Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht: Eine videobasierte Studie auf Basis der Interkulturellen Bewegungserziehung [1. Aufl.] 978-3-658-26541-0;978-3-658-26542-7

Aiko Möhwald knüpft an das Forschungsprogramm der Interkulturellen Bewegungserziehung an, welches sozialpsychologische u

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Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht: Eine videobasierte Studie auf Basis der Interkulturellen Bewegungserziehung [1. Aufl.]
 978-3-658-26541-0;978-3-658-26542-7

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVII
Einleitung (Aiko Möhwald)....Pages 1-7
Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung – Historische Entwicklung (Aiko Möhwald)....Pages 9-29
Forschungsstand (Aiko Möhwald)....Pages 31-64
Theoretisches Rahmenkonzept0 (Aiko Möhwald)....Pages 65-100
Die Interventionsstudie: Didaktische Leitideen und inhaltliche Ableitungen (Aiko Möhwald)....Pages 101-136
Method(olog)ische Schritte – von der Rekrutierung bis hin zur Auswertungsstrategie (Aiko Möhwald)....Pages 137-170
Ergebnisse (Aiko Möhwald)....Pages 171-276
Integrative Gesamtdiskussion (Aiko Möhwald)....Pages 277-298
Stärken und Schwächen der Studie (Aiko Möhwald)....Pages 299-300
Fazit und Ausblick (Aiko Möhwald)....Pages 301-309
Back Matter ....Pages 311-332

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Bildung und Sport

Aiko Möhwald

Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht Eine videobasierte Studie auf Basis der Interkulturellen Bewegungserziehung

Bildung und Sport Schriftenreihe des Centrums für Bildungsforschung im Sport (CeBiS) Band 17 Reihe herausgegeben von Nils Neuber, Münster, Deutschland Michael Krüger, Münster, Deutschland

Das Bildungsthema gehört zu den zentralen Herausforderungen moderner Gesellschaften. Bildungsstandards, Bildungsnetzwerke, Bildungsmonitoring u.v.m. sollen nach den ernüchternden Ergebnissen der PISA-Studien zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Qualitätssteigerung des deutschen Bildungssystems beitragen. Dabei geht es um mehr als nur eine erneute Bildungsreform. Sichtbar werden vielmehr die Konturen eines umfassenden und grundlegenden Strukturwandels des Erziehungs- und Bildungssystems. Von Sport ist in diesem Zusammengang allerdings selten die Rede. Dabei ist die pädagogische Bedeutung von Bewegungs-, Spiel- und Sportangeboten unstrittig. Bildungsprozesse blieben unvollständig, würden sie körperlich-leibliche Dimensionen des Lernens ausblenden. Mit der Reihe „Bildung und Sport“ sollen die Bildungspotenziale des Sports vor dem Hintergrund aktueller Bildungsdebatten ausgelotet werden. Dabei wird eine sozialwissenschaftliche Perspektive eingenommen. Die Reihe eignet sich insbesondere für empirische Forschungsarbeiten mit pädagogischer, soziologischer und psychologischer Ausrichtung. Darüber hinaus werden theoretische Arbeiten zur Bildungsdiskussion im Sport berücksichtigt. Das Centrum für Bildungsforschung im Sport (CeBiS) ist ein Forschungsverbund, der am Institut für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angesiedelt ist. Der Forschungsverbund zielt auf die Förderung schulischer und außerschulischer Bildungsforschung im Sport.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12751

Aiko Möhwald

Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht Eine videobasierte Studie auf Basis der Interkulturellen Bewegungserziehung

Aiko Möhwald Institut für Sport und Sportwissenschaft TU Dortmund Dortmund, Deutschland Dissertation im Fach Sportwissenschaft an der Fakultät Kunst- und Sportwissenschaften der Technischen Universität Dortmund, 2018, unter dem Titel: „Umgang von Schülerinnen und Schülern mit inszenierter Fremdheit im Sportunterricht – eine videobasierte Studie“

ISSN 2512-0697 ISSN 2512-0700  (electronic) Bildung und Sport ISBN 978-3-658-26541-0 ISBN 978-3-658-26542-7  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung Viele Menschen haben mich bei dieser Arbeit begleitet, unterstützt, gefordert und gefördert und dadurch zum Gelingen der Dissertationsschrift beigetragen. Diesen möchte ich hiermit meinen Dank ausdrücken. Zunächst möchte ich einen großen Dank an meine beiden Betreuerinnen, Prof. Dr. Elke Grimminger-Seidensticker und Prof. Dr. Petra GießStüber, aussprechen. Einen herzlichen Dank für all die bereichernden Gespräche und den kritisch-konstruktiven Auseinandersetzungen mit Teilen der Arbeit. Ein weiterer Dank gilt allen im Projekt beteiligten Personen: Andrea, Johanna, Juliana und Paul, sowie den Sportlehrkräften und Schüler/innen, die an der Studie teilnahmen. Ohne Eure Beteiligung wäre die Untersuchung nicht möglich gewesen. Zudem möchte ich der Baden-Württemberg-Stiftung für die finanzielle Förderung des von Prof. Dr. Grimminger-Seidensticker geleiteten Projektes danken. Den Arbeitsbereichen Sportpädagogik der Universität Freiburg und Sportdidaktik der TU Dortmund möchte ich ebenfalls meinen Dank für die immer wieder stattfindenden inhaltlichen Auseinandersetzungen mit meiner Arbeit aussprechen. Vor allem meinen beiden Bürokolleginnen Sophie und Johanna danke ich für all die inhaltlichen, aber auch informellen Gespräche und Ermutigungen. Ein Dank gilt auch meiner Familie sowie meinen Freunden aus der Pfalz und Freiburg, die mir Ausgleich und die nötige Distanz zur Arbeit ermöglichten. Bei Marion möchte ich mich für die stete Unterstützung und positiven Gespräche bedanken. Außerdem danke ich Lena für das Korrekturlesen der Arbeit und ihre konstruktiven Vorschläge. Abschließend gilt mein allerbester, herzlichster und innigster Dank Patrick.

Vorwort der Reihenherausgeber Zuwanderung und Interkulturalität beschäftigen die deutsche Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren. Leider sind es oft krisenhafte Ereignisse, die das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Dabei finden Integrationsbemühungen permanent auf vielen Ebenen statt, in Kindertagesstätten und Schulen, Jugendzentren, Kirchen, Volkshochschulen und Sportvereinen. So begeht das Bundesprogramm „Integration durch Sport“ des Deutschen Olympischen Sportbunds in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Das zivilgesellschaftliche Engagement vieler Ehrenamtlicher, nicht nur im Sport, kann dabei kaum hoch genug geschätzt werden. Zugleich wissen wir, dass interkulturelles Lernen kein Selbstläufer ist. Es bedarf gezielter Programme, die nicht nur die Minderheiten „integrieren“, sondern die auch die Mehrheiten „fit“ für die Zuwanderungsgesellschaft machen. Nach den ersten Versuchen einer „Ausländerpädagogik“ ist die Interkulturelle Erziehung ein solches Konzept, das den Umgang mit Fremdheit und Differenz auf vielen Ebenen thematisiert. Bereits Ende der 1990er Jahre wurde dieser Ansatz von einer Kölner Arbeitsgruppe unter der Leitung von Ralf Erdmann auf den Sport übertragen. Unter dem Titel „Interkulturelle Bewegungserziehung“ legte die Gruppe theoretische und praxisbezogene Arbeiten zu Differenz, Fremdheit und Identität im Sport vor, die ihre Wirkung bis heute entfalten. So entwickelten Petra Gieß-Stüber und Elke Grimminger-Seidensticker die Kölner Arbeiten in Freiburg weiter und entwarfen u.a. fachdidaktische Prinzipien zum Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht sowie ein Fortbildungskonzept zur Förderung interkultureller Kompetenz von Sportlehrkräften. Auch blieb das Konzept nicht auf ethnische Differenzen im engeren Sinne beschränkt. Vor allem die Arbeiten von Elke GrimmingerSeidensticker zeigen, dass sich Anerkennungs- und Missachtungsprozesse im Sportunterricht auf alle Vielfaltsdimensionen beziehen und kaum getrennt voneinander betrachtet werden können. Auch die vorliegende Arbeit von Aiko Möhwald ist im Kontext der Interkulturellen Bewegungserziehung anzusiedeln. Auf der Grundlage bisheriger konzeptioneller Überlegungen und empirischer Befunde entwirft sie ein Rahmenkonzept für die Begegnung mit Fremdheit im Sportunter-

VIII

Vorwort der Reihenherausgeber

richt für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Im Rahmen der praktischen Umsetzung ihres Konzepts in drei baden-württembergischen Realschulen untersucht sie, wie Heranwachsende mit unterrichtlich inszenierten Momenten der Fremdheit umgehen und wie sie sie sprachlich-reflexiv verarbeiten. Die empirisch qualitativ ausgerichtete Arbeit ist eingebettet in eine quantitativ angelegte Interventionsstudie zur Förderung interkultureller Kompetenz von Schülerinnen und Schülern. Neben der innovativen thematischen Anlage ist die Arbeit von Aiko Möhwald auch methodisch wegweisend, indem sie aufwändige videographische Untersuchungen mit der Analyse unterrichtlicher Reflexionsgespräche verbindet und damit den tatsächlichen Unterrichtsprozessen sehr nah kommt. Wir wünschen der Arbeit eine weite Verbreitung. Münster, im März 2019 Michael Krüger Nils Neuber

Inhaltsverzeichnis Danksagung ............................................................................................. V Vorwort der Reihenherausgeber .......................................................... VII Abbildungsverzeichnis .........................................................................XV Tabellenverzeichnis ............................................................................XVII 1 Einleitung ............................................................................................ 1 1.1 Problemstellung ............................................................................ 1 1.2 Zielstellung der Arbeit ................................................................... 4 1.3 Aufbau der Arbeit .......................................................................... 6 2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung – Historische Entwicklung ...................................................................................................... 9 2.1 Historische und konzeptuelle Entwicklung: Interkulturalität im erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs .. 9 2.2 Ziele und Grundrichtungen der Interkulturellen Erziehung und Bildung ........................................................................................ 11 2.3 Historische und konzeptuelle Entwicklung: Interkulturalität im sportwissenschaftlichen Diskurs und die Bedeutung des Phänomens „Fremdheit“ ............................................................. 15 2.3.1 Historische Entwicklung von Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs ......................................................... 22 2.3.2 Historische Einordnung des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung .............................. 25 2.4 Zwischenfazit: Fremdheit als übergeordnetes Phänomen von interkulturellen Begegnungen ..................................................... 29 3 Forschungsstand ............................................................................. 31 3.1 Empirische Studien zu interkulturellem Lernen in Bewegung, Spiel und Sport ........................................................................... 34

X

Inhaltsverzeichnis 3.1.1 Interventionsstudien zur Förderung Interkultureller Kompetenz von Schüler/innen im Rahmen des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung .... 40 3.1.2 Empirische Ergebnisse zur Bedeutung der Sportlehrkraft und des Lernortes für interkulturelles Lernen in Bewegung, Spiel und Sport .............................................. 42 3.1.3 Zwischenfazit der Studien zu interkulturellem Lernen und Ableitungen für die eigene Untersuchung ................. 46 3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts: Schüler/innen als KoKonstrukteure des Sportunterrichts ............................................ 47 3.2.1 Untersuchungen zu Schüler/innenverhalten im alltäglichen Sportunterricht ....................................................... 48 3.2.2 Untersuchungen zu Schüler/innenverhalten auf intendierte didaktische Inszenierungen .................................... 56 3.2.3 Untersuchungen zu (Reflexions-)Gesprächen im Sportunterricht........................................................................... 59 3.3 Zusammenfassung und Synthese des Forschungsstandes – Überleitung zum Untersuchungsanliegen .................................. 63

4 Theoretisches Rahmenkonzept ...................................................... 65 4.1 Der Kulturbegriff – Begriffsverständnis in der vorliegenden Arbeit .......................................................................................... 66 4.2 Fremdheit als soziale Konstruktion............................................. 69 4.3 Umgang mit Fremdheit ............................................................... 73 4.3.1 Verhalten – Handlung – Umgang: Begriffsverwendung ... 74 4.3.2 Potenzielle Einflussfaktoren auf den Umgang mit Fremdheit ......................................................................... 76 4.3.3 Umgang mit Fremdheit aus Sicht der Person(engruppe) mit höherer Macht ............................................................ 78 4.3.4 Umgang mit Fremdheit aus Sicht der Person(engruppe) mit geringerer Macht ........................................................ 84

Inhaltsverzeichnis

XI

4.4 Identitätstheoretische Annahmen zum Umgang mit Fremdheit . 86 4.4.1 Ambiguitätstoleranz, Empathie und Rollendistanz als zentrale Fähigkeiten für die Identitätsarbeit im Umgang mit Fremdheit ................................................................... 92 4.4.2 Erfahrungen um Anerkennung und Zugehörigkeit als identitätsrelevante Bedürfnisse ........................................ 95 4.5 Zusammenfassung: Modelltheoretische Vorstellungen zum Umgang mit Fremdheit im Rahmen der eigenen Studie ............ 97 5 Die Interventionsstudie: Didaktische Leitideen und inhaltliche Ableitungen ..................................................................................... 101 5.1 Didaktische Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung .................................................................................. 101 5.1.1 Allgemeine Grundsätze .................................................. 102 5.1.2 Fremdheitserfahrungen als Bildungsanlass ................... 103 5.1.3 Teamaufgaben als Herausforderung ............................. 105 5.1.4 Kritischer Blick auf die didaktischen Leitideen: Explizite Erweiterung um Machtkonstellationen ........................... 108 5.2 Bedeutung von Reflexionsgesprächen für die eigene Studie .. 111 5.3 Bildungstheoretische Einordnung von Fremdheit als sportdidaktische Inszenierungsform ................................................. 113 5.4 Erziehender Sportunterricht als kontextuelle Rahmung ........... 117 5.5 Einordnung der sportunterrichtlichen Inhalte in den Bildungsplan Baden-Württembergs ........................................................ 119 5.6 Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie ..................... 121 5.6.1 Spiel 1: Fußball einmal anders ....................................... 123 5.6.2 Spiel 2: (Stummes) Mattenballspiel ................................ 125 5.6.3 Spiel 3: Bälle – Kooperative Kommunikation ................. 126 5.6.4 Spiel 4: „Was bedeutet es fremd zu sein?“ .................... 128 5.6.5 Spiel 5: Das Regelspiel .................................................. 129

XII

Inhaltsverzeichnis 5.6.6 Spiel 6: „Bewusstes Ignorieren“ ..................................... 131 5.6.7 Spiel 7: Spiel erfinden mit eigenem Regelwerk (Bafa Bafa-Spiel) ...................................................................... 132 5.7 Anknüpfungspunkte der empirischen Studie an theoretische Überlegungen zum Umgang mit Fremdheit ............................. 134

6 Method(olog)ische Schritte – von der Rekrutierung bis hin zur Auswertungsstrategie .................................................................... 137 6.1 Methodischer Zugang in das Feld – Organisatorische Angelegenheiten .................................................................................. 137 6.2 Auswahl, Begründung und Beschreibung der Stichprobe ........ 138 6.2.1 Theoretische Auswahl und Begründung der Stichprobe 138 6.2.2 Beschreibung der Stichprobe ......................................... 141 6.3 Methodologische Begründung und Regeln der Datenerhebung144 6.3.1 Videographie als zentrale Forschungsstrategie ............. 144 6.3.2 Erhebungsprotokoll als zusätzliche Informationsquelle . 149 6.3.3 Umgang mit den Daten .................................................. 149 6.4 Auswertungsschritte ................................................................. 150 6.4.1 Auswertung der Videodaten ........................................... 150 6.4.2 Auswertung der auditiven Daten .................................... 160 6.5 Verknüpfung der visuellen und auditiven Daten: Eine integrative Betrachtung ........................................................................ 166 6.6 Methodenkritische Reflexion .................................................... 166 7 Ergebnisse ...................................................................................... 171 7.1 Klassifizierung der Spiele in übergeordnete Spielkontexte ...... 171 7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene ................... 172 7.2.1 Anfängliche Handlungsweisen auf inszenierte Fremdheit im Sportunterricht .................................................... 172 7.2.2 Folgehandlungen auf Fremdheit .................................... 195

Inhaltsverzeichnis

XIII

7.2.3 Zusammenfassende Betrachtung: Anfängliche Handlungsweisen und folgende Handlungsstrategien mit inszenierter Fremdheit im Sportunterricht ...................... 225 7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene ............................. 230 7.3.1 Inhaltliche Schwerpunkte der Reflexionsgespräche im Hinblick auf die Thematisierung von Fremdheit ............. 231 7.3.2 Ergebnisse der Sequenzanalyse der Reflexionsgespräche ....................................................................... 251 7.3.3 Zusammenfassende Betrachtung: Reflexionsgespräche zum Umgang mit Fremdheit ........................................... 271 8 Integrative Gesamtdiskussion ...................................................... 277 8.1 Fremdheit auf makro-struktureller Ebene ................................. 279 8.2 Fremdheit auf meso-methodischer Ebene ............................... 289 8.3 Fremdheit auf mikro-individueller Ebene .................................. 295 9 Stärken und Schwächen der Studie ............................................. 299 10 Fazit und Ausblick .......................................................................... 301 Literaturverzeichnis ............................................................................ 311

Abbildungsverzeichnis Abb. 1.

Forschungsprogramm der Interkulturellen Bewegungserziehung im Kontext der Schulsportforschung ............................... 28

Abb. 2.

Verortung der eigenen Arbeit in unterschiedlichen Forschungsperspektiven und Formulierung der zentralen Forschungsfrage............................................................................ 64

Abb. 3.

Modelltheoretische Vorstellungen zum Umgang mit Fremdheit ......................................................................................... 100

Abb. 4.

Modelltheoretische Vorstellungen zum Umgang mit Fremdheit und Anknüpfungspunkte der eigenen empirischen Studie .......................................................................................... 136

Abb. 5.

Zusammenfassende graphische Darstellung der Analysestrategie des Videomaterials .................................................. 159

Abb. 6.

Zusammenfassende graphische Darstellung der Analysestrategie des Audiomaterials.................................................. 165

Abb. 7.

Darstellung der Verknüpfung der Ergebnisse von visuellen und auditiven Daten ............................................................... 166

Abb. 8.

Anfängliche Handlungsweise „Die selbstständig-explorative Auseinandersetzung“ ............................................................. 176

Abb. 9.

Anfängliche Handlungsweise „Die Suche nach sozialer Unterstützung“ 182

Abb. 10. Anfängliche Handlungsweise „Die Abwehr“ ........................... 187 Abb. 11. Anfängliche Handlungsweise „Die zurückhaltende Beobachtung“ ....................................................................................... 192 Abb. 12. Überblick über die anfänglichen sowie folgenden Handlungsweisen mit didaktisch inszeniert Fremdheit im Sportunterricht .................................................................................... 196 Abb. 13. Folgehandlung des Rückzugs................................................ 202

XVI

Abbildungsverzeichnis

Abb. 14. Folgehandlung des Vereinnahmens ...................................... 211 Abb. 15. Folgehandlung des Dranbleibens .......................................... 216 Abb. 16. Folgehandlung Ambivalente Strategien Teil I ........................ 221 Abb. 17. Folgehandlung Ambivalente Strategien Teil II ....................... 222 Abb. 18. Folgehandlung Ambivalente Strategie Teil III ........................ 223 Abb. 19. Folgehandlung Ambivalente Strategien Teil IV ...................... 224 Abb. 20. Frühzeitige Meldung verweist auf einen dringenden Gesprächsbedarf ........................................................................ 235 Abb. 21. Fremdheit auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Bezugspunkt Sportunterricht .............................................................. 279

Tabellenverzeichnis Tab. 1.

Deskriptive Daten der Stichprobe .......................................... 143

Tab. 2.

Beispielhafter Kodierleitfaden des anfänglichen Umgangs mit Fremdheit mit der Kategoriedefinition, dem Ankerbeispiel und den Kodierregeln ............................................................. 156

Tab. 3.

Transkriptionsregeln .............................................................. 162

Tab. 4.

Für die Analyse relevante Spiele. Strukturiert nach zeitlichkontextuellen Rahmenbedingungen ...................................... 169

Tab. 5.

Zusammenfassende Darstellung der übergeordneten Spielkontexte.................................................................................. 172

1

Einleitung

1.1

Problemstellung

Durch Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse gilt kulturelle Heterogenität als Strukturmerkmal moderner Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die pädagogische Herausforderung der Förderung eines konstruktiven Umgangs mit kultureller Vielfalt und den sich eventuell daraus ergebenden Fremdheitserfahrungen. Eine eindeutige Grenzziehung durch ein binäres Außen-Innen-Schema ist in der heutigen individualisierten Gesellschaft längst hinfällig, weshalb kleinere und größere Fremdheitserfahrungen alltäglich und in vielfältigen Kontexten gemacht werden: „Es gehört folglich zu den ganz normalen Alltagserfahrungen in modernen Gesellschaften, dass Individuen zueinander in Beziehung treten, die sich – was ihre religiösen Überzeugungen, ihre sexuellen Vorlieben oder ihre Ernährungsgewohnheiten betrifft – fremd sind“ (Scherr, 1999, S. 57).

Um einen konstruktiven Umgang mit Fremdheit zu fördern, eignet sich die Bereitstellung von strukturierten Lernarrangements für Schüler/innen, mit dem Ziel der Entwicklung einer interkulturellen Kompetenz oder „Fremdheitskompetenz“ (Jakubeit & Schattenhofer, 1996) in dem Sinne sich „mit dem Reflex auseinanderzusetzen, Uneinheitliches als etwas Feindliches zu betrachten und Brüche nicht nur als bedrohlich, sondern auch als reizvoll anzusehen“ (Jakubeit & Schattenhofer, 1996, S. 406). Gesellschaftliche Ereignisse von fremdenfeindlichen Ausschreitungen und rechtsextremen Gewalttaten sind aktuell in den Medien präsent, aber hatten auch schon in den 1980er Jahren mediale Brisanz und waren Gegenstand von Forschungsarbeiten (u.a. Heitmeyer, 1987). In dieser Zeit entwickelte sich bereits die pädagogische Forderung gegen diese Tendenzen zu steuern. Auf der anderen Seite entstehen gesellschaftliche Bewegungen, die von einer prinzipiellen Offenheit für Fremde und Fremdes gekennzeichnet sind. Die öffentliche Debatte zum Thema Fremdheit ist durch offenkundige Ambivalenzen gekennzeichnet. Einerseits wird sie als Chance, andererseits als Bedrohung angesehen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_1

2

1 Einleitung

Der Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule greift die soziokulturelle Vielfalt der Gesellschaft auf und möchte Kinder und Jugendliche für ein Aufwachsen und Handeln in solch heterogenen und durchaus ambivalenten Lebenswelten vorbereiten. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) plädierte 1996 erstmalig explizit dafür, Interkulturelle Bildung und Erzie1 hung als schulart- und fächerübergreifende Aufgabe zu verankern, um bei allen Kindern und Jugendlichen einen konstruktiven Umgang mit kultureller Vielfalt bzw. eine interkulturelle Kompetenz zu fördern. Dies soll durch einen „Perspektivwechsel, der die eigene Wahrnehmung erweitert und den Blickwinkel der anderen einzunehmen versucht“ (KMK, 1996, S. 6) erreicht werden. Als didaktische und methodische Hilfestellung zur Umsetzung interkultureller Lernanlässe, werden verschiedene Hinweise für unterschiedliche Unterrichtsfächer beschrieben. Auch wenn prinzipiell allen Fächern das Potenzial für interkulturelles Lernen und der Aufarbeitung von `Eigenem´ und `Fremdem´ zugesprochen wird, findet der Sportunterricht – im Gegensatz zu den meisten anderen Unterrichtsfächern – keine explizite Erwähnung. Die von der KMK aktualisierte Fassung aus dem Jahr 2013 betont zwar ebenfalls die Förderung interkultureller Kompetenz von Schüler/innen als Ziel Interkultureller Bildung und Erziehung, widmet sich in ihren Ausführungen aber primär strukturellen Bedingungen innerhalb der Schule wie der interkulturellen Öffnung und dem Abbau struktureller Diskriminierung. Auf der Fächerebene wird ausschließlich der (Fremd-)Sprachunterricht als Handlungsfeld für interkulturelle Lernprozesse konkret benannt. Die bisher vernachlässigte Thematisierung des Potenzials von Sportunterricht für interkulturelle Lernprozesse wird von Gieß-Stüber erstmalig im Jahr 1999 und später gemeinsam mit Grimminger (2008) aufgegriffen, die darauf hinweisen, dass der Sportunterricht in zweierlei Hinsicht vielversprechend für interkulturelle Lernprozesse zu sein scheint: Zum einen steht der Körper als Träger sozialer Praktiken im Mittelpunkt des sportunterrichtlichen Geschehens, wodurch unterschiedliche 1

Nachfolgendend wird das Adjektiv `interkulturell´ als Bestandteil von mehrteiligen Eigennamen (beispielsweise in Konzeptnamen wie „Interkulturelle Erziehung und Bildung“ oder „Interkulturelle Bewegungserziehung“) großgeschrieben.

1.1 Problemstellung

3

körperliche Darstellungsformen wie Gestik, Reaktions- und Spielweisen oder Körperhaltungen sichtbar werden und thematisiert werden können. Zum anderen scheinen Lehr- und Lernformen besonders vielversprechend, die nicht nur kognitiv und handlungsorientiert, sondern auch affektiv besetzt sind, sodass eine emotionale Beteiligung in der Begegnung mit Fremdheit Ausdruck finden kann (vgl. auch Nieke, 2008, S. 77-78). Dies gilt vor dem holistischen Verständnis von Bewegung, Spiel und Sport in besonderer Weise. In der sportwissenschaftlichen Forschungslandschaft beschäftigt sich seit den 1990er Jahren die deutsch-norwegische Arbeitsgruppe um GießStüber (1999) und Erdmann (1999a) mit der Frage, wie ein konstruktiver Umgang mit kultureller Vielfalt und den eventuell damit einhergehenden Fremdheitserfahrungen gefördert werden kann. Unter dem Label der Interkulturellen Bewegungserziehung elaborierte die Forschungsgruppe eine Heuristik, die sozialpsychologische und identitätstheoretische Überlegungen zum Umgang mit Fremdheit vereint. Abgeleitet aus diesem theoretischen Rahmenkonzept entwickelte Gieß-Stüber (1999, 2008) didaktische Leitideen einer Interkulturellen Bewegungserziehung. Ziel der Interkulturellen Bewegungserziehung ist es, über Bewegung, Spiel und Sport eine (kritische) Auseinandersetzung mit sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen anzuregen (Gieß-Stüber, 2008, S. 237), die wiederum zu den pädagogischen Zieldimensionen der gleichberechtigten Anerkennung anderer Kulturen und dem Abbau hierarchischer Verhältnisse führen könnte. Ein Teil der didaktischen Leitideen lässt sich in die übergeordnete Kategorie „Fremdheit als Bildungsanlass“ (Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, S. 235) zuordnen, welche in der vorliegenden Arbeit als handlungsleitende didaktische Inszenierungsform angewandt wurde. Im Rahmen der Intervention sollten durch eine spezifische didaktische Inszenierung sportunterrichtliche Momente der Begegnung mit `Fremdheit´ für Schüler/innen geschaffen werden, die anschließend sprachlichreflexiv mit der gesamten Klasse aufgegriffen wurden. Ziel der sprachlichen Reflexion im Rahmen dieser Studie ist es, Bezüge der erlebten sportunterrichtlichen Inhalte zu „außerunterrichtlichen und außerschulischen Handlungsfeldern“ (Gieß-Stüber, 2008, S. 241) zu schaffen. Fremdheit wird im Rahmen der Arbeit als übergeordnetes affektives Phä-

4

1 Einleitung

nomen verstanden, welches Individuen prinzipiell in jeder Interaktion widerfahren kann (Scherr, 1999, S. 57). Fremdheit stellt Eigenes in Frage und steht im situativen Widerspruch zu eigenen Bedürfnissen, Interessen und Normen. Somit ist Fremdheit nicht ausschließlich als ein ethnisches oder migrationsspezifisches Phänomen zu verstehen. Da bisherige Studien innerhalb des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung die Prozessebene des Sportunterrichts nicht systematisch miterhoben und analysiert haben, greift die vorliegende Arbeit diese Forschungslücke auf und setzt die Analyse der Umgangsweisen der Schüler/innen auf die didaktisch inszenierte sportunterrichtliche Fremdheit in den Fokus. 2 Die eigene Arbeit knüpft an eine quasi-experimentelle Studie an, die durch die sportunterrichtliche Intervention versuchte, Einstellungen zum Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft zu verändern (Grimminger-Seidensticker & Möhwald, 2017). Anhand von qualitativen Videodaten und deren Mikroanalysen kann rekonstruiert werden, ob und wie Schüler/innen mit den vorgegebenen (intendiert befremdlichen) Interventionsinhalten umgehen und diese verarbeiten. Es geht um eine qualitative Untersuchung zum Umgang mit Fremdheit von Schüler/innen in einer theoriegeleiteten Interventionsstudie mit Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung. Die Ergebnisse der videobasierten Daten können somit zu einem besseren Verständnis über die Prozess- und Interaktionsebene innerhalb der Unterrichtseinheit beitragen und daran anknüpfend chancenreiche sowie herausfordernde Momente der sportunterrichtlichen Inhalte zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ aufdecken. 1.2

Zielstellung der Arbeit

Die qualitative Analyse zum Umgang der Schüler/innen mit pädagogisch inszenierter `Fremdheit´ im Sportunterricht bietet Einblicke und Analysemöglichkeiten auf Prozess- und Akteursebene, was in der bisherigen 2

Die Dissertation wurde im Rahmen der von der Baden-Württemberg-Stiftung geförderten und von Prof. Dr. Elke Grimminger-Seidensticker geleiteten Studie „Sportunterricht als Lernfeld für soziale Beziehungen in einer von Heterogenität gekennzeichneten Lebenswelt? Empirische Überprüfung der Wirksamkeit eines sportdidaktischen Konzepts“ verfasst.

1.2 Zielstellung der Arbeit

5

sportpädagogischen Forschungslandschaft selten berücksichtigt wird. Die Arbeit befasst sich inhaltlich mit der empirischen und systematischen Überprüfung der Umgangsweisen der Schüler/innen auf die didaktische Inszenierung von `Fremdheit´ im Sportunterricht, die als Anlass für (potenzielle) Lern- und Bildungsanlässe gesehen werden. Fremdheit ist als theoretisches Konstrukt nicht direkt beobachtbar. Deshalb richtet sich zunächst der Fokus darauf, ob und wie die Schüler/innen auf die sportunterrichtlichen Inhalte, die eventuell Fremdheit erzeugen, umgehen. Der Umgang richtet sich sowohl auf der sichtbaren Ebene von Handlungsstrategien auf die sportdidaktischen Inszenierungen als auch auf der sprachlichen Verarbeitung des Erlebten in Reflexionsgesprächen. In beiden Verarbeitungsvorgängen kann die affektive Komponente des Fremdheitserlebnisses sicht- bzw. hörbar werden und eine Rekonstruktion des situativ Erlebten erfolgen. Durch die Einordnung der unterschiedlichen Strategien im Umgang mit Fremdheit in identitätstheoretische und sozialpsychologische Ansätze bietet die Arbeit eine systematische Analyse von Umgangsweisen der Schüler/innen auf didaktisch inszenierte Fremdheit im sportunterrichtlichen Setting. Unter Einbeziehung und Kontextualisierung der didaktischen Inszenierungen, kann differenziert dargelegt werden, ob und wie die Schüler/innen auf beobachtbarer und sprachlicher Ebene mit den jeweiligen `Fremdheitsspielen´ und ihren Spiellogiken umgehen, sie sprachlich verarbeiten und Bezüge der sportunterrichtlichen Erlebnisse zu ihrem Lebensalltag herstellen. Folglich analysiert die vorliegende Arbeit das (didaktische) Konzept der Interkulturellen Bewegungserziehung innerhalb der Sportunterrichtwirklichkeit und fokussiert hierbei die Akteursseite der Schüler/innen. Durch die konsequente Kontextualisierung der Umgangsweisen auf das sportunterrichtliche Spiel können Überlegungen für weitere didaktische Inszenierungen von Fremdheitsspielen und deren sprachliche Bearbeitung im Schulsport diskutiert werden. Zusammenfassend lauten die Fragestellungen der Arbeit wie folgt: x

Wie gehen Schüler/innen mit den sportdidaktischen Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ um?

6

1 Einleitung Welche beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen auf didaktisch inszenierte Fremdheitsspiele werden sichtbar? o Wie verarbeiten Schüler/innen die didaktisch inszenierten Fremdheitsspiele sprachlich und inwiefern kann die im Sportunterricht inszenierte Fremdheit mit außersportunterrichtlichen Situationen verknüpft werden? Welche perspektivischen Überlegungen können anhand der Ergebnisse für die Sportunterrichtspraxis im Sinne der Interkulturellen Bewegungserziehung getroffen werden? o

x

1.3

Aufbau der Arbeit

Da sich die eigene Arbeit in das Forschungsprogramm der Interkulturellen Bewegungserziehung einordnet, das wiederum in den Diskurs der Interkulturellen Erziehung und Bildung einzubetten ist, erfolgt in Kapitel 2 die Nachzeichnung der historischen Genese der Interkulturellen Erziehung und Bildung in Verknüpfung mit den jeweiligen bildungspolitischen Diskursen. Es wird deutlich, welche Ziele und Aufgaben mit dem Konzept der Interkulturellen Erziehung und Bildung verbunden sind und aus welchen konzeptuellen und historisch gerahmten Überlegungen sich das Forschungsprogramm der Interkulturellen Bewegungserziehung entwickelte. Ein zentrales analytisches Konstrukt der Arbeit ist das Konzept der Fremdheit, weshalb die historische Entwicklung des sportwissenschaftlichen Diskurses von Fremdheit dargelegt wird. Darauf folgend wird der Forschungsstand zu den in der Arbeit relevanten inhaltlichen und analytischen Ebenen gespannt (Kapitel 3). Neben empirischen Studien zu interkulturellem Lernen durch Bewegung, Spiel und Sport, wird auch auf empirisch identifizierte Handlungsweisen von Schüler/innen im Kontext von konventionellem, aber auch spezifisch inszeniertem Sportunterricht eingegangen. Ebenso werden bisherige Studien zu Reflexionsgesprächen im Sportunterricht dargelegt. Daran anknüpfend werden unterschiedliche, in der Arbeit verwendete, Begrifflichkeiten dargelegt und die theoretische Rahmenkonzeption rund um Fremdheit, welche vor allem sozialpsychologische und identitätstheo-

1.3 Aufbau der Arbeit

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retische Annahmen vereint, vorgestellt. Das Kapitel 4 abschließend, werden potenzielle Umgangsstrategien mit Fremdheit aufgezeigt. Kapitel 5 schlägt eine Brücke von der Theorie zur Praxis und stellt die für diese Arbeit bedeutsamen sportunterrichtlichen Inhalte vor, die theoretisch in die didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung verortet werden. Auf einer übergeordneten Basis werden die Sportunterrichtsinhalte bildungstheoretisch begründet und in die Leitgedanken eines erziehenden Sportunterrichts eingeordnet. Kapitel 6 legt transparent die method(olog)ischen Schritte und Entscheidungen der Untersuchung dar, welche Phasen der Organisation, sowie Datenerhebung und -auswertung betreffen. Durch die Offenlegung und Begründung der method(olog)ischen Abschnitte wird eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Studie angestrebt. Anschließend werden die empirischen Ergebnisse der Untersuchung in Kapitel 7 vorgestellt, wobei sowohl die Befunde der beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen als auch die der sprachlichen Verarbeitung der Schüler/innen auf die sportunterrichtlich inszenierte Fremdheit dargelegt und unter Bezugnahme von sozialpsychologischen und identitätstheoretischen Annahmen interpretiert werden. Die empirischen Befunde auf der sowohl beobachtbaren als auch auf der sprachlichen Ebene werden in Kapitel 8 zusammengeführt, strukturiert und integrativ diskutiert. In diesem Kapitel werden zudem auf Basis des diskutierten empirischen Materials Überlegungen zur weiteren Inszenierung von sportunterrichtlicher Fremdheit getroffen. Nachdem die Stärken und Schwächen der eigenen Untersuchung offengelegt werden (Kapitel 9), folgen abschließend ein Fazit der empirischen Untersuchung und ein Ausblick für weitere Forschungsperspektiven im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung (Kapitel 10).

2

Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung – Historische Entwicklung

Zur Kontextualisierung der Genese des sportpädagogischen Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung wird zunächst Bezug zum `Mutterkonzept´ der Interkulturalität im erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs genommen. Anschließend wird auf die historische und konzeptuelle Entwicklung von Interkulturalität im sportwissenschaftlichen Bereich eingegangen, wobei näher auf die Entwicklung und Bedeutung des Fremdheitsdiskurses, sowie auf die Entstehungsgeschichte des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung eingegangen wird. 2.1

Historische und konzeptuelle Entwicklung: Interkulturalität im erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs

Die Interkulturelle Pädagogik als erziehungswissenschaftliche Fachrichtung etablierte sich in der Bundesrepublik Deutschland in der Wende der 1960er und 1970er Jahre (Gogolin & Krüger-Potratz, 2006, S. 139) und kann auf die Folgen der Arbeitsmigration in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zurückgeführt werden (Auernheimer, 2012, S. 9). Die hervorgerufenen gesellschaftlichen Veränderungen einer unmittelbar entstandenen „Nachbarschaft mit fremden Lebensweisen und Kulturen“ (Auernheimer, 2012, S. 9) forderte die Erziehungswissenschaft zu neuen pädagogischen Konzepten heraus. Interkulturelle Pädagogik greift somit den Umstand auf, dass der deutschen Gesellschaft und ihrem Bildungswesen Angehörige unterschiedlichster Kulturen zugehören und dadurch das „Innen-Außen-Schema, mit dem andere Lebensformen auf Distanz gehalten werden konnten, nicht mehr funktioniert, so dass Fremdheit allgegenwärtig wird“ (Auernheimer, 2012, S. 15). Für das Verständnis der heutigen Auffassung von Interkultureller Erziehung und Bildung ist die historische, erziehungswissenschaftliche und bildungspolitische Entwicklung der verschiedenen Konzepte der Interkulturellen Pädagogik bedeutsam, da somit die sich im Laufe der Zeit ändernden zentralen Herausforderungen, Fragestellungen und Absichten © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_2

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

im Hinblick auf praktische und theoretische Lösungen vergegenwärtigt werden können. Nieke (2008, S. 13-21) gliedert die historische Entwicklung der Konzepte zu interkulturellem Lernen im schulischen Kontext in sechs Pha3 sen. Die ersten fünf Entwicklungstendenzen sind auch in den von der Kultusministerkonferenz (KMK) ausgesprochenen Empfehlungen zu erkennen (Grimminger, 2009, S. 9). 1. Gastarbeiterkinder an deutschen Schulen: „Ausländerpädagogik“ als Nothilfe 2. Kritik an der Ausländerpädagogik 3. Konsequenzen aus der Kritik: Differenzierung von Förderpädagogik und Interkultureller Erziehung 4. Erweiterung des Blicks auf die ethnischen Minderheiten 5. Interkulturelle Erziehung und Bildung als Bestandteil von Allgemeinbildung 4 6. Neo-Assimilationismus Durch die Strukturierung von Nieke (2008) werden die pädagogischen Antworten auf die sozialen Veränderungen durch eine migrationsspezifisch bedingte, kulturell heterogene Gesellschaft nachgezeichnet. Die ersten pädagogischen Konzepte zu einer von Migration geprägten Gesellschaft sind durch defizitorientierte Ansätze gekennzeichnet, die sich auf die einseitige und problemorientierte Förderung von ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund beschränken. In der Weiterentwicklung der Konzepte schlagen sich integrative Ansätze durch, die dem komplexen Feld der kulturellen Heterogenität und Bildung gerechter wer3

Zu beachten gilt, dass die Einteilung von Nieke (2008) ausschließlich ein Rekonstruktionsversuch ist und sich „je nach Perspektive unterschiedliche Einschnitte, Paradigmenwechsel identifizieren lassen“ (Auernheimer, 2007, S. 34-35).

4

Im Gegensatz zu früheren Werken implementierte Nieke in seiner erneuten Auflage aus dem Jahr 2008 eine sechste Phase der Interkulturellen Pädagogik, da für ihn in der heutigen Zeit eine neue Grundorientierung zu erkennen ist, in der eine „Anstrengung der Zuwanderer, ihre Herkunftsländer zu verlassen und sich der Mehrheitskultur möglichst vollständig anzupassen“ (Nieke, 2008, S. 21) gefordert wird. Diese sechste Phase des Neo-Assimilationismus ist in öffentlichen Diskussionen rund um Zuwanderung vertreten, in der Bildungspolitik hat sich die Tendenz zu Neo-Assimilationismus (noch) nicht manifestiert.

2.2 Ziele und Grundrichtungen

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den und nicht nur alle Schüler/innen in Blick nehmen, sondern auch strukturelle Gegebenheiten mitberücksichtigen (Auernheimer, 2012; Nieke, 2008). Dem möchte sich die Arbeit anschließen und ein Konzept aufgreifen, dessen allgemeinbildende Inhalte für alle Schüler/innen bedeutsam sind und worin eine kritische Auseinandersetzung mit strukturellen Bedingungen, den sich eventuell ergebenden sozialen Benachteiligungen und Machtverhältnissen erfolgt. 2.2

Ziele und Grundrichtungen der Interkulturellen Erziehung und Bildung

Die Interkulturelle Pädagogik basiert auf zwei Grundsätzen: dem Prinzip der Anerkennung und dem Prinzip der Gleichheit (Auernheimer, 2012, S. 20). Letzteres kann von Pädagogen/innen nur im begrenzten Maße gefördert werden und betrifft oftmals ein Umdenken und eine Veränderung auf struktureller und politischer Ebene. Jedoch kann das Bewusstsein für soziale Ungleichheit bei den Lernenden geschärft und über strukturelle Ungleichheit und diskriminierende Praktiken aufgeklärt werden (Auernheimer, 2010, S. 123). Die Interkulturelle Erziehung und Bildung schließt immer auch antidiskriminierende und menschenrechtliche Erziehung ein. Ziel Interkultureller Erziehung und Bildung ist es also, hierarchische Verhältnisse abzubauen und Differenzen als gleichberechtigt anzuerkennen, wie es auch die Pädagogik der Vielfalt fordert (Prengel, 2006). Dies bedarf spezifischer Kompetenzen, damit konstruktiv mit entstehenden Fremdheitserfahrungen innerhalb der Kulturkreise umgegangen werden kann (Grimminger, 2009, S. 6). Konstruktiv soll bedeuten, dass Fremdes und Unbekanntes nicht zwangsläufig als Bedrohung, sondern vielmehr „als Chance zur Veränderung bzw. als gleichberechtigtes Phänomen einer sie [die Schüler/innen, AM] umgebenden komplexen Lebens- und Erfahrungswelt“ (Grimminger, 2005, S. 152) gesehen werden kann. Diese Zielvorstellung interkulturellen Lernens ist auch anschlussfähig an das von Jakubeit und Schattenhofer (1996) vorgeschlagene Ziel des Aufbaus und der Förderung einer „Fremdheitskompetenz“. Die Autoren machen die eigene Person, sowie die Reflexion und den Umgang mit zum Teil widersprüchlichen Perspektiven innerhalb der eigenen Person zum zent-

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

ralen Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Es sollen Lernarrangements geschaffen werden, die sensibel und handlungsfähig machen „für einen bewußten [sic!] Umgang mit Unterschieden, […] sich bewußt [sic!] mit dem Reflex auseinanderzusetzen, Uneinheitliches als etwas Feindliches zu betrachten und Brüche nicht nur als bedrohlich, sondern auch als reizvoll anzusehen. Fremdheitskompetenz bedeutet auch den Umgang mit Unterschieden und den verschiedenen Seiten – auch den bi- und multikulturellen Seiten – in der eigenen Person“ (Jakubeit & Schattenhofer, 1996, S. 406).

Die Förderung eines konstruktiven Umgangs mit Fremdheit richtet sich an alle Mitglieder der Gesellschaft. Auf der gesellschaftlichen Ebene gilt es Rahmenbedingungen zu schaffen, die allen Schüler/innen die gleichen (Bildungs-)Chancen und Zukunftsperspektiven bieten und institutionelle Diskriminierungen verhindern (Gomolla & Radtke, 2009). Einem emanzipatorischen Ansatz folgend ist die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins gegenüber bestehenden strukturellen Benachteiligungen und sozialen Ungleichheiten Teil von Interkultureller Erziehung und Bildung (Auernheimer, 2001a, S. 353). Auch Scherr (1998) vertritt die Position im Rahmen der Interkulturellen Pädagogik, die durch ökonomische, rechtliche und politische Ungleichbehandlungen hergestellten Konfliktsituationen zu analysieren. Er fordert dazu auf, die gesellschaftlichen Konstruktionen von Fremdheit, ihre Voraussetzungen, Formen und Folgen zu analysieren (Scherr, 1998, S. 56). Ein konstruktiver Umgang mit Fremdheit kann als Facette von interkultureller Kompetenz gesehen werden, welche durch interkulturelle Lernprozesse angeregt wird. In Form eines dialektischen Prozesses werden eigene und fremde kulturelle „Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsmuster erkannt, verstanden und reflektiert“ (Gieß-Stüber & Grimminger, 2007, S. 113). Um interkulturelle Lernprozesse anzuregen, werden nach Hohmann (1987; in Nieke, 2008, S. 35) zwei konzeptuelle Richtungen in der Interkulturellen Erziehung und Bildung unterschieden: Entweder kann eine Pädagogik der Begegnung im Sinne der Kenntnisnahme der anderen Kultur anhand von gegenseiteigen Informationen, Repräsentationen der fremden Kultur im öffentlichen Leben und gegenseitiger kulturelle Bereicherung forciert werden oder die Reaktion der Majorität auf Befremdung und Konkurrenz rückt verstärkt in den Vorder-

2.2 Ziele und Grundrichtungen

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grund. Insgesamt werden die Bekämpfung von z.B. Diskriminierung, Feindseligkeiten und Vorurteilen gegenüber anderen Personen sowie die Herstellung von Chancengleichheit fokussiert. Die beiden Konzeptualisierungen von Begegnungs- und Konfliktorientierung stellen somit die beiden Grundrichtungen der Interkulturellen Erziehung und Bildung dar. Die eigene Arbeit verortet sich in einer eher konfliktorientierten Grundrichtung. In der Annahme, dass mithilfe der in den verschiedenen Konzepten verankerten didaktisch-methodischen Maßnahmen interkulturelle Lernprozesse angeregt werden können, kann sich gegebenenfalls der kulturelle Habitus jedes Einzelnen verändern (Dietrich, 2000, S. 347) und somit auch der Umgang mit der eigenen und der fremden Kultur (GießStüber & Grimminger, 2007, S. 113). Die im wissenschaftlichen Diskurs formulierten Ziele und Leitgedanken Interkultureller Erziehung und Bildung finden sich auch in bildungspolitischen Papieren wieder. Der Ansatz des interkulturellen Lernens findet erstmals Ausdruck in der Empfehlung der Kultusministerkonferenz von 1996, in der Interkulturelle Erziehung und Bildung als schulart- und fächerübergreifende Aufgabe, als „Querschnittsaufgabe in der Schule“ (KMK, 1996, S. 7), angesehen wird. Die dort aufgeführten Ziele wie das Reflektieren des eigenen Standpunktes oder das Respektieren von Anderssein basieren auf dem Grundsatz, „dass alle Menschen gleichwertig und dass ihre Wertvorstellungen und kulturellen Orientierungen zu achten sind“ (KMK, 1996, S. 5). Die Fassung von 1996 wurde im Jahr 2013 aktualisiert, wobei die Grundgedanken und Ziele Interkultureller Bildung und Erziehung bestehen blieben, aber Konkretisierungen zur schulischen Umsetzung von interkulturellen Prozessen im Bereich der Elternarbeit und des Erwerbs (fremd)sprachlicher Kompetenzen formuliert wurden. In den baden-württembergischen5 Bildungsstandards aus dem Jahr 2004 finden die Begrifflichkeiten der Interkulturellen Bildung und Erziehung oder des interkulturellen Lernens keine explizite Verwendung. Jedoch werden aus der für alle Schulformen geltenden Präambel ebenfalls Zielsetzungen Interkultureller Erziehung und Bildung deutlich, da sich Schule als „Lernfeld für die Beziehungen der jungen Menschen unterei5

Die vorliegende Studie wurde in Baden-Württemberg durchgeführt, weshalb aus dem Bildungsstandard bzw. Bildungsplan jenes Bundeslandes zitiert wird.

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

nander und zwischen ihnen und Personen aus anderen Kulturen, mit anderen Biografien, Wertvorstellungen, Lern- und Denkgewohnheiten – mit anderen Stärken und Schwächen, Erwartungen und Erschwernissen“ (MKJS Baden-Württemberg, 2004a, S. 10) versteht. Der aktuell gültige Bildungsplan aus Baden-Württemberg aus dem Jahr 2016 formuliert explizit die „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ als eine überfachliche und zentrale Leitperspektive von Schulen. In der detaillierter ausgeführten Beschreibung dieser Leitperspektive wird der konstruktive Umgang mit Vielfalt als eine wichtige Kompetenz in einer durch Individualisierung und Pluralisierung gekennzeichneten Gesellschaft gesehen. Vielfalt in der Gesellschaft ist facettenreich und umfasst „Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit, Nationalität, Ethnie, Religion oder Weltanschauung, unterschiedlichen Alters, psychischer, geistiger und physischer Disposition sowie geschlechtlicher Identität und sexueller 6 Orientierung“ (KMK, 2016). Das zentrale Anliegen dieser schulischen Leitperspektive ist die Förderung der gegenseitigen Achtung und Wertschätzung von Verschiedenheit. Durch das Hineinversetzen in andere Personen und Persönlichkeiten im Sinne von Empathie soll das Bewusstsein für die eigene Identität geschärft werden. Gleichzeitig soll erfahren werden, dass die Identität anderer keine zwangsläufige Bedrohung der eigenen Identität bedeutet. In diesem Zusammenhang wird im baden-württembergischen Bildungsplan die Bedeutung der Fähigkeit zum interkulturellen und -religiösen Dialog bei unterschiedlichen Positionen und eventuellen Konflikten explizit betont. Auch wenn die Interkulturelle Erziehung und Bildung innerhalb der Erziehungs- und Bildungswissenschaften Beachtung finden und sich zumindest deren Grundgedanken in den Lehr- und Bildungsplänen niederschlagen, gibt es wenige fachspezifische Ausführungen, Arbeiten und Diskussionen zu dieser Thematik. Auch Gogolin und Krüger-Potratz (2006, S. 170) konstatieren, dass es – außer im sprachdidaktischen Be6

Die für die baden-württembergischen Bildungspläne geltenden Leitperspektiven sowie deren Ausführung sind bislang ausschließlich online aufrufbar: http://www.bildungsplaenebw.de/,Lde/Startseite/BP2016BW_ALLG/BP2016BW_ALLG_LP_BTV (letztmaliger Zugriff am 15.01.2019)

2.3 Interkulturalität und Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs 15 reich – bedeutsame Lücken in der fachdidaktischen Bearbeitung von Themen des interkulturellen Lernens gibt. Innerhalb der Sportwissenschaft wurde der Interkulturalitätsdiskurs – naheliegend in den Teildisziplinen der Sportpädagogik und -didaktik – in den 1990er Jahren aufgegriffen und weiter ausgeführt. Die historische und konzeptuelle Entwicklung von Interkulturalität im sportwissenschaftlichen Diskurs wird im nachfolgenden Kapitel aufgegriffen und vertieft. 2.3

Historische und konzeptuelle Entwicklung: Interkulturalität im sportwissenschaftlichen Diskurs und die Bedeutung des Phänomens „Fremdheit“

Seit den 1990er Jahren beschäftigen sich die Sportpädagogik und -didaktik damit, wie Bewegung, Spiel und Sport zu interkulturellen Lernprozessen beitragen können. Gieß-Stüber und Grimminger (2008, S. 225) stellen verschiedene Ansätze zum interkulturellen Lernen in Bewe7 gung, Spiel und Sport auf drei Ebenen gegenüber : 1. Universalität des Sports vs. kulturrelativistisches Verständnis von Bewegung und Sport. 2. Sachorientierung vs. Subjektorientierung. 3. Konzepte, die eine affirmative Position gegenüber bestehenden Schul- und Sportstrukturen einnehmen vs. strukturkritische Konzepte. Die Position von Dietrich (1994) legt nahe, dass sich Bewegung, Spiel und Sport als angemessene Medien für interkulturelle Lernanlässe eignen, da diese ein „universales, weltweit verbreitetes kulturelles Phänomen“ (Dietrich, 1994, S. 24) seien. In Anlehnung an Merleau-Ponty und Bourdieu ist nach Dietrich (1994) die kulturelle Identität eines Menschen im Körper und in bzw. über Bewegung verankert, weshalb (sprachliche) Distanzen zu anderen Sporttreibenden überbrückt werden können. Der Körper diene als Medium zum Verständigen, Verstehen und sich Ausdrü7

Huh (2010) strukturiert ebenfalls verschiedene Konzepte zu interkulturellem Lernen im Kontext des Sports, die sich teilweise mit Gieß-Stüber und Grimmingers (2008) Strukturierung überschneiden. Huh verweist auf gesellschaftsorientierte, subjektorientierte und phänomenenorientierte Grundorientierungen und stellt didaktische Perspektiven und praktische Umsetzungsmöglichkeiten der jeweiligen Ansätze dar.

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

cken, sodass ein Dialog zwischen Sportler/innen durch die in der Bewegung manifestierten eigenen Symboliken entstehe, welche von allen Beteiligten verstanden werden und somit ein interkulturelles Lernen erleichtern. Als interkulturelles Lernen definiert Dietrich (1994, S. 24) einen Prozess, „in dem (eigene und fremde) kulturelle Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsmuster als solche erkannt und reflektiert werden können“. Als unabdingbare Voraussetzung gilt hierfür die gegenseitige Bereitschaft, Unterschiede wahrzunehmen, diese zu tolerieren und zu akzeptieren. Die Institution Schule bietet in einer „gleichsam neutralen Atmosphäre“ (Dietrich, 1994, S. 24) die Chance, kulturelle Unterschiede zu thematisieren und Lern- und Erfahrungssituationen zu schaffen. In Bezug auf den Sportunterricht zeigt der Autor verschiedene Möglichkeiten interkulturellen Lernens auf, beispielsweise die bewusste Inszenierung von Konfliktsituationen, welche als Ausgangspunkt für interkulturelles Lernen genutzt werden können. Auch durch Bewegungs- und Spielformen anderer Kulturen können kulturelle Unterschiede wahrgenommen und diese mit vertrauten Bewegungsformen der eigenen Kultur in Beziehung gesetzt werden (Dietrich, 1994, S. 25). Gieß-Stüber und Grimminger (2008, S. 226) kritisieren an Dietrichs Argumentation allerdings, dass seine grundlegende Leitidee der Universalität des Sports im Widerspruch dazu steht, dass durch Bewegung kulturelle Unterschiede wahrgenommen werden sollen. Roth und Pühse (1996) bzw. Pühse und Roth (1999) beziehen sich bei ihrer Argumentation auf die Theorie des sozialen Lernens, wonach durch interkulturelles Lernen Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Personen erlernt werden. So können in sozialen Lernprozessen verschiedene kulturelle Lebensformen angesprochen, internalisiert und auftretende Konflikte thematisiert werden. Zudem stützen sich Roth und Pühse (1996), wie auch Dietrich (1994), auf die Universalität des Sports, da die sprachlichen Kompetenzen für den sportlichen Erfolg hintergründig sind und somit der Sportunterricht Raum für Chancengleichheit bietet (Pühse & Roth, 1995, S. 4). Aufgrund dessen könnten durch sportliche Erfolge soziale Stellungen im Klassenverband invertiert werden. Pühse und Roth (1995) beziehen sich bei ihren Ausführungen auf Migrant/innen und meinen, dass diese im Sportunterricht eher Erfolge erzielen und den

2.3 Interkulturalität und Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs 17 Respekt der Mitschüler/innen erlangen können als in anderen Fächern, in denen es gegebenenfalls Sprachbarrieren gäbe. Insbesondere im regelgeleiteten Sportspiel sehen die beiden Autoren eine gute Gelegenheit für interkulturelles Lernanlässe, da hier Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme, Rollendistanz und Empathie erlernt werden und diese seien „Dreh- und Angelpunkt des sozialen Lernens, denn es geht um Gestaltung, Reflexion und Transzendierung eigener Befangenheiten und Voreingenommenheit […]“ (Roth & Pühse, 1996, S. 24). Im interkulturellen Sportunterricht wird nach Auffassung von Roth und Pühse (1996, S. 31) die pädagogische Orientierung des Unterrichts im Sinne des erziehenden Sportunterrichts verstärkt ins Zentrum gerückt. Bei den bisherigen Auffassungen werden bestehende strukturelle Gegebenheiten nicht in Frage gestellt, was jedoch Beckers bereits 1993 aufgreift, der einen subjektorientierten Sportunterricht bzw. Schulsport fordert, um bei den Schüler/innen die Fähigkeit zur Empathie zu stärken. Die Kritik, interkulturelles Lernen mit sozialem Lernen gleichzusetzen, liegt darin, dass strukturelle und politische Rahmenbedingungen unberücksichtigt bleiben. So umfasst interkulturelles Lernen neben sozialem Lernen auch politische Bildung und Reflexion, wodurch es zu einer Aufklärung von beispielsweise strukturellen Benachteiligungen von Personen mit geringerer Machtrate kommt (Auernheimer, 1997, S. 308, 2001b, S. 353). Es muss auch kritisch betrachtet werden, ob tatsächlich sportliche Erfolge die Rangordnungen in der Klasse aufzulösen vermögen. GießStüber (1999) weist darauf hin, dass die Akzeptanz vereinzelter leistungsstarker Sportler/innen einem assimilativen, „erfolgsorientierten Kalkül“ (S. 53) unterworfen sein könnte.8 Huh (2010) integriert in ihrem Konzept der Interkulturellen Bewegungs- und Sporterziehung verschiedene bisherige Konzeptualisierungen des sportwissenschaftlichen Diskurses und vereint das subjektorientierte Konzept der Menschenbildung mit bewegungs- uns sportpädagogischen Grundlagen, die anschließend in didaktische Perspektiven und praktische Vermittlungsmöglichkeiten überführt werden. Auch wenn Huh (2010) versucht, bisher dominante sportwissenschaftliche Konzepte der Interkul8

Hierzu siehe auch das Kapitel 4.3 „ Umgang mit Fremdheit“.

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

turellen Erziehung und Bildung integrativ zu vereinen, fehlt in ihrer Konzeptualisierung ebenfalls die Bedeutung der strukturell-gesellschaftlichen Rahmungen interkultureller Prozesse. Insgesamt werden die Annahmen, dass sich der Sport aufgrund seiner Universalität besonders gut für interkulturelle Begegnungen eigne (Dietrich, 1994; Pühse & Roth, 1995; Roth & Pühse, 1996), von verschiedenen Autoren kritisiert. Durch ein universalistisches Verständnis wird der Sport entkulturalisiert, da er frei von allen sozialen und kulturellen Bezügen betrachtet wird. Im Zuge der Erörterung der kritischen Betrachtung eines integrativen Potenzials von Sport, erscheint die theoretische Arbeit von Gebauer (1986) hilfreich. In seinem sozialtheoretischen Zugang wird Fremdheit nicht nur begrifflich in den sportwissenschaftlichen Diskurs eingebracht, sondern auch als relevantes Phänomen im Sport deklariert und bietet eine Analyseebene, um die potenziellen und politisch umworbenen Integrationswirkungen des Mediums Sport genauer zu untersuchen. In seiner Analyse kommt Gebauer (1986, S. 136) zu dem Schluss, dass im Sport „[…] Fremdheit durch die körperliche Interaktion besonders hervorgehoben [wird]“. Fremdheit stellt ein alltägliches Phänomen eines durch Zuwanderungsprozesse geprägten Sports dar, in dem kulturell differente Praxen und Vorstellungen und unterschiedliche Entwürfe von Zugehörigkeit und Andersheit aufeinandertreffen. Gerade im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport spielt der Körper als Träger ethnisch-kultureller Differenz eine tragende Rolle bei der Entstehung von Fremdheit. Aufgrund dieser sozialtheoretischen Analyse attestiert Gebauer (1986) dem Sport keine vielversprechenden Möglichkeiten der Integration, sondern verweist eher auf ein erhöhtes Risiko für die Entstehung ethnisch-kultureller Konflikte. Die Arbeit von Bröskamp (1994), die an die theoretische Arbeit von Gebauer (1986) anschließt, stellt ebenfalls den Körper in den Mittelpunkt von Fremdheitsphänomen im Sport. In Anlehnung an das theoretische Konzept des Habitus und Geschmacks von Bourdieu (1987) werden im sportlichen Kontext Körperpraktiken der Kultur von frühester Kindheit an inkorporiert. Dieser angeeignete Umgang mit dem Körper ist kulturell determiniert und dementsprechend variabel (Bröskamp, 1994, S. 77). So können eine Reihe körperlicher Umgangs- und Darstellungsformen, die in

2.3 Interkulturalität und Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs 19 der Mehrheitsgesellschaft selbstverständlich sind, bei anderen Kulturkreisen Ambivalenzen auslösen (Bröskamp, 1994, S. 170). Der Körper wird im Sport also „zum exponierten Repräsentanten von ‚Kultur‘, an dem Differenz gewissermaßen ‚ablesbar‘ ist“ (Seiberth, 2010, S. 118). Bei einem kulturellen und sozialen Austausch ist deshalb „[…] ein wirklich unmittelbares gegenseitiges Verstehen eher die Ausnahme als die Regel“ (Bröskamp, 1994, S. 133). Aufgrund der Annahme, dass der Körper als Darstellungsmedium des Sports und gleichzeitig als Träger distinktiver Merkmale gilt, zweifelt Bröskamp (1994) an der These des kulturneutralen Charakters des Sports. Vielmehr weist der Autor darauf hin, dass Sport nicht zwangsläufig kulturelle Verschiedenheiten nivelliert, sondern Differenzerfahrungen vertiefen kann und macht dies in massiven Konflikten zwischen deutschen und türkischen Fußballteams in Berlin und anderen Bundesländern deutlich (Bröskamp, 1994, S. 9). Als Erklärungsfolie für die entstehenden interkulturellen Konflikte wird das Phänomen der körperlichen Fremdheit herangezogen. Zentrale These ist, dass kulturelle Differenzen häufig auf der Ebene des Körperlichen wahrgenommen werden. Obwohl im Sport die Dominanz von sprachlicher Verständigung aufgehoben ist, muss bedacht werden, dass im Sport selbst tief verwurzelte Werte und Normen zum Vorschein kommen, die sich wiederum in der individuellen Erscheinung, der Bewegungsweise und dem Umgang mit dem Körper bei sportlichen Handlungen niederschlagen und dadurch körperliche Fremdheit erzeugen können. Ein wesentliches Charakteristikum sozialer Interaktionen im Sport ist, dass sie körperlicher Art sind. Der Körper, dessen Präsentationen und Verwendungsweisen rücken in den Mittelpunkt der (Inter-)Aktion. Bröskamp (1994, S. 80) weist auf folgende zentrale Problematik hin: „Die zentrale Schwierigkeit des interkulturellen Sportreibens besteht darin, daß [sic!] die körperliche Andersheit der jeweils anderen Gruppe in der Sportausübung implizit erfahren wird: sie wird gespürt, sinnlich wahrgenommen, ist aber für die Beteiligten außerordentlich schwer zu begreifen und einzuordnen" (Bröskamp, 1994, S. 80).

