird das Gegenüber überall in der 2. Person angesprochen (in Chiem-B gibt es alternativ auch Formulierungen in der 3. Person), was – wie bereits festgestellt – der nahelegt, dass die Forderungen von Otto und Bernet bislang kaum Eingang in die re­ formierte Gottesdienstpraxis gefunden haben. Werden die Gebetsanreden aus der Liturgie von 1972 mit den Anreden im Sample verglichen, lassen sich jedoch einige Unterschiede erkennen. In Abbildung 21 werden die Anreden aus dem Teil Gebete25 (nur Gebetsanfänge und invertierte Anrede im ersten Satz) tabellarisch aufgeführt. 25 LKDS 1972, 107–253.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

Anis-A

verborgene gott:. im Korpus: DU gott,

Anis-B

Gott:,

im Korpus: jesus christus licht der ↓welt. sowie: geist gott, schöpferische kraft.

Anis-C

↑du (.) ↓christus, (.)

Anis-D

lebe:ndiger go:(d).

Anis-E

invertiert: mitten unter uns stehst du. unerkannt (.) gott.

Anis-F

herr.

Anis-G

↑treue gott. im Korpus: gott

Burg-A

läbige gott,

Burg-B

invertiert: meine seele erhebt den herrn. (.) sie hungeret nach dir gott.

Chiem-A

barmherziger gott.

Chiem-B

invertiert: aus der tiefe rufe ich, herr zu dir. in der Folge mehrmals (auch in 3. Person): herr

Dime-A2

mein ohr:, hast ↑du ↑gott geweckt, im Korpus: mein gott,

Dime-B

treuer gott, im Korpus: dreieiniger gott,

Abbildung 20: Anredeformulierungen des Gegenübers im Gebet im Sample

In der Liturgie 1972 werden ausschliesslich Kombinationen mit den vier Anredenamen „Herr“, „Gott“, „Vater“ und „Jesus(/)Christus“ verwendet. Es fällt auf, dass die in der Liturgie häufige Anrede als „Vater“ im Sample nicht vorkommt; es überwiegt dagegen die Anrede „Gott“. Die erst- und zweithäufigste Form „Herr Gott“ bzw. „allmächtiger Gott“ fehlt im Sample ebenfalls. Ausserdem kommen gegenwärtig nur wenige mehrgliedrige Namenskombinationen vor, die in den Gebeten von 1972 noch häufig sind, vor. Hingegen ist die Anredeform „Du […] Gott/Christus“, die 1972 gar nicht vorkommt, im Sample gleich mehrfach vertreten.

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Sequenzanalysen    Wortlaut (ohne Kommata)

Nennungen

Herr (unser/und) Gott

26

Allmächtiger (Herr und/ewiger/barmherziger/gütiger/getreuer) (Gott/ und) Vater

19

Herr

15

(Lieber) Vater im Himmel/himmlischer Vater

14

Herr Jesus(/)Christus

12

(Herr, du) grosser (und) heiliger (und barmherziger) Gott

4

Ewiger/barmherziger/heiliger Gott und/barmherziger Vater

4

Grosser/ewiger majestätischer Vater/Gott

3

Herr Gott Vater (Schöpfer des Himmels und der Erden)

2

Heiliger/Treuer Gott und Vater

2

Herr (unser) Vater

2

Barmherziger Gott

2

O Gott Ach Herr Vater Unser Vater Gerechter Gott Herr, unser Heiland Herr und Schöpfer Heiliger Herr und Gott Herr Gott, lieber Vater Gott, unser Vater und Herr Grosser und heiliger Gott Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist Herr, unser Helfer und Erlöser Herr Gott, Vater unseres Herrn Jesus Christus

je 1

Abbildung 21: Anredeformen des Gegenübers im Gebet in der Liturgie von 1972

6.3.2.1 Exkurs: Theologische Diskurse zur Anrede im Gebet Es lassen sich zwei Tendenzen im Vergleich der beiden Sammlungen von Gebeten erkennen: Die Gebetsanreden sind gegenwärtig einerseits weniger hierarchisch und andererseits weniger wortreich formuliert. Im folgenden Exkurs sollen diese beiden Tendenzen anhand prominenter liturgiewissenschaftlicher Ansätze besprochen und zu den beobachteten Gebetsanreden in Bezug gesetzt werden.26 26 Dabei folge ich der Beobachtung von Frieder Schulz, dass insbesondere die feministische Theologie Innovationen in die Gebetsformen eingebracht hat, während sich allgemein

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Stilisierte Gespräche – Gebete

6.3.2.1.1 Ein feministisch-theologischer Ansatz zur Gebetsanrede Die klassischen Anredenamen in Gebeten wurden von feministisch gesinnten Theolog_innen seit den 1970er Jahren heftig kritisiert.27 Besonders „Herr“, aber auch „Vater“ wurde als problematisch erachtet, da sie dem transzendenten Gegenüber eindeutig ein männliches Geschlecht zuschreiben würden. Dies übertrage, so eine geläufige Argumentation, auch eine ungerechte Hierarchie zwischen den Geschlechtern auf das Verhältnis zwischen den Betenden und dem Gegenüber im Gebet. Die Schwierigkeit liege aber nicht in erster Linie an fehlenden Identifikationsmöglichkeiten mit dem Geschlecht Gottes, sondern insbesondere an den mit diesem Geschlecht verbundenen Prädikationen. Wenn Gott „Vater“ oder gar „Herr“ genannt wird, dann würden ihm zugleich Eigenschaften mächtig positionierter Individuen zugeschrieben, und die Betenden würden zugleich mit den diesen Individuen Unterworfenen und Ausgelieferten identifiziert. Die Anreden „Vater“ und „Herr“ fungierten also ähnlich wie die Adjektive „allmächtig“ oder „majestätisch“, die sich in der Liturgie von 1972 noch häufig finden lassen. Procter-Smith stellt solche machtorientierte Gottesprädikationen anhand traditioneller Gebetstexte der Episcopal Church in den USA dar: „The relationship between God and those praying reflected in these prayers is congenial and benign. The tone is respectful and polite […]. Petitions are usually nonurgent in tone […]. This benign and moderate tone appears to leave no room for expressions of outrage, grief, or lament. Women survivors of violence and abuse and those who are aware of the extent of such suffering thus often feel like illegitimate worshipers in a traditional mainstream Christian worship service. Expressions of confidence in God’s goodness and faith in God’s power to protect and care for us ring hollow indeed.“28

Procter-Smith plädiert demgegenüber für Gebetsanreden und Prädikate, welche die angeredete Person auf Augenhöhe mit den Betenden stellen. Ein feminines Gottesbild (z. B. Gott als Göttin) ginge dabei noch zu wenig weit und liefe eine „subjektiv werdende Wortgestalt der Gebete“ erkennen liesse; vgl. Schulz 2000, 195 sowie Schulz 2003. Letztere Tendenz kann auf ein an der „Mystik“ orientiertes Gebetsverständnis zurückgeführt werden. 27 Hier gebe ich einen dezidiert protestantischen Diskurs der feministischen Liturgiekritik wieder. Sie hat sich seit den 1970er Jahren schwerpunktmässig mit sprachlichen Formulierungen auseinandergesetzt. Als Standardwerk dieser feministischen Strömung kann Sexism and God-Talk von Rosemary Ruether angesehen werden; dt. Ruether 1985. In der römisch-katholischen Liturgiewissenschaft stand und steht demgegenüber die Frage nach der Zulassung von Frauen zum Priesteramt im Zentrum geschlechtertheoretischer Debatten; vgl. dazu Groen und Ebenbauer 2009 sowie Groen 2010. 28 Procter-Smith 1995, 72 f.

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Sequenzanalysen   

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Gefahr, die sexualisierte und romantische Vorstellung von Weiblichkeit zu bestätigen, die in der partriarchalen Weltanschauung bereits vorherrsche.29 Vielmehr sollte Gott im Gebet als „Schwester“ der Betenden verstanden werden, welche die schwierigen Erfahrungen aber auch die Hoffnungen von leidenden Frauen teile.30 Damit eröffne sich, so Procter-Smith, im Gebet ein Gespräch auf Augenhöhe zwischen der mitleidenden Schwester Gott und den Betenden: „Instead of being  a way of constantly asking God for favors and assuming the ­posture of supplicants before absolute knowledge and power, prayer thus becomes conversation in the truest sense and meeting in the mutual sense.“31

Die von Procter-Smith vertretene Hierarchiekritik im Gebet verbindet feministische mit befreiungstheologischen Anliegen. Konkrete Vorschläge von solchen Gebetsanreden fehlen allerdings im instruktiven Buch von Procter-Smith. Interessant ist indessen folgende Bemerkung, mit der Procter-Smith ihren Zugang charakterisiert: „Admittedly this model limits God far more dramatically than conventional theology has allowed.“32

Die Umsetzung der Konstruktion eines solidarischen Gegenübers im Gebet bedeutet demnach, dass die Autorität Gottes in der Gebetsanrede radikal eingeschränkt werden müsste. Die Anrede als „Herr“ und „Vater“ mit zahlreichen Prädikaten und Epitheta müsste einer bescheideneren Adressierung weichen. Die Gebetsanreden sollten, so suggeriert der Titel von Procter-Smiths Buch, „mit offenen Augen“, d. h. mit Blick für das Leiden in der Welt ausgesprochen werden. 6.3.2.1.2 Ein mystisch-theologischer Ansatz zur Gebetsanrede Die zweite auszumachende Tendenz bei den beobachteten Gebetsanreden ist die Reduktion der Sprache. In seinem als Lehrbuch konzipierten Monographie Sprache an der Grenze zum Unsagbaren33 liefert der römisch-katholische Theologe Anton Rotzetter einen zeitgenössischen Zugang zur Gebetssprache, der deutliche Anleihen bei der Tradition der Mystik macht. Für Rotzetter ist das Gebet „ein ganz und gar innerer Vorgang, gegenüber dem jede Äußerung sekundär bleibt.“34 Alle im Gebet gesprochenen Wörter müssten s. E. diesem Umstand 29 Vgl. ibid., 85 f. Programmatisch meint Procter-Smith: „What is needed is not the ‚feminine divine‘ but the ‚divine feminist‘.“ Ibid., 85. 30 Vgl. ibid., 86. 31 Ibid., 86 f. 32 Ibid., 87. 33 Rotzetter 2002. 34 Ibid., 34.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

Rechnung tragen. Die vorrangige Aufgabe einer Gebetsformulierung sei es, „den in der Bibel vorgegebenen mystisch erregenden Vorgang der Gottesbegegnung in unsere Zeit zu übertragen.“35 Dies sei in Bezug auf die Gottesanrede besonders virulent. Rotzetter erinnert an die in der jüdischen Spiritualität vorhandene Scheu den Gottesnamen auszusprechen.36 Mit derselben Zurückhaltung sollte s.E. eine Gottesanrede in die Situation des Gebetes hinein formuliert werden. Er meint: „Die Gottesanrede muss so sein, dass die Ungeheuerlichkeit zum Ausdruck gebracht ist, Gott überhaupt anzureden.“37

Statt traditioneller und feststehender Formulierungen, stellt er daher seinen eigenen Gebetstexten ein bildliches Symbol (es handelt sich um eine ausgestreckte Hand, die aus einem Kreis hervorkommt) voran. Er empfiehlt seinen Leser_innen, dieses Symbol zu meditieren, bevor sie jeweils eine Gebetsanrede formulierten, um so in der richtigen, nämlich empfangenden, Haltung, eine Anrede hervorbringen zu können. Zusätzlich empfiehlt er die Suche nach einem „Grundwort“, in welchem „ man sich einsammeln und seine Identität wieder finden“38 könne. Dieses sollte möglichst einsilbig und prägnant sein, um das innere Sehnen nach Gott möglichst nicht durch zu viele Worte verstellt auszu­ drücken.39 Deshalb ist für Rotzetter eine poetische Sprache, die verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffnet und keine konkrete Deutung vorgibt, am ehesten für das Gebet geeignet.40 Rotzetter bestimmt  – ganz in der Tradition der Mystik –  die Anrede Gottes als Ausdruck des Bedürfnisses nach einem Gegenüber im Gebet und nicht etwa als Bezeichnung des angebeteten Gegenübers. Die Nennung des Gegenübers sagt ihm gemäss somit mehr über den Betenden und seine Haltung als über die angebetete Person. Wie die feministische Theologie kritisiert auch er traditionelle Gebetsanreden, allerdings weniger mit der Absicht, die gegenseitige Solidarität zwischen den Betenden und ihrem Gegenüber zu ermöglichen, sondern vielmehr mit dem Ziel der Bewahrung des verborgenen Wesens der Erfahrung, die sich mit dem Gebet verbindet. Er versteht das Gebet nicht als das Sprechen bestimmter Wörter, sondern als innere Ausrichtung auf einen verborgenen Gott. Die Zurückhaltung gegenüber dem Angesprochenen soll die Span35 36 37 38 39 40

Ibid., 42. Vgl. ibid., 41. Ibid., 95. Ibid., 76. Vgl. ibid., 77. „Die Poesie ist wesentlich die Sprache des Unsagbaren, des Verweisens und Zeigens und darum von jeher die Sprache des Geheimnisses, von dem die Religion kündet“ Ibid., 19; vgl. 20 f.

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nung zwischen der immanenten Gebetssituation und dem transzendenten Gott verdeutlichen. Das Gebet soll nach Rotzetter – um das von Procter-Smith verwendete Bild zu kontrastieren – gerade nicht „mit offenen Augen“, sondern mit den Augen nach innen gerichtet gesprochen werden. 6.3.2.1.3 Gebetsanreden im Lichte normativ-theologischer Tendenzen Es liegt nahe, die Veränderungen der Gebetsanrede seit 1972 als Auswirkung der beiden dargestellten theologischen Tendenzen gegen die Hierarchisierung und für die Mystik des göttlichen Gegenübers zu verstehen. Diese theologischnormativen Tendenzen lassen sich – trotz ihrer verschiedenen Auffassungen des Gebets – sehr ähnlich in den untersuchten Gebeten wiederfinden. Die beiden Ansätze stimmen in ihrer Skepsis gegenüber der wortreichen und geschmückten Gottesanrede insofern überein, als sie diese als problematisch angesichts der Erfahrungswelt moderner Menschen erachten. Ihre scheinbar gegensätzlichen Verständnisse – die Wendung des Betenden nach aussen bei Procter-Smith bzw. nach innen bei Rotzetter – führen je auf eigene Art dazu, dass die Gebetsansprachen weniger ausführlich werden und einfachere Anrufformeln bilden. Beide Tendenzen führen zu sprachlicher Reduktion. Angesichts dieser Überlegungen lässt sich die kürzer gewordene Anrede „Gott“, allenfalls mit einem einzelnen Prädikat versehen, als eine sinnvolle Strategie erkennen. Sie erfüllt sowohl die mystische Forderung nach einer einsilbigen, bedeutungsoffenen Anrede, als auch die feministisch-befreiungstheologische Forderung nach einer schmucklosen nicht-hierarchischen Anrede des Gegenübers im Gebet. Auch das Voranstellen eines „Du“ an die Nennung des Gegenüber ist beiden Tendenzen gemäss sinnvoll: Es signalisiert die unmittelbare Vertrautheit und situationale Nähe zwischen den Gesprächspartner_innen im Gebet. Zugleich handelt es sich um ein einsilbiges Wort, das als „Grundwort“  i. S. Rotzetters gelten könnte, da es bedeutungsoffen ist und (wie alle Personaldeiktika41) situationsbedingt mit einem konkreten Inhalt gefüllt werden muss. 6.3.2.2 Die Bedeutung der Pause nach der Anrede des Gegenübers im Gebet Die Pause nach der Gebetsanrede kann wie alle Sprechpausen als Anzeichen für einen TRP verstanden werden. Dadurch, dass der Betende (in der Regel P) nicht mehr spricht, macht er deutlich, dass nun ein anderer Teilnehmender an der Interaktion mit einem Beitrag zum Verlauf der Interaktion an der Reihe 41 Vgl. dazu die Ausführungen zur Konzeptionellen Mündlich- und Schriftlichkeit o., Abschnitt 5.5.2.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

ist. Dies kann man erstens als Anzeichen für die Gattung des Gespräches verstehen. In Gesprächen dient die Pause nach einer Anrede dazu, die Aufmerksamkeit des Angesprochenen auf den Sprechenden zu lenken.42 Durch diese Pause wird angezeigt, dass die Aufmerksamkeit aus Sicht des Sprechenden zuerst hergestellt sein muss, bevor konkrete Mitteilungen an dieses Gegenüber gemacht werden können. Durch die Anrede mit folgender Pause wird das Gespräch als Gattung für einen Zuhörenden real, auch wenn der Angeredete nicht sichtbar ist. Zweitens fungiert diese Pause als ritueller Impuls, der dazu dient, dass die Teilnehmenden sich das angesprochene Gegenüber vor Augen führen, d. h. ihren Fokus auf ein bestimmtes Gegenüber richten. Da es sich um ein nonphänomenales Gegenüber handelt, existiert es in der Gottesdienstsituation erst durch die Aussprache der Anrede. Auch wenn die Teilnehmenden bereits im Anschluss an eine Gebetsaufforderung eine Haltung eingenommen haben, die auf ein nonphänomenales Gegenüber fokussiert, wird erst durch die Anrede deutlich, um welches nonphänomenale Gegenüber es sich handelt. Die Zeit der zweiten Pause dient somit dazu, nach der äusseren Ausrichtung durch das Senken des Blickes, eine innere Ausrichtung auf die unsichtbare Person vorzunehmen. Es ist daher entscheidend, dass dieser zweite Fokus verbal-akustisch angezeigt wird und nicht etwa durch visuelle Zeichen. Diejenigen, die bereits als Folge des ersten rituellen Impulses eine Gebetshaltung eingenommen haben, haben ihre Blicke nicht mehr auf P ausgerichtet und können sie nur noch akustisch wahrnehmen. Anders fungiert die Pause nach der Anrede jedoch, wenn die Pause nach der Ansage nicht aufgenommen wurde  – etwa bei einigen der extrinsisch-orientierten Teilnehmenden, für die P weiterhin im visuellen Fokus der Aufmerksamkeit steht. Für solche Teilnehmenden wird durch die Pause erkennbar, dass P zu einem Gegenüber spricht, dessen Anwesenheit nicht auf der visuellen Modalität wahrgenommen werden kann. Zwischen diesen extrinsischen Ritualisten und P entsteht eine Konstellation der Beobachtung: Sie sehen, dass P ein Gegenüber hat, das sie nicht sehen können. Falls ihnen keine theologische Deutung oder institutionelles Wissen über die Gottesdienstinteraktion zur Verfügung steht, erscheint ihnen das Sprechen von P als widersinnig und der Situation unangemessen.

42 Vgl. Schegloff 1972, 1968 f.

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6.3.2.3 Invertierte Anrede und Anrede ohne Pause Bei der invertierten Anrede ist zum Zeitpunkt des Beginns des Sprechaktes, das nonphänomenalen Gegenüber nicht benannt und somit der zweite rituelle Impuls für die nicht gegeben. So etwa in Dime-A2: mein ohr:, hast du gott geweckt,

[Dime-A2 0:10:38.5–0:10:50.0]

Nach „mein Ohr’ wird durch einen Half-stop (Ton oben) angezeigt, dass sich der Sinn des Satzes erst aus dem Folgenden erschliesst. Mit „hast“ wird klar, dass nicht „mein Ohr“, sondern eine angesprochene 2. Person das Subjekt ist und es sich um einen an diese Person gerichteten Sprechakt handelt. Erst anschliessend wird dieses Subjekt angeredet, zuerst unspezifisch mit „Du“, dann als „Gott“.

P geht hier davon aus, dass durch die vorangegangene Gebetsansage und die Einnahme der Gebetshaltung bereits das Gebetsgegenüber fokussiert wurde und dieses vor dem inneren Auge der Betenden steht. Ohne die von P und den Gemeindegliedern bereits eingenommene Gebetshaltung wäre diese Aussage bis zur expliziten Benennung von „Du Gott“ nicht als Gebet erkennbar. Ähnlich wie die invertierte Anrede wirkt eine Anrede ohne nachträgliche Pause, wie z. B. im Fall Anis-B: gott:, ich ↑preise dich.

[Clip 6.9, Anis-B 0:41:24.8–0:41:26.8]

Auf die Benennung des Gegenübers folgt nach einer sehr kurzen Pause ein Aussagesatz. Diese Pause ist nicht lange genug, um die Zuwendung des angesprochenen Gegenübers herzustellen. Das direkt auf die Benennung folgende „ich“ verweist personaldeiktisch aber direkt auf den situationsimmanenten Sprecher. Es setzt zum Verständnis gegenseitige Wahrnehmung voraus – ansonsten bleibt dieses Personalpronomen uneindeutig zugeordnet.

Die Anrede des Gegenübers ohne Pause suggeriert, dass der Sprechende bereits auf das Gegenüber ausgerichtet ist, d. h. sich mit ihm in Wahrnehmungswahrnehmung befindet. In Anis-B wird diese bereits durch eine vorausgehende Ansage des Gebetes angezeigt. Allerdings verliert die Adressierung des Gegenübers durch den direkten Anschluss einer Aussage etwas von der durch die Pause suggerierten „natürlichen“ Gesprächssituation. In einem Gespräch muss der Adressierte sich zuerst dem Sprechenden zuwenden und so „Wahrnehmungswahrnehmung“ herstellen, bevor er die angefügten Aussagen aufnehmen kann.43 43 Vgl. ibid.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

Freilich ist durch die Gebetsansage theoretisch gesichert, dass die von P dargebotene Rede ein „Gebet“ ist. Die Ansage könnte den Hörenden i. S. einer hermeneutischen Voreinstellung genügen, um die unnatürliche Redeweise von P derart umzudeuten, dass sie sie dennoch als Gebet verstehen können. Auf der formalen Ebene baut sich in diesem Beispiel allerdings eine andere Gattung als in den übrigen Anreden auf. Es ist also fraglich, ob die Teilnehmenden die angebotenen Worte hier auch als Gebet vollziehen können. 6.3.2.4 Interpretation Wieso ist die Anredeformulierung gerade im Gebet so heikel und umstritten? Die Frage lässt sich aufgrund der interaktionsanalytischen Beobachtungen beantworten: Das Gegenüber im Gespräch wird durch die Anrede (und die nachfolgende Pause) explizit angezeigt und implizit wird somit von dessen Ko­ präsenz ausgegangen. Eine gesprochene Anrede ist, wo kein stilisierter Sprachgebrauch44 vorliegt, immer ein Hinweis auf ein sich in derselben Interaktionssituation befindlichs Individuum. Die Nähe ist dabei eine akustische: Es wird davon ausgegangen, dass das angesprochene Gegenüber die Anrede hören kann. Das Vorhandensein eines solchen Gegenübers wird durch die auf die Anrede folgende Pause angezeigt: Diese konstruiert einen TRP – eine im Gespräch notwendige Verstehenspause vor der eigentlichen Mitteilung. Da das Gegenüber aber für die Teilnehmenden nicht sichtbar wird, ist der Bezugspunkt der nähesprachlichen Referenz für alle anderen Teilnehmenden nicht eineindeutig. Dies wäre aber für einen nähesprachlichen Kommunikationsakt (z. B. eine Deixis) entscheidend. Ihre Eineindeutigkeit gewinnt die Anrede alleine aus dem Kontextwissen der Anwesenden: Ihrem Wissen über das, was sich ihnen nicht phänomenal zeigt, aber trotzdem situationsrelevant ist. Kontextwissen ist tendenziell übersituational: Es gilt für mehrere Orte und Zeiten. In der Anrede wird also eine nähesprachliche Referenz auf eine übersituational kopräsente Person geleistet. Die Redeleistung der Anrede ist somit konkret und abstrakt zugleich, was ihre spannungsvolle Semantik und die Streitbarkeit der damit verbundenen theologischnormativen Positionen erklärt. Da das Kontextwissen der restlichen Teilnehmenden für das Gelingen des Sprechaktes der Anrede konstitutiv ist, entsteht ein Problem, sobald dieses nicht von allen geteilt wird. Dies macht die semantische Vagheit und begriffliche Abstraktion der Anreden in einem pluralistischen kulturellen Umfeld erklärbar:

44 Vgl. o., Abschnitt 5.5.3.

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Eine Anrede sollte für unterschiedliches Kontextwissen gelten.45 Dies gilt insbesondere für das meist nur mit einem Adjektiv prädizierte Wort „Gott“. Zugleich kann durch die Spannung auch die gegenteilige Tendenz einer produktiven bzw. kreativen Anredeform mit ihrem starken Situationsbezug erklärt werden. Diese löst die kommunikationstheoretische Unterbestimmtheit der konkreten Anrede durch eine Verdeutlichung: Das angesprochene Gegenüber wird überkonkretisiert – so als wäre es ungebrochen kopräsent und von phänomenalen Teilnehmenden nicht zu unterscheiden. Beide Tendenzen, die reduktiv-abstrakte wie auch die poetisch-konkretisierende, führen dazu, dass im diachronen Vergleich komplexe Prädikationen der Anrede im Gebet durch kürzere Anredeformen ersetzt werden.

6.3.3 Gebetskorpus Nach der erfolgten Anrede findet nun eine monologische Phase in der durch die Anrede konstituierten Dialogsituation statt, in welcher die Sprecher_in spricht und das angeredete Gegenüber ausschliesslich hört: das Gebetskorpus. Obschon in ihm eine Einwegkommunikation vorzuherrschen scheint, sind auch hier die gemachten Aussagen als Teil  einer Interaktion zu interpretieren: Sie sind allesamt auf die verschiedenen an der „Dreieckskommunikation“ (MeyerBlanck) beteiligten Teilnehmenden, ihre Erfahrungs-horizonte und das Verhältnis der Teilnehmenden zueinander zu beziehen. 6.3.3.1 Anrededeskription bzw. Prädikat Die Anrededeskription bzw. das Prädikat weist auf besondere Eigenschaften des Angeredeten hin und ist somit einerseits eine Fortführung der in der Anrede geleisteten abstrakten Bestimmung des nonphänomenalen Gegenübers.