Diese Fremdheitserfahrungen bei interkulturellen (aber auch bei intrakulturellen) Begegnungen können in Extremfällen in Gewaltausschreitungen

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

eskalieren, wie Bröskamp (1994) es bei am Beispiel von Fußballspielen zwischen deutschen und eigenethnisch-türkischen Vereinen darlegt. Gleichzeitigt betont er, dass der Sport bei entsprechenden Angeboten auch „zu den wichtigsten Möglichkeiten einer regulativen Auseinandersetzung mit körperlicher Fremdheit zählt. Denn hier kann das aktivkörperliche Austragen kultureller Verschiedenheiten gelernt werden“ (Bröskamp, 1994, S. 193). In seinen didaktischen Schlussfolgerungen bleibt der Autor allerdings vage. Körperliche Fremdheit kann immer dann auftreten, wenn innerhalb von Interaktionen „über die generativ-strukturierende Vermittlung der diversen Habitus variierende klassenspezifische, regionale, ethnische und/oder feldspezifische kulturelle Codes und Dispositionssysteme situativ aktualisiert werden“ (Bröskamp, 2008, S. 221). Bröskamp (2008, S. 221) konstatiert, dass es so viele (körperliche) Fremdheiten gibt, wie es sozial konstruierte Gruppen, Kategorien und (Sub-)Felder und Kontexte gibt. Das Phänomen der körperlichen Fremdheit eignet sich für die Erklärung und Analyse von sozialen Interaktionen zwischen verschiedenen Personen, in denen beispielsweise interaktiv hergestellte Fehlinterpretationen oder Irritationen auftreten. Auch wenn das theoretische Konzept der körperlichen Fremdheit den sportwissenschaftlichen Diskurs nachhaltig geprägt hat, werden kritische Stimmen gegenüber dem Konzept laut. Seiberth (2010, S. 118) hinterfragt, ob die modernen und vielfältigen Pluralisierungsprozesse „zuverlässige Rückschlüsse auf die Körper- und Bewegungskulturen von Menschen zulassen“. Gerade in Anbetracht der Vielzahl von Personen mit Migrationshintergrund, die bereits in der zweiten oder dritten Generation aufgewachsen sind, „enthält die Unterstellung einer fremden Köper- und Bewegungskultur kulturalistische Implikation“ (Seiberth, 2010, S. 223). Grundsätzlicher stellt sich die Frage, inwiefern das Konzept `Kultur´ als Erklärungsfolie von Verhaltensdifferenzen von einzelnen Individuen angesehen werden kann (Mecheril, 2004; Thiel & Seiberth, 2009) und menschliches Verhalten als „überindividuell vorausgesetzte, kollektive Muster“ (Sökefeld, 2004, S. 23) zu erklären ist. Problematisch ist, dass Kultur als „objektives, deterministisches Konstrukt verwendet wird und dass kausale Zusammenhänge zwischen Kultur und individuellem Han-

2.3 Interkulturalität und Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs 21 deln geschaffen werden“ (Thiel & Seiberth, 2009, S. 18). Das Scheitern der Integration kann so auf eine ethnisch-kulturelle Differenz zurückgeführt und tradiert werden. Die Verwendung solch eines Kulturbegriffs führt zwangsläufig zu Stereotypisierung und Stigmatisierung betroffener Personen und Gruppen. Thiel und Seiberth (2009, S. 19) machen darauf aufmerksam, dass genau dieser Umgang mit dem Kulturbegriff in den körper- und sportsoziologischen Diskursen vorherrscht, indem Menschen mit Migrationshintergrund andere Körperpraxen zugeschrieben werden als die der Mehrheitskultur (Bröskamp, 1994; Gebauer, 1986). Insgesamt kann den Autoren Thiel und Seiberth (2009) darin zugestimmt werden, dass verschiedene Deutungszusammenhänge im Rahmen von Körperpraktiken nicht voreilig auf einer ethnisch-kulturellen Erklärungsfolie interpretiert werden dürfen. Andere, die körperliche Praxis beeinflussende Faktoren wie zum Beispiel die soziale Lage oder auch die Zugehörigkeit zu Sub-Kulturen (z.B. Skater-Szene) könnten ebenfalls als Erklärungsfolie dienen. Dass bestimmte körperliche Praxen inkorporiert sind und im Alltag durch Interaktionen aktiviert werden können, wird nicht in Frage gestellt. Der Körper als Identitätsmedium und seine Praxen im Feld von Bewegung, Ausdruck, Gestik, Mimik und Haltung können salient werden. Die Ausführungen zur (körperlichen) Fremdheit bieten Analysemöglichkeiten, um soziale Interkationen einordnen und interpretieren zu können. Im nachstehenden Kapitel 2.3.1 wird deshalb noch einmal spezifischer auf die Genese des Konstrukts Fremdheit in der Sportwissenschaft – als zentrale Analysekategorie der vorliegenden Arbeit – eingegangen. Insgesamt muss zu den bisherigen Positionierungen zu interkulturellen Begegnungen im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport festgehalten werden, dass konzeptionelle Hilfeleistungen für die Umsetzung von interkulturellen Lernanlässen in Bewegung, Spiel und Sport weitestgehend fehlen bzw. nur ansatzweise formuliert werden. Anknüpfend an Potenziale in der (kulturellen) Begegnung werden in den Arbeiten der Forschungsgruppe um Erdmann (1999, 2005) und Gieß-Stüber (1999, 2003, 2005b, 2006; Gieß-Stüber & Grimminger, 2008) die Möglichkeiten interkultureller Lernprozesse weiter ausgeführt und um didaktische Leitideen ergänzt. Da sich die eigene Studie innerhalb des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung verortet, wird zu einer

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

besseren (historischen) Kontextualisierung die Genese des Forschungsprogramms gesondert und ausführlicher in Kapitel 2.3.2 betrachtet. 2.3.1 Historische Entwicklung von Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs Fremdheit ist das zentrale Analysekonstrukt der Interkulturellen Bewegungserziehung, das somit auch einen besonderen Stellenwert in der eigenen empirischen Studie besitzt. Das Thema „Fremdheit im Sport“ wurde in der gleichnamigen Dissertation von Seiberth (2010) aufgegriffen, die sportwissenschaftliche Diskurse zum Thema Fremdheit anhand von Veröffentlichung seit den 1950er Jahren analysiert, um das Phänomen näher zu bestimmen und anhand eines Analyseschemas das Setting des Sports als Kontext und Gegenstandsbereich für Fremdheitsphänomene zu untersuchen. Hierbei orientiert sich Seiberth (2010) vor allen an sportsoziologischen Diskursen und nimmt insbesondere Fremdheitsphänomene im organisierten Sport in den Blick. Seiberth (2010) zeichnet nach, dass der Fremdheitsdiskurs in der Sportwissenschaft ebenfalls eng an Migrationsbewegungen und an erziehungswissenschaftliche Diskussi9 onen der Interkulturellen Pädagogik gekoppelt ist. In den 1950er und 1960er Jahren war in der Sportwissenschaft das Phänomen Fremdheit ein „verdrängter Gegenstand“ (Seiberth, 2010, S. 6). Erst im Zuge der Ausländerpädagogik in den 1970er und 1980er Jahren (siehe Kapitel 2.1) richtete sich das Forschungsinteresse auf die potenziellen sozialintegrativen Aspekte des Sports in Bezug auf die Eingliederung von aus dem Ausland stammenden Mitbürger/innen; Fremdheit wurde im wissenschaftlichen Diskurs also als Defizit aufgefasst. Das Phänomen der Fremdheit etablierte sich zu dieser Zeit allerdings noch nicht als expliziter Gegenstand in der Sportwissenschaft (Seiberth, 2010, S. 9). Mit der sozial-integrativen Funktion des Sports beschäftigte sich erstmals Frogner (1984), die untersuchte, inwiefern sich Sport zur Eingliederung ausländischer Bürger/innen eignet. Frogner (1984, S. 359) resümiert, dass die integrativen Hoffnungen, die von Seiten der (Sport-)Politik in den Sport gesetzt werden, oftmals zu hochgegriffen sind. Neben der sozial9

Gleichwohl muss betont werden, dass Fremdheit als ethnisch-kulturelle Fremdheit ausschließlich eine Perspektive der Aufarbeitung von „Fremdheit im Sport“ darstellt.

2.3 Interkulturalität und Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs 23 integrativen Reichweite des Sports wurde auch zum ersten Mal die zunehmende Verbreitung eigenethnischer Sportvereine wissenschaftlich diskutiert (Seiberth, 2010, S. 12-13). Insgesamt ist der sportwissenschaftliche Diskurs von Fremdheit in dieser Zeit durch eine defizitorientierte und abgrenzende Perspektive gekennzeichnet. Ziele sind die (einseitige) Assimilation und Sozialintegration der `Minderheiten´. Seit den 1990er Jahren gewinnt das Fremdheitsphänomen im sportwissenschaftlichen Diskurs zunehmend an Bedeutung und ist an Migrations- und Integrationsforschungen gekoppelt. In dieser Phase wird Fremdheit als Differenz wissenschaftlich diskutiert (Seiberth, 2010, S. 16). Die kulturelle Differenz wird zum Erklärungsmodell für Erscheinungsformen von Fremdheit im Sport herangezogen (Bröskamp, 1994; Brös10 kamp & Alkemeyer, 1996; Erdmann, 1999b). Durch das Konstrukt Fremdheit werden Phänomene wie Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus geschärft und in den wissenschaftlichen Diskurs gebracht. Aus einer analytischen Perspektive werden asymmetrische Machtverhältnisse, Diskriminierung, Ungleichheiten und Chancengleichheit im Sport auf Basis von Fremdheitsphänomenen diskutiert. Untersuchungskontext bildet vor allem der organisierte (Leistungs-)Sport (Seibert, 2010, S. 23). In den 1990er Jahren konnte allerdings neben eher soziologischen Beiträgen zum Thema Fremdheit im Sport, der Fremdheitsbegriff auch in den sportpädagogischen und -didaktischen Diskurs gebracht werden. Unter dem Forschungsprogramm der „Interkulturellen Bewegungserziehung“ (siehe nachfolgendes Kapitel 2.3.2) erfolgt eine theoretische Verortung und eine Darlegung der Möglichkeiten und Grenzen von Bewegung, Spiel und Sport vor dem Hintergrund der Interkulturellen Erziehung. Ein zentrales Forschungsthema seit den 2000er Jahren stellt für Seiberth (2010) Fremdheit als Partizipationsproblem dar. Mit Ansätzen der sozialen Ungleichheitsforschung vertreten Forscher/innen die Ansicht, dass die Partizipation im (organisierten) Sport nicht nur von der ethni10

An dieser Stelle wird nicht näher auf die konzeptionellen Arbeiten der Autoren eingegangen. Das Phänomen der körperlichen Fremdheit wurde bereits in Kapitel 2.3 vorgestellt. Die Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung folgt in Kapitel 4 tiefgründiger.

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

schen Herkunft einer Person abhängt, sondern auch von deren sozialer Lage. Untersucht werden hier Partizipationsbedingungen und Ausschlussmechanismen des Sports. Insgesamt machen die Befunde deutlich, dass der universale Sport nicht per se integrativ wirkt und eine Partizipation im hier vorherrschenden Sportsystem vor allem für Heranwachsende aus Familien wahrscheinlich ist, für die Normen und Werte des Sports nicht im Widerspruch zu denen ihrer Alltagskultur stehen. Mit dieser statistischen Unterrepräsentation von spezifischen Gruppen mit Migrationshintergrund wird eine Fremdheit in Organisationskulturen des Sports erkennbar (Seiberth, 2010, S. 29). Dann greifen Erfordernisse des Sports in Identitätskonstruktionen ein, sodass die Erfahrung kultureller Fremdheit naheliegender ist als deren Überwindung. Seiberth (2010, S. 35-36) kommt zu dem Schluss, dass es ein Mangel an tragfähigen Analysen gibt, die der Komplexität von Fremdheitsphänomenen im (organisierten) Sport gerecht werden. Deshalb erstellt er eine Heuristik, auf deren Grundlage Fremdheit im Sport beobachtet, beschrieben und angemessen erklärt werden kann. Der Autor wählt einen sozialkonstruktivistischen Zugang und stellt drei wesentliche Merkmale von Fremdheit fest: Selektivität, Variabilität und Relationalität (Seiberth, 2010, S. 61). Unter Berücksichtigung der wesentlichen Charakteristika von Fremdheit generiert Seiberth (2010) ein systematisches Analysemodell von Fremdheit im Sport. So kennzeichnet der Autor Fremdheit in drei unterschiedlichen Zusammenhängen: Fremdheit wird analysiert als Beziehungserfahrung, als Ordnungsstifter und als Symbolträger, wobei verschiedene Bezugspunkte der Fremdheit identifiziert werden: Körper, Lebensstile und Organisationsstrukturen des Sports. Bei den körperbezogenen Fremdheitsphänomenen nimmt Seiberth Bezug auf das Konzept der körperlichen Fremdheit von Bröskamp (1994, siehe Kapitel 2.3) und analysiert dieses Phänomen kritisch. Fremdheit im Sport kann auch in informellen Interaktionssystemen erfahren werden. Die Ausdifferenzierung von Lebensstilen hat einen erheblichen Einfluss auf den Sport genommen, was sich in der Vielfalt an Sportarten, -räumen und -szenen widerspiegelt (Seiberth, 2010, S. 144). Personen betreiben heutzutage jene Sportart, die mit ihren individuellen Einstellungen und Wertvorstellungen übereinstimmen. Diese werden mit jenen Menschen ausgeführt,

2.3 Interkulturalität und Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs 25 die diese Einstellungen teilen, weshalb lebensstilbedingte Fremdheitsphänomene nicht zwangsläufig etwas mit der ethnischen Herkunft zu tun haben (Seiberth, 2010, S. 144). Fremdheitsphänomene in Organisationsstrukturen beziehen sich auf die Analyseebene, in welcher Weise der organisierte Sport an der Generierung von Fremdheit beteiligt ist (Seiberth, 2010, S. 180). Auf Grundlage der theoretischen Verortung von Fremdheit auf den Ebenen von Körper, Lebensstil und Organisation plädiert Seiberth (2010) in seinen pädagogischen Implikationen für eine Verbindung von Interkultureller und Diversity-Pädagogik, jedoch formuliert er nur sehr vage, welche Möglichkeiten Bewegung, Spiel und Sport für die Förderung eines konstruktiven Umgangs mit Fremdheit bieten. Zusammenfassend verweist Seiberth (2010) für das Phänomen Fremdheit auf verschiedene sportwissenschaftliche Forschungsgegenstände, wobei sein primärer Fokus auf sportorganisatorischen Institutionen liegt. Die eigene Arbeit knüpft an den theoretischen und konzeptionellen Entwicklungen des Fremdheitsphänomens der 1990er Jahre an und legt ihre Hauptaufmerksamkeit auf den Kontext von Bildungsinstitutionen wie die Schule. Es geht dabei um Fragen, inwiefern interkulturelle Lernprozesse angeregt werden können und zu einem konstruktiven Umgang mit Fremdheit beitragen. Unter dem Label der Interkulturellen Bewegungserziehung entwickelte sich ein umfassendes Forschungsprogramm, das in erziehenden Kontexten Anwendung findet. 2.3.2 Historische Einordnung des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung Die vorliegende Arbeit verortet sich in der Linie des umfänglichen Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung, die von Gieß-Stüber (u.a. 1999) und Erdmann (u.a. 1999) begründet wurde. Seit den ersten gedanklichen Auseinandersetzungen mit der Thematik zu Interkulturalität im und durch Sport in den 1990er Jahren wurde das Forschungsprogramm sowohl theoretisch als auch empirisch von der deutsch-norwegischen Arbeitsgruppe kontinuierlich weiterentwickelt. Im Folgenden werden die Anfänge der Interkulturellen Bewegungserziehung

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

verortet, um dann einen Abriss der theoretischen und empirischen Arbei11 ten des Forschungsprogramms zu geben. Die Anfänge des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung liegen in den 1990er Jahren und begründen sich als Reaktion auf fremdenfeindliche Ausschreitungen dieser Zeit. Im Zuge von 12 ausländerfeindlichen Angriffen Anfang der 1990er Jahre kritisierte Brodtmann (1993) die Entwicklungen und Auseinandersetzungen in der sportdidaktischen Wissenschaftslandschaft jener Zeit: „Welche Sportdidaktik ist zeitgemäß, wenn junge Menschen ihre pure Körperlichkeit und Körperkraft mit aggressiven, menschenverachtenden Handlungen oder zumindest mit der deutlichen Bereitschaft zu Gewalt verbinden, mit leeren Gesichtern und Seelen, die zumindest leer von dem sind, was Humanität ausmacht: Empathie, das Sich-einfühlen-Können (und Wollen!) in andere und danach das eigene Handeln ausrichten, bisherige Einstellungen überprüfen und verändern“ (Brodtmann, 1993, S. 2).

Auch Beckers (1993, S. 199) knüpft an die überschlagenden fremdenfeindlichen Ereignissen jener Zeit an und fordert von der Institution Schule und dem Schulsport nachhaltige und langfristige Beiträge, die sich an den pädagogischen Zielen der Begegnung, des Mitleiden-Könnens, der Empathie und des gegenseitigen Respektierens orientieren. Beckers und Brodtmanns Gedanken aufgreifend, beschäftigten sich Gieß-Stüber (1999) und Erdmann (1999) zunächst mit einer Heuristik, die das Phänomen der Abwehr von `Fremden´ und wahrgenommener `Fremdheit´ erklärbar macht. Fremdheit als zentrales Analysekonstrukt (vgl. Kapitel 4.2) in der Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung eröffnet eine Analyseebene, die hinter einer Zu- oder Einordnung von Differenz liegt und eventuell resultierende Ein- oder Ausgrenzungen 11

Dieses Kapitel soll ausschließlich einen groben Überblick über das Forschungsprogramm geben, da einzelne Arbeiten (das theoretische Rahmenkonzept, die didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung, empirische Arbeiten) in nachfolgenden Kapiteln ausführlicher thematisiert werden. Ziel des Abrisses des Forschungsprogramms liegt darin, die enge Verzahnung von Theorie- und Empiriearbeiten aufzuzeigen und zu verdeutlichen, dass das Forschungsprogramm seit seiner Entstehung kontinuierlich weiterentwickelt und ausdifferenziert wurde.

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Allen voran sei der Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in Mölln genannt. Bei diesem mit rechtsextremistischem Hintergrund verübten Verbrechen am 23. November 1992 wurden neun Personen zum Teil schwer verletzt.

2.3 Interkulturalität und Fremdheit im sportwissenschaftlichen Diskurs 27 zu erklären vermag (Gieß-Stüber, 2014, S. 32). Theoretisch vereint die Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung sozialpsychologische Ansätze zum Umgang mit Fremdheit und identitätstheoretischen Überlegungen. Anknüpfend an die entwickelte Heuristik wurden theoriegeleitete sportdidaktische Leitideen formuliert (vgl. Kapitel 5.1). Die sportdidaktischen Leitideen folgen der Frage, wie Lehr- und Lernprozesse im Sport(unterricht) gestaltet werden können, sodass einerseits Identitätsarbeit gefördert und andererseits für einen konstruktiven Umgang mit 13 Fremdheit sensibilisiert wird. Neben Praxisbeispielen (u.a. CabreraRivas, 2001; Gramespacher, 2003; Gramespacher & Grimminger, 2005; Leineweber & Kloock, 2005; Neuber, 1999; Noethlichs, 2005b) wurden in 14 unterschiedlichen Feldern empirische Studien mit der theoretischen Rahmenkonzeption der Interkulturellen Bewegungserziehung durchgeführt (vgl. Kapitel 3.1.1 und 3.1.2). Im Großen und Ganzen lassen sich die bisherigen Arbeiten des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung in folgende Felder unterteilen: Das Dach des Forschungsprogramms bildet die Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung, anhand derer nicht nur didaktische Leitideen abgeleitet wurden, sondern auch Fragebögen zur Operationalisierung zentraler theoretischer Konstrukte konzipiert wurden. Die theoretisch-konzeptionellen Arbeiten waren wegweisend für sowohl professionstheoretische als auch sportunterrichtliche Interventionsstudien. Die Heuristik und didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung bildeten das theoretische Grundgerüst für sportunterrichtliche Inhalte sowie Fortbildungsinhalte, wohingegen die konzipierten und empirisch validierten Fragebögen 13

Wird nun bedacht, dass die Überlegungen zur Entwicklung der Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung als Reaktion auf fremdenfeindliche Angriffe entstand und aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft formuliert wurde, kann geschlussfolgert werden, dass der ursprüngliche Gedanke des Konzepts in der Sensibilisierung der Majorität lag. Es ging darum zu überlegen, wie Bewegung, Spiel und Sport dazu beitragen können, fremdenfeindliche Tendenzen – im Sinne einer `Prophylaxe´ – nicht entstehen zu lassen bzw. – im Sinne einer `Therapie´ – einzudämmen.

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Der Schulsport ist das bedeutendste Forschungsfeld der Interkulturellen Bewegungserziehung. Dieser umfasst neben dem Sportunterricht auch außersportunterrichtliche Bewegungsfelder wie Arbeitsgemeinschaften im Ganztagsunterricht (Gieß-Stüber, 2015). Die didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung sind darüber hinaus auch anschlussfähig im Feld der Entwicklungszusammenarbeit bzw. des „Sports for Developements“ (Gieß-Stüber, Rato Barrio & Ley, 2012).

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2 Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung

die Messinstrumente für Interventionsstudien bildeten. Darüber hinaus bietet die Heuristik auch Anknüpfungspunkte für schul(sport)entwicklungstheoretische Fragstellungen. In Abbildung 1 sind die einzelnen Entwicklungen des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung mit Schlüsselpublikationen aus dem schulischen Bereich mit dem Fokus auf Sportunterricht illustriert, welche sowohl konzeptionell-theoretische Beiträge als auch empirische Studien beinhalten. Die Abbildung verdeutlicht, in welchem Kontext die vorliegende Arbeit anzusiedeln ist – und zwar innerhalb einer quasiexperimentellen Interventionsstudie, die unter dem Dach der Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung mit ihren theoretisch abgeleiteten didaktischen Leitideen eingebettet ist. Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung (u.a. Erdmann, 1999a, 1999b; Gieß-Stüber, 1999) Didaktische Leitideen (u.a. GießStüber, 2003; Gieß-Stüber & Grimminger, 2008)

Fragebogenentwicklung (EsserNoethlichs, 2011; Grimminger & Möhwald, 2015)

Interkulturelle Öffnung (Gieß-Stüber, Grimminger, Seidensticker & Schmerbitz, 2009)

Förderung Interkultureller Kompetenz von Sportlehrkräften (Grimminger, 2009) (Quasi-experimentelle) Interventionsforschung (Grimminger-Seidensticker & Möhwald, 2017; Midthaugen, 2011) Prozessanalysen im Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht (vorliegende Arbeit) Abb. 1. Forschungsprogramm der Interkulturellen Bewegungserziehung im Kontext der Schulsportforschung (schraffiert = theoretisch-konzeptionelle Arbeiten)

2.4 Zwischenfazit: Fremdheit als übergeordnetes Phänomen 2.4

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Zwischenfazit: Fremdheit als übergeordnetes Phänomen von interkulturellen Begegnungen

Der historische Abriss von Interkulturalität im erziehungs- und sportwissenschaftlichen sowie bildungspolitischen Diskurs macht deutlich, dass das Konzept der Interkulturellen Erziehung und Bildung genuin an Migrationsbewegungen gekoppelt ist. Die Historie des sportwissenschaftlichen Diskurses zu dem Phänomen Fremdheit zeigt ebenfalls, dass Fremdheit mit dem `Mutterkonzept´ der Interkulturellen Erziehung und Bildung verwoben ist. Das heißt, dass die Thematisierung und das Aufgreifen von Fremdheit im sportwissenschaftlichen Kontext von Migrationsbewegungen, Herkunft und Kultur im Sinne von Ethnie und Nation miteinander verknüpft sind. Das Konstrukt Fremdheit wird in der deutschsprachigen Sportwissenschaft nur explizit von einzelnen Forscher/innen aufgegriffen und dient dabei als zentrales Analysekonstrukt von interkulturellen Begegnungen. In anderen sportwissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Interkulturalität beschäftigen, schwingen die Begrifflichkeit um Fremdsein und Fremdheit implizit mit, gehen jedoch nicht über eine reine Begriffsverwendung hinaus. Die Arbeiten der Forschungsgruppe um Gieß-Stüber (1999) und Erdmann (1999) machen durch das Phänomen der Fremdheit verschiedene Aus- und Eingrenzungsmechanismen bei interkulturellen Begegnungen erklärbar und heben hierbei affektiv-emotionale Komponenten von sozialen Begegnungen hervor. Somit bietet das Konzept der Interkulturellen Bewegungserziehung mit dem theoretisch fundierten Analysekonstrukt Fremdheit ein hohes Potenzial für die Analyse von Umgangsweisen in interkulturellen Begegnungen. Gemäß einem weiten Kulturverständnis (vgl. Kapitel 4.1), können prinzipiell alle gesellschaftlich-sozialen Begegnungssituationen interkulturell geprägt sein und in diesen somit Fremdheit erfahren werden. Fremdheit ist als übergeordnetes Phänomen zu verstehen, welches in vielen unterschiedlichen Begegnungen erfahren werden kann.

3

Forschungsstand

Die Ansiedlung des Untersuchungsfeldes der vorliegenden Arbeit ist vielfältig: Einerseits ist die Arbeit im Rahmen des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung anzusiedeln, weshalb Studien zu interkulturellem Lernen in Bewegung, Spiel- und Sportkontexten bedeutsam sind. Andererseits liegt der Analysefokus der eigenen Arbeit auf beobachtbaren und sprachlichen Umgangsweisen von Schüler/innen mit didaktisch inszenierter sportunterrichtlicher Fremdheit. Die eigene empirische Untersuchung knüpft innerhalb der Schulsportforschung an der 15 Schnittstelle der Schüler- und Unterrichtsforschung an (vgl. Bräutigam, 2008). Zentral bei der Schülerforschung ist, dass Schüler/innen als „Adressaten und Mit-Konstrukteure“ (Bräutigam, 2011, S. 47) des Sportunterrichts gesehen werden, die den Unterrichtsverlauf und -gegenstand durch ihre Einstellungen, Interessen und Haltungen und den sich ergebenen Handlungsweisen mitbeeinflussen. Verhaltens- und Handlungs16 weisen von Schüler/innen als ein Forschungsfeld der Schülerforschung werden vor allem der schulsportlichen Unterrichtsforschung zugeordnet, in der Mikroprozesse des Handlungs- und Interaktionsgeschehens im 17 Sportunterricht in den Blick genommen werden. Es wird u.a. situationsspezifisch untersucht, wie Schüler/innen „spezifische Aufgaben, Heraus15

Da es sich bei Schülerforschung um einen fest in der Schulsportforschung verankerten Begriff handelt, wird darauf verzichtet, den Begriff explizit auch auf Schülerinnen auszuweiten, z.B. durch die Schreibweise Schüler(innen)forschung oder Schüler/innenforschung. Selbstverständlich beinhaltet die Schülerforschung auch die Sichtweisen, Erfahrungen und Handlungen von Schülerinnen.

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Verhalten und Handeln werden oftmals synonym verwendet; allerdings unterscheiden sie sich inhaltlich nach dem Grad der Intentionalität mit der eine Aktivität vollzogen wird. Der Verhaltensbegriff umfasst alle beobachtbaren Aktivitäten von Menschen und nimmt eher eine deskriptive Funktion ein. Handeln stellt eine bewusste und zielgerichtete Aktivität eines Menschen dar (Güttler, 2003, S. 6; vgl. auch Kapitel 4.3.1).

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Bräutigam (2011) sowie Balz, Bräutigam, Miethling und Wolters (2011) charakterisieren Unterrichtsforschung auf Mikroprozesse des alltäglichen Sportunterricht. Die eigene Untersuchung wurde hingegen im Rahmen einer sportunterrichtlichen quasiexperimentellen Interventionsstudie durchgeführt. Nichtsdestotrotz sind Mikroprozessanalysen von `inszeniertem´ Sportunterricht ebenfalls von großer Bedeutung, im Hinblick auf die Beurteilung der einzelnen `experimentell´ durchgeführten Unterrichtseinheiten. Deshalb wird hier auf eine Erweiterung des Spektrums der Unterrichtsforschung plädiert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_3

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3 Forschungsstand

forderungen und Belastungen des Sportunterrichts bewältigen, welche konkreten Handlungsmittel sie wann und auf welche Weise einsetzen und zu welchen Ergebnissen dies führt“ (Bräutigam, 2011, S. 48). Durch die differenzierte Rekonstruktion des Unterrichtsgeschehens können sowohl herausfordernde als auch aussichtsreiche Momente des sportunterrichtlichen Geschehens identifiziert werden. Die Reflexionsgespräche im Sportunterricht, in denen Haltungen, Einstellungen und Meinungen der Schüler/innen widergespiegelt werden, können eher der Schülerforschung zugeordnet werden. Gleichwohl ist eine Rekonstruktion des prozessualen Verlaufs von Reflexionsgesprächen wiederum eher der Unterrichtsforschung zuzuordnen. Die Aufarbeitung des Forschungsstandes erfolgt in mehreren Teilschritten. Der Forschungsstand wurde durch eine systematische Literaturrecherche der Datenbanken des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BiSP bzw. SURF), des Fachportals für Pädagogik (FIS) für vor allem deutschsprachige Arbeiten und der Datenbank Institute of Education Sciences (ERIC) für englischsprachige Studien durchgeführt. Bei den 18 durch verschiedene Titelbegriffe und Schlagwörter extrahierten Beiträge wurde zunächst der Titel und anschließend das Abstract gesichtet. Kriterium für die weitere Auseinandersetzung mit einem Beitrag war zum ei19 nen, dass es sich um empirische Studien handelt und zum anderen, dass die Studie sich explizit mit interkulturellen Lernanlässen bei Kindern und/oder Jugendlichen im Kontext des Schulsports befasst. Neben der Suche in den benannten Datenbanken wurde auch unsystematischer bei z.B. google scholar und Querverweisen nach geeigneten Studien gesucht. Folgende Leitfragen waren bei der Begutachtung und Einordnung der Studien bedeutsam: 18

Schlagworte waren: interkulturelles Lernen; interk*; interk* UND empir*. Bei FIS wurde noch das Schlagwort Sport ergänzt. Durch Trunkierungen können Wortstämme mit variabler Endung in den Datenbanken gefunden werden. So findet interk*unter anderem interkulturell, interkulturelle, interkulturelles, Interkulturalität. Bei der Recherche in der Datenbank ERIC wurden neben der Begrifflichkeit um „intercultural“, weitere in der englischsprachigen Literatur häufig ähnlich verwendete Begriffe wie „cross-cultural“ oder „multi-cultural“ erweitert.

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Theoriebeiträge oder auch Praxisbeiträge zu beispielsweise interkulturellen Spielformen finden in diesem Kapitel keine Berücksichtigung. Die Theoriebeiträge finden sich jedoch in Kapitel 2.3 wieder.

3 Forschungsstand

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1. Welche empirischen Ergebnisse zu interkulturellem Lernen durch Bewegung, Spiel und Sport können für den Kontext des Schulsports verzeichnet werden? 2. Welche Inhalte wurden in den einzelnen empirischen Studien durchgeführt? 3. Auf welcher theoretischen Grundlage fußt die Studie? 4. Gibt es Hinweise darauf, welche Faktoren bei der Durchführung der Studien bedeutsam sind? Neben der Recherche zu „interkulturellem Lernen“ durch Bewegung, Spiel und Sport wurde auch der Forschungsstand zu Schülerhandlungen im Sportunterricht untersucht, da die eigene Arbeit die Umgangsweisen der Schüler/innen mit den didaktischen Inhalten zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ in den Analysefokus stellt. Kriterium für die weitere Auseinandersetzung mit einem Beitrag war zum einen, dass es sich um empirische Studien handelt und zum anderen, dass die Studie sich expli20 zit mit Schüler(innen)verhalten, -handlungen, -taktiken und -praktiken im Sportunterricht befasst. Das heißt, zentral für die Auswahl der vorgestellten Studien ist, dass ihr Fokus primär auf der Rekonstruktion von Verhaltensweisen der Schüler/innen im Sportunterricht liegt. Neben den Ergebnissen aus der systematischen Recherche, wurde auch vereinzelt weiteren Verweisen in Beiträgen nachgegangen. Folgende Fragen waren handlungsleitend bei der Recherche: 1. Welche Schülerstrategien im Sportunterricht wurden bereits empirisch identifiziert? 2. Welche Kontextbedingungen bedingen verschiedene Schülerstrategien? 3. Werden Schülerstrategien in Bezug zu verschiedenen didaktischen Inszenierungen berücksichtigt und analysiert? Die sprachliche Verarbeitung der Schüler/innen nach einem sportunterrichtlichen Spiel stellt den dritten bedeutenden Analysegegenstand dar. 20

Je nach Autor/in werden verschiedene Begrifflichkeiten wie Taktiken, Praktiken und Strategien der Schüler/innen im Sportunterricht verwendet. Die verwendeten Begriffe haben inhaltlich verschiedene Bedeutungen, die mehr oder weniger bei ihrer Verwendung mitreflektiert und begründet wurden. Gemeinsam ist jedoch, dass es um sichtbare Verhaltensweisen der Schüler/innen geht.

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3 Forschungsstand

Denn neben beobachtbaren Umgangsweisen mit der didaktisch inszenierten Fremdheit im sportunterrichtlichen Spiel, werden die im Anschluss stattfindenden Reflexionsgespräche als weitere Umgangsweise der Schüler/innen analysiert. Für die Aufarbeitung des Forschungsstandes zum Thema (Reflexions-)Gespräche im Sportunterricht werden ebenfalls ausschließlich empirische Studien zu dieser Thematik berücksichtigt. Folgende Leitfragen waren bei der Literaturrecherche und der Einordnung der Studien relevant: 1. Welche empirischen Studien gibt es zu verbalen Reflexionsgesprächen im Sportunterricht? 2. Welche inhaltlichen Schwerpunkte werden bei den verbalen Reflexionsgesprächen im Sportunterricht gelegt? 3. Gibt es Hinweise darauf, in wie fern verbale Reflexionsgespräche im Sportunterricht etabliert sind und angenommen werden? 3.1

Empirische Studien zu interkulturellem Lernen in Bewegung, Spiel und Sport

Für die eigene Untersuchung ist vor allem relevant, ob und wie Schüler/innen sportunterrichtliche Angebote, die interkulturelles Lernen anregen sollen, annehmen und verarbeiten. Obwohl sich die eigene Studie nicht explizit mit den `Outcomes´ im Sinne einer Wirkungsforschung auseinandersetzt, sondern auf Prozessebene betrachtet, inwiefern Schüler/innen das Angebot von sportunterrichtlichen Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung annehmen, sich damit auseinandersetzen und es verarbeiten, ist es relevant, sich unterschiedliche Ansätze und Forschungsarbeiten zu interkulturellem Lernen im Sportunterricht zu betrachten. Es kann nachgezeichnet werden, welche Inhalte in anderen sportunterrichtlichen Interventionen Verwendung finden und je nach Studie, inwiefern die Schüler/innen das Arrangement angenommen haben. Insgesamt zeigt die Literaturrecherche, dass sowohl im deutschsprachigen als auch im internationalen Raum wenig zu Interkulturalität in Bewegung, Spiel und Sport geforscht wird und erforscht wurde. Die Recherche in der Datenbank des BiSP zeigte beispielsweise bei der alleinigen Verwendung des Schlagwortes „interk*“ 58 Beiträge an (Stand April

3.1 Interkulturelles Lernen in Bewegung, Spiel und Sport

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21

2016 ). Auffällig bei der Recherche ist zudem, dass sich einige Beiträge, die unter dem Label Interkulturalität zu finden sind, ausschließlich mit ländervergleichenden Studien beschäftigen. Gemeinsam ist den Fragestellungen einzig, dass das gleiche Problem in unterschiedlichen Ländern untersucht und dann verglichen wird. Diese ländervergleichenden Studien werden im Folgenden nicht berücksichtigt, da sie nicht dem Erziehungs- und Bildungsauftrag bezüglich einer Anregung interkultureller Lernanlässe im Schulkontext folgen. Alle nachfolgenden empirischen Studien wurden mit dem Ziel durchgeführt, interkulturelles Lernen bei Schüler/innen im Schulsport anzuregen und werden nun auf ihre Stärken und Schwächen überprüft. Eine Schweizer Forschungsgruppe (Gerlach, Barker, Gerber, Knöpfli, Müller & Pühse, 2011) ging unter anderem der Fragestellung nach, ob ihre SSINC-Intervention (SSINC = Sport and Social Inclusion) interkulturelles Lernen im Sportunterricht bei Schüler/innen der achten und neunten Klassen anregt. Dazu konzipierten die Untersucher/innen eine Unterrichtsreihe der Sportart Ultimate Frisbee mit zwölf über ein Kalenderjahr verteilten Schulstunden. Diese Stunden basierten auf dem von den Untersucher/innen entworfenen RAFT-Konzept (Respekt, Akzeptanz, Fairness, Teamwork). Theoretisch ordnet sich die Studie in die „Critical Pedagogy“ (u.a. Kirk, 2006) und „Sport Education“ (u.a. Siedentop, 2002) ein. Ziel des Konzepts „Sport Education“ ist es, die Schüler/innen zu kompetenten Sportteilnehmer/innen zu machen. Umgesetzt wurde dies unter anderem durch die zeitliche Gestaltung der Sportunterrichtseinheit wie „Saisons im Sport“ (Knöpfli, Barker, Gerlach, Müller, Gerber & Pühse, 2011, S. 244) und der Übertragung von Verantwortung an die Schüler/innen durch die Vergabe spezifischer Rollen (z.B. Teammanager, Motivator, Taktiktrainer). Die „Critical Pedagogy“ stellt die übergreifende didaktische Rahmung dar, mit Hilfe derer die Schüler/innen zu mündigen Subjekten erzogen werden sollen. Knöpfli und Kollegen (2011, S. 244) kommen zu dem Schluss, dass die Kombination der beiden Konzepte

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Im März 2019 wurden in der BiSP-Datenbank unter dem Schlagwort „interk*“ 79 Treffer gefunden, wobei keines der neu hinzugefügten Beiträge weitere empirische Erkenntnisse zu interkulturellem Lernen im Schulsport liefert.

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3 Forschungsstand

anschlussfähig an den deutschen Diskurs um den Doppelauftrag des Schulsports mit der Leitidee der Erziehung zum und durch Sport ist. Die Intervention wurde von den jeweiligen Sportlehrkräften durchgeführt, wobei sie vor der Implementierung des Projekts in der Schule geschult wurden (Knöpfli et al., 2011, S. 245). Um die Wirksamkeit des Programmes zu überprüfen, füllten die 483 teilnehmenden Schüler/innen einen Fragebogen zur Intervention aus. Dadurch konnte ein „RAFTReflexionslevel“ der Schüler/innen ermittelt werden. Hierfür sollten die Heranwachsenden das Akronym RAFT entschlüsseln und festhalten, welche Assoziationen sie zu den Begriffen haben. Dadurch konnte ermittelt werden, ob die Schüler/innen durch ihre Assoziationen einen Transfer zum interkulturellen Lernen herstellen. Außerdem wurden die Häufigkeit des Einsatzes von RAFT (Quantität), die Nützlichkeit des RAFTKonzeptes (Qualität), die Partizipationsmöglichkeiten im Sportunterricht und die Relevanz der Rollenzuteilung erfragt. Die Ergebnisse zeigen, dass das Reflexionslevel insgesamt als niedrig einzustufen ist. So schreiben die Schüler/innen wenige Kommentare und Assoziationen zu den Begrifflichkeiten nieder und bauen selten Verknüpfungen zu interkulturellen Themen auf. Es kann aber gezeigt werden, dass die Ausprägung des RAFT-Levels in positivem Zusammenhang mit der wahrgenommenen Qualität der Implementierung seitens der Sportlehrkraft steht. Die Quantität der Intervention beeinflusst das RAFTLevel nicht. Die Partizipationsmöglichkeiten und die Rollenrelevanz hängen sowohl von der Qualität als auch von der Quantität der Intervention ab. Bei Betrachtung des Settings zeigt sich, dass sich das RAFT-Niveau signifikant in den einzelnen Klassen unterscheidet. Die Implementierung scheint demzufolge in hohem Maße von der didaktischen Inszenierung durch die Lehrkräfte abzuhängen (Gerlach et al., 2011, S. 257). Diese Studie ist eine der wenigen, die durch eine spezifische sportunterrichtliche Intervention versucht, interkulturelles Lernen bei Kindern und Jugendlichen anzuregen. Allerdings erlaubt die Erhebungskonzeption keine Aussagen über die Wirksamkeit der Intervention. Ohne ein PrePost-Design unter standardisierten und kontrollierten Bedingungen können keine Effekte beschrieben werden. Methodisch erscheint es fragwürdig, die Anzahl von Assoziationen zu einzelnen Wörtern als Qualitätsbe-

3.1 Interkulturelles Lernen in Bewegung, Spiel und Sport

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urteilung des Projektes im Sinne von interkulturellem Lernen zu verwenden. Auch die an die „Sport Education“ angelehnte Interventionskonzeption mit ihrer „Imitation“ von organisiertem Sport ist für die Ziele von interkulturellem Lernen fragwürdig. Durch die unterrichtliche Gestaltung einer „Sportsaison“ fokussierte die SSINC-Studie vor allem – dies wird auch anhand der Begriffsverwendung der Autor/innen deutlich – die potenzielle Integrationswirkung des organisierten Sports (Gerber et al., 2011). Die Untersuchung von Altinok (2011), die sich theoretisch an der Kontakthypothese von Allport orientierte, untersuchte den Einfluss einer Unterrichtseinheit mit verschiedenen Volkstänzen (irischer Riverdance und türkische Folkloretänze) auf die interkulturelle Kompetenz von Schülerinnen einer Hauptschule. Um seiner Fragestellung nachzugehen, wurde mit 29 Schülerinnen unterschiedlicher Herkunft vor und nach der Unterrichtseinheit je ein problemzentriertes Interview durchgeführt. In den Interviews mit den 14- bis 18-jährigen Mädchen fokussierte sich der Autor vor allem auf seine definierten Teilaspekte der Interkulturellen Kompetenz, und zwar der Selbst-, Sach-, und Sozialkompetenz. Das Unterrichtsthema des Volkstanzes wurde von den beteiligten Mädchen positiv aufgefasst, wobei vor allem das gemeinsame Ziel – eine Tanzaufführung – die Einstellung der Mädchen zum Unterrichtsinhalt positiv zu beeinflussen schien. Aktinok (2011, S. 118) kommt zu dem Fazit, dass sich der Volkstanz als Medium zum Erwerb interkultureller Kompetenz eignet, da die Mehrheit der Schülerinnen angibt, andere Kulturen kennengelernt und bestehende Vorurteile überwunden zu haben. Insgesamt weist die Studie von Altinok (2011) einige methodische Mängel auf. Die Operationalisierung der einzelnen Kompetenzfacetten wird unzureichend dargelegt und anhand des Leitfadens (Altinok, 2011, S. 132-135) wird nicht deutlich, warum die einzelnen Fragen den einzelnen Kompetenzbereichen zugeordnet werden.22 Des Weiteren stellt sich bei der Auswertungsstrategie von Altinok (2011) die Frage, warum er zunächst alle 29 Mädchen einzeln betrachtet und anschließend eine zusammenfassende Interpretation von drei Nationalitätsgruppen aufzeigt. Durch diese Kategorisierung re22

Beispielsweise erschließt sich nicht, warum die Frage „Welche Sprache klingt für Dich am besten?“ den Bereich der Sachkompetenz abbildet. Die Relevanz dieser Frage für die Forschungsarbeit wird auch nicht deutlich.

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3 Forschungsstand

duziert der Autor die Mädchen auf ihre Nationalität. Warum deutsche, türkische und marokkanische Schülerinnen z.B. den gemeinsam erarbeiteten irischen Riverdance anders erleben sollten, wird nicht begründet. Der Autor bleibt bei seinen gesamten Ergebnisausführungen stets auf einer deskriptiven Ebene. Dass der Autor von „Effekten“ des Volktanzes im Sinne der Förderung der interkulturellen Kompetenz spricht, ist mit seinem Studiendesign inhaltlich irreführend. Eine methodenkritische Reflexion wie zum Beispiel die der sozialen Erwünschtheit erfolgt nirgends. In der Studie von Loeffel (2011) wurde ein gestaltungsorientiertes Schulsportprojekt im Rahmen des Ganztages zur Förderung von interkultureller Kompetenz evaluiert. Hierbei führten geschulte Lehrkräfte im Rahmen einer Projektwoche bewegungskünstlerische Inhalte wie Akrobatik, Pantomime und Jonglage mit 213 Schüler/innen im Alter von 11 bis 13 Jahren aus vier unterschiedlichen Gymnasien durch. Als Kontrollgruppe dienten 113 Schüler/innen der Parallelklassen. Das multimethodische Design beinhaltete zum einen eine Fragebogenstudie zu drei Messzeitpunkten, um die (nachhaltige) Wirksamkeit der Intervention in Hinblick auf potenziell veränderte Einstellungsmarker, Wissensfragen und Handlungsintentionen der Schüler/innen bezüglich des Zusammenleben in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft zu untersuchen. Zum anderen wurden Leitfadeninterviews mit 13 Lehrkräften durchgeführt, um das Projekt und dessen Inhalte bewerten zu lassen. Die Ergebnisse zeigen einen signifikanten Wissenszuwachs der Schüler/innen über fremde Kulturen und Religionen. Zudem zeigt sich, dass sich die (im Fragebogen angegebenen) Handlungsmuster der Jugendlichen in multikulturellen Situationen durch die pädagogische Intervention nachhaltig positiv veränderten. Einstellungsmarker der Schüler/innen konnten durch das Projekt allerdings (langfristig) nicht verändert werden. Einen besonderen Stellenwert hat die Studie, da das Thema rund um kulturelle Vielfalt auch in weiteren Fächern wie dem Religions-, Ethik- und Kunstunterricht thematisiert wurde. Die fächerübergreifende Konzeption der Studie erscheint aussichtsreich, um die Thematik der kulturellen Vielfalt umfassend – kognitiv, affektiv und motorisch – an die Schüler/innen heranzutragen. Auch scheint die Konzeption, kulturelle Vielfalt im Rahmen einer Projektwoche zu thematisieren, verheißungsvoll. Vor allem die

3.1 Interkulturelles Lernen in Bewegung, Spiel und Sport

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gemeinsame Abschlussveranstaltung, bei der die Schüler/innen das Erlernte in den Bewegungskünsten präsentierten, scheint – laut Aussagen der Lehrkräfte – besonders positiv zu sein. Der Beitrag der bewegungskünstlerischen Inhalte zu interkulturellen Lernprozessen im Gegensatz zu den eher kognitiven Vermittlungen im v.a. Religions- und Ethikunterricht, bleibt offen. Das Projekt und dessen Umsetzbarkeit werden von den teilnehmenden Lehrkräften prinzipiell positiv evaluiert. Wie die Schüler/innen die Konzeption und deren Inhalte aufnahmen, ist nicht geklärt. Aus Interviewausschnitten mit den Sportlehrkräften deutet sich an, dass Schüler/innen auch Schwierigkeiten mit dem Programm hatten und mit Resignation, Frustration, Ablehnung und Separation auf die Inhalte reagierten (Loeffel, 2011, S. 180). Eine griechische Arbeitsgruppe untersuchte in ihrer quasiexperimentellen Studie die Effekte einer interkulturell orientierten Sportunterrichtseinheit auf die sozialen Interaktionen von Schüler/innen der fünften und sechsten Klassen (Derri, Kellis, Vernadakis, Albanidis & Kioumourtzoglou, 2014). Die Interventionseinheit umfasste sechzehn 40-minütige Sportunterrichtsstunden, in denen unter anderem Spiele aus anderen Ländern oder bisher unbekannte Sportarten wie Badminton oder Hockey gespielt wurden. Der Hauptfokus der didaktisch-methodischen Inszenierung der Intervention lag darauf, kooperative statt wettkampforientierte Arrangements zu schaffen (Derri et al., 2014, S. 96). Insgesamt wurden 32 Schüler/innen – jeweils 16 in der Interventions- bzw. Kontrollgruppe – randomisiert für Verhaltensbeobachtungen im Sportunterricht ausgewählt. Für die Evaluation von Schüler/innenverhalten verwendeten vier geschulte Beobachter/innen zu drei Messzeitpunkte (prä – post – followup) ein zuvor auf Validität und Reliabilität getestetes Beobachtungsraster (Kellis, Vernadakis, Albanidis, Derri & Kourtesses, 2010). Mithilfe des Messinstrumentes wurden die Verhaltensweisen der Schüler/innen in die Kategorien „verbale Interaktionen“, „Hilfestellung“, „Anerkennung“, „Beziehung“ und „Zielerreichung“ eingeordnet. Die Ergebnisse zeigen, dass die Schüler/innen der Interventionsgruppe – ungeachtet ihrer Herkunft – nach der Sportunterrichtseinheit eine signifikante Verbesserung in den Beobachtungsvariablen „verbale Interaktionen“, „Anerkennung“ und „Hilfestellung“ aufwiesen. Das bedeutet, dass die Interventionsgruppe nach

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3 Forschungsstand

der Intervention verbesserte soziale Verhaltensmuster zeigte. Diese positiven Effekte reduzierten sich allerdings signifikant bei der Follow-upMessung. Derri et al. (2014, S. 99) ziehen abschließend den problematischen Schluss, dass sich durch die veränderten Verhaltensweisen der Interventionsgruppe auch kognitive Einstellungen wie Vorurteile und Stereotypisierungen zum Positiven änderten. Diese kognitiven Repräsentationsmuster von Schüler/innen wurden allerdings nicht gemessen, da ausschließlich Verhaltensbeobachtungen quantifiziert wurden. Auch wenn die Ergebnisse aufzeigen, dass durch spezifische didaktische Inszenierungen die sozialen Fähigkeiten im Sinne von beobachtbaren Verhaltensweisen zunehmen, muss die theoretische Konzeption der Studie kritisiert werden. Interkulturelles Lernen wird von der griechischen Arbeitsgruppe mehr oder weniger mit sozialem Lernen gleichsetzt bzw. die Abgrenzung zwischen sozialem und interkulturellem Lernen wird nicht konkretisiert. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Derri et al. (2014) interkulturelles Lernen als soziales Lernen in einem multikulturellen im Sinne von multiethnischem Lernumfeld sehen, was eine verkürzte und unzureichende Definition interkulturellen Lernens ist. 3.1.1 Interventionsstudien zur Förderung Interkultureller Kompetenz von Schüler/innen im Rahmen des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung Da sich die eigene Arbeit in das Forschungsprogramm der Interkulturellen Bewegungserziehung einordnet, sollen die bisherigen empirischen Studien zur Überprüfung von interkulturellen Lernprozessen durch Interventionen gemäß der Interkulturellen Bewegungserziehung in einem eigenständigen Unterkapitel aufgeführt werden. Eine Studie aus Norwegen, die auf demselben theoretischen Hintergrund basiert wie die eigene, untersuchte, inwiefern der von einer interkulturell geschulten Sportlehrkraft durchgeführte Sportunterricht mit Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung die Sensitivität von 16- bis 18-jährigen Schüler/innen gegenüber Fremdheit beeinflusst (Midthaugen, 2011). Zur Operationalisierung und Erfassung der affektiven Komponenten in der Begegnung mit Fremdheit verwendete Midthaugen den von Esser-Noethlichs (2011) entwickelten und validierten Fragebogen „Sensi-

3.1 Interkulturelles Lernen in Bewegung, Spiel und Sport

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tivity towards strangeness-Questionnaire“ (STS-Q). Die Sportlehrkräfte wurden anhand eines evaluierten Fortbildungskonzepts zur Förderung interkultureller Kompetenz von Sportlehrkräften geschult (Grimminger, 2009). Die quasi-experimentelle Studie von Midthaugen (2011) umfasste insgesamt 306 Schüler/innen in der Interventionsgruppe und 173 Heranwachsende in der Kontrollgruppe und nahm Fragebogendaten zu zwei Messzeitpunkten (Prä- und Post-Erhebung) auf. Die Studie zeigt, dass die Interventionsgruppe im Gegensatz zur Kontrollgruppe eine signifikante Reduktion in der Skala „Unsicherheit“ aufwies und signifikant höhere Werte in den Skalen „Offenheit gegenüber Fremdheit“ und „Selbstkonzept“ erzielte. Allerdings wurden die sportunterrichtlichen Inhalte in den 16 verschiedenen Experimentalgruppen in Midthaugens (2011) Studie weder standardisiert, kontrolliert noch evaluiert. Es bleibt offen, welche Inhalte die Sportlehrkräfte in ihrem Unterricht für die Anregung interkultureller Lernprozesse einsetzten. Auch in dem fokussierten Gruppeninterview, das Midthaugen (2011) mit den Sportlehrkräften durchführte, kristallisierte sich nicht heraus, welche Inhalte im Unterricht implementiert wurden und ob und wie die Schüler/innen diese annahmen. Deshalb können die Veränderungen in den einzelnen Skalen nicht definitiv auf die Unterrichtsintervention zurückgeführt werden. Dieses Forschungsdesiderat aufgreifend, wurde eine quasiexperimentelle Interventionsstudie mit Kontrollgruppendesign entwickelt, die unter bestmöglich standardisierten Bedingungen untersuchte, ob die Umsetzung der didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung interkulturelles Lernen bei den Schüler/innen anregt und sich durch die sportunterrichtliche Intervention Einstellungsmarker zum Zusammenleben in einer kulturell heterogenen Gesellschaft ändern (Grimminger-Seidensticker & Möhwald, 2017). Zur Erfassung von potenziellen Veränderungen in den Einstellungsmarkern, wurde aufgrund nicht zufriedenstellender Werte in der Reliabilität, Konstruktvalidität und internen Konsistenz von einzelnen Skalen des STS-Q-Fragebogens, ein weiterer Fragebogen auf Basis der theoretischen Ansätze der Interkulturellen Bewegungserziehung entwickelt (Grimminger & Möhwald, 2015). Dieser Fragebogen bildet neben potenziellen Einflussfaktoren auf den Umgang mit Fremdheit auch die konkre-

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3 Forschungsstand

tisierten pädagogischen Ziele der Interkulturellen Bewegungserziehung ab und wurde mit N = 572 Schüler/innen der sechsten Klasse empirisch überprüft und zeigte zufriedenstellende Reliabilitätswerte und Werte der internen Konsistenz auf. Die Ergebnisse der quantitativen Daten deuten darauf hin, dass sich die an der Studie teilgenommenen Schüler/innen der sechsten Klasse (N = 69) in verschiedenen Einstellungsmarkern zum Zusammenleben in der heterogenen Gesellschaft aus einer normativ-erzieherischen Sicht nach der Intervention verschlechtert haben: Die Interventionsgruppe zeigt nach der Intervention einen signifikanten Anstieg in den Akkulturationsskalen „Assimilation“ und „Segregation“ verglichen mit einer internen und externen Kontrollgruppe. Die Mädchen der Interventionsgruppe zeigen zudem auch einen signifikanten Abfall in der Skala „Integration“. Diese Ergebnisse bleiben auch in der Follow-up-Erhebung stabil. Die erklärungsbedürftigen Ergebnisse verweisen auf den Mehrwert von qualitativen Analysen. Erst durch die qualitativen Daten können die Prozesse, die in der sportunterrichtlichen Intervention auftraten, mitreflektiert und als Analysefolie gesehen werden. Die eigene empirische Arbeit ist im Rahmen der vorgestellten quasi-experimentellen Studie von Grimminger-Seidensticker und Möhwald (2017) angesiedelt und untersucht auf Mikroprozessebene den Umgang der Schüler/innen mit den Interventionsinhalten, die Fremdheit inszenieren sollten. 3.1.2 Empirische Ergebnisse zur Bedeutung der Sportlehrkraft und des Lernortes für interkulturelles Lernen in Bewegung, Spiel und Sport Ein weiteres größeres Forschungsfeld im Rahmen der Interkulturalitätsdebatte ist die Qualifizierung von Lehrpersonal für die Anregung interkulturellen Lernens. Die Qualifizierung von Lehrpersonen ist entscheidend für die Qualität von Angeboten und die Thematisierung von Fremdheit im Sport (u.a. Seiberth, 2010, S. 216) und somit auch dafür, ob Schüler/innen interkulturelle Kompetenzen aufbauen bzw. weiterentwickeln können. Die Arbeit von Grimminger (2009) widmete sich der interkulturellen Kompetenz von Sportlehrkräften. Eine qualitative Teilstudie befasste sich mit den von elf Sportlehrkräften wahrgenommenen Herausforderun-

3.1 Interkulturelles Lernen in Bewegung, Spiel und Sport

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gen durch die zunehmend heterogene Schülerschaft und wie Sportlehrkräfte mit entstehenden Problemen umgehen. Grimminger (2009, S. 33) zeigt, dass die meisten Sportlehrkräfte die kulturell heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft problematisch wahrnehmen und vor allem im Sportunterricht das Konfliktpotenzial hoch angesehen wird. Die interviewten Lehrkräfte besitzen zwar grundlegendes Wissen zu interkulturellem Lernen und schreiben dem Potenzial von Sportunterricht für interkulturelle Lernprozesse einen hohen Stellenwert bei, können dieses Wissen jedoch nicht in ihrem Sportunterricht anwenden. Demnach fehlt es vielen Sportlehrkräften an handlungsleitendem Wissen über Einsatzmöglichkeiten von interkulturellen Lerninhalten in ihrem Sportunterricht. Insgesamt scheint die befragte Lehrerschaft mit der zunehmenden kulturellen Heterogenität in den Schulklassen überfordert zu sein. Dafür könnten unter anderem die fehlenden interkulturellen Inhalte in der Lehramtsausbildung verantwortlich sein (Auernheimer, 2012, S. 48). Mit diesem Wissen entwickelte Grimminger (2009) ein Fortbildungskonzept für Sportlehrkräfte zur Förderung interkultureller Kompetenz, welches multimethodisch evaluiert wurde (Grimminger, 2009, 2011, 2012a). Durch dieses theoriegeleitete, aber auch praxisorientierte Fortbildungskonzept konnte Grimminger (2009) bei den Sportlehrkräften eine professionale interkulturelle Kompetenzentwicklung feststellen. Nichtsdestotrotz bleibt unklar, inwiefern die gewonnenen Kompetenzen auch „zum Einsatz kommen, d.h. in Performanz übergeführt werden“ (Grimminger, 2009, S. 47). Daran anschließend stellt sich die Frage, ob es durch die gesteigerte interkulturelle Kompetenz der Lehrkräfte auch zur Anregung interkultureller Lernprozesse bei den Schüler/innen im Sportunterricht kommt und diese wiederum ihre interkulturelle Kompetenz ausbauen können. Grimminger (2009) stellt auch fest, dass für die Implementierung von interkulturellen Lernanlässen unter anderem die Educational Beliefs von Sportlehrkräften bedeutsam sind: Je mehr Sportlehrkräfte davon überzeugt sind, dass interkulturelle Lernanlässe im Sportunterricht die interkulturelle Kompetenz der Heranwachsenden positiv beeinflussen wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie auch interkulturelle Lernanlässe im Unterricht integrieren (Grimminger, 2009, S. 58). Zudem hängen auch die Akkulturationseinstellungen der Lehrkräfte mit der Bereitschaft inter-

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3 Forschungsstand

kulturelles Lernen im Sportunterricht anzuregen zusammen. Bei den Akkulturationseinstellungen zeigt sich unter anderem, dass Sportlehrkräfte, die offen für interkulturelle Lernanlässe in ihrem Sportunterricht sind, signifikant niedrigere Werte auf der Segregationsskala aufweisen als Lehrkräfte, die in ihrem Sportunterricht keine Förderung interkultureller Kompetenz ihrer Schüler/innen verfolgen (Grimminger, 2009, S. 74). Die Studie von Grimminger (2009) trägt zu zahlreichen Erkenntnissen zur interkulturellen Kompetenz(entwicklung) von Sportlehrkräften bei: Der Gegenstandsbereich von Interkulturalität bzw. interkulturellem Lernen ist den Sportlehrkräften bekannt und wird als wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung von Schüler/innen gesehen. Die Umsetzung von interkulturellen Lerninhalten im Sportunterricht gelingt allerdings selten. Deshalb sind Fortbildungskonzepte zu interkulturellem Lernen in Bewegung, Spiel und Sport gewinnbringend, um die professionstheoretische Entwicklung der Sportlehrkräfte zu fördern. Die theoretisch angenommenen Zusammenhänge von personenbezogenen Konstrukten wie Educational Beliefs sowie Einstellungen zur Akkulturation und der Bereitschaft interkulturelle Lernanlässe im Sportunterricht zu verankern, konnten bestätigt werden. Das Lehren und Lernen im Sportunterricht ist immer in einem strukturellem Rahmen – der Institution Schule – eingebettet. Interkulturelles Lernen soll und darf nicht als Aufgabe eines Schulfaches wie Sport oder von einzelnen engagierten Lehrkräften gesehen werden, sondern muss als schulart- und fächerübergreifende Aufgabe verstanden werden, wie dies auch bereits 1996 von der Kultusministerkonferenz formuliert wurde. Eine bewusst gelebte Interkulturalität wird in der Schulkultur deutlich (Gieß-Stüber et al., 2007, S. 146), denn Schulkultur umfasst „Wertorientierungen, Vorstellungen, Einstellungen, Maßnahmen, Regeln, Rituale und Personen [...], durch die soziale Beziehungen in der Schule geschaffen, strukturiert und reproduziert werden“ (Henkenborg, 2004, S. 138). Um Interkulturalität auch im Schulalltag bewusst zu erfahren, sollten grundlegende Prinzipien, wie die „Anerkennung jedes einzelnen Individuums als gleichberechtigtes Mitglied einer Gemeinschaft“ (Gieß-Stüber et al., 2007, S. 146), in das Schulprogramm aufgenommen werden. Somit wird das Leitbild der Schule konkretisiert und Interkulturalität wird in der Qualitätsentwicklung der Schule berücksichtigt. Gilt Interkulturalität als

3.1 Interkulturelles Lernen in Bewegung, Spiel und Sport

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Schulentwicklungsperspektive, müssen sich sowohl die Organisationsebene als auch die Personal- und Unterrichtsebene aktiv beteiligen, um einer interkulturell orientierten Schule gerecht zu werden (Gieß-Stüber et al., 2007, S. 143). Im Rahmen einer Schul(sport)entwicklungsstudie wurde die Bedeutung von Schulkontext und Schulkultur für interkulturelle Lehr- und Lernarrangements untersucht (Gieß-Stüber, Grimminger, Schmerbitz & Seidensticker, 2007, 2009). Der Vergleich von drei Schulen zeigt den hohen Einfluss von Schulkultur auf die Einstellungen von Schüler/innen: Eine integrativ orientierte Schule korrespondiert mit integrativen Einstellungen seitens der Schüler/innen; gelebte pädagogische Prinzipien im Schulalltag können demnach den Umgang und die Offenheit gegenüber Fremdheit fördern (Gieß-Stüber et al., 2007, S. 157). Im Rahmen der Schul(sport)entwicklungsstudie wurde zudem der Beitrag von Sportunterricht für eine interkulturell orientierte Schule untersucht (Gieß-Stüber et al., 2007). Die Studienergebnisse zeigen, dass 25,1% der 302 befragten Schüler/innen im Sportunterricht häufig oder manchmal besser mit Schüler/innen mit Migrationshintergrund auskommen als in anderen Fächern. Bei geschlechterdifferenzierter Betrachtung wird aufgezeigt, dass sich Jungen im Sportunterricht signifikant besser mit Schüler/innen anderer Herkunft verstehen als in anderen Schulfächern. Per se wird im Sportunterricht allerdings kein konstruktiver Umgang mit anderen gefördert. Hierbei bedarf es einer spezifischen didaktischen Konzeption, die zusätzlich auch dazu beitragen könnte, die Rolle des Außenseiters im Sportunterricht aufzulösen (Gieß-Stüber et al., 2007, S. 155). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es zur Anregung von interkulturellen Lernanlässen eine prinzipielle Offenheit für diese Thematik seitens der Lernorganisation Schule und ihren beteiligten Akteuren bedarf. Vor allem die Lehrkraft hat einen entscheidenden Einfluss auf die Initiierung, Thematisierung und Aufbereitung von (interkulturellen) Lernanlässen. Für forschungsorientierte Studienkonzeptualisierungen sollten interkulturell kompetente Sportlehrkräfte, die im Optimalfall vorher theoretisch und praktisch geschult werden, eingesetzt werden.