45 Ein weiteres Erklärungsmuster für die Verkürzung der Gebetsanreden auf „Gott“ bzw. die schlichte Anrede „Du“ liefert Frieder Schulz in einer Analyse evangelischer Gottesdienstbücher aus Deutschland. Schulz spricht von einer „Entchristologisierung“ der Gebete, die insbesondere im Wegfall des „Christus-Namens“ und der „christologischen Würdetitel“ bestehe; vgl. Schulz 2000, 196–199. Diese sei u. a. auch durch Impulse interreligiöser Arbeitsgemeinschaften angeregt worden, um insbesondere potenziellen jüdischen Mitbetenden „keine ‚imperiale‘ Christologie“ aufzuzwingen; vgl. ibid., 197. Der Einfluss solcher Arbeitsgemeinschaften auf die Gebete in der deutschsprachigen Schweiz scheinen allerdings relativ marginal zu sein.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

6.3.3.1.1 Deskription als Übersetzungsleistung Im direkten Anschluss an die Anrede wird in Anis-C ein längeres Prädikat angeschlossen: du hast das vertrauen zum himmlischen vater bewahrt, und bist in der angst nicht wankelmütig geworden. (.) ↑du (.) heisst es, (.) hast die erfüllung der schrift höher eingeschätzt, als dein eigenes menschenleben. (. .) wie die menschen die bei der arbeit heute ihr leben riskieren, (.) so hast du dich damals zur rettung und erlösung von uns ale- a ­ llen auf deinen schweren weg gemacht, (. .) wie eine mutter, die das leben ihres kindes über das eigene stellt:, so hast du dich auf den weg gemacht. (. .) wie die menschen, die in afrika für einfache bürgerrechte aufstehen,(.) ↓so hast du dich auf den weg gemacht, (. .)

[Anis-C 0:41:03.6–0:42:07.9]

Es lassen sich grob zwei Abschnitte erkennen, die durch eine mittellange Pause (ca. 1s) von einander getrennt sind: Einen ersten aus zwei ähnlich konstruierten Sätzen, die jeweils mit „Du“ auf die in der Anrede genannte Person „Du Christus“ referieren und das angeredete Subjekt somit näherbestimmen, sowie einen zweiten Teil mit drei Teilsätzen, die jeweils mit der Formulierung „wie […] so“ einen Vergleich mit dem angeredeten Subjekt bewerkstelligen. Im ersten Abschnitt schiebt der zweite Satz nach der Referenz mit „heisst es“ eine Zitationsmarkierung ein, die durch ihre invertierte Stellung entweder den einzelnen Satz oder alles seit der Anrede gesagte zu einem Zitat macht. Semantisch verweisen die gebrauchten Nomina durch jeweils definierte Artikel („das Vertrauen“, „zum […] Vater“, „der Angst“ usw.) auf einen Kontext, der vorher nicht explizit thematisiert wurde. Ausserdem sind die beschriebenen Sachverhalte in Vergangenheitsform dargelegt. M.a.W.: es wird hier Spezialwissen über vergangene Sachverhalte angezeigt.46 Im zweiten Abschnitt eröffnen jeweils Vergleiche mit anderen Personen die Sätze. So im ersten etwa „die Menschen, die bei der Arbeit an den zerstörten Atomreaktoren […]“, welche ebenfalls auf einen Kontext, diesmal einen mit der Situation gleichzeitigen (verdeutlicht durch die zeitliche Nähebestimmung „heute“) verweisen. Die damit zu vergleichende Aussage (auf „so“ folgend) ist wiederum als vergangene Handlung der angesprochenen Person beschrieben („damals“). Die vergleichende Aussage 46 Tradition kann in interaktionsanalytischer Perspektive alleine dadurch markiert werden, dass ein Wissensbestand angezeigt wird, der sich nicht in der unmittelbaren Inter­ aktionssituation verorten lässt. Damit ist noch nicht entschieden, ob es sich um Anspielungen eines mythischen Wissens aus biblischen Geschichten oder um theologisches Spezialwissen handelt.

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wird für die folgenden Glieder jeweils in gekürzter Variante („den Weg“ statt „deinen schweren Weg“) wiederholt. Die zum Vergleich angebotenen Personen bleiben jeweils mit der Situation synchron (im Präsens), zugleich aber wenig konkret: „eine Mutter, die das Leben ihres Kindes über das eigene stellt“ und „die Menschen, die in Afrika für einfache Bürgerrechte aufstehen“.

Das ausführliche Prädikat aus Anis-C versucht eine vergleichende Verbindung zweier Kontexte mittels Analogien. Solche über Analogien verfahrende Übersetzungsleistungen sind bereits aus den Thematischen Hinführungen der Ersten Sprecheinheiten (vgl. o., Abschnitt 5.4.3) bekannt. Die Vergleiche mit zeitgenössischen Personen und Personenkreisen („die Menschen […]“ bzw. „eine Mutter“) sind dabei nicht direkt situationsrelevante Konkretisierungen, sondern bauen ihrerseits wiederum situationsübergreifende Kontexte, d. h. ein zeitgenössisches Spezialwissen auf, das P hier bei den Gemeindegliedern voraussetzt. Es wird also keine direkte Analogie zur unmittelbaren Interaktionssituation geschaffen. Vielmehr werden unterschiedliche übersituationale Kontexte der Teilnehmenden, biblisches und zeitgeschichtliches Spezialwissen miteinander in Verbindung gebracht. 6.3.3.1.2 Deskription als Übersetzung in die Situation Weitaus häufiger sind jedoch direkte Bezugnahmen auf die Situation, so etwa im Prädikat von Anis-D: wir sind heute abend beiSAmmen um die nach(t) zu bedenken in der dein sohn sein(en) weg durch verrat und versagen, durch angst und su-äche bis zum tod ging:. (.) ((blättert)) wir gehen manchmal, auch durch diesen weg wo es schmerssen, unverständlichkeit, ÄRger und zweifel gibt. durch dies:en weg werden wir mü(d)e.

[Anis-D 0:52:58.5–0:53:31.6]

Diese Anrededeskription ist in zwei Aussagesätze geteilt durch eine kurze Pause, in welcher die Sprechende M ihr Manuskript umblättert. Die im ersten Satz angesprochene Handlung ist situationsimmanent, verweist aber direkt auf einen anderen Kontext, der situationsnah „bedacht“ wird: die „Nacht, in der dein Sohn […]“. Die Formulierung der Geschehnisse in der „Nacht“ ist durch vier abstrakte Nomina („Verrat“, „Versagen“, „Angst“ und „Schwäche“) und ein Nomen mit der archaisch anmutenden Formulierung „bis zum Tod ging“ charakterisiert. Die Geschehnisse werden dadurch nicht nur in die Vergangenheit versetzt, sondern auch auf überzeitliche Sachverhalte bezogen. Der zweite Aussagesatz ist in einen gegenwärtigen Kontext gestellt und referiert auf die kopräsenten Personen (inklusive M). Durch das wiederaufgenommene Verb © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Stilisierte Gespräche – Gebete

„gehen“ und die Konjunktion „auch“ sowie das Pronomen „diesen Weg“ nimmt der Satz vergleichend Bezug auf den vorangegangenen Satz. Wiederum werden vier abstrakte Nomina („Schmerzen, Unverständlichkeit […]“) zur Charakterisierung des Weges herangezogen.

Wie schon andernorts dient hier die Wegmetapher der Zusammenführung zweier Erfahrungshorizonte. Auch wenn die überzeitlichen Sachverhalte, die in den Kontexten erlebt werden nur der Spur nach ähnlich sind, fungiert ihre Erfahrbarkeit quasi als Brücke zwischen ihnen. Zugleich wird wiederum deutlich, dass zwei Kontexte gemeint sind. Hier allerdings ist der zweite Kontext zumindest Personal mit der Sprechsituation kopräsent („wir“). 6.3.3.1.3 Deskription der Situation selbst Anders prädiziert PAnis-B in seinem Gebet: du bist der weg, den ich heute gehe, du bist die wahrheit, die mich leitet, du bist leben, das ich finde.

[Anis-B 0:41:52.7–0:42:03.3]

Das Prädikat umfasst drei Aussagen, die mit „du“ die in der Anrede genannte Person aufgreift. Die Person wird jeweils mit einem apersonalen Sachverhalt identifiziert, in den ersten beiden Fällen wiederum mit definitem Artikel („der Weg“ usw.). Allerdings folgt jeweils ein Relativsatz, der deiktisch durch die Personalpronomina „ich“ bzw. „mich“ auf den Sprechenden bezogen ist.

Spezialwissen wird nur bei bibelkundigen Hörern angesprochen, die in den Abstrakta die johanneische Formulierung „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) wiedererkennen können. Für derart Kundige stellt die geschickte Erweiterung der Formulierung durch einen Relativsatz wiederum eine Übersetzungsleistung (eine Verbindung zweier Kontexte) dar. Entscheidend ist, dass selbst dann, wenn die Anspielung erkannt werden kann, sie durch P nicht als solche markiert ist. Somit verbindet P hier – anders als in Anis-C – unterschiedliche Kontexte implizit miteinander.47 Die situationsnahe Lokalisierung des Angeredeten wird allerdings durch den Umstand kontrastiert, dass P das Gebet abliest (sein Blick ist auf das Manuskript gerichtet: er führt einen Text auf) und das Gebet in Standardsprache

47 Dies wird zugleich problematisch, wenn man den biblischen Texten eine gesonderte Autorität (z. B. Gott als Autoren oder mitgedachten Sprecher) zuweist. Für diesen Fall wären die Begriffe in dieser Reihung deutlich als Zitate zu markieren.

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spricht, während andere Teile des Gottesdienstes wie etwa die Begrüssung in Mundart gesprochen wurden. 6.3.3.1.4 Das Gebetskorpus als Anrededeskription Schliesslich kann auch das gesamte Gebetskorpus als Anrededeskription gestaltet werden, wie etwa in Anis-A: verborgene gott:. (1.8) zwüsche em lüchte vo gälbe osterglogge, (.) und em duft vo FREsie und hiazintä:, (.) gäng wider d schätte (.  .) vo üser ↑tunkle((blättert)), verlorene wält:. (1.6) zwüsche der liechtigkeit vomene ↑früeligswind, (.) und em lied vo den=amsle am früeche mo:rGÄ:, (.) gäng wieder d ärdeschwäri, (.) vo üser müedigkeit, (.) vo üser ohnmacht, (.) und üser ↓angscht. (2.8) mitz i dene gägesätz aber, ent↑FAltet sich s läbe. (.) regt sich mi toifi ↑sehnsucht, (.) nach ↑troscht, (.) und nach ↓halt. (.) schlö  d (t)↑RIbe vo mire hoffnig, (.) und vo mim vertrauwe, neu us, (. .) zart und verletz:lech, (.) unbändig: und ↓wild:. (2.2) und DU gott, (.) wachsisch, (.) und blüisch, (.) i mir. (3.7) amen.48

[Anis-A 1:05:00.9–1:06:21.8]

Die Deskription ist durch Pausen in vier Teile gegliedert, wobei die ersten beiden Teile den Gegensatz von hoffnungsvollen und „dunklen“ Aspekten des Frühlings ausbreiten: im ersten Teil auf die „Welt“ bezogen, im zweiten Teil auf Wahrnehmungen von „uns“ (P und die anderen Teilnehmenden) bezogen. Der dritte Teil  unterscheidet 48 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Verborgener Gott. Zwischen dem Leuchten von gelben Osterglocken, und dem Duft von Fresien und Hyazinthen, immer wieder die Schatten von unserer dunklen, verlorenen Welt. Zwischen der Leichtigkeit eines Frühlingswindes, und dem Lied der Amseln am frühen Morgen, immer wieder die Erdenschwere von unserer Müdigkeit, von unserer Ohnmacht, und unserer Angst. Mitten in diesen Gegensätzen aber, entfaltet sich das Leben. Regt sich meine tiefe Sehnsucht, nach Trost und nach Halt. Schlagen die Triebe von meiner Hoffnung und von meinem Vertrauen neu aus: Zart und verletzlich, unbändig und wild. Und du Gott, wächst und blühst in mir. Amen.

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sich von den beiden ersten dadurch, dass P stärker phrasiert und betont und das Sprechtempo variiert. Er wird mit „aber“ von den ersten Aussagen abgegrenzt und ist in der 1. Person Singular gehalten. Semantisch wird hier den „Gegensätzen“ eine „in“ ihnen sich abzeichnende Dynamik („Hoffnung“) eingezeichnet, die nochmals von den vorhandenen Hoffnungszeichen zu unterscheiden ist. Nach einer erneuten Sprechpause, verlangsamt P wiederum das Tempo der Rede. Der vierte Teil wird mit der Konjunktion „und“ angeschlossen, was als Zeichen für die Ergänzung oder Näherbestimmung der bisherigen Beschreibung angesehen werden kann. Hier wird das angeredete Gegenüber nochmals namentlich genannt und ihm werden semantisch mit der Blütemetaphorik verbundene Aktivitäten zugeordnet: „wachsen“ und „blühen“.

Die Anrededeskription bezieht sich hier wesentlich auf die jahreszeitliche und kosmische Situation der Sprechenden. Sie gipfelt in einer als direkte Anrede formulierten Deskription des Angesprochenen, die ihm als Eigenschaft eine unmittelbare Nähe zur sprechenden Person zuschreibt („in mir“) . 6.3.3.1.5 Interpretation Die Prädikate oder Anrededeskriptionen erweitern die Anrede und beziehen sie auf die Sprechsituation des Gebetes. Dabei werden oft zwei zeitlich und räumlich voneinander getrennte Kontexte aufgebaut und vergleichend miteinander verbunden. Eine besondere Rolle spielen bei den gemachten Verknüpfungen Abstrakta und – wiederum – die Wegmetaphorik, die unterschiedliche Horizonte über bestimmte als allgemeinmenschlich vorgestellte Erfahrungen zu verbinden ermöglicht. 6.3.3.2 Lobesakte Im Gebetskorpus der vorliegenden Daten sind Sprechakte, die den Angeredeten explizit loben, selten (sie kommen in Anis-B, Burg-B und Chiem-A vor). So wird etwa im bereits zitierten Eingangsgebet aus Anis-B folgendermassen eingesetzt: gott:, ich dich. du bist der mor↑gen und der abend,(.) der anfang und das :ende der zeit,

[Anis-B 0:41:24.8–0:41:34.9]

Nach der Anrede folgt unmittelbar eine von P ausgehende Lobesformulierung: „ich preise dich“. Dabei wird das Verb „preisen“ durch einen hohen Sprechton und eine verlangsamte Aussprache hervorgehoben. Die Lobesformulierung wird mit einem Full-stop abgeschlossen. Die auf sie folgenden Anrededeskriptionen („du bist der Morgen [. .]“) werden appositional angehängt und wirken dadurch explizierend: Das Lob gilt, weil „Du der Morgen und der Abend bist“ usw. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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An diesem Beispiel wird deutlich, wie der Sprechakt des Lobes direkt mit einer Anredeskription verbunden wird. Auch die zweite explizite Lobesformulierung im vorliegenden Sample verbindet Lob direkt mit einer Deskription, die dort allerdings die Situation der Sprechenden erklärt: meine seele erhebt den herrn. (.) sie hungeret nach dir gott.49

[Burg-B 0:28:30.8–0:28:37.5]

Hier ist die Lobesformulierung („meine Seele erhebt den Herrn“) Teil eines Mottos, das in Standarddeutsch dem nachfolgenden in Mundart gehaltenen Korpus vorangeht. Obschon die Formel zunächst als Zitat gekennzeichnet und für Bibelkundige als solches erkennbar ist, wird sie durch die appositional angehängte Aussage „Sie hungert nach dir […]“ direkt aufgenommen und von P direkt in die gegenwärtige Situation gesprochen.

Bezeichnend an diesem zweiten Beispiel ist die Interpretation des Lobesaktes durch ein Bedürfnis der Sprechenden: „Erheben“ ist „hungern“. Semantisch wird damit ein Bruch erzeugt, der als explizierende Begründung verstanden werden kann: weil „meine Seele […] hungert“, „erhebt“ sie den Angeredeten. Dies wäre wiederum ein Hinweis darauf, dass der Sprechakt des Lobes nicht unbegründet für sich alleine stehen kann.50 Schliesslich können auch deskriptive Aussagen durch eine explizite Wertung zu einem Lobesakt gemacht werden: wie gut, dass du uns zusammenrufst, aus geschäftigkeit und leere, aus glücklichen stunden, und aus traurigkeit. aus erfolg und aus scheitern.

[Chiem-A 0:13:30.2–0:13:45.9]

In diesem Falle ist das Lob nur teilweise explizit, da das Resultat der Handlungen des Angeredeten und nicht seine Person für gut befunden wird.

Die Lobesakte sind insofern als Erweiterungen der Anrededeskriptionen zu verstehen, als dass sie die sprechende mit der angesprochenen Person in ein Verhältnis stellen. Anrededeskriptionen, welche die Wohltaten des Angeredeten aussprechen (so etwa Anis-C), tragen somit oft den illokutionären Aspekt des 49 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Meine Seele erhebt den Herrn. Sie hungert nach dir Gott. 50 Auf den ersten Blick wäre auch denkbar, dass die Lobesformel hier als Zitat für sich stehen kann, und mit der anschliessenden Rede in Mundart ein neuer Sprechakt konstituiert wird. Dagegen spricht aber, dass der Mundartsatz durch das Pronomen sie das Subjekt des Mottos aufnimmt und weiterführt.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

Lobes an sich. Allerdings werden die Deskriptionen erst durch eine explizite Wertung eindeutig als Lob deklariert: Solange bloss Eigenschaften beschrieben werden („du bist der Morgen“), ist deren Güte noch nicht bestätigt (es könnte auch ein schlechter Morgen sein). Im Sample sind explizit positive Wertungen gegenüber dem Angeredeten allerdings selten. Wenn sie vorkommen, bleiben sie – wie an den obigen Beispielen gezeigt – interpretationsbedürftig. 6.3.3.3 Dankesakte Eng verwandt mit den Lobesakten sind Dankesakte im Gebetskorpus. Auch sie konstituieren das Verhältnis von sprechender und angeredeter Person, allerdings indem sie nicht deren Wesen, sondern bestimmte Leistungen (Handlungen oder Zuwendungen) explizit benennen. Auch Dankesakte sind selten im Sample (sie kommen in Anis-B, Anis-C und Anis-G vor). In Anis-C folgt der Dankesakt auf die bereits zitierte längere Anrededeskription: wir danken dir für das was du für uns getan hast, (.)

[Anis-C 0:42:27.6–0:42:32.7]

Das Objekt des Dankes wird hier als „das, was du für uns getan hast“ bestimmt. Einerseits ist damit ein konkreter, nämlich kopräsenter Empfänger (P und die phänomenal Anwesenden) benannt, andererseits bleibt der Inhalt der Gabe offen. Er könnte auf die in der Anrededeskription beschriebenen vergangenen Handlungen des An­ geredeten, oder aber auch auf ein Spezialwissen verweisen.

Interessant an dieser Formulierung ist, dass sie den Dankesakt auf der Empfängerseite – und nicht etwa mit Bezug auf die Gabe – verortet. Sicher ist: Der Dank gilt dann, wenn er von den Kopräsenten erfahren wurde. Unklar bleibt hingegen, worin die Gabe konkret besteht. Aber auch die Empfängerseite kann im Gebet unkonkret bleiben, wie im Dankesakt im Anschluss an die bereits besprochene Anrededeskription in Anis-B: du bist der mor↑gen und der abend, (.) der anfang und das :ende der zeit, dir danke ich für die (.) ruhe der nacht, und das licht des neuen tages:.

[Anis-B 0:41:27.7–0:41:41.5]

Hier folgt der Dankesakt direkt auf die bereits oben analysierte Anrededeskription. Nach einer kurzen Pause wird das Objekt des Dankes (die verdankte Leistung) expli© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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ziert. Dabei nimmt P die mit dem Angeredeten identifizierten „Tag“ und „Nacht“ auf, und ordnet ihnen je eine Gabe zu: „die Ruhe“ und „das Licht“. Die definiten Artikel verweisen auf keine genannte oder konkrete Erscheinung; sie sind auf überzeitliche bzw. abstrakte Sachverhalte („die Ruhe“ überhaupt) bezogen.

Die Wesensmerkmale des Angeredeten werden mit abstrakten (und somit auch übersituationalen) Leistungen verbunden. Im selben Gebet folgt am Ende des Korpus allerdings noch ein konkreterer Dankesakt: ich danke dir für diesen tag.(.)

[Anis-B 0:42:32.7–0:42:35.3]

Der Dankesakt bezieht sich hier auf „diesen Tag“, womit nun – im Unterschied zu den vorherigen Formulierungen („der Tag“ im Allgemeinen)  – alleine der synchrone zeitliche Kontext gemeint sein kann. Ähnlich auch diese Formulierung aus dem Konfirmationsgottesdienst Anis-G: , jetz i däm gottesdiensch(t) (.) u später de mit de familie u mit de gescht.(.)51

[Anis-G 0:30:35.4–0:30:45.4]

Der Dankesakt bezieht sich hier auf die Ermöglichung des Zusammenseins der Sprechenden (P und die Kopräsenten). Durch „heute“ wird dieser Umstand zeitlich nahe verortet. Der appositional anschliessende Satz expliziert die Naheverortung, indem er zwei mögliche Lesarten benennt („jetzt“ und „nachher“) und beide Lesarten in den Dankesakt miteinbezieht.

Hier scheint der Dank auf einen situationalen Umstand (bzw. die Bedingungen, die diesen Umstand ermöglichen) bezogen zu werden. Damit wird dieser Umstand als Gabe interpretiert und auf den Angeredeten zurückgeführt. Allerdings nicht so, als hätte er ihn herbeigeführt, sondern so, als hätte er die Bedingungen für die durch Eigenleistungen der „Zusammengekommenen“ ausgeführten Handlungen hergestellt. Der Dank bezieht sich also auf eine in der Situation nur indirekt sichtbare Leistung: die Ermöglichung des faktischen Zusammenseins. Konkretisierungen sind zwar für einen Dankesakt notwendig, da er sonst nicht als Sprechakt funktionieren kann: Dank ist (in der Grammatik der deutschen Sprachen) immer transitiv (jemand dankt jemandem) und von einer 51 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Wir danken dir, dass wir heute zusammen sein können. Jetzt in diesem Gottesdienst und später dann mit den Familien und mit den Gästen.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

bestimmten Empfängergruppe auf einen bestimmten Sachverhalt bezogen (für etwas). Auf bestimmte Situationen oder bestimmte Personen bezogene Konkretisierungen bleiben aber aus. Im Sample sind Dankesakte sowohl hinsichtlich der Empfangenden als auch hinsichtlich der empfangenen Gabe mehrdeutig formuliert. 6.3.3.4 Bittakte Die häufigsten Sprechakte im Gebetskorpus lassen sich als Bittakte bezeichnen. Sie kommen ausser in Anis-A, wo das Gebet als reine Anrededeskription formuliert ist, in allen Gebeten vor. In Bitten fordert die Sprecher_in eine bestimmte Leistung oder Gabe beim Angesprochenen, allerdings meistens in modulierter (mit Hilfsverb konstruierter) Form. Die Sprechhandlung ist wiederum transitiv konstruiert: jemand bittet jemand um etwas (in einigen Fällen auch: für jemanden). 6.3.3.4.1 Herleitung der Bitte aus der Anrededeskription In einigen Fällen wird der Bittakt aus der Anrededeskription hergeleitet, so etwa in Anis-C: ↓so hast du dich auf den weg gemacht, (. .) hilf uns, dass wir unseren weg erkennen.

[Anis-C 0:42:03.0–0:42:11.9]

Der „Weg“ des Angeredeten, der zuvor bereits zur Verbindung eines Horizontes in der Vergangenheit und eines in der Gegenwart gedient hat, wird nun in der Bitte aufgenommen und direkt mit der Situation der Sprechenden verbunden. Die Bitte bezieht sich auf „unseren Weg“, d. h. die Erfahrungen der Sprechenden (P und die anderen Teilnehmenden).

Das Objekt der Bitte, um das „für uns“ gebeten wird, ist das „Erkennen“ „unseres Weges“. Somit ist es die Ermöglichung eines Erfahrungsgehaltes, der von den Sprechenden durch subjektive Wahrnehmung („erkennen“) erschlossen werden kann. Ähnlich, jedoch explizit begründend, wird die Bitte in Anis-D aus der Anrededeskription hergeleitet: wir gehen manchmal, auch durch diesen weg wo es schmerssen, unverständlichkeit, ÄRger und zweifel gibt. durch dies:en weg werden wir mü(d)e. da↑rum bitten wir dich um ruhe für unsere seele. lass uns heute begreifen, wie uns dieser weg s:um leben dient. lass uns bedenken, wie unser leben aus dieser nacht wäch(st).

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hilf uns, dass wir unsere eigenen wege vor augen h:aben. und nich(t) verleugnen, wie es um (.) uns (.) e-steht. (.)