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3 Forschungsstand

3.1.3 Zwischenfazit der Studien zu interkulturellem Lernen und Ableitungen für die eigene Untersuchung Insgesamt zeigt die Studienlage, dass die Grenzen zwischen interkulturellem und sozialem Lernen verschwimmen und dass es oftmals im ersten Schritt um die Verbesserung konkreter sozialer Fähigkeiten geht. Nimmt man jedoch interkulturelles Lernen ernst, durch das auch im Sinne eines emanzipatorischen Ansatzes ein kritisches Bewusstsein gegenüber strukturellen Bedingungen und Benachteiligungen gefördert werden kann (siehe Kapitel 2.2), sind bisherige Programme mit der Vernachlässigung der Thematisierung von strukturellen Gegebenheiten und den daraus resultierenden Benachteiligungen implementiert worden. Bei vielen Studien wird interkulturelles Lernen auf die Erhöhung von integrativen Einstellungen vom Zusammenleben in einer (ethnisch-)kulturell vielfältigen Gesellschaft bezogen. Auch die theoretische Fundierung der einzelnen Programminhalte ist teilweise nicht ausreichend reflektiert worden. Verheißungsvoll scheint allerdings, dass die schulsportunterrichtlichen Inhalte von den Schüler/innen – bei jenen Studien, die diesen Aspekt mitevaluierten – positiv aufgenommen wurden. Zudem sind eine interkulturell kompetente Sportlehrkraft und eine für die Thematik von interkulturellem Lernen in Bewegung, Spiel und Sport offene Lernorganisation für die Initiierung und Umsetzung von Lernarrangements bedeutsam. Die Prozessebene im Sinne der Aufnahme, der Verarbeitung und des Umgangs mit den Unterrichtsinhalten seitens der Schüler/innen wurde in keiner Studie explizit und systematisch miterhoben. Diesen Umständen trägt die eigene Arbeit Rechnung und betrachtet – auch im Hinblick auf die ambivalenten Ergebnisse der quantitativen Untersuchung – die Umsetzung der sportdidaktischen Inhalte und wie Schüler/innen durch ihr Tun und Handeln den Unterrichtsfluss und somit auch Lerngelegenheiten mitkonstruieren.

3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts

3.2

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Prozessebenen des Sportunterrichts: Schüler/innen als KoKonstrukteure des Sportunterrichts

In der Schülerforschung lassen sich verschiedene Forschungsbereiche identifizieren, die zum Beispiel die Sichtweise von Schüler/innen auf den Schulsport und auf die Sportlehrkräfte, Erfahrungen im und mit Sportunterricht, aber auch Verhaltens- und Handlungsweisen von Schüler/innen im Sportunterricht thematisieren (zusammenfassend in Bräutigam, 2011). Bei letzterem Gegenstandsbereich der Schülerforschung wird deutlich, dass Schüler/innen als „Akteure“ (Bräutigam & Blotzheim, 2008, S. 36) und „(Ko-)Konstrukteure“ (Bräutigam, 2011, S. 65) des Sportunterrichts anzusehen sind, da sie diesen durch ihr Verhalten und Handeln aktiv mitgestalten. Dies stellt somit auch die Schnittstelle zur Sportunterrichtsforschung dar, welche sich unter anderem den Mikroprozessen des sportunterrichtlichen Geschehens widmet (Bräutigam, 2008, S. 48). Wenn für die Analyse die im Sportunterricht aktuellen verbalen und insbesondere auch nonverbalen Äußerungen von Bedeutung sind, so 23 sind vor allem ethnographische Studien besonders wertvoll, die die Rekonstruktion der Performanz aufgrund von beobachteten Äußerungen (und gegebenenfalls darauffolgenden Befragungen der Schüler/innen) vollziehen. Hierbei werden Handlungsweisen der Schüler/innen „im aktuellen Handlungsgeschehen“ (Bräutigam, 2011, S. 94) in den Blick genommen. In den letzten Jahren wurden vermehrt Studien zur Gestaltung sozialer Prozesse zwischen Schüler/innen im Sportunterricht veröffentlicht. Der Fokus ist speziell auf Interaktionsprozesse zwischen Schüler/innen gelegt und insofern interessant, da soziale (Nicht-)Zugehörigkeit zu Gruppen im Sinne von Inklusions- und Exklusionspraktiken, auch bei interkulturellen Begegnungen eine große Rolle spielen. Weitere Studien rekonstruieren die Handlungen von Schüler/innen im Sportunterricht anhand von (vor allem qualitativen) Befragungen. Bei solch einer methodischen Vorgehensweise, liegt der erste Rekonstruktionsschritt von Verhaltensweisen und intendierten Handlungen vor allem bei den befragten Schüler/innen selbst. Denn ausschließlich was im In23

Videographie stellt nach Knoblauch, Schnettler, Raab und Soeffner (2012, S. 70) eine besondere Form der Ethnographie dar.

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3 Forschungsstand

terview explizit und implizit von Schüler/innen geäußert wird, kann zum Gegenstand weiterer Interpretationsleistungen seitens der Forscher/innen werden. Vorreflexive Anteile der Performanzen von Schüler/innen könnten durch die ausschließliche Wahl von Interviews vernachlässigt werden. Die Systematisierung der Vorstellung von Studien erfolgt anhand der Logiken der Studiendesigns. Neben Studien zu Schüler(innen)verhalten im alltäglichen Sportunterricht (Kapitel 3.2.1) werden zudem Studien aufgenommen, die die performativen Aspekte der Schüler/innen auf spezifisch didaktisch intendierte Unterrichtsinszenierungen betrachten (Kapitel 3.2.2). Da sich die eigene Studie nicht nur mit beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen mit Fremdheit im Sportunterricht beschäftigt, sondern auch die sprachliche Verarbeitung und den Umgang der Schüler/innen mit den sportunterrichtlichen Inhalten im Sinne von Reflexionsgesprächen analysiert, werden in Kapitel 3.2.3 bisherige Studien zu (Reflexions-)Gesprächen im Sportunterricht dargelegt. Insgesamt wurden folgende Einschlusskriterien für die Studien festgelegt: 1) Ausschließlich empirische Studien werden berücksichtigt. Da das Forschungsinteresse vor allem auf der sportunterrichtlichen Prozessund Interaktionsebene der Schüler/innen liegt, sind qualitative Studien von besonderem Interesse. 2) Sportunterrichtliche Mikroanalysen, die das tatsächliche Unterrichtsgeschehen analysieren, sind für die eigene Studie von besonderer Relevanz. Allerdings werden je nach Studie und ihrem theoretischen Hintergrund auch Interviewstudien hinzugenommen, die Umgangsweisen der Schüler/innen anhand des Interviewmaterials kategorisieren und rekonstruieren. 3.2.1 Untersuchungen zu Schüler/innenverhalten im alltäglichen Sportunterricht Amelsberg (1985) explorierte innerhalb der Hamburger Arbeitsgruppe das sportunterrichtliche Forschungsfeld mit den Fokus auf Taktiken von Schüler/innen. Anhand der inhaltsanalytischen Auswertung von 25 Schüler/inneninterviews ohne explizierte theoretische Grundlegung wurden Strukturen und Muster zum Thema Schülertaktiken aufgedeckt. Schüler-

3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts

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taktiken definiert Amelsberg (1985, S. 84) als „ein Repertoire selbstverständlicher und für Schüler scheinbar notwendiger Handlungsmöglichkeiten im alltäglichen Sportunterricht, die der Durchsetzung ihrer Interessen und Bedürfnisse dienen“. Die Definition macht deutlich, dass Taktiken zum einem der Bewältigung des Schulsportalltags dienen, sodass akute Notsituationen und Widersprüchlichkeiten zumindest kurzzeitig gelöst werden können. Zum anderen versuchen Schüler/innen durch Taktikanwendung ihre Interessen und Wünsche durchzusetzen. Insgesamt identifizierte Amelsberg (1985, S. 85-87) fünf verschiedene Schülertaktiken: 1) Entzug: Schüler/innen entziehen sich dem Unterrichtsgeschehen situativ oder geplant. Situative Entzugstaktiken werden in „Notsituationen des Unterrichts“ (Amelsberg, 1985, S. 85) eingesetzt, die sich durch bedrohliche Situationen (z.B. Angst, Notengebung) entwickeln können. 2) „Unerlaubtes“ Engagement: Der Aufmerksamkeitsfokus der Schüler/innen liegt nicht auf dem Sportunterrichtgeschehen, sondern auf Nebenhandlungen (z.B. mit Mitschüler/innen plaudern). Dabei beabsichtigen Schüler/innen kein bewusstes Stören des Unterrichts. 3) Störung der Unterrichtsordnung: Wenn es der Sportlehrkraft an Durchsetzungsvermögen mangelt, stören Schüler/innen bewusst den Unterricht. Die Störtaktiken der Schüler/innen richten sich gegen die Autorität der Sportlehrkraft. 4) Rollenspiel: Die Schüler/innen versuchen durch ihr Verhalten ihrer erwartete Rolle als Schüler/in gerecht werden, ohne dabei ihre Identität zu verleugnen oder aufzugeben. 5) Freiräume nutzen: Schüler/innen nutzen im Sportunterricht Freiräume, um (nicht sportunterrichtsbezogene) Konflikte auszutragen und (offene oder versteckte) Aggressionen gegenüber ihren Mitschüler/innen auszutragen. Insgesamt dienen die Taktiken im Sportunterricht dazu, um Distanz und Widerstand zum unterrichtlichen Geschehen auszudrücken und den Sportunterricht für Schüler/innen erträglicher zu gestalten (Amelsberg, 1985, S. 88-89).

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3 Forschungsstand

Anknüpfend an Amelsbergs (1985) identifizierten Schülertaktiken, überprüfte Brehm (1993) diese in Zusammenhang mit potenzieller Unmotiviertheit der Schüler/innen gegenüber dem Sportunterricht. Anhand von systematischen Unterrichtsbeobachtungen teilte Brehm (1993, S. 155) die Verhaltensweisen der Schüler/innen (N = 19) in ein vorab definiertes Kategorienraster ein: 1) Fluchtverhalten/Entzug, 2) unerlaubtes Engagement, 3) Störverhalten, 4) Rollenspiel mitmachen, 5) Rollenspiel Kasper, 6) Passivität, 7) ängstliches Verhalten und 8) direkter Ausdruck von Unwillen. Alle Verhaltensweisen kamen im Sportunterricht zum Ausdruck und können als eingesetzte Schülerverhaltensweisen im Sportunterrichtsalltag bestätigt werden. Um Erklärungsversuche für unmotiviertes Verhalten zu generieren, wurden mit drei unmotivierten Schüler/innen Interviews durchgeführt. Anhand dieser Interviews werden als typische Verhaltensweisen bei situativer und andauernder Unmotiviertheit Fluchtverhalten und Passivität identifiziert. Die weiteren Verhaltensweisen scheinen dagegen individuelle Ausdrucksweisen von Unmotiviertheit zu sein. Brehm (1993, S. 159) weist darauf hin, dass vielfältige Gründe wie elterliche Unterstützung oder Sportlehrkraftverhalten zum Desinteresse am Sportunterricht beitragen können. Hunger (2000) konnte in ihrer Interviewstudie mit 13 Jugendlichen zwischen 17 und 22 Jahren, die sich selbst als sportschwach definierten, Umgangsstrategien mit belastenden Situationen identifizieren. Vor allem die Sekundarstufe I erleben sportschwache Schüler/innen als besonders negative Phase in ihrer Sportunterrichtszeit, da sie sich mit den geforderten motorischen Anforderungen im Sportunterricht überfordert fühlen. Erschwerend führt das methodische und organisatorische Arrangement seitens der Lehrkraft zu öffentlichen Darbietungen von motorischen Defiziten der sportschwachen Schüler/innen. Um die belastenden Situationen erträglicher zu gestalten, werden Strategien des Resignierens und Entziehens von sportschwachen Schüler/innen angewandt. Im Rahmen des Projekts „Schüler im Sportunterricht“ führte Bräutigam (2001) 53 fokussierte Interviews mit Schüler/innen unterschiedlicher Jahrgänge und unterschiedlicher Schulformen durch, um die Schulsportwirklichkeit der Schüler/innen zu erforschen. Anhand der systematischen

3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts

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Beschreibung des Fallbeispiels von „Robin“ unterscheidet Bräutigam (2001, S.133-140) drei im Sportunterricht auftretende Handlungsmuster: 1) Selber-Machen: Bräutigam (2001, S. 136) zeichnet das strukturelle Dilemma des Sportunterrichts zwischen institutioneller Pflichtveranstaltung und freiwilligen „subjektiv sinnerfülltem Tun“ und zeigt auf, dass bei dem Handlungsmuster des Selber-Machens die paradoxe Struktur des Sportunterrichts zugunsten der subjektiven Sinnerfüllung aufgelöst wird, da gewohnte strukturell-unterrichtliche Gegebenheiten nicht gegeben sind (vgl. zur Paradoxie des schulischen Sportunterrichts auch Prohl, 2010). In Interaktionen, in denen die Paradoxie virulent ist, werden Strategien angewandt, „die ganz offensichtlich ein Ausbalancieren anzielen“ (Bräutigam, 2001, S. 136). 2) Mit-Machen: In Interaktionen, in denen die Paradoxie des sportunterrichtlichen Geschehens zum Tragen kommt, zeigen sich institutionell konforme Handlungsmuster, sodass das Interaktionsgeflecht des Sportunterrichts nicht gestört wird (vgl. auch die Taktik „Rollenspiel“ bei Amelsberg, 1985). Als eine Form des Mit-Machens zählt auch das Zurückziehen, wenn dadurch das sportunterrichtliche Interaktionsgeflecht nicht gestört wird. 3) Mist-Machen: Kennzeichnend für dieses Handlungsmuster ist, dass kein störungsfreies Interagieren im Sportunterricht möglich ist. Für die konstruktive Bewältigung von widersprüchlichen Situationen und strukturellen Paradoxien folgt eine Distanzierung durch das Handlungsmuster des Mist-Machens. Die in der Studie von Miethling und Krieger (2004) identifizierten sogenannten Sicherungsstrategien zeigen viele Anknüpfungspunkte zu den bereits beschriebenen Handlungsweisen der Schüler/innen. Miethling und Krieger (2004) konnten anhand ihrer umfassenden qualitativen Interviewstudie (N = 117 Gymnasiasten der 8. bis 10. Klasse) die für die Schüler/innen subjektiv bedeutsamen Situationen und Erfahrungen im alltäglichen Sportunterricht rekonstruieren. Die mit der Grounded Theory identifizierten relevanten Alltagserfahrungen der Schüler/innen im Sportunterricht deuten auf sieben Themen hin: 1) Ungerechtigkeit, 2) Leistungsansprüche, 3) Verständigung, 4) Lehrerengagement, 5) körperliche Exponiertheit, 6) Gruppenbeziehungen und 7) Doppelte Verletzbarkeit.

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3 Forschungsstand

Alle Themen sind durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Als Kernkategorie, welche das höchste Erklärungspotenzial für alle sieben Themen bietet, werden die sogenannten Sicherungsstrategien herausgearbeitet. Je nachdem, ob eine Situation von Schüler/innen als befriedigend oder bedrohlich erlebt wird, dienen Sicherungsstrategien zur Verfestigung oder (Wieder-)Herstellung von Sicherheit und Ordnung. Wird die Alltagswelt bzw. die „rituelle Ordnung“ (Miethling & Krieger, 2004, S. 246) im Sportunterricht gestört, versuchen Schüler/innen durch die Sicherungsstrategien ein neues „rituelles Gleichgewicht“ (Miethling & Krieger, 2004, S. 247) herzustellen und dadurch ihre eigene Identität zu schützen. Folgende fünf kognitive als auch handlungspragmatische Sicherungsstrategien werden von Miethling und Krieger (2004, S. 249-256) rekonstruiert: 1) Umgehen: Charakteristisch für diese Sicherungsstrategie ist der körperliche Entzug oder der bewusste körperliche Nicht-Einsatz im Sportunterricht. 2) „Umbringen“/ Angehen: Dies stellt die offensivste Form von Sicherungsstrategien dar. Die Formen dieser Sicherungsstrategie oszillieren zwischen konstruktiven und destruktiven Herangehensweisen. Eine konstruktive Form ist das offensive Angehen durch verbale Proteststrategien. In seiner destruktiven Form sind verbale und körperliche Aggressionen erkennbar. Destruktive Strategien gehen einher mit starken Gefühlen von Ärger, Wut oder Hass und dienen dem Zweck des Frustrationsabbaus. 3) Umgehen: Mit dem Ziel, unangenehme sportunterrichtlichen Situationen erträglicher zu machen, erfolgen Veränderungsstrategien. Drei verschiedene Formen werden unterschieden: Das destruktive Stören durch die Initiierung von Nebenhandlungen; das konstruktive und prosoziale Solidarisieren unter Schüler/innen und die Zurücknahme oder Erhöhung des eigenen sportlichen Engagements. 4) Umdeuten: Hierbei handelt es sich um eine kognitive Strategie, durch die es zu einer emotionalen und rationalen Distanzierung zum Sportunterricht kommt. Durch ein sogenanntes „kognitives Reframing“ werden negative Bilder des Sportunterrichts oder der Lehrkraft gedanklich in einen anderen kontextuellen Rahmen gesetzt, sodass das verän-

3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts

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derte Bild weitaus positiver konstruiert wird. Formen des Umdeutens sind Ironisierungen oder theatralische Inszenierungen. 5) Umwerten: Bei dieser Sicherungsstrategie werden bestehende Bilder vom Sportunterricht aufrechterhalten, aber es erfolgt eine Distanzierung durch Vergleichsziehungen und Relativierungen. Beispielsweise verliert der Sportunterricht an subjektiver Bedeutung, wenn sein Stellenwert im Vergleich zu anderen Fächern niedriger gewertet wird. Die Zusammenführung der Sicherungsstrategien und relevanten Themen erfolgt in dem „Modell der Produktiven Unsicherheit“ von Miethling und Krieger (2004). Ob sportunterrichtliche Situationen von Schüler/innen als positiv („Oase“) oder negativ („Tortur“) erlebt werden, hängt vor allem davon ab, wie sie sich innerhalb der relevanten Themen verorten (Miethling & Krieger, 2004, S. 259). Sicherungsstrategien eröffnen Schüler/innen einen produktiven Umgang mit Unsicherheit, sodass der Sportunterricht für sie gewissermaßen normalisiert wird. Eine weitere Studie, die unterschiedliche beobachtbare Umgangsweisen von Schüler/innen aufdecken konnte, ist die multi-methodisch angelegte Untersuchung von Grimminger (2012b, 2013a, 2013b, 2014). In ihrer Studie wurden spezifische sportunterrichtliche Situationen genauer analysiert, in denen Schüler/innen Missachtung erfahren bzw. keine Anerkennung erhalten. Für die eigene Studie sind vor allem die unterschiedlichen Umgangsstrategien der Schüler/innen von besonderem Interesse, die auf die grundlegendste Form der Missachtung – das Unsichtbarmachen – folgen. Die von Grimminger (2013a, S. 40-43) identifizierten Umgangsstrategien mit dem `Unsichtbar-gemacht-Werden´ beziehen sich auf den Kontext von kleinen Fang- und Abwurfspielen: 1) Mit anderen „unsichtbaren“ Schüler/innen kooperieren: Die eigene Unsichtbarkeit wird dadurch aufgehoben, dass mehrere `unsichtbare´ Schüler/innen untereinander kooperieren und sich durch diese Interaktionen wieder gegenseitig sichtbar machen. Voraussetzung hierfür ist selbstverständlich, dass es mehrere `unsichtbare´ Schüler/innen gibt, die sich vereinen können. 2) Um Befreiung „kämpfen“: Diese Strategie wenden vor allem sportlich leistungsstarke Schüler/innen mit hoch ausgeprägten Selbstkonzept-

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3 Forschungsstand

facetten an, die sich aber gleichzeitig in einer soziometrisch unsicheren Position befinden. Werden Schüler/innen dieser Gruppe unsichtbar gemacht, fordern sie offensiv ihre wieder sichtbar machende Befreiung ein. 3) Gerechtigkeit einfordern: Schüler/innen erlösen sich aus ihrer Unsichtbarkeit, indem sie aktiv-verbal auf ihre ungerechte Behandlung des `Ignoriertwerdens´ hinweisen. Diese Strategie führt dazu, dass das augenscheinliche Unsichtbarmachen von den betroffenen Personen öffentlich thematisiert wird und somit in den Aufmerksamkeitsfokus der Klasse gerät. Diese Strategie ist nicht erfolgversprechend, was zu Situationen der Beschämung führen kann. 4) Resignieren/ „Self-Handicapping“: Insbesondere Schüler/innen, die regelmäßig kollektiv ignoriert werden, verharren in ihrer aufoktroyierten Unsichtbarkeit und resignieren. Die Begründungen für Resignationsstrategien gleichen der aus der Motivationspsychologie stammenden Strategie des „Self-Handicappings“. Die erfahrene Unsichtbarkeit wird als selbstbestimmt und freiwillig gewählt interpretiert und besitzt so selbstwertschützenden Charakter. Die letzte Studie, die sich mit unterschiedlichen Verhaltensweisen von Schüler/innen im alltäglichen Sportunterricht beschäftigte, ist die ethnographisch angelegte Dissertation von Kamper (2015) unter Anwendung der theoretischen Rahmenkonzeption zur Schulsportforschung (Bräutigam, 2008) und der Praxistheorie nach v.a. Reckwitz. Schülerpraktiken bezeichnet die Forscherin aus einer praxistheoretischen Perspektive als „Aktivitäten, die über Körperbewegungen stattfinden, von Repetitivität und Gleichartigkeit gekennzeichnet sind, den Einbezug von Gegenständen oder weiteren situativen Strukturmomenten beinhalten und auf einem praktischen Wissen basieren“ (Kamper, 2015, S. 82). Anhand der Auswertungsstrategie der Grounded Theory identifizierte die Forscherin fünf zentrale Schülerpraktiken im Sportunterricht, die differenziert beschrieben werden: Laufen, Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen. Als zentrale Kernkategorie der Praktiken – welche sich über alle beschriebenen Praktiken durchzieht – lässt sich die „Aufrechterhaltung des Unterrichtsflusses“ (Kamper, 2015, S. 268) erkennen. Unter Mit-Machen, Anders-Machen, Anderes-Machen und Irgendetwas-Machen werden vier Formen der Be-

3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts

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zugnahme auf den Sportunterrichtsverlauf ausdifferenziert (Kamper, 2015, S. 270-297). Anhand dieser Formen fördern Schüler/innen eine kontinuierliche Aufrechterhaltung des Sportunterrichtflusses. 1) Mit-Machen: Schüler/innen setzen die vorgegebenen sportunterrichtlichen Inhalte um, wobei das Mit-Machen hinsichtlich zeitlicher, qualitativer und intensitätsbezogener Aspekte variieren kann. 2) Anders-Machen: Schüler/innen setzen eine inhaltliche Vorgabe zwar um, aber verändern Strukturmerkmale der Bewegungsaufgabe. Durch die eigenständigen Umgestaltungen werden Aufgaben erleichtert, erschwert, möglich gemacht oder neue, motivierende Bewegungsanreize gesetzt. 3) Anderes-Machen: Schüler/innen setzen sich nicht mit den inhaltlichen Vorgaben auseinander und machen in Wartepausen oder während der Aufgabenumsetzung etwas Anderes. Trotz des Anderes-Machens bleibt der Unterrichtsfluss aufrechterhalten, da nur einzelne Schüler/innen etwas anderes machen und ihre Mitschüler/innen sich davon nicht ablenken lassen. Die Phasen des Anderes-Machens sind zeitlich begrenzt und werden in der Regel sanktioniert. 4) Irgendetwas-Machen: Schüler/innen beschäftigen sich in informellen sportunterrichtlichen Situationen wie Umkleidephase oder Trinkpause mit selbst gewählten Aktivitäten, die sich in ihrer Intensität unterscheiden. In der Regel werden die vielfältigen Aktivitäten auf ein Signal seitens der Lehrkraft beendet, sodass der Unterrichtsfluss ohne Verzögerung (wieder) aufgenommen werden kann. Die Studie von Kamper (2015) ist insofern aufschlussreich, da zum ersten Mal eine differenzierte Deskription von unterschiedlichen Schülerpraktiken im alltäglichen Sportunterricht aufgezeigt wird, die auf einer abstrakten Ebene zur Aufrechterhaltung des Unterrichtsflusses beitragen. Auf einer analytischen Ebene sind für die eigene Arbeit jedoch vor allem die in diesem Kapitel vorgestellten Umgangsstrategien von Schüler/innen mit im Sportunterricht auftretenden `Unordnungen´ von Bedeutung, wie sie bei Miethling & Krieger (2004) und auch bei Grimminger (u.a. 2013a) zu finden sind. Die enge Verknüpfung von Umgangsstrategien von Schüler/innen auf sportunterrichtliche Belastungen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung und zum Schutz der eigenen Identität lassen

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3 Forschungsstand

vermuten, dass einige der Strategien auch im Umgang mit Fremdheit gezeigt werden könnten. 3.2.2 Untersuchungen zu Schüler/innenverhalten auf intendierte didaktische Inszenierungen Bisher vorgestellte empirische Studien bezogen sich auf sportunterrichtliche Verhaltensweisen, die erstens, vor allem Umgangsstrategien von Schüler/innen mit den sich im Sportunterricht ergebenden Belastungen untersuchten und zweitens, die im alltäglichen Sportunterricht stattfanden. Da die eigene Studie in eine Interventionsstudie eingebettet ist, widmet sich dieses Kapitel jenen Forschungsarbeiten, die die Auseinandersetzung der Schüler/innen mit bewusst inszenierten sportunterrichtlichen Inhalten in den Vordergrund rücken. Im Rahmen der Arbeiten wird demnach auch ein spezifischer Unterrichtsgegenstand auf seine Angemessenheit analysiert. Denn die Sportdidaktik hat im Anschluss an sportpädagogische Überlegungen entsprechende didaktisch-methodische Konzepte zu entwickeln und hinsichtlich ihrer Wirkungen und Umsetzbarkeit empirisch zu prüfen (Bähr, 2009, S. 142). Die vorliegende Studie deckt vor allem den Bereich der Umsetzbarkeit ab; die Wirkungen der Unterrichtseinheit wurden im Rahmen der quantitativen Teilstudie (Grimminger-Seidensticker & Möhwald, 2017) überprüft. Qualitative Analysen im Rahmen von längsschnittlich angelegten Interventionsstudien werden in der bisherigen sportpädagogischen Forschungslandschaft jedoch nur selten explizit berücksichtigt (Bähr, 2009, S. 151). Die Frankfurter Arbeitsgruppe (Bähr, 2009; Bähr, Koch & Gröben, 2007; Bähr, Prohl & Gröben, 2008) entwickelte in einem bildungstheoretisch fundierten Forschungsansatz eine Unterrichtsreihe mit der Unterrichtsmethode des kooperativen Lernens. Im kooperativen Lernen wird aus bildungstheoretischer Sicht das Potenzial der Integration von fachlichem und persönlichkeitsbezogenem Lernen gesehen. Durch eine umfassende Erhebungsmethode (quantitativ und qualitativ; Schüler/innenund Lehrer/innenperspektive) im Rahmen eines quasi-experimentellen Studiendesigns konnte in verschiedenen Teilstudien die Unterrichtsmethode des kooperativen Lernens unter verschiedenen Fragestellungen evaluiert werden. Zudem konnte durch ihre Studienkonzeption die Wech-

3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts

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selwirkung der systematischen Gestaltung einer Lernumgebung und dem Handeln der Schüler/innen untersucht werden. Vor allem die Veröffentlichung von Bähr et al. (2008) ist für die prozessorientierte qualitative Evaluation von besonderem Interesse. Das Autorenteam analysierte die Arbeitsprozesse und -ergebnisse kooperativ lernender Kleingruppen. Ziel war es, Merkmale des Handels erfolgreich lernender Gruppen im Vergleich zu weniger erfolgreich lernenden Gruppen zu identifizieren. Die Stichprobe umfasste 10 Schulklassen der vierten Jahrgangsstufe an Schulen unterschiedlicher Stadtteile in Frankfurt am Main. Die Intervention beinhaltet fünf Doppelstunden, in denen die Schüler/innen den Handstand unter kooperativen Lernbedingungen erlernen sollten. Die Schüler/innen wurden zu Beginn der Unterrichtsreihe in Kenntnis gesetzt, dass bei einem Abschlussturnier über eine Mannschaftswertung der Kleingruppen entschieden werden würde, in dem jede/r durch eine gute Ausführung des Handstandes Punkte für die eigene Gruppe sammeln konnte (Bähr et al., 2008, S. 295). Alle 50 Kleingruppen wurden während der gesamten Dauer des Lernprozesses mit Videokamera und Mikrophon aufgenommen. Die Kriterien für fachliche Lerneffekte sowie persönlichkeitsbezogene Lerneffekte im Sinne der Verhaltensweisen der Schüler/innen im Prozess der Gruppenarbeit, wurden festgelegt und anhand einer 5-stufigen Skala kodiert und bewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass sich das kooperative Lernarrangement positiv auf das fachliche Lernen (i. S. motorischer Lernleistung) auswirkt. Anhand der qualitativen Daten wurden unterschiedliche Ergebnisse auf der Prozessebene eruiert und mit den Ergebnissen des fachlichen Lernens verknüpft. Beispielsweise geht eine hohe „Qualität des Übens“ mit einer guten motorischen Lernleistung einher, allerdings zeigt die Häufigkeit des eigenen Bewegungsvollzugs keinen Zusammenhang zu der Ausprägung der Lernleistung. Diese Studie zeichnet sich durch eine systematische Verknüpfung des Outputs (Handstand) mit dem Prozess (Auseinandersetzung der Schüler/innen mit der Lernaufgabe) aus. Sie bietet eine Erklärungsfolie, wie ein Ziel gegebenenfalls besser erreicht werden kann und regt zu weiteren didaktischen Überlegungen an. Da allerdings mit der Quantifizierung der qualitativen Daten ein hoher Informationsverlust einhergeht, würden mik-

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3 Forschungsstand

roanalytische Auswertungsstrategien ein noch differenzierteres Bild auf sportunterrichtlicher Prozessebene liefern. Eine weitere Studie, die die Umgangsweisen von Schüler/innen auf spezifische didaktische Inszenierungen untersuchte, ist die Studie der Hamburger Arbeitsgruppe (Bähr, Bechthold & Krieger, 2016; Krieger, 2015). Auf das Phänomen der „produktiven Unsicherheit“ von Miethling und Krieger (2004) bezugnehmend, hat die Forschungsgruppe den Umgang mit Ungewissheit im Sportunterricht untersucht. Theoretisch nimmt die Arbeitsgruppe Bezug zur transformatorischen Bildungstheorie (Koller, 2012a), die Fremdheitserfahrungen als Ausgangpunkt von bildungsrelevanten Prozessen sieht. In ihrer explorativen Feldstudie mit Schüler/innen der 10. Klassen wurde eine Bewegungsform aufgegriffen, die für viele Schüler/innen unbekannt war und gleichzeitig einen großen Spielraum an Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten bot. Mit dem 24 Einsatz des Rola Bolas wurde ein sogenanntes „ungewissheitsfreundliches“ Setting geschaffen. Die didaktische Inszenierung der Forschungsgruppe bestand darin, dass die Rola Bolas in der Halle verteilt (und mit Matten abgesichert) wurden und sich die Schüler/innen eigenständig und ohne weitere Instruktionen den Geräten widmen sollten. Die Schüler/innen zeigen verschiedene Umgangsstrategien mit dem didaktischen Arrangement, die von einem direkten Einlassen bis hin zu keiner aktiven Auseinandersetzung mit dem sportunterrichtlichen Inhalt changieren. Die Studienkonzeption der Hamburger Forschungsgruppe zeigt auf theoretischer Ebene, Anknüpfungspunkte an die eigene Studie, auch wenn der Ungewissheitsbegriff nicht deutlich von den Autor/innen geschärft wurde und die Gruppe auch Begrifflichkeiten um Fremdheit und Irritation verwendet. Als weiteren Unterschied kann ausgemacht werden, dass die Schüler/innen bisher unvertraute Inhalte eigenständig explorieren sollten und somit kein strukturiertes didaktisch-methodisches Arrangement seitens der Lehrkraft geboten wurde. Insgesamt fällt bei den Studien, die (neben der Output-Orientierung) die Prozessebenen im spezifisch didaktisch inszenierten Sportunterricht 24

Rola Bolas ist ein Balanciergerät aus der Zirkuspädagogik, welches aus einem Rohr und einem Brett besteht.

3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts

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(mit)untersuchen, auf, dass letztendlich die sportunterrichtlichen Inhalte in den Hintergrund rücken. Aber genau diese wurden unter einer spezifischen Perspektive als „Interventionsinhalte“ ausgewählt und müssen, bei der Analyse von Umgangsweisen der Schüler/innen, in Bezug gesetzt werden. Der Unterrichtsinhalt bestimmt zum Großenteil die Schüleraktivitäten mit. Deshalb müssen Inhalte auch auf ihre Angemessenheit hin analysiert werden, um einen konzeptionellen Fortschritt zu erlangen. Perspektiven, wie die Qualität der Unterrichtsgestaltung verbessert werden könnte, folgen in der Regel nicht. 3.2.3 Untersuchungen zu (Reflexions-)Gesprächen im Sportunterricht Auch wenn der Sprache bzw. der sprachlichen Verarbeitung des Erlebten für die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung eine hohe Bedeutung zugesprochen wird, gibt es in der sportwissenschaftlichen Forschung bislang wenige Arbeiten, die sich speziell mit der verbalisierten Form von Reflexionen beschäftigen oder das Reflektieren von sozialen Prozessen 25 im Unterrichtsgeschehen (mit-)analysieren. Digel (1980) sieht den Sportunterricht als kommunikatives Ereignis, welches von Lehrkräften und Schüler/innen interaktiv hergestellt wird. Der Autor möchte grundsätzlich die sprachliche Kommunikation im Sportunterricht charakterisieren und bezieht sich somit nicht explizit auf Reflexionsgespräche. Fünfzehn videographierte Unterrichtsstunden wurden hierfür analysiert und Merkmale der sprachlichen Kommunikation im (Sport-)Unterricht abgeleitet. Der Forscher deckt einen wichtigen Aspekt zur Funktion von Gesprächen im Sportunterricht auf: Die meisten Äußerungen seitens der Lehrkraft beziehen sich auf organisatorische und fachliche Angelegenheiten, selten nimmt die Lehrkraft bei kommunikativen Aspekten Bezug auf die Schüler/innen, ihre Gedanken oder emotionalen Probleme (Digel, 1980, S. 73). In der Studie von Digel (1980), die 25

Kognitive Reflexionen als nicht beobachtbare gedankliche Auseinandersetzungen von Individuen können nur in begrenztem Maße rekonstruiert werden. Methodisch versuchen Wirkungsforschungen sich durch die Erfassung von zum Beispiel Veränderungen auf Einstellungsebene einer kognitiven Verarbeitung eines intentionalen erzieherischen Prozesses anzunähern. Dies war Absicht der hier zugrundeliegenden quasiexperimentellen Interventionsstudie (Grimminger-Seidensticker & Möhwald, 2017).

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3 Forschungsstand

als eine der ersten den kommunikativen Aspekt des sportunterrichtlichen Geschehens in den Blick nimmt, liegt der Fokus des Sportunterrichts und somit auch die Verwendung von Sprache auf der Vermittlung von sportmotorischen Fertigkeiten. Reflexionsgespräche im weiter gefassten Sinne finden hier gar keine Berücksichtigung. In der gleichnamigen Arbeit von Kuhlmann (1986) über das „Sprechen im Sportunterricht“ wurde insbesondere die Sprache der Sportlehrkraft als zentrales Medium ihrer Handlungen im Sportunterricht herausgestellt. Die Datengrundlage bilden audiovisuelle Aufzeichnungen, die in sieben unterschiedlichen Klassen der Sekundarstufe II im Sportunterricht mit dem thematischen Schwerpunkt des Sportspiels Handball aufgenommen wurden. Kuhlmann (1986) gliedert das sportunterrichtliche Geschehen in unterschiedliche kommunikative „Abschnitte“, in denen Sprache ihre je eigene Handlungslogik erhält. Die Situationen, in denen organisatorische (Bewegungs-)Anweisungen gegeben werden, um das unterrichtliche Arrangement herzustellen, bezeichnet Kuhlmann (1986) als „Inszenierungen“. Die sprachlichen Äußerungen innerhalb der Inszenierungen dienen vornehmlich der Vorbereitung zukünftiger unterrichtlicher Aktivitäten und besitzen somit einen unterrichtssteuernden Charakter. In diesen Unterrichtsphasen steht die Sprache im Vordergrund. Wenn vornehmlich motorische Aktivitäten durchgeführt werden und die Sprache dadurch in den Hintergrund rückt und beispielsweise nun eine Feedbackfunktion einnimmt, wird von Kuhlmann der Begriff „Szene“ verwendet. Jeder Szene geht eine bewusste sprachliche Inszenierung der Sportlehrkraft voraus, wobei beide `Akte´ in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. In Kuhlmanns (1986) Arbeit werden vor allem kommunikative Situationen vor und während motorischen Tätigkeiten der Schüler/innen analysiert, sodass die von der Lehrkraft verwendete Sprache – wie auch bei Digel (1980) – vor allem instruierende, erklärende und korrigierende Funktionen besitzt. Die Arbeit von Frei (1999), die sich in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns verortet, arbeitet die Bedeutung von kommunikativem Handeln im Sportunterricht aus Sicht von Sportlehrkräften und Schüler/innen heraus und stellt kommunikativ verursachte Konflikte und Brüche zwischen beiden Akteuren heraus. Es wurden insgesamt 10 Sport-

3.2 Prozessebenen des Sportunterrichts

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lehrkräfte und 35 Schüler/innen in die Untersuchung einbezogen und Daten mittels Interviews und Beobachtungen erhoben und anhand der Grounded Theory ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass für Schüler/innen vor allem die Transparenz von kommunikativen Handlungen von Seiten der Lehrkraft ausschlaggebend dafür ist, ob sie selbst an kommunikativen Handlungen kompetent teilnehmen und Stellung beziehen können. Lehrkräfte sehen Kommunikation als relevante Notwendigkeit des (sport-)unterrichtlichen Handelns und sehen in ihr vor allem eine Koordinationsfunktion. Der aus Sicht der Schüler/innen bedeutsamen Transparenz messen Sportlehrkräfte eine eher marginale Bedeutung zu, sodass hier eine „Bruchlinie für das Gelingen von Sportunterricht angelegt [ist]“ (Frei, 1999, S. 251). Die Arbeit von Frei (1999) rekonstruiert anhand verschiedener Daten die kommunikativ erzeugten Bilder der jeweiligen Akteure des Sportunterrichts und stellt potenzielle Reibungsflächen der kommunikativen Handlungen von Lehrkräften und Schüler/innen heraus. Eine explizite Analyse von spezifischen kommunikativen sportunterrichtlichen Praxen wie z.B. (Reflexions-)Gesprächen war nicht Anspruch dieser Arbeit. Die Dissertation von Greve (2013) geht der Frage nach „unter welchen Bedingungen Sportspiele zu inszenieren sind, damit entsprechende Bildungsprozesse erwartet werden können, und das Spielen von Sportspielen erzieherisch bedeutsam werden kann“ (S. 13). In seinem Ansatz vereint er den vom erziehenden Sportunterricht geforderten Doppelauftrag, indem er die Persönlichkeitsbildung eines erziehenden Sportunterrichts und die motorisch-qualifikatorische Seite stets mitberücksichtigt. Dabei rekurriert er sich auf den Bildungsbegriff nach Klafki. Durch ein generatives Lehr-Lernkonzept zum Handballspiel legt Greve (2013) u.a. empirisch dar, dass Grundschulkinder durch verbale Reflexionsrunden in der Lage sind, spielorientierte Lösungen für aufgetretene Konflikte im Handballspiel (wie z.B. Verteilung von Spielanteilen und Forderungen nach gerechterem Spiel) zu finden und dadurch soziale Lernprozesse in der Klasse zu fördern. Die Arbeiten von Serwe-Pandrick (u.a. 2013a, 2013b) beschäftigen sich (schulentwicklungs-)theoretisch als auch empirisch mit der „Reflektieren Praxis im Sportunterricht“ als Prinzip der Unterrichtsgestaltung. Um

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3 Forschungsstand

eine neue, d.h. reflexive Sicht auf sich selbst und den Sport zu erlangen, müssen die im Sportunterricht gemachten praktischen Erfahrungen systematisch und kommunikativ aufgearbeitet werden (Serwe-Pandrick, 2013b, S. 101). Serwe-Pandrick (2013b) analysiert am Beispiel einer videographierten Unterrichtseinheit zum Thema „Aggressionen und Fairness im Sport“, durch welche Methoden Reflexionsanlässe bewusst geschaffen werden. Eine Form der didaktischen Inszenierung, ist die bewusste Manipulation des Sportunterrichtsgeschehens durch die Lehrkraft. Die Lehrkraft verpfeift beispielsweise das Spiel, sodass der Fluss des Gewohnten durchbrochen wird. Diese „Verstörung“ bzw. „manipulierte Praxis“ (Serwe-Pandrick, 2013b, S. 103) fordert Gesprächsbedarf bei den Schüler/innen und bietet einen guten Ausgangspunkt für (verbale) Reflexionsanlässe. In der Publikation von Serwe-Pandrick und Gruschka (2016) werden die kommunikativen Prozesse des Lehr-Lern-Geschehens in den Blick genommen. Dabei wurden zwei Doppelstunden einer fünften Klasse im Rahmen des Unterrichtsvorhabens „Kleine Spiele fair spielen“ analysiert. Serwe-Pandrick und Gruschka (2016) kommen zu dem Schluss, dass die Lehrkraft in den Reflexionsgesprächen permanent versucht, „das Moralische kognitiv zu fassen“ (S. 45). Die bei der Lehrkraft vorherrschenden normativen Vorstellungen von Fairness sind handlungsleitend für die kommunikative Praxis, sodass eher moralische Botschaften vermittelt werden und analytisch-reflexive Verknüpfungen der sportlichen Praxis in Bezug auf (Un-)Fairness in den Hintergrund rücken. Insgesamt zeigt sich, dass die jüngeren Arbeiten zu Gesprächen und Kommunikationen im Fach Sport auch die persönlichkeitsbildende Perspektive des sportunterrichtlichen Geschehens berücksichtigen. Allerdings lässt sich ein Forschungsdesiderat im Rahmen der sportpädagogischen Forschung aufdecken, und zwar inwiefern im Sportunterricht erzeugte soziale Prozesse auch in Zusammenhang mit alltäglichen bzw. gesellschaftlichen Situationen verknüpft werden können. Hier knüpft die vorliegende Studie an, die u.a. durch die Inszenierung von Fremdheit und der expliziten Veränderung von vertrauten sozialen Zugehörigkeiten versucht, Verunsicherung hervorzurufen und dieses Erleben auf außersportunterrichtliche Kontexte zu übertragen.

3.3 Zusammenfassung und Synthese des Forschungsstandes

3.3

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Zusammenfassung und Synthese des Forschungsstandes – Überleitung zum Untersuchungsanliegen

Der Forschungsstand entschlüsselt verschiedene Forschungsdesiderate auf unterschiedlichen Ebenen, weshalb diese Forschungsarbeit in verschiedenen Bereichen Neuland bzw. noch wenig beforschtes Land betritt. In der Tradition des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung wird der Fokus auf die Inszenierung von Fremdheit als Motor für interkulturelle Lernanlässe gelegt und dabei zum ersten Mal die Prozessebene systematisch analysiert. Die Mikroanalysen nehmen in den Blick, ob und wie Schüler/innen auf die Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ auf beobachtbarer Ebene umgehen und wie das im Sportunterricht Erlebte sprachlich aufgegriffen und verarbeitet wird. Da es sich um sportunterrichtliche Prozesse innerhalb einer quasiexperimentellen Interventionsstudie handelt, stehen spezifische Umgangsformen von Schüler/innen mit den sportdidaktischen Inhalten im Vordergrund. Die individuellen Verarbeitungsmechanismen der Schüler/innen auf die sportunterrichtlichen Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung werden mikroanalytisch ausgewertet. Forschungsarbeiten, die die konkrete Praxis des Sportunterrichts anhand von Beobachtungen untersuchen, sind in der prozessorientieren Unterrichtsforschung einzuordnen (Wolters, 2011, S. 19-20). Wird Schüler/innenhandeln durch die von Schüler/innen selbst benannten und gemachten Erfahrungen rekonstruiert, so können diese Studien der Schülerforschung zugeordnet werden (Bräutigam, 2011, S. 94). Dies trifft vor allem bei der Verarbeitung der gemachten Erlebnisse im Sinne von Reflexionsgesprächen zu. Die eigene Studie ist demnach in der Schnittstelle von Schülerforschung und Unterrichtsforschung anzusiedeln. Durch die detaillierte Beschreibung, Analyse und Rekonstruktion auf Prozess- und Akteursebene werden verschiedene Facetten des Unterrichtsgeschehens in den Blick genommen, mit der Absicht das (didaktische) Konzept der Interkulturellen Bewegungserziehung kritisch zu beleuchten, weiterzuentwickeln und auszudifferenzieren. Als ein kritisch zu analysierender Gegenstand können die sportunterrichtlichen Inhalte gesehen werden, die im Sinne einer

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3 Forschungsstand

Ex-Post-Evaluation mögliche Verbesserungspotenziale der methodischen und didaktischen Umsetzung aufdecken kann. Abbildung 2 fasst die unterschiedlichen für die eigene Arbeit relevanten Forschungszugänge zusammen, woraus sich die übergeordnete Forschungsfrage der Arbeit ableiten lässt: Wie gehen Schüler/innen mit den sportdidaktischen Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ um? Differenzierter lassen sich folgende weitere Forschungsfragen ableiten, die im Laufe der Arbeit genauer betrachtet werden: x x

x

Welche beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen auf didaktisch inszenierte Fremdheitsspiele werden sichtbar? Wie verarbeiten Schüler/innen die didaktisch inszenierten Fremdheitsspiele sprachlich und inwiefern kann die im Sportunterricht inszenierte Fremdheit mit außersportunterrichtlichen Situationen verknüpft werden? Welche perspektivischen Überlegungen können anhand der Ergebnisse für die Sportunterrichtspraxis im Sinne der Interkulturellen Bewegungserziehung getroffen werden?

Interkulturelle Bewegungserziehung mit dem Fokus auf den Umgang mit Fremdheit

Schüler- und UnterrichtsSc Erkenntnisleitende forschung: Forschungsfrage: Rekonstruktion von Wie gehen Schüler/innen mit Mikroprozessen von den sportdidaktischen Inhalten Schüler/innen im der Interkulturellen BeweSportunterricht mit gungserziehung zum Thema inszenierter Fremd„Fremdheit als Bildungsanheit (auf beobachtlass“ um? barer und sprachlicher Ebene)

Abb. 2. Verortung der eigenen Arbeit in unterschiedlichen Forschungsperspektiven und Formulierung der zentralen Forschungsfrage

4

Theoretisches Rahmenkonzept

Von der Interkulturellen Erziehung und Bildung ausgehend, soll zunächst die theoretische Begrifflichkeit von „Kultur“ geklärt werden und in ein für die eigene Arbeit geeignetes Verständnis überführt werden. Anschließend wird auf das zentrale Analysekonstrukt der Arbeit – Fremdheit – als eine potenzielle Komponente in interkulturellen Begegnungen eingegangen. Der Fremdheitsdiskurs ist in vielen Wissenschaftsdisziplinen wie unter anderem der Soziologie, Ethnologie, den Kulturwissenschaften, der 26 Psychologie und der Philosophie verankert. Im folgenden Kapitel wird sich auf die sozialkonstruktivistisch-psychologischen Ansätze von Fremdheit gepaart mit identitätstheoretischen Überlegungen bezogen. Als weitere Erklärungsfolie von Fremdheit dienen soziologische Theoriebezüge, da hier der Fokus auf strukturellen Rahmenbedingungen, in denen Interaktionen stattfinden, liegt. Diese theoretischen Bezüge umrahmen die Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung, welche Ausgangpunkt für die Entwicklung und Durchführung der vorliegenden Studie war. Der Zugang über sozialpsychologische und identitätstheoretische Ansätze ist für das Setting der Studie (Sportunterricht) von besonderem Gewinn, da die sportunterrichtliche Praxis von sozialen Interaktionen und Prozessen geprägt ist, welche für die Identitätsentwicklung der Schüler/innen bedeutsam sind. Dadurch wird im Gegensatz zu philoso27 phisch-phänomenologischen Ansätzen dem subjektorientierten Ansatz der didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung durch die theoretische Rahmung Nachdruck verliehen. In der Schule bzw. dem Sportunterricht als ein machtbesetztes Setting (vgl. auch Erdmann, 1987), müssen auch strukturelle Gegebenheiten mitberücksichtigt werden, weshalb der Rekurs auf eine soziologische Betrachtung bedeutungsvoll ist.

26

Für einen Überblick verschiedener wissenschaftsdisziplinärer Diskursstränge zu Fremdheit kann beispielsweise Wierlacher (1993) herangezogen werden.

27

Als Hauptvertreter dieses Denkparadigmas kann sicherlich Bernhard Waldenfels (1997, 2002, 2006) gesehen werden, der eine responsive Phänomenologie des Fremden entwickelte.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_4

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

4.1

Der Kulturbegriff – Begriffsverständnis in der vorliegenden Arbeit 28

Der Kulturbegriff steht im Zentrum der Interkulturellen Pädagogik und bedarf folgendermaßen einer Definition. In früheren Ansätzen der Interkulturellen Pädagogik kommt es gemäß dem Kulturverständnis von Herder zu einer Gegenüberstellung von »Eigenkultur« und »Fremdkultur«, wodurch schnell das Bild von abgeschlossenen Kulturen als Kugeln oder statischen Einheiten, die sich gegenüberstehen und unvereinbar erscheinen, entsteht (Kalpaka & Mecheril, 2010, S. 86; Welsch, 2005). In dieser Definition wird ebenfalls ausgeblendet, dass Kultur prozesshaft und dynamisch ist und aktiv von Menschen konstruiert wird. Deshalb eignet sich auch eine oftmals perzipierte Definition von Hofstede (2001, S. 9) nicht, der Kultur als „the collective programming of the mind“ versteht. Diese Definition suggeriert das Bild eines passiven, der Kultur unterworfenen, Menschen. Metaphorisch wird der Mensch als Roboter gesehen, der durch Kultur kollektiv in seinem Denken, Handeln und Fühlen programmiert wird; die Individualität und Aktivität eines Menschen wird außer Acht gelassen. Zunehmend wurde das Bild der Einheitlichkeit von Kulturen und die Unterstellung von Kohärenz innerhalb von Kulturen kritisiert, stattdessen werden Binnendifferenzen innerhalb von Kulturen konstatiert (u.a. AllolioNäcke, Kalscheuer & Shimada, 2003, S. 151). Zudem ist allen neueren Definitionen von Kultur gemeinsam, dass Kultur prozesshaft und dynamisch ist. In der jüngeren Diskussion wurde das Bild von abgeschlossenen Kugeln durch einen weiten und offenen Kulturbegriff abgelöst. Die Definition von Kultur als „die Gesamtheit der kollektiven Deutungsmuster einer Lebenswelt“ (Nieke, 2008, S. 50), verdeutlicht zudem, dass Kultur weder an Ethnie noch Nation gebunden ist. Ein an Niekes (2008) Kulturverständnis anknüpfendes, jedoch anwendungsbezogenes und doch

28

Die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff füllt sozial- und geisteswissenschaftliche Bücher (u.a. Lüddemann, 2010; Fuchs, 2008). Der Anspruch dieses Kapitels liegt nicht darin, den Kulturbegriff umfassend aus verschiedenen Forschungsparadigmen zu durchleuchten, sondern ein für die vorliegende Arbeit passendes Kulturverständnis darzulegen und zu begründen.

4.1 Der Kulturbegriff

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ausdifferenziertes Verständnis von Kultur wird von Gieß-Stüber und Grimminger (2007) entworfen: „`Kultur´ lässt sich als Kontext verstehen, der für Menschen geteilte Handlungs-, Orientierungs-, Wahrnehmungs- und Denkmuster bereitstellt, die einerseits gleichsam als Folie für individuelle und kollektive Erfahrungen gelten können, andererseits aber selbst vom Menschen geschaffen wurden und verändert werden“ (Gieß-Stüber & Grimminger, 2007, S. 112).

Dieses Verständnis von Kultur verinnerlicht, dass kulturelle Grenzen und somit auch kulturelle Zugehörigkeiten dynamisch sind, da sie durch Interaktionsprozesse produziert und modifiziert werden können. Kultur als soziale Praktik zieht somit auch immer soziale Wirkungen nach sich. Die von Gieß-Stüber & Grimminger (2007) angesprochene Rahmung der Kultur bezüglich handeln, orientieren, wahrnehmen und denken wird von 29 Thomas (1993, S. 380) als Orientierungssystem gefasst, das aus spezifischen Symbolen gebildet wird und in Gruppen tradiert ist. Orientierungssysteme besitzen Strukturierungsfunktion innerhalb von Gruppen, dienen der Umweltbewältigung von Individuen und bringen „Ordnung in das erlebte Chaos der Welt“ (Fuchs, 2008, S. 79). Wird Kultur als Orientierungssystem erfasst, wird deren Entstehung, Aufrechterhaltung und Weitergabe verständlich, da ein zentrales menschliches Grundbedürfnis demnach Orientierung ist (Thomas & Utler, 2013, S. 42). Allerdings wird das Orientierungssystem im Sinne einer „symbolische[n] Dimension gesellschaftlicher Praxis“ (Auernheimer, 2002b, S. 98) diskursiv verhandelt, sodass Kultur als „Diskursfeld“ (Auernheimer, 2002b, S. 99) konzipiert wird, das gleichzeitig in gesellschaftliche Strukturen eingebettet ist. Zusammenfassend liegen zentrale Punkte für das eigene Begriffsverständnis von Kultur darin, dass 1) Kultur dynamisch, prozesshaft und diskursiv veränderbar bzw. verhandelbar ist 2) Kultur als Orientierungssystem für Individuen gilt und 3) Kultur nicht ausschließlich auf nationaler 29

Thomas hat einen immensen Beitrag zur theoretischen und empirischen Aufarbeitung von `Kultur´ geleistet. So ist Thomas beispielsweise für seine Arbeiten zu sogenannten `Kulturstandards´ bekannt. Von diesen Kulturstandards möchte sich die Autorin allerdings distanzieren, da sie eine verkürzte Sichtweise auf die Dynamik und die intrakulturelle Vielfalt von Kultur bietet.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

Ebene entwickelt wird, sondern sich in allen Formen des menschlichen Zusammenlebens herausbildet. Der historische Abriss von Interkulturalität im erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs (siehe Kapitel 2.1) macht deutlich, dass das Konzept der Interkulturellen Erziehung und Bildung genuin an Migrationsbewegungen gekoppelt ist. Auch zeigen die im vorherigen Kapitel zusammengefassten empirischen Studien zu Interkulturalität in Bewegung, Spiel und Sport, dass Kultur mehr oder weniger mit Nation gleichgesetzt wird. In der Interkulturellen Pädagogik gilt als Ausgangpunkt die „Differenz“ und „Andersheit“. Diese Kategorien sind laut Mecheril (2004) aber nur dann vertretbar, „wenn die »interkulturelle« Dimension systematisch und konsequent als allgemeine und nicht als migrationsspezifische Dimension pädagogischer Interaktion betrachtet wird“ (Mecheril, 2004, S. 109, Hervorh. im Original). Werden jedoch Differenz und Andersheit ausschließlich als Migrationsphänomen betrachtet und somit ethnisch-kulturelle Differenzen als gegeben vorausgesetzt, besteht die Gefahr „im Zuge eines verkürzten und simplifizierenden Kulturverständnisses soziale Verhältnisse in unangemessener Weise zu »kulturalisieren«“ (Mecheril, 2004, S. 108). Letzteres betonen auch Kalpaka und Mecheril (2010, S. 78), für die es nur eine allgemeine Sicht auf kulturelle Differenz geben kann, die nicht spezifisch auf Migrant/innen eingeschränkt sein darf, denn „erst, wenn die Rede von »interkulturell« verallgemeinert wird, also beispielsweise alle pädagogischen Situationen potenziell unter der Perspektive »interkulturell« verstanden werden, macht es schließlich Sinn, auch pädagogische Interaktionen, in denen das Thema und die Vorstellung »Migration« relevant ist, unter dem Blickwinkel »interkulturell« zu betrachten – immer allerdings unter dem Vorbehalt: »Vorsicht vor Kulturalisierungen«“ (Kalpaka & Mecheril, 2010, S. 78, Hervorh. im Original).

Dieser Argumentation wird gefolgt und im Verständnis eines weiten Kulturbegriffs wird sich nicht auf eine Kulturdimension bezogen. Im Sinne der „Reflexiven Interkulturalität“ (Hamburger, 2012) müssen potenzielle Überschneidungen von verschiedenen handlungsleitenden Orientierungssystemen stets mitgedacht werden. Es geht nicht darum, die Unterschiedlichkeiten menschlicher Selbstdefinitionen zu nivellieren, sondern

4.2 Fremdheit als soziale Konstruktion

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„die Anforderung, die Fixierung auf eine Dimension der sozialen Beziehungen zu überwinden“ (Hamburger, 2012, S. 133, Hervorh. im Original). Es muss stets die Angemessenheit von Kategorien bzw. von kategorialen Zuschreibungen berücksichtigt, geprüft und nach alternativen Erklärungsmustern gesucht werden. Wenn Schwierigkeiten und Konflikte vorschnell „kulturalisiert“ werden, können andere Erklärungsmuster, die sich beispielsweise aus sozialen Lebensbedingungen oder Geschlechterzugehörigkeiten ergeben, übersehen werden (u.a. Diehm & Radtke, 1999). Gemäß dem Begriffsverständnis des Kulturbegriffs in der vorliegenden Arbeit, ist Interkulturalität nicht im engeren – das heißt migrationsspezifischen – Sinne zu verstehen. Vielmehr können unterschiedlichste Begegnungen als interkulturell verstanden werden – wie zum Beispiel Begegnungen von Personen unterschiedlicher Generationen, sexueller Orientierung oder sozialer Lage. Innerhalb des Begegnungsprozesses, der immer auch einem evaluativen Charakter obliegt, können unterschiedliche Normen, Wertvorstellungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen dazu führen, dass bestimmte, wahrgenommene Aspekte fremd erscheinen. Fremdheit wird demnach als übergeordnetes Phänomen verstanden, dass prinzipiell in jeglichen (interkulturellen) Begegnungen erfahren werden kann. Im nachfolgenden Kapitel erfolgt die theoretische Aufarbeitung des Konstrukts Fremdheit und potenzielle (theoretische) Umgangsformen mit erfahrener Fremdheit. 4.2

Fremdheit als soziale Konstruktion

Grundlegendes und einführendes Paradigma der theoretischen Rahmenkonzeption ist der Konstruktivismus, welcher als erkenntnistheoretische Tradition die Wirklichkeit als Konstruktion betrachtet. Alle Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse finden somit vor dem Hintergrund komplexer Interaktions- und Konstruktionsprozesse zwischen Beobachter und Welt statt. Das Subjekt wird als aktiv eingreifender Beobachter, Teilnehmer, Akteur und Konstrukteur seiner Wirklichkeit gesehen (Reich, 2001, S. 356). Grundlegende Annahme ist, dass die aktuelle Realität immer eine beobachterabhängige Konstruktion von Wirklichkeit ist. Auernheimer

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

(2012, S. 106) betont, dass der Konstruktivismus eine passende Hintergrundfolie zur Annäherung an Fremdheit ist, denn erst „[…] wenn ich Selbst und Welt als Konstrukte behandle, dann verdient das nicht einzuordnende Widerständige besondere Aufmerksamkeit. Außerdem muss ich davon ausgehen, dass neben meiner Weltkonstruktion andere, auch völlig andersgeartete Konstruktionen existieren“ (Auernheimer, 2012, S. 106).