[Anis-D 0:53:15.1–0:54:07.7]

Die Erfahrung des Angeredeten (sein „Weg“) wird in der Anrededeskription mit der subjektiven Erfahrung der Sprechenden („wir gehen manchmal auch […]“) verglichen und exemplarisch als Umschreibung ihres gegenwärtigen Zustandes verwendet: „wir“ werden „müde“. Die Bitte schliesst sich mittels der Konjunktion „darum“ begründend an: Der gegenwärtige Zustand der Sprechenden ist Beweggrund für eine Bitte mit dem Objekt „Ruhe für unsere Seele“. Anschliessend werden drei parallel konstruierte Bitten angefügt, deren Objekt verbaler Natur sind: „lass uns … begreifen“, „lass uns bedenken“, „hilf uns, dass wir […] vor Augen haben und nicht verleugnen“. Wiederum wird zweimal die Wegmetaphorik verwendet („dieser Weg“, „unsere eigenen Wege“) und verbindet die Erfahrungshorizonte des Angeredeten mit den Sprechenden.

Es wird deutlich, dass die Bitte eine in der Anrededeskription angesprochene Erfahrung aufnimmt, der hier sogar den Grund für die Bitte liefert: die Erschöpfung als Folge eines Weges. Das Objekt der Bitte wird zunächst als „Ruhe für unsere Seele“ bezeichnet, was die Erschöpfung als defizitären Zustand erscheinen lässt. Allerdings bleibt das Objekt erläuterungsbedürftig, was sich an den anschliessenden Wahrnehmungen erläutert: „Wir“ sollen „begreifen“, „bedenken“ und „vor Augen haben“. Noch deutlicher als im vorigen Beispiel bezieht sich die Forderung hier auf die Ermöglichung dieser Wahrnehmungsakte: „lass uns“ (zwei mal) und „hilf uns“. Die Forderung nach „Ruhe“ bedeutet in diesem Gebet konkret das Bereitstellen bestimmter Bedingungen, die bestimmte Erkenntnisvorgänge bei den Sprechenden ermöglichen sollen. 6.3.3.4.2 Zweckbestimmungen der Bitte Einige Bitten werden umgekehrt mit bestimmten Zielsetzungen verbunden, die jeweils mit „damit“ oder „um … zu“ an die Forderungen angeschlossen werden. So etwa in Anis-C: wecke in uns treue und beständigkeit, (.) damit wir fest bei dir ↓bleiben, (.) damit deine liebe, (.) und deine bereitschaft zu vergeben, (.) auch in unserer gegenwart (.) lebendig bleiben, (.)

[Anis-C 0:42:43.6–0:42:52.1]

Zunächst sind zwei Abstrakta als Objekte der Bitte genannt: „Treue“ und „Beständigkeit“, beides Einstellungen oder Haltungen, die unterschiedlichste Verhaltensweisen © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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bedingen können. Die zwei folgenden mit „damit“ eingeleiteten Teilsätze erläutern die geforderten Haltungen in Bezug auf ihre verhaltensleitenden Wirkungen: Sie ziehen nach sich, dass „wir“ „bei dir bleiben“, und, dass „deine Liebe und deine Bereitschaft zu vergeben“ in der Gegenwart „lebendig bleiben“.

Die Zielsetzungen der Forderungen dienen hier der Erläuterung und Konkretisierung der Dispositionen, die als relativ allgemeine und abstrakte Sachverhalte direkt gefordert werden. Sie werden hier allerdings wiederum nicht direkt auf die Situation der Sprechenden bezogen, sondern auf einen zeitnahen Kontext der Sprechsituation („in unserer Gegenwart“) und wiederum als Verhaltensdispositionen oder Haltungen erläutert: „Liebe“ und „Bereitschaft zu vergeben“. Einzig in Anis-E wird die Zielsetzung direkt auf eine konkrete Handlung bezogen, die allerdings eher metaphorischen Charakter hat: öffne uns die augen. (.) , . (. .) öffne uns die augen um dem rad der gewalt: (.) in die speichen ↓zu fallen. (. .)

[Anis-E 0:36:00.7–0:36:22.0]

Die erste Zielsetzung „damit wir die Gewalt heute sehen“ ist wiederum wahrnehmungstheoretischer Art, die zweite hingegen, „um […] in die Speichen zu fallen“, scheint auf eine konkrete Handlung zu zielen.

Bonhoeffer-Kenner_innen52 werden in der Formel „dem Rad der Gewalt in die Speichen Fallen“ ein Zitat erkennen können. Alle anderen bemerken zumindest, dass es sich um eine Analogie handeln muss, da das „Rad der Gewalt“ bislang nicht thematisiert oder in der Situation deklariert wurde. Vielmehr geht es hier um ein Bild für die Unterbrechung des Abstraktums „Gewalt“, das zwecks Veranschaulichung metaphorisch an den Gegenstand eines Rades angenähert wird. 6.3.3.4.3 Modulation der Forderung durch ein Hilfsverb Wie bereits dargelegt, werden die Bitten kaum direkt ausgesprochen, sondern oft durch Hilfsverben moduliert. So etwa in Anis-G: ↑hilf üs au das wo no unerledigt isch abzlege, dass mir offe wärded für DI: (.) (u) für dini gueti botschaft, begleit du üs dur dä konfirmationsgottesdiensch(t).

52 Das Zitat stammt aus einem Vortrag Bonhoeffers vor Berliner Pfarrern im Jahre 1933; s. Bonhoeffer 1965, 48. Vgl. auch den Titel der Biographie über Bonhoeffer von Wind 1990.

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lahn üs ↑trotz aune unsicherheite u zwifel erfahre, dass mir geborge si.53

[Anis-G 0:31:14.7–0:31:37.1]

Die verwendeten Hilfsverben „hilf uns“, „begleite uns“ und „lasse uns“ zeigen jeweils die Sprechenden als aktive Subjekte und den Angeredeten als Bedingenden, der die Handlung der Sprechenden ermöglichend begünstigt. Ähnlich wird auch in Anis-F formuliert: hilf mir (.) loszulassen. was mich daran hindert dir zu begegnen. (.) und mich von deinem wort ergreifen zu lassen. hilf mir zuzulassen, (.) was .

[Anis-F 0:39:27.9–0:39:45.0]

Hier wird die Modulation durch die Kombination zweier Hilfsverben ausgedrückt: „hilf mir“ „loszulassen“ bzw. „zuzulassen“.

Die Modulation umfasst hier nicht nur das Handeln des Angeredeten, dessen Eingreifen passiv-ermöglichend sein soll, sondern zusätzlich die durch ihn ermöglichten Handlungen des Sprechenden: Auch bei ihm soll eine passivermöglichende Handlung erfolgen, nämlich das „los-“ bzw. „zulassen“ von Fremdaktivierungen. 6.3.3.4.4 Direkte Bitten Ähnlich wie die Modulation der Bitte, zielen auch unmodulierte konkrete Forderungen darauf, Bedingungen für die Aktivität der Sprechenden vorzubereiten. So etwa in den häufigen „Gebe“-Forderungen: gib mir deine liebe, gib mir ge↑duld und ge↑lassenheit und be↓wahre mich. (.) geist ↑gott, schöpferische ↓kraft. wecke meine sinne (.) und gedanken, gib mir phantasie und kraft, klarheit (.) und ein em↑pfindsames:, gewiss:en.(.)

[Anis-B 0:42:03.3–0:42:26.6] 53 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Hilf uns auch, das, was noch unerledigt ist, abzulegen, dass wir offen werden für dich und für deine gute Botschaft, begleite du uns durch diesen Konfirmationsgottesdienst. Lass uns trotz allen Unsicherheiten und Zweifeln erfahren, dass wir bei dir geborgen sind.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

P erbittet hier vorwiegend Wahrnehmungsdispositionen: „Geduld“, das Wecken der „Sinne und Gedanken“, „Gelassenheit“, „Phantasie“, „Kraft“, „Klarheit“ und „ein empfindsames Gewissen“. Auch die „Liebe“ des Angeredeten kann als Gabe des Wahrgenommenwerdens gedeutet werden.

Wenn hier ein konkreter Sachverhalt gefordert wird, so ist dieser meistens abstrakt formuliert: Es geht nicht um einen materiellen Gegenstand, sondern um eine epistemologische Haltung oder Wahrnehmungsdisposition. Manchmal wird dabei auch eine Wahrnehmungsveränderung beim Angeredeten erbeten, wie oben im Stichwort „deine Liebe“. Etwas deutlicher wird diese Form der Veränderungsbitte in der folgenden zitathaften Gebetssequenz: herr ↑hö↓re meine stimme, lass deine ohren vernehmen, den ruf (.) meines flehens. (. .)

[Chiem-B 0:19:19.6–0:19:30.3]

Dieses Zitat eines Psalmes zeichnet sich im Vergleich zu den nichtzitierten Bitten auch durch seine unmodulierten, direkten Forderungen aus.

Der Zitatcharakter dieser Worte ermöglicht offenbar das Wegfallen der Modulationen und eine drastischere bzw. emotionsgeladenere Sprachwahl („meines Flehens“). Demgegenüber sind direkte Bitten stets eingeschränkt. So auch dort, wo Handlungen direkt gefordert werden. Direkte Bitten um Handlungen des Angeredeten beschränken sich auf Handlungen, welche die Redesituation nicht beeinflussen. So die häufige Bitte „bei uns/mir“ zu sein oder zu bleiben: sei , und alle kommenden tage. (. .)

[Dime-A2 0:11:24.0–0:11:31.0]

Auch in der folgenden Formulierung sind die erbetenen Handlungen nicht situationsverändernd, sondern konservativ: be↑gleite uns, be↑schütze uns, be↓wahre uns.(.)

[Anis-B 0:42:26.6–0:42:32.7]

Direkte Handlungsbitten zielen somit nie auf situationsverändernde Handlungen der angeredeten Person, sondern sind so formuliert, dass sich ihre Handlungen auf ein positiv wahrnehmendes Mitvollziehen der Situation oder des weiteren Kontextes der Situation beschränken. Die erbetene Transformation der Sprechenden im Gebet beschränkt sich auf eine Veränderung ihrer Wahrnehmung. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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6.3.3.4.5 Bitten für andere Personen (Fürbitten) Schliesslich können in den Bittakten nebst den Sprechenden auch besondere Personengruppen als Empfänger genannt werden. Solche Bittakte sind üblich für die sogenannten „Fürbitten“, die meistens erst nach der Predigt folgen. Im Sample wird in einem Taufgottesdienst (Burg-A) eine solche Fürbitte zum ersten Gebet des gesamten Gottesdienstes: mir bitte dich: für de ×××. begleit du ihn, bim grösser werde. lass ihn dini wunderschöni, und au gföhrlichi welt, entdecke, (.) mit schritt, wo zu ihm passe. (.) mit froge, won er stellt as läbe, (.) eso, dass er starch wird, dass er vertraue fasst. und dass er neugierig bli:bt, was alles no uf ihn wartet. (.) lass ihn fründe und fründinne finde, wo zu ihm hebed. (. .)54

[Burg-A 0:36:23.2–0:37:03.4]

Auch in den hier auf eine Person bezogenen Bitten wird das Eingreifen des Angeredeten moduliert („lass ihn“) oder auf konservative Handlungen beschränkt („begleite“). Wiederum klingt die Wegmetaphorik an: in „Schritten, die zu ihm passen“. Die Ausrichtung der zu ermöglichenden Wahrnehmungen ist klar auf Selbständigkeit des Betenden ausgerichtet: Er soll mit „Schritten“ und „Fragen“ die Welt „entdecken“.

In den auf bestimmte Personenkreise oder Einzelpersonen bezogenen Bitten wird besonders deutlich, was sich bei den analysierten Gebeten bereits zeigte: In den Gebeten geht es darum, Erfahrungen bzw. Wahrnehmungsdispositionen zu ermöglichen. 6.3.3.4.6 Interpretation Das, was in den untersuchten Gebeten vom angesprochenen Gegenüber gefordert wird, ist kein materielles Gut. Wenn objektiv um etwas gebeten wird, dann um spezifische Haltungen oder Wahrnehmungsdispositionen bei Menschen, die eigene Handlungen ermöglichen. Dies wird tendenziell indirekt ausgedrückt, indem teilweise sogar bloss die Ermöglichung einer Selbstpassivierung („hilf mir/uns zuzulassen“) erbeten wird. Wo Handlungen direkt vom Angeredeten erbeten werden, sind diese nicht situationsverändernd oder gar explizit situations-konservativ. Die allgemeine Tendenz der Bittakte ist es, den status quo der kopräsenten Teilnehmenden zu wahren und nur solche Veränderungen im nonphänomenalen Bereich zu intendieren, die sich in den sub54 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: wir bitten dich für den [Name des Tauf­ kindes]. Begleite Du ihn beim Grösserwerden. Lass ihn deine wunderschöne, und auch gefährliche Welt, entdecken, mit Schritten, die zum ihm passen, mit Fragen, die er stellt ans Leben, so dass er stark wird, dass er Vertrauen fasst und dass er neugierig bleibt, was alles noch auf ihn wartet. Lass ihn Freunde und Freundinnen finden, die zu ihm halten.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

jektiven Handlungen bzw. Selbstpassivierungen der Teilnehmenden dann konkretisieren können. Nahe verwandt mit dem Sprechakt des Bittens ist die Wunschesäusserung, die auch mit der sprechenden Person verbunden werden kann und dann zu einer Verpflichtung wird. wir haben hemmungen, auf jemanden zuzugehen, (.) oder trauen uns nicht, für uns selbst um hilfe zu bitten. (.) guter gott, so soll es nicht bleiben. (.) gib uns einen aufmerksamen blick für einander.

[Chiem-A 0:14:27.3–0:14:47.4]

Nach einer Anrededeskription, die die Situation und das Verhalten der Sprechenden charakterisiert, folgt nach einem Full-stop eine erneute Anrede des Gegenübers („guter Gott“) und eine normative Feststellung: „so soll es nicht bleiben“. Diese mündet dann in eine Bitte um eine Wahrnehmungsdisposition („einen aufmerksamen Blick“), womit die Wunschesäusserung als Grundlage für eine Bitte interpretiert wird.

Hier ist die Wunschesäusserung eine indirekte Verpflichtung der Sprechenden (inklusive des Kollektivs), da sich die zuvor geschilderten Sachverhalte auf sie selbst bezogen haben („wir haben Hemmungen […]“). Die folgende Bitte nimmt eine Zwischenstellung zwischen Deskription und Bitte ein. Aber auch grössere Passagen können als Wunschesäusserung konzipiert werden, wie die Formulierung aus Burg-B zeigt: ich möcht dir hüt es neus lied singe gott. ↑wenigstens ↓hüt. nur EImal am wiehnachtstag. es lied, (wo) die gnadelo:si schnälligkeit vo de zi:t underbricht, (.) ich möcht mini tru:r wenigstens für ein augeblick chöne vergesse. fröhlich zur musig vom lebe tanze, (.) ich möcht, au wenn nur für en moment, (.) NId und wuet us mim herz vertri:be, damit dini liebi dri chan i:zieh. (.) ich möcht wenigstens hüt, nöd eifach gedankelos am lebe verbi:läbe. sondern d kostbarkeit vom augeblick gnüsse. (.)55

[Burg-B 0:28:49.4–0:29:39.6]

55 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Ich möchte dir heute ein neues Lied singen, Gott. Wenigstens heute. Nur einmal am Weihnachtstag. Ein Lied, das die gnadenlose Schnelligkeit von der Zeit unterbricht, ich möchte meine Trauer wenigstens für einen Augenblick vergessen können. Fröhlich zur Musik des Lebens tanzen, ich möchte, auch wenn nur für einen Moment, Neid und Wut aus meinem Herz vertreiben, damit deine Liebe darin einziehen kann. Ich möchte wenigstens heute, nicht einfach gedankenlos am Leben vorbeileben, sondern die Kostbarkeit des Augenblicks geniessen.

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Sequenzanalysen   

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Die konkretere Absicht, „ein neues Lied“ zu singen, ist wiederum metaphorisch gemeint, was – auch für diejenigen, die den Zitatcharakter nicht erkennen – spätestens bei der Erläuterung „das die gnadenlose Schnelligkeit von der Zeit unterbricht“ deutlich wird. Dasselbe gilt auch für das Tanzen „zur Musik des Lebens“.

Es zeigt sich, dass die Wunschesäusserungen bzw. Selbstverpflichtungen ähnlich wie Bittakte formuliert sein können. Auch sie beziehen sich in der Regel auf Wahrnehmungsdispositionen. Auch Wünsche und Selbstverpflichtungen zielen somit nicht auf konkrete Handlungen mit Konsequenzen für die Interaktion. Im Gebetskorpus wurden verschiedene Sprechakte unterschieden, die meistens jedoch in bewusst gewählter Kombination verbunden werden. Sie können einander zugeordnet werden oder voneinander hergeleitet werden. Bestimmte Akte sind dabei wahrscheinlicher als andere: Ein Gebet ohne Lob und Dank scheint unproblematisch zu sein. Die Anrededeskription hingegen fehlt kaum. Am unverzichtbarsten scheinen Bittakte zu sein, da sie (ausser in Anis-A) in allen Gebeten vorhanden sind. Das Vorherrschen der Bittakte ist aber nicht zu verwechseln mit einer reinen Empfangsorientierung der Gebete. Vielmehr sind die Bitten so formuliert, dass individuell Handelnde in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden. Konkretes Eingreifen oder eine bis in phänomenale Sachverhalte hineingehende Veränderung der Situation wird nicht gefordert.56

6.3.4

Abschluss des Gebets

Während des Gebetskorpus gibt es bei den Teilnehmenden praktisch keine Haltungsveränderungen. Ihre auf das nonphänomenale Gegenüber ausgerichtete Haltung muss aber für den weiteren Verlauf des Gottesdienstes wieder aufgelöst werden. Denn die nachfolgenden Elemente sind wiederum auf die Kommunikation zwischen P und den restlichen Teilnehmenden fokussiert. Das Ende des Gebets muss noch in der Gebetsausrichtung angezeigt werden. Problematisch 56 Angesichts der Gebetssituation coram publico ist es durchaus legitim, dass P nicht allzu konkrete Bitten formuliert, da sie stellvertretend für das Kollektiv betet und unterschiedliche subjektive Ausdeutungen des Gebets ermöglichen möchte. Die konkreteren Bitten wären in privaten Gebetssituationen oder im Gottesdienst durch den inneren Mitvollzug einzubringen. Für die Perspektive der Interaktionsanalyse ist jedoch entscheidend, was in der beobachtbaren und intersubjektiv geteilten Interaktion angezeigt wird. Die oben analysierten Formulierungen legen einen inneren Mitvollzug bestenfalls nahe bzw. bereiten ihn vor. Wenn ein Teilnehmender aber keine private, konkretere Gebetspraxis intrinsisch mitbringt, beschränken sich die Bitten hier auf die oben erwähnten Wahrnehmungsdispositionen.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

ist dabei insbesondere, dass die visuelle Modalität aufgrund des nonphänomenalen Fokus’ der Gebetshaltung (Augen gesenkt) für die Interaktion nicht bereitsteht. Somit kann ein Wechsel der Fokussierung alleine akustisch angezeigt werden. In interaktionsanalytischer Perspektive stellt der Abschluss des Gebets wiederum eine Übergabe der Handlungsleitung (TRP) an, die von den restlichen Teilnehmenden durch eine Haltungsveränderung übernommen werden kann. Der theologisch-normativen Bedeutung von kollektiven Gebeten folgend kommt den Gebetsabschlüssen eine eminente Wichtigkeit zu: Das Gebet wird durch das „amen“ von den restlichen Teilnehmenden beglaubigt bzw. bejaht. Wer das Wort nicht spricht, hat gemäss dieser Vorstellung keinen vollständigen Anteil an einem Gebetsakt, der durch eine andere Person stellvertretend gesprochen wird. Der TRP, der das Ende des Gebetskorpus anzeigt, erfolgt so gesehen auch deshalb, weil das „amen“ dank einem eindeutigen Signal synchron kollektiv gesprochen werden kann ohne zwischen den Teilnehmenden eine zeitliche Hierarchie (früher und später Sprechende)  entstehen zu lassen und ohne den Sprechenden in seinem Redefluss vorzeitig zu unterbrechen. 6.3.4.1 Explizite Markierung des Gebetsschlusses Ein verbal explizite Markierung des TRP am Ende des Gebetskorpus wird in Dime-B durch eine Formel bewerkstelligt:57 dies bitten wir dich, dreieiniger gott, durch (.) jesus christus, unseren herrn. (.) amen.

[Dime-B 0:24:54.8–0:25:03.3]

Die Formel schliesst sich mit „dies“ an den vorangehenden Sprechakt an. „Dies“ referiert dabei auf alles bisher erwähnte, das durch das folgende „bitten wir“ zugleich als Bittakt des Kollektivs deklariert wird. Daran schliesst sich mit „dreieiniger Gott“ eine erneute Anrede (die erste nach der Gebetsanrede am Anfang des Gebets) des Gegenübers an („dreieiniger Gott“). Zuletzt erfolgt noch ein eigentümlicher Zusatz („durch Jesus Christus, unseren Herrn“), der den Bittakt um ein personalisiertes Medium erweitert: Bitten zu jemanden um etwas durch jemanden. Das „amen“ schliesst sich nach einer kurzen Pause an die Formel an.

57 PDimels* ist die einzige Pfarrperson im Sample, die Muttersprachler in Standarddeutsch ist und früher in Deutschland gearbeitet hat. Allerdings verwendet er die Formel zum Gebetsabschluss nicht konsequent – in Dime-A2 fehlt sie.

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Sequenzanalysen   

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Auch dann, wenn die normativ-theologische Logik dieser Formel (namentlich die Trinitätslehre)  nicht von allen Teilnehmenden durchschaut werden sollte, wird mittels der unüblichen Konstruktion des bittens „durch“ jemanden, die Hervorgehobenheit der Handlung markiert. Die so hervorgehobene Sprache kann somit zugleich als Kulmination wie auch als Anzeichen für den Abschluss der Gebetshandlung gelesen werden. Das anschliessende „amen“ wirkt dann (wie bereits bei den Zitaten, vgl. o., Abschnitt 5.4.1.4.3) als rituelles Signalwort für einen TRP. 6.3.4.2 Anzeigen des Gebetsschlusses durch Prosodie und Phrasierung Derselbe Effekt wird in den meisten Gebeten aber auch durch weniger traditionell anmutende Formulierungen erreicht, was sich z. B. in Anis-E zeigen lässt: öffne uns die augen um dem rad der gewalt: (.) in die speichen ↓zu fallen. (. .) ↓amen.

[Anis-E 0:36:00.7–0:36:22.8]

Der Bittakt „öffne uns die Augen […] zu fallen“ endet mit einem überdeutlichen Fullstop, bei welchem sich der Sprechton bereits bei der drittletzten Silbe (zu fall-en) absenkt. Auf diesen folgt eine ca. 1s lange Sprechpause, während der P immer noch blicklich auf sein Manuskript ausgerichtet bleibt. Anschliessend folgt das Signalwort „amen“, dessen beide Silben hier ebenfalls mit gesenktem Tonfall gesprochen werden.

Ähnlich wie in den informierenden Redesequenzen setzt P zum Ende des Gebetskorpus einen Full-stop, der hier allerdings bereits zwei Silben vor dem definitiven Ende ansetzt und somit das Ende überdeutlich anzeigt. Diese Ausdehnung des Endezeichens ist in anderen Fällen noch ausgeprägter, so etwa in Anis-A: und DU gott, (.) wachsisch, (.) und blüisch, (.) i mir. (3.7) 58

[Anis-A 1:06:10.6–1:06:21.8]

Die Konjunktion „und“ zeigt einen parataktisch angeschlossenen Teil  der Aussage an. Darauffolgend wird mit „Du Gott“ die Anrede des Gebetsgegenübers wieder auf58 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Und du Gott, wächst und blühst, in mir. Amen.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

genommen – zum ersten Mal in diesem Gebetskorpus, was die Aussage hervorhebt. Das Prädikat dieses hervorgehobenen Sprechaktes, einer Anrededeskription, wird nun nahezu Wort für Wort gestaffelt gesprochen, wobei nach den Half-stops jeweils kurze Pausen eingeschaltet werden, was die Aufmerksamkeit auf die jeweils nach­ folgenden Worte jeweils erhöht. Auf den Full-stop folgt eine längere Sprechpause (3.7s), worauf wiederum das Signalwort „amen“ folgt (hier allerdings mit der Tonalität hoch-tief). Dieses wird nahezu stimmlos und gehaucht ausgesprochen.

In diesem Beispiel liegt eine Mehrstufigkeit bei der Anzeige des Gebetsschlusses vor. Der letzte zum Korpus gehörende Sprechakt wird durch die Wiederholung der Gebetsaufforderung und die gestaffelte, verlangsamte Sprechweise hervorgehoben. Auch die nachfolgende Pause ist – verglichen mit den vorausgehenden Sprechpausen – überdeutlich.59 Das Ende des Gebets wird so während der letzten Worte des Gebetskorpus zunehmend deutlich antizipierbar. 6.3.4.3 Fehlende Markierung des Gebetsschlusses In Chiem-B ist die Hervorhebung des Endes demgegenüber kaum deutlich: ↑ER wird israel erlösen, von ALLen seinen sünden. amen.

[Chiem-B 0:20:15.8–0:20:21.7]

Dieser letzte Sprechakt unterscheidet sich von der Phrasierung her kaum von den vorgangegangenen und setzt auch sonst keine besonderen Signale, die ein Ende ankündigen könnten. Auch folgt das Signalwort „amen“ nach einer nur kurzen Pause auf den Schluss des Satzes.

Der TRP ist hier kaum vorbereitet. Erstaunlich ist, dass die Teilnehmenden ihn dennoch in der nachfolgenden Sprechpause, die 4.9s dauert, nachvollziehen, in dem sie die zuvor eingenommene Gebetshaltung auflösen. Das für die Fortführung der Interaktion entscheidende Zeichen ist somit wiederum das Signalwort „amen“. Ihm wird in der nachfolgenden Sprechpause durch die Auflösung der Gebetshaltung bei den Teilnehmenden Folge geleistet. Irritationen können dort entstehen, wo die Sequenz von hervorgehobenem Sprechakt und Abschlusssignal unterbrochen werden, wie etwa in Anis-B: 59 Das Gebet in Anis-A läuft auch dramaturgisch auf den Höhepunkt des letzten Sprechaktes zu, da der Rest des Gebetskorpus alleine als Deskription der Sprechenden Teilnehmer formuliert ist. Erst im letzten Sprechakt wird die Anrededeskription auf den Angeredeten ausgeweitet und dieser wortwörtlich in die Sprechsituation hineinbeschrieben („du wächst […] in mir“). Die nachfolgende lange Pause und das gehaucht gesprochene „amen“ bearbeiten den Höhepunkt nach, indem sie dessen intensive Rezeption durch die am Sprechakt hörend Teilnehmenden anzeigt.

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Sequenzanalysen   

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be↑gleite uns, be↑schütze uns, be↓wahre uns.(.) ich danke dir für diesen tag. (.) ↓amen.

[Anis-B 0:42:26.6–0:42:36.0]

Die Hervorhebung des zweitletzten Sprechaktes wird hier durch eine alliterativ und parallel konstruierte Dreierfolge von Bittakten erreicht, die überdies sorgfältig von P prosodiert werden (hoch-hoch-tief). Nach einer kurzen Pause, in welcher er das Manuskript konsultiert, fügt P aber noch einen Dankesakt an, an den er das Signalwort „amen“ anschliesst. Durch die leicht erkennbare Prosodie wird der nahende Abschluss des Gebetsaktes für die restlichen Teilnehmenden antizipierbar. Der anschliessende Dankesakt wirkt daher eigentümlich nachgesetzt.

Wie entscheidend das Signalwort „amen“ ist, wird wiederum im Fall Burg-B deutlich, wo der Abschluss des Gebetes mit einem anderen Wort bewerkstelligt wird: für EIN moment gott. wem mir eus hüt alli d hand geh, jung und alt. chrank und gsund. usländer und i:heimischi. arm und ri:ch, (.) hilf eusne stimme u:f (. .) damit sie is lied (.) vom neugeborne lebe i:stimmed. (.) MEIne seele erhebt gott, (.) und MEIN GEIST jubelt über ihn, meinen retter. (.) hallelujah.60

[Burg-B 0:30:12.7–0:30:46.061]

Das Gebetskorpus ist über weite Teile als Verpflichtungsakt formuliert und – abgesehen vom Anfang des Korpus und einem Einsprengsel in der Mitte – in Mundart gehalten. Anschliessend an eine Bitte („hilf […] damit […]“) erfolgt ein Codeswitching ins Standarddeutsche. Im Standarddeutsch gesprochenen Satz werden die Formulierungen aufgenommen, die den Eingang des Gebetes gebildet haben (einzig der Anredename wird ausgetauscht: „Gott“ statt „Herr“). Zuletzt folgt nach einer kurzen Pause das Wort „hallelujah“, worauf P ihre Gebetshaltung wieder auflöst.

Auch in diesem Beispiel wird der Abschluss des Gebetskorpus frühzeitig angezeigt. Zuerst wird im Gebetskorpus der Sprechakttyp von Verpflichtung auf Bitte gewechselt. Anschliessend folgt eine durch den Sprachcode hervor60 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Für einen Moment Gott. Wollen wir uns heute alle die Hand geben, jung und alt. Krank und gesund. Ausländer und Einheimische. Arm und Reich, hilf unseren Stimmen auf damit sie ins Lied des neugeborenen Lebens ein­ stimmen. […] 61 P ist auf der Aufnahme nicht sichtbar. Die Notation der Manuskriptbenützung fehlt daher in diesem Manuskript.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

gehobene Formulierung, die bereits zuvor gesprochen wurde, und so als Zitat markiert ist. Das „hallelujah“ von P erfolgt an derselben Stelle, an welcher in anderen Gebeten ein „amen“ zu stehen kommt. Allerdings vermag es – trotz des im Vorlauf klar angezeigten Abschlusses des Gebets – nicht die mit „amen“ verbundene Signalwirkung zu entfalten. Dies zeigt sich deutlich in der an das „hallelujah“ anschliessenden Sprechpause: [Clip 6.9, Burg-B 0:30:44.8–0:31:11.5]

[Burg-B 0:30:47.6]

[Burg-B 0:30:49.0]

Eine Frau (Pfeil) senkt ihren Kopf auf das Stichwort „hallelujah“ vor sich. Der Mann in der Mitte (Kreis) dreht seinen Kopf leicht nach links aus und hebt ihn dabei hoch. Es ist deutlich, dass dieser Mann seine Wahrnehmung nun nicht mehr auf einen nonphänomenalen Fokus richtet, sondern auf andere Teilnehmende schaut. Nun drehen ungefähr zeitgleich zwei weitere Teilnehmende (Kreise) ihre Köpfe nach links aus und verlassen damit ihre nach vorne gebeugte Haltung. Die Hände der beiden bleiben aber noch vor dem Körper verschränkt (es handelt sich also um eine teilweise Aufhebung der Haltung). Der Mann in der Mitte (Kreis) dreht seinen Kopf unten und links zur Seite aus, bewegt sich anschliessend reflexartig nochmals zurück in die nach vorne ausgerichtete Haltung und setzt sich anschliessend gemächlich.

[Burg-B 0:30:51.9]

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Sequenzanalysen   

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Das möglichst lange Verbleiben in der Gebetshaltung ist solange regelgemäss, bis eine überwiegende Vielzahl der Teilnehmenden die Haltung aufgelöst hat – dann würde das Verbleiben in der Gebetshaltung auffällig, da nun die anderen Teilnehmenden einen visuell wahrnehmen können. Um nicht aufzufallen, legt sich also ein mehr oder weniger präzises Einhalten des Endzeitpunkts des Gebetes nahe. Da man in der Gebetshaltung über keine oder nur sehr beschränkte visuelle Wahrnehmung verfügt, sind die Teilnehmenden auf ein akustisches Signal angewiesen. Im Beispiel aus Burg-B fehlt ein konventionelles Signalwort. Deshalb folgt eine längere Sprechpause ohne kollektive Aktivität. Die Rolle des Signals übernehmen hier zwei Geräusche, die vermutlich durch Bewegungen im Orchester auf der Empore links verursacht werden. Es ist bezeichnend, dass die ersten Teilnehmenden, die ihre Gebetshaltung auflösen, zunächst den Blick nach vorne links (zur vermeintlichen Quelle des Geräusches hin) drehen. Da die Geräusche aber undeutliche (und nicht-konventionalisierte)62 Signale zur Auflösung der Gebetshaltung sind, verbleiben die Teilnehmenden noch stehen, lösen die vornübergebeugte Haltung jedoch ansatzweise auf: Sie gehen zunächst in eine halbe Gebetshaltung (Blick oben, Hände vor sich verschränkt, Schultern gesenkt) und zeigen damit an, dass sie intentional beide Verhaltensweisen (Gebet und Auflösung des Gebets) unterstützen. Eine solche halbe Haltung, die eine Aussenorientierung zulässt, aber den Vollzug des Rituals dennoch unterstützt, ist bezeichnend für eine extrinsisch-rituelle Orientierung (wie diejenige der Jugendlichen in Dime-A2).

6.3.5

Zusammenfassung: Grundmerkmale der Interaktionsordnung

Die Sequenzanalysen der Gebete lassen sich zu folgenden Gesetzmässigkeiten zusammenfassen, die wiederum als Grundmerkmale der Interaktionsordnung reformierter Gottesdienste verstanden werden können: 1) Gebete sind innerhalb des Gottesdienstes mit einer Veränderung der Haltung verbunden, welche die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit der Teilnehmenden einschränkt; 2) die Einnahme dieser Gebetshaltung ist bei vielen Teilnehmenden als intrinsisch-rituelles Wissen vorhanden und wird von der Pfarrperson weder verbal angeleitet noch vorgezeigt;

62 Klopfgeräusche (durch den Prälaten oder Gebetsvorsteher) zeigen in einigen römisch-katholischen Konvikten das Ende der Stille beim Stundengebet an; dort gehört dieses akustische Signal zum rituellen Wissen der mehrheitlich intrinsischen Teilnehmenden.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

3) die Sprechakte zu Beginn und zum Abschluss des Gebetes werden mittels bestimmter prosodischer Gestaltungen, einer knappen Wortwahl und erkennbaren Sprechpausen als rituelle Impulse angezeigt; 4) die rituellen Impulse konstituieren einen TRP, welcher als turn-Übernahme durch die restlichen Teilnehmenden die Einnahme bzw. Auflösung der besonderen Gebetshaltung vorsieht; 5) das im Gebet angesprochene Gegenüber wird knapp oder mittels übersituationaler Analogien prädiziert – es wird nicht in der Interaktionssituation gezeigt oder mit einer sichtbaren Person identifiziert; 6) während des Gebetes werden modulierte oder übersituationale Sachverhalte angesprochen – Bezüge zu kopräsenten Teilnehmenden sind selten.

6.4 Diskussion Die erarbeiteten Grundmerkmale sollen wiederum im Folgenden ausgeführt und in ihren Implikationen für die Fragestellung nach der Wirklichkeit des Gesprächs mit Gott in gottesdienstlichen Gebeten eruiert werden.

6.4.1

Gebet als Gespräch

Die Torgauer Formel Luthers kann als Anweisung dazu interpretiert werden, dass die gesamte Gottesdienstinteraktion einen Gesprächscharakter aufweisen soll. Die Interaktion in einem Gottesdienst weise zwei Rederichtungen auf: eine von Gott her und eine zu Gott hin. Es gehe bei beiden angesprochenen Rederichtungen um eine Mitteilung, die zugleich einen immanenten und einen transzendenten Teilnehmenden habe. Die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz wird also im Gebet durchbrochen und dieser Durchbruch steht gleichsam – so sieht es Luther zumindest – für die gesamte Interaktion des Gottesdienstes („nichts anderes“!). Zugleich suggeriert Luther eine gleichseitige und nicht-hierarchische Ausgangslage dieser Kommunikation: Sowohl Gott als auch die im Kirchenraum versammelten Menschen sollen ihren Anteil an der Kommunikation bekommen. Die in einem Gespräch geforderte Mutualität, dies machen insbesondere Konversationsanalytiker der ersten Stunde deutlich,63 ist bei aller Natürlichkeit eine geordnete Sequenz von Redeeinheiten: Es muss deutlich werden, wer wann sprechen darf und wie den jeweils anderen signalisiert wird, dass sie dran sind. Ein Gespräch – ob von formellem oder informellem Charak-

63 So die wegweisende Publikation von Sacks et al. 1974.

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Diskussion   

ter – ist interaktionstheoretisch ohne ein Minimum an für alle Gesprächspartner verbindlicher Ordnung undenkbar.64 Es ist kaum verwunderlich, dass sich bei der Gestaltung von Gebeten theologisch-normative Fragen stellen. Während bei den bisherigen Elementen des Gottesdienstes der Fokus der Interaktion zwischen Protagonist_in und dem Publikum lag und nonphänomenale Sachverhalte vorwiegend in Form von deiktischen Gesten und verbalen Zitaten eingespielt wurden, findet nun eine Kommunikation mit einem transzendenten Teilnehmenden statt, wobei dieser allerdings nicht auf phänomenale Art und Weise auftritt. Er wird durch die Einnahme einer bestimmten Haltung meistens von allen Teilnehmenden angezeigt und durch eine personale Anrede mit Namen oder Pronomen in der 2. Person Singular eingeführt. Die Transzendenz erscheint nun also selbst als unmittelbar Teilnehmende des Gottesdienstes und manifestiert sich in den Haltungen und Sprechweisen der Teilnehmenden. Die Unmittelbarkeit der Sprechsituation ins Nonphänomenale hinein wird scheinbar alleine durch den Umstand kontrastiert, dass auf die Anrede keinerlei Reaktion des Gegenübers erfolgt. Wenn man sich aus einer Beobachterperspektive dem Gebet annähert, ergibt sich somit das merkwürdige Bild einer halben Praxis. So etwa in der folgenden Beschreibung des Religionsphilosophen James K. A. Smith: „[H]ere is a group of what appear to be otherwise (relatively) normal people engaged in a conversation with someone who seems to be absent. And this isn’t like listening to just half of a conversation on a cell phone, where we can, from experience, postulate that there is another human being holding up the other end of the conversation. Rather, the practice of prayer will, […] seem more like the scruffy, bearded guy on the subway platform who is carrying on an animated conversation with himself.“65

Das vermeintliche Selbstgespräch im Gebet könnte in der Tat verrückt oder mindestens unpassend erscheinen, da ihm in gewissen Kontexten, etwa einem öffentlichen Verkehrsmittel, die nötigen Rahmenbedingungen fehlen. Im reformierten Gottesdienst wird demgegenüber gezielt ein interaktionaler Rahmen gesetzt, der einen Sprechakt an ein nonphänomenales Gegenüber akzeptierbar und normal erscheinen lässt. In den reformierten Gottesdiensten sind die meisten Teilnehmenden deshalb auch alles andere als Zuschauer und Zuhörer während des Gebetes. Vielmehr hat die gesamte Handlungsfolge (der Aufruf zum Gebet, die Einnahme der Gebetshaltung, die Sprechakte, das Anzeigen des Abschlusses sowie die Auflösung der Gebetshaltung) eine ordnende Wirkung, die

64 Vgl. etwa Schegloff 1972. 65 Smith 2011, 192 f.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

unabhängig von den Überzeugungen der Teilnehmenden, ein bestimmtes Verhalten bei ihnen hervorruft.

6.4.2

Rituelle Rahmung des Gebets

Die ordnende Kraft der Gebetssituation lässt sich in den Gottesdiensten beobachten und aus der eingangs dargestellten interaktionsanalytischen Perspektive erklären. Die obigen Analysen deuten auf eine mikro-soziale Verankerung der Gebete hin, die bereits Marcel Mauß in seinem religionswissenschaftlichen Essay La prière 1909 betont hat: „La prière est sociale non seulement par son contenu, mais encore dans sa forme. Ses formes sont d’origine exclusivement sociale. Elle n’existe pas en dehors d’un rituel.“66

Und er präzisiert weiter: „[La prière] est une série de mots dont le sens est déterminé et qui sont rangés dans l’ordre reconnu comme orthodoxe par le groupe. Sa vertu est celle que lui attribue la communauté. Elle est efficace parce que la religion la déclare efficace.“67

Auch wenn Mauss in seinem Buch vom in seinem Umfeld vorherrschenden jüdischen bzw. römisch-katholischen Gebetsverständnis ausgeht, beansprucht seine These auch für weniger formelle Gebete wie diejenigen in reformierten Gottesdiensten Gültigkeit. Grundsätzlich orientiert er sich dabei an der bereits erläuterten These Durkheims, dass individuelle Erfahrungen und Überzeugungen als Produkte von Ritualen zu verstehen sind (vgl. o., Abschnitt 2.3.5). Anders als die landläufige Ansicht, dass Gebete als Ausdruck innerer Erfahrungen und Überzeugungen anzusehen seien,68 deutet er sie umgekehrt als primär kollektive Prozesse, die individuelle Vorstellungen und Praktiken nach sich ziehen können. Auch bei Collins findet sich diese genuin soziologische Vorstellung wieder: „Individual experience of prayer and meditation are celebrated as the highest breakthroughs into direct contact with religious reality, but these practices are not only comparatively rare, but are at least derivatively social. For one thing, prayer 66 Mauss 1909, 19. 67 Ibid., 19 f. 68 Diese Ansicht wird auch in einer der bedeutendsten religionsphänomenologischen Publikationen zum Gebet von Friedrich Heiler vertreten. Er meint in Das Gebet von 1918: „Das Gebet ist ursprünglich eine spontane Affektentladung, ein freies Ausschütten des Herzens. Im Laufe der Entwicklung wird es zu einer feststehenden Formel, die der Mensch affekt- und stimmungslos, herz- und gedankenlos rezitiert.“ Heiler 1918, 150.

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Diskussion   

and meditation have ritualistic forms shared by a community; sometimes they are carried out collectively in a worship ceremony, and for most people this is where they are learned. One prays together before one prays alone.“69

Die Mikrosoziologie liefert somit anthropologische Argumente für die bei Cornehl und heute insbesondere von angelsächsischen Liturgiewissenschaftlern der Formative Liturgy vertretenen Ansicht, dass das kollektive Gebet ein Ort liturgischer Bildung sei.70 Die Thesen von Mauss können theologischerseits allerdings nicht kritiklos übernommen werden, da sie im Zuge der durkheim’schen Religionssoziologie jegliche Glaubensvorstellungen als Folgen sozialen Handelns erklären möchten. Dennoch brechen sie die Debatte über die Realität des Gegenübers im Gebet in produktiver Weise auf: Wenn das Handeln im Gebet nicht in erster Linie spontanes und unmittelbares Sprechen ist, sondern eine für den Vollzug entscheidende rituelle Rahmung benötigt, erhalten die verschiedenen Elemente der Gebetssprache eine Qualität, welche nicht ohne Weiteres an deren (wie auch immer zu bestimmenden) semantischem Gehalt gemessen werden kann. Ausserdem können Gestaltungen und Eingriffe, welche die bereits etablierten Rahmungen übergehen („hallelujah“ statt „amen“), die Interaktionsordnung stören. Dies zeigt die oben dargelegte Formtreue oder sich abzeichnende Gewöhnung an bestimmte Normtypen der Gebetsrahmung, die sich auch im diachronen Vergleich nicht auflöst. Gebetsanreden etwa haben sich insofern verändert, als sie heute eine weniger ausführliche Anredebeschreibung, allgemein weniger konkrete Bezeichnungen und kaum explizit männliche oder herrschaftliche Anredenamen verwenden. Die Anrede selbst aber hat sich entgegen der Prognosen von Otto und Bernet hartnäckig gehalten und wird oft sogar dort gebraucht, wo der Rest des Gebetes von seinen Sprechakten her kaum mehr auf ein angeredetes Gegenüber Bezug nimmt, sondern weitgehend eine Deskription der Situation des Sprechenden darstellt. Wenn ein Teilnehmender sich für alle wahrnehmbar aus der Interaktion hervorhebt, bringt er sich unweigerlich in Konkurrenz zum bestehenden Fokus. Genau dies geschieht, wenn sich ein Teilnehmender nicht gemäss der impliziten Ordnung der Interaktion verhält. Dies ist während der Gebete in den beobachteten Gottesdiensten besonders heikel: Wer während des Gebetes für alle sichtoder hörbar auffällt, gerät in den Verdacht, nicht denselben Fokus wie die anderen einzunehmen und somit ausserhalb des Kollektivs zu stehen.71 Denn mit einem abweichenden Verhalten steht im Falle des Gebets nicht nur die Richtig69 Collins 2010, 6. 70 Vgl. u., 598, Anm. 99. 71 Vgl. Goffman 2007a, 23–52.

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keit des Vollzugs gemäss der Interaktionsordnung, sondern auch die Wahrhaftigkeit der Beteiligung der teilnehmenden Person auf dem Spiel.72 Jemand, der sich nicht auf das transzendente Gegenüber ausrichtet, zeigt an, dass er möglicherweise an dessen Anrufbarkeit (und Existenz) zweifelt. Die stilisierte Gebetshaltung und die intrinsisch-rituellen Verhaltensmuster sind Hilfsmittel, welche der Versammlung den Fokus gewährleisten und das Herausfallen Einzelner aus dem rituellen Kollektiv zu verhindern helfen.73

6.4.3

Ein distanziert-nahes Gegenüber im Gebet

Der Gebetskorpus stellt am ehesten einen Gestaltungsfreiraum dar und wird von den Pfarrpersonen auch durch unterschiedlichste, teils rhetorisch strukturierte und poetisch verdichtete Teile bewusst organisiert, was sich auch daran zeigt, dass die Gebete in den meisten Fällen vom Manuskript abgelesen werden. Dennoch konnte auch für das Gebetskorpus festgestellt werden, dass auf Sprechakte, die konkret auf die Situation des Sprechenden und der kopräsenten Teilnehmenden bezogen sind, weitgehend verzichtet wird. Forderungen an das Gegenüber im Gebet etwa beziehen sich in erster Linie auf Veränderungen in der Wahrnehmungsdisposition der Teilnehmenden, deren Wirksamkeit erst in einem übersituationalen Zusammenhang zutage tritt. Die häufige Verwendung von Abstrakta und Zitaten im Gebetskorpus, die dann meist mittels Metaphern (besonders häufig wiederum: die Wegmetaphorik) oder Vergleichen ins heutige Leben übertragen werden, verstärkt überdies den formalen, archaischen und somit distanzierten Charakter der Gebetsinteraktion. In einem Gebet wird im reformierten Gottesdienst nicht direkt bzw. unmittelbar situational mit einem transzendenten Teilnehmenden interagiert, sondern es wird eine stilisierte Handlung vorgenommen, die sich auf intrinsisch-rituelle Muster beruft und nur wenige Abweichungen zulässt (vgl. u., Abschnitt  8.3.2). Es scheint bisweilen als werde die Transzendenz selbst zitiert, da sie in übersituationale (vergangene oder auch zeitgenössische) Zusammenhänge verortet wird. Der im Gebet angesprochene Teilnehmende wird 72 Ich greife hier auf eine Differenzierung von Jürgen Habermas zurück: Er unterscheidet zwischen „Richtigkeit“ (regelkonformes Verhalten) und „Wahrhaftigkeit“ (personen­ gerechtes Verhalten); vgl. Habermas 2009, 230. Die habermas’sche Differenzierung wurde im Hinblick auf die empirische Beschreibung von römisch-katholische Liturgien bereits in der Studie Beyond Ritual von Garrigan angewendet; vgl. Garrigan 2004, 122–125. 73 Bislang wurde in der protestantischen Liturgik lediglich das (vom Textlaut her) normierte Unser Vater als „rituelles Gebet“ besprochen; vgl. dazu Dober 2002. Wie in der vorliegenden Studie zu zeigen versucht wurde, ist Ritualität in einem umfassenderen Sinn eine essenzielle Grundlage der Gebete in reformierten Gottesdiensten.

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Diskussion   

durch diese Ordnung zu einem distanzierten Teilnehmenden an einem stilisierten Gespräch. Die oben analysierten Gebete sind verglichen mit einem alltäglichen Gespräch zwischen einander vertrauten Menschen zweifelsohne stärker formalisiert. Dies liegt erstens daran, dass in ihnen nicht nur die Kommunikation zwischen Gott und Gemeinde (wie die Torgauer Formel suggeriert), sondern zugleich eine Kommunikation zwischen dem Sprechenden und den restlichen phänomenalen Teilnehmenden stattfinden muss. Diese beschränkt sich nicht nur auf die explizite verbale Gebetsaufforderung, sondern spielt auch für die Endphase und den Abschluss des Gebetes eine Rolle. Die Rahmung der Gebete zeigt durch ihre stilisierende Wirkung an, dass im Gottesdienst eine „angemessene Spannung“ gegenüber der Transzendenz besteht und deshalb sowohl deren Nähe als auch deren Distanz betont werden muss.74 Sie bewirkt somit eine theologische Ordnung der Interaktion. Die Nähe wird durch die konkrete Anrede eines Gegenübers angezeigt – vermehrt kommt hier auch das umgangssprachliche „Du“ zum Einsatz.75 Zugleich wird das Gesprochene aber stilisiert durch Abstrakta, Archaismen und poetische Sprache – deutliche Kennzeichen einer „Sprache der Distanz“, die überzeitliche und situationsunabhängige Gültigkeit besitzt. Zu den reformierten Gebeten passt demnach am ehesten eine dialektisch argumentierende Gottesdiensttheorie, wie sie etwa von Michael Meyer-Blanck vertreten wird. Für den evangelischen Gottesdienst gelte s.E. die folgende Norm: „Gottesdienst wird gefeiert unter der Hypothese, daß Gott da ist (‚etsi Deus daretur‘), nicht unter der schwärmerischen Behauptung ‚Gott ist da‘ (‚Deus datur‘), aber auch nicht unter dem resignativen, den Menschen überfordernden Prinzip, Gott sei gar nicht nahe (‚etsi Deus non daretur‘) […].“76

Die „Hypothese“ Meyer-Blancks bildet sich in den reformierten Gottesdiensten einerseits darin ab, dass ein zu naher Gesprächspartner durch distanzsprachliche Zeichen in einem distanzierten Licht erscheint. Andererseits spielen verschiedenste rituelle Marker auf die Gattung des Gesprächs an, die eine unmittelbare Kopräsenz des angesprochenen Teilnehmers voraussetzt. Dies passt gut zum Gott, der da sein kann bzw. dessen Dasein im Glauben erwartet aber nicht an einem Phänomen bestätigt werden kann.77 Gemäss den em­pirischen 74 75 76 77

Vgl. Meyer-Blanck 1997, 65. Dazu kritisch vgl. ibid., 69. Ibid., 60. Diese dogmatische Grundlage versuchten auch systematische Theologen beider westlichen Konfessionen in die Nachkriegsdiskussion einzubringen so etwa Ebeling 1975 oder Rahner 1978. Eine eingehende Analyse dieser Konzepte muss in der vorliegenden Studie allerdings ausbleiben.

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Stilisierte Gespräche – Gebete

Beobachtungen scheint entscheidend zu sein, dass die Nähe bzw. Distanz zum transzendenten Gegenüber nicht bloss mittels angemessener verbaler Bezeichnungen (z. B. Gottesanreden) hergestellt wird. Vielmehr soll der nonphänomenale Teilnehmende (Gott) qua Verschränkung von verbalen und nonverbalen Zeichen der Nähe und Distanz in der Gottesdienstinteraktion angezeigt werden.

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7.