Das Zitat macht zum einen deutlich, dass das Fremde jenes ist, welches sich nicht in eigene Konstruktionsrahmungen einordnen lässt. Zum anderen wird die individuell variable Komponente sozialer Konstruktionen ausgedrückt. Die Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt wird immer subjektiv interpretiert und unterliegt kulturspezifischen und sozialisationsbedingten Bewertungsmustern (Noethlichs, 2005a, S. 39). Im Laufe des Lebens entwickelt jeder Mensch einen vertrauten Bezugs-, Handlungsund Orientierungsrahmen. In der Begegnung mit Fremdheit kann dieser aufgebaute vertraute Eigenraum in Frage gestellt werden; alles was außerhalb dessen liegt – in Auernheimers (2012, S. 106) Worten genannte „nicht einzuordnende Widerständige“ – erscheint zunächst different und unvertraut. Hier knüpft eine weitere Kategorie der Fremdheitswahrnehmung an, da als theoretischer Ausgangspunkt von Fremdheitswahrnehmung die Differenz angenommen wird. Um die Komplexität in modernen Gesellschaften zu bewältigen, sind Menschen im alltäglichen Leben auf Klassifizierungen und Differenzbildungen angewiesen. Sie vereinfachen dem Menschen den Alltag, bieten Orientierungshilfe und ermöglichen die Herstellung von Ordnung und Sicherheit. Fremdheit als „Ausdruck von selbstvergessenen Ordnungsleistungen“ (Schäffter, 1991b, S. 15) reduziert die Komplexität der Wirklichkeit durch Differenzbildungen im Sinne des `Eigenen´ und des `Fremden´. Gleichzeitig werden Differenzen (bewusst oder unbewusst) betont. Fremdes und Eigenes sind für sich genommen so komplex, dass sie nur in ihrer jeweiligen Abgrenzung konstruiert und definiert werden können. Dabei ist die Grenzziehung allerdings fließend und stetigen Wandlungen unterworfen. Fremdheit ist kein Zustand und „Fremdheit ist keine Eigenschaft, auch kein objektives Verhältnis zweier Personen, sondern die Definition einer Beziehung“ (Hahn, 1994, S. 140). Nicht diese Person

4.2 Fremdheit als soziale Konstruktion

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oder ihr Verhalten allein ist fremd, sondern erst in Abgrenzung zu dem Eigenen erscheint sie fremd. Dabei existiert das Eigene stets als „unhinterfragter Bezugspunkt, als Ideal oder mythische Norm und als Fiktion einer Normalität“ (Riegel, 2012, S. 205). Das was von der selbstverständlich vorherrschenden Norm abweicht und somit als nicht-zugehörig betrachtet wird, ist fremd. In diesem Prozess positioniert sich das Eigene in subjektive Ordnungsstrukturen und verdeutlicht, welchen Platz der Andere einnimmt. Fremdheit stellt also ein Beziehungsverhältnis dar, welches sich durch Nähe intensiviert (Schäffter, 1991b, S. 12). Zunächst wird eine (neutrale) Differenz von binären Gegensatzpaaren wahrgenommen. Differenzen im Sinne von Abweichungen zum Eigenen werden stets aus einem egozentrischen Blickwinkel herausgehoben, indem das „Individuum sich selbst wahrnimmt und sich von dem Anderen abgrenzt“ (Grimminger, 2009, S. 41). Hier wird bereits deutlich, dass das Selbst, die eigene Identität, eine besondere Rolle in der Wahrnehmung von Fremdheit besitzt. Die Differenz wird durch soziale Grenzziehungen konstruiert, welche entlang spezifischer Marker bestimmt werden (Gieß-Stüber, 1999, S. 44, 2005, S. 69; Hahn, 1994, S. 140). Erst wenn soziale Ordnungen, die den Bereich des Gewohnten und Vertrauten festlegen, in Frage gestellt werden, kann Fremdheit wahrgenommen werden (Scherr, 1999, S. 51). Das heißt, die Differenz wird in Relation zum Eigenen bemessen und erscheint erst dann fremd, wenn sie nicht in Bestehendes und Eigenes eingeordnet werden kann, irritierend wirkt und subjektiv bedeutsam ist (Haußer, 1995, S. 9). Die Höhe der Irritation richtet sich danach, wie stark die wahrgenommene. Fremdheit im Widerspruch zu eigenen Zielen, Wert- und Normvorstellungen, Interessen und Bedürfnissen steht (Grimminger, 2009, S. 41). Fremdheit kann sowohl in Form von Personen erfahren werden als auch als Bewegungsform wie beispielsweise einem unbekannten Spiel mit nicht vertrautem Regelwerk. Auch „typische“ Sportarten des anderen Geschlechts können fremd erscheinen (Gieß-Stüber, 2003, S. 4). Das heißt also, dass Fremdheitserfahrungen auch innerhalb der eigenen Kultur erlebt werden können und nicht ausschließlich auf Migration zu beziehen sind (Akashe-Böhme, 1997, S. 41; Gieß-Stüber, 2005, S. 69; Gut-

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

tandin, 1995, S. 458). Dass Fremdheit oftmals in Kontext von Migration verbunden wird, kann unter anderem historisch begründet werden: Die ersten Arbeiten zu Fremdheit und Fremdes deuten eindeutig auf migrationsspezifische Charakteristika des Phänomens der Fremdheit hin: Simmel bezeichnet in seinem „Exkurs über den Fremden“ den Fremden als jemanden, „der heute kommt und morgen bleibt“ (Simmel, 1908, S. 509) und auch Schütz (1972) typisiert den Fremden aus einer wissenssoziologischen Perspektive als Immigrant, dessen Wissenshorizont mit dem der 30 kulturellen Gemeinschaft kollidiert. 31 Dass Fremdheit – vor allem auch in der öffentlichen Debatte – als 32 ein Phänomen von Zugewanderten verstanden wird, ist problematisch und fordert einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Um das Phänomen der Fremdheit zu verstehen, müssen neben individuellen Konstruktionen von `Fremdem´ und `Eigenem´ auch institutionelle und soziale Kontexte einbezogenen werden. Grenzziehungen und Differenzierungen bieten in der komplexen Lebenswelt Orientierung, aber können gleichzeitig auch die individuelle Wahrnehmung von Personen und Situationen limitieren und somit zu Missverständnissen und Vorurteilen führen. Konstruktionen von Fremdheit sind stets in einem kulturellen Kontext von „Bedeutungsproduktion, Wirklichkeitskonstruktion, Repräsentation und Machtverhältnissen verortet“ (Wilden, 2013, S. 190-191). Wer oder was als fremd verstanden wird, ist ein hochgradig individueller Prozess und 30

Der Fremde ist bei Simmel nicht negativ behaftet ist, sondern bewirkt Integration, wobei bei Schütz der Fremde als „Übersetzungsproblem“ (Reuter, 2002, S. 18) gedeutet wird. Die Wertung des Fremden soll jedoch nicht im Fokus stehen, sondern es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Anfänge mit der Beschäftigung von Fremdheit und `dem´ Fremden im wissenschaftshistorischen Kontext ein auf Migration bezogenes Phänomen darstellt. Der Rückbezug auf Klassiker der Fremdheitstheorie tradiert somit auch die Assoziation des „Wanderers“ sensu Simmel und „Immigranten“ sensu Schütz mit dem Begriff der Fremdheit bzw. des Fremden.

31

Eine weitere Erklärungsfolie, weshalb `der Fremde´ im Alltagsbewusstsein mit ethnischkulturellen Fremden verknüpft wird, liegt in der medialen Darstellung von Migrant/innen: Das in den Medien vermittelte Bild konstruiert diese Personengruppen laut Wendekamm (2015, S. 208) nicht selten als gesellschaftlichen „Fremdkörper“ und stigmatisiert auf pauschalisierende Weise entsprechende Gruppen.

32

In diesem Kontext werden Zugewanderte pauschalisierend als die Personengruppen zusammengefasst, die einen Migrationshintergrund aufweisen. Dass es innerhalb dieser Gruppe zahlreiche Differenzierungen – einhergehend mit dem rechtlichen Status der Personen – gibt, ist im Bewusstsein.

4.3 Umgang mit Fremdheit

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somit ist der Entstehungsprozess von Fremdheit nicht objektiv, sondern durch die subjektive Bedeutsamkeit der Differenz für das jeweilige Individuum bestimmt (Haußer, 1995, S. 8). Allerdings kann der gesellschaftliche Diskurs die Wahrnehmung von Fremdheit beeinflussen. Scherr (1999) betont dies ebenfalls und es ist „[…] davon auszugehen, daß [sic!] es Fremdheit sowie darin begründete Probleme und Konflikte nicht als quasi natürliche Tatsachen des sozialen Lebens gibt, sondern daß [sic!] Wahrnehmungen von Fremdheit in gesellschaftlichen Prozessen unter angebbaren Bedingungen hervorgebracht und nur unter spezifischen Bedingungen zum Bestandteil sozialer Konflikte werden“ (Scherr, 1999, S. 49).

Die Konstruktion des Fremden ist immer in spezifische Machtverhältnisse eingebettet und „damit sowohl eng an die Praktiken der Benachteiligung und Beherrschung, der Stigmatisierung und Unterdrückung als auch an die internen Regulierungsmechanismen sozialer Ordnungen gekoppelt“ (Reuter, 2002, S. 57). Im Gegensatz zur Differenz folgt auf Fremdheit eine Reaktion der Beteiligten, „Unsicherheit ist sicher“ (Gieß-Stüber, 2005, S. 68). Verschiedene Umgangs- und Handlungsstrategien gegenüber Fremdheit werden nachfolgend in Kapitel 4.3 dargelegt. 4.3

Umgang mit Fremdheit 33

Im Zuge einer pluralistischen und individualistischen Gesellschaft sind Fremdheitserfahrungen unumgänglich, weshalb von der „Generalisierung der Fremdheit“ (Hahn, 1994, S. 162) und der „Omnipräsenz des Fremden“ (Stichweh, 1994, S. 212) gesprochen wird. Auf die wahrgenommene Fremdheit folgen unterschiedliche Umgangsstrategien. Bevor auf diese eingegangen wird, erfolgt zunächst eine Verortung der Begrifflichkeiten Verhalten, Handlung und Umgang (Kapitel 4.3.1). Des Weiteren werden potenzielle Faktoren, die den Umgang mit Fremdheit beeinflussen kön33

Hellmann (1998, S. 404-406) zeigt beispielsweise auch Umgangsweisen mit Fremdheit in archaischen, segmentär differenzierten, Stammesgesellschaften auf. In diesen Gesellschaftsformen ist das Erfahren von Fremdheit und Fremdem die Ausnahme, weshalb diese Umgangsformen mit Fremden nicht kompatibel mit denen der modernen Gesellschaft sind.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

nen, dargelegt (Kapitel 4.3.2). Abschließend werden verschiedene Umgangsweisen mit Fremdheit – systematisiert nach unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeit – verdeutlicht (Kapitel 4.3.3 sowie 4.3.4). 4.3.1 Verhalten – Handlung – Umgang: Begriffsverwendung Da die Begriffe Verhalten und Handlung oftmals synonym verwendet werden, sich aber qualitative Unterschiede ergeben, soll das Begriffsverständnis für die eigene Arbeit geklärt werden. Verhalten und Verhaltensweisen werden vor allem im Denkparadigma des Behaviorismus verwendet. Dieser befasst sich ausschließlich mit den äußerlich beobachtbaren Bewegungen eines Menschen. Das Begriffsverständnis umfasst primär ein reaktives Verhalten auf Umweltreize und nimmt v.a. deskriptive Funktion ein. Der Begriff Handlung hingegen umfasst eine zielgerichtete, bewusste und subjektiv sinnvolle Aktivität eines Menschen. Handeln rückt somit ein aktives Individuum in den Vordergrund und zeigt zugleich, dass das Subjekt durch Autonomie, Rationalität, Reflexivität und Flexibilität gekennzeichnet ist (Güttler, 2003, S. 6). Handlung und Verhalten sind keine Antagonismen, sondern besitzen unterschiedliche qualitative Abstufungen im selben Kontinuum von „Aktivität“ und sind streng genommen verschiedenen Denkparadigmen zuzuordnen (Güttler, 2003, S. 6). Im Sinne des Symbolischen Interaktionismus werden Schüler/innen als initiierende und reflektierend-handelnde Wesen begriffen. Wie Blumer (1969, S. 2) darlegt, wird menschliches Handeln durch folgende Prämissen geleitet: Zum einen handeln Individuen auf Basis der Bedeutungen, die Objekte für sie einnehmen. Zum anderen ergibt sich die Bedeutung von Objekten bzw. Symbolen durch soziale Interaktionen. Demnach sind Objekte und Symbole als soziale Produkte zu verstehen, die durch Interaktionen geschaffen und verändert werden können. Die Bedeutung von den Objekten entwickelt und modifiziert sich letztendlich im Rahmen eines reflexiv-interpretativen Prozesses, der stets in sozialen Interaktionen eingebettet ist. Individuen müssen demnach die Objekte der Welt interpretieren, um handlungswirksam zu sein. Die eigenen Analysen der beobachtbaren Umgangsweisen auf die didaktische Inszenierung von Fremdheit beschreiben auf einer ersten Ebene primär vorreflexive Dispositionen der Schüler/innen auf einen ge-

4.3 Umgang mit Fremdheit

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setzten `Fremdheitsreiz´. Durch die Analysen werden die äußeren Verhaltensweisen allerdings nicht nur beschrieben, sondern auch die ihr eventuell zugrundeliegenden Sinnstrukturen rekonstruiert, eingeordnet und interpretiert, weshalb der Handlungsbegriff in diesem Zusammenhang zutreffender erscheint. In der vorliegenden Arbeit kann bei den beobachtbaren Aktivitäten der Schüler/innen bei den jeweiligen sportunterrichtlichen Inhalten von Handlungsweisen bzw. Handlungsstrategien der Schüler/innen im Umgang mit Fremdheit gesprochen werden. Der Begriff der Handlungsstrategie unterstreicht den absichtsvollen und aktiven Vorgang von Schüler/innen im Umgang mit den Fremdheitsspielen. Insbesondere die Analysen der in einer Spielsituation vorherrschenden beobachtbaren Handlungsentwicklungen – im Sinne einer sequenziellchronologischen Verknüpfung von unterschiedlichen Handlungsweisen – der Schüler/innen machen deutlich, dass sie ihre situative Umwelt mit einer individuellen Bedeutungsbeimessung interpretieren und anhand ihrer Handlungen aktiv und zielgerichtet versuchen diese aktuelle Wirklichkeit mitzugestalten. Die erste Umgangsweise auf eine inszenierte Fremdheitssituation kann als eine Grundhaltung der Schüler/innen zu der gegebenen sportunterrichtlichen Situation gesehen werden, welche vorreflexive Anteile besitzt. Nichtsdestotrotz wird bei der ersten beobachtbaren Schülerhandlung davon ausgegangen, dass trotz vorreflexiver Anteile eine Zweckmäßigkeit vorliegt, welche den Schüler/innen gegebenenfalls nicht zugänglich ist, die allerdings durch Analysen rekonstruiert werden können. Deshalb eignet sich auch bei der ersten beobachtbaren Umgangsweise auf inszenierte Fremdheit der Handlungsbegriff. Grundsätzlich wird in der gesamten Arbeit von einem Subjekt ausgegangen, das autonom und aktiv handelt. Der Umgang bzw. die Umgangsweise können in der vorliegenden Arbeit als übergeordnete Begrifflichkeiten verstanden werden, die in Relation zu einem Phänomen – in dieser Arbeit Fremdheit – gesetzt werden. „Umgang mit Fremdheit“ vereint in dieser Arbeit subsumierend alle beobachtbaren und rekonstruierbaren Handlungsweisen der Schüler/innen mit den didaktisch inszenierten Fremdheitssituationen sowie die anschließende sprachlich-reflexive Verarbeitung und Einordnung der sportunterrichtlichen Situation.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

4.3.2 Potenzielle Einflussfaktoren auf den Umgang mit Fremdheit Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Fremdheit ist hochgradig individuell. Nicht nur die kognitive Auseinandersetzung mit Fremdheit ist individuell, sondern auch die Reaktionen auf Fremdheit, weshalb keine allgemeingültigen Regeln vorherrschen, wie man Fremden begegnet und auf Fremdheit reagiert (Bauman, 2005, S. 106). In jedem Fall wird auf Fremdheit auf emotionale Weise reagiert. Diese affektive Beteiligung ist in der Regel ambivalent und „[...] changiert zwischen Faszination und Bedrohung, Bewunderung und Verachtung“ (Scherr, 1999, S. 52). Einflussfaktoren auf den Umgang mit Fremdheit sind neben Einstellungsmerkmalen wie Akkulturationseinstellungen (Berry, 1997, 2005; Berry, Kim, Power, Young & Bujaki, 1989; Grimminger & Möhwald, 2015; van Dick, Wagner, Adams & Petzel, 1997) und Sensibilität gegenüber Fremdheit bzw. kultureller Vielfalt (Esser-Noethlichs, 2011; Grimminger & Möhwald, 2015), auch identitätsbezogene Facetten (Erdmann, 1999a, 2005; Gieß-Stüber et al., 2007) oder auch Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz (Ahbe, 1997; Krappmann, 2000). Auch das bisherige Erfahrungswissen und der spezifische Kontext, in dem Fremden begegnet wird, sind bedeutsam für den Umgang mit Fremdheit. Persönliche, materielle und soziale Ressourcen sind entscheidende Faktoren, inwieweit dem Fremden mit Zuwendung oder Ablehnung begegnet wird (Gieß-Stüber, 2003, S. 4). Ein weiterer bedeutsamer Einflussfaktor auf den Umgang mit Fremdheit – zumindest bei sozialen Begegnungen – ist, ob ein Individuum der machtvolleren Gruppe angehört oder nicht. Die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppe steht im engen Zusammenhang mit der Verteilung von Ressourcen und damit zusammenhängend auch mit jener Definitionsmacht, die für die Gestaltung der aktuellen Situation bedeutsam ist (Gieß-Stüber, 2003, S. 4). Macht wird verstanden als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber, 2002, S. 28). Demnach ist Macht ein relationales Konstrukt, das interaktiv hergestellt und konstruiert wird. Die Gruppenzugehörigkeit ist nicht zwangsläufig an eine zahlenmäßige Unterlegenheit gebunden (Fischer & Wiswede, 2009, S. 730), sondern wird vielmehr durch unterschiedliche `Zugriffmöglichkeiten´

4.3 Umgang mit Fremdheit

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auf bestimmte Machtressourcen (z.B. Wissen, Objekte, Positionen) definiert. Die relativ verteilten Machtressourcen können in sozialen Beziehungen für Belohnungs- oder aber Bestrafungsprozesse eingesetzt werden. Demnach wird durch den Machtbegriff eine bestimmte Relation zwischen (mindestens zwei) Individuen beschrieben und durch Macht können bewusste und unbewusste Effekte im Verhalten oder den Gefühlen von Personen hervorgerufen werden (Erdmann, 1987, S. 25). Die Gruppenzugehörigkeit kann bereits durch institutionelle Regeln oder verankerte Gesetze vorgegeben sein; eine situative Aushandlung von Positionen mit höherer bzw. geringerer Machtrate ist allerdings auch möglich. Für die weitere Betrachtung ist von Bedeutung, dass ungleiche Machtverteilungen über Zugehörigkeiten von `Insidern´ oder `Outsidern´ entscheiden. Die Umgangsweisen mit Fremdheit variieren hochgradig. Allen Formen der Strategien im Umgang mit Fremdheit liegen identitätsstärkende 34 Absichten zugrunde (Schlagheck, 2000, S. 9). Auch Nieke (2012, S. 109) konstatiert, dass Situationen, in denen Fremdheit erfahren wird, zur Ausbildung der Identität beitragen und Teil der Basis für die Persönlichkeitsentwicklung sind. Vor allem ein konstruktiver Umgang mit erlebter Fremdheit ist eine „wichtige Facette individueller Entwicklung“ (GießStüber, 2008, S. 245). Wenn Fremdheit extreme Unsicherheit bewirkt, welche die eigene Identität, den sozialen Status und die eigene soziale Stellung bedroht, kann sich dies auch negativ auf die individuelle Entwicklung für ein Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft auswirken. Ist Fremdheit als das noch Unbekannte positiv konnotiert, sind konstruktive Umgangsweisen wie Neugier und Zuwendung möglich. Fremdheit kann hier als „Ressource […] und Entwicklungspotential“ (Seiberth, 2010, S. 85) gesehen werden. Wulf (1999) macht deutlich, dass der Umgang mit dem Anderen und Fremden ambivalent ist und, dass diese Ambivalenz Auswirkungen auf den Umgang und die individuelle Entwicklung hat: „Er [der Umgang mit Fremdheit, AM] oszilliert zwischen 34

Hier wird ein enger Bezug zu beispielsweise den bereits vorgestellten Ergebnissen von Miethling und Krieger (2004) deutlich. Die von den beiden Autoren aufgedeckten Sicherungsstrategien (siehe Kapitel 3.2.1) besitzen ebenfalls immer identitätsstabilisierenden Charakter.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

Gelingen und Fehlschlag. Gelingt er, führt er zu einer Bereicherung des Anderen und des Eigenen, schlägt er fehl, bewirkt er eine Beeinträchtigung beider“ (Wulf, 1999, S. 13). Verkürzt, aber sehr anschaulich, lassen sich Umgangsweisen auf Fremdheit in zwei pragmatische Handlungsfelder einteilen: einer konstruktiven und einer destruktiven Form. Erstere Gruppe der Umgangsformen kann zu einer positiven Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung von allen Beteiligten führen. Bei destruktiven Umgangsstrategien findet entweder keine Auseinandersetzung untereinander statt oder ein Individuum oder eine Partei (i.d.R. jene mit geringeren Ressourcen) wird diskreditiert, was sich vor allem negativ auf deren Selbstwert als Teil der Identität auswirken kann. Die unterschiedlichen Ausprägungen von Umgangsstrategien mit Fremdheit werden im Folgenden – systematisiert aus Sicht der Individuen bzw. Personengruppe mit höherem und niedrigerem Machtstatus – vorgestellt. Denn Wie mit Fremdheit umgegangen wird, hängt im bedeutenden Maße von den gegebenen Rahmenbedingungen im jeweiligen Interaktionsraum ab (Gieß-Stüber, 2005, S. 68). Die Einteilung in machtvolle(re)n `Insider´ und machtniedrige(re)n `Outsider´ impliziert eine Ungleichverteilung von potenziellen Ressourcen, die für Umgangsweisen mit Fremdheit von großer Bedeutung sind. 4.3.3 Umgang mit Fremdheit aus Sicht der Person(engruppe) mit höherer Macht Zunächst werden die destruktiven Handlungsstrategien vorgestellt, die aus normativer Sicht problematische Umgangsstrategien sind, da keine Verständigung und Begegnung mit dem Fremden gesucht wird, sondern eine sofortige Ablehnung erfolgt (Noethlichs, 2005a, S. 39). In stratifikatorischen Gesellschaften ist der Umgang gegenüber Fremden einem „politischen Kalkül unterworfen“ (Gieß-Stüber, 2000, S. 120) und unterliegt pragmatischen, politischen und ökonomischen Gesichtspunkten. Es ist zudem bedeutsam, ob das Fremde als Einzelphänomen erscheint. Kann das Fremde als ausnahmsweise `anormalen Fall´ konstruiert werden, kann das Subjekt schnell Normalität wiederherstellen und ist nicht zum Handeln aufgefordert. Wenn sich jedoch viele Fremde dem Eigenen nähern, kann letzter genannte Ordnung zerbrechen und fordert

4.3 Umgang mit Fremdheit

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Handlungsbedarf (Reuter, 2002, S. 48). Die wahrgenommene Gefährdung des etablierten Gleichgewichts bzw. der Ordnung umfasst zwei Aspekte: Einmal betrifft sie das soziale System als Ganzes, sodann aber auch den Einzelnen selbst (Bornewasser, 1995, S. 96). Aus soziologischer Sicht wird die Anwesenheit Fremder akzeptiert, wenn diese für die Stabilisierung des Gefüges funktional ist (Nassehi, 1995). Bezogen auf den Kontext des Sports benennt Gieß-Stüber (2005, S. 69) den Leistungssport, der sich primär an dem Kosten-Nutzen-Faktor von Fremden orientiert. Im professionell betriebenen Sport kann der Fremde mitspielen, solange er funktional ist, d.h. erfolgreich ist und zu Erfolg beiträgt. Wenn dieser seine Leistungen nicht mehr erbringen kann, ist eine Ausgrenzung und Abwertung wahrscheinlich. In einem machtbestimmten politisch-sozialen Raum, werden Regeln und Gesetze abgestimmt, die zu einer höheren Machtrate bestimmter Gruppen führen. Die machtvollere Gruppe ist bestrebt, ihre Überlegenheitsposition und höheren Status aufrechtzuerhalten. Auf der Grundlage des Machtverhältnisses kann ein „Kampf“ um knappe Güter und Ressourcen auf beispielsweise ethnisch-kulturelle bzw. migrationsbedingte Konflikte umdefiniert werden. Wenn zum Beispiel jemand für einen begehrten Arbeitsplatz eine Absage erhält und diese Stelle durch eine Fachkraft aus dem Ausland besetzt wird, kann ein „Kampf um die Arbeitsplätze“ zu einem „Kampf gegen Arbeitsmigranten“ umdefiniert werden. Bei genauer Betrachtung richtet sich die Abwehr vor allem gegen die Nutzung knapper Güter, denn gegen die Unvertrautheit der anderen (Gieß-Stüber, 2000, S. 121). Eine weitere Analyseebene für Ausschlusstendenzen stellt eher ein identitätstheoretischer Zugang dar. Fremdes stellt stets bisheriges Wissen und das eigene, bislang gültige Welt- und Selbstbild in Frage. Die Konfrontation mit Fremden bringt somit den Alltag und die Routine in Unordnung. Es wird bewusst gemacht, dass bisher Vertrautes und Eigenes nur vorläufig Gültigkeit besitzt. Abwehrmechanismen werden rigider, je grundsätzlicher persönliche Wertvorstellungen bedroht sind (GießStüber, 2000, S. 121). Deshalb erklärt die Persönlichkeits- und Identitätspsychologie den Ausschluss von Fremden und Fremdheit als Abwehr von Unsicherheit (siehe auch Kapitel 4.4). Wenn Gewohntes und bisher Tra-

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

diertes erschüttert werden, können folgende Umgangsweisen von Seiten der machtvolleren Dominanzkultur erfolgen: Zunächst einmal kann die Verdrängung oder Vermeidung des Fremden und seiner Differenz eine Umgangsstrategie sein. Im Sinne einer „Differenzblindheit“ (Noethlichs, 2005a, S. 41) werden Unterschiede bewusst ignoriert, um eine Auseinandersetzung mit ihnen zu vermeiden. Eine weitere Strategie ist die Ausübung von Anpassungsdruck bzw. Assimilationsdruck auf das Fremde. Das Fremde soll sich dem Eigenen fügen, wodurch eigene Wertvorstellungen durchgesetzt werden. Diese Homogenisierungstendenzen äußern sich aus dem Bestreben, die „verunsichernden Differenzen zu eliminieren“ (Nieke, 2012, S. 117). Wird das Fremde als Bedrohung und Gefahr interpretiert und hält das Fremde dem Anpassungsdruck stand, ist eine Strategie des Ausschlusses wahrscheinlich. Dabei können verschiedene Formen des Ausschlusses bzw. der Exklusion angeführt werden. Folgende drei Praktiken der Exklusion sind nach Castel (2008, S. 81-83) möglich: In ihrer extremstem Form kann es zu einem vollständigen Ausschluss in Form von Vertrei35 bung oder gar Tötung kommen. Weiter kann der Aufbau geschlossener Räume, die von der Gemeinschaft abgetrennt, sich aber dennoch innerhalb der Gemeinschaft befinden, erfolgen. Es kommt zu einer Ghettoisierung bzw. räumlichen Isolierung. Bei der dritten Ausschlussform werden spezifische Gruppen mit einem „speziellen Status versehen, der es ihnen ermöglicht, in der Gemeinschaft zu koexistieren, sie aber bestimmter Rechte und der Beteiligung an bestimmten sozialen Aktivitäten beraubt“ (Castel, 2008, S. 81). Diese Form stellt eine soziale, wenn auch eine räumliche Isolation dar. Nieke (2012, S. 117) verwendet den Begriff der Segregation, um das „Errichten realer oder virtueller Grenzen zwischen Wir und Die“ zu beschreiben. Sowohl die Exklusion, Isolierung als auch die Segregation meinen inhaltlich dasselbe: Das Ausgrenzen des Fremden aus den eigenen, stabilen Strukturen, wodurch die eigene gesellschaftliche Ordnung wieder stabilisiert und gesichert wird. Versteht man Exklusion als „Gegenteil von Ignorierung, Nicht-Thematisierung und Unsichtbarkeit“ (Nassehi, 2008, S. 35

Solche Formen kamen v.a. in archaischen, segmentär differenzierten Stammesgesellschaften vor (Hellmann, 1998, S. 404-406)

4.3 Umgang mit Fremdheit

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123), so wird deutlich, dass durch Exklusionsstrategien eine bestimmte Ordnung hergestellt werden soll: Der Ausschluss weist den Exkludierten eine bestimmte Stellung zu, positioniert sie und macht sie in diesem Sinne sichtbar (Nassehi, 2008, S. 123). Zusätzlich ist ein Ausschluss immer auch identitätsstiftend für die `Ausschließenden´, da sich der Insider eindeutig von dem Fremden unterscheidet und Mitglied einer Wertgemeinschaft ist (Gieß-Stüber, 2000, S. 62). Als weitere Ausschlussstrategie gilt das „systematische Missverstehen“ (Gieß-Stüber, 1999, S. 50) bzw. die „Strategie der Herablassung“ (Bröskamp, 1994, S. 128). Diese Strategie wird vor allem angewandt, wenn das Fremde nicht verdrängt bzw. ausgegrenzt werden kann. Dann werden dem Fremden ungünstige Vorurteile zugesprochen und Stereotypisierungen vorgenommen, denn durch die Praktik der „Etikettierung“ 36 versuchen Etablierte den Fremden (wieder) in eine marginalisierte Rolle zu rücken (Elias & Scotson, 1990). Das übergeordnete Ziel dieser Strategie ist es demnach, die eigene Sicherheit, Stabilität und die subjektiv empfundene Überlegenheit aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen (Gieß-Stüber, 2005, S. 70). Darüber hinaus kann es auch zu subtileren und nicht reflexiv zugänglichen Formen der Abwertung kommen, wie das Konzept der „Microagressions“ bzw. Mikroaggressionen (Sue, 2010; Sue et al., 2007; Sue, Lin, Torino, Capodilupo & Rivera, 2009) nahelegt. Mikroaggressionen werden wie folgt definiert: “Microaggressions are the brief and commonplace daily verbal, behavioral, and environmental indignities, whether intentional or unintentional, that communicate hostile, derogatory, or negative racial, gender, sexual-orientation, and religious slights and insults to the target person or group. Perpetrators are usually unaware that they have engaged in an exchange that demeans the recipient of the communication” (Sue, 2010, S. 5).

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Da sich der Begriff der Etablierten auf die Analyse von Norbert Elias und John L. Scotsons Werk „Etablierte und Außenseiter“ (1990) bezieht, wurde der Fachterminus verwendet. Die Autoren beobachteten, dass es deutliche Abgrenzungen zwischen Alteingesessenen eines Ortes – den Etablierten – und später Zugezogenen – den Außenseitern – gab.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

Ausgehend von der machtvolleren Gruppe (sei es bezogen auf zum Beispiel Ethnie, Geschlecht, sexuelle oder religiöse Orientierung) erfolgen alltägliche verletzende und abwertende (non-)verbale Botschaften an marginalisierte Gruppen im Lebensalltag, die meist jedoch unterschwellig und unbewusst erfolgen. Metaphorisch umschreibt Nguyen (2013, S. 22) Mikroaggressionen als „die wiederholt kleinen und großen, subtilen und offensichtlich erlebten Stiche und Seitenhiebe, welches sie [die marginalisierten Gruppen, AM] erleben.“ Die Maßnahmen zur Abwertung und Erniedrigung seitens der machtvollen Dominanzkultur können auch nicht intentional verlaufen, sie verweisen jedoch im größeren Sinnzusammenhang auf die Stabilität der eigenen Identität und Ordnung. Die Exotisierung ist ebenfalls eine Strategie, mit der Fremden und Fremdem begegnet werden kann (Gieß-Stüber, 1999, S. 50). Hierbei werden alle Angehörigen und deren Repräsentationsmittel mit einer „besonderen Aura“ ausgestattet und selektiv nur die positive Seite des Fremden wahrgenommen. Diese Idealisierung des Fremden, aber ausschließlich anhand der Reduktion auf folkloristische Inhalte, beruht auf einer Unkenntnis und Mystifizierung des Fremden. Der Fremde dient als Projektionsfläche von Sehnsüchten und als Fluchtgedanke aus der Realität und verliert durch die Oberflächlichkeit seine Einzigartigkeit und Komplexität. Die tatsächliche Auseinandersetzung des Individuums mit dem Fremden bleibt bei diesem Umgang verwehrt (Gieß-Stüber, 1999, S. 50). Um Fremdes abzuwehren, kann auch die „Strategie des Verstehens“ (Gieß-Stüber, 1999, S. 50) bzw. von „aggressivem Verstehen“ (Gronemeyer, 1993, S. 153) genutzt werden. Die Relativierung des Fremden ist der Kern der Umgangsstrategie. Die Besonderheit des Fremden wird nicht wahrgenommen und Differenzen werden unterschlagen. Die Andersheit wird als „Eben-doch-Eigenes“ (Grimminger, 2009, S. 43) vereinnahmt. Das ursprünglich Fremde löst sich in Ähnlichkeiten auf, was Stabilität der dominanten Gruppe oder des Individuums bietet. Wie Scherr (1999, S. 63) es ausdrückt: „Je besser man solche Fremde verstehen kann, desto geeignetere Mittel ihrer Beherrschung kann man entwickeln“. Denn Wissen und Überlegenheit sind machtvolle Ressourcen. Bei den destruktiveren Formen des Umgangs mit Fremdheit bleibt festzuhalten, dass nicht die Merkmale des Fremden zu Abwehr und Ani-

4.3 Umgang mit Fremdheit

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mositäten führen, sondern das Bedürfnis nach persönlicher und existenzieller Sicherheit. So können machtpolitische Kämpfe um Ressourcen zu destruktiven Umgangsweisen mit Fremden führen und/ oder wenn die eigene Identität und gewohnte Ordnung bedroht scheint. Wenn Fremdheit Neugier erzeugt, kann sich das Individuum in konstruktiver Weise auch auf einen Aushandlungsprozess einlassen, dessen Ergebnis zunächst offen ist. Dieser Aushandlungsprozess bewegt sich innerhalb der Diffusitäten von `Neuem erschließen´ und `Altes bewahren´. Im Rahmen eines dialogischen Austauschprozesses, kann ein Zu37 stand des „schonenden Ausgleichs“ (Bender-Szymanski, 2002, S. 156) zwischen den jeweiligen Interessen und Bedürfnissen beider Parteien erreicht werden. Eigenes und Fremdes werden nicht als unvereinbare und geschlossene Bereiche gesehen, sondern als „Momente eines Strukturierungsprozesses“ (Grimminger, 2009, S. 42). In diesem Strukturierungsprozess suchen das Eigene und Fremde nach einem Passungsverhältnis und ein neuer – für das Eigene und Fremde vertretbarer – Handlungsrahmen wird kreiert. Bereiche, in denen eine „Nicht-Verstehbarkeit“ (Schäffter, 1991b, S. 26) des Fremden eintritt, sind nicht negativ konnotiert, sondern zeugen von Anerkennung der Unzulänglichkeit und den Respekt vor dem autonomen Eigenwert gewisser Areale. Gerade die Anerkennung des Nicht-Verstehens ermöglicht eine Bezugnahme auf den Anderen und bewahrt seine Eigenständigkeit als gleichberechtigt (Grimminger, 2009, S. 42). Grimminger (2009, S. 42) differenziert qualitativ nochmal zwischen der Akzeptanz und Toleranz des Fremden: Akzeptanz kennzeichnet nicht nur die Haltung, dass Fremdes vom Eigenen abweicht, sondern auch die Überzeugung, dass es als dienlich für die Gesamtheit anerkannt wird. Die Fähigkeit des Aushandelns ist Grundlage für einen konstruktiven Umgang mit Pluralität und der Begegnung mit Fremden und ermöglicht eine Weiterentwicklung des Individuums (vgl. Noethlichs, 2005, S. 41). Für Aushandlungsprozesse sind zentrale persönliche und identitätsbezogene Facetten bedeutsam (siehe Kapitel 4.4).

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Bender-Szymanski (2002) hat diese Umgangsstrategie bei Lehrkräften empirisch identifiziert. Auch in der Studie von Grimminger (2009) konnte diese Form des Umgangs mit Fremdheit bei Sportlehrkräften aufgezeigt werden.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

Eine weitere Form des Umgangs mit Fremdheit fasst explizit das Eigene ins Auge. Bei der „Flexibilisierung der Grenz-Definition für die WirIdentität“ (Nieke, 2012, S. 118) erkennt das Eigene, dass Missverständnisse und eventuell auftauchende Schwierigkeiten nicht bei dem Anderen, sondern einem selbst liegen könnte. Durch diese Selbstreflexion kann die eigene Grenzziehung neu strukturiert werden. Des Weiteren besitzt das Eigene gegenüber wahrgenommenen Differenzen eine reflexive Haltung, sodass diese in einen „größeren Sinnzusammenhang“ (Nieke, 2012, S. 118) eingeordnet und umgewertet werden können und nicht mehr als Bedrohung des Eigenen wahrgenommenen werden. Durch die aktive Umwertung von Differenzen bleibt gleichzeitig die Sicherung des Eigenraums gewährleistet. 4.3.4 Umgang mit Fremdheit aus Sicht der Person(engruppe) mit geringerer Macht Prinzipiell können alle genannten Handlungsstrategien im Umgang mit Fremdheit aus Sicht der Personen(gruppen) mit höherer Macht auch von jenen mit geringerer Macht ausgehen. Da allerdings der Handlungs- und Gestaltungsspielraum von gesellschaftlich-historischen Gegebenheiten und damit verbunden auch (Macht-)Ressourcen abhängt, ist es unwahrscheinlicher, dass Angehörige mit weniger Macht beispielsweise versuchen, ihre kulturellen Praktiken, Normen und Wertvorstellungen der machtinnehabenden Gruppe aufzuzwingen bzw. ihr Erfolg ist unwahrscheinlicher. Bei dialogischen Prozessen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, müssen sich selbstverständlich auch Angehörige der marginalisierten Gruppe auf Aushandlungsprozesse einlassen und offen für den Dialog sein. Wenn es gelingt, dass sich alle Beteiligten sich auf `Augenhöhe´ begegnen und aufeinander zugehen, kann ein neuer Handlungsrahmen für die Dialogpartner entstehen. Nach Schütz’ (1972) soziologischen Betrachtungen ist das primäre Ziel eines Fremden, der sich einer dominanten Gruppe nähert, von dieser dauerhaft akzeptiert zu werden. Das heißt, es wird eine Integration angestrebt. Der Fremde ist jemand, der anders sozialisiert wurde, sodass bewährte Orientierungsschemata in der unvertrauten, fremden Umge-

4.3 Umgang mit Fremdheit

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bung nicht mehr greifen. Erfahrungen in solch einer Umgebung müssen „erst dekodiert werden, das `Denken-wie-üblich´ hat keine Gültigkeit“ (Gieß-Stüber, 2000, S. 124). Der Fremde kann sich orientierungslos fühlen, da er nicht auf Bisheriges, Vertrautes und Gewohntes zurückgreifen kann. Als typische Verhaltenskonsequenzen auf die fremde Welt folgen Zögern und unsichere, beobachtende Verhaltensweisen (Schütz, 1972). Nach beobachtenden Phasen, können um Schutz zu finden und wieder Ordnungen herzustellen vorherrschende Kulturmuster übernommen werden. Der Fremde assimiliert sich, sodass am Ende des Prozesses der Fremde kein Fremder mehr ist (Gieß-Stüber, 2000, S. 124). Werden Strategien der Abgrenzung gegenüber Angehörigen von Fremdgruppen angewandt, erzwingt dies auf Seiten der Mitglieder dieser ausgegrenzten Gruppe eine Strategie des Zusammenhaltens (Bröskamp, 1994, S. 167). Die Mitglieder der Fremdgruppen fühlen sich zu Personen mit einem vergleichbaren Schicksal hingezogen; das empfundene Vertrauen zueinander entsteht meist unbewusst aus dem Bedürfnis nach Sicherheit und der Suche nach Geborgenheit (Erdmann, 2005, S. 49). Die einzelnen Mitglieder der Fremdgruppen können sich solidarisieren, sich gegenseitig unterstützen, einander Verständnis entgegenbringen und durch ihre gegenseitige Hilfeleistung Halt und Ordnung stiften. Das heißt, die Wahrnehmung von Bedrohungen kann wachsende Intragruppensolidarität bzw. Kohäsion hervorrufen (Fischer & Wiswede, 2009, S. 729). Die Solidarisierung bzw. eine offenkundige gegenseitige Solidarität besitzt eine hochgradig identitätsstiftende Funktion. Durch den Aufbau und die Stärkung eines Wir-Gefühls, wird zwangsläufig auch die IchIdentität gestärkt. Die Strategie des selbstgewählten Rückzugs im Sinne einer Separation besitzt ebenfalls eine identitätsstiftende Situation. Diese Strategie wird angewandt, wenn das Individuum realisiert, dass ihm kaum (Macht-) Ressourcen zur Verfügung stehen (Grimminger, 2009, S. 43). Wenn der selbstgewählte Rückzug durch mehrere Mitglieder an denselben Ort vollzogen wird – wie zum Beispiel die selbstinitiierte Ghettoisierung – besitzt die Separation auch eine zusammenhaltstiftende Funktion durch eine initiierte Abgrenzung.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

Wie in den einzelnen Umgangsstrategien deutlich wurde, scheinen alle Formen der Begegnung und des Umgangs mit Fremdheit stets die eigene Ich-Identität zu (be)stärken und/ oder zu schützen. Demnach wird im Folgenden stärker auf die subjekt- und individuumsbezogene Ebene im Umgang mit Fremdheit eingegangen. 4.4

Identitätstheoretische Annahmen zum Umgang mit Fremdheit

Im Hinblick auf den Umgang mit Fremdheit bietet das Konstrukt der Identität eine wichtige Analysefolie, da allen Umgangsweisen identitätsschützende bzw. -stärkende Absichten zugrunde liegen (Schlagheck, 2000, S. 9). Um identitätstheoretische Annahmen zum Umgang mit Fremdheit einordnen zu können, müssen unterschiedliche, die Identität definierende (Teil-)Konstrukte präzisiert und in Bezug zum Fremdheitskonstrukt gesetzt werden. Im folgenden Kapitel wird auf einen Identitätsbegriff zurückgegriffen, der die subjektive Identitätsarbeit unter der Prämisse gesellschaftlichstruktureller Pluralisierungsbedingungen berücksichtigt und somit Begegnungen mit Fremdheit mitbedenkt. Die Modellvorstellungen einer „Patchwork-Identität“ nach Keupp und Kollegen (2008) verknüpft Prozesse der Identitätsarbeit integrativ an der Schnittstelle von Subjekt und Gesellschaft und liefert Antwortmöglichkeiten auf die Frage, wie es den Subjekten gelingt, „[…] in der zunehmenden Entsynchronisierung der Lebensbereiche, für sich noch eine subjektiv stimmige innere Ordnung zu stiften“ (Keupp et al., 2008, S. 7). Die strukturelle Rahmung, die zu Entsynchronisierungsprozessen führen kann, verweist auf mögliche Begegnungen mit Fremdheit. Der Fremdheit wird wiederum mit identitätsstiftenden Umgangsweisen begegnet. Prinzipiell wird Identität als dynamisches, veränderbares Konstrukt verstanden, das sich mit jedem Kommunikations- und Interaktionsprozess – demnach auch in der Begegnung mit Fremdheit – neu aktualisiert und definiert. Fremdheit als relationaler Begriff erschließt sich immer nur dann, wenn das Eigene im Verhältnis zum Fremden gesetzt wird. Dies rückt die Identität eines Individuums in den Vordergrund, welche erst Fremdartigkeit hervorruft, wodurch das Fremde immer auch ein „Reso-

4.4 Identitätstheoretische Annahmen

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nanzboden des Eigenen“ (Schäffter, 1991b, S. 16) ist. Da das Fremde und das Eigene unweigerlich miteinander in Verbindung stehen, ist Identität als Relationsbegriff zu verstehen: Das Selbst wird nur greifbar, wenn es auch das Andere gibt von dem sich ein Individuum oder eine Gruppe unterscheiden kann (Erdmann, 2006, S. 143). Die Relationen werden durch den Begriff der Gegenstandsbeziehungen näher beschrieben, wobei mit Gegenständen sowohl materielle als auch personifizierte und phänomenale Gegenstände gemeint sein können. Fremdheit kann demnach sowohl in Form von Personen erfahren werden als auch als Bewegungsform oder einem unbekannten Spiel mit nicht vertrautem Regelwerk. Darüber hinaus können aber auch „typische“ Sportarten des anderen Geschlechts fremd sein (Gieß-Stüber, 2003, S. 4). Dies nimmt erneut in Blick, dass das Konstrukt Fremdheit als ein von der Kategorie `Migration´ losgelöstes Phänomen zu betrachten ist (Akashe-Böhme, 1997, S. 41; Gieß-Stüber, 2005, S. 69; Guttandin, 1995, S. 458). Entscheidend für die Identitätsrelevanz von solchen `Gegenständen´ ist der wahrgenommene Grad an Valenz bzw. die subjektive Bedeutsamkeit und Betroffenheit innerhalb der jeweiligen Gegenstandsbeziehung (Haußer, 1995, S. 8). Die subjektive Bedeutsamkeit wird als „kognitives Ordnungsinstrument“ (Haußer, 1995, S. 9) verstanden, welches die wahrgenommene Wichtigkeit, die ein Gegenstand für ein Individuum hat verdeutlicht. Die subjektive Betroffenheit wird als das emotional-affektive Pendant zur subjektiven Bedeutsamkeit verstanden. Die in Relation zum Eigenen bemessene Differenz erscheint erst dann als fremd, wenn sie nicht in Bestehendes, in das Eigene, eingeordnet werden kann und somit irritierend wirkt (Noethlichs, 2005a, S. 39). Die Höhe der Irritation richtet sich nach der subjektiven Bedeutsamkeit der Differenz. Ist die Differenz subjektiv bedeutsam, wird sie als Fremdheit verstanden. Die emotionalaffektive Komponente wird aktualisiert und die wahrgenommene Fremdheit macht subjektiv betroffen und ist somit identitätsrelevant und zeigt Handlungsbedarf auf. Davon ausgehend, dass subjektive Bedeutsamkeit und subjektive Betroffenheit als eine Art Filter für identitätsrelevante situative Erfahrungen gelten, so sind sie auch die Voraussetzungen für die kognitive Selbstwahrnehmung und die emotionale Selbstbewertung. Zusammen

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

mit der handlungsbezogenen personalen Kontrolle bilden sie die drei Komponenten für die Identität als situative Erfahrung. Die Selbstwahrnehmung beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, sich selbst in einer für ihn subjektiv bedeutsamen Situation kontextspezifisch wahrzunehmen. Die situative Wahrnehmung eigenen Verhaltens und Wirkens wird mit gespeicherter Erfahrung vereinigt (Haußer, 1995, S. 13). Demnach nimmt das Subjekt in der Begegnung mit Fremdem beispielsweise wahr, inwiefern und wie stark die eigenen personellen Bedürfnisse, Normen und Vorstellung in der je aktuellen Situation irritiert werden. Die emotionale Selbstbewertung gleicht in einer momentanen Situation das Gewünschte bzw. Erhoffte mit dem Eingetroffenen bzw. Erreichten ab. Eine negative Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Zustand ist emotional negativ besetzt; werden allerdings Erwartungen übertroffen, kann dies zu einer positiven Intensivierung der Gegenstandsbeziehung führen. Die personale Kontrolle stellt das Bedürfnis eines Individuums dar, auf Gegebenheiten und Ereignisse der Umwelt Einfluss zu nehmen und diese zu erklären (Haußer, 1995, S. 17-18). Je nach situativer emotionaler Bewertung werden andere Umgangsweisen folgen. Alle drei situativen Komponenten dienen dem Individuum zur Einschätzung und Bewertung situativer (Fremdheits-)Erlebnisse. Durch eine übersituative Verarbeitung können die situativen Erlebnisse allerdings auch über bestimmte zeitlich-räumliche Kontexte hinweg generalisiert werden. Dann werden die drei situativen Komponenten in drei generalisierte Identitätskomponenten überführt. 1) Das Selbstkonzept baut sich aus generalisierten Selbstwahrnehmungen auf und ist definiert als das kumulierte Wissen über die eigene Person und bildet die kognitive Komponente der Identität. 2) Das Selbstwertgefühl konstituiert sich aus generalisierten Selbstbewertungen. Der Selbstwert als affektive Komponente ist die emotionale Wertung der eigenen Person und ist stark abhängig von den gemachten subjektiv bedeutsamen Erfahrungen, die durch positive oder negative Kognitionen eine Erhöhung oder Verminderung des Selbstwertgefühls erzeugen. 3) Die Selbstwirksamkeit als konative Komponente der Identität entsteht aus der generalisierten handlungsbezogenen personalen Kontrolle. Selbstwirksamkeitserwartung umfasst das subjektive Gefühl der Einwirkungsmöglichkeit auf vorherrschende Le-

4.4 Identitätstheoretische Annahmen

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bensumstände und steht im engen Zusammenhang mit vorhandenen persönlichen, materiellen und sozialen Ressourcen. Eine Facette der Selbstwirksamkeitserwartung ist die Kontrollüberzeugung, die zwischen einer internalen und externalen Kontrollüberzeugung unterscheidet. Eine internale Kontrollüberzeugung umfasst die Überzeugung, dass ein negatives oder positives Ereignis als Konsequenz aus dem eigenen Verhaltens resultiert. Eine externale Kontrollüberzeugung ist der eigenen Kontrolle entzogen, das heißt, das Ereignis wird losgelöst von dem eigenen Verhalten wahrgenommen (Rotter, 1966). Es besteht die Annahme, dass die Ursache der Einflussnahme auf Ereignisse in der Person selbst als in äußeren (unkontrollierten) Umständen liegt. Gemäß der Selbstwirksamkeitstheorie von Bandura (1977) wird eine Person mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung sich aktiv, zuversichtlich und ausdauernd einer gegebenen Situation widmen. Im Falle einer niedrigen Selbstwirksamkeitserwartung werden vermehrt Ausweich- und Abwehrstrategien (auch gegenüber Fremdem) eingesetzt und Angstgefühle können entstehen. Fremdheit als subjektiv bedeutsames Phänomen aktualisiert die situativen wie auch die generativen Identitätskomponenten, um den eigenen Standpunkt und die eigenen Möglichkeiten auszuloten. Gleichzeitig werden auch Fragen nach Anerkennung und Zugehörigkeit virulent. Sowohl die eigene Identität als auch die Wir-Identität als Zusammengehörigkeitsgefühl mit anderen Menschen dient gleichzeitig auch der Abgrenzung gegenüber Außenstehenden der Wir-Gruppe und ist eine „ExistenzVergewisserung und Sicherung in bedrohlicher natürlicher und sozialer Umwelt“ (Nieke, 2012, S. 112). Die Identität konstruiert einen Eigenraum, der neben dem dreidimensionalen Raum der Heimat alles „selbstverständlich Gewisse“ (Nieke, 2012, S.112) meint. Das selbstverständlich Gewisse umfasst neben sozialem und materiellem Kapital auch weitere Identifikationsmerkmale wie Sprache, Religion und Kulturgüter. Wird der Eigenraum durch Fremde in Frage gestellt, gilt dies als elementare Bedrohung der eigenen Existenz respektive Identität. Um wieder Sicherheit zu erlagen, wird meist die Grenze zwischen Wir und die Anderen durch Distanzierung, Abwehr und Aggression verstärkt (Nieke, 2012, S. 114). Diese Abgrenzungsstrategien gegenüber Angehörigen von Fremdgruppen sind aus soziologischer, aber auch identitätstheoretischer Sicht ein

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

wesentliches Prinzip der (Wieder-)Herstellung von gesellschaftlicher und individueller Ordnung (Bröskamp, 1994, S. 109). Wie Keupp (1997, S. 24) symbolisch eindrücklich erläutert, kann die (Gruppen-)Identität bei starren Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und Fremden die Funktion eines defensiven Panzers bzw. einer offensiven Waffe auf einer gesellschaftlichen Bühne, auf der „Krieg“ herrscht, einnehmen. Durch sowohl defensive als auch aktive Abwehrmechanismen wird versucht die eigene (Gruppen-)Identität als Unveränderbares und einzig Wahres gegenüber der Vielfalt an Identitäten und Lebensformen zu wahren. Das Fremde stellt eine Bedrohung der eigenen Identität dar und das bisher unhinterfragte Eigene wird angetastet. Um dieser identitätsrelevanten – das heißt auch existenziell bedeutsamen – Bedrohung entgegenzuwirken, können fremdenfeindliche Abwehrmechanismen wie die Abwertung des Fremden folgen. Es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der sozialen Umgebung sowie die aktive Bearbeitung der Identität „in und durch Interaktionsprozesse“ (Erdmann, 1999a, S. 61) für die eigene Verortung bedeutsam sind. Bei der aktuellen Identität handelt es sich um das Ergebnis subjektiver Auswertungen und Verarbeitungen im jeweiligen sozialen Kontext und sie bleibt somit „relativ situationsbezogen, doch gleichermaßen historisch sowie prinzipiell veränderbar“ (Erdmann, 1999a, S. 66). Wie bereits am Anfang des Kapitels dargelegt, verlangt die Vielfalt in modernen Gesellschaften vom Individuum permanente Aushandlungsprozesse und Verknüpfungsarbeit der Interaktionen, weshalb Keupp und Höfer (1997) den Begriff der Identitätsarbeit einführen. In diesem Arbeitsund Reflexionsprozess interpretiert, bewertet und integriert das Individuum die situativen Erfahrungen (Keupp et al., 2008, S. 193). Hierbei werden auch Verknüpfungen zu früheren und anderen Interaktionsbeteiligten des Individuums gestellt und mit den Erwartungen und Bedürfnissen, die in der aktuellen Situationen auftreten, in Zusammenhang gebracht (Krappmann, 2000, S. 9). Insgesamt führt die situative Variabilität dazu, dass eine Person mehrere Teilidentitäten im Sinne eines „Patchworks“ (Keupp et al., 2008) besitzt, die zusammengesetzt die Identität bilden. Bezogen auf die Wir-Identität vereint ein Individuum demnach auch stets mehrere Zugehörigkeiten, deren gruppenspezifische Werte und Normen

4.4 Identitätstheoretische Annahmen

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je nach situativem Kontext aktiviert werden und je nach Situation und Gruppenkonstellation den Status eines In- bzw. Outsiders einnehmen (Grimminger, 2009, S. 44). Obwohl das Individuum nach einer Kohärenz des Gesamtbildes strebt, sind Ambivalenzen innerhalb der Teilidentitäten durchaus möglich (Keupp et al., 2008, S. 60). Die einzelnen Teilidentitäten und innere Vielfalt bedeuten keine Orientierungslosigkeit, sondern sind vielmehr für die Handlungsfähigkeit in einer pluralistischen Gesellschaft verantwortlich: „Die eigene Vielfalt zu akzeptieren und eine Vielzahl von Formen des Individuum-Seins zu akzeptieren ist […] eine Voraussetzung, um mit Pluralität in der Gesellschaft leben zu können, ohne rigide unterordnen und ausgrenzen zu müssen“ (Bilden, 1997, S. 228).

Durch das Bemühen um Kohärenz der Teilidentitäten ist die Identitätsentwicklung ein dynamischer Prozess mit dem Ziel die eigene Identität in einem bestimmten Feld als eine erkennbare Einheit zu erleben (Erdmann, 1999a, S. 67). Die Identitätsarbeit ist ein aktiver Prozess, in dem neue Erlebnisse in Bezug auf vergangene Erfahrungen reflektiert werden und gegebenenfalls ein Modifizieren des Selbst erfolgt. Deshalb besitzt die Identität (subjekt-)bewertende und (handlungs-)steuernde Funktionen und ist „Wechselwirkungsprodukt der Interaktion von Individuum mit seiner Umwelt [...]“ (Erdmann, 2006, S. 146). Diese aktive Passungsaufgabe der alltäglichen Identitätsarbeit verlangt vom Subjekt Kompromisse, hinterlässt Ambivalenzen und Unsicherheiten und kann schmerzvoll sein (Keupp et al., 2008, S. 60). Je deutlicher und weniger bedroht sich das Ich allerdings als Einheit empfindet, desto situationsgerechter kann das Individuum die Gegebenheiten erfassen und entsprechende Handlungen und Aushandlungsprozesse einleiten (Keupp et al., 2008, S. 60). Eine hochgradige Kompetenz im Umgang mit der durch Fremdheit entstehenden Unsicherheit scheint bedeutend zu sein. Denn hier muss Vertrauen in die Selbstwirksamkeit vorhanden sein (Erdmann, 2006, S. 141). Allerdings hängt der Aushandlungsprozess der Identität bzw. die Passungsarbeit davon ab, ob einem Individuum Spielraum von gesellschaftlicher Seite gegeben ist. Gestaltungsmöglichkeiten für die eigene Identitätsarbeit hängen entscheidend von personalen und sozialen Ressourcen der Individuen ab und damit auch immer von den gesellschaftlichen

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

Machtverhältnissen (Keupp et al., 2008, S. 76). In sozialen Beziehungen, die durch kein ausbalanciertes Machtverhältnis bzw. durch Machtasymmetrien gekennzeichnet sind, wird der Aufbau bzw. Erhalt der Identität des Individuums mit geringerer Definitionsmacht erschwert bis unmöglich gemacht (Krappmann, 2000, S. 81). Zusammenfassend wird von Keupp und Kollegen (2008, S. 215-216) der Prozess der Identitätsentwicklung als lebenslange Identitätsarbeit verstanden, der sich in alltäglichen Handlungen permanent (neu) aktualisiert und konstruiert. Gerade in der subjektiv bedeutsamen Begegnung mit Fremden und Fremdem wird Identität (neu) geprüft und ausgehandelt. Identität wird als Projekt verstanden, das zum Ziel hat, „ein individuell gewünschtes bzw. notwendiges »Gefühl von Identität« (sense of identity) zu erzeugen“ (Keupp, 1997, S. 34). Betont werden soll, dass Identität und Subjektkonstruktion stets eine Passungsarbeit ist, die durch einen subjektiven Aushandlungsakt zwischen divergierenden Anforderungen gekennzeichnet ist. Ziel ist es, diese widersprüchlichen Ansprüche an das Subjekt in ein dynamisches Verhältnis im Sinne eines „konfliktreichen Spannungszustandes“ (Keupp, 1997, S. 216) zu bringen. Der Aushandlungsakt in einer durch Vieldeutigkeit gekennzeichneten Lebenswelt stellt drei zentrale Fähigkeiten – Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz – von Individuen in den Fokus, die im Rahmen der Identitätsarbeit bedeutsam und förderlich erscheinen (Krappmann, 2000, S. 132-167). Zudem werden im Rahmen von interaktiv hergestellten Situationen zwei zentrale Grundbedürfnisse – Anerkennung und Zugehörigkeit – von Subjekten aktualisiert, nach deren Befriedigung Individuen streben. Sowohl die Fähigkeiten als auch die Grundbedürfnisse stellen für die eigene Forschungsfrage relevante Konstrukte dar, die den Umgang der Schüler/innen in den sportunterrichtlichen Situationen verständlicher machen, weshalb sie in den beiden nachfolgenden Kapiteln differenzierter vorgestellt werden. 4.4.1 Ambiguitätstoleranz, Empathie und Rollendistanz als zentrale Fähigkeiten für die Identitätsarbeit im Umgang mit Fremdheit In modernen und individualisierten Gesellschaften unterliegen die Ausformung, Konstruktion und Anerkennung der immensen Vielfalt an indivi-

4.4 Identitätstheoretische Annahmen

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duellen Identitäten nicht mehr der Selbstverständlichkeit und die Begegnung mit Fremdheit rückt dadurch in den Vordergrund. Dem Subjekt wird demnach ein hohes „Maß an Gestaltungskompetenz“ (Ahbe, 1997, S. 214) und individueller „Fähigkeit zum Aushandeln“ (Keupp, 1997, S. 20) abverlangt. Krappmann (2000, S. 132) und Ahbe (1997, S. 214) betonen, dass vor allem die Fähigkeiten der Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz bedeutend für die Identitätsentwicklung sind, und zwar vor allem in sich fortentwickelnden und von immer wieder neuen prekären Situationen `bedrohten´ Interaktionsprozessen. 38 Die Rollendistanz bezeichnet die Fähigkeit eines Individuums, sich erwarteten Normen entsprechend reflektierend und interpretierend zu verhalten (Krappmann, 2000, S. 133). Das Subjekt kann die Rollenerwartungen und Normen in den jeweiligen Situationen interpretieren und diese zunächst reflektieren, überdenken und ggf. modifizieren. Für die Identitätsentwicklung ist es von hoher Bedeutung, dass nicht in vielfältigen sozialen Situationen immer die erwartete Rolle „gespielt“ wird. Es müssen auch eigene Bedürfnisse in das Geschehen eingebracht werden können. Situative und multiple Rollenerwartungen sind in der Regel inkongruent, was zu einer Überforderung des Individuums führen kann. Die Rollendistanz bietet die Möglichkeit, in einer Rolle zu handeln, ohne die anderen in sich tragenden Rollenbeziehungen auszublenden und aufzugeben (Krappmann, 2000, S. 137). Die Rollendistanz hilft in einer durch Diskontinuität gekennzeichneten Lebenswelt dem Individuum ein notwendiges Maß an Flexibilität zu gewährleisten, indem in jeder Interaktion bereits verinnerlichte Normen distanziert reflektiert werden können. Somit wird ein kritisches Verhältnis gegenüber der erwarteten und eingenommenen Rolle bewahrt. Demnach kann ein Individuum in der Begegnung mit Fremden und Fremdem die jeweilig situativen Erwartungen und Normen reflektieren, interpretieren und individuell einordnen. Dadurch kann festgestellt werden, ob gewisse erwartungskonforme Umgangsweisen im Widerspruch zum oder Einklang mit dem Eigenen stehen würden. 38

Die Analysen und Ausführungen von Krappmann (2000) beziehen sich auf vorangegangene Arbeiten von Mead und Goffman, weshalb sich auch die Begrifflichkeiten an Termini der beiden Forscher orientiert bzw. diese aufgegriffen wurden. Rollendistanz ist beispielsweise ein explizit von Goffman etablierter Begriff.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

Die Rollendistanz ist die Voraussetzung für das Mead’sche Role Taking oder auch Empathie. Sie ist die Fähigkeit, Erwartungen von Interaktionspartner/innen zu übernehmen und Interaktionssituationen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Die Empathie ist sowohl Voraussetzung für als auch Korrelat von der Ich-Identität, denn die Fähigkeit die Erwartungen anderer wahrzunehmen und zu antizipieren ist die Voraussetzung für die Formulierung einer Ich-Identität (Krappmann, 2000, S. 143). Die Fähigkeit, Empfindungen, Handlungen und den zugrunde liegenden Intentionen anderer wahrnehmen und einordnen zu können, ist zunächst kognitiv bestimmt (Krappmann, 2000, S. 142). Allerdings umfasst der Empathiebegriff auch eine affektive Ebene, die die Fähigkeit beschreibt, sich in andere Menschen und ihre emotionale Lage hineinversetzen zu können (Batson et al., 1997). Die Fähigkeit der Empathie scheint positiven Einfluss auf Einstellungen zu (marginalisierten) Gruppen zu haben (Batson et al., 1997). Da Einstellungen auch den Umgang mit Fremdheit mitbeeinflussen, kann Empathie als ein Mitregulator von Umgangsweisen gesehen werden. Die Disposition der Ambiguitätstoleranz wird als eine zentrale psychische Voraussetzung angenommen, um mit der prinzipiellen Offenheit und Widersprüchlichkeit produktiv umzugehen. Durch die Ambiguitätstoleranz werden Individuen „[…] zu multiperspektivischer Wahrnehmung, produktivem Umgang mit mehrdeutigen Situationen, Ungewissheit und Konflikten und zu resilientem Umgang mit Enttäuschung befähigt“ (Sack, 2012, S. 164). Die Fähigkeit, sich auf bisher unbekannte Personen und Situation offen einzulassen, sie zunächst zu erkunden, ohne voreilige Wertungsprozesse einzuleiten, scheint in der heutigen – durch Ambivalenzen gekennzeichneten und Fremdheitsgefühle hervorrufenden – Gesellschaft eine Schlüsselqualifikation zu sein (Keupp et al., 2008, S. 280-281). Dabei können auch unerwartete oder unerwünschte Reaktionen und Perspektiven ausgehalten werden, ohne jedoch den eigenen Standpunkt aufzugeben. Die Identitätsarbeit hat nicht zum Ziel, jegliche Differenzen aufzulösen, sondern darin liegende Spannungen zu ertragen und immer wiederkehrende Krisen zu meistern (Keupp et al., 2008, S. 196). Die in jedem vorherrschenden Differenzen und Widersprüchlichkeiten bilden eine „motivationale Spannung“ (Keupp et al., 2008, S. 196), die zu neuen

4.4 Identitätstheoretische Annahmen

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Handlungen und Identitätsentwürfen anregt. Wenn sich von Eindeutigkeitsbestrebungen bzw. binären Kategorisierungen gelöst wird, sind ambivalente Anforderungen im alltäglichen Geschehen weniger rigide, gestaltungsoffener und prinzipiell nicht negativ besetzt. Zudem wird eine kritische Haltung bewahrt, indem Situationen nicht sofort negativ konnotiert werden oder auch vorbehaltslos positiv bewertet werden. Folglich kann darauf geschlossen werden, dass eine erhöhte Ambiguitätstoleranz auch zu einer offeneren Umgangsweise mit Fremdheit führen könnte, da Ambivalenzen ausgehalten können und diese erst durch eine situative Auseinandersetzung verortet werden. 4.4.2 Erfahrungen um Anerkennung und Zugehörigkeit als identitätsrelevante Bedürfnisse Fremdheit als subjektiv bedeutsames Phänomen kann nicht losgelöst von der Ich-Identität betrachtet werden und geht gleichzeitig einher mit Fragen nach Anerkennung und Zugehörigkeit, die wiederum erst durch andere vermittelt werden können. Somit sind soziale Interaktionsprozesse konstitutiv für die eigene Identität (Erdmann, 1999a, S. 61) und ein Subjekt ist auf die Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umgebung angewiesen, welche entweder identitätssichernd oder aber auch -verunsichernd sein kann. In allen Interaktionsprozessen spielt das Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit in sozialen Beziehungen eine immanente Rolle (Taylor, 1997, S. 15). Baumeister und Leary (1995) führen in ihrer Theorie „The Need to Belong“ Zughörigkeit als ein fundamentales Grundbedürfnis des Menschen an und bieten damit eine Erklärungsfolie für das Aufsuchen, Herstellen und Aufrechterhalten von sozialen Beziehungen. Die soziale Zugehörigkeit ist grundlegend für das Erleben von Anerkennung. Beide Komponenten formen und stabilisieren zum großen Teil den Selbstwert des Individuums und damit seine Identität (Erdmann, 2006, S. 144). Die Sozialanthropologin Pfaff-Czarnecka (2012) durchleuchtet in ihrem gleichnamigen Buch das Phänomen der „Zugehörigkeit in der mobilen Welt“ und weist darauf hin, dass „das Einfachste der Welt, nämlich die Verortung im vertrauten sozialen Gefüge, das Sein im geschützten sozialen Raum eines nicht hinterfragbaren Wir […] seine Selbstverständ-

96

4 Theoretisches Rahmenkonzept

lichkeit verloren [hat]“ (Pfaff-Czarnecka, 2012, S. 8). Zugehörigkeit als eine „emotionsgeladene soziale Verortung“ (Pfaff-Czarnecka, 2012, S. 12) wird von der Autorin als wichtige Dimension des Identitätsbegriffs aufgefasst. Im Vordergrund des Zugehörigkeitsbegriffs stehen die Komplexitäten der menschlichen Beziehungen, weshalb Menschen prinzipiell mehrfach zugehörig sind (vgl. auch Teilidentitäten). Je nach situativem Kontext, können unterschiedliche Zugehörigkeiten aktualisiert werden. Das Konstrukt der Zugehörigkeit impliziert auch, dass zeitgleich Formen der sozialen Grenzziehung bzw. sozialen Nicht-Zugehörigkeit – wie sie zunächst beim Entstehungsprozess von Fremdheit vorkommen – existieren. Somit wird Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit als soziales Geschehen hochgradig von anderen bestimmt (Pfaff-Czarnecka, 2015, S. 4). Soziale Zugehörigkeit – auch im Sinne von vorhandenen sozialen Ressourcen – ist grundlegend für die Vermittlung von Anerkennung und somit konstitutiv für die Identitätsentwicklung (Keupp et al., 2008, S. 201). Denn erst im Spiegel des „signifikant anderen“ (Keupp et al., 2008, S. 201) findet das Subjekt die dialogische Bestätigung und Anerkennung seiner Identitätskonstruktion. Nichtanerkennung oder Verkennung durch die anderen kann demnach „Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschliessen [sic!]“ (Taylor, 1997, S. 15). Anerkennung wird nach Keupp et al. (2008, S. 256) durch folgende drei interdependenten Dimensionen erfahren: x

x

x

Die Erfahrung von Aufmerksamkeit durch dritte Personen. Das Wahrnehmen von Aufmerksamkeit kann durch alle verbalen und nonverbalen Botschaften der anderen Personen erfolgen. Dadurch wird sich das Subjekt bewusst, dass es von anderen erkannt wird. Die Wahrnehmung einer positiven Bewertung durch andere. Die verbalen und nonverbalen Botschaften der anderen Personen werden als positiv interpretiert, sodass das Subjekt Wertschätzung durch andere erfährt. Die Selbstanerkennung im Sinne einer positiven Selbstbewertung, die mehr oder weniger unabhängig von anderen ist.

4.5 Modelltheoretische Vorstellungen

97

Anerkennung umfasst somit innere als auch äußere Dimensionen, wobei alle drei dargelegten Dimensionen erfüllt sein müssen, damit sich ein Subjekt in seiner Identität vollständig anerkannt fühlt (Keupp et al., 2008, S. 256). Anerkennungsräume müssen demnach selbst geschaffen und ausgehandelt werden. Identität ist hochgradig von der Anerkennung oder der Nicht-Anerkennung bzw. Verkennung geprägt. Gerade in modernen, durch Individualisierung und Pluralität gekennzeichneten Gesellschaften ist eine „selbstverständliche Anerkennung“ (Taylor, 1997, S. 24) nicht mehr gegeben. Sie kann zur Folge haben, dass das Streben nach der Befriedigung des Bedürfnisses nach Anerkennung auch scheitern kann, was identitätsverunsichernde Folgen nach sich ziehen kann. Um die eigene Identität zu schützen, können verschiedene Umgangsweisen bei der Verwehrung von Anerkennung folgen (vgl. auch Grimminger, 2013a). 4.5

Zusammenfassung: Modelltheoretische Vorstellungen zum Umgang mit Fremdheit im Rahmen der eigenen Studie

Aufbauend auf sozialkonstruktivistischen und sozialpsychologischen Ansätzen zum Umgang mit Fremdheit (u.a. Gieß-Stüber, 1999; Schäffter, 1991a) und identitätstheoretischen Überlegungen (u.a. Erdmann, 1999a; Haußer, 1995; Keupp et al., 2008), die das theoretische Gerüst der Interkulturellen Bewegungserziehung bilden, entwickelte Grimminger (2009, S. 61-64) ein analytisch-deskriptives Modell zum Umgang mit Differenz 39 und Fremdheit , welches im Rahmen der eigenen Studie und den vorgestellten theoretischen Ausführungen ein wenig modifiziert wurde. Die Zusammenführung der beiden Theoriestränge wird als „integratives Konzept“ (Gieß-Stüber, 2001, S. 181; Grimminger, 2009, S. 61) eines reflexiven Umgangs mit Fremdheit verstanden. Die nachfolgenden Ausführungen können als prägnante Zusammenfassung der verschiedenen theoretischen Verortungen gesehen werden. Zudem dient dieses Modell dazu, methodisch-inhaltliche Anknüpfungspunkte der eigenen empirischen 39

In Grimmingers (2009) analytisch-deskriptivem Modell sind professionstheoretische Ausführungen zur interkulturellen Kompetenz von Lehrkräften integriert. In ihrer Arbeit beschäftigte sie sich mit der Förderung interkultureller Kompetenz von Sportlehrkräften. Die professionstheoretischen Überlegungen finden in der vorliegenden Arbeit keine Berücksichtigung.

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4 Theoretisches Rahmenkonzept

Studie abzuleiten, einzuordnen und anschaulich darzustellen (vgl. Kapitel 5.7). Fremdheit kann sich in jedem Interaktionsprozess entwickeln. Ausgangspunkt dieses Modells ist die Annahme, dass in der situativen Begegnung mit Differenz und Fremdheit die eigene Identität stets aktualisiert wird. In diesem Sinne können Differenz und Fremdheit immer nur relational zur eigenen Identität wahrgenommen werden und die Identität dient „initialer Orientierung und selektierender Wahrnehmung“ (Erdmann, 1999a, S. 65). Zunächst kann eine (neutrale) Differenz „von den Gegensatzpaaren wie innen und außen, vertraut und fremd oder selbst und andere“ (Erdmann, 1999a, S. 63) wahrgenommen werden, die sich durch soziale Grenzziehungen konstituiert. Diese Grenzziehung wird entlang bestimmter Marker (Aussehen, Geschlecht, Sprache etc.) und/oder wahrgenommener Verhaltensweisen bestimmt (Gieß-Stüber, 2003, S. 4; Grimminger, 2009, S. 41). Die Wahrnehmung von Lebenswelt und Interaktionen wird immer subjektiv interpretiert und unterliegt kulturspezifischen und sozialisationsbedingten Bewertungsmustern (Noethlichs, 2005a, S. 39). Fremdheit als eine emotional gefärbte Wahrnehmung einer (neutralen) Differenz, die subjektiv bedeutsam ist und betroffen macht (Haußer, 1995, S. 9), stellt die eigene Identität in Frage und entlarvt unmittelbaren Handlungsbedarf. Im Gegensatz dazu werden Wahrnehmungen, die einen selbst emotional nicht berühren, als nicht identitätsrelevant empfunden und müssen nicht in besondere Reaktionen und Handlungen überführt werden.40 Auf Basis der zur Verfügung stehenden Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen, fällt das Individuum eine situative Handlungsentscheidung, die in eine Handlung überführt wird – sofern keine weiteren Barrieren auftreten. Aus theoretischer Sicht zeigen sich – wie bereits im vorangegangenem Kapitel näher beschrieben – unterschiedliche Handlungsstrategien im Umgang mit Fremdheit (Gieß-Stüber, 1999, S. 49): So kann es zu einer Ausübung von Anpassungsdruck oder zu Ausschluss, Abwertung und Isolierung des Fremden kommen. Diese evozierten Ausgrenzungen 40

Allerdings gibt es kein „Nicht-Handeln“, da auch das „Nichtstun“ als eine in der Situation aktualisierte Handlung angesehen wird und somit einer Bedeutung zugeschrieben werden kann.

4.5 Modelltheoretische Vorstellungen

99

und destruktiven Handlungsstrategien können als Abwehr von Unsicherheit verstanden werden und/oder folgen einer machtpolitischen Argumentation. Ziel ist es, den eigenen Status und die eigene Identität zu sichern. Ferner können Mystifizierung und Exotisierung des Fremden folgen. Fremdes kann beim Individuum aber auch Neugier und Zuwendung auslösen, wobei ein neuer Handlungsrahmen – der Eigenes und Fremdes vereint – geschaffen werden kann (vgl. auch Bender-Szymanski, 2002). Nachdem sich ein Individuum zunächst für eine sichtbare Handlungsstrategie entschieden hat, folgen im Sinne einer Feedbackschleife Informationsverarbeitungs- und Evaluationsprozesse, die das eigene Verhalten im gegebenen sozialen Kontext bewerten und gegebenenfalls Änderung, Verstärkung oder Adaptation erfordern. Denn genauso wie die Nähe und Bedeutungszuschreibung der Fremdheit als „iterativer Prozess“ (Grimminger, 2009, S. 63) zu verstehen ist und ständiger Überprüfung bedarf, so unterliegt auch das eigene Verhalten in diesem spezifischen Kontext einem iterativen Evaluationsprozess. Das eigene Verhalten wird bewertet, um im Sinne eines Ist-Soll-Vergleichs zu überprüfen, ob der aktuelle Zustand für ein Individuum erträglich und angemessen ist, oder nicht. Ziel ist es, eine effiziente Annährung an einen für das Subjekt kohärenten Endzustand zu schaffen. Unabhängig von der Handlungsstrategie kommt es zu situativen Fremdheitserlebnissen, die kontextspezifisch sehr stark emotional geprägt sein können. In der gedanklich-reflexiven Verarbeitung und Auseinandersetzung der situativen Erlebnisse, können diese als übersituative Erfahrungen verarbeitet und in den bisherigen Erfahrungshorizont verankert werden. Übersituative Erfahrungen dienen in zukünftigen (ähnlichen) Situationen als Grundlage und Entscheidungsfolie, die bei der Abwägung von Handlungsalternativen dienlich sein kann. In jedem Fall wird das gerade Erlebte in die eigene Identität eingeordnet, allerdings je nach emotionaler Färbung unterschiedlich. Werden die gemachten Erlebnisse als für die eigene Identität bedrohlich wahrgenommen, sind psychische Abwehrmechanismen zum Schutz oder zur Stärkung des Eigenen wahrscheinlicher (Erdmann, 1999a). Wird die Begegnung mit Fremdheit allerdings als Bereicherung und Herausforderung empfunden, können die gemachten Erlebnisse als positive Erfahrungen gespeichert werden.

100

4 Theoretisches Rahmenkonzept

In allen Interaktionsprozessen wird der Umgang mit Fremdheit auf struktureller, aber auch zwischenmenschlicher Ebene durch bestehende Machtverhältnisse bestimmt. Darüber hinaus beeinflussen auf individueller Ebene persönlichkeitsbezogene Merkmale wie Offenheit gegenüber Erfahrungen oder Einstellungen, bisher gemachte Erfahrungen und das Bewusstsein über eigene Fähigkeiten den Umgang mit Fremdheit. Zusammenfassend sind die modelltheoretischen Überlegungen in Abbildung 3 dargestellt. Wahrnehmung der Differenz

Identität Einordnung

Bedeutungsbeimessung

Fremdheitserfahrung

Wahrnehmung der Differenz als Fremdheit

Handlungsstrategien

Selbstevaluation S

Abwägen von Handlungsalternativen

Überführung in sichtbare Reaktionen Situative Handlungsentscheidungen

Potenzielle Einflussfaktoren: Auf struktureller und interaktiver Ebene: Machtverhältnisse Auf individueller Ebene: Einstellungen, bisherige Erfahrungen, Fähigkeiten Abb. 3. Modelltheoretische Vorstellungen zum Umgang mit Fremdheit (modifiziert nach Grimminger, 2009, S. 64)

5

Die Interventionsstudie: Didaktische Leitideen und inhaltliche Ableitungen

Auf Basis der theoretischen Ausführungen zu sozialpsychologischen und identitätstheoretischen Überlegungen zum Umgang mit Fremdheit, leitete Gieß-Stüber (u.a. 2008) didaktische Leitideen ab, anhand derer grundlegende Ziele und Überlegungen der Interkulturellen Bewegungserziehung praktisch aufbereitet werden können. Die Leitideen stellen somit Anregungshilfen dar, um sportunterrichtliche oder generell bewegungsbezogene Inhalte so zu modifizieren, dass interkulturelle Lern- und Bildungsprozesse geplant, durchgeführt und reflektiert werden können. Gleichwohl weisen Gieß-Stüber und Grimminger (2008, S. 235) darauf hin, dass gelegentlich akzeptiert werden muss, „dass sich nicht alle kulturbezogenen Konflikte durch Empathie, Kompromissbereitschaft und didaktische Kreativität lösen lassen“. In diesem Kapitel werden zunächst die didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung vorgestellt, kritisch reflektiert und für die eigene Studie bedeutsame Aspekte wie das Reflexionsgespräch oder die Inszenierung von Fremdheit genauer betrachtet und eingeordnet. Zudem erfolgt eine Einordnung der sportunterrichtlichen Inhalte der quasiexperimentellen Studie in die übergeordnete Rahmung eines erziehenden Sportunterrichts sowie in den Bildungsplan Baden-Württembergs. Anschließend werden die für die Studie relevanten und theoretisch abgeleiteten Spielformen vorgestellt, wobei immer wieder Bezüge zu den theoretischen Ausführungen und didaktischen Leitideen hergestellt werden. Das Kapitel wird durch die Darlegung der Anknüpfungspunkte der Interventionsinhalte an die theoretischen Überlegungen zum Umgang mit Fremdheit im Sinne einer Theorie-Praxis-Verknüpfung abgeschlossen. 5.1

Didaktische Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung

Eine konstruktive Auseinandersetzung mit Differenz und Fremdheit in Bewegung, Spiel und Sport wird nicht per se gefördert, sondern bedarf einer geplanten methodischen Inszenierung seitens der Sportlehrkraft (Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, S. 229). Für die Umsetzung der In© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_5

102

5 Die Interventionsstudie

terkulturellen Bewegungserziehung werden eine interkulturell kompetente Lehrkraft und eine prinzipielle Offenheit gegenüber interkulturellem Lernen auf individueller und struktureller Ebene vorausgesetzt (vgl. Kapitel 3.1.2). Die didaktischen Vorschläge einer reflexiven interkulturellen Erziehung und Bildung in Bewegung, Spiel und Sport können thematisch zwei Kategorien zugeordnet werden. Zum einen können „ Fremdheitserfahrungen als Bildungsanlass“ inszeniert werden und zum anderen können „ Teamaufgaben als Herausforderung“ aufgegriffen werden. Außerdem gilt es ein Bewegungsangebot stets unter der Prämisse zweier allgemeiner Grundsätze zu planen. Die didaktischen Leitideen wurden seit ihrer ersten Skizzierung von Gieß-Stüber im Jahr 1999 stetig weiterentwickelt, modifiziert und ergänzt. Die nachfolgend dargestellten Ausführungen orientieren sich primär an der letzten Aktualisierung und Fassung aus dem Jahr 2008 (Gieß-Stüber, 2008, S. 240-245; Gieß-Stüber & 41 Grimminger, 2008, S. 235-239). 5.1.1 Allgemeine Grundsätze Die folgenden beiden Grundsätze sind bei jedem Lehr-Lern-Arrangement der Interkulturellen Bewegungserziehung zu berücksichtigen. Unabhängig davon, ob die Initiierung von Fremdheitserfahrungen als Bildungsanlass oder aber Teamaufgaben zur persönlichen bzw. gruppenbezogenen Herausforderung im Vordergrund stehen. Reflexion von Fremdheitserlebnissen Ein interkulturell erziehender Sportunterricht strebt das Ziel an, dass die erworbenen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen auch außerhalb der „methodisch erzeugten Situation[en]“ (Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, S. 235), also auch über den Kontext des Sportunter41

Auch wenn die didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung prinzipiell in unterschiedlichsten Kontexten von Bewegung, Spiel und Sport angewandt werden können, beziehen sich die folgenden Ausführungen auf den Kontext Sportunterricht mit seinen Akteuren. Einerseits greift die Institution Schule den erzieherischen Gedanken von interkulturellen Lernprozessen auf, weshalb der schulische Kontext als zentraler Ort für interkulturelle Lernanlässe gesehen wird. Andererseits ist die eigene Studie ebenfalls im schulischen bzw. sportunterrichtlichen Kontext verankert.

5.1 Didaktische Leitideen

103

richt hinaus, angewandt werden können. Dies setzt voraus, dass eine Reflexion von Lernprozessen und Erlebnissen vonstattengeht, da erst dann „situative Erlebnisse zu übersituativen Erfahrungen verarbeitet werden können“ (Gieß-Stüber, 2008, S. 241). Des Weiteren sollte die Lehrperson unterschiedliche Handlungsstrategien in der Begegnung Fremdheit erkennen und diese anschließend zum Anlass nehmen, um sie mit der Lerngruppe zu thematisieren. Außerdem kann der Blick geweitet werden, indem auch außerschulische Begegnungsfelder mit möglichen Fremdheitserfahrungen aufgezeigt und besprochen werden. Insgesamt bedarf es zum Austausch von (Fremdheits-)Erlebnissen einer vertrauensvollen Umgebung und einer guten Beziehung zwischen den beteiligten Akteuren. In der Praxis bedeutet dies also, dass die Inszenierung von sportlichen Situationen nicht ausreicht, um interkulturell erziehenden Sportunterricht zu halten, sondern eine im Anschluss stattfindende Reflexion in einem `geschützten´ Raum unerlässlich ist. Erst mit der reflexiven Verarbeitung des Erlebten können Lerneffekte aufgebaut, gesichert und letztendlich als Kompetenzen in weiteren Situationen disponibel abgerufen werden. Gleichberechtigte Partizipation Im Sinne eines subjektorientierten Ansatzes, müssen die didaktischmethodisch geschaffenen Lernsituationen an einer Beteiligung von allen Schüler/innen orientiert sein. Es muss eine Atmosphäre geschaffen werden, in der die gleichberechtigte Anerkennung von Differenzen, Meinungsfreiheit und Raum für Diskussionen gegeben ist. Einem partizipativen Grundgedanken folgend, kann der Einbezug von Schüler/innen (je nach Klassenstufe bzw. Alter) an Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen des sportunterrichtlichen Geschehens forciert werden (Gieß-Stüber, 2008, S. 240). 5.1.2 Fremdheitserfahrungen als Bildungsanlass Diese Kategorie umfasst vier didaktische Leitideen, welche die Begegnung mit Fremdheit ausdrücklich in das Zentrum des Sportunterrichtsgeschehens rücken.

104

5 Die Interventionsstudie

Dem Fremden begegnen Ein wechselseitiger Austausch der eigenen und fremden Kultur ist Voraussetzung für das Überwinden von Fremdheit und das Erreichen von gegenseitiger Anerkennung. Erst durch die Begegnung mit Fremdheit kommt es zu einem Erkenntnisgewinn und auch bereits Vertrautes kann besser verstanden werden (Gieß-Stüber, 2003, S. 7). Die Begegnung mit dem Fremden kann zum einen durch eine Entfremdung des Vertrauten stattfinden, in dem bekannte Bewegungsformen modifiziert und somit verfremdet werden. Zum anderen können neue, unbekannte Spiel- und Bewegungsformen in den interkulturell orientierten Unterrichtsformen eingeführt werden. Die Reaktionen auf Fremdheitsbegegnungen sind individuell verschieden und reichen von abwehrendem bis hin zu neugierigem und zuwendendem Verhalten (Kapitel 4.3). Diese uneinheitlichen Verhaltensweisen gilt es zu reflektieren (vgl. den allgemeinen Grundsatz der Reflexion). Insgesamt muss beachtet werden, dass die Konfrontation mit Fremdem wohl dosiert ist, denn „wo die Kluft zwischen Bewältigungsfähigkeit und Fremdheitszumutung zu breit wird, können Abwehr und Aggression wachsen“ (GießStüber, 2003, S. 8). Selbstrelativierung: Den eigenen Ethnozentrismus erkennen Für die Beschäftigung mit dem Fremden bedarf es einem Bewusstsein des Eigenen. Es gilt die eigene Kultur sowie Sicht- und Lebensweise zu relativieren und zu erkennen, dass diese eine unter vielen ist. Dadurch kann bisher Unhinterfragtes und Selbstverständliches kritisch aufgearbeitet werden und Erhaltenswertes erkannt, Vorurteile aufgedeckt, Verständnis für Fremde(s) angebahnt und Ausgrenzungstendenzen ins Bewusstsein gehoben werden (Gieß- Stüber, 1999, S. 55; Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, S. 236). Um den eigenen Ethnozentrismus zu erkennen ist eine selbstkritische Reflexion der eigenen kulturellen Eingebundenheit nötig. Erst mit dem Bewusstsein über Werte und Schwächen des eigenen Standortes wird eine Grundlage für eine bewusste Weiterentwicklung geschaffen. Selbstrelativierung bedeutet auch, dass das Fremde nicht immer verstanden wer-

5.1 Didaktische Leitideen

105

den kann, weshalb „Gelassenheit und Toleranz gegenüber unverstandenem Fremden unabdingbar in einer egalitären Gemeinschaft [ist]“ (Gieß-Stüber, 1999, S. 55). Differenzierung der Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden Bei einer Begegnung mit dem Fremden soll eine differenzierte Wahrnehmung geschult werden, damit eine Person ihre Lebenswelt nicht nur dichotom, wie beispielsweise „vertraut – fremd, wir – die anderen“ (Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, S. 236), kategorisiert. Eine facettenreichere Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden kann durch die Thematisierung der Entwicklungen der eigenen und fremden Kultur erfolgen, wodurch bestehende Vorurteile und Klischees gegenüber der anderen Kultur abgebaut werden können. Zudem nehmen die Lernenden die Vielfalt und Potenziale der eigenen und fremden (Bewegungs-)Kulturen zur Kenntnis, worauf folgt, dass interkulturelle Differenzen weniger bedeutsam werden und Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Für die Schärfung einer differenzierten Wahrnehmung bietet sich die Entfremdung von Vertrautem an, denn „das Verfremden von Bekanntem öffnet die Augen für Neues im Alten“ (Gramespacher, 2003, S. 24). Ent-Differenzierung: Transkulturelle Elemente erkennen Auf die differenzierte Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden aufbauend, können universelle bzw. transkulturelle Elemente der Spiel-, Bewegungs- oder Lebensform erkannt werden, sodass vor allem Gemeinsamkeiten zwischen der eigenen und fremden (Bewegungs-)Kultur in den Vordergrund treten und gleichzeitig Differenzen hintergründig werden. 5.1.3 Teamaufgaben als Herausforderung Dieser Kategorie werden didaktische Leitideen zugeordnet, bei denen primär die Auseinandersetzung mit anderen Mitschüler/innen im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens steht. Hier gilt es für den erfolgreichen Abschluss einer Teamaufgabe sowohl die Stärken als auch die Schwächen der Teammitglieder zu erkennen und zu akzeptieren.

106

5 Die Interventionsstudie

Einen erheblichen Beitrag zum konstruktiven Umgang mit Fremdheit leistet das Selbstkonzept (vgl. Kapitel 4.4), weshalb dessen Förderung in einem interkulturell orientierten Sportunterricht von immenser Bedeutung ist. Zum Aushandeln befähigen / Förderung von Konfliktfähigkeit – Handlungsorientierung, Selbsttätigkeit und Offenheit Für die Entwicklung von Empathie, Perspektivenübernahme und sozialen Handlungskompetenzen wie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit als Bestandteile interkulturellen Lernens, muss den Schüler/innen ein gewisser Handlungs- und Entscheidungsspielraum im interkulturell orientierten Sportunterricht zugestanden werden. Um diese Lernziele zu erreichen, ist bei der Gruppenbildung auf eine heterogene Zusammensetzung der Schüler/innen zu achten. Im Fokus steht beim interkulturellen Sportunterricht die induktive LehrLernmethode im Sinne einer selbstständigen, aktiven und handlungsorientierten Auseinandersetzung mit (Bewegungs-)Aufgaben und Problemen. Die Aufgabenbewältigung kann entweder individuell oder aber auch als Team geschehen. Elementar dabei ist, dass die einzelnen Lösungswege zur Zielerreichung offen bleiben. In der Praxis eignen sich nach Gieß-Stüber und Grimminger (2008) beispielsweise Spielformen, in denen die Regeln von den Schüler/innen entwickelt werden müssen. Hierbei erfahren die Kinder und Jugendlichen, dass Regeln in einem Verständigungsprozess zwar verhandelbar, aber gleichzeitig notwendig für ein zielorientiertes Miteinander sind. Zu beachten ist jedoch, dass die Schüler/innen nicht durch einen zu großen Handlungs- und Entscheidungsspielraum überfordert werden, da dies zu einer Verweigerung der Aufgabenbewältigung seitens der Schüler/innen führen könnte. Vermittlung von Anerkennung – Identitätsförderung In Anlehnung an die Pädagogik der Vielfalt (Prengel, 2006) und die Pädagogik der Anerkennung (u.a. Hafeneger, Henkenborg & Scherr, 2013) gilt es Vielfalt und Verschiedenheit von beispielsweise Lernniveaus oder -tempi als Chance zu fassen und die „Gleichrangigkeit des

5.1 Didaktische Leitideen

107

Unterschiedlichen“ (Gieß-Stüber, 2008, S. 244) anzuerkennen. Die gleichwertige Anerkennung trotz Verschiedenheit von Seiten der Lehrkraft oder Mitschüler/innen steht im engen Zusammenhang mit identitätsfördernden Maßnahmen (vgl. Kapitel 4.4.2). Auf didaktischmethodischer Ebene können beispielsweise Bewegungsaufgaben und -probleme gestellt werden, die es im Team zu lösen gilt, wobei jedes einzelne Individuum einen Beitrag zum Gelingen der Unterrichtseinheit leisten sollte (u.a. Brenken, 2003; Huh, 2003) Vermittlung von Zugehörigkeit – Identitätsförderung Die Vermittlung eines Wir-Gefühls in unterschiedlichen Kontexten und Gruppenformationen wird angestrebt. Eine Person wird durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen dafür sensibilisiert, „dass unterschiedliche Zugehörigkeiten mit unterschiedlichen Verhaltenstendenzen einhergehen“ (Gieß-Stüber 2003, S. 7). Da jede bedeutsame Zugehörigkeit Loyalität zur Gruppe verlangt, könnten Statusnachteile aufgrund eines bestimmten Merkmals überwunden werden, weshalb Personen darin unterstützt werden sollten, sich in mehreren und unterschiedlichen Gruppen zu bewegen (Gieß-Stüber, 2000, S. 62). Durch die Erfahrung von Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen können die Heranwachsenden auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Identifikationen und Zugehörigkeiten in verschiedenen Bewegungs- und Gruppenkontexten befähigt werden (Gieß-Stüber, 2003, S. 7). Die Sensibilisierung für und die Vermittlung von Zugehörigkeit kann im Sport(unterricht) beispielsweise über gemeinsame Rituale und Regeln in wechselnden Teams geschehen. Wahrnehmung und Überschreitung von Grenzen Erst mit Überschreitung des Eigenen und Vertrauten kann der Zugang zum Fremden stattfinden. Die Überschreitung dieser Grenze kann bedacht und erprobt geschehen, wodurch das „Individuum Impulse für die eigene Identitätsarbeit“ (Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, S. 239) erhält. In Anlehnung an die Wagniserziehung motiviert jedes erfolgreich überwundene Wagnis zu einem neuen, größeren Wagnis. Eine fremde, unsichere Situation kann als solch ein Wagnis angesehen werden, das

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5 Die Interventionsstudie

es (gemeinsam) zu bestehen gilt. Dadurch können sich sowohl kognitive und motorische als auch psycho-emotionale Fähigkeiten weiterentwickeln, was sich letztendlich auch im Umgang mit Fremdheit widerspiegeln kann. Werden solche herausfordernden Situationen in der Gruppe bewältigt, entsteht ein „emotional stabilisierendes Kompetenz- und WirGefühl“ (Grimminger, 2009, S. 84) als Resultat von gemeinschaftlich erarbeiteten und erweiterten Handlungsspielräumen. 5.1.4 Kritischer Blick auf die didaktischen Leitideen: Explizite Erweiterung um Machtkonstellationen Die didaktischen Leitideen sind von dem theoretischen Rahmenkonzept von sozialpsychologischen Ansätzen zur Konstruktion und dem Umgang mit Fremdheit und identitätstheoretischen Annahmen einer möglichst gesicherten Ich- und Wir-Identität bei der Begegnung mit Fremden abgeleitet. Konsequenterweise müssen nach den theoretischen Ausführungen auch Machtverhältnisse, die eine tragende Rolle bei Fremdheitskonstruktionen bzw. bei dem Umgang mit Fremdheit haben, bei der Inszenierung einer reflexiven Interkulturellen Erziehung und Bildung in Bewegung, Spiel und Sport berücksichtigt werden. Dies wurde in den theoretischen Annahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung von Anfang an mitgedacht, allerdings nie explizit in die didaktischen Leitideen überführt. Unter der theoretischen Annahme, dass `Fremde´ in den Dimensionen struktureller, institutioneller und interaktioneller Formen Diskriminierung erfahren, werden deutliche Grenzen für pädagogische Interventionen aufgezeigt (Hormel & Scherr, 2004, S. 29). Interventionen reichen nicht an die strukturellen Bedingungen heran, gleichwohl können Fragen und Bedeutungen von Diskriminierung zum Thema gemacht werden und Personen für solche gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Konsequenzen für das Zusammenleben sensibilisiert werden. Ohne die Perspektive von Ressourcen und Machtverhältnissen zu berücksichtigen, die im entscheidenden Maße den Umgang miteinander bestimmt, würde die Interkulturelle Bewegungserziehung – wie es Prengel (2006, S. 6) auch für ihre Pädagogik der Vielfalt formuliert – „ als illusionäre Ideologie verkommen“. Eine klassische Definition von Macht wurde von Weber (2002, S. 28) folgendermaßen formuliert: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer

5.1 Didaktische Leitideen

109

sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Obwohl gemäß dieser Definition unklar bleibt, worauf genau Macht beruht, ist die soziologische Fachwissenschaft im Konsens darüber, dass Macht von Personen oder Gruppen im Sinne eines relationalen Phänomens verstanden wird. Das heißt, relativ verteilte Ressourcen können für Belohnungs- oder aber Bestrafungsprozesse von Interaktionspartner/innen in sozialen Beziehungen eingesetzt werden. Durch den Machtbegriff wird eine bestimmte Relation zwischen (mindestens zwei) Individuen beschrieben und durch Macht können bewusste und unbewusste Effekte im Verhalten oder den Gefühlen von Personen hervorgerufen werden (Erdmann, 1987, S. 25). Macht als zentrales Merkmal sozialer Beziehungen dient als bedeutsames Analysekonstrukt für die Interpretationen von Umgangsweisen in Interaktionsprozessen. Macht und die Auswirkungen von Machtverhältnissen erscheinen als ein zentrales zu sensibilisierendes Thema im Rahmen der Interkulturellen Pädagogik. Um diesen Gegenstand didaktisch erfahrbar und aufgreifbar zu machen, verfolgt beispielsweise Mecherils Pädagogik eine „Verschiebung der Zugehörigkeitsordnungen“ (Mecheril, 2004, S. 223) mit dem Ziel das machtvolle Dominanzverhältnis zwischen unterschiedlichen Gruppen auszugleichen. Diese Verlagerung von Zugehörigkeitsordnungen kann laut Mecheril (2004) beispielsweise dadurch erreicht werden, dass im Rahmen der pädagogischen Arbeit die (gesellschaftliche) Ordnung von hierarchisch höher und niedriger gestellten Personen in `Unordnung´ gebracht wird. Spiele, in denen verschiedene Machtkonstellationen hergestellt werden und dadurch soziale Grenzziehungen vollzogen werden, erscheinen besonders vielversprechend. Durch das Wechselspiel von Inklusionsund Exklusionserfahrungen bzw. Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit aufgrund von Definitionsmacht können gesellschaftlich-strukturelle Benachteiligungen thematisiert werden. Spielformen, in denen Personen mit gesichertem Status innerhalb der Gruppe, Nicht-Zugehörigkeit aufgrund von fehlenden „rechtlichen“ Ressourcen erfahren, können zur Förderungen der Selbstrelativierung anregen, indem ein Perspektivenwechsel erfolgt und Ausgrenzungstendenzen selbst erfahren und bewusst ge-

110

5 Die Interventionsstudie

macht werden. Die gemachten Erfahrungen können `schmerzhaft´ sein, können aber auch dazu beitragen, bisher gesicherte Positionen in Frage zu stellen. Der Außenseiterstatus und die Konsequenzen, die diese soziale Rolle mit sich bringt, können thematisiert werden. Letztendlich wird sich durch die Thematisierung von Machtkonstellationen erhofft, dass Schüler/innen ein Bewusstsein für (gesellschaftliche) hierarchische Verhältnisse erlangen, diese reflektieren und auch die Empathieentwicklung und Solidarisierungsfähigkeit der Schüler/innen fördert. Solidarität wird nicht als Phänomen verstanden, dass nur für die Angehörigen der eigenen Gruppe aufgebracht werden kann (Taylor, 1997, S. 14), sondern gerade auch für `Andere´ gezeigt wird. Auch aus einer identitätstheoretischen Sicht ist die Förderung von Empathie und Solidarität bedeutungsvoll. Krappmann (1997) bezeichnet – unter Bezugnahme auf Erikson – den Prozess der Identitätsbildung als Krisen, in denen Heranwachsende versuchen die Identitätsbalance in neuen Situationen immer wieder neu zu tarieren. In Interaktions- und Beziehungsfeldern wird Identität (unterstützend) modifiziert und entwickelt: Neben formalen Kompetenzen zur Vermittlung, Entwicklung, Verteidigung und Revision von Identität, wird ebenfalls Empathie entwickelt, durch die eine „Orientierung an einer interpersonalen Moral der Gerechtigkeit und der fürsorglichen Anteilnahme“ (Krappmann, 1997, S. 82) entsteht. Deshalb gilt die interaktiv hergestellte Empathie als eine zentrale Dimension von Identität. Aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive argumentiert Karakayali (2014), dass Personengruppen mit geringeren Ressourcen und Machtraten in der heutigen Gesellschaft „ein[en] Moment der Beschleunigung, des sozialen Wandels, der Dekomposition innerhalb eines sozialen Gefüges bewirkt[en]“ (Karakayali, 2014, S. 123) und somit auch konstitutiv für die gesellschaftliche Entwicklung sind. Solidarität mit den `Anderen´ scheint eine Schlüsselkompetenz für das Aufwachsen in modernen Gesellschaften zu sein, denn erst „[…] mit dem Verlassen der engen Grenzen der Gemeinschaft, vermittelt durch die Hereinnahme des Anderen, gelingt die Herausbildung einer genuinen, weil kosmopolitischen Bürgerschaft“ (Karakayali, 2014, S. 123). Die `Hereinnahme´ des Anderen kann auf kognitiver und affektiver Ebene geschehen, indem ein Per-

5.2 Bedeutung von Reflexionsgesprächen

111

spektivwechsel vom `Eigenen´ zum `Anderen´ angeregt und somit gegebenenfalls Empathie- und Solidarisierungsfähigkeit entwickelt wird. 5.2

Bedeutung von Reflexionsgesprächen für die eigene Studie

Die Fragen, wie „die situativen Erlebnisse […] zu übersituativen Erfahrungen verarbeitet werden [können]“ (Gieß-Stüber, 2008, S. 241), werden in der Interkulturellen Bewegungserziehung und dem Umgang mit Fremdheit immer wieder gestellt. So wird die „Reflexion von Fremdheitserlebnissen“ als ein allgemeiner Grundsatz bei der Initiierung von interkulturellen Lehr-Lern-Arrangements gesehen (vgl. Kapitel 5.1.1). Da das Reflexionsgespräch in der eigenen Studie einen bedeutenden Platz einnimmt – sowohl bei der sportunterrichtlichen Inszenierung als auch als Analysegegenstand –, widmet sich dieses Kapitel differenzierter der Bedeutung von Reflexionsgesprächen im interkulturell orientierten Sportunterricht. Im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung und des Umgangs mit Fremdheit wird der Reflexion des Erlebten eine tragende Rolle zugesprochen, denn „erst die gedankliche Auseinandersetzung macht aus Wahrgenommenem und Erlebtem Erfahrenes und Bedachtes“ (Neuber, 1999, S. 115). Die Verarbeitung des aktiv Erlebten liegt in dieser 42 Darstellung vor allem auf der kognitiven Reflexion . Pädagogisches Handeln sollte gewisse Strukturen bieten, in denen gedankliche Auseinandersetzungen gefördert und eine eventuell intensivere Beschäftigung mit dem Erlebten angeregt werden. Serwe-Pandrick (2013a, S. 36) spricht von einer „abstrahierenden Perspektivierung“, die zu einem reflexiven Lernen über das Erleben führt. Hierfür eignen sich Gespräche im Anschluss an das Erlebte, da durch die gemeinsame Aufarbeitung und die sprachliche Verbalisierung das im (Sport-)Unterricht Erlebte aufgegriffen, thematisiert und eingeordnet werden kann. Die Sportunterrichtpraxis und deren Inhalte dürfen „[…] nicht nur unter spezifischen Bildungs- und Erziehungsfragen im Unterricht gezeigt, sondern auch gemeinsam analy42

Im philosophischen Sinne meint Reflexion (lat. reflexio für das Zurückbeugen, -biegen, ‚-krümmen) ein intensives Nachdenken, Sinnen oder Abwägen, sodass das Hauptaugenmerk auf der gedanklichen Auseinandersetzungen liegt.

112

5 Die Interventionsstudie

siert und gedeutet werden.“ (Serwe-Pandrick, 2013b, S. 103; Hervorh. im Original). Ziel der sprachlichen Reflexion im Rahmen dieser Studie ist es Bezüge zu „außerunterrichtlichen und außerschulischen Handlungsfeldern“ (Gieß-Stüber, 2008, S. 241) oder zu „lebensweltlichen Erfahrungen“ (Serwe-Pandrick, 2013b, S. 105) der Schüler/innen herzustellen und zu thematisieren, auch wenn Neuber (1999, S. 116) der Übertragung der sportunterrichtlichen Erfahrungen auf gesellschaftliche Phänomene kritisch gegenübersteht. Die Transferleistung vom sportunterrichtlichen Geschehen auf eine höhere Abstraktionsebene kann als ein Schlüsselmoment der Reflexion in einem erzieherisch orientierten Sportunterricht gesehen werden. Beckers (2000, S. 92) konstatiert, dass „Erfahrungen durch Reflexionen verarbeitet werden [müssen], sollen sie für die Entwicklung des Menschen fruchtbar werden“. Auch das emanzipatorische Konzept der Interkulturelle Bewegungserziehung kristallisiert die Bedeutung der Reflexion von Fremdheitserlebnissen als Voraussetzung für Transfererwartungen heraus (Gieß-Stüber, 2014, S. 32). Erst durch die Reflexion und aktive Auseinandersetzung mit der im Sportunterricht wahrgenommen Fremdheit, kann es zu „pädagogisch bedeutsamen Veränderungen“ (Neuber, 1999, S. 113) kommen. Die identitätstheoretische Perspektive weist darauf hin, dass die Identität auf die sprachliche Darstellung angewiesen ist, sodass die Sprache „[…] die jeweiligen Erwartungen der Interaktionspartner anzeigen kann, ohne einen Spielraum für Diskussion zu leugnen, die Widersprüche zu bezeichnen und aufzuklären erlaubt, aber nicht lösbare Diskrepanzen auch stehenlassen kann, und die fähig ist, über die im Augenblick erfragte Information hinaus weitere für Interaktion und Identität bedeutsame Mitteilungen in die Kommunikation einzuführen“ (Krappmann, 2000, S. 12).

Insbesondere wenn die Konfrontation mit Fremdheit Abwehr und Ablehnung erzeugt, ist es umso bedeutsamer, dass „die emotionale Beteiligung des Konfrontationserlebnisses sich ausdrücken kann, zur Sprache kommen kann“ (Nieke, 2008, S. 77-78). Auch Auernheimer führt in einem Interviewgespräch mit Erdmann und Schulz (1999, S. 14) aus, dass Bewegungsprogramme erst sinnvoll sind, „wenn über mögliche Spannungen

5.3 Bildungstheoretische Einordnung von Fremdheit

113

reflektiert wird, wenn sie zur Sprache gebracht werden“. Die Vorstellung der Kontakthypothese, dass alleine durch das Zusammenbringen von Menschen unterschiedlicher Kulturkreise gegenseitige Vorurteile abgebaut werden können, greift nicht. Vielmehr bedarf es einem Lernarrangement, das den betroffenen Personen erlaubt, über das Erlebte – das positiv aber auch frustrierend sein kann – zu reflektieren und es bei Bedarf auch mitzuteilen. Reflexionsgespräche dienen in der vorliegenden Studie also dazu, das im Spiel Erlebte und die damit verbundene emotionale Beteiligung der Schüler/innen aufzugreifen, einzuordnen und einen Bezug des Erlebten zu außerschulischen Handlungsfeldern aufzuspannen. 5.3

Bildungstheoretische Einordnung von Fremdheit als sportdidaktische Inszenierungsform

Ein zentraler Punkt in der sportunterrichtlichen Intervention gemäß der Interkulturellen Bewegungserziehung ist die theoriegeleitete Initiierung von Fremdheitserlebnissen. Anhand der Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung lässt sich die Einordnung von Differenz und Fremdheit analysieren, die potenzielle Motoren für Ein- und Ausgrenzungsmechanismen sind. Die didaktische Inszenierung von u.a. InsiderOutsider-Konstellationen sollen bisherige Ordnungen der Schüler/innen (im Kontext des Sportunterrichts) in Frage stellen, um darauf aufbauend die Erlebnisse in Reflexionsgesprächen aufzugreifen. Im Sinne einer individuellen Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport, geht es darum, bisherige Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und eine Sensibilisierung für exkludierende und inkludierende Strukturen zu ermöglichen und neue Perspektiven zu generieren. Die inhaltliche Legitimation von fremden, das Selbst bzw. das Selbstverständliche in Frage stellenden, didaktischen Inhalten, kann auch bildungstheoretisch begründet werden. Insbesondere die transformatorische Bildungstheorie nach Koller (u.a. 2009) ist äußerst anschlussfähig für die Inszenierung von Fremdheit als Bildungsanlass. Bei der Konzeption transformatorischer Bildungsprozesse versteht Koller (2012b) Bildung als

114

5 Die Interventionsstudie „ […] einen Prozess der Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen, in dem angesichts ungewöhnlicher Herausforderungen neue Figuren oder Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen entstehen, die es den Akteuren erlauben, solchen Problemen besser als bisher gerecht zu werden“ (Koller, 2012b, S. 157).

Demzufolge hat eine Person zu jedem Zeitpunkt und in jeder Situation ein bestimmtes Welt- und Selbstverständnis, das ausschlaggebend dafür ist, wie sich das Individuum zur Welt und zu sich selbst positioniert. Aufgrund von Herausforderungen oder einer Art „Krisenerfahrung“ (Koller, 2012b, S. 158), wird das bisherige Welt- und Selbstverhältnis „negiert, d.h. in Frage gestellt, destabilisiert oder gar völlig außer Kraft gesetzt“ (Koller, 2005, S. 138). In Krisenerfahrungen werden Personen demnach mit „Problemen konfrontiert […], für deren Bewältigung die bisher zur Verfügung stehenden Mittel nicht mehr ausreichen“ (Koller, 2012b, S. 157). Dies betont auch den konfliktträchtigen Charakter von Bildungsprozessen (Combe & Gebhard, 2012, S. 58). Durch Auseinandersetzungsprozesse entstehen so neue Orientierungsfiguren, durch die sich das Subjekt anders als bisher verhält (Koller, 2014, S. 76). Das Durchbrechen von bestehenden Ordnungen und Orientierungen regt transformatorische Bildungsprozesse an, mit dem Resultat, dass das bisherige Welt- und Selbstverhältnis verändert bzw. transformiert wird. Bildung wird bei Koller (2007a, S. 50) klar von der bloßen Aneignung von Wissen abgegrenzt. Im Unterschied zu Lernprozessen, in denen es um Aufnahme, Aneignung und Verarbeitung neuen Wissens oder neuer Informationen geht, kennzeichnen sich Bildungsprozesse dadurch aus, dass es zu einer fundamentalen Veränderung der Art und Weise kommt, wie Informationen bzw. Wissen verarbeitet werden. Transformatorische Bildungsprozesse stellen sozusagen höherstufige Lernprozesse dar, durch die sich auch der Umgang mit Wissen grundlegend ändert (Koller, 2007, S. 50). Es wird nicht nur etwas Neues in einen bestehenden Rahmen aufgenommen, sondern dieser Rahmen wird selbst transformiert (Koller, 2014, S. 76). Als Anlässe für Krisenerfahrungen werden von Koller (2005, 2012b) zum einem Negativität bzw. negative Erfahrungen und zum anderen Fremderfahrung ausgeführt. Koller (2005) greift Bucks Begriff der Negati-

5.3 Bildungstheoretische Einordnung von Fremdheit

115

vität bzw. der negativen Erfahrung auf, in dem sich Bildung unter einem Funktionskreis von Antizipation und der Erfüllung oder Enttäuschung dieser vollzieht. Werden die an einem Gegenstand oder Situation geknüpften Erwartungen erfüllt, kommt es zu einer „allmähliche[n] Anreicherung und inhaltliche[n] Ausfüllung des Erwartungshorizontes“ (Koller, 2005, S. 138). Werden allerdings die bestehenden Antizipationen und Erwartungen an einen Gegenstand nicht erfüllt und somit enttäuscht, kommt es zu einer negativen Erfahrung, die einen Horizontenwandel i.S. eines transformatorischen Bildungsprozesses anregt, sodass ein neuer Horizont entsteht, der einen „adäquateren Rahmen für das Verständnis des Gegenstandes bietet“ (Koller, 2012a, S. 76). Die negative Erfahrung der Erwartungsenttäuschung wird demnach in einen transformatierten Horizont integriert. Bei der Fremderfahrung als potenziellen Motor für Bildungsanlässe knüpft Koller (2012a) an Waldenfels‘ (1997) Konzept der Fremderfahrung an. Das Fremde ist stets relational zu verstehen, da es sich immer nur im Verhältnis zu einer gegebenen Ordnung bestimmen lässt. Allerdings lässt sich das Fremde nicht in das bisherige Ordnungssystem einordnen. Durch diese Unzugänglichkeit wird Fremdes erfahrbar und stellt Bisheriges in Frage (Koller, 2012a, S. 80-81). Die unmögliche Zuordnung des Fremden in Bestehendes erfordert im besonderen Maße eine Neustrukturierung bzw. Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses, „denn durch die Außerkraftsetzung einer Ordnung wird nicht nur eine bestimmte Erwartung negiert […], sondern die gesamte Ordnung, die unser Wahrnehmen, Denken und Handeln strukturiert“ (Koller, 2012a, S. 86). Beide theoretischen Anlässe von Bildungsprozessen lassen deutlich werden, dass Bildung kein „harmonisch-naturwüchsiger Reifungsprozess“ ist, sondern vielmehr ausgelöst wird „durch krisenartige Erfahrungen, die mit einer Beunruhigung, einer Störung, ja einem gewaltsamen Einbruch in die gewohnte Ordnung einhergeht“ (Koller, 2007b, S. 71). Bei didaktisch inszenierter Fremdheit – die sowohl eine Erwartungsenttäuschung als auch eine nicht einzuordnende Fremderfahrung sein kann – gilt stets zu beachten, dass irritierende Situationen Unlust hervorrufen, sich als kränkend erweisen und emotional-affektiv berühren können (Combe & Gebhard, 2012, S. 22). Dies kann folglich dazu führen,

116

5 Die Interventionsstudie

dass die mentale Auseinandersetzung mit der Irritation zurückgewiesen wird. Die Irritation wird also nicht gemieden, da dies in der Regel nicht 43 möglich ist , aber die mentale Beschäftigung bzw. Reflexion der Irritation (Combe & Gebhard, 2012, S. 22). Die zentrale These von Combe und Gebhard (2012, S. 22) ist jedoch, dass die Reflexion und Auseinandersetzung als fruchtbarer Moment einer `Krise´ gilt. Die Voraussetzung für das Fruchtbarwerden einer krisenhaften Situation ist, sich dieser zu öffnen, sodass bewährte Vorstellungen überschritten und transformiert werden. Auch Benner (2005, S. 10) weist darauf hin, dass negative Erfahrungen reflexiv aufgearbeitet werden müssen, um Bildungsprozesse anzuregen. Damit aus der negativen Erfahrung etwas Fruchtbares entstehen kann, müssen diese wohl dosiert sein. Giese (2008, 2010) verweist ebenfalls auf den schweren Spagat der richtigen `Dosierung´. Auf der Objektseite bzw. der des Lerngegenstands, wird vorausgesetzt, dass sich das Zu-Erfahrende im Rahmen des Erfahrungshorizontes des Subjekts befinden muss. Gleichzeitig muss die Antizipation so gestört werden, denn zur Erfahrung kann nur werden, was nicht den Erwartungen entspricht und das Subjekt im Handeln innehalten lässt (Giese, 2010, S. 75): „Das Moment der Enttäuschung wird als normativ nicht vordeterminierte Störung der Antizipation verstanden, die sowohl in einem stolpernden Misslingen als auch in einem unerwarteten Gelingen liegen kann“ (Giese, 2008, S. 47). Ob ein bildender Moment der Erfahrung entstehen kann liegt demnach in der Dosierung: „Vollkommene Fremdheit verhindert Erfahrungen ebenso wie völlige Vertrautheit“ (Giese, 2010, S. 74). Sind die Fremdheitserfahrungen zu groß, können sich die Potenziale der Fruchtbarkeit der Krise in etwas Furchtbares für die handelnden Personen umkehren. Gezielte Erziehungsarrangements für Bildungsanlässe bezüglich einer Sensibilisierung für fremde Situationen werden mit großer Wahrscheinlichkeit verwehrt. Im Gegensatz dazu müssen die Krisenerfahrungen groß genug sein, damit Subjekte ins `Stolpern´ kommen. Bei wohl dosierten Fremdheitserfahrungen und einer erfolgreichen reflexiven Aufarbeitung der gemachten Erlebnisse kann es zu einer Transformation 43

Die Vermeidung einer irritierenden Situation ist im Rahmen einer schulischen Intervention nicht möglich.

5.4 Erziehender Sportunterricht als kontextuelle Rahmung

117

des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses kommen, die transsituative Geltung haben. Hierzu meint auch Schäfer (2009, S. 186): „Das pädagogische Vokabular (egal ob Erziehung, Bildung oder – wenn man so will – Sozialisation) lebt davon, dass diese situativen Reaktionen (einer Strafhandlung, des Streits zwischen Kindern, des gemeinsamen Spielens usw.) in einen transsituativen Kontext gebracht werden, der es – mit aller Vorsicht ausgedrückt – mit der Personwerdung des Menschen im Spannungsfeld zwischen Individuierung und Vergesellschaftung zu tun hat“ (Schäfer, 2009, S. 186).

Den letzten Punkt greift die Intervention auf, da durch spezifische Inszenierung im Sportunterricht die situative Reaktion in einen gesellschaftlichen Kontext transferiert werden soll, um auf individueller Ebene eine Veränderung der Weltsicht zu erlangen, und dies – wie Schäfer (2009) es ausdrückt – im Spannungsfeld zwischen Individuierung und Vergesellschaftung geschieht. 5.4

Erziehender Sportunterricht als kontextuelle Rahmung

Wie bereits der Name Interkulturelle Bewegungserziehung verdeutlicht, beansprucht der Ansatz eine erzieherische Funktion. Der erziehende Sportunterricht (vgl. Neumann, 2004) bildet die bildungstheoretische Argumentation und Legitimation von Sportunterricht und findet sich in den 44 aktuellen Lehr- und Bildungsplänen v.a. im Doppelauftrag des Sportunterrichts im Sinne einer Erziehung zum und durch Sport wieder (u.a. Prohl, 2008, 2012). Im Sinne des Doppelauftrags soll der Sportunterricht somit nicht nur eine Sachaneignung ermöglichen, sondern auch (gleichzeitig) die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler/innen fördern. Die übergeordnete Zielsetzung eines erziehenden Sportunterrichts ist es, „[…] die Schülerinnen und Schüler durch die Auseinandersetzung mit der Sache in ihrer Entwicklung und Persönlichkeit ganzheitlich zu fördern und sie zu einem selbstbestimmten und verantwortlichen Urteil und Handeln zu befähigen“ (Neumann, 2004, S. 124). Durch den von Pädagogen be44

Je nach Land werden die mit den Schulgesetzen vorgegebenen Bildungsziele von dem jeweils zuständigen Kultusministerium in Bildungspläne, Lehrpläne Rahmenpläne, Rahmenlehrpläne, Rahmenrichtlinien oder Kerncurricula konkretisiert. Diese Begrifflichkeiten sind synonym zu verwenden.

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5 Die Interventionsstudie

reitgestellten Handlungsrahmen im Sportunterricht werden Erziehungsangebote mit dem Ziel der Bildung von Schüler/innen geschaffen (vgl. auch Prohl, 2008). Im Sinne von Funke-Wieneke (2001, S. 48) ist Sportunterricht nur dann legitim, wenn dieser einen „unverwechselbaren Beitrag zur Erziehung“ leisten kann. Durch die sogenannte „bewegungszentrierte Entwicklungsförderung“ (Funke-Wieneke, 2001, S. 48) soll durch das Medium Bewegung, Spiel und Sport die Entwicklung der Schüler/innen gefördert werden. Die Vielfalt der erzieherischen Ansprüche an den Sportunterricht bündelt Neumann (2004) in vier unterschiedlichen sportdidaktischen Positionen und kategorisiert sie in die pragmatische, emanzipatorische, affirmative und kontrastierende Position. Die Interkulturelle Bewegungserziehung verfolgt v.a. einen kritisch-emanzipatorischen Ansatz: Gesellschaftliche Tatsachen und Verhältnisse sind von Menschen erzeugt und daher prinzipiell veränderbar. Das emanzipatorische Bestreben auf der individuellen Ebene ist die Schaffung einer kritisch-reflexiven Haltung gegenüber vorherrschenden (gesellschaftlichen) Bedingungen. Dieser Prozess der erzieherischen Einflussnahme auf das Handeln und Entscheiden der Schüler/innen im Sportunterricht geschieht als wechselseitiger und widersprüchlicher Lern- und Bildungsprozess, wobei sich die Schüler/innen zu den inszenierten erzieherischen Aufforderungen positionieren müssen (Neumann, 2004). Wird das vorangegangene Bildungsverständnis aufgegriffen, wird deutlich, dass Bildungsprozesse nie linear und kumulativ verlaufen, sondern an Brüche in der Auseinandersetzung mit der Welt gebunden sind (Laging, 2013, S. 209). Lagig (2013) bezieht sich auf Benner und sein Prinzip der Bildsamkeit, das vor allem die Erziehbarkeit und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung des Menschen betont. Der Bildsamkeit liegt ein relationales Verständnis zugrunde, d.h. erst durch die Auseinandersetzung mit der Welt bestimmt sich der Mensch selbst. 45 In Anbetracht des 45

Dieser Gedanke des selbsttätigen Individuums ist auch bei Bräutigam (2011) und Bräutigam und Blotzheim (2008) anzutreffen, die Schüler/innen nicht nur als erkennende und reflektierende Personen im Sportunterricht ansehen, sondern als handelnde Personen. Schüler/innen gestalten den Sportunterricht in aktiver Weise mit und entwickeln diesen weiter: „In diesem Sinne sind Schüler (Ko-)Konstrukteure des Schulsports“ (Bräutigam, 2011, S. 65). Das selbstbestimmte Handeln von Schüler/innen kann in Benners Sinn

5.5 Einordnung in den Bildungsplan Baden-Württembergs

119

relationalen Verständnisses von Mensch und Welt für Bildungsprozesse, folgert Laging (2013, S. 210) für den Sportunterricht, dass dieser sich „nicht als doppelseitiges Geschehen mit einer materialen (Sport- und Bewegungskultur) und einer formalen Orientierung (Wertevermittlung) begreifen soll, sondern immer nur als ungeteilter Vorgang einer Relationalität in der bewegungsbezogenen Wechselbeziehung von Subjekt und Welt“ (Laging, 2013, S. 210).

Wenn Laging (2013) in seinem Beitrag auf das Erlernen sportmotorischer Fähigkeiten eingeht und inwiefern Bewegung(serfahrung) als einer Kategorie der Bildung anerkannt werden kann, soll es in der in Kapitel 5.6 vorgestellten sportunterrichtlichen Intervention um die allgemeine Bildungsdimension des Erziehenden Sportunterrichts und seinen Doppelauftrag gehen (Prohl, 2012, S. 70). Es geht primär nicht um eine „Bewegungsbildung“ sensu Prohl (2012), die durch die Sacherschließung von Bewegung, Spiel und Sport zu einer Qualifizierung für den außerschulischen Sport führen soll, sondern vor allem um die individuelle Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport und der Vermittlung von sozialen Werten. Gleichwohl ist bekannt, dass sich Bildung erst in der Auseinandersetzung mit Bildungshinhalten angeregt wird und somit Sacherschließung und Entwicklungsförderung untrennbar zusammengehören (Prohl, 2011, S. 166). Die Vermittlung von Werten kann nicht losgelöst von der Bewegungshandlung gesehen werden, da Bildung erst im Vollzug der Bewegung und der reflexiven Auseinandersetzung angeregt wird (Laging, 2013, S. 200). 5.5

Einordnung der sportunterrichtlichen Inhalte in den Bildungsplan Baden-Württembergs

Die sportunterrichtlichen Inhalte wurden nicht nur vor dem Hintergrund der vorgestellten didaktischen Leitideen einer Interkulturellen Bewegungserziehung bestimmt, sondern auch in den Bildungsplan BadenWürttembergs eingeordnet. Insgesamt wurde eine sechswöchige Unterrichtsreihe mit jeweils einer Doppelstunde und einer Einzelstunde geder Bildsamkeit als eine aktive Mitgestaltung und Selbstbildung im Kontext des Schulsports verstanden werden.

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5 Die Interventionsstudie

plant, da gemäß den Kontingenzstundentafeln des Landes BadenWürttemberg für Realschulen von drei Sportunterrichtsstunden in der 46 Jahrgangsklasse 6 auszugehen ist. Die Unterrichtsreihe wird innerhalb des baden-württembergischen Bildungsplans dem für die Klassenstufe 6 bestimmten Inhaltsbereich „Spielen – Spiel“ zugeordnet. Die kompetenzorientierten Ziele dieses Inhaltsbereichs sind folgendermaßen formuliert: Die Schülerinnen und Schüler können x Spielregeln verstehen, akzeptieren und weiterentwickeln; x mit- und gegeneinander spielen; x in einfachen Spielsituationen zielgerichtet agieren; x Spiele mit vereinfachtem Regelwerkt mit und ohne Schiedsrichter organisieren; x eigene Spiele nach ihren Bedürfnissen erfinden und in der Gruppe umsetzen. (MKJS Baden-Württemberg, 2004b, S. 140) Die verschiedenen Zielsetzungen des Inhaltsbereiches „Spielen – Spiel“ als auch der allgemein geltende Doppelauftrag des Sportunterrichts, der im Bildungsplan für Realschulen des Landes Baden-Württemberg verankert ist (MKJS Baden-Württemberg, 2004b, S. 139), sollen mit der Unterrichtsreihe im Einklang stehen. Mit dem Inhalt von unterschiedlichen kleinen Spielen war das übergeordnete Ziel der Interventionsstudie zu untersuchen, ob ein Sportunterricht mit der besonderen didaktischen Inszenierung der Interkulturellen Bewegungserziehung gemäß dem allgemeinen Schulauftrag zu einem 46

Die vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (MKJS) festgelegte Kontingentstundentafel legt für jede Schulart fest, wie viele Jahreswochenstunden insgesamt in den Schuljahren bis zum Abschluss des Bildungsgangs zu erteilen sind. Die Verteilung der Jahreswochenstunden auf die einzelnen Klassenstufen, obliegt den einzelnen Schulen. Für Realschulen werden von Klassenstufe 5 bis 10 insgesamt 17 Wochenstunden Sportunterricht vorgeschrieben. Dies bedeutet, dass an Realschulen im Durchschnitt 2,8 Wochenstunden Sportunterricht erteilt werden (17 Wochenstunden/ 6 Klassenstufen). Diese Durchschnittszahl war handlungsleitend für die Planung der Interventionseinheit. Die Kontingentstundentafeln für Realschulen sind einzusehen unter: http://www.bildungsplaenebw.de/site/bildungsplan/get/documents/lsbw/Bildungsplaene/Bildungsplaene2004/Kontingentsstundentafel/Realschule_Kontingentstundentafel.pdf (letztmaliger Zugriff am 21. Januar 2019)

5.6 Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie

121

„Lernfeld für die Beziehungen der jungen Menschen untereinander und zwischen ihnen und Personen aus anderen Kulturen, mit anderen Biografien, Wertvorstellungen, Lern- und Denkgewohnheiten – mit anderen Stärken und Schwächen, Erwartungen und Erschwernissen [werden kann]“ (MKJS Baden-Württemberg, 2004a, S. 10).