Verständliche Fremdworte – Lesungen

„Oder hören sie nur – heiliges Geräusch? Rezitation tradierter, unantastbarer Texte –  ein Ritus, sich selbst wirksam und wichtig, der Inhalt der Worte von sekundärer Bedeutung?“ K.-H. Bieritz1

In den Kapiteln 4 und 5 wurde versucht, die Fokussierungen der Gottesdienstinteraktion in einem reformierten Gottesdienst auf verbaler und nonverbaler Ebene zu beschreiben und zu interpretieren. Anschliessend wurde das für die Interaktion mit der Transzendenz zentrale Gespräch in Gebeten in Kapitel 6 als stilisierte Konversation interpretiert. Im Folgenden soll eine weiteres Element der Gottesdienste untersucht werden: die Lesungen. In ihnen wird gemäss normativer Vorstellung eine schriftliche Quelle von entscheidender Bedeutung rezitiert. Diese Quelle, der biblische Text, ist theologisch gesehen der verbindliche Kanon der christlichen Religion. Gerade (aber nicht nur) im evangelischen Christentum kommt dem Text eine besondere Bedeutung zu, da mit ihm bzw. in ihm Gott selbst spricht und er damit als Gottes Wort bezeichnet wird. Im Folgenden ist ähnlich wie im vorangehenden Kapitel zu fragen, inwiefern die normative Bedeutung, die den Lesungen theologisch zugesprochen wird, sich in der Interaktionsordnung der reformierten Gottesdienste wiedererkennen lässt.

7.1 Vorbemerkungen Zunächst soll dargelegt werden, wie die normative Bedeutung der Bibeltexte im in der Liturgiewissenschaft auf protestantischer Seite diskutiert und beurteilt wird.

1 Bieritz 1992, 107.

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7.1.1

Verständliche Fremdworte – Lesungen

Verstrickungen zwischen Gottesdienstinteraktion und biblischem Text

Der lutherische Liturgiewissenschaftler Gordon Lathrop stellte die These auf, dass „die Geschichte des christl[ichen] Gottesdienstes am angemessensten als Geschichte der B[ibel] in der Versammlung der Kirche untersucht wird.“2 Ihm zufolge ist die Richtlinie (der Kanon) der christlichen Glaubenspraxis somit seit seiner Entstehungszeit untrennbar mit der Praxis der Verlesung vor einer Gottesdienstöffentlichkeit verbunden. Die heute als Bibel bekannte Sammlung von hebräischen bzw. griechischen Texten wurde in erster Linie zusammengestellt, um sie in gottesdienstlichen Versammlungen verlesen zu können. Noch bis in die Frühe Neuzeit hinein waren die biblischen Texte den meisten Gläubigen vorderhand als im Gottesdienst mündlich vorgelesene Texte bekannt. Gemäss Lathrop ist das Verhältnis von biblischem Text und Gottesdienst ein gegenseitiges: So kann s.E. auch die rituelle Struktur des Gottesdienstes als Auslegungs- und Interpretationsprozess im Gegenüber zu den biblischen Schriften verstanden werden.3 Dieses relativierende Gegenüber des Textes gilt sowohl für dramaturgische „Muster“ und die „Gestalt“ einer gottesdienstlichen Versammlung als auch für die in den Gottesdiensten nahezu aller Konfessionen vorgesehene Bibellesung.4 In seiner Gottesdiensttheorie geht Lathrop so weit, dass er die enge Beziehung zwischen Glaubenspraxis im Gottesdienst und biblischen Texten als wechselseitige, kritische Dynamik auffasst: Das biblische Gegenüber des Gottesdienstes sei immer wieder Kriterium für gottesdienstliche Aktualisierung und liturgische Reform. Allerdings, so Lathrop, sei die Schrift dabei nicht als fixierter Buchstabe, sondern als Symbol für die Wirklichkeit überhaupt zu betrachten.5 Somit sei die in den Texten angezeigte Glaubenswirklichkeit wiederum im Lichte ihrer jeweiligen Realisierung in konkreten liturgischen Feiern kritisch zu betrachten.6 2 Lathrop 1998a, 1433. 3 Gemäss Lathrop gilt dies für die Liturgien von „diversen“ Kirchen, nicht bloss einer besonderen Konfession; Lathrop 1998b, 15.  4 Lathrop 1998a, 1433. 5 Vgl. Lathrop 1998b, 15. 6 In ähnlicher Weise argumentiert auch Gregor Etzelmüller in seiner systematisch-theologischen Habilitationsschrift zur Biblizität verschiedener Liturgiefamilien; Etzelmüller 2010. Allerdings ist der Text s.E. der verbindende Ausgangspunkt verschiedener Liturgiefamilien. Etzelmüller postuliert, dass „[i]ndem sich alle christlichen Liturgien auf die Bibel (und zwar als ihren entscheidenden Prätext) beziehen, sind sie einerseits von anderen Liturgien und kultischen Ritualen unterschieden, andererseits aber auch untereinander verbunden. Der ihnen allen gemeinsame Bezug auf die Heilige Schrift als zentralen Prätext konstituiert eine – auch für nicht-theologische Forschung wahrnehmbare – Einheit der verschiedenen christlichen Litrugien.“ Ibid., 29 f. Die Bibel sorgt aber nicht nur für die Einheit, sondern als „pluralistische Bibliothek“ auch für die jeweiligen spezifischen

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Vorbemerkungen   

271

In der jüngeren Liturgiewissenschaft schliessen insbesondere die Konzepte der dramaturgischen Liturgik an diese Überlegungen an. Die Vorstellung der gezielten Textbezogenheit des ganzen Gottesdienstes wurde für die Deutschweizer reformierte Liturgik7 insbesondere von Alfred Ehrensperger entfaltet. Ehrensperger kommt zur Feststellung, dass für moderne Menschen die unterschiedlichen Teile eines Gottesdienstes oft disparate Orientierungen aufweisen würden, sich mal mehr durch „Verstandesorientierung“ mal mehr durch „Gefühlsorientierung“ auszeichnen würden.8 Demgegenüber plädiert er dafür, dass alle Elemente auf ein ähnliches Leitmotiv bezogen sein sollten, das er durch den biblischen Text gegeben sieht.9 Die Vorstellung, dass der gesamte Gottesdienst eine „Textinszenierung“ darstellt, bildet schliesslich eine Kernthese der performativen Liturgik von David Plüss. Plüss sieht im Gottesdienst ein „Gesamtkunstwerk“, dessen unterschiedliche Elemente mit einem „dramaturgischen Blick“ betrachtet aus unterschiedlichen und aufeinander bezogenen Darstellungsmedien und Modalitäten der Kommunikation bestehe. Im Zentrum der Gottesdienste stehe s.E. dennoch immer „ein Bibeltext“, der gleichsam „das Skript der Inszenierung“ darstelle, obschon in der Lesung, vor der Predigt und in den Gebeten jeweils unterschiedliche Texte zitiert würden.10 Die im Gottesdienst mittels unterschiedlicher Medien und über unterschiedliche Modalitäten hergestellten „Szenen“ ermöglichten in der Rezeption Erfahrungen (Plüss spricht noch umfassender von „Atmosphären“11), denen ein zentraler Text korrespondiere. Die gezielte Auswahl eines Bibeltextes als Grundlage der gesamten Gottesdienstgestaltung sei so

7 8 9 10

11

Differenzen der unterschiedlichen Liturgiefamilien. Auch wenn Etzelmüller dabei mit Recht betont, dass in den unterschiedlichen Liturgien nicht nur explizite Schriftzitate, sondern auch „implizite“ Gestaltungen (z. B. rituelle Sequenzen, nonverbale Gesten und Architektur) sich als Auslegungen biblischer Texte verstehen, verpasst sein Modell die gleichursprüngliche Verknüpfung des biblischen Kanon mit dem Gottesdienst. Nebst der von ihm beleuchteten Biblizität der Liturgien, müsste ebenso die Liturgizität der biblischen Texte herausgearbeitet werden. Für den lutherischen und deutschen Raum argumentieren in ähnlicher Weise: MeyerBlanck 1997; Nicol 2005. Vgl. Ehrensperger 2004b, 5. Vgl. auch Deeg 2012, 492. Vgl. Plüss 2007, 64.225–243. Für Plüss stellt allerdings stets der „Predigttext […] das grundlegende Skript eines Gottesdienstes“ dar; vgl. ibid., 229. Dieser steht am Anfang der „Genese eines Gottesdienstes“ und von ihm „aus entwickelt sich, gleichsam in wachsenden Ringen, der Gottesdienst: die Predigt, die Lieder, die Gebete und die Lesungen. Wird ein Zusammenhang, ein ‚roter Faden‘, in einem Gottesdienst erkennbar, so lässt er sich in der Regel mit dem gewählten Predigttext in Verbindung bringen: mit seinem theologischen Konzept, seinen Bildern und Metaphern, seiner narrativen und szenischen Struktur und/oder seiner ‚Gestimmtheit‘.“ Ibid. Vgl. ibid., 196.

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272

Verständliche Fremdworte – Lesungen

gesehen ein dramaturgischer Kniff, der die Mitte und die Klangfarbe des Gesamtkunstwerkes organisiere.12 Freilich haben weder Ehrensperger noch Plüss ihre Ausführungen so verstanden wissen wollen, dass lediglich ein biblisches Textstück im Gottesdienst zu lesen sei. Vielmehr gehen sie davon aus, dass die vielfältigen Bibelzitate auf einen Bibeltext hin bzw. von ihm ausgehend zu organisieren seien, um eine Einheit im Gottesdiensterleben zu ermöglichen.13 Sowohl der Lutheraner Lathrop als auch die evangelisch-reformierten Entwürfe bestimmen das Verhältnis von biblischem Text und Gottesdienst über ein Drittes, die Ordo (vgl. o., Abschnitt 1.2), die sich in beidem, Bibeltext und gottesdienstlicher Praxis, auf je eigene Weise manifestiert. Dieses dynamische Verständnis des Verhältnisses zwischen Text und Praxis wurde und wird jedoch in der gottesdienstlichen Theorie immer wieder durchkreuzt. So findet sich spätestens seit der lutherischen Orthodoxie immer wieder die Vorstellung, dass der Text selbst als inhaltliche Quelle zu betrachten sei, die in den jeweiligen Gottesdiensten eine rituelle Rahmung erhalte, welche das Verständnis der Texte und deren Bedeutung zur Darstellung bringen soll. Dies zeigt sich auch in der im Eingangszitat von Bieritz angemahnten Diskrepanz zwischen Ritus und den eigentlichen Inhalten in der Bibellesung. In der jüngeren Liturgik wird diese Diskrepanz aber bezweifelt: Das „äussere Wort“ sei ein mündlich kommuniziertes und als solches auch vorgelesenes, vollzogenes, verkörpertes Wort – nicht blosser Inhalt.14

12 Bei Plüss wird dieser Kniff von dramaturgisch-liturgischen Konzepten, die im Gottesdienst eine bestimmte Botschaft inszenieren möchten, abgegrenzt. So kritisiert er Michael Meyer-Blancks Konzept der „Inszenierung des Evangeliums“ dahingehend, dass darin das „Subjekt der Inszenierung […] klärungsbedürftig“ bliebe. Dabei betont er, dass die Liturg_in keinesfalls das „Ereignis des Evangeliums“ bewerkstelligen könne, sondern sich „das Evangelium nur von Gott her ereignen kann“, während gottesdienstliche Inszenierungen „Sache des Menschen“ blieben; vgl. ibid., 241. In seinem Verständnis von Textinszenierung gehe es darum, dass die liturgische Inszenierung „auf der Suche nach dem göttlichen Geheimnis“, „die Bühne“ für das Evangelium als Ereignis „frei“ gebe; vgl. ibid. 13 In ähnlicher Weise argumentiert Thomas Bonhoeffer in seiner persönlich gefärbten Anleitung zur Gottesdienstvorbereitung: „Die in viele Richtungen zerfahrene Aufmerksamkeit der Gemeinde soll einbiegen in eine stetige Kreisbewegung um den Text [gemeint ist der eine Bibeltext, der im Gottesdienst ausgelegt wird].“ Bonhoeffer 1983, 490. Ihm gemäss zielt die exegetische Auseinandersetzung mit einem Text darauf ab, in ihm eine „Intention“ freizulegen, die dann auch beim Verlesen des Textes dazu dient, „die Entscheidungslosigkeit eines liturgischen Singsangs“ zu vermeiden; vgl. ibid. Daraus folgt für Bonhoeffer, dass die Lesung Sache theologischer Experten bleiben soll und nicht Laien überlassen werden dürfe. 14 Im Folgenden soll hierzu insbesondere auf die Habilitationsschrift von Alexander Deeg verwiesen werden, der sich mit dem Verhältnis von Schrift und Kult auseinandersetzt; vgl. Deeg 2012.

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Vorbemerkungen   

7.1.2

273

Empirische Einsichten über die Rezeption von Lesungen im Gottesdienst

Die gottesdienstliche Praxis im Umgang mit den biblischen Texten im Gottesdienst wurde bislang kaum erforscht. Besser sieht die Forschungslage in Bezug auf die Wahrnehmung der biblischen Texte als Teil des Gottesdienstes aus. „Die biblischen Texte als Element des Gottesdienstes“, so meint Uta Pohl-Patalong im Hinblick auf ihre qualitative Interviewstudie zum Gottesdiensterleben, „werden von den Befragten kaum von sich aus angesprochen, und die Frage nach ihnen bietet meist nur einen geringen Erzählimpuls.“15 Im von ihr befragten Rezipientenkreis evangelischer Gottesdienste in Deutschland finden sich jedoch unterschiedliche „Erlebnislogiken“ zu den biblischen Lesungen. Die Rezeption der Bibellesungen scheint stark davon abzuhängen, welchen Stellenwert man ihnen grundsätzlich beimisst. So meint ein junger Informant, dass die Lesungen „für ihn persönlich […] relativ unwichtig“16 seien, während andere Informanten die Lesungen gar als „Brückenpfeiler“ oder „Voraussetzung“ für den gesamten Gottesdienst bezeichneten.17 Es ist schwer vorstellbar, dass letztere „Logik“ das „Erleben“ der Teilnehmenden wiedergibt. Diese Haltung dürfte wohl durch das liturgiehermeneutische Basiswissen der Teilnehmenden bedingt sein. Aber auch wenn man Pohl-Patalongs Fokus auf das „Erleben“ der Gottesdienstelemente beibehält, kommt man aufgrund der von ihr gesammelten Aussagen zum Schluss, dass Lesungen in einem Gottesdienst keine Selbstevidenz besitzen und oft nicht einmal einen Anstoss zum Nachdenken erzielen können.18 Wenn also etwas über die Lesungen im Gottesdienst bemerkt wird, dann – so ein Gedankenexperiment, das mehrere Informanten von Pohl-Patalong anstellen – wäre es ihr Fehlen, das sie als „komisch“ erleben würden. Allerdings weisen die Formulierungen dieser Gedankenexperimente wie Pohl-Patalong bemerkt eher auf einen „objektiven“ als einen „subjektiven“ Mangel hin.19 Somit erweist sich die Lesung als ein Element im Gottesdienst, das für die Teilnehmenden pro forma unabdingbar, für deren subjektive Verarbeitung des Gottesdienstgeschehens aber tendenziell irrelevant ist. Aufgrund dieser Beobachtungen aus der Interviewstudie Pohl-Patalongs werden die Lesungen nun aber besonders interessant für die vorliegende interaktionsanalytische Studie. Wird davon ausgegangen, dass die Interaktionsordnung den Teilnehmenden zunächst und vorderhand ihre Teilnahme am Ge15 Pohl-Patalong 2011, 131. 16 Dabei verweist Pohl-Patalong auf die Einschränkung dieser Beobachtung durch das kleine Sample an Informanten; Ibid., 134, Anm. 43. 17 Vgl. ibid., 132. 18 Vgl. ibid., 131. 19 Vgl. ibid., 132.

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

schehen ermöglicht, und es erst in einem zweiten Schritt darum geht, dass sie in der Interaktion bestimmte Informationen erhalten, dann lassen sich die Lesungen – unabhängig von ihrer subjektiven Bewertung – als Element, das zur Konstitution der Gattung des Gottesdienstes beiträgt, verstehen. Die relative Indifferenz gegenüber den tatsächlichen Inhalten von Lesungen kontrastiert mit dem starken Empfinden ihrer Notwendigkeit in einem Gottesdienst. Wie lässt sich dann die Bedeutung von Lesungen verstehen? Worin besteht ihr spezifischer Stellenwert für den gesamten Gottesdienst? Sind sie – um das Eingangszitat von Bieritz aufzunehmen – eher Ritus oder eher Inhalt? Die folgenden Analysen sollen diese Fragen erörtern.

7.2

Überblick über das Element Lesung

Wie sehen Lesungen in gegenwärtig stattfindenden Gottesdiensten aus? Aus den Sequenzprotokollen des Samples lassen sich zunächst in einer Übersicht einige Charakterzüge bestimmen.

7.2.1

Definition des Elements

Sequenzen, in denen Texte zitierend vorgelesen werden, kommen in sämtlichen Gottesdiensten des vorliegenden Samples vor. In vielen Gottesdiensten werden sogar mehrere Texte gelesen.20 In einigen Fällen sind die Lesungen nicht monologisch, sondern als Wechsellesung bzw. als auf verschiedene Akteure ver20 Die 1972 erschienene Liturgie widmet sich in der „Einführung“ in die liturgischen „Ordnungen“ auch dem Thema „Schriftlesung“. Es wird vorgeschlagen, die „heute weithin übliche Ordnung mit einer Schriftlesung“ gemäss den drei verschiedenen Modellen jeweils um eine zweite Schriftlesung (Ordnung 1), einen Bussteil (Ordnung 2) oder eine Taufe (Ordnung 3) zu ergänzen; vgl. LKDS 1972, 19. Dabei versteht die Liturgiekommission unter „Schriftlesung“ nicht den Predigttext, der direkt vor der Predigt zu lesen ist (im Modell daher „Text + Predigt“), sondern einen biblischen Text, der „im Vorblick auf den Predigttext ausgewählt werden“ soll; Ibid., 31. Allerdings wird nebst den drei Ordnungen auch noch ein Modell namens „Einfachste Ordnung“ erwähnt, das laut der Kommission „noch vielfach in Gebrauch steht“ und auch „einen echten, vollwertigen Gottesdienst“ darstelle; vgl. ibid., 25.19. Auch im Reformierten Gesangbuch (RG) von 1998 werden Ordnungen (RG 150–153) vorgeschlagen, die sich im Wesentlichen an den Ordnungen der Liturgie orientieren; vgl. VHERGS 1998, 235–238. Allerdings wird hier jeweils nur noch von „Schriftlesung“ (im Singular!) und von „Predigt“ (ohne den voraus zu lesenden „Text“) gesprochen. Die Ordnungen im RG werden dort explizit als „Gerüste“ bezeichnet, „an denen in verantwortlicher Freiheit weitergebaut werden kann und soll“, was den reduzierten Charakter der Auflistung erklärt; vgl. ibid., 234.

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Überblick über das Element Lesung  

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teilt gestaltet. Anders als die normativ argumentierende Liturgiewissenschaft, die weder Wechsellesungen noch inszenierte Lesungen als Lesung im eigentlichen Sinne bezeichnen würde, sollen im Folgenden auch diese Sequenzen mitbeachtet werden. Somit wird wiederum eine offenere Definition der Lesung angewandt, welche sie als zitationale Sprecheinheiten, die nicht in andere Sprech­ einheiten (z. B. die Ersten Sprecheinheiten oder Gebete) eingefügt sind, sondern für sich stehen, versteht.

7.2.2

Überblick über das Sample und Herleitung der Fragestellung

Abbildung 22 zeigt eine Übersicht über sämtliche Lesungen und ihre jeweiligen Teilelemente. Die Übersicht über die unterschiedlichen Lesungen zeigt das bereits bekannte heterogene Bild von Gottesdienstgestaltungen unter den Bedingungen der Agendenfreiheit: Die Lesungen finden in allen Gottesdiensten vor der Predigt statt. Ihre Anzahl variiert zwischen einer und drei, wobei auch Wechsellesungen von Psalmtexten vorgesehen sind. Besonders interessant ist aber, dass Lesungen oft von Lektor_innen und nicht von Pfarrer_innen durchgeführt werden. Die aus der Übersicht gewonnenen Gesichtspunkte leiten die Detailanalysen im Folgenden insbesondere hinsichtlich zweier Fragen an: 1) Wie wird eine Lesung als Lesung markiert und von anderen rituellen Sequenzen im Gottesdienst unterschieden? 2) Wie wird die Rolle der Lektor_innen interaktional konstituiert?

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Zürcher 2007 Zürcher 2007 Mk 14, 32–42

Hebr 5,7

Eigene Ü Ps 116,1–19

[auf Aufnahme nicht sichtbar]

Luther 1984 Mk 14,3–9

Ms auf Lesepult abgelegt BiGS Ps 69,2–9

Bibel auf Lesepult abgelegt Zürcher Bibel 2005 Lk 6,47–49

RG vor sich RG 112 Ps 23

Lektorin

C

Anis-C

Anis-D

Einleitung zum Psalm (Frage an P) Lesekorpus 1 (i.W.) Orgelvorspiel Lied Ansage(n) Lesekorpus 2 „Stille“ (56.8) Lesekorpus 3 (11.7) Musik

P & Lektorin

Lektorin Anis-A

Ansage Anweisung (8.9) Anweisung (7.2) Lesekorpus 1 (i.W.) Abtritt P Musik Auftritt L Ansage Präfamina (2) Lesekorpus 2 Abtritt L/ Auftritt P

Auftritt L Ansage (1.8) Lesekorpus 1 (–) Amen Abtritt L Musik Auftritt L Ansage (4.9) Lesekorpus 2 (. .) Amen Abtritt L/ Auftritt P Liedansage

Anis-B

Mt 11,28–30

„Hoffnung für alle“ Jes 66,10–13

Lesende

Abtritt P/ Auftritt L Ansage (1.9) Lesekorpus 1 Abtritt L Musik Auftritt L Ansage (2) Lesekorpus 2 Abtritt L/ Auftritt P Liedansage

Fall

Sequenz der Elemente (die Sprechpausen sind nur innerhalb einer Redeeinheit markiert)

Vorlage für Wortlaut

Bibel z. T. auf Lesepult abgelegt

Verständliche Fremdworte – Lesungen

Zitierte Verse

Sichtbare Textquelle

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RG vor sich

Lesemappe schwarz (DIN A4) auf Lesepult

RG 115

Zürcher 2007

„Hoffnung für alle“

Ps 30

Lk 24,13–35a (mit Überschrift in der Bibel!)

Mt 4,1–11

P&L

Konfirmanden (Kk 1 und Kk 2) Anis-G

Auftritt Konfirmanden Ansage Lesekorpus (verteilt, szenisch) Abtritt Kk1/ Auftritt Kk2

Anis-F

P & Lektor Anis-E

(3.7) Ansage Anweisung (10.7) Lesekorpus 1 (i.W.) (1.8) Liedansage Orgelvorspiel Lied Abtritt Vorsängerin/ Auftritt L Ansage (. .) Lesekorpus 2 (4.9) Ansage Musik

Mss auf Lesepult abgelegt

Bibel auf Lesepult abgelegt BiGS Mt 27,32–56

Lesende Fall

RG vor sich RG 111 Ps 22

Auftritt L Ansage (4.9) Anweisung (5.5) Lesekorpus 1 (i.W.) Abtritt L/ Verschiebung P Liedansage P Orgelvorspiel Lied Auftritt L Ansage (1.5) Lesekorpus 2 Abtritt L/Auftritt P Ansage Zwischenspiel

Sichtbare Textquelle Vorlage für Wortlaut Zitierte Verse Sequenz der Elemente (die Sprechpausen sind nur innerhalb einer Redeeinheit markiert)

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Bibel auf Lesepult abgelegt

Bibel auf Lesepult abgelegt

Zürcher 2007

Zürcher 2007

Zürcher 2007

Zürcher 2007

Lk 1, 46b-55

Offb 3, 14–22

Ex 34,1–10a (angesagt Ex 34,4–10)

Eph 4,23–32 (angesagt Eph 4,22–32)

Lektorengruppe (Ll)

Pf

P

P

Burg-A

Burg-B

Chiem-A

Chiem-B

(25.5) / Gg setzen sich Ansage (4.9) Lesekorpus Abtritt Pf Musik

Lesende

P geht auf Kanzel/ Ll stehen auf Ansage (2.8) Lesekorpus 1 Lesekorpus 2 (Wiederholung; verteilt, szenisch) Abtritt Ll Predigt P

Fall

Sequenz der Elemente (die Sprechpausen sind nur innerhalb einer Redeeinheit markiert)

Bibel(n) vor sich gehalten Zürcher 2007 Mt 22, 34–40

Auftritt P Ansage (1.1) Lesekorpus (1.3) Amen Abtritt P

Auftritt P Ansage Präfamina (.) Lesekorpus 1 (1.1) Amen (3.9) Musik Ansage (1.6) Lesekorpus 2 (1.4) Amen (6.4) Ansage Lied

Sichtbare Textquelle Vorlage für Wortlaut Zitierte Verse

Bibel vor sich gehalten

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Bibel vor sich gehalten

Zürcher 2007

Zürcher 2007

Mi 4,1–5 (beim Lesen zwei Wörter weggelassen)

Mi 4, 1–4a

Anweisung P Abtritt P/Auftritt Kk Lesekorpus (verteilt) Abtritt Kk/Auftritt P Danksagung P Postfamina = Ansage einer Sprechmottete

Bibel vor sich gehalten (zwischen beiden Kk!)