Trotz der Akzentuierung des didaktischen Konzepts von Gieß-Stüber (u.a. 1999) soll selbstverständlich auch die motorische Förderung der Heranwachsenden ein wesentlicher Bestandteil des Sportunterrichts bleiben, weshalb das Unterrichtsvorhaben einem mehrperspektivischerziehenden Sportunterricht entspricht, indem neben körperlichphysischen Aspekten auch geistig-emotionale und soziale Aspekte geschult werden (Elflein, 2008, S. 63). 5.6

Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie

Aufbauend auf der Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung und den didaktischen Leitideen nach Gieß-Stüber (u.a. 2008) wurden Unterrichtsstunden konzipiert, welche vor der Durchführung der Intervention im Rahmen eines Expertenworkshops diskutiert, kommentiert, ergänzt, verworfen oder neu strukturiert wurden. In diesem Workshop wurden alle Stundenverlaufspläne und die ausführliche Beschreibung der Verlaufspläne im Raum verteilt und die Gruppe der Experten bzw. Expertinnen – vornehmlich Personen aus der Wissenschaft, die jedoch auch praktischen Bezug zur Schule und dem Sportunterricht besaßen – „wanderten“ von Ausarbeitung zu Ausarbeitung und kommentierten die einzelnen Stundenentwürfe (vgl. auch die Methode „Plakatwandern“, z.B. Scheuermann, 2013, S. 91-92). Im Anschluss daran wurden die einzelnen Unterrichtsstunden gemeinsam diskutiert. Diese Strategie des kollegial-kritischen Austauschs der Unterrichtsstunden und -inhalte diente der Diskussion über die Umsetzbarkeit der Unterrichtsinhalte und kann auch als Maß der Validität gesehen werden. Es wurde der Frage nachgegangen, ob die theoretisch abgeleiteten sportunterrichtlichen Inhalte und Inszenierungen Fremdheit bei Schüler/innen erzeugen können. Die Inhalte der Interventionsstudie fokussieren vor allem jene Spiele, die der didaktischen Leitidee „Fremdheit als Bildungsanlass“ (u.a. GießStüber & Grimminger, 2008) folgen. Der sportunterrichtliche Inhalt von

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5 Die Interventionsstudie

Spielen ist für diese Jahrgangsstufe nicht nur anschlussfähig an den Bildungsplan Baden-Württembergs, sondern auch in der Fachliteratur zu interkulturellem Lernen im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport werden oftmals neben Tänzen (u.a. Altinok, 2011; Cabrera-Rivas, 2001; Huh, 2003) auch speziell Spiele inhaltlich begründet und verwendet (u.a. Beckers, 1993; Brenken, 2003; Neuber, 1999). Durch verschiedene – für alle Schüler/innen – bekannte Spiele, kann die Inszenierung vom „Gewohnten zum Ungewöhnlichen“ (Neuber, 1999) durch verschiedene Regeländerungen forciert werden. Dadurch kann bisher Selbstverständliches in Frage gestellt werden. Zudem können Schüler/innen im Spektrum von `Spielen´ auch Inhalte kennenlernen, die außerhalb ihres bisher vertrauten Orientierungsrahmens liegen: sei es durch bisher unbekannte Spiele bzw. Spielformen oder durch die `Zuweisung´ von bisher unbekannten und inszenierten Zugehörigkeitsgruppen im Rahmen eines Spiels. Durch die didaktische Inszenierung von eventueller Fremdheit sollen Schüler/innen ins `Stolpern´ gebracht werden (vgl. auch Giese, 2008), sodass das bisher Selbstverständliche in Frage gestellt wird und dies Anlass zum Reflektieren bietet. Ziele der Studie sind zum einen die Umgangsweisen der Schüler/innen auf die inszenierte Fremdheit zu rekonstruieren und die sprachlich-reflexive Aufarbeitung der Schüler/innen im und nach den jeweiligen Fremdheitsspielen aufzudecken. Innerhalb der Reflexion stellt sich die Frage, ob Schüler/innen in der Lage sind, das im sportunterrichtliche Spiel Erlebte auf bisherige (außersportunterrichtliche) Erfahrungen zu transferieren. Denn durch die gedankliche Auseinandersetzung können aus dem im Sportunterricht Wahrgenommenen und Erlebten gegebenenfalls übersituative Erfahrungen entstehen (Neuber, 1999, S. 115), die in eventuell später auftretenden Situationen von Fremdheit abgerufen werden und handlungsleitend für den Umgang mit Fremdheit sein könnten. Die für die eigenen Analysen verwendeten Spiele werden nachfolgend vorgestellt, wobei neben einer kurzen inhaltlichen Vorstellung der Spielidee auch Bezüge zu den didaktischen Leitideen – die für die jeweiligen Spiele vor allem in Vordergrund stehen – hergestellt werden.

5.6 Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie

123

5.6.1 Spiel 1: Fußball einmal anders Die Sportart Fußball soll durch unterschiedliche Variationen in ihrer vertrauten Form aufgebrochen und verfremdet werden (vgl. Leineweber & Kloock, 2005, S. 151-153): 1. Fußballspiel mit vertrauten Regeln 2. Fußballspiel mit anderen Gegenständen: Beispielsweise Slowmo-Ball, Rugby, Pezziball 3. Fußballspiel mit anderen Gegenständen und der Regel: Jede/r Schüler/in muss den Ball vor Torschuss berühren 4. Partner-Fußballspiel mit gewohntem Fußball 5. Partner-Fußballspiel blind mit Softball Nachdem das vertraute Fußballspiel einige Zeit gespielt ist, werden die konventionellen Fußbälle gegen andere Gegenstände wie beispielsweise einen Slowmo-Ball (Zeitlupen-Ball), Rugby oder Pezziball ausgetauscht. Der neue Spielball besitzt eine andere Bewegungsdynamik, was auch zu einer Veränderung der gewohnten Spieldynamik führt. Anschließend wird folgende spielentscheidende Regeländerung eingeführt: Vor dem Torschuss (und somit Punkterzielung) müssen alle Teammitglieder mindestens einmal den Spielgegenstand berühren. Für das neue Spiel „Partnerfußball“ gehen jeweils zwei Schüler/innen zusammen. Jedes Paar hält sich nun an den Händen oder gemeinsam an einem Gummiring fest. Im Zweierteam soll sich gemeinsam fortbewegt und Punkte erzielt werden. Die ungewohnte Fortbewegungsweise wird nach einer gewissen Zeit verstärkt, indem ein Kind des Zweierteams die Augen schließt bzw. die Augen mit einem Tuch verbindet und sich von seinem Partner bzw. seiner Partnerin `blind´ führen lässt, um weiterhin Fußball (mit einem Softball) zu spielen. Nach diesem Spiel findet eine Reflexion der Unterrichtseinheit statt. Bezug zu den didaktischen Leitideen Dem Fremden begegnen: Das vertraute Fußballspiel mit seinen „tradierten“ Regeln, Gegenständen und Bewegungsweisen wird in dieser Einheit gezielt verfremdet. Durch die Abwandlung des vertrauten Fußballspiels wird gegebenenfalls

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5 Die Interventionsstudie

Fremdheit sowohl im Spiel mit dem anderen Gegenstand als auch im Partnerfußball begegnet. Die Fortbewegungsweise ist vor allem beim Partnerfußballspiel für die Schüler/innen ungewohnt. Wahrnehmung und Überschreitung von Grenzen: Nicht nur der evtl. gegebene Körperkontakt kann für Schüler/innen eine Überschreitung von Grenzen bedeuten, sondern vor allem die Spielform, in der ein Kind die Augen schließt, fordert individuelle Grenzen heraus. Die Fähigkeit, Vertrauen zu geben und zu haben spielt eine wichtige Rolle. Die Schüler/innen müssen sich auf einen Prozess der Unsicherheit einlassen. Zum Aushandeln befähigen/ Förderung von Konfliktfähigkeit: Vor allem in den Partner-Fußballspielvarianten müssen sich die Schüler/innen abstimmen und z.B. ein gemeinsames Tempo aushandeln sowie die jeweiligen Spielfähigkeiten berücksichtigen. In dem blinden Partnerfußballspiel werden die Aushandlungsaspekte verstärkt. Reflexion von Fremdheitserlebnissen: Das „vertraute“ Fußballspiel wird nach und nach verfremdet. Eine besondere Steigerung stellt das `blinde Partnerfußballspiel´ dar: `Blinde´ Schüler/innen müssen sich auf ihre/n Partner/in verlassen können. Die führenden Kinder müssen sich der Verantwortung für die `blinden´ Schüler/innen bewusst sein. Dies erfordert u.a. Perspektivenübernahme, d.h. die erlebte Situation aus der Perspektive des/der anderen wahrnehmen zu können. Beispielhafte Reflexionsfragen sind: x x x x

Wie war es für euch `blind´ zu sein bzw. den anderen zu führen? Was war angenehmer? Und warum? Was hat euch Sicherheit als `Blinder´ gegeben? Was hättet ihr euch gewünscht? Kennt ihr die Gefühle, die ihr beim Blindsein und beim Führen hattet, aus dem Alltag (evtl. zum Anstoß eigene Beispiele berichten)?

5.6 Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie

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5.6.2 Spiel 2: (Stummes) Mattenballspiel Zunächst wird das Mattenballspiel eingeführt: Auf jeder Stirnseite des Feldes wird eine große Weichbodenmatte gelegt, die von den Spieler/innen umrundet werden kann. Um einen Punkt zu erzielen muss der Spielball (z.B. Handball, Softball) auf die Matte abgelegt (und nicht geworfen) werden. Die Matte darf von keinem Kind betreten werden, außer wenn der/die Angreifer/in auf die Matte hechtet, um den Ball abzulegen. Die Schrittanzahl mit Ball (z.B. drei Schritte) sowie eine mögliche Mindestanzahl an Ballbesitzenden vor einer Punkterzielung sollten vor Spielbeginn geklärt werden. Nach einer gewissen Zeit wird dieses Spiel weitergespielt, wobei die audioverbalen Verständigungsmöglichkeiten gestört werden. Diese Störung geschieht durch das Tragen von Ohrenstöpsel bei gleichzeitigem Einspielen von lauter Musik (vgl. Sygusch, 2005, S. 92). Bisher selbstverständliche Kommunikationsformen greifen nicht mehr. Um erfolgreich zu spielen, müssen die Kinder andere Möglichkeiten der Kommunikation entwickeln (Zeichen, Blickkontakt, Körpersprache). Bezug zu den didaktischen Leitideen Dem Fremden begegnen: Vertraute Bewegungssituationen werden verfremdet, indem bisherige Kommunikationsformen ausgeschaltet werden. Selbstrelativierung des Eigenen: Bisher Selbstverständliches wird in Frage gestellt. Die verbale Kommunikationsform, die selbstverständlich als zuverlässiges Mittel der Verständigung dient, ist nur eine unter vielen. Zum Aushandeln befähigen – Konfliktfähigkeit fördern: Die vertrauten Kommunikationswege stehen bei diesem Spiel nicht mehr zur Verfügung. Hierbei müssen verschiedene Wege zur Aufgabenmeisterung gemeinsam erprobt und optimiert werden, damit die Zielerreichung erfolgen kann.

126

5 Die Interventionsstudie

Reflexion der Fremdheitserlebnisse: Im Rahmen der Reflexion können die Bedeutung und Möglichkeit verbaler Kommunikation herausgearbeitet werden. Die Schüler/innen können für die Bedeutung von Kommunikation im Sinne eines gegenseitigen Austausches, eines „Aufeinanderbezogenseins“ sensibilisiert werden: x x x

Wie habt ihr euch miteinander verständigt, obwohl ihr nicht miteinander sprechen konntet und durftet? Welche Bedeutung/ Funktion hat Sprache für uns? Wie fühlt man sich, wenn man den/die anderen nicht versteht bzw. ihm/ihr nicht verdeutlichen kann, was man möchte?

5.6.3 Spiel 3: Bälle – Kooperative Kommunikation Dieses Spiel ist eine für die Sporthalle adaptierte Version eines Spiels aus dem Fortbildungskonzept „Sport interkulturell“ des Deutschen Olympischen Sportbunds (2011, S. 62). In der Halle sind zahlreiche Gegenstände verstreut auf dem Boden ausgelegt. Jede/r Schüler/in bekommt ein Kärtchen, auf dem eine Aufgabe steht. Diese Aufgabe darf keiner anderen Person mitgeteilt werden. Folgende Aufgaben werden verteilt (je nach Hallenräumlichkeiten müssen die Aufgabenstellungen variiert werden): 1) Lege alle Gegenstände nach draußen auf den Flur! 2) Lege alle Gegenstände zu einem Kreis hin! 3) Lege alle Gegenstände an die Tür! Während des gesamten Spiels darf nicht geredet werden. Alle Schüler/innen sollen nun ihre sich ihre Aufgabe erledigen, das heißt, einige werden die Gegenstände mit nach draußen auf den Flur nehmen, andere versuchen, einen Kreis zu formen, während wieder andere die Gegenstände zur Tür zu transportieren. Im Laufe des Spiels werden die Schüler/innen gegebenenfalls selbst feststellen, dass sie teilweise die gleiche Aufgabenstellung haben. Eventuell kommt es über nonverbale Verständigungsprozesse zu einer Zusammenarbeit von zwei oder gar allen drei Gruppen kommen. Dann wäre das Ergebnis ein mit den Gegenständen geformter Kreis draußen im Flur an der Tür.

5.6 Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie

127

Bezug zu den didaktischen Leitideen Dem Fremden begegnen und Differenzierung der Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Das Spiel simuliert scheinbare Interessengegensätze und zeigt, wie die Schüler/innen mit diesen umgehen. Durch das Ausschalten von gewohnten Kommunikationsformen wird die Verständigung über Gruppenzugehörigkeiten erschwert. Wird allerdings erkannt, dass es nicht nur zu einer intragruppalen, sondern auch zu einer intergruppalen Zusammenarbeit kommen kann, ist die Schaffung eines Handlungsrahmens möglich, welcher gemäß Bender-Szymanski (2002) zu einem „schonenden Ausgleich“ führen kann und die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt. Durch eine differenzierte Wahrnehmung des Eigenen und Fremden könnten binäre Zugehörigkeiten von „Ich – gegen den Rest“ oder „meine Gruppe – andere Gruppen“ durchbrochen werden. Machtkonstellationen: In diesem Spiel wird nicht nur die gegenseitige Abhängigkeit der Schüler/innen für die Zielerreichung simuliert, sondern auch der Umgang mit knappen Ressourcen. Falls die intra- oder intergruppale Verständigung misslingt, kann es zu einem `Kampf´ um Ressourcen kommen. Zum Aushandeln befähigen – Konfliktfähigkeit fördern: Die vertrauten Kommunikationswege stehen bei diesem Spiel nicht mehr zur Verfügung. Erschwerend kommt hinzu, dass die Kinder nicht wissen, ob und welche Personen dieselbe Aufgabe bewältigen müssen. Zunächst scheint es, dass alle Personen gegeneinander spielen, was potenziell zu Frust und Konflikten führen kann. Erst durch (nonverbale) Aushandlungsprozesse kann es zu einer Verständigung kommen. Reflexion der Fremdheitserlebnisse: x x

Wie habt ihr euch miteinander verständigt, obwohl ihr nicht miteinander sprechen konntet und durftet? Welche Aufgaben habt ihr erkannt?

128

5 Die Interventionsstudie x x

Habt ihr es geschafft, eure Aufgabe zu lösen? Warum (nicht)? Hätte es eine Lösung gegeben, die für alle passen würde? Was ist das Besondere an dieser Lösung?

5.6.4 Spiel 4: „Was bedeutet es fremd zu sein?“ Das Spiel „Was bedeutet es fremd zu sein?“ (vgl. Neuber, 1999, S. 122) eignet sich für eine Reihe von Teamsportarten, wobei die Spielidee nachfolgend auf Basketball als beispielhafte Sportart transferiert wird. Zunächst wird Basketball nach den in der Klasse gewohnten Regeln gespielt. Nach einer gewissen Zeit werden von jedem Team jeweils ein bis zwei Kinder aus der Sporthalle geschickt. Die anderen – in der Sporthalle verbliebenen – Schüler/innen vereinbaren währenddessen eine Regeländerung, welche dann auf dem Spielfeld umgesetzt wird (z.B. es muss vor Abspiel mindestens fünfmal geprellt werden). Die nach draußen geschickten Schüler/innen werden wieder in die Sporthalle hereingeholt. Ihnen wird ausschließlich mitgeteilt, dass sie wieder mitspielen dürfen. Die dringebliebenen Kinder dürfen die Regeleinführung den nach draußen geschickten Kindern nicht mitteilen oder erklären. Verstößt nun jemand gegen die neu eingeführte Spielregel, wird das Spiel unterbrochen und die gegnerische Gruppe erhält den Ball. Die Wahrscheinlichkeit, dass die nach draußen geschickten Schüler/innen die Regel überschreiten ist aufgrund der Unwissenheit über die Regeländerung hoch. Wichtig ist auch, alle Dringeblieben dafür zu sensibilisieren, dass die nach draußen geschickten Kinder nicht zum Gespött der Klasse werden. Bezug zu den didaktischen Leitideen Dem Fremden begegnen und Machtkonstellationen: Vor allem die nach draußen geschickten Spieler/innen erleben sehr eindrücklich, was es bedeutet `fremd´ zu sein und (Verhaltens-)Regeln nicht zu kennen. Die nach draußen geschickten Kindern besitzen im Gegensatz zu den in der Halle verbliebenen Kindern kein Wissen um die neu eingeführten Regeln. Diese Machtressource definiert somit Gruppenzugehörigkeiten, die sich in `Insider´ (Wissen um Regeländerung) und `Outsider´ (kein Wissen um Regeländerung) gliedern lassen kann.

5.6 Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie

129

Zum Aushandeln befähigen/ Förderung von Konfliktfähigkeit: Für die Schüler/innen, die die Regelveränderungen durchführen, werden Anforderungen an die Kooperations-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit gestellt. Hierbei muss sich die ganze Klasse über (kleinere) Spielveränderung einig sein, sie verstehen und umsetzen. Falls ihre Idee nicht funktionieren sollte, müssen neuen Lösungen gesucht werden. Reflexion von Fremdheitserlebnissen: Das im Spiel methodisch erzeugte Erleben von Nicht-Zugehörigkeit und das Gefühl, in ungerechtfertigter Weise sanktioniert zu werden, können zu einer emotionalen Beteiligung der Kinder führen. Die Eindrücke der nach draußen geschickten Schüler/innen könnten ebenso wie verschiedene Handlungsstrategien in der Reflexion aufgegriffen werden: x x x

x x

Wie war es für euch, nach draußen geschickt zu werden, ohne dass ich einen Grund dafür genannt habe? Wie war es, wieder zurück in das Team zu kommen? Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr `ausgepfiffen´ wurdet? Was hättet ihr am liebsten getan/gesagt? Könnt ihr eure Gefühle den anderen beschreiben? Wie habt ihr reagiert? Gab es für euch alle schon einmal eine Situation, in der ihr nicht wusstet, wie ihr euch verhalten sollt? Was waren das für Situationen?

5.6.5 Spiel 5: Das Regelspiel

47

Es wird zunächst beispielsweise Basketball nach gewohnten, aber gegebenenfalls vereinfachten Regeln begonnen (z.B. Ausblendung von Schrittfehlern). Hat eine Gruppe einen Korb erzielt, so darf das entsprechende Team eine Regel verändern oder eine neue Regel aufstellen. Wird erneut ein Korb erzielt, so dürfen wieder neue Regeln generiert werden. Nach diesem Spiel erfolgt eine Reflexion des Erlebten.

47

Modifiziert nach einem Spiel aus dem Fortbildungskonzept „Sport interkulturell“ des Deutschen Olympischen Sportbundes (2011, S. 112-113)

130

5 Die Interventionsstudie

Bezug zu den didaktischen Leitideen Zum Aushandeln befähigen/Förderung der Konfliktfähigkeit: Durch eine Vielzahl von Regeln werden der Alltag und das Zusammenleben in der Gesellschaft gesteuert. Verschiedene Kulturen besitzen ebenfalls unterschiedliche explizite und implizite (Verhaltens-)Regeln. Da Kultur dynamisch ist, sind Regeln prinzipiell veränder- und verhandelbar. Die Generierung neuer Regeln muss gemeinsam in der Gruppe ausgehandelt werden. Machtverhältnisse: Die Spiellogik besteht darin, dass die Gruppe, die einen Korb erzielt, die Definitionsmacht über das Spiel durch die Etablierung neuer Regeln erhält. Die Frage stellt sich, nach welchem Kriterium die Schüler/innen der jeweiligen Gruppe die neuen Regeln aufstellen und ob durch die Regelaufstellung ein gleichberechtigtes Spiel für alle möglich ist. Es sollte beobachtet werden, in welchem Rahmen sich die Regeländerungen mit all der Freiheit bewegen werden und wie diese Regeländerung von der Gruppe ohne Mitspracherecht aufgenommen wird. Reflexion von Fremdheitserlebnissen: Die kritische Thematisierung von Machtverhältnissen im Sinne davon, dass eine bestimmte Gruppe über Regeln bestimmen darf, steht im Fokus der Reflexion. Da Schüler/innen bei diesem Spiel die Regeländerungen vornehmen, kann im Vornherein nicht angenommen werden, dass es zu einer die eigene Macht ausnutzenden Regeländerung eines Teams kommt. Falls dies der Fall ist, bietet es sich an, diese vorteilnutzende Strategie zu thematisieren. x x x x

Wie habt ihr die Regeln entwickelt? Welche Regeln wurden aufgestellt? Galten diese immer für alle? Hatte irgendeine Gruppe Vor- bzw. Nachteile durch die neuen Regeln? Transfer: Wer bestimmt die Regeln des Zusammenlebens in einer Gruppe?

5.6 Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie

131

5.6.6 Spiel 6: „Bewusstes Ignorieren“ Bei diesem Spiel wird zunächst ein Sportspiel (z.B. Basketball) nach gewohnten Regeln gespielt. Nach einiger Zeit müssen je zwei Schüler/innen pro Gruppe die Halle verlassen. Den `dringebliebenen´ Kindern wird mitgeteilt, dass sie die nach draußen geschickten Mitschüler/innen im weiteren Spielverlauf nicht mehr in das Spiel einbeziehen sollen. Das Anspielen der nach draußen geschickten Schüler/innen soll demnach vermieden werden. Die nach draußen geschickten Personen werden wieder in die Sporthalle geholt und wissen nicht, dass sie nun von ihren `Mitspieler/innen´ bewusst ignoriert werden. Bei der Auswahl der nach draußen geschickten Kinder ist zu beachten, dass es sich um Schüler/innen handeln sollte, die sowohl als eher sportlich einzuschätzen sind als auch eine 48 weitestgehend `gesicherte Position´ innerhalb der Klasse besitzen. Bezug zu den didaktischen Leitideen Dem Fremden begegnen und Machtverhältnisse: In der Annahme (und pädagogischen Verantwortung), dass Schüler/innen nach draußen geschickt werden, die eine gesicherte Rolle im sport- als auch klassenbezogenen Kontext inne haben, kann eine „Verschiebung der Zugehörigkeitsordnungen“ (Mecheril, 2004, S. 223) erreicht werden. Jene Schüler/innen erfahren in diesem Kontext eine bisher unvertraute Nicht-Zugehörigkeit. Durch die bewusste Exklusion der Schüler/innen aus dem Spielgeschehen sind die hierarchischen Grenzen eindeutig gesetzt. Reflexion der Fremdheitserfahrungen: Das im Spiel methodisch erzeugte Erleben von Nicht-Zugehörigkeit von Kindern ist aus pädagogischer Sicht besonders heikel. Die Spielidee 48

Es wurde darauf geachtet, dass vor allem Schüler/innen, die im gesamten Klassengefüge relativ beliebt und motorisch leistungsfähig sind, in eine (sportunterrichtsbezogene) `Außenseiterposition´ gebracht werden. Die Auswahl der Schüler/innen für dieses Spiel erfolgte in Absprache mit der Sportlehrkraft, die das Klassenklima und die sozialen Beziehungen zwischen den Schüler/innen besser einschätzen konnte als die externe Lehrkraft. Die soziale Position der einzelnen Kinder wurde auch durch die in der quasiexperimentellen Studie miterhobenen Soziogrammdaten erfasst. Die ausgewählten Kinder besaßen im Durchschnitt eine beliebtere Position innerhalb des Klassengefüges.

132

5 Die Interventionsstudie

muss aufgeklärt werden und die nach draußen geschickten Schüler/innen müssen die Chance erhalten, ihre Eindrücke, Meinungen und Gefühle äußern zu können. Die Eindrücke der Schüler/innen, die die nach draußen gesandten Spieler/innen ausgegrenzt haben, können ebenfalls aufgegriffen werden. Mögliche Reflexionsfragen sind: x x x x

Was ist passiert als ihr wieder zurück in das Team gekommen seid? Was hättet ihr am liebsten bei diesem Spiel getan/gesagt? Könnt ihr eure Gefühle den anderen beschreiben? Wie war es für die Dringebliebenen, dass ihr einzelne Personen bewusst ausgrenzen solltet? Warum fandet ihr das gut/schlecht? Kennt ihr andere Situationen, in denen Menschen andere ausgrenzen?

5.6.7 Spiel 7: Spiel erfinden mit eigenem Regelwerk (Bafa BafaSpiel) Das Spiel orientiert sich an dem sogenannten Bafa Bafa-Spiel von R. Garry Shirts (vgl. Review von Dunn & Wozniak, 1976), das ursprünglich als Trainingsprogramm für die Vorbereitung eines Auslandsaufenthalts von Navy-Mitgliedern konzipiert wurde. Dieses Simulationsspiel wurde von der Arbeitsgruppe des Forschungsprogramms der Interkulturellen Bewegungserziehung auf den sportunterrichtlichen Kontext transferiert: Die Klasse wird in zwei Teams eingeteilt. Auch die Sporthalle wird zweigeteilt und entweder über einen Trennvorhang oder durch einen selbstkonstruierten `Sichtschutz´ (z.B. Barren mit großen Weichbodenmatten) getrennt. Auf jeder Hallenhälfte befinden sich verschiedene Materialien, aus denen die Schüler/innen der jeweiligen Teams ein Spiel mitsamt Regelwerk entwickeln und spielen sollen. Die Variation der Materialien ist beliebig groß, die Zusammensetzung kann unterschiedlich komplex gestaltet und den Rahmenbedingungen angepasst werden. Die beiden Teams entwickeln nun unabhängig voneinander ihre Spielidee und erproben diese innerhalb ihrer eigenen Gruppe. Die beiden erfundenen Spiele sollen je ein `Gruppengeheimnis´ bleiben. Nach der Erprobung des Spiels wechseln jeweils zwei Schüler/innen in die jeweils andere Kleingruppe und versuchen, sich dort in das Spiel zu integrieren, ohne

5.6 Sportunterrichtliche Inhalte und Ziele der Studie

133

sich die Regeln erklären zu lassen. Nach einigen Minuten gehen die Schüler/innen wieder in ihre eigene Kleingruppe zurück und andere Schüler/innen tauschen die Gruppen, bis alle Schüler/innen das Spiel der anderen erlebt haben. Bei den Rückwechslungen muss erneut betont werden, dass die Eindrücke und Regeln des anderen Spiels nicht in der eigenen Gruppe verraten werden. Bezug zu den didaktischen Leitideen Zum Aushandeln befähigen/ Förderung von Konfliktfähigkeit: Die Offenheit der Bewegungsaufgabe impliziert Aushandlungs-, Kooperations- und Kommunikationsprozesse zwischen den Schüler/innen. Sie müssen sich zunächst einmal in ihren Kleingruppen auf ein Spiel und dazu passende Regeln einigen. Sie müssen argumentieren, ihren eigenen Standpunkt vertreten und gleichzeitig die Ansichten anderer anhören, abwägen und ggf. ihre eigene Ansicht hinten anstellen. Dabei kann es zu Konflikten kommen. Die Schüler/innen erleben aber gleichermaßen die Verhandelbarkeit von Regeln für ein harmonisches Zusammenspiel. Dem Fremden begegnen und Machtverhältnisse: Der Wechsel in eine andere `Spielkultur´, deren Regeln unbekannt sind, kann Fremdheitsgefühle hervorrufen. Die Schüler/innen verlassen ihren vertrauten Raum, an deren Ausgestaltung sie mitbeteiligt waren (Erfahrung von Zugehörigkeit) und müssen sich mit Regeln und Verhaltensweisen einer anderen Kleingruppe auseinandersetzen. Demnach gehören die Schüler/innen in ihrer `Stammgruppe´ zu denjenigen, die das Spiel und seine Regeln kennen. In der `Wechselsituation´ sind die Schüler/innen (zunächst) in Positionen mit geringer Wissens- und Machtrate. Selbstrelativierung des Eigenen und Differenzierung der Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Das Erleben anderer Spielregeln bietet Gelegenheit, die eigenen Regeln als eine Möglichkeit von vielen zu sehen. Eigenes kann hinterfragt und auf Vor- und Nachteile gegenüber dem Anderen geprüft werden. Durch die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und Fremden kann eine differenzierte Wahrnehmung beider Spiel- und Regelformen erfolgen. Je nach

134

5 Die Interventionsstudie

erfundenen Spielen der einzelnen Gruppen können gegebenenfalls gemeinsame Elemente in den beiden Spielformen erkannt werden. Reflexion der Fremdheitserlebnisse: Die Reflexion fokussiert vor allem die gemachten Erlebnisse und Umgangsweisen, die nach dem Wechsel in die neue `Spielkultur´ gemacht bzw. gezeigt wurden: x x x x 5.7

Wie habt ihr euch in der jeweils anderen Gruppe gefühlt? Was habt ihr nach dem Wechsel gemacht? Wie habt ihr versucht, mitzuspielen (oder auch nicht)? Was waren die Regeln der jeweils anderen Gruppe? Welche Bedeutung haben Regeln?

Anknüpfungspunkte der empirischen Studie an theoretische Überlegungen zum Umgang mit Fremdheit

Die identitätstheoretischen und sozialpsychologischen Annahmen zum Umgang mit Fremdheit, wurden von Grimminger (2009) in ein Modell überführt (vgl. Kapitel 4.5), welches Anknüpfungspunkte sowohl für die inhaltliche Gestaltung der Studie als auch die unterschiedlichen Analysefokusse der empirischen Untersuchung bietet. Gemäß dem Modell ist der Ausgangspunkt der Initiierung von Fremdheit die Wahrnehmung einer Differenz, durch die die eigene Identität aktualisiert wird. Der Schritt einer Bewusstmachung des Selbst wird durch pädagogisch inszenierte Fremdheitsspiele zu initiieren versucht. Durch diese Spielformen, die sich an den didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung von Gieß-Stüber (u.a. 2003) orientieren, soll die Selbstverständlichkeit des `gewohnten´ Spiels oder der `gewohnten´ Position durchbrochen bzw. neue, für die Schüler/innen noch unbekannte, Spielformen gewählt werden. Das noch Unbekannte oder das Ungewohnte des Vertrauten sollte den modelltheoretischen Kreislauf einer Wahrnehmung von Differenz initiieren. In der theoretischen Vorstellung führen die didaktisch inszenierten Spielformen für Schüler/innen zu subjektiv bedeutsamen Erlebnissen, was eine wahrgenommene (neutrale) Differenz von einem emotional gefärbten Fremdheitserlebnis unterscheidet. In jedem Fall werden die

5.7 Anknüpfungspunkte der Studie

135

Schüler/innen auf die didaktischen Inszenierungen reagieren. Die Umgangsweisen der Schüler/innen mit dem potenziell provozierten Fremdheitserlebnis werden videographisch aufgezeichnet und bilden den ersten Analysefokus der Studie. Es geht darum, systematisch zu analysieren, wie Schüler/innen mit unterschiedlich intendierten Fremdheitsspielen auf beobachtbarer Ebene umgehen. Die Analyse der jeweiligen beobachtbaren Handlungsstrategien der Schüler/innen auf pädagogisch inszenierten Fremdheitsspielen erfolgt bis zur Beendigung des Spiels. In dieser Phase werden Schüler/innen die Spielsituation auch kognitiv-reflexiv einordnen und verarbeiten. Solche kognitiven Verarbeitungsmechanismen seitens der Schüler/innen bleiben für Forscher/innen in diesem situativen Kontext zunächst verborgen. Um allen beteiligten Personen die Möglichkeit zu geben, ihre gemachten Erlebnisse, Gedanken und Emotionen zu äußern, wird im Abschluss der jeweiligen Spiele eine Reflexionsgesprächsrunde mit der gesamten Klasse arrangiert. Der Sinn dieser Gesprächsrunden besteht einerseits in der pädagogischen Verantwortung der Sportlehrkräfte, die Schüler/innen bezüglich der eventuell verunsichernden Fremdheitsspiele aufzuklären und die damit verknüpften Erlebnisse aufzufangen und einzuordnen. Andererseits sollen im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung die situativ erlebten Eindrücke in übersituative Kontexte eingebettet werden. Es soll über unterschiedliche Umgangsweisen gesprochen, aber auch ein Nachdenken über kontextuelle und strukturelle Bedingungen, die unterschiedliche Handlungen bedingen, angeregt werden. Dadurch, dass eventuell eine Verknüpfung von dem situativ Erlebten mit anderen außersportunterrichtlichen Situationen vollzogen wird und darüber hinaus über unterschiedliche Mechanismen und Konstellationen dieser Umstände reflektiert wird, könnte im Sinne einer emanzipatorischen Erziehung ein reflexiver Umgang mit fremden Situationen vollzogen werden. Die im Rahmen der Studie methodisch arrangierten Reflexionsgespräche können als zweiter Analysefokus der Studie betrachtet werden. Die Analyse der Reflexionsgespräche eröffnet einen weiteren Zugang zum Umgang mit Fremdheit, da auf einer verbalen Ebene Eindrücke, Emotionen oder Kritiken unmittelbar nach Spielgeschehen geäußert werden können. Zudem kann der verbal-reflexive Zu-

136

5 Die Interventionsstudie

gang unterschiedliche – für Schüler/innen subjektiv bedeutsame – Themen aufdecken und rekonstruieren. Die Anknüpfungspunkte der eigenen Studie an theoretische Überlegungen sind in der Abbildung 4 zusammenfassend dargestellt. 1. Didaktische Inszenierung von Fremdheit gemäß den didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung

2. (Verbal) Reflexive Aufarbeitung

Wahrnehmung der Differenz

Identität

Einordnung

Bedeutungsbeimessung

Analysefokus II: Reflexionsgespräche

Fremdheitserfahrung

Wahrnehmung der Differenz als Fremdheit

Analysefokus I: Handlungsstrategien der Schüler/innen auf didaktisch inszenierte Fremdheit

Handlungsstrategien

Selbstevaluation

Abwägen von Handlungsalternativen

Überführung in sichtbare Reaktionen Situative Handlungsentscheidungen

Potenzielle Einflussfaktoren: Auf struktureller und interaktiver Ebene: Machtverhältnisse Auf individueller Ebene: Einstellungen, bisherige Erfahrungen, Fähigkeiten Abb. 4. Modelltheoretische Vorstellungen zum Umgang mit Fremdheit und Anknüpfungspunkte der eigenen empirischen Studie Anmerkungen: grau hinterlegt = didaktische Inszenierungen; grau schraffiert = Analysefokusse

6

Method(olog)ische Schritte – von der Rekrutierung bis hin zur Auswertungsstrategie

6.1

Methodischer Zugang in das Feld – Organisatorische Angelegenheiten

Die eigene Studie ist in eine sechswöchige quasi-experimentelle Interventionsstudie an drei Realschulen in Baden-Württemberg eingebettet. Für die objektive Beurteilung der geplanten Studie, wurde jeweils ein Antrag auf Bewilligung der Studie an das a) zuständige Regierungspräsidium und die b) Ethik-Kommission der Universität Freiburg gestellt. Das Regierungspräsidium fungiert als Außenstelle der Landesregierung bzw. Landesministerien und überprüft, ob eingereichte wissenschaftliche Studien auch im Interesse des Landes Baden-Württemberg durchzuführen sind. Im Antrag wurden die gesamte Studienkonzeption, sowie der Fragebogen der Interventionsstudie angehängt. Das zuständige Regierungspräsidium meldete sich mit einem positiven Bescheid zur Durchführung der Studie mit Fragebogenerhebung und Intervention mit Videoaufzeichnung zurück. Zur Absicherung der ethischen Unbedenklichkeit der Studie, wurde ein Antrag zur Begutachtung und Beurteilung des Forschungsvorhabens an die Ethikkommission der Universität Freiburg eingereicht. Auch in diesem Antrag wurden die Studienkonzeption, sowie alle Erhebungsinstrumente transparent dargelegt. Mit der Studiengenehmigung durch die Ethik-Kommission wird von dritter und objektiver Stelle bestätigt, dass das Forschungsvorhaben die ethischen Richtlinien und Grundsätze für wissenschaftliche Forschungen erfüllt. Nachdem drei Schulen ihre Studienteilnahme bestätigten, bedurfte es für die Studiendurchführung die Zustimmung eines Erziehungsberechtigten der Schüler/innen. In einem Informationsschreiben wurden neben der groben inhaltlichen Ausrichtung der Intervention (Inhaltsbereich „Spiele spielen“) auch die wissenschaftlichen Erhebungsinstrumente offengelegt. Als Voraussetzung der Studienteilnahme musste von jedem Kind vor der ersten Erhebung eine unterschriebene Erlaubnis von den Erziehungsberechtigten vorliegen. Der Studienteilnahme stimmten alle Erziehungsberechtigten zu. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_6

138

6.2

6 Method(olog)ische Schritte

Auswahl, Begründung und Beschreibung der Stichprobe

Die gesamte Studie wurde mit Schüler/innenn der sechsten Klasse an Realschulen durchgeführt. In diesem Kapitel werden die Auswahl des Alters und die Schulform der Zielgruppe begründet. Am Ende des Kapitels erfolgt eine Deskription der Stichprobe. 6.2.1 Theoretische Auswahl und Begründung der Stichprobe Das Unterrichtsvorhaben bezieht sich auf Schüler/innen der sechsten Klassen (Sekundarstufe I). Die Schüler/innen sind in dieser Jahrgangsstufe in der Regel zwischen elf und zwölf Jahre alt und befinden sich aus entwicklungstheoretischer Sicht an der Schnittstelle der Phase der spä49 ten Kindheit und der frühen Jugend (Schneider & Lindenberger, 2012). Aus entwicklungspsychologischer Sicht eignet sich die Altersgruppe der Elf- bis Zwölfjährigen besonders, da in diesem Alter zunehmend Einstellungen und Wertvorstellungen entwickelt werden und sich diese allmählich verfestigen (Pinquart, 2011, S. 266). Im Hinblick auf die übergeordnete Interventionsstudie mit ihrem primären Ziel der Änderung von Einstellungsmarkern der Heranwachsenden zum Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft, erscheint die Zielgruppe aus methodologischer Sicht besonders geeignet. Da die Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung gegebenenfalls die emotional-affektive Ebene der Schüler/innen tangieren könnten, muss auch die altersentsprechende sozial-emotionale Entwicklung der Heranwachsenden berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang eignet sich die Theorie der Entwicklung des sozialen Verstehens nach Selman (1984), da in dieser Theorie explizit das Interagieren mit anderen in den Ausführungen zur individuellen Entwicklung Berücksichtigung findet. Die erfolgreiche Gestaltung von Interaktionen bedarf der Fähigkeit zur Empathie im Sinne der sozial-kognitiven Fähigkeit, Emotionen und 49

Je nach Klassifikation – beispielsweise der rechtlichen – wird das Jugendalter erst ab dem 14. Lebensjahr definiert. In der Wissenschaft wird allerdings die Phase des Jugendalters oftmals ab dem 12. Lebensjahr festgelegt – wie auch die Shell-Studie als die größte empirische Jugendstudie Deutschlands zeigt (Albert, Hurrelmann, Quenzel & TNS Infratest Sozialforschung, 2015).

6.2 Stichprobe

139

Beweggründe anderer zu verstehen und zu interpretieren. Selman (1984) beschreibt die soziale Perspektivenübernahme als eine eigenständige Entwicklungsdimension von Heranwachsenden. Der dynamische Verlauf der individuellen Entwicklung beinhaltet ein zunehmendes Verständnis von Gefühlen und Beziehungen. Die Theorie ist eingebettet in kognitive Theorien, die eine strukturelle Stufenabfolge der Stadien fordern. In diesem Sinne impliziert jede Niveaustufe gegenüber der vorherigen eine qualitative Zunahme von Differenzierung und Integration von Perspektiven. Es kommt somit zu einer hierarchischen Integration der vorausgehenden Stufen des sozialen Verstehens, wobei das Durchlaufen der Niveaustufen als invariant angenommen wird. Nach Selman (1984, S. 5054) durchlaufen Heranwachsende folgende Stufen: Auf Niveau 0 besitzen die etwa 3- bis 8-Jährigen eine egozentrisch-undifferenzierte Perspektive. Die Kinder differenzieren sich selbst und andere nur als physische, nicht jedoch als psychische Identitäten und in Folge dessen bleiben die jeweiligen subjektiven Perspektiven undifferenziert. Kinder in der Niveaustufe 1 (etwa 5 bis 9 Jahre) besitzen eine differenzierte und subjektive Perspektivübernahme. Es erfolgt eine eindeutige Differenzierung der physischen und psychischen Eigenschaften von Personen. Eigene Perspektiven können von denen der anderen unterschieden werden, allerdings schlussfolgert das Kind das subjektive Befinden eines Anderen ausschließlich unilateral aus dessen Äußerem bzw. seinen Handlungen. Auf Niveaustufe 2 sind die ungefähr 7- bis 12-jährigen Kinder zu einer selbstreflexiven und reziproken Perspektivübernahme fähig. Das Kind differenziert bei anderen zwischen äußerer Erscheinung und innerer Realität und ist sich dessen bewusst, dass diese beiden Charakteristika nicht kongruent sein müssen. In dieser Stufe hat das Kind Empathiebewusstsein entwickelt und ist demnach in der Lage, sich in Andere hineinzuversetzen. Zugleich realisiert das Individuum die Reziprozität von Beziehungen und weiß, dass andere Personen sich ebenfalls in die eigene Lage versetzen können. Das Kind erkennt die Möglichkeit des „infiniten Regresses der Perspektivenübernahme“ (Selman, 1984, S. 52).50 Auf der dritten Niveaustufe – der gegenseitigen Perspektivenübernahme – sind die etwa 50

Eingängig veranschaulicht Selman (1984, S. 52) diesen infiniten Regress mit dem Satz: Ich weiß, dass er weiß, dass ich weiß, dass er weiß, …etc. pp.

140

6 Method(olog)ische Schritte

10- bis 15-Jährigen in der Lage, eine sogenannte „Dritte-PersonPerspektive“ (Selman, 1984, S. 53) einzunehmen und abstrakt aus einer zwischenmenschlichen Interaktion herauszutreten. Dann können die eigene und andere Perspektiven reziprok aufeinander bezogen werden. Die letzte Stufe in Selmans (1984) Model beschreibt die tiefenpsychologische und gesellschaftlich-symbolische Perspektivenübernahme, die sich mit ungefähr 12 Jahren bis ins Erwachsenenalter entwickelt. Das Individuum realisiert das Vorhandensein des Unbewussten. Handlungen, Emotionen und Motive sind psychologisch determiniert, aber nicht notwendigerweise von der Person selbstreflexiv erfasst. Die subjektiven Perspektiven werden nicht nur reziprok auf der Ebene gegenseitigen Bewusstseins erörtert, sondern als „simultan auf mehreren, auch tieferen Ebenen der Kommunikation existierend“ (Selman, 1984, S. 54). Neben der theoretischen Ausarbeitung der unterschiedlichen Niveaustufen, hat die Arbeitsgruppe um Selman (1984) verschiedene Validierungsstudien durchgeführt, welche die Stufenabfolge empirisch absichern. Den Ergebnissen zufolge (Selman, 1984, S. 57) können 10Jährige zu 60 % der Niveaustufe 2 zugeordnet werden und zu je 20 % auf Niveau 1 und 3. Das bedeutet für die eigenen Erhebung, dass sich alle Kinder mindestens dem Niveau 1 des sozialen Verstehens zuordnen lassen und demzufolge in der Lage sind, die eigenen Gefühle von denen anderer zu unterscheiden. Gleichzeitig ist die Mehrzahl der Kinder in der Lage empathisch zu handeln, was für den Aufbau eines Empathiebewusstseins bedeutsam ist. Die Differenzierung zwischen eigenen Perspektiven und denen der anderen und das reziproke aufeinander Beziehen ist vor allem für die reflexive Aufarbeitung des gerade Erlebten von Bedeutung. Der Grund für die Auswahl der Schulform Realschule liegt darin, dass Realschulen sozial heterogener sind als Gymnasien. Die Schulform Hauptschule existiert in Baden-Württemberg in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr, da sie in eine sogenannte „Realschule Plus“ umstrukturiert wurde. Deshalb erscheint die Rekrutierung von Realschulklassen für diese Studie aus struktureller Sicht geeignet. Hinzu kommt der Umstand, dass die Interkulturelle Bewegungserziehung explizit ein Konzept für Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund ist. Auch unter diesem

6.2 Stichprobe

141

Gesichtspunkt lässt sich vermuten, dass die Durchführung der Studie in einer sozial heterogenen Klassenstruktur sinnvoll ist. 6.2.2 Beschreibung der Stichprobe Nach der theoretischen Begründung der Auswahl der Stichprobe, wird die Realstichprobe nun näher beschrieben. Insgesamt nahmen an der Erhebung 69 Schüler/innen von drei unterschiedlichen Realschulen teil. In allen drei Klassen stimmten alle Erziehungsberechtigten der Studienteilnahme zu, weshalb alle Schüler/innen der jeweiligen Klassen an der Untersuchung teilnahmen. Alle Schüler/innen besuchten zum Studienzeitpunkt die 6. Klasse und waren im Durchschnitt 11,6 (SD = 0,60) Jahre alt. Die Klassengröße schwankte zwischen N = 17 Schülern und N = 29 Schüler/innen. An Realschule 1 und 2 erfolgte der Sportunterricht koedukativ; an der Realschule 3 monoedukativ (reine Jungenklasse). Die Daten zeigen, dass in den koedukativ unterrichteten Klassen der Anteil der Schülerinnen in Relation zu Schülern höher ist, allerdings sind die Verteilungsunterschiede zwischen den beiden koedukativen Klassen 2 nicht signifikant (χ =0,12; df: 1; p = .73). Auf deskriptiver Ebene gestaltet sich auch der Anteil der Schüler/innen mit Migrationshintergrund unterschiedlich. In Klasse 1 ist der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund am niedrigsten, in Klasse 3 am höchsten. Statistisch sind die Ver2 teilungen zwischen den Klassen allerdings nicht signifikant (χ =3,66; df: 2; p = .16). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die untersuchten Schulklassen. Realschule 1 51

Die Schule dieser Klasse befindet sich in einer Mittelstadt . Die Klasse ist mit 29 Kindern die größte der drei Klassen. Der Sportunterricht wird in dieser Klasse und Schule koedukativ unterrichtet. Mit 19 Mädchen (65,5 51

Als Mittelstadt werden gemäß der Definition des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung Städte zwischen 20.000 und 100.000 Einwohner*innen verstanden. Großstädte umfassen mindestens 100.000 Einwohner*innen: http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/StadtGeme indetyp/StadtGemeindetyp_node.html (letztmaliger Zugriff am 21. Januar 2019)

142

6 Method(olog)ische Schritte

%) und 10 Jungen (34,5 %) ist die Geschlechterverteilung in der Klasse ungleichmäßig zugunsten der Mädchenkohorte. Das Durchschnittsalter der Kinder dieser Klasse beträgt 11,6 Jahre (SD = 0,50). Diese Klasse wird sowohl absolut, als auch relativ von den wenigsten Kindern mit Mig52 rationshintergrund besucht. Der Anteil von Schüler/innen mit Migrationshintergrund beträgt in dieser Klasse 44,8 %, das heißt insgesamt besitzen 13 von 29 Kindern eine Migrationsgeschichte. Diese Klasse wurde vor der Erhebung von einer Sportlehrerin unterrichtet. Realschule 2 53

Die Schule dieser Klasse befindet sich in einer Großstadt . Gemäß dem Sozialatlas dieser Stadt befindet sich die Schule in einem Stadtteil, in dem der Anteil der Arbeitslosen etwas unter dem Durchschnitt der Stadt liegt. Insgesamt besuchen 23 Schüler/innen den koedukativ unterrichteten Sportunterricht, davon 14 Mädchen (60,9 %) und 9 Jungen (39,1 %). Das Durchschnittsalter der Kinder dieser Klasse beträgt 11,5 Jahre (SD = 0,51). Der Anteil von Schüler/innen mit Migrationshintergrund beträgt in dieser Klasse 65,2 %, das heißt insgesamt besitzen 15 von 23 Kindern eine Migrationsgeschichte. Diese Klasse wurde vor der Erhebung von einer Sportlehrerin unterrichtet. Realschule 3 Diese Schule befindet sich in derselben Großstadt wie Realschule 2. Die Arbeitslosenquote in dem Stadtteil dieser Schule ist im Vergleich zur gesamten Stadt deutlich erhöht. Dies lässt auf eine niedrigere soziale Lage der Bewohner/innen des Stadtteils schließen. Der Sportunterricht in dieser Klasse findet geschlechtergetrennt statt. Die 17 Jungen der Klasse sind im Durchschnitt 11,8 Jahre (SD = 0,81) alt. In dieser Klasse befinden sich relativ gesehen die meisten Kinder mit Migrationshintergrund. Der 52

Gemäß dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes (2017) hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst und/oder mindestens ein Elternteil nicht die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt besitzt. Im verwendeten Fragebogen wurde allerdings nicht nach eigener Staatsangehörigkeit bzw. der Staatsangehörigkeit der Eltern gefragt, sondern nach den jeweiligen Geburtsorten, um so Rückschlüsse auf die Staatsangehörigkeit zu schließen.

6.2 Stichprobe

143

Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund beträgt in der Klasse 70,6 %, das heißt insgesamt besitzen 12 von 17 Jungen eine Migrationsgeschichte. Diese Klasse wurde vor der Erhebung von einem Sportlehrer unterrichtet. Tab. 1. Deskriptive Daten der Stichprobe

Institution

N

Organisationsform

männlich (%)

weiblich (%)

Alter in Jahren (SD)

mit Migrationshintergrund (%)

Realschule 1

29

koedukativ

10 (34,5 %)

19 (65,5 %)

11,6 (0,50)

13 (44,8 %)

Realschule 2

23

koedukativ

9 (39,1 %)

14 (60,9 %)

11,5 (0,51)

15 (65,2 %)

Realschule 3

17

monoedukativ

17 (100 %)



11,8 (0,81)

12 (70,6 %)

Total

69

36 (52,2 %)

33 (47,8 %)

11,6 (0,60)

40 (58,0 %)

Zusammengefasst haben alle drei Klassen ihre jeweils spezifischen Rahmenbedingungen, die sich u.a. in der Klassengröße (17 bis 29 Schüler/innen), der Unterrichtsform (monoedukativ vs. koedukativ), der Schullage (Großstadt vs. Mittelstadt; sozial schwächerer vs. stärkerer Stadtteil) und der Anzahl an Kindern mit Migrationshintergrund (44,8 % bis 70,6 %) widerspiegeln. Die unterschiedlichen Daten dienen nicht nur zur transparenten Darlegung der Stichprobe, sondern können gegebenenfalls auch eine Interpretationsfolie für die Ergebnisse darstellen und Argumentationslinien stützen.

144

6 Method(olog)ische Schritte

6.3

Methodologische Begründung und Regeln der Datenerhebung

Die gesamte Arbeit und ihr Erkenntnispotenzial sind dem Denkparadigma der qualitativen Sozialforschung angegliedert. Die qualitative Sozialforschung verfolgt das Interesse, soziale Verhältnisse als Sinnzusammenhänge zu erfassen und somit ein soziales Handeln in dem gegebenen sozialen Kontext zu verstehen. Die Verstehensleistung als Versuch einer Rekonstruktion von subjektiven Deutungsmustern und Sichtweisen baut auf einem interpretativen Paradigma auf und möchte Phänomene und deren Bedeutung differenziert ergründen und verstehen. Ein zentrales Prinzip der qualitativen Forschung stellt das Prinzip der Offenheit dar. Die Offenheit betrifft zum einen die Haltung der Forscher/innen gegenüber dem Forschungsgegenstand und den Interpretationsannahmen. Zum anderen beinhaltet sie auch eine Offenheit gegenüber der konkreten Forschungsmethode. Dies bedeutet, dass der Forschungsgegenstand zur Wahl der konkreten Forschungsmethode und auswertung führt und nach Angemessenheit adaptiert werden kann. Zentral ist hierbei, die Offenlegung der methodologischen Regeln der Datenerhebung. Im Folgenden wird begründet, warum sich die Videographie als zentrale Forschungsstrategie für die Untersuchung des Forschungsgegenstandes eignet. Zudem werden methodologische Regeln der Datenerhebung transparent dargelegt, um darauf aufbauend auf die Auswertungsschritte einzugehen. 6.3.1 Videographie als zentrale Forschungsstrategie Zur Beantwortung der Fragestellung, wie Schüler/innen mit der didaktisch inszenierten Fremdheit im Sportunterricht umgehen, sind vor allem prozessuale Daten von Bewegung, Mimik, Gestik und Sprache bedeutsam. Um die im sportunterrichtlichen Kontext stattfindenden simultanen und sequenziell verlaufenden sozialen Prozesse in ihrer Komplexität und Kontextualität angemessen erfassen zu können, wurde die Videographie als zentrale Forschungsmethode der vorliegenden Arbeit gewählt. Videographisch aufgezeichnete Daten erlauben es, sowohl Bild als auch Ton in Echtzeit aufzunehmen und abzubilden (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 14). Gerade im Hinblick auf die Forschungsfrage können Umgangsweisen mit

6.3 Datenerhebung

145

inszenierter Fremdheit verbal, aber insbesondere auch nonverbal durch Bewegungen, Positionierungen im Raum, Mimik und Gestik der Schüler/innen rekonstruiert werden. Videographie als eine spezielle Form der Ethnographie (Knoblauch et al., 2012, S. 70) hat den Vorteil, dass die aufgezeichneten Daten `konserviert´ werden. Das Videomaterial steht somit auch nach der Erhebungsphase jederzeit zur Verfügung und kann auch während der Analyse repetitiv angeschaut werden. Zudem stehen neben der Möglichkeit des Wiederholens auch weitere technische Mittel wie das Zoomen, Verlangsamen, Beschleunigen oder Stoppen des Videomaterials zur Verfügung, wodurch die Analysen und Beobachtungen in differenzierterer und mikroskopischerer Weise durchgeführt werden können (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 16). Das sportunterrichtliche Geschehen zu beobachten und aufzuzeichnen kann aufgrund der Komplexität der Interaktionen eine herausfordernde Aufgabe für Forschende sein. Ein systematisches und kontrolliertes Sammeln von (relevanten) Daten bedarf methodologischer Regeln, nach denen die kameraführenden Personen der Untersuchung vor der Erhebungssituation geschult wurden. Die methodologischen Regeln und methodischen Schritte der videographischen Datenerhebung werden nachfolgend vorgestellt. 6.3.1.1

Probe-Videographie als bedeutende methodologische Entscheidung

Ein außerstudienbezogenes Videographieren im Rahmen des vor der Studie erfolgten `konventionellen´ Sportunterrichts, verfolgt mehrere Ziele. Ein zentrales Anliegen aus methodischer Sicht ist der sichere Umgang der Forscher/innen mit dem Equipment rund um das Aufzeichnen (Videogerät, Stativ, Akkuladezeiten etc.). Beispielsweise ist ein zu schneller Kameraschwenk, um besondere (Inter-)Aktionen schnellstmöglich festzuhalten zwar gut gemeint, allerdings für die Aufnahmequalität kontraproduktiv. Diese Erfahrungen rund um das Aufzeichnen im Forschungsfeld des Sportunterrichts wurden durch videographische Aufzeichnungen vor der tatsächlichen Datenerhebung gesammelt und reflektiert. Ein weiteres Anliegen der videographischen Aufzeichnung vor Studienbeginn liegt darin, die Schüler/innen an das Medium Videokamera

146

6 Method(olog)ische Schritte

und an das Forscherteam zu gewöhnen. Durch eine Vorlaufphase, in der die Untersucher/innen die Kinder über ihre Rolle als Forscher/innen aufklärten und probeweise mit Videokameras sportunterrichtliche Szenen festhielten, sollten die Kinder auf die wissenschaftlich begleitete Studiensituation vorbereitet werden. Die Offenlegung des wissenschaftlichen Interesses ist eine gezielte Strategie, um den Einfluss der Forscher/innen auf die Kinder zu minimieren und dadurch eine möglichst natürliche Sportunterunterrichtsumwelt zu behalten. Durch diese Strategie wird das Forscherteam laut Krappmann und Oswald (1995, S. 44) „unsichtbar durch Sichtbarkeit“, da die Kinder über die Tätigkeiten und Aufgaben der Untersucher/innen aufgeklärt sind und somit keine aktive Auseinandersetzung aufgrund von Unwissenheit erfolgt. Dieser Leitlinie folgte die Untersuchung. Da der Hauptfokus der videographischen Analyse auf den beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen mit der inszenierten sportunterrichtlichen Fremdheit liegt, können die in der Probevideographie aufgezeichneten Daten zusätzlich im Sinne einer Validierungsstrategie als Vergleichsfolie fungieren: Durch den Vergleich von Umgangsweisen im `konventionellen´ Sportunterricht und denen bei den Interventionsspielen kann valider eingeschätzt werden, ob die Umgangsweisen der Schüler/innen während der Intervention auf die didaktische Inszenierung des Konstruktes Fremdheit bezogen werden können. 6.3.1.2

Kameraposition und Kameraführung für die Erhebung der visuellen Daten

Während der Interventionszeit wurden in jeder Sportstunde zwei Videogeräte verwendet. Das erste Videogerät diente als Fokussierungskamera, die ausgewählte Situationen detaillierter erfasste. Hinter dieser Kamera stand eine geschulte wissenschaftliche Hilfskraft, die sich am Rande der Sporthalle aufhielt. Obwohl die Forscher/innen Maßnahmen berücksichtigten, um einer Verzerrung des Sportunterrichtsgeschehens durch die Forschertätigkeit zu minimieren, wurden verschiedene Umgangsweisen der Schüler/innen mit dem Videogerät und den Filmenden festgestellt. Diese unterschiedlichen Umgangsweisen beeinflussten auch das weitere Vorgehen bei der Datenaufnahme. In Klassen 1 und 3 konnten

6.3 Datenerhebung

147

sich die Filmenden mit der Fokuskamera den Schüler/innen nähern (z.B. bei Reflexionskreisen), ohne dass Schüler/innen – zumindest auf beobachtbarer Ebene – darauf reagierten. In Klasse 2 allerdings nahmen die Schüler/innen eine kritische Haltung gegenüber den Videoaufnahmen 54 ein. Deshalb bewegte sich in dieser Klasse die filmende Person nicht im Raum, sondern verharrte am Rand der Sporthalle und fokussierte stets vom selben Standort sportunterrichtliche (Inter-)Aktionen. Aus theoriegeleiteter und empirisch relevanter Perspektive verfolgte die Fokussierungskamera v.a. die Umgangsweisen von (einzelnen) Schüler/innen direkt nach und während einer didaktisch inszenierten Fremdheitssituation. Technisch wurden spezifische Situationen durch die Veränderung der Kameraausrichtung (Schwenk) und Brennweite (Zoom) detaillierter erfasst. Das an der Studie beteiligte wissenschaftliche Personal studierte vor jeder Sportunterrichtsstunde den Stundenverlaufsplan, in dem der Ablauf der sportunterrichtlichen Inhalte niedergeschrieben war. Demnach konnten sich die Forscher/innen auf baldige, für die Forschungsfrage relevante, Szenen einstellen und vorbereiten. Da Dinkelaker und Herrle (2009) darauf verweisen, dass durch die Veränderung des Kameraausschnitts andere bedeutsame Interaktionen verloren gehen könnten, wurde ein zweites Videogerät – die sogenannte Totalkamera – als fixierte Standkamera auf einem Stativ installiert. Ziel der Totalkameraaufnahmen ist es, das Gesamtgeschehen in der Sporthalle bestmöglich aufzunehmen, sodass Interaktionen kontextualisert werden können und insgesamt die Qualität der Daten erhöht wird (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 22). Aufgrund der Tatsache, dass teilweise auf zwei Feldern gespielt wurde und somit die Fokussierungskamera ausschließlich die Interaktionen eines Spielfeldes aufzeichnen konnte, erwies sich die Aufzeichnung der Totalen als äußerst sinnvoll und nützlich. Diese Kamera wurde je nach räumlichen Gegebenheiten der Sporthalle entweder auf der Tribüne (Klassen 1 und 3) oder im Materialraum (Klasse 2) positioniert. Da diese Standorte den bestmöglichen Gesamtüberblick der Totale boten, wurde in Kauf genommen, dass gegen das Licht (große 54

Diese abwehrende Haltung äußerte sich beispielsweise durch konkrete Äußerungen seitens der Schüler/innen zu den Videoaufnahmen („Müssen wir wieder aufgenommen werden?“).

148

6 Method(olog)ische Schritte

Fensterfront) gefilmt wurde. Ausschließlich einige Bereiche der Sporthalle wie extreme Außenbereiche oder Standorte direkt unterhalb der positionierten Kamera konnten nicht erfasst werden. Allerdings konnten für die Fragestellung relevante Situationen in diesen Bereichen von der beweglichen Fokussierungskamera aufgezeichnet werden. 6.3.1.3

Erhebung von zusätzlichen auditiven Daten

Sowohl die Total- als auch die Fokussierungskamera waren mit integrierten Mikrofonen ausgestattet. Da der akustische Pegel innerhalb der Sporthalle sehr hoch ist, kann das Videomaterial viele Störgeräusche enthalten. Das heißt, gegebenenfalls können nicht alle verbalen Äußerungen der Schüler/innen anhand des Videomaterials reproduziert werden. Für die Beantwortung der Forschungsfrage sind neben verbalen Äußerungen auf Fremdheit auch diejenigen auf nonverbaler Ebene (Gestik, Mimik) bedeutsam. Da die Fokuskamera bei einigen didaktischen Inszenierungen bestimmte Kinder gezielt in Blick nahm, sind deren verbale und nonverbale Umgangsweisen umfangreich erfasst. Der zweite bedeutende Forschungsgegenstand dieser Arbeit betrifft die im Anschluss an das sportunterrichtliche Fremdheitsspiel erfolgten Reflexionsgespräche mit der gesamten Klasse. Für eine möglichst detaillierte Erfassung der Gespräche der Schüler/innen während der Reflexionsphase wurden zusätzlich rein auditive Daten aufgenommen. Dazu trug die Sportlehrkraft ein Tonaufzeichnungsgerät, welches mit einem Clip-on-Mikrofon verbunden war. Das Clip-on-Mikrofon wurde am T-ShirtKragen der Sportlehrkraft befestigt, um auf möglichst unauffällige Art und Weise eine bessere Aufzeichnungsqualität der Reflexionsgespräche erfassen zu können. Durch die zusätzliche Datenerhebung mithilfe des Aufnahmegerätes konnten in Phasen, in denen verbale Prozesse vordergründig sind, die qualitativ hochwertige Aufzeichnung verbaler Äußerungen gewährleistet werden. Außerdem bietet das Tonbandgerät die Möglichkeit, die von der Lehrkraft als interessant identifizierte (Inter-)Aktionen sprachlich zu kommentieren und somit festzuhalten.