Sichtbare Textquelle

Vorlage für Wortlaut

Zitierte Verse

Sequenz der Elemente (die Sprechpausen sind nur innerhalb einer Redeeinheit markiert)

(14.3) / Zeichen sich zu setzen, Gg setzen sich Ansage (3.3) Lesekorpus (10.5) Liedansage

Abbildung 22: Übersicht über die Lesesequenzen im Sample

P, Konfirmandinnen

P

Dime-A2

Dime-B

Lesende

Fall

Überblick über das Element Lesung  

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

7.3 Sequenzanalysen  7.3.1

Auftritte von Lesenden

Die Lesungen werden in einigen Gottesdiensten durch zusätzliche Protagonist_ innen durchgeführt. Dies wird bereits in den Erläuterungen zur Gottesdienstordnung der Liturgie von 1972 vorgeschlagen: „Wir empfehlen nachdrücklich, gelegentlich oder regelmässig Laien (Kirchenvorsteher, Jugendliche) mit der Schriftlesung zu beauftragen.“21

Im vorliegenden Sample verfügen die Gemeinden Aniswil* und Burgnellen* jeweils über einen Kreis von ehrenamtlichen Personen, von denen regelmässig (allerdings nicht in jedem Gottesdienst) jeweils eine die Lesungen übernimmt. Auch in Dimels*, wo es keinen solchen Kreis gibt, wird in Dime-B eine Lesung von zwei Jugendlichen (Konfirmandinnen) durchgeführt. 7.3.1.1 Implizite Übergabe In Anis-A treten die beiden Protagonist_innen gemeinsam auf und haben ihre Sitzplätze abgesondert von den restlichen Teilnehmenden im Chorbereich rechts (vgl. o., Clip 4.2). Nach dem Gebet, das P spricht, erfolgt folgender nonverbal verlaufender Positionswechsel: [Clip 7.1, Anis-A 1:06:21.8–1:06:39.9] Nach dem Gebet hält P ihren Blick noch 0.7s auf das Manuskript gerichtet.

[Anis-A 1:06:22.0]

21 LKDS 1972, 27.

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Sequenzanalysen   

Anschliessend blickt sie auf und hält ihren Blick für einen Moment direkt auf die restlichen Teilnehmenden gerichtet.

[Anis-A 1:06:23.9]

Nach diesem Moment nimmt sie beide Hände hinter das Manuskript und hebt es so hoch, wobei sie ihren Blick wieder zum Manuskript hinab senkt.

[Anis-A 1:06:25.4]

[Anis-A 1:06:27.7]

P dreht sich linksherum ab und hält dabei ihren Blick noch weiter auf das Manuskript gerichtet. Sie geht einen Schritt. Zu diesem Zeitpunkt blickt L auf und fokussiert P blicklich, ohne dass ihr Blick von P direkt erwidert wird; die Kontaktaufnahme bleibt peripher. P bleibt im Gehen auf das Manuskript fokussiert und blättert noch eine Seite um.

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

Vor ihrem Sitzplatz dreht sich P rechtsherum und nimmt dabei ihren Blick vom Manuskript wieder hoch. Sie fokussiert dabei allerdings weder die restlichen Teilnehmenden noch einen bestimmten im Raum befindlichen Gegenstand. [Anis-A 1:06:30.0]

Während sich P setzt, dreht sie sich mit ihrem Oberkörper noch weiter nach rechts aus. L kommt so in ihre periphere blickliche Wahrnehmung. Nach kurzer Verzögerung beugt sich L vor und erhebt sich, allerdings ohne direkten Blickkontakt zu P. [Anis-A 1:06:31.1]

Während des Ganges hält P ihr Buch mit beiden Händen vor sich und fokussiert mit ihrem Blick die Ablagefläche des Lesepultes.

[Anis-A 1:06:32.7]

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Sequenzanalysen   

[Anis-A 1:06:34.6]

Sie kommt direkt hinter dem Pult zu stehen und bringt ihre Hände vor sich über die Ablagefläche. Ihre Hände halten die beiden Buchdeckel zusammen, ihre Daumen befinden sich über der Öffnungsseite des Buches. Anschliessend senkt sie das Buch mit dem Rücken auf die Ablagefläche ab und öffnet es zugleich mit beiden Daumen. Mit dem Blick fokussiert sie die Ablagefläche bzw. das Buch vor sich. L dreht ihren Kopf leicht nach links aus und neigt ihn dabei leicht zur Seite. Blicklich fokussiert sie die Ablagefläche bzw. das Manuskript.

[Anis-A 1:06:36.5]

Nun blickt P auf und fokussiert blicklich die restlichen Teilnehmenden, indem sie ihren Kopf leicht über die Sichthöhe nach oben bringt.

[Anis-A 1:06:37.4]

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

L wendet ihren Blick nochmals für einen kurzen Moment dem Manuskript zu, diesmal aber in gerader Kopfhaltung.

[Anis-A 1:06:38.3]

Zuletzt blickt L mit einer schnellen Bewegung hoch, hält dabei ihren Kopf leicht nach links ausgedreht und wiederum leicht über Blickhöhe. Aus dieser Position beginnt sie zu sprechen. [Anis-A 1:06:39.6]

Anschliessend an das vorgehende Gebet wendet sich P wieder dem Manuskript zu und hebt dieses vom Pult hoch. Das Manuskript rückt damit als vom Lesepult losgelöster (und für P mit den Händen greifbarer) Gegenstand in den Fokus der Interaktion. Damit wird der in ihrem visuellen Fokus stehende Gegenstand aus seiner zentralen Position entfernt und der Ort seiner vormaligen Fokussierung, die Ablagefläche des Lesepultes, wird leer. P zeigt zwar deiktisch noch an, dass der Text im Fokus steht. Sie dreht sich aber positional aus dem Fokus der Interaktion und macht die Sprechposition hinter dem Lesepult frei. Während ihres Ganges von hinter dem Lesepult zu ihrem Sitzplatz ist nicht klar, welche Relevanz ihrer Person noch zukommt: ist sie noch auf der Bühne oder bereits im Off der Interaktion? Diese Unklarheit wird dadurch verstärkt, dass keine Übergabe der Handlungsleitung, d. h. kein Turn von P an L ersichtlich ist. Vielmehr handeln beide Protagonist_innen weitgehend jeweils nach einem eigenen Handlungsablauf. So wird L während des Ganges von P diese mit dem Blick fokussiert. L erwiedert den Blick aber nicht. L zeigt somit einen möglichen TRP an, dieser wird aber von P nicht bestätigt. Eine Wahrnehmungswahrnehmung zwischen P und L findet nur im kurzen Moment statt, in welchem P sich während des Sich-Setzens L peripher zuwendet. Diese Form der Zuwendung, die allerdings zu keinem © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Sequenzanalysen   

direkten Augenkontakt führt, wird von L als Signal dafür interpretiert, sich nun zu erheben und den Sprechort hinter dem Lesepult einzunehmen. Für P hingegen scheint hier eine andere Logik zu gelten: Sie orientiert ihr Handeln alleine intrinsisch an einem Ablauf, den sie vorgegeben hat. Während L nach aussen kommuniziert, orientiert sich P nahezu ausschliesslich nach innen, intrinsisch. Beim Schreiten zum Lesepult bleibt der Blick von L auf die Ablagefläche gerichtet, über welche sie dann das von ihr mitgeführte Buch in langsamer Bewegung aufschlägt und ablegt. Die Bewegung hebt das Buch als Gegenstand hervor, da es nicht erst auf der Ablagefläche, sondern für alle sichtbar über der Lesefläche aufgeschlagen wird. Es ist dadurch sowohl deutlich, dass der zentrale Platz für fokussierte Gegenstände nun wieder besetzt ist, als auch, welche Quelle (nämlich ein Buch) auf ihn zu liegen kommt. Die nachfolgende Sequenz von Blick zu den Gemeindegliedern, Blick zurück zum Buch (diesmal mit leicht schräggeführtem Kopf, was ein Lesen anzeigt: von links nach rechts) und ein abschliessender Blick zu den Gemeindegliedern ist bereits aus den Auftrittssequenzen bekannt: L übernimmt als Lesende das Verhaltensmuster der vermittelnden Protagonist_in vollständig von P. 7.3.1.2 Explizit angezeigte Übergabe der Handlungsleitung In den meisten Fällen erfolgt jedoch kein Positionswechsel coram publico, sondern geht die Handlungsleitung im Anschluss an ein Musikstück an L über. [Clip 7.2, Anis-E 0:44:59.8–0:45:25.7] Die Musik des Gemeinde­ liedes, für das sich alle Teilnehmenden an ihren Sitzplätzen mit Blick nach vorne zum leeren Chorraum erhoben haben, endet.

[Anis-E 0:44:59.8]

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

[Anis-E 0:44:01.7]

Alle Teilnehmenden wenden sich nach links oder rechts seitlich aus, schauen hinter sich auf die Sitzfläche und nehmen Platz. P und L wenden sich einander zu. P blickt allerdings nicht auf die Sitzfläche neben oder hinter ihm, sondern sucht Augenkontakt mit L, den dieser aber nicht erwidert. Während P sich wie alle anderen setzt, versucht er weiterhin den Augenkontakt mit L herzustellen. Dieser wendet sich aber nun in die entgegengesetzte Richtung von P ab, um sich zu setzen.

[Anis-E 0:44:03.3]

Als sich beide gesetzt haben, wendet nun auch P seinen Blick von L ab und greift neben sich auf die Sitzfläche.

[Anis-E 0:44:04.3]

Nach etwa 1s wendet er seinen Kopf L erneut zu, dieser dreht seinen Kopf ebenfalls zu P hin: eine gegenseitige blickliche Wahrnehmungswahrnehmung ist kurz hergestellt, verbleibt aber flüchtig (d. h. peripher). [Anis-E 0:44:05.8]

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Sequenzanalysen   

[Anis-E 0:44:07.9]

Im Moment der Wahrnehmung erhebt sich L wieder und bleibt dabei im Blickkontakt mit P. P nickt während des Sich-Erhebens von L ihm mehrmals mit dem Kopf zu. Anschliessend schreitet P hinter das Lesepult. Dabei hält er ein Buch mit beiden Händen vor sich. Nachdem P das Buch auf die Ablagefläche gelegt hat, dreht er seinen Oberkörper nach links aus und rückt mit der linken Hand das Mikrophon zurecht. Mit dem Blick fokussiert er dabei das Mikrophon.

[Anis-E 0:44:14.3]

Anschliessend wendet er sich dem Buch zu, das er auf der Ablagefläche aufstellt und mit beiden Händen öffnet.

[Anis-E 0:44:16.7]

Mit beiden Händen neben dem aufgeschlagenen Buch beginnt er seine Rede.

[Anis-E 0:45:25.7]

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

Am Beginn dieser Sequenz steht ein Vorgang, der offenbar ohne weitere Anweisungen und Verständigungen zustande kommt: Die Musik des Liedes endet mit dem letzten Ton, dieser wiederum ist ein Signal dafür, dass sich die Teilnehmenden wieder setzen sollen. P, der vor dem Lied als Protagonist aufgetreten ist, dreht seinen Körper allerdings etwas stärker zu seinem rechten Nachbarn aus und er hält seinen Blick oben. Beide setzen sich schliesslich, ohne dass ein Blickkontakt erfolgt. P versucht es daher erneut, und der Kontakt kommt zustande, als L seinen Kopf nach links ausdreht. Beim Blickkontakt erfolgt ein turn, zu dem P L ein Zeichen gibt. Obschon die gegenseitige Wahrnehmungswahrnehmung nur von kürzester Dauer ist, blickt P L nach und nickt dazu einige Male mit dem Kopf. Dies lässt sich als Versuch der Vereindeutigung des Zeichens verstehen. Sowohl die wiederholten Versuche von P, mit L Blickkontakt aufzunehmen, als auch das abschliessende mit Kopfgeste quasi verdoppelte Zeichen weisen darauf hin, dass P hier eine Mitteilungsabsicht anzeigt. Dies obschon L die Leitung der Interkation bereits übernommen hat, indem er sich erhebt und nach vorne geht. P zeigt so, dass er die Handlungsleitung weiterhin innehat. Auch wenn L seinen Einsatz intrinsisch-orientiert ausführen würde, konstruiert P durch sein Nachdoppeln hier eine extrinsische Situation für L. Dadurch bestätigt P seine Rolle als Protagonist_in in der Interaktionsordnung auch dort, wo die Interaktion von ihm lediglich ein Signal zur Initiation des turn bräuchte. 7.3.1.3 Explizit verbalisierte Übergabe der Handlungsleitung Schliesslich kann die Übergabe auch explizit, nämlich verbal angezeigt werden, so etwa in Dime-B: P: ich bitte jetzt die ↓××↑× und die (.) ↓*××↑×, herauszukommen, bringt ihr grad die (.) ↑bi↓bel, die dort (.) rübergeraten ist, hier her, (28.8) K1: ähm, von zion

[Clip 7.3, Dime-B 0:25:11.5–0:25:48.022]

22 Der Abschnitt wurde hier an der Stelle gesetzt, wo P sich gesetzt hat, was erst nach Beginn der Rede der Konfirmandinnen erfolgt. Die Zeigegeste (ausgestreckter Arm mit Zeigefinger) ist im Transkript mit einer Wellenlinie markiert. Ein redebegleitendes Kopfnick-Zeichen von P ist mit „*“ markiert.

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Sequenzanalysen   

[Dime-B 0:25:11.5]

Vor der Sequenz wird das Eingangsgebet gesprochen, bei welchem in Dimels* alle Gemeindeglieder eine stehende Haltung einnehmen. Anschliessend an das „amen“ setzen sich die Gemeindeglieder, P aber bleibt stehen und blickt, sein Manuskript in der rechten Hand haltend, zur Gemeinde. P blickt während der Rede in Richtung von zwei Personen, die sich im vorderen Bereich des Raumes in der rechten Bankhälfte befinden. Bei der Aussprache des zweiten Namens nickt er redeunterstützend mit dem Kopf.

[Dime-B 0:25:13.9]

[Dime-B 0:25:14.9]

Mit leichter Verzögerung auf das Kopfzeichen von P dreht eine Person in der ersten Reihe ihren Kopf nach rechts aus (Kreis) in Richtung einer anderen Person (Pfeil), die sich etwa zeitgleich im Sitzen zurechtrückt und ihre Kopfhaltung nach links der ersten Person zuwendet. Anschliessend an diesen Seitenblick drehen sich beide Personen in Sitzrichtung zurück und erheben sich zeitgleich.

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

P unterstützt den verbalen Hinweis auf den interaktionsrelevanten Gegenstand „­ Bibel“ durch eine Zeigegeste.

[Dime-B 0:25:16.9]

[Dime-B 0:25:28.6]

Die beiden Konfirmandinnen gehen in die Mitte des Chorraumes, K1 macht einen Umweg, in dem sie auf der ersten Sitzbank rechts noch die Bibel aufhebt. Sie stellen sich hinter bzw. seitlich vom Taufstein auf. K1 legt den Gegenstand darauf ab. Ihr Blick ist fortan auf das Manuskript bzw. die Ablagefläche auf dem Taufstein gerichtet. P fokussiert die Konfirmandinnen während ihres Nachvornekommens mit dem Blick und gibt ihnen mehrmals ein Kopfnick-Zeichen. Dann beugt er sich über die aufgelegte Bibel und blättert darin mit der linken Hand, während seine rechte Hand noch das aufgeschlagene Manuskript hält.

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P blickt leicht hoch und nimmt das Manuskript von der rechten in die linke Hand und schliesst es dabei. Mit seiner rechten Hand rückt er das biegbare Mikrophon zurecht. K1 folgt seiner Hand dabei mit dem Blick. [Dime-B 0:25:37.5]

P dreht sich rechtsherum vom Taufstein weg und geht mit vor sich gesenktem Blick zu seinem Sitzplatz in der ersten Bankreihe links. Das Manuskript hält er dabei geschlossen mit beiden Händen vor sich. [Dime-B 0:25:40.4]

P wendet sich vor seinem Sitzplatz in Richtung der Konfirmandinnen um. Er nickt zweifach mit dem Kopf. Erst im Anschluss daran kommt es zu einem erneuten Blickkontakt bevor K1 ihren Blick zum Ms senkt. [Dime-B 0:25:42.1]

P blickt (3.9s) stehend in Richtung der Konfirmandinnen. Dann setzt er sich erst nachdem K1 die ersten Worte („ähm von Zion“) gesprochen hat.

[Dime-B 0:25:46.9]

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Mit dem Sprechakt „Ich bitte jetzt die […] herauszukommen“ verbalisiert P eine Aufforderung an bestimmte andere Teilnehmende. Die illokutionäre Leistung dieses Sprechaktes liegt darin, auf zurückhaltende Art und Weise bestimmte Teilnehmende dazu zu bringen, eine bestimmte Handlung zu vollführen. Beim Sprechakt ist insbesondere die Mimik von P interessant: Er blickt in Richtung der entsprechenden Teilnehmenden und lächelt ihnen mit erhobenen Augenbrauen zu.23 Der Blickkontakt mit den Angesprochenen lässt sich aber nicht nur durch ihren gleichlautenden Namen erklären, sondern zeigt die Übergabe der Handlungsleitung von P auf die betreffenden Konfirmandinnen an. P nutzt dazu die deiktische Wirkung seines Blickes aus. Die Angeblickten werden somit für einen kurzen Moment in die Aufmerksamkeit der gesamten Interaktion gerückt. Dies soll nun dazu dienen, dass bei den Konfirmandinnen ein intrinsisch bekanntes (bzw. vor dem Gottesdienst vereinbartes) Verhaltensmuster ausgelöst wird: Sie sollen nach vorne kommen und einen Text aus der Bibel vorlesen. Der Blick wirkt als Kontrollblick, der die Ordnung der gesamten Interaktion auf einzelne Teilnehmende anwendet.24 Der Sprechakt fungiert hier  zusammen mit der blicklichen Deixis und im Kopfnicken von P als Signal, das ein intrinsischrituelles Verhalten auslösen soll. Anders verhält es sich mit dem zweiten Sprechakt von P, der wiederum gestisch untermalt wird durch zwei unterschiedlich lange Zeigegesten. „Bringt ihr grad die Bibel […] hierher“ ist unmoduliert als Aufforderung an die zuvor Adressierten formuliert, wobei diese jetzt nicht mehr in der 3. Person, sondern in der 2. Person angesprochen werden. Die Zeigegeste fokussiert den zu holenden Gegenstand direkt. Dieser Sprechakt referiert nun nicht mehr auf ein intrinsisch-rituelles Skript, das allen bekannt ist, sondern stellt eine situative Kommunikation zwischen P und den Konfirmandinnen dar. Dieser zweite Sprechakt ist für die gesamte Interaktion relevant, da P immer noch als Protagonist auftritt (er ist der einzige Teilnehmer, der über ein Mikrophon verfügt). Er zeigt ein Objekt, das für die Interaktion von Relevanz ist: die Bibel. Dieses mit Namen versehene Objekt wird nun von einer marginalen Posi23 Da beide Teilnehmenden denselben Rufnamen haben kommt es zu einer von P selbst beim Sprechen als ungewöhnlich angezeigten Doppelung: P lässt vor dem Aussprechen des zweiten Namens eine Pause, ahmt die Prosodie der ersten Aussprache nach und unterstreicht die Aussprache des zweiten Namens mit einem Kopfnicken in Richtung der angesprochenen Person. Damit wird angezeigt, dass es sich nicht um eine tatsächliche Doppelung handelt (als ob P dieselbe Person zweimal ansprechen würde), sondern um zwei unterschiedliche Zeigeleistungen, was sich auf der verbalen Ebene  – komischerweise – eben nicht abbilden lässt. 24 Es lässt sich etwa beobachten, dass einzelne Teilnehmende versuchen, die von P fokussierten Teilnehmenden in der ersten Reihe rechts auszumachen, indem sie an den vor ihnen sitzenden Teilnehmenden vorbeizuschauen versuchen (das Hin-und-her-Rücken des Kopfes).

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tion auf die Ablagefläche gebracht und stärker in den Fokus der restlichen Teilnehmenden gerückt. Die Kommunikation zwischen P und den Konfirmandinnen setzt sich anschliessend um den Taufstein fort. Nachdem die Bibel aufgeschlagen wurde, wendet P sich ohne weiteren Blickkontakt von den Konfirmandinnen ab, die ihre Blicke auf die aufgeschlagene Bibel halten. Für einen kurzen Moment bilden die drei Protagonisten eine F-Formation25, eine auf gleichseitige Kommunikation angelegte Positionierung. P verbleibt aber nicht nur durch seine die beiden Konfirmandinnen überragende Grösse und seine liturgische Kleidung der primus inter pares. Er ist insbesondere derjenige, der durch das Blättern der Bibelseiten, kleine Zeigegesten in den Bibeltext hinein, durch das Zurechtbiegen des Mikrophons (einer akustischen Fokussierungsressource) sowie durch verbale Hinweise die Interaktion anführt. Anschliessend wendet sich P vom Taufstein ab und verlässt die F-Formation in Richtung seines Sitzplatzes. Für einen Moment ist nicht klar, ob der Fokus der gesamten Interaktion noch auf P oder auf die verbleibenden zwei Protagonistinnen übergehen soll. Die Unsicherheit wird noch dadurch verstärkt, dass eine der Protagonistinnen, die nahe beim Mikrophon steht, P weiterhin mit ihrem Blick fokussiert und somit blicklich von sich weg auf ihn zeigt. Als P sich vor seinem Sitzplatz umwendet und so den Blick von K1 erwidert, wird dies von K1 als Signal zur definitiven Übernahme der Interaktionsführung interpretiert: sie senkt ihren Blick in die Bibel und beginnt vorzulesen. P setzt sich erst nach den ersten Worten von K1. Er nickt in dieser Blickrichtung sogar noch einmal mit dem Kopf als K1 bereits ihren Blick abgewendet hat. Dadurch macht er deutlich, dass seine Fokussierung über die turn-Übergabe hinaus die Interaktion bestimmt. Trotz seines Rückzuges aus dem fokussierten Bereich des Raumes behält P somit die Rolle des Protagonisten weiterhin inne. 7.3.1.4 Gemeinsamer Auftritt Eine besondere Form ist der gemeinsame Auftritt, bei welchem eine lesende Person zusätzlich zu P den Fokussierungsraum im Chor betritt. Im Sample ist dies nur bei Anis-E der Fall: wir lesen miteinander (.) im wechsel. den zweiundzwanzigsten psalm. er steht bei der nummer hundertelf.

[Clip 7.4, Anis-E 0:36:22.8–0:36:52.326] 25 Zur Begrifflichkeit vgl. Kendon 1990, 249 f. 26 Der Clip wurde bis zu der Stelle geschnitten, an welcher der Lektor seinen Platz hinter dem Stehpult eingenommen hat.

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Nach dem vorangehenden Gebet erhebt P den Blick in Richtung der restlichen Teilnehmenden.

[Anis-E 0:36:28.0]

Anschliessend dreht er sich linksherum aus und nimmt von der Sitzbank rechts ein Buch (das RG) zur Hand.

[Anis-E 0:36:29.9]

[Anis-E 0:36:33.3]

Mit dem RG in beiden Händen dreht er sich den restlichen Teilnehmenden wieder zu. Dieses Mal blickt er in Richtung der rechten ­ Publikumshälfte und scheint jemanden in der ersten Sitzreihe zu fokussieren. Er macht in diese Blickrichtung drei seitliche Schritte. Dann dreht er sich rechtsherum ab und geht, das RG vor sich haltend und mit vor sich gesenktem Blick hinter dem Taufstein durch zur linken Seite des Chorraumes.

[Anis-E 0:36:36.1]

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Als er sich wieder der Gemeinde zuwendet blickt er auf und fokussiert wiederum jemanden in der vordersten Reihe rechts. Dieses Mal scheint dieser den Blick zu erwidern. L nimmt die Hände zur Seite und stösst sich auf. [Anis-E 0:36:37.5]

Noch bevor P seinen Standplatz erreicht hat führt er eine Raumgeste mit der linken Hand in Richtung von L, der sich unterdessen zu erheben beginnt, aus.

[Anis-E 0:36:38.3]

[Anis-E 0:36:43.1]

P bleibt an einer Position links des Abendmahlstisches stehen, hält in den Händen das aufgeschlagene RG vor seinem Bauch, blickt auf und beginnt mit Blick zu den restlichen Teilnehmenden zu sprechen. L nähert sich der Sprechposition hinter dem Lesepult und hält seinen Blick auf die Ablagefläche. Er kommt so hinter dem Pult zu stehen.

Zu Beginn der Sequenz blickt P in Richtung der Gemeinde und etabliert eine gegenseitige Wahrnehmung mit den restlichen Teilnehmenden (den bereits erwähnten Publikumsblick, vgl. o., Abschnitt 4.4.5.3). Anschliessend wendet er sich linksherum ab und holt von einer Position rechts neben ihm ein RG hervor. Beim Zurückgehen richtet er seinen Blick auffällig lange zu einer Person in der vordersten Sitzreihe rechts. Die Länge dieses Blickes weist darauf hin, dass P mit dem Blick etwas zeigen möchte und die anzeigende Wirkung seines Blickes als rituelles Signal benützen möchte. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Der Angeblickte versteht das Signal aber nicht. P unterbricht seine Zuwendung zum Publikum und fokussiert sich auf sein Gesangbuch. Beim nach vorne Schreiten nimmt er ihn erneut auf. Die zweifache Blickkontaktaufnahme von P ist wiederum als versuchte Signalgebung zu interpretieren. Als diese ein erstes Mal offenbar nicht verstanden wird, doppelt P nach. Erstaunlicherweise verstärkt er das Signal sogar noch, als L dann beim zweiten Versuch auf den Blickkontakt reagiert. P gibt damit die Handlungsleitung niemals vollständig ab, sondern agiert weiterhin als Protagonist. 7.3.1.5 Lesungen durch die Pfarrperson Auch dort, wo P selbst die Lesungen vornimmt, können diese nonverbal angezeigt werden. Insbesondere dadurch, dass eine Bibel (meistens in Grossdruck) sichtbar geöffnet bzw. auf die Lesefläche hinzugetragen wird. In Chiemtigen* etwa wird der Auftritt einmal mit, einmal ohne eine solche Bibelinszenierung bewerkstelligt. In Chiem-A wird die Bibel sorgfältig als Lesequelle eingeführt: [Clip 7.5, Chiem-A 0:17:17.9–0:17:32.8] Bezeichnend für die Benützung der Bibel ist in diesem Fall das Zudecken des Manuskriptes durch den Lesetext. P blickt zuerst auf eine offenbar bereitliegende Seite ihres Manuskriptes, nimmt dann die Bibel (die Aufschrift ist gross und von weitem lesbar) von einem anderen Ort der Ablagefläche, stellt sie auf das Manuskript und schlägt sie auf.