6.3 Datenerhebung

149

6.3.2 Erhebungsprotokoll als zusätzliche Informationsquelle Nach jeder Sportstunde wurde von den im Feld tätigen Personen ein Erhebungsprotokoll schriftlich angefertigt. In diesen Protokollen wurden zunächst formale Angaben festgehalten (z.B. Datum, Fehlzeiten bzw. passive Teilnahme von verschiedenen Schüler/innen). Die wichtigste Funktion des nachzubereitenden Protokolls liegt allerdings darin, verschiedene Eindrücke und Besonderheiten der Intervention festzuhalten und zu den einzelnen Inszenierungsspielen zentrale Impressionen festzuhalten. Bemerkungen zur Erhebungsatmosphäre und vorgekommene Irritationen wurden ebenfalls erfasst. Den Erstentwurf des Protokolls erstellte stets die unterrichtende externe Lehrkraft. Danach ergänzte das Forschungspersonal, das die Unterrichtsstunde videographierte, seine Eindrücke zur Stunde. Durch das Festhalten und Verfassen der im Sportunterricht gemachten Eindrücke wurde nochmal über das Unterrichtsgeschehen reflektiert und sich über die Stunde ausgetauscht. Besondere Vorkommnisse innerhalb der Stunden wurden nicht nur zwischen den in der Stunde beteiligten Forscher/innen diskursiv behandelt, sondern im Sinne einer Qualitätsverbesserung auch zwischen den beiden Interventionsleiterinnen regelmäßig diskutiert. Potenziell vorkommende `Stolpersteine´ im Rahmen der Intervention wurden zusammengetragen und gemeinsam nach unterschiedlichen Umgangsmöglichkeiten mit eventuell auftretenden Störungen und Irritationen gesucht. 6.3.3 Umgang mit den Daten Da Videodaten detailreiche Informationen über die in der Studie beteiligten Personen liefern, aber gleichzeitig allen Studienteilnehmer/innen Anonymität zugesichert wurde, muss ein sensibler Umgang mit Videodaten reflektiert und gewährleistet werden. Zur Wahrung der Anonymität der Schüler/innen werden in den textbasierten Transkriptionen nur fiktive Namen verwendet. Die an der Studie teilnehmenden Schulen werden ebenfalls nicht namentlich benannt. Der methodologische Gewinn von Videoaufzeichnungen für die Analyse wurde bereits in Kapitel 6.3.1 dargelegt. Darüber hinaus können auch bei der Ergebnisdarstellung die aus dem Videomaterial gewonnenen Segmente oder Standbilder die eigenen Interpretationsfolien unter-

150

6 Method(olog)ische Schritte

stützen und nachvollziehbar machen. Für die Arbeit werden zu Veranschaulichungszwecken Standbilder aus dem Videomaterial verwendet. Unter Hinzunahme von verschiedenen Bildbearbeitungen (z.B. Anwendung von Filtern oder das Weichzeichnen von Kanten), werden die Gesichter der Schüler/innen unkenntlich gemacht, sodass eine Identifizierung der beteiligten Personen nicht möglich ist. Die Herausforderung bei der Verwendung des empirischen Materials liegt darin, dass Rückschlüsse auf einzelne Personen durch verschiedene Bildbearbeitungen nicht mehr möglich sind, aber gleichzeitig die durch das Bildmaterial rekonstruierbaren Botschaften kenntlich bleiben. 6.4

Auswertungsschritte

Da sich die qualitative Forschungspraxis dadurch kennzeichnet, dass es nicht die Methode und Auswertungsstrategie gibt, sondern diese nach Gegenstandsangemessenheit gewählt werden müssen, ist es umso bedeutender, die einzelnen Schritte bis zur Ergebnisgewinnung transparent und nachvollziehbar darzulegen (Flick, Kardoff von & Steinke, 2012, S. 22). Im Folgenden werden die einzelnen Schritte der Auswertung von sowohl den primär visuellen als auch den auditiven Daten transparent aufgeschlüsselt und offengelegt. 6.4.1 Auswertung der Videodaten Die zentrale Methode dieser Arbeit ist die Videographie. Für die intersubjektive Nachvollziehbarkeit werden die Auswertungsschritte in den folgenden Kapiteln ausführlich dargelegt. Die methodologischen Regeln zur Datenerhebung werden in chronologischer Reihenfolge dargestellt. Insgesamt orientiert sich die Auswertungsstrategie an Arbeiten von Grimminger (2012b, 2013a, 2014), die Anerkennungs- und Missachtungsprozesse von Schüler/innen im Sportunterricht auch anhand von Videodaten untersuchte. Die Auswertungsstrategie kann als eine Verknüpfung einer Segmentierungsanalyse und einer Sequenzanalyse nach Dinkelaker und Herrle (2009) gesehen werden. Nach der Segmentierungsanalyse konnten die Daten im Sinne einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) kategorisiert werden. Die Sequenzanalyse nach Dinkelaker und Herrle (2009), die die sequenzielle Verkettungslogiken

6.4 Auswertungsschritte

151

der beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen analysiert, ähnelt von den Auswertungsschritten der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2011). Zur Einordnung von einigen Interpretationsannahmen, die sich aus den Videoanalysen ergaben, wurden an geeigneten Stellen die in der quasi-experimentellen Studie erhobenen Daten aus dem Sozi55 ogramm als weitere Interpretationsfolie hinzugezogen. Insgesamt wurde in drei Klassen über sechs Wochen hinweg die Sportunterrichtsstunden mit zwei Videogeräten aus zwei unterschiedlichen Perspektiven (Fokus und Totale) aufgezeichnet. Es liegen insgesamt 48 Videoaufnahmen vor, die entweder Einzelstunden (ca. 45 Minuten) oder Doppelstunden (ca. 90 Minuten) umfassen. Alle aufgezeichneten Sportunterrichtsstunden mussten konvertiert werden, um zum einen die Datengröße zu minimieren und zum anderen ein einheitliches und kompatibles Format für die weiteren Analysen mit Windows Movie Maker zu haben. Alle Videos wurden in das mp4-Format konvertiert. 6.4.1.1

Segmentierungsanalyse

Die Segmentierungsanalyse dient dazu, einen Überblick über dem Gesamtverlauf des Interaktionsgeschehens zu verschaffen (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 54) und dieses in zusammengehörige Abschnitte zu untergliedern. Die Analyse des Videomaterials begann mit der Realschulklasse 1 und den Aufzeichnungen der Fokuskamera, da diese ein qualitativ höherwertiges Bildmaterial lieferten. Zu Beginn der Videoanalyse wurde das gesamte Videomaterial mindestens zweimal gesichtet. Dadurch konnte gewährleistet werden, dass unterschiedlichen simultan verlaufenden Interaktionen Beachtung geschenkt wurde. Durch den Einsatz von verschiedenen technischen Mitteln, wie Verlangsamen, Stoppen oder Zurückspulen der Videos, steigerten sich die Beobachtungsmöglich55

Die sozialen Beziehungen der Schüler/innen untereinander wurden im Rahmen der quasi-experimentellen Studie über ein Soziogramm erfasst. Dabei sollten die Schüler/innen für jede/n Mitschüler/in angeben, wie gerne sie drei unterschiedliche soziale Situationen mit ihren Mitschüler/innen erleben möchten: a) gemeinsam ein Referat halten, b) jemanden für eine sportunterrichtliche Staffel wählen und c) über Probleme und Sorgen reden. Dabei haben die Schüler/innen je Situation jede/n Mitschüler/in auf einer fünfstufigen Skala eingestuft: (2) sehr gerne (2), gerne (1), egal (0), nicht so gerne (-1) oder überhaupt nicht gerne (-2). Zudem sollten die Schüler/innen ihre besten Freunde/innen aus der Klasse angeben.

152

6 Method(olog)ische Schritte

keiten der im Sportunterricht stattfindenden Mikroprozesse. In Notizen wurde festgehalten, an welchen Stellen für die eigene Forschungsfrage relevante Interaktionen zu finden sind oder an welchen Stellen Irritationen bei der Forscherin aufkamen. Da die forschungsleitende Frage der Studie die Umgangsweisen der Schüler/innen auf bestimmte Fremdheitsspiele war, konnten die für die eigene Untersuchung relevanten Segmente im Videomaterial identifiziert werden. Durch die Betrachtung der gesamten Videodaten können allerdings die Umgangsweisen der Schüler/innen in einer nicht durch didaktische Inszenierungen gegebenenfalls verfremdeten Situationen ebenfalls beobachtet werden. Jene Aktivitäten in `konventionellen´ sportunterrichtlichen Situationen dienen als Vergleichsumgangsweisen für die Interpretation der Umgangsweisen der Schüler/innen auf Fremdheit. Diese Vergleichsumgangsweisen können als eine Art Validierungsstrategie für die eigene Interpretation dienen. Mit der Software Windows Movie Maker wurden die für die eigene Studie als relevant betrachteten Situationen aus dem Gesamtvideomaterial geschnitten und somit Segmente gewonnen. Diese Segmente wurden anschließend transkribiert. Die methodologischen Regeln für das Erstellen eines Videotranskripts werden nachfolgend dargestellt. 6.4.1.2

Transkription der Videosegmente – Methodologische Regeln

Vor der Analyse der transkribierten Videodaten zu einem Fremdheitsspiel, wurde jeweils ein Transkriptionskopf erstellt, welches als „Identitätskarte“ (Deppermann, 2008, S. 32) des Datenmaterials gesehen wird. Ein Transkriptionskopf verfolgt dreierlei Zwecke: Neben der strukturierten Archivierung des Materials, kann ebenfalls eine bessere Kontextualisierung der Situation erfolgen und bestimmte Angaben können hilfreich für spätere Interpretation sein (Langer, 2010, S. 521). Auf dem Transkriptionskopf werden zunächst allgemeine und relevante Informationen festgehalten (Name der Schule, Stunde, Name des Spieles). Es wird notiert, welche Kinder in der heutigen Stunde fehlten bzw. passiv an der Sportstunde teilnahmen. Anschließend werden spielrelevante Informationen dargelegt, die beispielsweise die Teamzugehörigkeiten der Kinder oder die Namen jener Kinder in spezifischen `Son-

6.4 Auswertungsschritte

153

derrollen´ festhalten. Abschließend werden technische Daten notiert, damit nachvollziehbar ist, in welchem Video und zu welchen Zeitmarkern die Spielsituation angeschaut werden kann. Die Komplexität von Videomaterial ist aufgrund von simultanen und sequenziell verlaufenden (Inter-)Aktionen enorm, weshalb methodologischen Regeln für das Verschriftlichen von audiovisuellen Daten erstellt werden müssen. Zunächst muss einmal die Person identifiziert werden, deren beobachtbare Handlungen im sportunterrichtlichen Fremdheitsspiel verschriftlicht werden sollen. In Videodaten können unterschiedlichen Repräsentationsformen (Ton und Bild) ausgemacht werden (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 32). Das Transkript beinhaltet je nach Möglichkeit Verbal-, Mimik- und Gestiktranskripte und an bedeutsamen Stellen auch die Raumanordnung der Schüler/innen. In diesem Schritt findet eine erste Interpretationsleistung statt. Um die von der Forscherin ausgehenden Interpretationen möglichst gering zu halten, wurde auf eine beschreibende und nicht wertende Sprache bei der Verfassung des Transkripts geachtet. Sowohl die Simultanität als auch die Sequentialität in den Daten findet Berücksichtigung. Bezüglich der Simultanität werden selbstverständlich nicht alle im Videomaterial zu erkennenden simultanen Interkationen transkribiert. An dieser Stelle wurden die für die eigene Forschungsfrage als irrelevant gesetzten simultanen Nebenhandlungen nicht berücksichtigt mit dem Wissen, dass diese Selektion Interpretationen der Forscherin einschließen. 6.4.1.3

Inhaltsanalytische Strukturierung der Segmente

Die für die Forschungsfrage als relevant identifizierten, segmentierten und transkribierten Umgangsweisen der Schüler/innen auf die didaktisch inszenierte sportunterrichtliche Fremdheit wurden anschließend in Anlehnung an Mayring (2010) inhaltlich strukturiert und durch die computergestützte Auswertungssoftware MAXQDA unterstützt. Da sich im Laufe des Analyseprozesses abzeichnete, dass die meisten Schüler/innen in ihrem Umgang mit sportunterrichtlicher Fremdheit unterschiedliche Handlungsentwicklungen und -strategien (i.S. einer Kombination von unterschiedlichen Umgangsweisen) in ihrem sequenziellen Verlauf aufzeigen, wurde entschieden, für die strukturierende inhalt-

154

6 Method(olog)ische Schritte

liche Kategorisierung sensu Mayring (2010) ausschließlich die erste identifizierbare `Startreaktion´ im Sinne des ersten Impulses der Schüler/innen auf den gesetzten Fremdheitsreiz zu verwenden. Für die Analyse der Handlungsentwicklungen eignet sich die darauffolgende Sequenzanalyse (Kapitel 6.4.1.4). Da in diesem Analyseschritt der anfängliche, unmittelbar auf die didaktische Inszenierung von Fremdheit folgende, beobachtbare Umgang der Schüler/innen bedeutsam ist, muss aus methodologischer Sicht entschieden werden, was unter einem `Anfang´ verstanden wird und wann dieser beginnt und endet. Die Bestimmung der anfänglichen Handlungsweisen der Schüler/innen wird anhand von methodischen Einführungen im Rahmen der Interventionsspiele getroffen. Insbesondere nach folgenden sportunterrichtlichen Situationen konnten die ersten Umgangsweisen der Schüler/innen festgestellt werden: 1)

2)

Einführung neuer Regeln: Insbesondere bei den sogenannten `Verfremdungsspielen´, wird auf die erste beobachtbare Reaktion der Schüler/innen geachtet, wenn beispielsweise die Sportlehrkraft in das vertraute Spiel verändernde Regeln einführt. Wechsel in `neue´ Spielsituationen: Bei Spielen, in denen sich Schüler/innen aus dem vertrauten Rahmen in unbekannte Spielsituationen einbringen sollen, wird auf die erste beobachtbare Umgangsweise der Schüler/innen beim `Betreten´ der neuen Spielsituation geachtet.

Das Ende der anfänglichen Umgangsweise kann sowohl strukturell als auch zeitlich determiniert sein. Strukturell zum Beispiel, wenn die Sportlehrkraft eine neue Regel einführt und anschließend die Schüler/innen, die Spielvorbereitungen treffen und auf ihre Felder zurückgehen. Dann ist aus einer analytischen Perspektive der erste Umgang bzw. die `Erstreaktion´ der Schüler/innen auf den gesetzten Reiz im Sinne der Thematisierung der neuen Regel abgeschlossen, da die Schüler/innen mit einer anderen Aufgabe konfrontiert werden. Zeitlich kann festgehalten werden, dass eine erste Auseinandersetzung mit den methodisch erzeugten Bedingungen (z.B. Wechsel auf das neue Spielfeld) in der Regel in den ersten Sekunden nach Betreten deutlich wird.

6.4 Auswertungsschritte

155

Das zentrale Moment der inhaltsanalytischen Technik ist es, das Datenmaterial in einem Raster von definierten Kategorien einzuordnen, um eine Regelhaftigkeit der Kategorisierungen gewährleisten zu können. Damit die Zuordnung eines jeden Materialpartikels trennscharf und im Sinne der Forschungsabsicht objektivierbar ist, schlägt Mayring (2010, S. 76) die Entwicklung eines Kodierschemas bzw. -leitfadens für die strukturierende Inhaltsanalyse vor, anhand dessen überprüft werden kann, ob das zu analysierende Segment die Kriterien der Kategorie erfüllt und ob Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zu den bereits in der entsprechenden Kategorie codierten Segmente vorhanden sind. Der Kodierleitfaden beinhaltet neben der Kodier- oder Kategoriedefinition ein prägnantes Ankerbeispiel aus dem Datenmaterial, welches die Kategorie bestmöglich repräsentiert. Anhand der Formulierung von Kodierregeln, kann vor allem dort wo Abgrenzungsprobleme zwischen Kategorien bestehen eine eindeutige Zuordnung von Textstellen erfolgen. Tabelle 2 legt beispielhaft für eine Kategorie der anfänglichen Umgangsweisen der Schüler/innen mit Fremdheit den Kodierleitfaden dar. In einem ersten Materialdurchlauf (mit der Realschulklasse 1) muss überprüft werden, inwiefern die formulierten Kategoriendefinitionen, Ankerbeispiele und Kodierregeln bei der Anwendung auf das Material greifen. Nach diesem ersten probeweisen Materialdurchgang wird deutlich, an welchen Stellen das Kategoriensystem modifiziert und adaptiert werden muss, um eine adäquate Materialstrukturierung herausarbeiten zu können. In weiteren Durchläufen wurden die beiden anderen Schulen inhaltlich strukturiert, wobei das bisherige Kodierschema gegebenenfalls im Sinne eines iterativen Prozesses modifiziert oder revidiert werden musste, um danach einen endgültigen Durchlauf des gesamten Materials und der inhaltlichen Strukturierung durchzuführen.

156

6 Method(olog)ische Schritte

Tab. 2. Beispielhafter Kodierleitfaden des anfänglichen Umgangs mit Fremdheit mit der Kategoriedefinition, dem Ankerbeispiel und den Kodierregeln Kategorie

Kategoriedefinition

Ankerbeispiel

Kodierregeln

Die selbstständigexplorative Auseinandersetzung

Die Situation erscheint für die Schüler/innen als positive Herausforderung, sodass sie sich unverzüglich bzw. explorativ und aktivfreiwillig auf die situative `Fremdheit´ einlassen.

(Realschulklasse 1; Spiel „Bafa Bafa“)

Diese Kategorie ist durch eine unverzügliche Teilnahme am Spielgeschehen gekennzeichnet. Dies äußert sich durch

6.4.1.4

Sascha betritt das Spielfeld, auf dem ein ihm unbekanntes Spiel gespielt wird. Er rennt sofort zum Spielgeschehen, also dorthin, wo sich der Ball aktuell befindet. Er läuft sich frei, streckt die Arme in die Höhe und ruft bereits auf dem Weg zum Spielgeschehen „Hier! Hier!“

x sich frei laufen und z.B. Ball abwehren, blocken x verbale und gestische Äußerungen, um am Spielgeschehen teilzunehmen In Abgrenzung zur Kategorie „zurückhaltenden Beobachtung“ findet eine unverzügliche (Spiel-)Teilnahme statt.

Sequenzanalyse der Videosegmente

Mithilfe der Sequenzanalyse nach Dinkelaker und Herrle (2009) erfolgte eine Mikroanalyse des vorliegenden Datensatzes. Ziel der Sequenzanalyse ist es, die „sinnstrukturierte[n] Sequenzverläufe in der Abfolge aufeinander bezogener Äußerungen aus[zu]bilden“ (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 75). Hierfür wird eine sequenzielle Kette von Äußerungen schrittweise auf die ihr zugrundeliegenden Verkettungslogiken analysiert (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 52). Die einzelnen Schritte der Sequenzanalyse nach Dinkelaker und Herrle (2009, S. 75-92) werden nachfolgend vorgestellt: (1) Im ersten Schritt wird der Ausschnitt bestimmt, der analysiert werden soll. Dies erfolgte in dieser Studie durch die thematische Eingrenzung des Analysegegenstandes, der den Umgang von Schüler/innen

6.4 Auswertungsschritte

(2)

(3)

(4)

(5)

(6)

157

mit inszenierter Fremdheit in sportunterrichtlichen Spielen umfasst. Durch die zuvor erfolgte Segmentierungsanalyse wurde der zu analysierende Ausschnitt bestimmt. Im nächsten Schritt werden die einzelnen Äußerungen identifiziert, deren sequenzielle Verkettung ergründet werden soll. Der zu untersuchende Text wird in einzelne Sequenzelemente untergliedert. Für diese Untergliederung wird auf eine hierarchische Gliederungsstruktur wie eine Veränderung der Kopfhaltung, Körperausrichtung oder Position im Raum geachtet (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 79). Die Verschriftlichung des bedeutungstragenden Textes sowie des bedeutungsbeeinflussenden Kontextes (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 77) erfolgte bereits bei der Transkription der Segmente. Anschließend wird die erste Sequenz auf ihren möglichen Sinngehalt und die verschiedenen Lesarten untersucht. Um die Bedeutung des ersten Sequenzelements zu verstehen, wird dieses aus dem Interaktionszusammenhang dekontextualisiert (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 81). Ohne Vorwissen über den kontextuellen Zusammenhang werden mögliche Bedeutungsgehalte des Sequenzelements ausgelotet. Vor dem Hintergrund der gebildeten Lesarten werden unterschiedliche Anschlussoptionen und Möglichkeiten abgewogen. Die Anschlussäußerungen ergeben sich aus den in Schritt 3 ausgeloteten Bedeutungsgehalten des ersten Elements. Erst danach wird das nächste Sequenzelement näher betrachtet und danach analysiert, welche tatsächliche Anschlussoption gewählt wurde bzw. welche nicht. Anhand dieses Erkenntnisgewinns können bisher entwickelte Lesarten erweitert, modifiziert oder verworfen werden. Die alternierende Vorgehensweise des Eruierens von potenziellen Anschlussoptionen und der Konfrontation mit dem folgenden Sequenzelement, wird solange fortgesetzt, bis eine stabile Hypothese über das Muster gebildet werden kann, nach welchem sich die einzelnen Sequenzen aneinander anschließen. Die entwickelte Strukturhypothese wird anschließend anhand des weiteren Interaktionsverlaufs überprüft.

158

6 Method(olog)ische Schritte

(7) In einem letzten Schritt werden die Interpretationsansätze der Sequenzanalyse mit dem vorhandenen Kontextwissen konfrontiert (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 90). In einer anschließenden komparativen Analyse kann die in der Sequenzanalyse herauskristallisierte Strukturhypothese über den Untersuchungszusammenhang geprüft und differenziert werden (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 110). Je nach Segment wurde zudem eine Konfigurations- und/oder Konstellationsanalyse durchgeführt. Bei der Konfigurationsanalyse wird die „Gesamtordnung des Gleichzeitigen, des sichtbaren Interaktionsraums, rekonstruiert“ (Dinkelaker & Herrle, S. 64) und somit der räumliche Gesamtzusammenhang der Interaktion zu einem bestimmten Zeitpunkt differenziert analysiert. Durch Positionierungen und Ausrichtungen der Beteiligten in einem Interaktionsraum, können beispielsweise kollektive Aufmerksamkeitszentren ermittelt werden oder die durch räumliche Anordnungen interaktiv hergestellten Beteiligungsmöglichkeiten analysiert werden (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 64). Im Rahmen der Konstellationsanalyse wird der Sinngehalt von (simultanen) Äußerungen wie Körperhaltung, Gestik und Mimik ausgelotet. Um mögliche Sinngehalte des zu untersuchenden Konstellationselements bestimmen zu können, wird es dekontextualisiert und in einem Gedankenexperiment werden potenzielle Kontexte ausgelotet, in denen die Äußerungen sinnvoll auftreten könnten. Durch die Konfrontation der unterschiedlichen Lesarten mit dem tatsächlichen Kontext der Äußerung können strukturelle Besonderheiten der spezifischen Konstellation erschlossen werden (Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 93). Die in der Studie durchgeführten Auswertungsschritte sind in Abbildung 5 zusammengefasst.

Klasse 3 (monoedukativ) Lehrkraft B

Gleiche „Fremdheitsspiele“

Klasse 2 Lehrkraft B

Gleiche „Fremdheitsspiele“

Klasse 1 Lehrkraft A

Kontext

Identifikation und inhaltliche Segmentierung der (anfänglichen) Umgangsweisen mit inszenierter Fremdheit

Identifikation, inhaltliche Segmentierung und inhaltliche Strukturierung der (anfänglichen) Umgangsweisen mit inszenierter Fremdheit

Komparative Analyse: Ggf. Revidierung und Erweiterung der Kategorien und Muster

Kategorisierung und Musterbildung der anfänglichen Umgangsweisen (zusätzliche Validierung)

Analysestrategie des Videomaterials

Sequenzanalyse (ggf. Konstellationsanalyse, Konfigurationsanalyse) der Umgangsweisen mit inszenierter Fremdheit

6.4 Auswertungsschritte 159

Abb. 5. Zusammenfassende graphische Darstellung der Analysestrategie des Videomaterials

160

6 Method(olog)ische Schritte

6.4.2 Auswertung der auditiven Daten Reflexionsgespräche können als besondere Form von Kommunikationssituationen gesehen werden. Es handelt sich hierbei um eine Gesprächssituation, welche im offiziellen (Sport-)Unterricht stattfindet und an der 56 prinzipiell die gesamte Klasse beteiligt ist. Die Gesprächssituation ist durch bestimmte Vorgaben seitens der Lehrkraft charakterisiert, die beispielsweise in der Regel die Reflexion eröffnet, bestimmte Fragen stellt und Schüler/innen für einen Redebeitrag aufruft. In diesem Sinne handelt es sich bei Reflexionsgesprächen im schulischen Kontext nicht um eine Gruppendiskussion, bei der meist eine kleinere Personengruppe mehr oder weniger frei über bestimmte Themenbereiche redet. Vielmehr können Reflexionsrunden im schulischen Kontext als eine Art semistrukturiertes Gruppengespräch zusammengefasst werden. Da es zu Reflexionsgesprächen (nach bisherigem Wissensstand) bislang keine in der Fachwissenschaft durchgesetzte Auswertungsmethode gibt, ist die Offenlegung der einzelnen Auswertungsschritte von großer Bedeutung. 6.4.2.1

Erstellen eines Audiotranskripts

Die Datenbasis bilden die mit der gesamten Klasse durchgeführten Reflexionsgespräche nach den einzelnen Fremdheitsspielen, wobei sowohl die Video- als auch die Audiodaten für die Transkription verwendet werden. Die Videodaten bieten einen methodischen Gewinn, da dadurch auch Gestik, Mimik und Raumverhalten oder weitere soziale Interaktionen in das Transkript als ergänzende Interpretationsfolie aufgenommen werden können. Das Transkript verschriftlicht das Gespräch in chronologischer Reihenfolge und macht dadurch das gesprochene Wort für wissenschaftliche Analysen dauerhaft in Schriftsprache verfügbar. Ein Transkript gibt niemals eine originalgetreue Kopie des aufgezeichneten Gesprächs wieder, sondern ist als „spezifische wissenschaftliche Konstruktion“ (Langer, 2010, S. 516) zu verstehen. Deshalb ist es von Bedeutung, die in der eigenen Studie verwendeten Transkriptionsregeln transparent darzule56

Die Personen sind zumindest anwesend und haben prinzipiell die Chance sich an dem Gespräch zu beteiligen.

6.4 Auswertungsschritte

161

gen, sodass eine intersubjektive Deutung des Gesprächs mit in dieser Studie berücksichtigten Lauten und non-verbalen Äußerungen möglich ist und die im Ergebnisteil aufgezeigten Ankerbeispiele besser kontextualisiert und nachvollzogen werden können. Zunächst wird in Anlehnung an Deppermann (2008, S. 32) der Transkriptionskopf erstellt, welcher grundlegende Informationen zu den Aufnahme- und Gesprächsdaten, der Siglenzuordnung aller Sprecher/innen, eine Raumskizze und eine Skizze der Anordnung der Gesprächsrunde sowie ggf. allgemeine Bemerkungen zu dem Datenmaterial besitzt. Für eine bessere Strukturierung des Textes wird das Gesprächstranskript mit Zeilennummern versehen, die auch für die Orientierung im Text, für Diskussionen in Forschungsgruppen und für die Verwendung einzelner Textpassagen notwendig sind (Langer, 2010, S. 522). Mit dem Prozess des Transkribierens beginnt quasi die Auswertung des Datenmaterials, da das Transkribieren bereits als „Erkenntnis- und Bearbeitungsprozess“ (Langer, 2010, S. 517) gesehen wird, in dem bereits erste Assoziationen, Irritationen, Fragen oder Auswertungsideen festgehalten werden können. Die Kennzeichnung des Sprechenden wird am Anfang der Aussage durch die vorher definierten Siglen festgelegt. Als Schriftart wird eine äquidistante Schriftart – Courier New – gewählt, das heißt alle Zeichen dieser Schriftart bekommen einen gleichgroßen Platz zugewiesen. Die Äquidistanz ist sinnvoll, um simultan Gesprochenes genau `platzieren´ zu können (Hagemann & Henle, 2014, S. 6). Viele Transkriptionssysteme sehen eine grundsätzliche Kleinschreibung vor, da Großbuchstaben oftmals für Betonungen verwendet werden. Langer (2010, S. 522) greift nicht darauf zurück, sondern empfiehlt die Standardorthographie, wobei betont gesprochene Passagen im Transkript unterstrichen werden. Ihrer Empfehlung folgend, werden in den nachfolgenden Transkripten Groß- und Kleinschreibung für eine bessere Lesbarkeit konventionell genutzt. Weitere wichtige Transkriptionsregeln – die in vielen erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen angewandt werden – werden von Langer (2010. S. 523) zusammengestellt, an denen sich bei der Transkription ebenfalls orientiert wurde (siehe Tabelle 3).

162

6 Method(olog)ische Schritte

Tab. 3. Transkriptionsregeln

()

Unverständliche Passage; die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer

(schwer zu verstehen)

Unsichere Transkription; vermutete Äußerung in der Klammer

(.)

Sehr kurze Pause

(3)

Pause in Sekunden

betont

Betont gesprochen

Da sagt der: „Komm her“

Zitat innerhalb der Rede

gegan-

Wortabbruch

[

Überlappung von Redebeiträgen bzw. direkter Redeanschluss

[lacht] [Interviewpartner sehr aufgewühlt] 6.4.2.2

scheint

Para- oder nonverbaler Akt sowie auch Anmerkungen des/r Transkribierenden

Inhaltsanalytische Strukturierung der Reflexionsgespräche

Die einzelnen Reflexionsgespräche zu den jeweiligen Fremdheitsspielen wurden inhaltlich danach strukturiert, welche Themen Schüler/innen im Hinblick auf die didaktisch inszenierten sportunterrichtlichen Fremdheitsspiele explizieren. Für die inhaltliche Strukturierung der Reflexionsgespräche zum Umgang mit Fremdheit wurde ebenfalls ein Kodierschema bzw. -leitfaden entwickelt, anhand dessen überprüft werden konnte, ob die jeweiligen Textpassagen die Kriterien der Kategorie erfüllen und ob Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zu den bereits in der entsprechenden Kategorie kodierten Segmenten vorhanden waren (Mayring, 2010, S. 76). Die Kategorien wurden teilweise deduktiv entwickelt, da bestimmte Themen (zum Beispiel der außersportunterrichtliche Transfer von Fremdheit) bereits durch die vorstrukturierten Reflexionsfragen erwartet wurden. Allerdings war die Verfasserin während des gesamten Kategorisierungsprozesses offen für weitere sich induktiv entwickelnde Kategorien, zudem erfolgten im Sinne eines iterativen Prozesses immer wieder Differenzie-

6.4 Auswertungsschritte

163

rungen und Verfeinerungen der einzelnen Kodierdefinitionen und -regeln. Das Grundprinzip der Offenheit wurde während der gesamten Auswertungsphase mitreflektiert und berücksichtigt. Wie bereits bei den Videodaten, wurden zunächst alle Reflexionsgespräche der Realschulklasse 1 codiert. Sukzessiv wurden die Gespräche der beiden anderen Schulen in die Analysen einbezogen, wobei das bisherige Kodierschema gegebenenfalls modifiziert oder revidiert werden musste, um anschließend einen endgültigen Durchlauf des Datenmaterials anhand des im iterativen Prozess verfeinerten Kodierschemas durchführen zu können. 6.4.2.3

Sequenzanalyse der Reflexionsgespräche

Die inhaltliche Kategorisierung der Reflexionsgespräche nach der inszenierten sportunterrichtlichen Fremdheit zeigt primär auf, welche Themen die Schüler/innen bei der sprachlichen Verarbeitung der didaktisch inszenierten Fremdheitsspiele aufgreifen. Ein weiteres Forschungsinteresse liegt in der Rekonstruktion des sequenziellen Verlaufs der Reflexionsgespräche, um Aussagen darüber treffen zu können, inwiefern die einzelnen (vorformulierten) Gesprächsangebote der Sportlehrkraft von den Schüler/innen angenommen bzw. verworfen wurden. Anhand der Analyse der sequenziellen Struktur der Reflexionsgespräche zu den unterschiedlichen Fremdheitsspielen können gemeinsame bzw. unterschiedliche Gesprächshorizonte der am Gespräch beteiligten Personen rekonstruiert werden. Die Analyse der Reflexionsgespräche orientiert sich ebenfalls an der in der Videoanalyse durchgeführten Sequenzanalyse. Das Gespräch wird in Sequenzelemente untergliedert und der Verlauf und die Anschlüsse der einzelnen Elemente rekonstruiert. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die „Rekonstruktion der Diskursorganisation“ (Loos & Schäffer, 2001, S. 64) gelegt. In diesem Sinne wird die Art und Weise mitreflektiert, in der die einzelnen Sprecher/innen Bezug aufeinander nehmen. Durch die Auslotung und Überprüfung von hypothetischen als auch tatsächlich eingetroffenen Anschlussoptionen, können (nicht) wahrgenommene Bezüge und dargebotene Handlungs- bzw. Gesprächsverkettungen analysiert und die Handlungslogiken mit den ihnen zugrunde liegen-

164

6 Method(olog)ische Schritte

den Sinnstrukturen der unterschiedlichen Akteure rekonstruiert werden. Durch die Rekonstruktion und Aufschlüsselung verschiedener handlungsleitender sprachlicher Diskursorganisationen können Thesen über den Gesprächsverlauf und -diskurs formuliert werden, welche im nachfolgenden Sequenzverlauf stabilisiert, modifiziert oder verworfen werden. Anhand der komparativen Analyse können die in der Sequenzanalyse identifizierten Hypothesen über weitere Klassen und Situationen hinweg überprüft und gefestigt werden. Als weitere Interpretationsfolie wird auch das bildgebende Material der Videodaten hinzugenommen, anhand dessen verschiedene Konstellationen und Konfigurationen der Schüler/innen innerhalb der Reflexionsgespräche mitanalysiert und -reflektiert werden können. Dadurch kann der sequenzielle Verlauf der Reflexionsgespräche und die gegebenenfalls auftretenden `Brüche´ innerhalb des Gesprächs auch durch beobachtbare soziale Interaktionen verstanden werden. Abbildung 6 legt die Auswertungsstrategie des auditiven Materials zusammenfassend graphisch dar.

Klasse 3 (monoedukativ) Lehrkraft B

Gleiche „Fremdheitsspiele“

Klasse 2 Lehrkraft B

Gleiche „Fremdheitsspiele“

Klasse 1 Lehrkraft A

Kontext

Analysestrategie des Audiomaterials

Inhaltsanalytische Auswertung der Reflexionsgespräche

Komparative Analyse; Überprüfung und Adaptation der bisherigen Kategorien

Inhaltsanalytische Auswertung der Reflexionsgespräche

Komparative Analyse; Überprüfung und Adaptation der bisherigen Kategorien

Inhaltsanalytische Auswertung der Reflexionsgespräche

Sequenzanalytische Rekonstruktion des Gesprächsverlaufs (Fokus: Diskursorganisation)

(unter Einbezug des Videomaterials bzgl. Konfigurationen und Konstellationen) (u

6.4 Auswertungsschritte 165

Abb. 6. Zusammenfassende graphische Darstellung der Analysestrategie des Audiomaterials

166

6 Method(olog)ische Schritte

6.5

Verknüpfung der visuellen und auditiven Daten: Eine integrative Betrachtung

Die einzelnen Auswertungen sowohl der beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen mit den inszenierten fremdheitsinduzierenden Inhalten als auch die Ergebnisse zu den sprachlich-verbalen Umgangs- und Verarbeitungsweisen der einzelnen Spielinhalte sind für die Arbeit gleichermaßen von Bedeutung. Anhand der verschränkten Betrachtungsweise beider Umgangsweisen, die nicht nur auf einer inhaltlich-methodischen Ebene, sondern auch auf einer analytischen unmittelbar zusammengehören, können Überlegungen getroffen werden, die zu weiteren konzeptuellen Maßnahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung führen können. Dementsprechend erfolgt auf Basis der jeweils einzeln betrachteten Ergebnisse der unterschiedlichen Umgangsweisen mit sportunterrichtlich inszenierter Fremdheit abschließend eine integrative Gesamtdiskussion (vgl. Abbildung 7).

Ergebnisse der Videodaten (beobachtbare Umgangsweisen)

+

Ergebnisse der auditiven Daten (verbale Umgangsweisen)

=

Integrative Gesamtdiskussion

Abb. 7. Darstellung der Verknüpfung der Ergebnisse von visuellen und auditiven Daten

6.6

Methodenkritische Reflexion

Verschiedene methodenkritische Aspekte können im Rahmen dieser Studie aufgedeckt werden, und müssen im Rahmen der weiteren Analysen mitreflektiert werden. Obwohl die Studie großen Wert auf eine möglichst hohe Standardisierung der Studiendurchführung legte, konnten nicht alle theoretisch geplanten Überlegungen auch in die Sportunterrichtspraxis überführt werden. Institutionalisierte Lehr- und Lernprozesse sind hochkomplex, so-

6.6 Methodenkritische Reflexion

167

dass (quasi-)experimentelle Studien im schulischen Kontext stets einer systemischen Betrachtung bedürfen (König, 2013, S. 21). Untersuchungen an Bildungsinstitutionen sind in organisatorische Einheiten (z.B. Stundenplan) eingebettet, an denen sich Forscher/innen orientieren müssen. Die Herausforderungen bei der Planung der Studie bestand darin, sich an die gegebenen Strukturen der einzelnen Schulen zu halten und möglichst keine Änderungen der strukturellen Gegebenheiten bei den einzelnen Schulen zu fordern bei gleichzeitiger Einhaltung einer möglichst hohen Standardisierung in allen drei Klassen. Im Laufe der Vorbereitungsphase zeichnete sich ab, dass es zu zeitlichen Kollisionen der Sportunterrichtsstunden an den drei unterschiedlichen Schulen kommen würde. Aus forschungsmethodischer Sicht hätten für die optimale Vergleichbarkeit aller drei Klassen, alle Gruppen von derselben Lehrperson unterrichtet werden müssen. Dadurch hätte dieselbe Person mit denselben Voraussetzungen, Kompetenzen und derselben Persönlichkeit allen drei Klassen die jeweiligen sportunterrichtlichen Inhalte vermittelt, wodurch dem potenziellen Einflussfaktor von unterschiedlichen `Lehrkrafttypen´ auf die Studienergebnisse entgegengewirkt worden wäre. Aus pragmatischen Gründen einigte sich das Forscherteam allerdings darauf, dass zwei unterschiedliche geschulte Personen in den jeweiligen Klassen unterrichten würden. Eine externe weibliche Lehrkraft aus dem Forscherteam57 unterrichtete zwei Klassen, eine andere die dritte verbleibende Klasse. Um trotz dieser Umstände eine möglichst hohe Standardisierung der Umsetzung der Interventionsinhalte zu erzielen, wurden beide Lehrpersonen in den theoretischen Überlegungen der Interkulturellen Bewegungserziehung sowie den sportunterrichtlichen Inhalten und Reflexionsfragen geschult. Zudem muss betont werden, dass die Rolle der Sportlehrkraft für die eigene Fragestellung, in der es um die Umgangsweisen der Schüler/innen mit den inszenierten Fremdheitsmomenten im Sportunterricht geht, erst einmal in den Hintergrund tritt. Nichtsdestotrotz ist im Bewusstsein, dass Schülerhandeln stets von Lehrerhandeln beeinflusst wird. Deshalb könnte auch argumentiert werden, dass es aus (forschungs-)methodischer Sicht besser gewesen wäre, wenn die bisherigen 57

Dabei handelt es sich um die Verfasserin dieser Arbeit.

168

6 Method(olog)ische Schritte

Sportlehrer/innen in ihren Klassen die Intervention durchgeführt hätten, damit der Sportunterricht von den vertrauten Lehrkräften im gewohnten Unterrichtsstil durchgeführt wird. Allerdings wurde diese Möglichkeit im Sinne einer höheren Standardisierung der Studiendurchführung verworfen, um einer Verzerrung von potenziellen Ergebnissen im Rahmen der quasi-experimentellen Untersuchung durch drei unterschiedliche Lehrkräfte entgegenzuwirken. Eine weitere strukturelle Gegebenheit, auf die sich das Forscherteam einstellen musste, war die Verteilung der Wochenstunden für Sportunterricht in den einzelnen Klassen. Im Vorfeld der Studie wurden für die sportunterrichtliche Intervention je sechs Doppelstunden und sechs Einzelstunden ausgearbeitet. Während Klasse 1 nur zwei Wochenunterrichtsstunden im Fach Sport in ihrem Stundenplan verankert hatte, fand in den Klassen 2 und 3 in je einer Einzelstunde und Doppelstunde pro Woche Sportunterricht statt. Deshalb mussten für Klasse 1 die Unterrichtseinheiten teilweise zusammengefasst werden, damit in dieser Klasse die gleichen Inhalte durchgeführt werden konnten. Zum Teil mussten Spiele aufgrund der inhaltlichen Passung zu anderen Stundeninhalten vor- bzw. zurückgezogen werden. Das Forscherteam entschied kollaborativ, welche Spiele und Inhalte am ertragreichsten für die Studie sein könnten, worauf für diese Klasse sechs entsprechende Doppelstunden ausgearbeitet wurden. Zudem wurde in der Planungs- und Durchführungsphase der Studie deutlich, dass weitere Stolpersteine bezüglich einer `reibungslosen´ Durchführung der Interventionsstunden auftraten: So fielen in Klasse 1 während der Studienphase zwei Sportunterrichtsstunden aus, da sich die Klasse im Landschulheim befand; in Klasse 3 fiel ebenfalls eine Einzelstunde Sportunterricht aus, da die Klasse an einem Jugend trainiert für Olympia Wettbewerb teilnahm. Aufgrund eines Feiertages fiel in Klasse 1 und 2 je eine Unterrichtsstunde aus. Dementsprechend musste das Forscherteam flexibel reagieren und sich auf die jeweiligen Gegebenheiten einstellen. Insgesamt fanden die zu analysierenden Spiele jedoch in der Regel in allen drei Klassen statt, aber mindestens in zwei, sodass die einzelnen Spielkontexte und -ideen der Spiele komparativ verglichen werden können (zusammenfassend siehe Tabelle 4).

6.6 Methodenkritische Reflexion

169

Tab. 4. Für die Analyse relevante Spiele. Strukturiert nach zeitlich-kontextuellen Rahmenbedingungen Spiel

Klasse 1 koedukativ (Lehrkraft A)

Klasse 2 koedukativ (Lehrkraft B)

Klasse 3 monoedukativ (Lehrkraft B)

Fußball einmal anders

Stunde 3

Stunde 2

Stunde 3

Stummes Mattenball

Stunde 2

Stunde 4

Stunde 5

`Bälle – Kooperative Kommunikation´

Stunde 2

Stunde 4

-ausgefallen-

Was bedeutet es fremd zu sein?

Stunde 3

Stunde 5

Stunde 6

Regelspiel

Stunde 4

Stunde 6

Stunde 7

Bewusstes Ignorieren

Stunde 4

Stunde 6

Stunde 7

Bafa Bafa-Spiel

Stunde 5

Stunde 8

Stunde 9

Die methodische Entscheidung die Sportunterrichtsstunden zu videographieren anstelle einer nicht-teilnehmenden Beobachtung, kann aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Einerseits ist durch die Methode der Videographie das Datenmaterial dauerhaft verfügbar und flüchtige, komplexe und simultane (Inter-)Aktionen können repetitiv beleuchtet und analysiert werden. Durch die `Konservierung´ der Daten sind Analysen nicht durch eine recht flüchtige Interpretationsleistung des jeweiligen Forschenden bestimmt. Andererseits kann gerade dieses Wissen um die `Langlebigkeit´ videographischer Daten eventuell zu Anpassungsreaktionen von Personen führen, sodass sie sich eventuell nicht so natürlich verhalten als bei Abwesenheit von technischen Geräten. Nichtsdestotrotz hat sich das Forscherteam aufgrund der vielfältigen Einsatz- und Analysemöglichkeiten von Videodaten für diesen Forschungszugang entschieden. Zur Gewöhnung an die technischen Geräte und externen Videoaufzeichner/innen, wurden bereits vor Interventionsbeginn Videoaufzeichnungen in den jeweiligen Klassen durchgeführt. Als technischen `Makel´ an der Studie kann festgehalten werden, dass eine Kamera mit Weitwinkelobjektiv bzw. mehrere Videokameras hätten verwendet werden können, um die gesamte Sporthalle in ihrer

170

6 Method(olog)ische Schritte

Totalen aufnehmen zu können. Auch wenn die Aufstellung der Totalkamera so vorgenommen wurde, dass möglichst viel Raum videographiert werden konnte, gab es trotzdem tote Winkel, die nicht erfasst werden konnten. Aus forschungsökonomischen Gründen war es nicht möglich, mehrere Totalkameras aufzustellen. In weiteren Studien wird dazu geraten, ein Weitwinkelobjektiv zu verwenden. Die Tatsache, dass die Autorin auch zeitgleich eine der durchführenden Lehrkräfte war, könnte aus methodologischer Sicht kritisiert werden: Durch eine zu starke Involviertheit könnte die Distanz zum Forschungsgegenstand verloren gehen (Gniewosz, 2015, S. 113). Andererseits führt ein höherer Grad an Beteiligung dazu, dass Forschende ein vollständigeres Bild von Interaktionen und Dynamiken der Gruppen erhalten, was als Hintergrundfolie bei Interpretationen dienlich sein kann. Bei dem ersten Zugang zum Datenmaterial wurde die Strategie verfolgt, dass bei den Analysen zunächst mit jener Klasse begonnen wurde, in der die Autorin nicht involviert war und sie somit Distanz zu ihren geleiteten Unterrichtsstunden gewinnen konnte. In Bezug auf die Analysestrategie kann bemängelt werden, dass im Rahmen der Codierungsprozesse die Kategorisierungen der Umgangsweisen auch über statistische Berechnungen wie einer IntercoderReliabilität hätten abgesichert werden können. Im Rahmen des gesamten Analyseprozesses wurden allerdings in regelmäßigen Abständen immer wieder einzelne Auswertungsschritte vorgestellt, gemeinsam analysiert und diskutiert. Mit einem Mitglied aus dem Forscherteam58 wurden die beobachtbaren Umgangsstrategien zusammen inhaltlich strukturiert und diskutiert. Damit wurde versucht, den Gütekriterien um Objektivität, Reliabilität und Validität möglichst gerecht zu werden. Abschließend kann festgehalten werden, dass einige methodenkritische Punkte dem Umstand geschuldet sind, dass die eigene Analyse im Rahmen einer quasi-experimentellen Interventionsstudie eingebettet ist. Nichtsdestotrotz wurde durch ein möglichst reflektiertes und kritisches Vorgehen versucht, den wissenschaftlichen Standards bestmöglich gerecht zu werden. 58

An dieser Stelle möchte die Verfasserin Paul Rüdiger danken.

7

Ergebnisse

Bevor die unterschiedlichen Umgangsstrategien der Schüler/innen mit Fremdheit vorgestellt werden (Kapitel 7.2 und 7.3), werden die einzelnen Spiele in verschiedene Kontextbedingungen subsumiert. Durch die Zuordnung der Spiele in übergeordnete Spiellogiken, können für weitere Analyseschritte die Grundcharakteristika der Spiele in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Umgangsweisen analysiert werden. 7.1

Klassifizierung der Spiele in übergeordnete Spielkontexte

Die zu analysierenden Spiele können inhaltlich in zwei unterschiedliche Spiellogiken aufgeteilt werden. In einem ersten übergeordneten Spielkontext können sogenannte `Verfremdungsspiele´ gesehen werden. Gemeinsame Spielidee der Verfremdungsspiele ist, dass Schüler/innen vertraute Spiele in ihrem Regelwerk und/oder in ihrer Bewegungsform `gestört´ werden, sodass die (evtl. bislang unhinterfragten) Normalitätsvorstellungen der Spiele nicht mehr vollständig greifen. `Normalität´ stellt in diesem Zusammenhang die für die Schüler/innen im Sportunterricht bekannten und vertrauten Spielregeln und -ideen von Zielspielen dar. Spiele mit Inklusions- bzw. Exklusionscharakter sind dadurch gekennzeichnet, dass es eine Dysbalance von Machtressourcen zwischen verschiedenen Gruppen bzw. Individuen gibt. Die beiden primären Machtquellen, auf die zurückgegriffen werden kann, sind Wissen (von Regeln) und/oder der Spielgegenstand (wie zum Beispiel Ball). In Spielen, in denen Schüler/innen auf eine neue `Spielkultur´ treffen, wissen diese weder um die Regeln noch um die Orientierungen oder Absprachen der anderen und besitzen (zumindest anfänglich) begrenzte Wissensressourcen. In den sogenannten „diskriminierungskritischen Spielen“ hingegen, wurden restriktive Vorgaben – entweder durch die Lehrkraft oder durch die Mitschüler/innen selbst – gegenüber einzelnen Personen oder der ganzen Gruppe getroffen. Durch Formen der Restriktion, wie zum Beispiel limitierte Ressourcenverwendung, werden ungleiche Chancenverteilungen und somit auch Teilnahmeberechtigungen von einzelnen bzw. mehreren thematisiert.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_7

172

7 Ergebnisse

Tabelle 5 zeigt die Zuordnung der zu analysierenden Spiele in ihre übergeordnete Spiellogik und Spielidee. Tab. 5. Zusammenfassende Darstellung der übergeordneten Spielkontexte

Verfremdungsspiele: Normalitätsstörende Spiele

Spiele mit Inklusions- bzw. Exklusionscharakter

Änderung von vertrauten Spielregeln

Diskriminierungskritische Spiele

Teilnahme an neuer `Spielkultur´

x `Regelspiel´

x `Bafa BafaSpiel´

Einführung neuer Spielvarianten und -formen

x Spiel `Fußball x neue Bewegungsformen: einmal anders´ (RegeleinfühSpiel `Fußball einmal rung) anders´ (Partnerfußball und Fußball mit x Spiel `Was anderen Geräten) bedeutet es fremd zu sein?´ (Regeleinführung)

7.2

x Ausschalten vertrauter Kommunikationsformen: Spiel `Bälle – Kooperative Kommunikation´; `Stummes Mattenball´

x Spiel `Bewusstes Ignorieren´

x Spiel `Was bedeutet es fremd zu sein?´

Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

Die jeweiligen Videosegmente wurden vier inhaltsanalytischen Kategorien zugeordnet. Mit Hilfe der Sequenzanalyse und der komparativen Analysen konnten den kategorisierten Videosegmenten spezifische Kontextbedingungen zugeteilt werden. 7.2.1 Anfängliche Handlungsweisen auf inszenierte Fremdheit im Sportunterricht In den nachfolgenden Unterkapiteln werden die anfänglichen `Startreaktionen´ auf die sportunterrichtlich inszenierte Fremdheit aufgezeigt. Der erste, beobachtbare Umgang ist insofern relevant, da dieser aus theoretischer Sicht am ehesten die Grundhaltung der Schüler/innen auf das `Neue´ widerspiegelt. Es wird davon ausgegangen, dass der erste beobachtbare Umgang der Schüler/innen mit der sportunterrichtlichen

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

173

Fremdheitssituation nicht zwingend reflexiv-intentional stattfindet, sondern als eine vorreflexive Grunddisposition auf das Fremde gilt. Dennoch kann der intentionale Charakter des Umgangs durch die Analysen rekonstruiert werden, weshalb im nachfolgenden handlungsbezogene Begrifflichkeiten (Handlung, Handlungsweise) neben der übergeordneten Begrifflichkeit des Umgangs bzw. der Umgangsweise verwendet werden. In allen untersuchten Schulklassen konnten zusammenfassend vier anfängliche Handlungsweisen identifiziert werden, die über verschiedene Kontexte hinweg bei Schüler/innen auf die gesetzten didaktischen Inszenierungen beobachtbar waren: x x x x

Die selbstständig-explorative Auseinandersetzung Die Suche nach sozialer Unterstützung Die Abwehr Die zurückhaltende Beobachtung

Die einzelnen Handlungsweisen werden im nachfolgenden Kapiteln vorgestellt. Eingeleitet werden diese mit einer die Kategorie charakteristisch beschreibenden Zusammenfassung, in welcher aus dem interpretativen Prozess abgeleitete Thesen integriert werden. Nach der Darlegung der zusammenfassenden Kategoriencharakterisierung erfolgt ein Ankerbeispiel, welches als Repräsentant für die jeweilige Handlungsweise mit Fremdheit dient. Diese wird mithilfe von theoretischen und empirischen Bezügen interpretiert und ausgelotet. Abschließend wird die identifizierte Handlungsweise im komparativen Vergleich (andere Klassen und andere Spiele) beleuchtet. 7.2.1.1

Die selbstständig-explorative Auseinandersetzung

Wenn Situationen nicht als `Bedrohungen´ wahrgenommen werden, können ein aktiv freiwilliges Einlassen und eine selbstständigexplorative Auseinandersetzung mit der Situation folgen. Wahrgenommene Differenzen sind nicht zwingend subjektiv bedeutsam, da sie nicht im Widerspruch zu den eigenen Interessen und Bedürfnissen stehen. Unsicherheiten können zwar auftreten, aber ausgehalten werden.

174

7 Ergebnisse

Charakteristisch für die Handlungsweise „selbstständig-explorative Auseinandersetzung“ mit inszenierter Fremdheit ist, dass sich Schüler/innen direkt nach einem von der Sportlehrkraft geäußerten sportunterrichtlichen Auftrag voll und ganz der Aufgabenerfüllung widmen. Dabei werden verschiedene verbale und non-verbale Präsentationstechniken sichtbar, die auf eine aktiv-selbstständige Auseinandersetzung der Personen mit dem sportunterrichtlichen Inhalt schließen lassen: Frei- und Zulaufen, Rufen, das Halten von Augenkontakt mit Mitspieler/innen oder das Geben von (Hand-)Zeichen. Aus einer (sport-)unterrichtsbezogenen Perspektive ist diese Umgangsweise mit Fremdheit günstig, da Schüler/innen sofort, intensiv und engagiert mitmachen und ihren „Arbeitsauftrag“ sachgerecht versuchen umzusetzen (vgl. auch Kamper, 2015, S. 270). Aus einer sozialpsychologischen und identitätstheoretischen Perspektive zum Umgang mit Fremdheit kann abgeleitet werden, dass die gegebene Aufgabenstellung (zunächst) keine Bedrohung für die aktualisierte Teil-Identität (z.B. „Schüler/in im Sportunterricht“) darstellt. Wie Erdmann (1999a, S. 67) darlegt, kann eine Person situationsgerechter handeln, je weniger bedroht sie sich fühlt und je klarer sich das Ich als Einheit empfindet. Demnach gehen Personen, die sich in der je aktuellen Situation sicher fühlen und diese als (positive) Herausforderung bewerten, selbstständig, aktiv und offen in die Situation zurück. Die sportunterrichtliche Aufgabe steht nicht zwingend im Widerspruch zu den eigenen Interessen und Bedürfnissen, da sie eher als zu bewältigende Angelegenheit angesehen wird. Die Selbstwirksamkeit im Sinne, dass Schüler/innen durch ihr Handeln aktiv die sportunterrichtliche Praxis mitgestalten und am Spielgeschehen teilnehmen können, ist bei den Schüler/innen mit der selbstständig-explorativen Handlungsweise aus einer analytischen Perspektive in hohem Maße gegeben. Dabei greifen die Schüler/innen meist auf ein Repertoire `vertrauter´ Umgangsweisen zurück, wie aus den Vergleichen der Handlungsweisen der Schüler/innen im `konventionellen´ Sportunterricht deutlich wird: Die Schüler/innen machen auch in weiteren Vergleichssituationen des sportunterrichtlichen Geschehens engagiert mit und beteiligen sich in der Regel aktiv am Spielgeschehen. Somit kann interpretiert werden, dass sie (aus bereits gemachten Erfahrungen) erfolgszuversichtlich sind, dass ihr Engagement zu einem positiven Endzu-

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

175

stand führen wird. Durch die sofortige Integration der Personen in die gegebenen Rahmenbedingungen, erleben sie sich als (wichtigen) Bestandteil der Gruppe und möchten durch ihre aktive Teilnahme einen Beitrag für die Gruppe leisten. Die Beschreibung „selbstständig-explorativ“ impliziert einerseits, dass sich Schüler/innen aus eigenem Antrieb heraus der Aufgabe widmen und andererseits, dass sie sich explorativ im Sinne von erforschend mit der (unbekannten) Umwelt auseinandersetzen. Kennzeichnend für einen explorativen Umgang ist die naive (i.S. ohne lange darüber nachzudenken), aber lösungsorientierte Auseinandersetzung mit dem bisher Unbekannten. Prinzipiell können auch bei dieser Handlungsweise Unsicherheiten auftreten, allerdings lässt dieser anfängliche Umgang darauf schließen, dass eventuell vorherrschende Differenzen nicht als subjektiv bedeutsame Fremdheit wahrgenommen und interpretiert werden. Unerwünschtes oder Unsicheres kann im Sinne der identitätsbezogenen Ambiguitätstoleranz ausgehalten werden. Dadurch können theoretisch auftretende innere Spannungszustände durch einen aktiven Umgang gemeistert werden (Keupp et al., 2008, S. 196). Das nachfolgende Ankerbeispiel bezieht sich auf eine Situation aus dem Spiel „Bafa Bafa“ (siehe Kapitel 5.6.7): Auf zwei Feldern wird jeweils ein Spiel erfunden. Einzelne Schüler/innen müssen von `ihrem´ Spielfeld auf das andere wechseln, auf dem ein ihnen unbekanntes Spiel gespielt wird. Die Sequenz beginnt, als Sascha das `neue´ Spielfeld betritt. Sascha betritt das Spielfeld, auf dem ein ihm unbekanntes Spiel gespielt wird. Er rennt sofort zum Spielgeschehen, also dorthin, wo sich der Ball aktuell befindet. Er rennt sich frei, streckt die Arme in die Höhe und ruft bereits auf dem Weg zum Spielgeschehen „Hier! Hier!“. Das unmittelbare Aufsuchen des Spielgeschehens von Sascha lässt darauf schließen, dass er die sportunterrichtlichen Anforderung als Herausforderung sieht, dieser positiv gegenübersteht und sie nicht im Widerspruch zu seinen situativen Bedürfnissen steht. Er geht explorativ, also ohne die Erkundung und das Ausloten der gegebenen Spielbedingungen in das Spielgeschehen herein. Für Sascha sind die im Spielgeschehen

176

7 Ergebnisse

vorherrschenden Rahmenbedingungen von zwei Teams und Ball vertraut, sodass anscheinend für ihn die Handlungslogik eindeutig erschließbar ist und er sich unmittelbar an dem Spielgeschehen beteiligen möchte und auch kann. Die Einordnung der Situation in Vertrautes scheint zu großer Sicherheit bei Sascha zu führen. Die verschiedenen bei Sascha beobachtbaren Umgangsweisen wie des sich Freilaufens, Rufens oder Gestikulierens (siehe Abbildung 8) und sich dadurch aufmerksam Machens, verdeutlichen sein Anliegen einer aktiven Teilnahme und Beteiligung am Spielgeschehen – denen er auch zuversichtlich durch seine Handlungen gegenübersteht. Die Konfiguration im Videomaterial zeigt, dass Sascha sehr stark an zwei zentralen Positionen im Raum fokussiert ist: Einmal die Nähe zum Spielgegenstand (Ball) bei maximaler Distanzierung von gegnerischen Mitspieler/innen. Dadurch scheint Sascha einen (aus seinem bisherigen Erfahrungsschatz erfolgreichen) Umgang gefunden zu haben, der ihm eine aktive Auseinandersetzung mit den sportunterrichtlichen Inhalten erlaubt. Die anfängliche Handlungsweise der selbstständig-explorativen Auseinandersetzung mit der unvertrauten Spielweise, Bewegungsart oder Spiellogik, findet in allen Klassen und über alle Spielkontexte hinweg statt. Sowohl bei „normalitätsstörenden Spielen“ zeigen viele Schüler/innen eine aktive und sofortige Beteiligung als auch zu Beginn von Spielen mit Inklusions- und Exklusionscharakter.