Die Ablagefläche als Ort besonderer Fokussierung durch den Protagonisten wird somit physisch und für alle Teilnehmenden sichtbar ausgewechselt. Die Hervorhebung der Bibel kann aber auch ohne Lesepult geschehen. Dies zeigt sich etwa in Burg-B: [Clip 7.6, Burg-B 0:30:46.0–0:31:11.4] P nimmt hier eine Lesebibel von einer Ablagefläche hoch, schlägt sie mit beiden Händen vor ihrem Bauch auf und stützt sie anschliessend mit der rechten Hand am Buchrücken leicht unterhalb der Brusthöhe auf. Ihr Blick und ihre Kopfhaltung sind anschliessend der Bibel zugewendet. Sie blickt noch einmal auf, um die Lesungsansage mit Blick zum Publikum zu sprechen.

7.3.1.6 Interpretation Zu Beginn einer Lesung, die durch eine Lektor_in ausgeführt wird, muss ein turn erfolgen, damit die Lektor_in die Handlungsleitung von der Pfarrperson übernehmen kann. Dieser wird in den besprochenen Beispielen durch signalartige Zeichen vorbereitet, die meist nicht verbaler Art oder zumindest nicht se© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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mantisch explizit sind. Die Übergaben setzen voraus, dass die übernehmende Person über ein Minimum an intrinsisch-rituellem Wissen verfügt. Allerdings verlaufen diese Übergaben auch nicht ohne extrinsischen Abgleich zwischen P und den übernehmenden Lesenden: in vielen Fällen erfolgt ein wechselseitiger Blick. Obschon mit Anis-A ein nahezu vollständig auf intrinsisches Verhalten beschränktes Beispiel vorliegt, ist es auch dort nach wie vor P, die sich als weiterhin anleitende und initiierende Protagonistin zeigt. Der Unterschied zwischen vollständiger Übergabe der Bühne und einem KoAuftritt (wie in Anis-E) ist also lediglich, dass P sich dort nicht von der Bühne zurückzieht. Die Handlungsleitung wird auch bei einem Rückzug nicht abgegeben. Es liesse sich bei den besprochenen Rollenübergaben deutlicher von einer Initiation der Lesenden durch P sprechen als von einer turn-Übergabe. Dies wird in den meisten Fällen auch durch die Lektorinnen und Lektoren ko-konstruiert, indem sie den für die Rolle der Vermittlerin konstitutiven Publikumsblick nicht ausführen, sondern ihren Blick stets auf das ihnen vorliegende Manuskript bzw. das aufgeschlagene Buch halten.

7.3.2 Lesungsansagen Die Lesungsansagen sind in der Regel mit dem Verb „lesen“ formulierte Sprechakte, die deklarativen Charakter haben. Sie determinieren insofern, wie das in unmittelbarer zeitlich-räumlicher Nähe Gesprochene zu verstehen sei, insbesondere, welche Gattung der bevorstehenden Rede zukommt. 7.3.2.1 Normalform der Ansage Dabei besteht in reformierten Gottesdiensten eine Normalform der Lesungsansage, die aus den unterschiedlichen Phänotypen rekonstruiert werden kann. Sie lässt sich am folgenden Beispiel zeigen: i lisen us jesaija, kapitel sechs=e=sechzg, d verse zeh bis drizeh, us der übersetzig, hoffnung für alle. (1.9)27

[Anis-A 1:06:40.9–1:06:51.9]

Die Elemente der Normalform sehen folgendermassen aus: [Lesesubjekt] lese/n aus [biblischer Buchname], Kapitel [Nummer des Kapitels], die Verse [Anfangs27 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Ich lese aus Jesaja, Kapitel sechsundsechzig, die Verse zehn bis dreizehn, aus der Übersetzung, Hoffnung für alle.

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vers] bis [Endvers] sowie eine folgende Sprechpause. Im Sample kommt die Normalform allerdings nirgendwo vor. So wird im obigen Beispiel aus Anis-A etwa zusätzlich eine Angabe zur Übersetzung („aus der Übersetzung […]“) angefügt. Die Normalform erhält durch die genaue Stellenangabe einen offiziellen Charakter: Der Umstand, dass präzise angegeben wird, wo das Gelesene steht, deutet darauf hin, dass die Inszenierung hier auf ein übersituationales und überzeitliches Traditionsgut zurückzuführen ist, das von allen auch in anderen Situationen im exakt gleichen Wortlaut wiedergefunden werden kann. Die exakte Stellenangabe zeigt somit eine philologische Präzision vor und zeigt ein bestimmtes Spezialwissen und Sorgfalt im Umgang mit dem vorzulesenden Text an. Die jeweiligen Elemente der Formel werden durch Half-stops voneinander getrennt, was i. S. eines TRP für jede einzelne Information eine Verarbeitungspause anzeigt (vgl. o., Abschnitt 3.6) und somit dafür sorgt, dass die Informationen als für sich bedeutsam angezeigt werden. Überdies erhält die gesamte Formel durch die ihr folgende Pause Bedeutung. Im Sample fehlt diese nur in zwei Fällen, in einigen Fällen ist sie sogar über 4s lang. Ihre Bedeutung ist mit der Sprechpause im Anschluss an die Gebetsansagen vergleichbar (vgl. o., Abschnitt 6.3.1.6). Allerdings verbindet sich mit dem Hören der Lesungen und dem Vorlesen selbst keine besondere Haltung, die eingenommen werden könnte. Die Pause dient also vorwiegend dem Aufbau einer inneren Haltung, die im genauen Zuhören besteht. 7.3.2.2 Erweiterung der Normalform Die Angaben können auch noch erweitert werden, z. B. wird in Anis-A wie bereits erwähnt zusätzlich noch die Version der Übersetzung angesagt. Eine Erweiterung, welche die Adressaten explizit nennt, ist auch möglich. So etwa in Burg-A: ich lise ihne us em matthäusevangelium, kapitel zwöiezwänzg. (2.8)28

[Burg-A 0:42:12.9–0:42:20.0]

Hier wird die Deklaration der Verse weggelassen. Dafür wird verdeutlicht, dass die Lektorin eine Vermittlungsleistung für die restlichen Teilnehmenden durchführen will – diese sind in der Höflichkeitsform (3. Person Plural) angesprochen.

28 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Ich lese ihnen aus dem Matthäusevangelium, Kapitel zweiundzwanzig.

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Auch möglich ist die zusätzliche Nennung der in den meisten Bibelausgaben abgedruckten Überschriften oder Titel der Lesestücke. So etwa in Anis-F: ich lese aus dem lukasevangelium, kapitel vierundzwanzig, verse dreizehn bis fünfundreissig. . (. .)

[Anis-F 0:46:20.1–0:46:32.8]

Bemerkenswert ist in diesem Beispiel, dass die Überschrift von L von der Normalform durch eine abweichende rhythmische Phrasierung unterschieden wird.

In Anis-E wird zur stärkeren Präzision die Reihenfolge der Normalform umgestellt, indem der Name der Übersetzung vorangestellt wird: ich lese aus der bibel in gerechter sprache, aus matthäus, siebenun=zwanzig, verse zweiunddreissig bis sechsundfünfzich. (1.5)

[Anis-E 0:45:25.7–0:45:37.2]

Semantisch entsteht durch die Umstellung eine Undeutlichkeit, da „ich lese aus der Bibel in gerechter Sprache“ die Lesequelle bestimmt, was für die Gattung „Lesung“ im Gottesdienst nicht notwendig wäre: Die Normalform garantiert bereits, dass die „Lesung“ aus der Bibel erfolgt. Die Näherbestimmung ist deutlich erkennbar als Zusatzinformation und weckt die Erwartung, dass von den üblichen Merkmalen der Gattung „Lesung“ im Folgenden abgewichen wird. Diese Zusatzinformation wirkt also nur deshalb wie eine Warnung, weil sie üblicherweise unnötig ist. 7.3.2.3 Reduktion der Normalform In gewissen Fällen kann das biblische Buch abgekürzt werden (so etwa­ „Matthäus“ statt „Matthäusevangelium“ oder „Jesaja“ statt „Buch des Propheten Jesaja“). Bei den Psalmen fällt die Nennung des Buches zugunsten der Psalmen üblicherweise weg, so etwa in Anis-C: ich lisen us psalm nün=e=sechzg, die verse zwöi bis nün. (1.8)29

[Anis-C 0:45:38.7–0:45:45.2]

29 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Ich lese aus Psalm neunundsechzig, die Verse zwei bis neun.

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Es ist auch möglich ganze Elemente der Normalform wegzulassen, etwa in Anis-A, wo die zweite Lesung folgendermassen angesagt wird: us em matthÄUSevangelium, kapitel elf, d verse acht=e=zwängzg (.) bis drissg.30

[Anis-A 1:11:24.8–1:11:31.7]

Eine solche Abkürzung rechnet damit, dass das die Normalform bereits aus der Ansage der ersten Lesung etabliert ist und jetzt nur noch zusätzliche Informationen angefügt werden müssen. Allerdings findet sich im Sample auch ein Beispiel, in welchem die Form noch weiter reduziert wird: magnifikat, (.) us lukas eis. (4.9)31

[Burg-B 0:31:11.5–0:31:20.9]

Bei dieser Ansage wird von P nur noch ein Titel und eine Quellenangabe ausgesprochen. Die Formel fällt weg, was vorderhand nicht als Lesungsansage verstanden werden muss. Allerdings hat P durch ihren Auftritt und das präsentierende Vor-Sich-Halten des Buches nonverbal eine Gattungswechsel angezeigt. Die elliptische Formulierung kann durch die Teilnehmenden also dank der nonverbalen Rahmung dennoch als Lesungsansage interpretiert werden. 7.3.2.4 Alternative Formulierungen Selten sind Formulierungen, die das Verb „lesen“ durch andere Verben ersetzen. Allerdings scheinen auch sie sich – zumindest teilweise – an der Normalform zu orientieren, was sich am Beispiel aus Dime-A2 zeigt: in der lesung (.) hören wir, aus dem (.) prophetenbuch (.) MIcha, (.) dem vierten (.) kapitel (. .) die verse eins bis fünf. (3.3)

[Dime-A2 0:11:45.9–0:12:02.8]

Die Formulierung setzt bei den Hörenden rituelles Wissen voraus: Sie wissen, was eine „Lesung“ ist und welches Verhalten die Teilnahme an dieser Interakti-

30 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Aus dem Matthäusevangelium, Kapitel elf, die Verse achtundzwanzig bis dreissig. 31 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Magnifikat, aus Lukas eins.

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onsgattung erfordert. Der Rest der Formulierung orientiert sich wieder an der Normalform und ist somit als Gattungsmarker erkennbar. 7.3.2.5 Präfamina In eine andere Richtung gehen Erweiterungen der Normalform, die den bevorstehenden Text erläutern. Sie sollen mit Alexander Deeg als „Präfamina“32 bezeichnet werden. Solche Erweiterungen finden sich in Chiem-B: ich ↑LE↓se (.) ihnen (.) aus dem buch (.) exodus=das ist das zweite buch moses, kapitel vier=un=dreissich, die verse (.) vier bis .) wir sind an der stelle der mosesgeschichte, wo mosezzehn. (.  äh tafeln vom berg heruntergebracht hatte, und sie dann (.) zerschmettert hat, weil die leute um das goldene kalb getanzt haben. (.) nun geht es weiter.

[Chiem-B 0:24:00.1–0:24:31.2]

Bereits die Normalform ist hier um einen Einschub („das ist das zweite Buch Moses“) erweitert. Anschliessend folgt eine Erläuterung der Gattung („Geschichte“) und des narrativen Kontextes der folgenden Passage („Wir sind an der Stelle […]“). Die folgende Rede ist präsentisch formuliert und deklariert die Situation der Sprechenden als kongruent mit derjenigen einer Narration. Darauf folgt eine kurze Nacherzählung der unmittelbar letzten Szene („wo Moses Tafeln […]“), die den Hauptakteur rudimentär skizziert. Insbesondere die definierten Artikel bei „das goldene Kalb“ referieren auf einen als bekannt vorausgesetzten Inhalt. Zuletzt folgt nach einer kurzen Sprechpause mit „nun geht es weiter“ eine Referenz auf die unmittelbar bevorstehende Gegenwart.

Zunächst übersetzt P das Fremdwort „Exodus“ durch einen anderen als äquivalent zu denkenden Ausdruck. Sie stellt sich dadurch als jemand dar, der über Spezialwissen verfügt – es wäre auch möglich, das Fremdwort wegzulassen. Die an die Normalform anschliessende Erläuterung des narrativen Kontextes liefert dann Informationen über die bevorstehende Passage und prägt ein bestimmtes Verständnis derselben vor (Priming). Insbesondere wird die Lesepassage durch die Zuordnung zur „Mosesgeschichte“ deklariert. Die nacherzählte Szene ist in ihrer Darstellung derart rudimentär, dass sie bei den Hörenden als Aufforderung zur Reaktivierung von Spezialwissen verstanden werden muss: Sie zeigt auch denjenigen, die nicht über Kenntnisse der Geschichte verfügen, dass Spezialwissen notwendig ist, um das Folgende zu verstehen.

32 Vgl. Deeg 2012, 175 f.

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7.3.2.6 Fehlen der Normalform Die Normalform kann allerdings auch ganz wegfallen. Im vorliegenden Sample geschieht dies nur in einem Fall: ähm, von zion wird wird weisung ausgehen. (weltweit) (×××) (.  .) und im fernen tage wird der berg des hauses des herrn fest gegegründet sein.

[Dime-B 0:25:46.7–0:25:57.2]

K1, die hier vorliest, beginnt nach einem einleitenden „ähm“, direkt mit einem Aussagesatz („von Zion […]), der von einigen auf der Aufnahme nicht hörbaren Worten (sie spricht leiser) gefolgt wird. Nach einer kurzen Sprechpause setzt sie deutlicher nochmals an und liest den restlichen Text vor.

Auffälligerweise setzt K1 hier den Repair („ähm“) an den Beginn ihrer Rede, was nicht nur ihre Unsicherheit markiert, sondern auch zeigt, dass ihre Sprecherinnenrolle, welche die Aufmerksamkeit der restlichen Teilnehmenden voraussetzt, durch die Übergabe der Handlung von P noch nicht ausreichend konstituiert wurde.33 Dabei ist zu bedenken: P ist zum Beginn ihrer Rede noch stehend und schaut in Richtung von K1. Die darauffolgenden Worte, die zunehmend leiser gesprochen werden, sind in ihrer Einbindung in den Text noch nicht erkennbar. Im Quelltext erscheinen sie als Überschrift des nach der Sprechpause vorgetragenen Textes aus Mi 4. Dies bleibt den Hörenden aber verborgen.34 Die Interaktionsgattung der Lesung wird hier alleine durch das vorherige Heran­ tragen der Bibel, das beiläufige Benennen derselben durch P und das in ihr Blättern erkennbar. 7.3.2.7 Interpretation Die Ansagen der Lesungen erfolgen meist in einer an den jeweils zu lesenden Textabschnitt angepassten Normalform. Diese kann als deutliche Gattungs­ markierung angesehen werden und dient zur Deklaration derselben. Der Informationsgehalt der Ankündigung – die präzise Kapitel- und Versnummer – ist demgegenüber von untergeordneter Relevanz. 33 Eine Reparaturhandlung (repair) legt sich dann nahe, wenn die Erfüllung der gültigen Interaktionsordnung nicht erfolgt, die Interaktionsordnung aber auch nicht verlassen werden soll; vgl. Schegloff et al. 1977, 362 f. Im hiesigen Fall ist das Wort aber eher ein­ Fokussierungsangebot, das den akustischen Fokus auf K1 zu versammeln vermag, bevor sie mit der eigentlichen Lesepassage beginnt. 34 Ausser dem (unwahrscheinlichen) Fall, dass jemand die Überschrift dieses Textes kennen würde.

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Auch nonverbale Zeichen rund um die Lesung sind jeweils ähnlich gestaltet: Die Ansagen werden mit einer Ausnahme allesamt teilweise abgelesen. Das bedeutet, dass sie sowohl einen vorbestimmten Text (in diesem Fall die präzise Stellenangabe) aufführen als auch von den Ansagenden als Kommunikationsleistung zu den restlichen Teilnehmenden hin ausgeführt werden. In diesem Sinne zeigen die Lesenden, dass die Lesung eine Vermittlungsleistung darstellt. Dies wird besonders deutlich bei den Präfamina. Hier wird nicht nur non­verbal, sondern auch verbal versucht, die folgende Passage einzuführen, indem bestimmte Zusatzinformationen geliefert werden.

7.3.3

Das Lesekorpus

Das Lesekorpus gibt den eigentlichen Text der Lesung wieder. Es wird in allen Fällen des Samples in Standarddeutsch gesprochen, was das Korpus von der vorangehenden Ansage stilisierend hervorhebt.35 7.3.3.1 Prosodische Hervorhebung der Lesung Meist unterscheidet sich die Prosodie des Lesekorpus von anderen Passagen, insbesondere von der Ansage der Lesung, die dem Korpus unmittelbar vorausgeht.36 Dies lässt sich an der bereits besprochenen Lesung von Anis-A zeigen: i lisen us jesaija, kapitel sechs=e=sechzg, d verse zeh bis drizeh, us der übersetzig, hoffnung für alle. (1.9) ↑freut euch mit jerusalem. (.) ↑jubelt über diese stadt. alle, die ihr sie liebt, (.) frü↑her habt ihr um sie ge↑trauert. doch jetzt, dürft ihr ↑singen und ↑jubeln vor freude. (.) lasst euch von ihr ↑trösten. wie ein kind an der mutterbrust.

[Anis-A 1:06:40.9–1:07:16.5]

Die Lesungsansage zeichnet sich  – wie oben besprochen –  durch deutlich vonein­ ander mittels Half-stops getrennte und zugleich aufeinander bezogene Sprechstücke aus. Die Tonhöhen werden dabei jeweils auf die Enden der einzelnen Elemente gesetzt. 35 Zur sinnproduktiven Bedeutung des Codewechsels von Mundart auf Standarddeutsch vgl. o., Abschnitt 5.3.4. 36 Das Beispiel von Gumperz für eine Sprechgattung, die sich durch eine hervorgehobene Prosodie auszeichnet sind Werbespots, die sich in der Regel mit stärker ausgeprägten Tonhöhendifferenzen und einem langsameren oder schnelleren Sprechtempo von ihrer Umgebung unterscheiden; vgl. Gumperz 1982, 102.

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

Anders sieht dies im Lesekorpus aus. Hier erhöht L die Tonhöhe bereits beim ersten Wort und senkt sie während des Restes des ersten Satzes nach und nach ab. Anschliessend wiederholt sie dieselbe Prosodie für den zweiten Satz, als handle es sich um eine Wiederholung in einem Lied oder einen zweiten Vers in einem Gedicht. Die Aussage „alle, die ihr sie liebt“ wirkt demgegenüber an die beiden stark prosodierten Teile angehängt. In der Folge wird die zweite Silbe des nächsten Satzes und die zweitletzte Silbe mit einem höheren Ton ausgesprochen, was einen „Tonbogen“ über den Halbsatz er­ kennen lässt. Weiter werden die einzelnen Wörter „singen“, „jubeln“ sowie „trösten“ jeweils auf der ersten Silbe mit hohem Sprechton ausgesprochen.

An der kurzen Passage zeigt sich, dass L ihren prosodischen Stil nach der Ansage wechselt. Während es in der Ansage um die deutliche Reihung von Elementen und deren Verstehbarkeit (daher die Half-stops zwischen den Elementen) ging, werden jetzt die Sprechtöne anhand von semantischen Schwerpunkten gesetzt. Die hohen Töne erfolgen jeweils auf Schlüsselwörtern wie „freut“, „jubelt“, „jetzt“, „singen“ und „jubeln“. Die vorgegebene Formulierung der Sätze im Text wird dabei teilweise übergangen, was sich besonders deutlich bei „alle, die ihr sie liebt“ zeigt. Somit wirkt dieser Satzteil wie ein Zusatz zu den ersten beiden Sätzen – etwas, was sich von der Textvorlage her nicht unbedingt nahelegt. Anders geht L beim zweiten Satz „früher habt […] getrauert“ vor. Die Tonführung der Rede ist hier nicht mit bestimmten Wortbedeutungen verknüpft. Vielmehr wird der Satz als für sich stehender Satz überdeutlich durch die Tonhöhe markiert, in dem ein klarer Tonbogen gebildet wird: Der Ton geht mit der zweiten Silbe nach oben und wird mit der vorletzten Silbe wieder gesenkt. Hier werden weniger bestimmte Wörter, sondern vielmehr die Satzzeichen prosodisch betont. In der Rede von L werden also zwei unterschiedliche Lesestrategien gezeigt: einerseits die an der Semantik von Einzelworten orientierte Betonung von Wörtern, andererseits eine am Schriftbild insbesondere den Satzzeichen orientierte Betonung des Schriftbildes. Die zwei Strategien finden sich nicht nur bei LAnis-A, sondern scheinen für viele Lesekorpora konstitutiv zu sein. meine ↑seele er↑hebt den herrn, und mein ↑geist ↑jubelt über gott meinen retter, denn hingesehen hat er auf die niedrigkeit seiner magd. (.) siehe, von nun an (.) werden mich seeligpreisen alle geschlechter, den(n) ↑grosses hat der ↑mächtige an mir getan. (und) ↑heilig ist ↑sein ↓name.

[Burg-B 0:31:20.9–0:31:49.2]

Im ersten Satz werden die beiden Wortpaare „Seele erhebt“ und „Geist jubelt“ durch erhöhte Sprechtöne jeweils hervorgehoben. Die beiden Teilsätze werden überdies © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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ähnlich phrasiert. „Denn hingesehen […] Magd“ wird diesen beiden Teilsätzen demgegenüber ohne besondere Phrasierung angehängt und verfügt lediglich über einen deutlichen Full-stop am Ende des Satzes. Im letzten Satz des Abschnitts werden wiederum einzelne Worte durch höheren Sprechton hervorgehoben: „Siehe“, „Mächtige“, „heilig“, „sein Name“, wobei die letzteren beiden Worte zugleich den Satzschluss durch eine starke Tondifferenz (hoch-tief) markieren.

Aber auch weniger poetische Lesestücke lassen die beiden prosodischen Stile erkennen, so etwa die Lesung in Anis-F: und da waren, am ↑selben tag zwei von ihnen unterwegs zu einem dorf namens emaus. das ↑sechzig stadien von jerusalem entfernt ist. und sie redeten miteinander über ↑all das was vorgefallen war. und es geschah, während sie miteinander redeten, und sich besprachen, dass jesus ↑selbst sich zu ihnen gesellte und sie begleitete. doch ↑ihre augen waren gehalten, so dass sie ihn ↑nicht erkannten.

[Anis-F 0:46:32.8–0:47:10.3]

Während sich die Tonhöhen bei „waren“ im ersten Satz wie auch bei den Worten „geschah“, „redeten“ und „besprachen“ im dritten Satz nicht an der Semantik, d. h. den Wortbedeutungen dieser Wörter, orientieren, sondern an den Satzzeichen im vorgelesenen Text (dem Komma, das einen Half-stop verlangt), sind die Tonhöhen bei „selben“, bei „sechzig“, bei „selbst“, bei „ihre“ und bei „nicht“ auf semantisch bedeutsame Wörter gelegt.

Die Einzelwortbetonungen und ungleichmässigen Phrasierungen können auch zum grundlegenden Stilmerkmal der Lesungen werden. Dies zeigt sich insbesondere beim Lesestil von PDimels*: und in ↑fernen tagen, wird der berg des h- wird der berg des hauses=des=herrn. fest gegründet sein. (.) der höchste gipfel der berge, (.) und er wird sich erheben über die hügel. und völker. werden zu ihm ströhm(en).

[Dime-A2 0:12:02.8–0:12:26.0]

P setzt hier nach „fernen Tagen“ bereits einen Half-stop, obschon es sich grammatisch gesehen um keinen vollständigen Teilsatz handelt. Ebenso erfolgt ein Full-stop nach „Berg des Hauses des Herrn“ an einer Stelle, wo das Prädikat des Satzes noch nicht genannt wurde.

Durch die hohen bzw. tieferen Sprechtöne (d. h. Half- oder Full-stops) betont P nahezu alle Satzglieder einzeln. Dies erweckt beim Zuhören den Eindruck, dass jedes Satzglied bzw. jede Wortgruppe für sich eine besondere Bedeutung © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Verständliche Fremdworte – Lesungen

trägt und für sich rezipiert werden kann. P führt damit die an der Wortsemantik orientierte Lesestrategie ad absurdum, da er allen Einzelworten bzw. Wortgruppen eine besondere Bedeutung anzeigt, was keines der Einzelworte mehr als besonders erscheinen lässt. Was durch diese Lesestrategie hingegen verloren geht, sind die an den Satzzeichen orientierten Betonungen, da diese mit den Einzelwortbetonungen koinzidieren und nicht mehr auffallen. Die Passage wirkt übersemantisiert. 7.3.3.2 Hervorhebung von direkter Rede innerhalb der Lesung Der Lesekorpus wird aber nicht nur von seinem Kontext durch besondere Prosodie hervorgehoben, sondern enthält auch in sich Stücke, die in wiederum abweichender bzw. hervorgehobener Prosodie gesprochen werden. Dies gilt insbesondere für den Wechsel von narrativen Passagen auf direkte Rede, wie sie in biblischer Literatur häufig sind. So etwa in Chiem-B: und der ↑herr sprach zu mose, (.) haue dir zwei steintafeln zurecht, wie die ersten. dann will ich auf die ↑tafeln die worte schreiben, die auf den ↑ers↓ten tafeln gestanden haben, die ↑du zerschmettert hast. (.)

[Chiem-B 0:24:31.2–0:24:49.3]

Im ersten Teilsatz wird das Wort „Herr“ durch einen hohen Sprechton semantisch hervorgehoben, der Teilsatz endet mit einem Half-stop, der die Verbundenheit mit dem Folgenden bzw. die Unabgeschlossenheit des Teilsatzes verdeutlicht. Die folgenden zwei Teilsätze kommen ohne besondere Betonung im Satz aus. Im dritten Satz der Sequenz wird wiederum pro Teilsatz ein Wort prosodisch besonders hervorgehoben: „Tafeln“, „ersten“ und „du“.

Die direkte Rede wird hier vorwiegend auf der semantischen Ebene geklärt und lediglich durch die leicht verlängerte Pause nach „Mose“ angezeigt. Ansonsten unterscheidet sich die direkte Rede vom prosaisch-narrativen ersten Teilsatz kaum. Anders ist dies im folgenden Beispiel aus Burg-A: als aber die pharisäer hörten, dass jesus die saduzäer zum ↑schweigen gebracht hatte, versammelten sie sich (.) amselben ort. (.) und in der absicht, ihn auf die probe zu stellen, fragte, einer von ihnen, ein gesetzeslehrer, (.) er sagte zu ihm.

[Clip 10.3, Heilig-A 0:21:20.6–0:21:26.6]

Der erste von P gesprochene Satz wird durch einen formelhaften Ausdruck markiert, der durch eine bestimmte Gestenkombination mit der rechten Hand begleitet wird (* markiert im Transkript die Strokes, an welchen P mit der rechten Hand zuerst die Stirn, seinen Bauch, dann seine rechte und linke Schulter berührt). Die Strokes der Geste fallen allerdings nicht überall mit den Betonungen oder prosodischen Hervorhebungen zusammen. Semantisch wird durch „im Namen“ auf eine mit dem Sprechenden nicht-identische Autorität verwiesen. Sie wird in drei appositional angefügten Genitiven näher bestimmt als „Vater“, „Sohn“ und „heiligen Geist“. Syntaktisch ist sie durch eine eigentümliche Apposition eines zweiten „und“ gekennzeichnet. Schliesslich ist die Prosodie des Spruches auffällig: Das zweite Glied „Sohnes“ wird im hohen Ton, die beiden Bestandteile des dritten Gliedes im tiefen Ton gesprochen. Die Gestik von P und seine Blickführung richten sich beim abschliessenden „sei mit euch“ nochmals stärker auf die restlichen Teilnehmenden.

Der erste gesprochene Satz hat wegen seiner dreigliedrigen Struktur, der Gestenkombination (das Sich-Bekreuzigen) und dem prosodisch auffälligen Sprechton einen performativen Charakter. Zugespitzt wird dieser bei den abschliessenden Worten „sei mit euch“ sichtbar. Hier zeigt P durch einen Blick in die Runde © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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Sequenzanalysen   

und eine hervorgehobene Endbetonung des Satzes (anstatt wie gewöhnlich mittel-tief intoniert er hoch-tief; ausserdem phrasiert er leicht verlangsamt) an, dass die restlichen Teilnehmenden nun von ihm die Handlungsleitung übernehmen können (Publikumsblick). Die Formel ist relativ kurz, hat also einen Signalcharakter. Zugleich ist sie genügend lange, dass sich die Wahrnehmung der restlichen Teilnehmenden ganz auf P fokussieren und der TRP deutlich angezeigt werden kann. Die mit der rechten Hand ausgeführte Kreuzesgeste wird von den restlichen Teilnehmenden mit ca. 1s Verzögerung ausgeführt. Am deutlichsten und langsamsten wird die Geste bei P selbst ausgeführt. Die restlichen Teilnehmenden führen sie weniger deutlich aus (die Hand hält weniger lange bei Stirn, Bauch und Schultern). Eine Frau zögert damit über 4s nach Beginn des Sprechaktes durch P. Sie orientiert sich kurz noch blicklich nach rechts zu ihrem Nachbarn, führt dann schliesslich doch auch die Gestenkombination aus. Während zwei Teilnehmende noch seitwärts in die vorderste Bank gehen (vgl. Kreis) und sich dabei anschauen, hebt der nur teilweise sichtbare Teilnehmende hinten links (Pfeil nach unten) seine rechte Hand und beginnt sich zu bekreuzigen. [Heilig-A 0:21:21.5]

P (Kreis) berührt mit seiner rechten Hand nun die Stirn. L (Pfeil) hat ihre Hand unterdessen bis vor ihren Brustkorb hochgeführt. Bei den Teilnehmenden in der dritten Reihe gibt es noch keine Anzeichen für eine besondere Gestik.

[Heilig-A 0:21:22.0]

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 Interaktionsordnung in römisch-katholischen Gottesdiensten

[Heilig-A 0:21:22.4]

L (Kreis) berührt mit der rechten Hand nun ihre Stirn. Eine andere Teilnehmerin (Pfeil) hat mit einer wesentlich schnelleren Bewegung ihre Hand ebenfalls zur Stirn geführt. Eine Teilnehmerin (Rechteck) beginnt ihren rechten Arm zur Stirn zu führen. P führt seine Hand bereits wieder nach unten richtung Bauch. Eine Frau wendet ihren Blick ihrem Nachbarn zu (Pfeil). Während die Frau rechts (Rechteck) ihre rechte Hand zum Bauch führt, beginnen die zwei Teilnehmenden neben ihr ihre rechten Hände zur Stirn zu führen (Kreise).

[Heilig-A 0:21:24.2]

Während die anderen Teilnehmenden den Bewegungsablauf bereits abgeschlossen haben, oder ihre Schulter berühren, führt eine Teilnehmerin (Kreis) nun auch ihre Hand zur Stirn.

[Heilig-A 0:21:25.0]

Die restlichen Teilnehmenden interpretierten bereits die ersten Worte und das Anheben einer Handbewegung (deutliches Abheben der rechten Hand vom Körper) als Signal, denselben oder einen ähnlichen Handlungsablauf durchzuführen. Dieser Verhaltensablauf geschieht jedoch nicht in ständiger Koordination mit P, als ob die Teilnehmenden jeweils bei jedem einzelnen Handlungsschritt des Kreuzzeichens dieses mimetisch übernähmen, sondern es entspricht einem Handlungsmuster, das die Teilnehmenden ohne Aussenori© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

Sequenzanalysen   

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entierung ausführen können. Die Orientierung der Teilnehmenden ist nach der Übernahme des initiierenden Zeichens (Worte oder der Beginn der Geste) intrinsisch. Ähnlich wie beim Erheben zum Einzug von L und P wird diese Übernahme aber unterschiedlich schnell von den Teilnehmenden realisiert. Hier findet bei einigen auch eine periphere Wahrnehmungswahrnehmung der anderen Teilnehmenden statt; so etwa bei der Frau, die erst nach einem seitlichen Blick die Gestenkombination ausführt. Allerdings ist das Verhaltensmuster selbst auch bei ihr intrinsisch-rituell, da sie die einzelnen Bestandteile des Kreuzeszeichens nicht abgleicht. Nach ca. 1s folgt auf den von P im Sprechakt vorbereiteten TRP ein kollektiv gesprochenes „amen“. Die Lautstärke des kollektiven Sprechaktes ist zwar gering, aber dennoch deutlich hörbar.

Wie bereits für die reformierten Gottesdienste dargelegt, kommt dem Wort „amen“ die Funktion eines rituellen Impulses zu. Es handelt sich um einen kurzen Sprechakt, der mit einem längeren Vorlaut („a“) und einem kurzen Nachlaut mit hellem Vokal („e“) pointiert wirkt. Der Vorlaut etwa lässt sich gut ausdehnen, etwa um mehrere Menschen in den Sprechakt einstimmen zu lassen, ohne dadurch die pointierte Wirkung des Nachlautes vermissen zu lassen. 10.2.3.1 Vergleich mit der entsprechenden Sequenz aus Heilig-B P: im namen des vaters *und des ↑soh*nes und des *↓heiligen ↓*geistes. (.) Gg: amen

[Clip 10.4, Heilig-B 0:31:52.1–0:31:57.7]

Wird diese Sequenz mit derjenigen aus Heilig-A verglichen, so lassen sich im Wortlaut keine und in der Prosodie lediglich kleine Unterschiede feststellen. Es wird jedoch gut erkennbar, dass die Strokes (s. „*“ im Transkript) der Gestenkombination nicht mit dem Sprechakt synchronisiert sind, sondern eine separate Sequenz darstellen. Auffällig ist schliesslich, dass die Mitglieder der Schola, die in einem separaten Bereich des Gottesdienstes auf einer Empore stehen, die Gestenkombination nicht mitmachen. Dies lässt sich als Hinweis darauf deuten, dass die Interaktionsordnung unterschiedliche Verhaltensmuster für unterschiedliche Teilnehmendengruppen vorsieht, und die Schola hier als Subgruppe der Teilnehmenden von dieser Verhaltenweise ausgenommen bleibt.

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 Interaktionsordnung in römisch-katholischen Gottesdiensten

10.2.3.2 Liturgischer Gruss (. .) P: gott (.) der das ↑bö↓se aus der welt stösst, (.)(damit) die liebe sichtbar wird, (.) .33

[Clip 11.8, Vine-Adyn 0:24:26.9–0:25:12.5]

Das Fading-in der Musik ist schliesslich ähnlich gestaltet wie in Vine-B, hier wird dieser Übergangsteil von Mf gesprochen. Auch wenn darin keine direkte Anrede eines Gegenübers vorhanden ist, gestaltet Mf die Rede ähnlich wie ein Gebet. Mf begleitet diese Rede durch proaktives face-work, mit unterbrochener Phrasierung (zahlreiche Full-stops, auch in grammatikalischen Halbsätzen). Zusätzlich schliesst sie ihre Augen und berührt mit ihrer freien Hand ihren Oberkörper für einzelne Worte, wobei diese Momente oft mit einer prosodischen Betonung zusammenfallen. 11.2.2.3 Interpretation Die Erste Sprecheinheit wird in den Anbetungsgottesdiensten der Vineyard Gemeinde durch ein Moderator_innenpaar dialogisch gestaltet. Die Rede trägt 33 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Mf: ich habe mich heute mega mega mega gefreut an diesen Gottesdienst zu kommen. Ich habe mich un(geheuer) gefreut, hier her zu kommen, für mich euch zusammen diesen Gott anzubeten. Ich habe mich mega gefreut mit euch zusammen vor diesen Gott zu kommen, der nicht auf den Lippenstift schaut, nicht ob wir Fäden an den Kleidern haben, sondern es ist ein Gott der uns liebt, egal wie wir aussehen, er liebt uns einfach von tiefstem Herz. Und in diesen Zeiten der Anbetung können wir einfach vor ihn hin kommen und die Zeit mit ihm zusammen geniessen und ihm alles hingeben, unser ganzes Herz. Und ich freue mich mega mit euch zusammen dies heute zu machen. Danke vielmals Band.

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zahlreiche Merkmale der „Sprache der Nähe“ (Koch/Oesterreicher34). Hin­ gewiesen wird immer wieder auf „innere“ Erfahrungen der Moderierenden, welche sie durch Berührungen des eigenen Körper oder geschlossene Augen sowie deutlich sichtbares face-work anzeigen können. Allerdings werden verschiedene Namen und Ausdrücke als Spezialwissen markiert, da sie von den Sprechenden ohne Erklärung verwendet werden. Die Ersten Sprecheinheiten lassen zahlreiche turns zwischen den Protagonist_innen erkennen. Dabei sind die TRP zwischen Protagonist_innen, wie bereits an anderen Gottesdiensttypen (insbesondere dem römisch-katholischen) gezeigt, eine Art Taktgeber für den Rhythmus der gesamten Interaktion: Ein TRP fordert von allen Teilnehmenden an der Interaktion erhöhte Aufmerksamkeit, da die Fortsetzung der Interaktion für einen kurzen Augenblick nicht geklärt ist – sie hält für einen Moment inne. Durch die häufige Abwechslung der Interaktions- bzw. Redeleitung, wird ein schnellerer Rhythmus vorgegeben und die Aufmerksamkeit aller Teilnehmenden gesteigert. Ebenso fungiert die Musik rhythmisierend auf das Verhalten aller Teilnehmenden. Da in den Eingangspassagen beide Elemente geschickt miteinander verwoben werden, entsteht ein „rhythmic entrainment“ (Collins35), das rituelle Dichte aufbaut. Selbst der rein informative Hinweis auf die Verwendung von Videoaufnahmen für Forschungszwecke wird durch die Moderator_innen in diesen Rhythmus eingewoben und unterbrechen ihn nicht.

11.2.3 Gebet Es konnte bereits bei den Ersten Sprecheinheiten gezeigt werden, dass innerhalb der Interaktionsordnung der Anbetungsgottesdienste unterschiedliche Sprechgenres oft ohne klare Markierung eines Genrewechsels einander abwechseln. Dabei gab es auch Passagen, in denen ähnlich wie in einem Gebet, ein transzendentes Gegenüber angedeutet wurde. Das Fading-in der Musik ins Sprechen zeigte einen fliessenden Übergang zu einem rituellen Genre, das in Vine-B als „Gebet“ und „Anbetung“ angekündigt wurde, auf. 11.2.3.1 Gebet als Überleitung zur Anbetung Auf die oben besprochene Passage folgt in Vine-B dann eine von Musik untermalte Anrede, die hier als Gebet besprochen werden kann.

34 Vgl. o., Abschnitt 5.5.2. 35 Vgl. Collins 2005a, 48.

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 Interaktionsordnung in Anbetungsgottesdiensten

Mm: 38

[Clip 11.9, Vine-Bdyn 0:16:16.7–0:17:33.5 (ohne Tonspur) // Ton: Vine-Bstat 0:26:22.2–0:27:34.8, * bezeichnet den Beginn der Akkordfolge der Musik im Hintergrund, unterstrichen sind die Passagen, die mit geschlossenen Augen von Mm gesprochen werden]

Die Gebetspassage zeichnet sich einerseits durch die immer wieder rekurrierende Anrede „Jesus“ (bzw. „Heiliger Geist“) aus. Es werden ausserdem kurze und gleichförmige Sätze verwendet, die jeweils mit der Konjunktion „und“ hypotaktisch verbunden werden. Andererseits werden archaische Formeln („schenke mir ein weiches Herz“, „machst du deinen Herzschlag bekannt“, usw.) und einem Fremdwort („church“ englisch ausgesprochen) gebraucht.

36 Dieses Wort wird englisch ausgesprochen. 37 Die zweite Silbe wird hier wie bei der englischen Aussprache mit moduliertem „ä“ statt „e“ ausgesprochen. 38 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: Und Jesus hier sind wir. Miteinander. Jesus deine Gegenwart ist die ganze Woche überall wo wir sind bei uns. Und jetzt kommen wir zusammen und feiern das und bringen miteinander zum Ausdruck. Dass du in uns (.) diesen Platz findest. Jesus in meinem Leben, du bist der der den Segen hat. Und so lade ich dich ein. König von den Königen. In jedem Bereich und Aspekt von meinem Leben. Einzug zu nehmen. (.) Jesus verändere du mich schenke mir ein weiches Herz dort wo ich Veränderung brauche. Heilung wo ich Heilung brauche. Hoffnung wo ich Hoffnung brauche. Und ich gebe dir das Recht, Raum einzunehmen in mir. (Und) Jesus ich weiss dass ich das nicht nur für mich persönlich spreche sondern für uns als „church“. Jesus weil dort wo du bist und dort wo du wohnst, machst du deinen Herzschlag bekannt. Machst du bekannt wer du bist und was dir wichtig ist. Und Jesus davon will ich mich (lassen) prägen. Und so Heiliger Geist lade ich dich ein zu uns zu reden und uns zu begegnen. Wir wollen mehr von dir. A-„man“.

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Sequenzanalysen    (und) jesus hie si(nd) mir.

1) [Vine-Bdyn 0:16:18.3] (und) jesus hie si(nd) mir.

2) [Vine-Bdyn 0:16:18.6] findsch. jesus i mim läbe,

3) [Vine-Bdyn 0:16:36.2]

Die nonverbale Gestaltung des Gebetsteiles ist bei Mm auffällig dynamisch. Er blickt zu Beginn des Gebetes und auch während des Gebetes zu den restlichen Teilnehmenden (im Transkript nicht unterstrichen). Dabei zeigt er auch face-work, indem er jemandem mit nach rechts ausgerichtetem Kopf zulächelt (s. Bild 1). Mf hingegen, die neben ihm steht, schliesst nach den ersten zwei Worten, (s. Bild 2) ihre Augen, als „Turn“ auf die Eröffnung von Mm, und hält sie während des Restes der Sprecheinheit geschlossen. Bei beiden ist allerdings auch in den Passagen mit geschlossenen Augen auffällig, dass sie ihren Kopf nicht von der Ausrichtung auf die restlichen Teilnehmenden abwenden. Vielmehr halten sie ihr Gesicht leicht über die gewöhnliche Sichthöhe. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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 Interaktionsordnung in Anbetungsgottesdiensten

Zusätzlich zur Kopfhaltung bewegt Mm die Hand, in welcher er das Manuskript hält, und setzt damit relativ lose Betonungen in seiner Rede. Die Strokes der Hand fallen nicht immer mit seinen Redebetonungen zusammen. Dennoch folgen die Handbewegungen seinem Sprechen.

Ein ähnlicher Übergang von Anrede der restlichen Teilnehmenden hin zum eigentlichen „Gebet“ wird in dieser längeren Passage, die der Band-Leiter (BL) zwischen zwei Liedern einfügt, gestaltet: BL: 40

[Clip 11.10, Vine-Adyn 0:04:52.5–0:07:28.4; einfache Unterstreichung markieren geschlossene Augen bei BL, doppelte Unterstreichungen markieren den Blick nach rechts unten zum­ Manuskript]

Diese Sprecheinheit besteht aus zwei Teilen, die insbesondere durch die veränderte Kopfhaltung von BL und den veränderten Gebrauch seines Blickes voneinander unterschieden werden können. Im ersten Teil  blickt BL direkt die restlichen Teilnehmenden im Publikum an, er wendet seinen Blick immer wieder in unterschiedliche Richtungen und scheint das Publikum gezielt zu fokussieren, was sich an hochgezogenen Augenbrauen zeigt (vgl. Bild 1). Im zweiten Teil hingegen schliesst er an gewissen Stellen seine Augen (vgl. Bild 2). Wenn er hier mit offenen Augen spricht, 40 Übertragung ins Standarddeutsche, Ch.W.: BL: ich habe mich manchmal gefragt was- was bedeutet das wenn wir Gott anbeten. Für uns als „Band“ ist etwas ganz wichtig. Und zwar möchten wir und das hat vielleicht ein wenig etwas mit dieser Hütte zu tun aber nicht nur mit dieser Hütte dort drüben. Ist vielleicht so eine Bedeutung sicher nicht die richtige gell. Möchten Räume schaffen Räume machen für jemanden Räume für Gott zu begegnen. Das eine ist Lieder singen aber eigentlich möchten wir ja nicht Lieder singen mit- miteinander einfach so, sondern möchten Gott begegnen seine Gegenwart ist uns wichtig. Wenn wir etwas machen im „Worship“, ein Ziel haben mit der Band, dann ist es ihm Raum zu schaffen Raum eröffnen für jemanden. Oder manchmal kommt es mir auch so vor wie wenn wir Teppich ausrollen für euch, auf diesen Teppichen kann man herumliegen kann man tanzen man kann hinaufschauen man kann irgendetwas machen, und dann kommt manchmal wieder einfach ein Teppich mit einer anderen Form. Und das ist einfach auch der Grund wieso wir so musikalische Teile machen immer wieder. Dass wir nicht immer etwas sagen müssen. Stell dir vor du betest zu Gott und plötzlich merkst (du) dass er dir vielleicht auch etwas sagen möchte, dann musst (du) aufhören damit, und einfach auch mal zuhören können und ruhig sein. Genau so Räume möchten wir eröffnen für euch. Und Jesus danke dass du kommst mit deiner Gegenwart. Du bist der der mir nahe ist. Du bist der der- der sich freut an der Gemeinschaft. Mit den Menschen Jesus. Du hast die Menschen gern. Du siehst sie so wie du sie gemacht hast Jesus. Jeden einzelnen hier drinnen siehst du so wie du ihn gemacht hast Jesus. Und du bist der der eine gute Zukunft hat für jeden. Und du hast für jeden eine Bestimmung und die Werke, die wir tun in unserem Leben die hast du alle schon vorbereitet Herr. Herr wir haben dich von Herzen gern. Herr die Liebe auch die du für uns hast die wollen wir auch erwidern. Wenn wir zusammen sind miteinander. Wollen wir es zusammen erwidern und sagen Jesus du bist König du bist Gott du bist gut und treu Herr dich wollen wir anbeten. Unser ganzes Herz wollen wir dir geben Jesus. Dir alleine gehört die Anbetung. Für alle Zeit und bis in Ewigkeit Herr. Und mit jedem Schlag von unserem Herz wollen wir dich anbeten Herr. Mit jedem Atemzug wollen wir di- an dich denken. Und dir den Platz zu geben, den nur du einnehmen kannst in unserem Leben Jesus. Danke für deine Liebe Herr die Ehre soll dir alleine gehören Jesus.

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 Interaktionsordnung in Anbetungsgottesdiensten

blickt er mit ihnen über die gewöhnliche Sichthöhe hinaus: er scheint einen Punkt oberhalb des Publikums zu fokussieren. Etwa ab der Mitte des zweiten Teiles blickt BL mit gesenkten Augen auf die Ablagefläche des vor ihm platzierten Notenständers (vgl. Bild 4) – es wird allerdings nicht deutlich, ob er dabei ein Manuskript abliest, da er den Blick auch wieder abwendet und weiterspricht. Die Prosodie im zweiten Teil ist allgemein dynamischer, mit starken Betonungen einzelner Wörter sowie stärkerer Aspiration. BL behaucht einzelne Wörter stärker und atmet an einer Stelle laut ein. Ausserdem bewegt BL hier seinen Kopf im Rhythmus der Musik leicht hin und her. sicher nid die richtigi gell. äh (. .) möchte

1) [Vine-Adyn 0:05:20.8] und jesus danke das du chunsch mit dire gegewart.

2) [Vine-Adyn 0:06:16.3] freut a der gmeinschaft. mit de MÖnsche jesus.

3) [Vine-Adyn 0:06:24.0]

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Sequenzanalysen   

für ALLi ZI:t und bis in ewigkeit herr.

4) [Vine-Adyn 0:07:10.9]

Die verbale Gestaltung der Passage erfolgt im zweiten Teil ähnlich wie im obigen Beispiel. Die stark hypotaktische Gestalt wird hier ebenfalls mit der Konjunktion „und“ geleistet. Die namentliche Anrede allerdings wird oft invertiert gebraucht als Abschluss eines Satzes (z. B. „…so wie du ihn gemacht hast Jesus“). Auch hier werden einzelne Wörter durch Lautstärke und Vokallänge betont. Die Betonungen sowie die Aspiration der Rede scheinen gegen Ende des zweiten Teils zuzunehmen („für alle Zeit und bis in Ewigkeit“) und scheinen einen efferveszenten Moment kurz vor dem (wiederum eher ruhigen) Abschluss des Gebets zu markieren.

Die non- und paraverbale Hervorhebung der Gebetspassage ist deutlich zu erkennen. Auf der verbalen Ebene fehlt hingegen eine eindeutige Rahmung für den Beginn und das Ende des Gebets. Vielmehr folgt das Gebet fliessend auf eine einleitende Erläuterung, an die es weder inhaltlich noch begrifflich anknüpft. Das Ende des Gebetes wird hier mit keinem Signalwort markiert. Vielmehr wird die Musik im Anschluss an die Sprecheinheit etwas lauter und BL beginnt das bereits angestimmte Lied zu singen. 11.2.3.2 Nähesprachliches Gebet Die Gebetssprache ist vorwiegend schweizerdeutsche Mundart, obschon einzelne Wörter dem Standartdeutschen oder gar dem Englischen entstammen. Der Hauptcode ist jedoch die Mundart, wie in der folgenden Passage eindrücklich an einem „Code-Switching“41 deutlich wird: ((Musik klingt aus)) BL: (und) jesus daran freust du dich ↓herr (wenn wir) unsere herzen dir (.) verschenken. und (mir) (.) wei dir säge dass mir di lieb hei. herr uf berndütsch so wie üs der schnabel gwachse isch. danke, ((BL schluckt und atmet ein)) (.  .) danke dass du  e gott

41 Zur Begrifflichkeit vgl. o., Abschnitt 5.3.4.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525624371 — ISBN E-Book: 9783647624372

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 Interaktionsordnung in Anbetungsgottesdiensten

bisch wo uf d herze luegt. (und) herr mir bringe dir eifach . herr, viel meh hei mir gar nid zum bringe. aber üsi herze chöi mir dir bringe