Abb. 8. Anfängliche Handlungsweise „Die selbstständig-explorative Auseinandersetzung“

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

177

Hierbei sind vor allem jene Spiele von Bedeutung, die den Eintritt in das Spielgeschehen oder den Spielbeginn umfassen. Bei den Analysen von Regeleinführungen zeigen sich teilweise auch unmittelbare (freudvolle) Äußerungen wie „Cool!“ oder ein Lächeln. Dies lässt auf eine offene Auseinandersetzung mit dem neuen Lerngegenstand schließen. Allerdings kann die selbstständig-explorative Auseinandersetzung von Schüler/innen öfter (und valider) in Situationen gefunden werden, in denen Schüler/innen sich auch körperlich mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen (müssen). Die Intensität der Auseinandersetzung in den einzelnen Spielen, in denen Schüler/innen in einen neuen Spielkontext eintreten, ist von qualitativ unterschiedlichem Anspruch: Es gibt Kinder, die sehr engagiert und mit allen ihnen aktuell zur Verfügung stehenden Mitteln wie Sprache, Mimik, Gestik und motorischer Beteiligung (Laufen, Gegnerdeckung) in die Spielkontexte starten. Allerdings gibt es auch jene, die sich zwar selbstständig und aktiv in das Spielgeschehen einbringen, aber nicht mit dem Ausmaß an Selbstpräsentationstechniken, mit denen sich Schüler/innen auf sich aufmerksam machen können. Die Konfigurationen im Raum lassen darauf schließen, dass sich die Kinder direkt an das Spielgeschehen bzw. das Spielobjekt (i.d.R. Ball) orientieren. Dort wo sich aktuell der Ball befindet, wird der Aufmerksamkeitsfokus gelegt und sich auch räumlich dorthin bewegt. Zusammenfassend wird die Handlungsweise „selbstständigexplorative Auseinandersetzung“ für das Eintreten in ein neues Spielgeschehen anhand folgender Merkmale charakterisiert: x

Zeitlich unmittelbares Orientieren an und Einbringen in das Spielgeschehen, durch o Blickorientierung zum Spielgeschehen o den Einsatz von auf sich aufmerksam machenden sprachlichen Mitteln (u.a. durch Rufen des Namens des ballbesitzenden Mitspielendens oder durch Wörter, welche die Spielbereitschaft des Subjekts signalisieren wie zum Beispiel „Hier!“, „Ja!“, „Jetzt!“)

178

7 Ergebnisse o

o

den Einsatz von gut sichtbarer und/oder hörbarer Gestik wie die Arme in die Höhe strecken und winken oder in die Hände klatschen schnelle Raumbewegungen (rennen statt gehen), die der Distanzminimierung zum Spielgeschehen und/oder weiteren spielstrategischen Überlegungen dienen (z.B. Aufsuchen von spielleitenden Positionen, Manndeckung)

Abschließend könnte argumentiert werden, dass es sich bei dem erneuten Eintreten der Sporthalle nach einer Regeländerung – wie in dem dargelegten Ankerbeispiel – um keine Fremdheitssituation handelt, da für Schüler/innen zunächst der Kern der Sache bekannt ist und sie sich demnach an das vertraute Muster (zum Ball rennen; Gegner bzw. Mitspieler antizipieren) halten können. Allerdings wissen die Schüler/innen im Prinzip nicht, was während ihrer Abwesenheit besprochen wurde und gehen nichtsdestotrotz engagiert in das Spielgeschehen hinein. Zudem zeigt sich der Umgang der „selbstständig-explorativen Auseinandersetzung“ mit dem Unterrichtsinhalt auch, wenn es sich um die Teilnahme an einer neuen `Spielkultur´ (Spiel „Bafa Bafa“) handelt, bei dem der Spielmodus für Schüler/innen anfangs völlig unklar ist. In Klasse 3 erscheint gerade der Wechsel als eine `Erlösung´ aus der aktuellen Spielsituation, da der Wechsel zum anderen Spielfeld – im Gegensatz zum Spielverhalten auf dem eigenen Feld – dynamisch, aktuell und unverzüglich erfolgt. 7.2.1.2

Die Suche nach sozialer Unterstützung

In fremden Situationen wird versucht auf Vertrautes zurückzugreifen. Vertrautes in Form von sozialen Ressourcen können entweder Personen sein, die höhere Ressourcen besitzen, oder ebenfalls `Betroffene´. Diejenigen, die Fremdheit erfahren, suchen aktiv ihre `sozialen Quellen´ auf und fordern durch verbale und nonverbale Zeichen Unterstützung von den vertrauten Personen ein. In der Regel befinden sich die aktiv `Hilfesuchenden´ in unmittelbarer räumlicher Nähe zu den potenziell Unterstützung gebenden Personen.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

179

Die anfängliche Handlungsstrategie „Suche nach sozialer Unterstützung“ kennzeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die fremdheitserlebenden Schüler/innen nach Orientierung und Sicherheit durch Dritte suchen. Die Begrifflichkeit „Suche“ impliziert ein aktives Aufsuchen bzw. Zugehen auf bestimmte Personen. Bei dem Aufsuchen von Personen, die höhere Ressourcen (z.B. Wissen) besitzen, wird ein solidarisches Teilen der Ressource erhofft. Das heißt, es wird auf ein prosoziales Verhalten von anderen gehofft, welches am Wohlergehen des Hilfeaufsuchenden orientiert ist (Fischer & Wiswede, 2009, S. 452). Dabei scheinen zentrale Bezugspersonen jene zu sein, mit denen man in einer engeren sozialen Beziehung steht. Wenn mittels der sozialen Bezugsquellen die (das Spiel mitbestimmende) Ressourcen akkumuliert werden können, kann es zu einer Erhöhung des eigenen Sicherheitsempfindens in der aktuellen Situation führen. Das höhere Sicherheitsempfinden kann auch durch machttheoretische Annahmen gestützt werden: Die `Machtschere´ zwischen den `Insidern´ und `Outsidern´ verringert sich durch akkumulierende Ressourcen, wodurch `gerechtere´ Bedingungen geschaffen werden und mehr Handlungsoptionen bestehen. Durch das Aufsuchen von ebenfalls `Betroffenen´ und einem eventuellen Zusammenschluss kann eine stärkeres Wir- und Zugehörigkeitsgefühl herausgebildet werden, was unmittelbar auch die eigene Identität schützt sowie Sicherheit und Orientierung gibt. Die Vergewisserung durch Dritte dient somit auch der Selbstvergewisserung. Als Interpretationsfolie der Handlungsweise eines Orientierens an und Aufsuchens von anderen Personen, kann die Theorie des Anschlussbzw. Affiliationsmotivs herangezogen werden. In unterschiedlichen experimentellen Studien von zum Beispiel Schachter (1959) weisen Ergebnisse darauf hin, dass Menschen die soziale Nähe anderer bevorzugen, die sich in einer ähnlichen – in Schachters (1959) Versuchen beängstigenden Situation – befinden. Ziel von Anschlussverhalten wurde demnach darin gesehen, Unsicherheit und Furcht zu reduzieren. Fünf verschiedene Gründe für das Affiliationsbedürfnis von verunsicherten Personen wurden von dem Forscher abgeleitet (Schachter, 1959, S. 25): a) Flucht (Entwurf eines gemeinsamen Entkommens aus der Situation), b) kogniti-

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7 Ergebnisse

ve Gewissheit (Anliegen, mehr Informationen über die Situation zu erfahren), c) direkte Furchtreduktion (direkte soziale Zuwendung und Unterstützung durch andere), d) indirekte Furchtreduktion (Ablenkung von der aktuellen Situation durch andere) und e) soziale Vergleichsprozesse (Evaluation, wie andere die Situation empfinden). Demnach versuchen Personen durch Anschluss an andere ihren eigenen Zustand durch emotionale und kognitive Vergewisserungsstrategien zu verbessern. Gerade in fremden Situationen – denen man gegebenenfalls mit ambivalenten Gefühlen entgegensteht – kann durch die Affiliation zu anderen die eigene Position und Identität gesichert werden. Eine weitere zentrale theoretische Erklärungsfolie für das Aufsuchen von anderen Personen ist die von Baumeister und Leary (1995) entwickelte Theorie „The Need to Belong“. Als zentrales Erklärungskonstrukt für das Aufsuchen, Herstellen und Aufrechterhalten von sozialen Beziehungen ist das in jedem Individuum verankerte emotionale Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Das heißt nach dieser Theorie werden im Gegensatz zu Schachters (1959) Überlegungen Personen nicht nur aufgrund einer reinen Reduktion von einem eher negativ bewerteten Zustand aufgesucht. Das inhärente Gefühl der Zugehörigkeit kann nur durch die Aufmerksamkeit anderer Personen befriedigt werden. Baumeister und Leary (1995) argumentieren, dass das Konstrukt „belongingness“ bzw. Zugehörigkeit von fundamentaler menschlicher Natur und als allgemein gültiges und über alle Individuen hinweg relevantes Bedürfnis sei. In fremden Situationen – in denen sich Personen eventuell allein (gelassen) fühlen – kann demnach die Suche nach sozialer Unterstützung zur Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Zugehörigkeit dienen. Das Streben nach Zugehörigkeit ist auch das Bedürfnis nach positivem Selbstwertgefühl und kann durch die Vergewisserung durch andere gestärkt werden. Das nachfolgende Ankerbeispiel ist eine Anfangssequenz aus dem Spiel „Bafa Bafa“. Pia und Sascha59 wechseln gemeinsam von ihrem Spielfeld auf das andere, auf dem ein ihnen unbekanntes Spiel gespielt 59

Sascha zeigt in dieser Sequenz, wie das Ankerbeispiel aus Kapitel 7.2.1.1 darlegt, einen selbstständig-explorativen Umgang mit der Situation. Dadurch wird anschaulich verdeutlicht, dass die vermeintlich selbe Situation ganz individuell wahrgenommen und gedeutet wird.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

181

wird. Die Sequenz beginnt, als beide Heranwachsenden auf das `neue´ Spielfeld gelangen. Sascha und Pia wechseln von ihrem Spielfeld, auf dem sie ihr mitentwickeltes Spiel spielten, zu dem anderen Spielfeld. Dort wird ein für sie unbekanntes Spiel gespielt. Als Sascha und Pia gemeinsam auf das neue Spielfeld kommen, geht Sascha voran und läuft direkt zu dem aktuellen Spielgeschehen, bei dem sich andere Kinder den Ball zupassen. Pia geht Sascha hinterher, schaut zu Sascha und zuckt mit den Schultern. Sascha rennt in Richtung des Balles. Pia schaut zu Sascha, geht dann ein paar Schritte und sie sagt laut: „Hä?!“ Pia geht auf Sascha zu. Ihre Arme sind in offener Haltung. Sascha geht an Pia vorbei und hat seinen Blick auf den Ball gerichtet. Pia läuft Sascha hinterher. Von Beginn an ist Pia auf Sascha, der mit ihr das Spielfeld wechseln musste, fixiert. Beide kommen gemeinsam auf das neue Spielfeld; die räumliche Nähe der beiden ist gegeben, auch wenn Sascha einen Schritt voran geht. Pia läuft hinter Sascha her, was als Zeichen von anfänglicher Unsicherheit gedeutet werden kann: Statt neben oder vor ihm zu laufen, läuft Pia hinter ihm. Das Hinterherlaufen kann als eine Schutzsymbolik interpretiert werden: Sascha soll zunächst die fremde Situation erkunden und Pia kann sich in einem geschützten Rahmen an ihm orientieren, da sie die Verantwortung an Sascha übergibt. Als Sascha sich von Pia distanziert und aktiv am Spielgeschehen teilnehmen möchte, richtet Pia ihren Aufmerksamkeitsfokus und Blick primär auf ihn und nicht auf die Spielumgebung. Anschließend sucht Pia erneut die Nähe zu Sascha und macht durch das Schulterzucken, ihre offene Armhaltung (siehe Abbildung 9) und Sprache („Hä?!“) deutlich, dass sie das für sie unbekannte Spiel (noch) nicht durchschaut hat. Durch ihre Handlungsweisen `outet´ sich Pia als Unwissende und fordert dadurch offensiv-implizit soziale Unterstützung ein.60 Pia verfolgt eine paradoxe Strategie: Durch das of60

Expliziter hätte Pia nach den Regeln fragen können oder Hilfeleistung direkt einfordern können.

182

7 Ergebnisse

Abb. 9. Anfängliche Handlungsweise „Die Suche nach sozialer Unterstützung“

fensive Zeigen und Sagen von Ahnungslosigkeit macht sie sich verletzlich und versucht dadurch in der sportunterrichtlichen Situation Sicherheit zu erlangen. Denn durch (erhoffte) zuvorkommende Hilfeleistungen von Sascha oder anderen kann sich Pia im Spiel orientieren und gegebenenfalls am Spielgeschehen teilhaben. Anhand der Konfigurationsanalyse wird das stetige Aufsuchen der räumlichen Nähe zu Sascha deutlich, weshalb Pia mit ihrer Gestik und Sprache Sascha als weiteren `Betroffenen´ anspricht und sich somit in dieser sportunterrichtliche Fremdheitssituation ihm zugehörig fühlt und das Bedürfnis verspürt, von ihm anerkannt zu werden. Obwohl Pia durch Sascha keine Beachtung findet (da er ausschließlich auf das Spielgeschehen fokussiert ist), sucht sie weiterhin Sascha als zentrale Bezugsperson auf. Pia scheint bei Sascha – als jemanden in einer `ähnlichen´ sozialen Position – die größte Hoffnung auf Anschluss und die geringste Furcht vor Zurückweisung zu haben (Sokolowski & Heckhausen, 2010). Personen scheinen sich primär mit jenen zu gruppieren, die ähnlich sind. Ähnlichkeiten können sich in vielen Sachverhalten äußern: Beispielsweise Einstellungen und Werte, Persönlichkeitsmerkmale oder Lebensumstände (Fischer & Wiswede, 2009, S. 449). Im Fall dieses Ankerbeispiels besteht die Ähnlichkeit darin, dass beide Personen gemeinsam `auserwählt´ wurden, sich in einem neuen – für sie fremden – Spielkontext zurechtzufinden. Werden in diesem Zusammenhang die in der quantitativen Studie erhobenen Soziogrammdaten als Hintergrundfolie hinzugezogen, zeigt sich, dass auf der Ebene der allgemeinen sozialen Bindung, keine besonders stark ausgeprägte gegenseitige soziale Beziehung vorherr-

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

183

schen muss, um soziale Unterstützung einzufordern. Pias Beziehung zu Sascha kann als indifferent beschrieben werden (der Mittelwert in den 61 Soziogrammdaten liegt bei 0 ) und Sascha scheint in Pia keine besondere Bezugsperson zu sehen (Mittelwert = -0,66). Das heißt, die Strategie der Suche nach sozialer Unterstützung wird hier auf Basis des vorhandenen Wissens um den ähnlichen situativen sozialen Status innerhalb des Spielgeschehens angewandt und nicht aufgrund von vorherrschender (gegenseitiger) Freundschaft. Die Fixierung auf Sascha, der mit ihr das Spielfeld gewechselt hat, kann im Kontext des Anschlussmotivs (Schachter, 1959) gedeutet werden: Durch die Nähe zu ihm, möchte Pia die für sie unsichere, fremde Situation erträglicher machen. Es kann bereits zu einer Reduktion der Unsicherheit durch die reine Zuwendung zu ihm als ebenfalls Betroffenen kommen (in dem Sinne, dass Pia demonstriert, dass sie nicht alleine ist). Zudem schließt Pia wahrscheinlich aufgrund von Saschas Verhalten darauf, dass er die Spiellogik (zumindest in Ansätzen) nachvollzogen hat und möchte gegebenenfalls Informationen über beispielsweise Spielregeln und -ziel von ihm erhalten, sodass die aktuell diffuse Situation auch für Pia klarer wird uns sie dadurch mehr Handlungssicherheit erlangt. Ziel des Aufsuchens von vertrauten und `ähnlichen´ Personen ist es, Sicherheit zu erlangen und somit die eigenen Identität zu stärken und/ oder durch eine (vermeintliche) Zusammenschließung ein stärkeres WirGefühl und gegenseitige Zugehörigkeit herauszubilden. Die Handlungsweise des „Suchens nach sozialer Unterstützung“ in dem Sinne, dass Schüler/innen aktiv andere Personen – sei es in Form von Freund/innen (mit mehr Ressourcen) oder aber auch anderen `Betroffenen´ – aufsuchen und Hilfe einfordern, kommt insbesondere in Spielen mit Inklusions- und Exklusionscharakter und über alle Klassen hinweg vor. In Spielen, in denen vertraute Spielregeln verändert oder neue Spielvarianten und -formen eingeführt werden, zeigt sich, dass ein Austausch zwischen Schüler/innen stattfindet oder sich beispielweise bei dem Spiel `Partnerfußball´ vor allem befreundete Partner/innen zusammenfinden. Dadurch wird auf ein vertrautes Netzwerk an Beziehungen zurückgegrif61

Der Mittelwert kann zwischen -2 und 2 liegen. Je höher der Wert, desto stärker wird jemand als Bezugsperson gesehen.

184

7 Ergebnisse

fen; es kann auf Zustimmung und Unterstützung gehofft werden und durch den sicheren Zusammenschluss von Personen wird prinzipiell Sicherheit vermittelt. Bei diesen Spielen haben allerdings alle Personen dieselben Informationen erhalten und der nachfolgende Spielverlauf bleibt nicht im Ungewissen. Das aktive Aufsuchen von Personen in Spielen mit Inklusions- und Exklusionscharakter (v.a. bei den Spielen „Teilnahme an neuer `Spielkultur´“) besitzt eine andere Bedeutungsebene. In diesen Fällen treten einzelne Schüler/innen mit geringeren (Wissens-)Ressourcen in das neue Spielgeschehen ein und befinden sich in einer zunächst benachteiligten Position. Durch das Aufsuchen von anderen Personen möchten sie aus ihrer sozialen Position `entkommen´. Die Strategie von Pia aus dem Ankerbeispiel zeigt das aktive Aufsuchen von Sascha, der sich prinzipiell in derselben Lage befindet. Andere Sequenzen zeigen, dass sich Schü62 ler/innen auch anfangs an befreundeten Personen orientieren, die sich allerdings in der machtvolleren Position befinden, da sie über die Regeln des Spiels Bescheid wissen. Demnach wird neben dem Bedürfnis von Zugehörigkeit, welches Sicherheit bietet, auch eine Akkumulation von (Wissens-)Ressourcen erhofft. Insgesamt zeigen die Analysen, dass sich die Handlungsweise der „Suche nach sozialer Unterstützung“ durch folgende beobachtbaren Umgangsweisen kennzeichnen: x x

62

Aktives Aufsuchen der räumlichen Nähe zu einer bestimmten Person bzw. bestimmten Personen. Aktives Aufsuchen von verbalem, gestischem und/ oder mimischem Austausch mit einer bestimmten Person bzw. bestimmten Personen.

Die Rekonstruktion von `Freundschaften´ war ebenfalls durch die Soziogrammdaten möglich, in denen beispielsweise `beste Freunde/innen´ festgehalten wurden.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene 7.2.1.3

185

Die Abwehr

Wenn gewohnte Strukturen und eigene bzw. kollektiv geteilte Vorstellungen über einen Sachgegenstand (z.B. Regelwerk) gestört werden, können subjektiv bedeutsame Differenzen wahrgenommen werden. Durch individuelle oder kollektiv angewendete Abwehrstrategien in Form von verbalen und nonverbalen Protestäußerungen wird Unzufriedenheit ausgedrückt, Frustration abgebaut und versucht, gewohnte Ordnungen und Sicherheit herzustellen und sich auf Vertrautes zurückzubesinnen. Die Störung der gewohnten Ordnung (von externer Stelle) fordert Personen heraus und kann Emotionen wie Unlust, Wut und Unverständnis erzeugen und einen hohen Frustrationsgrad entstehen lassen. Frustration tritt dann auf, wenn eine Zielerreichung oder Bedürfnisbefriedigung behindert wird (Metz-Göckel, 2017, S. 623): Frustration entsteht durch subjektiv erlebte Benachteiligungen, Ungerechtigkeiten und/oder enttäuschte Erwartungen. Wenn in Interaktionsprozessen differierende Vorstellungen über die aktuelle bzw. bald bevorstehende Praxis zwischen verschiedenen Parteien vorherrschen, können durch differente Erwartungen und Vorstellungen abwehrende Reaktionen folgen. Auernheimer (2002a, S. 184) erklärt aus einer kommunikationstheoretischen Sicht, dass Erwartungsenttäuschungen zu einer gestörten oder beendenden Kommunikation zwischen verschiedenen Individuen führen können. Dies gilt vor allem bei hohen Erwartungsenttäuschungen. Um den emotional belastenden Zustand zu mildern oder zu beenden, können verschiedene Handlungsstrategien angewandt werden. Eine Strategie, um Frustrationen abzubauen, kann in aggressive Umgangsweisen münden. Berkowitz (1989) weist in seiner modifizierten Form der Frustrations-AggressionsHypothese darauf hin, dass Aggression eine Folge von Frustration sein kann (aber nicht muss). Abwehrreaktionen, die sich in Form von verbalen und nonverbalen Protestäußerungen abbilden, dienen verschiedenen selbstwerterhaltenden Zwecken: Einerseits wird offenkundig und prinzipiell für alle hör- bzw. sichtbar der Unmut über eine Sache geäußert, andererseits kann durch

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7 Ergebnisse

die offensive Bekundung der Abwehr gegenüber einer Situation, Sache, Aufgabe oder eines Inhalts ein Abbau von Frust erfolgen. Eine ähnliche Verortung der Handlungsweise „Abwehr“ findet sich auch in den von Miethling und Krieger (2004, S. 251-252) identifizierten sportunterrichtlichen Sicherungsstrategien von Schüler/innen im alltäglichen Sportunterricht wieder, welche von den beiden Autoren als „Umbringen“ bzw. „Angehen“ bezeichnet wird und die offensivste Form der Sicherungsstrategien darstellt. Die bei einer Selbstwertgefährdung der Schüler/innen angewandte Sicherungsstrategie wird in eine konstruktive und destruktive Form unterteilt: Als konstruktive Form der Strategie wählen Schüler/innen ein direktes „Angehen“ der Situation durch verbale Protest- und Beschwerdestrategien. Die destruktive Ausprägung der Sicherungsstrategie kommt meist in Folge des offenen verbalen Protestes zu tragen und ist charakterisiert durch verbale und körperliche Aggressionen gegenüber der Sportlehrkraft oder Mitschüler/innen. Die Verunsicherungen, die Schüler/innen erleben, sind mit starken Gefühlen des Ärgers, der Wut oder des Hasses verbunden und die aggressivangehenden Handlungen stellen für die Lernenden eine sinnvolle Form des Protestausdrucks und Frustrationsabbaus dar. Wenn das Vertraute verändert wird, können Unsicherheitsgefühle verstärkt werden. Die Offenheit und Möglichkeit, dass auch `Anderes´ potenziell denkbar ist, muss eingeräumt werden. Um das Eigene zu stärken ist es demnach nahe liegend, dass sich auf das bisher Vertraute (mit mehrheitlich geteilten Vorstellungen) rückbesonnen wird (Erdmann, 1999, S. 75). Dies gilt insbesondere für Kontexte, die für das Individuum subjektiv bedeutsam sind. Das nachfolgende Ankerbeispiel stammt aus der reinen Jungenklasse und wird kontextuell in die Einführung einer neuen Regel bei dem vertrauten Fußballspiel (Spiel „Fußball – Was bedeutet es fremd zu sein?“) eingebettet. Es geht in diesem Kontext demnach darum, das gewohnte und vertraute Fußballspiel zu verändern. Die Jungen spielen in einem Hallendrittel mit zwei Mannschaften gegeneinander Fußball nach gewohnten Regeln. Die Sportlehrkraft schickt Gabriel und Giovanni aus der Halle und ruft die restlichen

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

187

Jungen zusammen. Die Lehrkraft verkündet, dass nun das bisherige Fußballspiel verändert wird. Paul meint, dass das dumm sei. Zarko reißt die Hände in die Höhe und sagt laut: „Oooooooch!“, dreht sich herum und geht ein paar Schritte vom Kreis weg. Weitere Schüler sagen: „Nee!“ und „Nein!“ und einer fragt: „Wieso Regeländerung?“. Achmed fasst sich mit der Hand an die Stirn, senkt den Kopf und entfernt sich von der Gruppe. Er hat den Rücken zur Gruppe gewandt. Nachdem die Sportlehrkraft den Jungen mitteilt, dass das bisher gespielte `normale´ Fußballspiel durch eine Abänderung des Regelwerks modifiziert wird, äußern sich viele Jungen unmittelbar darauf. Einerseits wird auf sprachlicher Ebene signalisiert, dass einige Schüler mit der von der Lehrkraft angekündigten Spielveränderung nicht einverstanden sind („Nein!“ und „Oooooooch!“) und deshalb auch konstruktiv nachgefragt wird, warum es zu einer Regeländerung kommen muss. Der Sinn dieser Regeländerung eines (funktionierenden) Spiels scheint dem fragenden Schüler nicht erschließbar zu sein. Die Aussage, dass eine Veränderung des Fußballspiels „dumm“ sei, ist mit einer stärkeren negativen Bewertung konnotiert und kann in die destruktive Form des Angehens eingeordnet werden (Miethling & Krieger, 2004, S. 252). Doch nicht nur auf sprachlicher Ebene wird auf die Lehrkraftankündigung reagiert, sondern auch durch Mimik, Gestik und Körperhaltung. Zarko reißt die Hände in die Höhe und entfernt sich kurzzeitig von der Gruppe. Auch Achmed wendet sich explizit von der Lehrkraft und der Gruppe ab und greift sich an seinen auf den Boden gerichteten Kopf (siehe Abbildung 10).

Abb. 10. Anfängliche Handlungsweise „Die Abwehr“

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7 Ergebnisse

Dadurch, dass sich Achmed von der Gruppe entfernt und seinen Mitschülern und der Lehrkraft den Rücken zukehrt, wird seine Ablehnung gegen die aktuelle sportunterrichtliche Wirklichkeit offenkundig. Das aversive situative Erleben wird durch die (kurzzeitige) „Flucht“ gemäßigt (Berkowitz, 1989, S. 69). Die starken emotionalen Reaktionen weisen darauf hin, dass das (vertraute) Fußballspiel für die Jungen im aktuellen sportunterrichtlichen Moment subjektiv bedeutsam zu sein scheint. Viele Schüler hatten die Erwartung und den Wunsch, dass das für sie vertraute Fußballspiel weiter fortgeführt wird. Die Ansage der Lehrkraft führt demnach zu einer hohen Erwartungsenttäuschung für viele Schüler, sodass sie anfänglich eine abwehrende Haltung gegenüber der Mitteilung der Lehrkraft einnahmen. Dadurch wird nicht nur ihre Frustration über die Situation geäußert, sondern auch erhofft, dass die Ansage der Lehrkraft erklärt, ausgehandelt und gegebenenfalls zurückgenommen wird. Da nicht nur einzelne Schüler in dieser Situation einen abwehrenden Umgang auf die für sie befremdliche Ansage der Lehrkraft äußern, können gruppendynamische Prozesse zu kollektiven Protesten führen. Der soziale Einfluss kann dazu führen, dass innerhalb der Gruppe Konformität hergestellt wird (Fischer & Wiswede, 2009, S. 613) und weitere Schüler abwehrende Handlungsstrategien anwenden. Die Komparationsanalyse zeigt, dass sich die Abwehr – als anfänglicher Umgang mit Fremdheit – vor allem bei Verfremdungsspielen auftritt, in denen Gewohntes verändert wird. Die Abwehr äußert sich einerseits in verbalen Kommentierungen, wie zum Beispiel Daniel aus der Realschule 1 bei der Einführung des Fußballs mit einem Rugbyball verdeutlicht: „Was?! Ähhh! Das ist doch kein Fußball mehr!“. Andererseits werden verbal auch gezieltere Protestäußerungen mit negativ besetzter Wortwahl deutlich. So meint beispielsweise Azim (Realschule 2) bei der Beschreibung des Partner-Fußballspiels: „Was?! Das ist doch bescheuert!“. Auch bei dem diskriminierungskritischen `Regelspiel´, wenn das punkterzielende Team eine neue Regel einführen darf, kommt es zu Abwehrreaktionen. Hierbei scheint die Abwehr allerdings nicht gegen die Änderung eines vertrauten Rahmens zu gelten, sondern durch erfahrene Ungerechtigkeit und Benachteiligung. Ausschließlich bei den Regeleinführungen, bei denen die punkterzielende Mannschaft sich durch eine Regel (z.B.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

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„Ihr dürft nur noch im Sitzen Basketball spielen!“) in eine vorteilhafte Position bringt und das andere Team dadurch benachteiligt, kommt es zu Abwehrstrategien. Die sprachlichen Äußerungen werden durch den Einsatz verschiedener nonverbaler Äußerungen unterstützt, anhand derer u.a. expressive und beobachtbare Aspekte von emotionalen Reaktionen beschreibbar sind (Fischer & Wiswede, 2009, S. 143-144). Folgende Formen von `körperlichem Einsatz´, die die Abwehr gegenüber dem sportunterrichtlichen Inhalt verstärken, konnten identifiziert werden: x x x x

x x

Kopf: Kopf in den Nacken legen, Kopf absenken, Kopfschütteln, Kopf wegdrehen Gesicht: Stirnrunzeln, Augenverdrehen, Augen schließen, Mund öffnen Schultern: Schultern hängen lassen Arme und Hände: Arme in die Höhe reißen, sich mit der Hand/den Händen an den Kopf fassen, Hände an z.B. Oberschenkeln klatschen Füße und Beine: Mit den Füßen laut auftreten, mit Fuß und Bein eine Kickbewegung machen Körper: Sich abwenden, wegdrehen, weggehen

Je vertrauter und je selbstverständlicher die zu verändernde `Sache´ für die Schüler/innen ist, desto stärker scheinen die Protestreaktionen. 63 Beispielsweise gelten abwehrende Umgangsweisen von Schüler/innen wie protestierende Kommentierungen, die bei der Spielerklärung des „Stummes Mattenballspiels“, bei dem für die Schüler/innen eine bisher unvertraute Spielform eingeführt wird, nicht dem Spielinhalt. Vielmehr werden die zu dem Spiel gehörenden Rahmenbedingungen (Wattebäusche in die Ohren stecken) angegangen. Anders verhält es sich hingegen bei der Ankündigung von Regeländerungen des Fußballspiels: Abweh63

Beispielsweise ist gemäß informellen Gesprächen mit dem Sportlehrer der Realschule mit der reinen Jungenklasse, das Zielspiel Fußball (bzw. Futsal) für die meisten der Klasse die Lieblingssportart. Wenn sich ein Sportspiel gewünscht wird, besteht die Mehrheit der Jungen auf Fußball: Zudem nahmen viele Jungen bereits an schulischen Wettkämpfen wie Jugend trainiert für Olympia im Bereich von Fußball teil.

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7 Ergebnisse

rende Handlungsweisen und verbale Äußerungen sind in allen Klassen eine verbreitete Handlungsweise. Das Fußballspiel scheint für die Schüler/innen ein mit vielen Erfahrungen besetztes und für die protestierenden Schüler/innen ein emotional signifikantes bzw. bedeutsames Sportspiel zu sein. Deshalb werden bei auf Veränderung ihrer `Normalität´ abzielenden Spielen subjektiv bedeutsame Differenzen für die Schüler/innen hergestellt. Die Abwehr der befremdlichen Situation bietet den Schüler/innen eine Möglichkeit des Umgangs. In allen Klassen sind es auch immer mehrere Kinder, die der Lehreranweisungen mit Protesten und negativen Kommentierungen begegnen. Die (vermeintlich) kollektive Meinung zu dem vertrauten Spiel verstärkt wahrscheinlich die Handlungsstrategie der Abwehr. In jenen Spielen, in denen Schüler/innen in einen neuen Spielkontext kommen, sind als anfängliche Umgangsstrategie keine abwehrenden Reaktionen der Schüler/innen zu beobachten. 7.2.1.4

Die zurückhaltende Beobachtung

Fremde Situationen werden zunächst aus einer Art `Vogelperspektive´ beobachtet, um sich einen Überblick über die `Lage´ zu verschaffen. Dadurch wird Handlungssicherheit gewonnen, da es durch die zunächst zurückhaltende Beobachtung möglich ist, `falsches´ Verhalten zu vermeiden und sich durch Beobachtung die performativ hergestellten und wahrgenommenen (Spiel-)Regeln zu erschließen. Die anfängliche Umgangsweise der zurückhaltenden Beobachtung zeigt sich darin, dass die Schüler/innen den gestellten Anforderungen und dem Lerngegenstand ambivalent gegenüberstehen: Einerseits sind sie aufgeschlossen gegenüber der neuen und eventuell fremden Situation, gleichzeitig allerdings auch kritisch-zurückhaltend. Aufgeschlossenheit zeigt sich darin, dass durch Beobachtung auch eine Auseinandersetzung und ein sich Erschließen der Situation stattfindet. In Anlehnung an das soziale Lernen durch Imitation sensu Bandura (1965) könnte geschlussfolgert werden, dass andere Personen als Modell dienen, an dem sich orientiert wird. Durch eine zurückhaltende Beobachtung und eine zunächst eher

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

191

passiven Rolle, können bestehende (soziale) Regeln erörtert werden und zumindest nicht dagegen verstoßen werden. Damit bleiben sie unauffällig und können auch nicht sanktioniert werden. Somit wird durch einen anfänglich eher passiven und beobachtenden Umgang (Selbst-)Sicherheit bewahrt. Nach einem Zuwachs an Informationen, wird auch mehr Handlungssicherheit gewonnen. Das nachfolgende Ankerbeispiel stammt aus dem Spiel `Bälle – Kooperative Kommunikation´ aus der Klasse 1. Die Schüler/innen haben jeweils verschiedene Aufgabenzettel erhalten, dürfen sich aber sich nicht verbal austauschen. Die Lehrkraft eröffnet das Spiel mit der Ansage, dass die auf dem Zettel stehenden Aufgaben erfüllt werden sollen. Die Schüler/innen legen ihre Aufgabenzettel weg und bekommen von der Sportlehrkraft die Anweisung, dass sie nun ohne zu sprechen, ihre Aufgaben erfüllen sollen. Viele Schüler/innen rennen auf die in der Sporthalle verteilten Bälle zu, sammeln einen auf und rennen mit diesem weg. Währenddessen geht Swea langsam ein paar Schritte in Richtung des aktiven Spielgeschehens, greift sich in die Haare und nimmt ihre Hand an den Mund. Sie nimmt einen Ball auf. Ihr Blick ist auf das aktive Spielgeschehen gerichtet und auch zu Nina, die in circa vier Meter Entfernung das Spiel beobachtet. Swea verharrt auf ihrem Platz. Nachdem das Spiel beginnt, widmet sich Swea der gestellten sportunterrichtlichen Aufgabe und geht in Richtung des Spielgeschehens. Im Gegensatz zu einem selbstständig-aktiven Umgang ist das Aktivitätsniveau niedriger (Swea geht und läuft bzw. rennt nicht). Nichtdestotrotz ist sie dem neuen Spiel gegenüber aufgeschlossen und möchte sich am Spielgeschehen beteiligen. Deshalb nimmt sie auch einen Ball in die Hand. Allerdings zeigen ihre Übersprungsbewegungen bzw. -handlungen, dass sie sich in der Situation unsicher fühlt. Übersprungsbewegungen werden als in Konfliktsituationen auftretende irrelevante Handlungen gesehen (Becker-Carus, 2017, S. 1741). Irrelevant insofern, als dass sie nicht zur Situationsbewältigung beitragen (im Zusammenhang mit dem Ankerbeispiel gemäß des „fight or flight“-Konzeptes mitspielen oder sich aus dem Spielgeschehen zurückziehen). Allerdings scheinen Übersprungshand-

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7 Ergebnisse

Abb. 11. Anfängliche Handlungsweise „Die zurückhaltende Beobachtung“

lungen für die Bewältigung und Reduktion von Stressmomenten hilfreich zu sein, weshalb sie eine beruhigende Auswirkung auf Personen haben. Das sich an die Haare streichen (siehe Abbildung 11) und an den Fingern knabbern scheinen Swea im sportunterrichtlichen Moment (unterbewusst) Sicherheit zu geben. Swea beobachtet das Spielgeschehen und blickt auch zu Nina, die ebenfalls am Rande des Spielfeldes das Spiel beobachtet. Durch die Beobachtung des Spielgeschehens kann sich Swea Informationen zum Spielverlauf erschließen. Da Swea im Gegensatz zur Strategie „Suche nach sozialer Unterstützung“ nicht aktiv auf Nina – als weitere beobachtende Person – zugeht, dient der Blick zu ihr wahrscheinlich vor allem einer Vergewisserung, dass auch weitere Personen das Spiel und dessen Regeln noch beobachtend erschließen möchten. Konfigurationsanalytisch nimmt Swea zunächst einen kleinen Bewegungsradius ein, da sie in der Anfangsphase des Spiels nur ein paar Schritte zum Spielgeschehen macht und anschließend auf ihrem Standort verharrt. Die anfängliche Strategie der „zurückhaltenden Beobachtung“ ist über alle Klassen hinweg und in allen Spielkontexten, die den Eintritt in das Spielgeschehen oder einen Spielbeginn wie bei dem vorgestellten Ankerbeispiel beinhalten, beobachtbar. Bei den Analysen von Regeleinführungen ist eine valide Aussage über eine zurückhaltende Beobachtung schwierig, da viele Kinder bei Sportlehreransagen wenig bis keine Reaktion zeigen. Diese Kinder, die solch einen neutralen bzw. indifferenten Umgang gegenüber neuen Regeleinführungen zeigen, werden nicht in die Anfangsstrategie der zurückhaltenden Beobachtung inkludiert.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

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Bei den Spielen, in denen Schüler/innen auf ein neues Spiel mit unklarem Spielgang treffen, kann bei vielen Kinder eine `passiv-aktive´ Beteiligung im Sinne einer zurückhaltenden Beobachtung festgestellt werden, die durch folgende spiel- und klassenübergreifende Merkmale definiert werden kann: x x x

Aktive Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsinhalt: Der Blick ist auf das sportunterrichtliche Geschehen gerichtet Geringer Bewegungsradius Standort eher an der Peripherie des Spielgeschehens

Zudem zeigen sich bei jenen Kinder der Strategie oftmals verschiedene Übersprungshandlungen im Sinne von Handlungen die aus situativfunktionaler Sicht nicht zweckmäßig erscheinen (Becker-Carus, 2017, S. 1741). Folgende Übersprungshandlungen wurden im Rahmen der Stra64 tegie „Zurückhaltende Beobachtung“ identifiziert : x x x x x 7.2.1.5

Sich durch die Haare streichen oder mit den Haaren spielen Das Gesicht in den Händen vergraben (i.S. eines sich Versteckens) An der Sportkleidung herumzupfen Fingernägel kauen bzw. an Hand und Fingern knibbeln Schnelle Bewegungen mit den Fingern machen (vgl. „Klavierspielen“) Zwischenfazit: Anfängliche Handlungsweisen auf inszenierte Fremdheit im Sportunterricht

Bisherige Analysen betreffen die anfänglichen `Reaktionen´ der Schüler/innen auf die sportunterrichtliche Inszenierung von Fremdheit. Der erste beobachtbare Umgang mit `Fremdheit´ gibt die aktuell-situative Grundhaltung der Schüler/innen zu der didaktische Inszenierung wieder. 64

Im Rahmen der Validierungsstrategie, die Verhaltensweisen der Schüler/innen im konventionellen sportunterrichtlichen Spiel (ohne gezielte didaktische Inszenierung) vergleichen, zeigen einige Kinder ebenfalls die in den didaktischen `Fremdheitsspielen´ aufgetretenen Übersprungsbewegungen. Sie können zwar in die Analysen der Fremdheitsspiele einbezogen werden, bedürfen allerdings einer reflektierten Interpretation: Es kann nicht darauf geschlossen werden, dass die Schüler/innen nur aufgrund der gesetzten Inszenierungen diese Übersprungshandlungen gezeigt haben.

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7 Ergebnisse

Um den impulsiven Umgang der Schüler/innen zu untersuchen, wurden einerseits die Umgangsweisen der Schüler/innen bei der Einführung von das vertraute Spiel `zerstörende´ Regeln oder bisher unvertraute Spielvarianten betrachtet. Ein weiterer Spielkontext umfasst das Eintreten der Schüler/innen in einen neuen Spielkontext. Auch wenn theoretisch angenommen wird, dass dieser anfängliche Impuls eine (vor-)reflexive Grundhaltung der Schüler/innen auf einen bestimmten Gegenstand zeigt, erlauben es die Analysen, unterschiedliche Intentionen dieses ersten Umgangs zu rekonstruieren. Deshalb findet auch der Handlungsbegriff zur Beschreibung der anfänglich beobachtbaren Aktivitäten der Schüler/innen Verwendung. Zunächst kann festgehalten werden, dass Schüler/innen die didaktisch inszenierte Fremdheit in sportunterrichtlichen Spielen bzw. Spieleinführungen auf unterschiedliche Weise verarbeiten, einordnen und mit den gegebenen Anforderungen auf beobachtbarer Ebene umgehen. Insgesamt konnten verschiedene – auch theoretisch angenommene – Umgangsweisen der Schüler/innen auf Fremdheit in der sportunterrichtlichen Praxis beobachtet werden. Auffallend ist, dass bei den Regeländerungen, die auf eine Verfremdung des vertrauten Spiels („Fußball einmal anders“; „Was bedeutet es fremd zu sein?“) folgten oder die eine Benachteiligung von bestimmten Gruppen hervorrief („Regelspiel“), in hohem Maße und über alle Klassen hinweg zu einer abwehrenden Umgangsweise der Schüler/innen führte. Das Eintreten in ein neues Spielgeschehen hingegen führte nie zu einer anfänglich abwehrenden Reaktion der Schüler/innen. Vielmehr waren alle Schüler/innen bemüht mit den neuen Spielgegebenheiten auf konstruktive Weise umzugehen.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

195

7.2.2 Folgehandlungen auf Fremdheit In diesem Kapitel wird die sequenzielle Struktur der in einem Spielsegment vorkommenden Umgangsweisen dargestellt. Da über den zeitlichen Verlauf der Grad an Intentionalität beim Umgang mit sportunterrichtlicher Fremdheit zunimmt, erscheint für die Rekonstruktion des sequenziellen Verlaufs der Handlungsbegriff besonders relevant. Die zusätzliche Verwendung des Strategiebegriffs bzw. die Kombination beider Begrifflichkeiten („Handlungsstrategie“) betont den intentionalen Charakter von beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen in besonderem Maße. Prinzipiell konnten alle anfänglichen Umgangsweisen auch als Folgehandlungen im Rahmen eines Spielverlaufs erkannt werden. Darüber hinaus konnten folgende Folgehandlungen auf anfängliche Startreaktionen identifiziert werden: x x x x

Handlungsstrategie des Rückzugs Handlungsstrategie des Vereinnahmens Handlungsstrategie des „Dranbleibens“ Ambivalente Handlungsstrategien

Grundsätzlich ist innerhalb einer Spielsituation eine Vielzahl von potenziellen „Entwicklungsmöglichkeiten“ der Umgangsweisen möglich. Das heißt, innerhalb eines sportunterrichtlichen Spiels kann die Kombination einer Vielzahl von unterschiedlichen Umgangsweisen identifiziert werden (vgl. Abbildung 12). In den nachfolgenden Kapiteln werden diejenigen Strategien genauer beschrieben und mit Ankerbeispielen nachvollziehbar untermauert, die als „neue“ Folgehandlungen identifiziert wurden.

Rückzug (ggf. mit Abwehr)

„Dranbleiben“

Rückzug (ggf. mit Abwehr)

„Dranbleiben“

Abwehr

„Vereinnahmen“

Zurückhaltende Beobachtung

Rückzug (ggf. mit Abwehr)

Selbstständigexplorative Auseinandersetzung

Suche nach sozialer Unterstützung

Ambivalente Strategien (aktiv-passiv)

Selbstständigexplorative Auseinandersetzung

Selbstständigexplorative Auseinandersetzung

Zurückhaltende Beobachtung

Strategie der zurückhaltenden Beobachtung

Suche nach sozialer Unterstützung

Strategie der Suche nach sozialer Unterstützung

Suche nach sozialer Unterstützung

Strategie der selbstständig-explorativen Auseinandersetzung

Anfängliche Handlungsweisen mit Fremdheit

Didaktisch inszenierte Fremdheit im Sportunterricht

Abwehr

Rückzug (ggf. mit Abwehr)

Selbstständigexplorative Auseinandersetzung

Strategie der Abwehr

196 7 Ergebnisse

Abb. 12. Überblick über die anfänglichen sowie folgenden Handlungsweisen mit didaktisch inszenierter Fremdheit im Sportunterricht

Folgehandlungen auf Fremdheit

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene 7.2.2.1

197

Handlungsstrategie des Rückzugs

Die Strategie des Rückzugs äußert sich durch die Zurücknahme des Engagements und ist mit einem räumlichen Rückzug aus dem Spielgeschehen verbunden. Die Kinder resignieren, indem sie sich räumlich und emotional vom dem Spielgeschehen distanzieren. Eine aktive Teilnahme am Spielgeschehen wird bewusst verweigert. Diese Strategie findet insbesondere in Situationen von sozialer Deprivation Anwendung, in denen den Kindern die (Spiel-)Zugehörigkeit und Anerkennung entzogen wird. Die Distanzierung vom Spielgeschehen schützt den eigenen Selbstwert. Nicht selten ist ein Rückzug mit einem Zusammenschluss mit anderen `Betroffenen´ oder einer aktiv-verbalen Abwehrstrategie gekoppelt. Die Strategie des Rückzugs, bei der Schüler/innen ihr (anfänglich) aktives Engagement am Spielgeschehen zurücknehmen und sich auch räumlich von der sportunterrichtlichen Situation zurückziehen, ist vergleichbar mit der von Amelsberg (1985, S. 85-86) identifizierten Schülertaktik des „Entzugs“ und der von Miethling und Krieger (2004, S. 250) definierten Sicherungsstrategie „Umgehen“. Nach Amelsberg (1985, S. 85) finden situative Entzugstaktiken in „Notsituationen des Unterrichts“ Anwendung. Auch Miethling und Krieger (2004, S. 250) verweisen darauf, dass Schüler/innen die Strategien des Umgehens in mehr oder weniger selbstwertbedrohenden Situationen im Sportunterricht wie beispielsweise Ungerechtigkeitserleben oder bloßstellender „körperlicher Exponiertheit“ anwenden. Ziel eines Entzugs von psychisch bedrohlichen sportunterrichtlichen Ausnahmesituationen ist die (Wieder-)Herstellung von ritueller sportunterrichtlicher Ordnung und Sinngebung. Wie auch bei Amelsberg (1985) sowie Miethling und Krieger (2004) meint die hier dargelegte Strategie „Rückzug“ in jedem Fall einen körperlichen Entzug bzw. einen Nicht-Einsatz im aktuellen sportunterrichtlichen Geschehen. Durch eine körperlich-räumliche Distanzierung aus dem aktuellen Geschehen, erfolgt eine Distanzierung auf emotionaler Ebene. Die Nicht-Beteiligung schützt somit die eigene Identität und kann als `stillen´ Protest gegen die

198

7 Ergebnisse

aktuelle Situation eingeschätzt werden. Schüler/innen reflektieren die Interaktionen und die in ihr verankerten Erwartungen an die eigene Person, distanzieren sich schließlich anhand der Strategie des Rückzugs explizit von ihrer aktuellen Rolle als Schüler/in und bringen ihre immanenten Bedürfnisse in die Situation ein (Krappmann, 2000, S. 133). Der Rückzug kann im Sinne eines Protestes durch aktive verbale Kommentierungen und Abwertungen unterstützt werden, was den psychischen `Haushalt´ der Personen durch Frustablass zum Positiven regulieren kann (Miethling & Krieger, 2004, S. 251). Zudem kann durch einen sozialen Zusammenschluss mit anderen Personen, eine „Ich-Bestätigung“ erfolgen, was zu einer subjektiven Verbesserung der aktuellen Situation führen kann. Das folgende Ankerbeispiel ist aus dem in der Klasse 2 durchgeführten Spiel „Bewusstes Ignorieren“ entnommen. Aus Team `gelb´ verlässt Oliver die Sporthalle und aus Team `blau´ wird Clarissa nach draußen geschickt. Die dringebliebenen Schüler/innen bekommen die Anweisung, Oliver und Clarissa im nachfolgenden Spiel nicht mehr anzuspielen. Die Sequenz beginnt, als Oliver wieder in die Sporthalle kommt und kurz darauf das Basketballspiel anfängt. Die Lehrkraft pfeift das Basketballspiel an. Team blau ist in Ballbesitz und Oliver steht vor seinem Korb in der Abwehr, hat seinen Blick zum Spielgeschehen in der Hallenmitte gerichtet und bewegt sich hin und her. Anschließend geht Oliver auf das gegnerische Team – welches immer noch in Ballbesitz ist – zu und stellt sich mit gestreckten Armen vor Katrin, die gerade den Basketball besitzt. Katrin läuft mit dem Ball prellend von Oliver weg. Oliver verfolgt sie und streckt immer wieder seine Arme vor ihr in die Höhe, um einen potenziellen Pass abzuwehren. Jil bekommt den Ball von Katrin gepasst und gelangt mit Ball in Richtung des Korbes von Team gelb. Oliver sprintet zu ihr hin und streckt seine Arme zur Deckung in die Höhe. Jil macht Schrittfehler, worauf David aus Olivers Team den Ball erhält und diesen nach vorne in Richtung des Korbes von Team blau zu Carolina passt. Oliver rennt zum Spielgeschehen, streckt seine Arme in die Höhe und zeigt sich anspiel-

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

199

bar. Als der Ball von Team blau ins „Aus“ geschlagen wird, bekommt Olivers Team einen Einwurf. Katrin hat den Ball und steht am Spielfeldrand; Oliver steht ungedeckt in etwa zwei Meter von Katrin entfernt und streckt seine Arme aus. Katrin passt zu Oliver, der den Ball sofort in Carolinas Richtung abspielt. Der Ball wird allerdings von Sabri aus Team blau abgefangen. Oliver läuft zu Sabri und versucht ihn zu decken. Nach einem Rückpass erzielt Sabri einen Korb. Olivers Team erhält nun den Ball. Carolina hat den Ball, Oliver steht ungedeckt einige Schritte vor ihr und streckt seine Arme in die Höhe. Carolina passt zu Jeanette, die direkt neben Oliver steht. Oliver schaut Jeanette an und streckt seine Arme zu ihr aus. Jeanette passt zu Carolina zurück. Als Sabri vom gegnerischen Team den Ball erhält und sich in Richtung des Korbes von Team gelb bewegt, läuft Oliver schnell Sabri hinterher. Der Korbwurf von Sabri prallt am Brett ab und Lisa von Olivers Team – die direkt neben Oliver steht – ergattert den Ball. Oliver geht von Lisa weg und zuckt mit den Achseln. Das Team von Oliver bewegt sich zum gegnerischen Korb. Oliver hat den Blick auf das Spielgeschehen gerichtet und geht ein paar Schritte mit dem Spielgeschehen mit. Allerdings steht er nun hinten in der Abwehr. Oliver schaut immer wieder in Richtung der Lehrkraft, die das Spiel schiedsrichtet. Oliver rennt wieder in Richtung des Spielgeschehens und versucht den Ball – den das gegnerische Team nun hat – abzuwehren. Oliver dreht sich zu der Sportlehrkraft um, scheint etwas zu sagen und hebt seine Arme in die Höhe. Er geht vom Spielgeschehen weg und stellt sich unter `seinen´ Korb. Oliver schaut währenddessen auf den Boden, bewegt sich in Richtung des anderen Spielfeldes und schaut dorthin. Oliver geht noch einmal über das ganze Feld zum Spielgeschehen, wendet sich dann ab und geht – mit dem Rücken zum Spielgeschehen gewandt – in Richtung `seines´ Korbes. Dann geht er zu den Bänken, die die Spielfeldbegrenzung markieren, stellt sich darauf und balanciert auf den Bänken herum. Sein Blick ist nach unten auf die Bank gerichtet. Oliver kommt an der Sportlehrkraft vorbei, setzt sich auf die Bank und sagt zur Lehrkraft: „Die ignorieren mich! Das ist nicht cool!“.

200

7 Ergebnisse

Oliver verschränkt seine Hände vor dem Körper, nimmt sein Leibchen und vergräbt sein Gesicht darin. Er stützt sein Gesicht in die Hände und verharrt auf der Bank. Oliver setzt sich – wie das Ankerbeispiel darlegt – in der anfänglichen sportunterrichtlichen Situation aktiv mit dem Unterrichtsgegenstand auseinander; er ist fokussiert auf das Spielgeschehen, rennt zum Spielgeschehen hin, zeigt sich anspielbereit und versucht Personen aus dem gegnerischen Team zu decken. Als seine Gruppe einen Freiwurf erhält, ist er anspielbereit und bekommt auch – entgegen der vereinbarten Regel mit den dringebliebenen Schüler/innen – den Ball zugespielt. In diesem Moment war Oliver in das Spielgeschehen integriert, weshalb er keine Differenzen zum bisher vertrauten Basketballspiel wahrnehmen konnte und sich zu seiner Mannschaft zugehörig fühlte. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Oliver wahrscheinlich noch kein Gefühl der Fremdheit wahrgenommen, da das bisherige Spielgeschehen nicht im Widerspruch zu seinen eigenen Bedürfnissen (den Ball erhalten und einen Spielbeitrag leisten) stand und das aktuelle Spielgeschehen in seine bisher gemachten Erfahrungen und Sinnstrukturen eingebettet werden kann. Als Oliver allerdings trotz einer optimal anspielbaren Position (ungedeckt und in der unmittelbaren Nähe zur Ballbesitzenden) mehrmalig den Ball nicht erhält, scheint er wahrzunehmen, dass er bewusst von dem Spielgeschehen ausgegrenzt wird. Dieses Bewusstwerden der aktuellen sozialen Position kann durch unterschiedliche beobachtbare Umgangsweisen von Oliver erschlossen werden: Er entfernt sich von Mitspieler/innen und nimmt sein bisheriges Engagement zurück. Dies wird deutlich, da er sich nicht wie zuvor inmitten des Spielgeschehens (i.S. von Ballbesitzenden) stellt, sondern sich in eine – in der aktuellen Situation – passive Abwehr stellt. Der Blick von Oliver schweift mehrmals zur Lehrkraft und nicht zu Mitschüler/innen, weshalb die spezielle Rolle der Lehrkraft, die auch die Rolle der Schiedsrichterin innehat, hervorgehoben wird. Olivers Blick zur Lehrkraft stellt ein Kommunikationsmedium dar, durch welches gleichermaßen Protest und Unverständnis geäußert oder auch Unterstützung eingefordert werden kann. Das Mitteilungsbedürfnis von Oliver wird durch seine Gestik unterstützt. Oliver wendet sich wahr-

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

201

scheinlich an die Sportlehrkraft, da mit der normativ erwartete Rolle der (Sport-)Lehrkraft ihr Einsatz für Gerechtigkeit in Verbindung gebracht wird (Ulich, 2001, S. 105). Da die von Oliver gesetzten Erwartungen an die Sportlehrkraft vermutlich nicht erfüllt werden, kann der weitere Rückzug (z.B. dem Spielgeschehen den Rücken zukehren) von Oliver begründet werden. Zudem versucht Oliver Informationen über den Spielverlauf zu erlangen, indem er auf das andere Spielfeld blickt. Dadurch findet eventuell eine Vergewisserung statt, dass die bewusst werdende soziale Ausgrenzung nicht als ein auf seine Person bezogenes Phänomen anzusehen ist, sondern als eine von externer Stelle vorgegebene didaktische Inszenierung gilt. Nachdem Oliver die eindeutige Bestätigung der bewussten sozialen Ausgrenzung deutlich wird, wird der komplette Rückzug aus dem Spielgeschehen durch das Verlassen des Spielgeschehens vollzogen. Oliver balanciert auf der Bank und legt seinen Fokus somit nicht mehr auf das Spielgeschehen. Als er an der Lehrkraft vorbeikommt, lässt er seinen Unmut heraus und sagt, dass es „nicht cool“ sei von seinen Mitspieler/innen ignoriert zu werden. Für das Ignoriert-Werden macht er in diesem Moment nicht die Sportlehrkraft verantwortlich, sondern seine Teamkamerad/innen. Durch die zur Sprache kommende Situationsbeschreibung, aber auch seine emotionale Beteiligung am aktuellen Sportunterrichtsgeschehen, gibt Oliver der entstandenen Frustrationen Raum und erhofft sich eventuell auch eine Interaktion mit und somit auch ein Erkannt-Werden durch die Lehrkraft. Letzten Endes scheint er sich durch die bewusste Nicht-Teilnahme am Spielgeschehen von der Gruppe und dem Spielgeschehen zu distanzieren, um (weitere) soziale Ablehnungen zu vermeiden. Da die ungleiche Machtbalance zu asymmetrischen sozialen Beziehungen führt, ist eine „balancierte“ Ich-Identität erschwert bzw. ist es in Situationen extremer Repression – wie in den Spielkontexten, in denen Schüler/innen exkludiert werden – dem Individuum gar unmöglich gemacht, Balance zu halten (Krappmann, 2000, S. 81), weshalb ein Rückzug und die Entfernung aus dem sozialen Geschehen für die (Wieder-)Herstellung der Identität bedeutsam ist. Der komplette Rückzug von Oliver wird durch das Hinsetzen auf die Bank deutlich (vgl. Abbildung 13).

202

7 Ergebnisse

Abb. 13. Folgehandlung des Rückzugs 65

In einem ähnlichen Experiment fand Williams (2001, S. 125) heraus, dass sozialer Ausschluss zu starken emotionalen (v.a. Ärger) und kognitiven (v.a. Selbstwertbelastungen) Reaktionen führen kann. Sogar auf physiologisch-neurologischer Ebene fand die Forschungsgruppe heraus, dass „soziale Schmerzen“ quasi positiv mit körperlichen Schmerzen korrelieren. Demnach werden in den beiden unterschiedlichen Schmerzformen dieselben Hirnareale aktiviert und ziehen homologe physiologische Reaktionen nach sich (Eisenberger, Lieberman & Williams, 2003). Eine Ausgrenzung wird je nach Umständen stärker empfunden: Je bedeutsamer der Lebensbereich ist, in dem soziale Ausgrenzung erfahren wird oder je weniger alternative Gruppen für die Person offenstehen oder je ungerechter die Person den Ausschluss empfindet, desto schmerzlicher wird der Ausschluss empfunden (Fischer & Wiswede, 2009, S. 656). Die eigene Studie ist im Gegensatz zu Williams (2001) Studie in einem anderen Setting durchgeführt worden: Der Kontext Schule und Unterricht besitzt einen ernsteren und wahrscheinlich bedeutsameren Charakter als ein fiktives und einmaliges Experiment. Zudem sind die Gruppenzugehörigkeiten in Klassen gefestigter als in Williams (2001) Studie, in denen kurzfristige, unverbindliche Gruppierungen ad hoc für eine kurze Zeitspanne (weniger als fünf Minuten) gebildet wurden. Da bereits die Er65

Drei Personen warten auf ein vermeintliches Experiment: Zwei Personen sind getarnte Untersuchungsleitende, während die dritte eine Versuchsperson ist. Ein Untersuchungsleiter hat einen Ball mitgebracht und spielt sich diesen mit dem Verbündeten hin und her. Anschließend wird auch die Versuchsperson in das Ballspiel eingeschlossen. Nach einiger Zeit werfen sich allerdings nur noch die beiden Untersuchungsleitenden den Ball zu und grenzen die Versuchsperson kommentarlos aus.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

203

gebnisse von Williams (2001) nahelegen, dass das Zugehörigkeitsbedürfnis für Individuen von fundamentaler Bedeutung ist, kann geschlossen werden, dass in einem `natürlicheren´ Setting wie dem des Sportunterrichts, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit noch stärker ausgeprägt sein dürfte und bei Deprivation die eigene und soziale Identität `gefährdet´ zu sein scheint. Demnach ist der eigenständig gewählte Rückzug eine Möglichkeit, um mit der verwehrten sozialen Interaktion umzugehen. Anknüpfend an Grimmingers sportunterrichtsbezogenen Arbeiten (u.a. 2013a) zeigen sich ebenfalls aus einer Perspektive von Anerkennungsund Missachtungserfahrungen Analogien: In dem vorgestellten Ankerbeispiel und der didaktischen Inszenierung eines „bewussten Ignorierens“ wurde den Schüler/innen die grundlegendste Voraussetzung für Anerkennungserfahrungen genommen: Oliver sollte nicht mehr von den anderen als Spieler wahrgenommen werden. Das bewusste Nicht-Erkennen im Sinne von intendiertem Ignorieren wird in Anlehnung an Honneth als grundlegendste Form der Missachtung einer Person angesehen und als „looking-through“ beschrieben (Grimminger, 2013a, S. 29). Dadurch wurde Oliver für seine (ehemaligen) Mitspieler/innen quasi unsichtbar. Durch die didaktische Inszenierung in diesem Spiel bleiben somit die drei Formen der Anerkennung, die Grimminger (2013a, S. 29) in Anlehnung an die sozialphilosophischen Arbeiten von Honneth auf den Kontext des Sportunterrichts überträgt, verwehrt: Die emotionale Anerkennung im Sinne einer intersubjektiven Bestätigungen des Selbst bzw. der Bejahung und Anerkennung der Person, die soziale Anerkennung im Sinne einer sozialen Wertschätzung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die Orientierung an gemeinsamen Werten und die rechtliche Anerkennung im Sinne einer Zuerkennung von gleichberechtigten Rechten. Alle drei grundlegenden Vermittlungsformen von Teilhabe und Anerkennung bleiben fern, sodass der räumliche Rückzug ein Ausweg aus der selbstwertgefährdenden Situation ist. Der Spielkontext lässt sich auch in die soziologische Theorie der „Entfremdung“ von Kieselbach (1998) übertragen. Die von Kieselbach (1998, S. 46-47) aufgeführten Analysedimensionen einer „Entfremdung“, welche auch zu resignierenden und zurückziehenden Handlungsweisen führen können, bieten auch weitestgehend eine Erklärungsfolie für die Strategie

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7 Ergebnisse 66

des Rückzugs in dem hier vorgestellten Spielkontext : a) Die Isolation der Betroffenen als Verlust sozialer Integration im Sinne eines Rückgangs an sozialen Kontakten, b) Die Normlosigkeit als Unklarheit über die zukünftige Situation. Zudem sind eigene Anstrengungen nur mit einem geringen Grad an Rückmeldungen gekoppelt, sodass die aktuelle Situation als diffus wahrgenommen wird, was letztendlich zu einem „generalisierten Gefühl der Normlosigkeit“ (Kieselbach, 1998, S. 47) führen kann. c) Die Bedeutungslosigkeit und d) die Machtlosigkeit. Erstere ist mit dem Gedanken verbunden, für die Gruppe oder Gesellschaft unbedeutend zu sein und somit keinen (gesellschaftlich) relevanten Beitrag zu leisten. Personen fühlen sich quasi überflüssig. Die Machtlosigkeit vermittelt ein Gefühl des weitgehenden Entzuges der Eigenkontrolle in sozialen Situationen, sodass auch künftige Entwicklungen als primär fremdbestimmt wahrgenommen werden. e) Als letzte Dimension wird von Kieselbach (1998) die Selbst-Entfremdung dargelegt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass eigenen Potenzialen und Fähigkeiten kein Raum zur Entfaltung geboten wird. Überträgt man die von Kieselbach (1998) demonstrierten Dimensionen auf die Rückzugsstrategie der Schüler/innen in den inszenierten Spielsituationen, können vor allem für Spielkontexte, in denen den Schüler/innen aufgrund der gegebenen Spiellogik das Mitspielen verwehrt bleibt, Analogien gezogen werden. Wie in dem oben genannten Ankerbeispiel dargelegt, werden durch die Regeleinführung, dass einzelne Kinder nicht mehr angespielt werden dürfen, jene Personen „arbeitslos gemacht“. Oliver ist aufgrund der vorherrschenden Bedingungen nicht mehr Teil der Gruppe, ihm fehlt es demnach im aktuellen Spielgeschehen an sozialer Integration und Zugehörigkeit. Sein zunächst auftretender aktiver Einsatz und Engagement werden nicht honoriert und alle Bemühungen laufen ins Leere. Demnach kann auch bei Oliver ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Machtlosigkeit entstehen. Dadurch, dass er trotz körperlichem Einsatz keinen Beitrag zum aktuellen Spielgeschehen leisten kann und seiner Person und seinen Fähigkeiten keine Entfaltungsmöglichkeiten gegeben wird, verliert Oliver jegliche Form der Selbstwirksamkeit. Er wird für die Spielhandlungen überflüssig (ge66

Kieselbach (1998) bezieht in seinen Analysen die ausgeführten Dimensionen der `Entfremdung´ auf den Kontext der Arbeitslosigkeit.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

205

macht). Da das `Überflüssig-Machen´ qua Anweisung der Lehrkraft erfolgt, gibt es keinen Aushandlungsspielraum und Oliver ist der fremdbestimmten Situation `ausgeliefert´. Um seinen eigenen Selbstwert – trotz wahrscheinlich vorherrschender externaler Kontrollüberzeugung – zu schützen, wählt Oliver die Strategie des Rückzugs. Dadurch distanziert er sich von dem Spiel, von der sozialen Ausgrenzung und protestiert demonstrativ gegen die didaktische Inszenierung. Der komparative Vergleich zwischen den einzelnen Spielsituationen und den Klassen zeigt, dass die Folgestrategie des Rückzugs in allen drei Klassen vorkommt und vor allem in jenen Spielen zu beobachten ist, in denen Schüler/innen bewusst in eine benachteiligende und `exkludierende´ Rolle gebracht werden (Spiel „Bewusstes Ignorieren“ und „Regelspiel“). Wenn die Handlungsfähigkeit und Spielbeteiligung durch die didaktische Inszenierung und Spiellogik nicht gegeben ist, resignieren viele 67 Kinder und ziehen sich bewusst vom Spielgeschehen zurück. In den Spielen, in denen Schüler/innen in einen neuen Spielkontext wechseln bzw. in einem Spielkontext kommen, in dem für alle eine Regel geändert wurde (Spiel „Bafa Bafa“ und Spiel „Was bedeutet es fremd zu sein?“), aber prinzipiell als Teil des Teams mitspielen dürfen, kommt es selten bis gar nicht zu einem räumlichen Rückzug aus dem Spielgeschehen. Genauso wenig kommt es im Spiel „Fußball einmal anders“, bei dem neue Bewegungsformen und -arten ausprobiert werden sollen, zu der Strategie des Rückzugs. Bei Spielen, in denen bisher vertraute Kommunikationsformen ausgeschaltet werden, zeigt sich beim „Stummen Mattenballspiel“ 68 auch kein bewusstes Nicht-Teilnehmen an der Spielsituation. Allerdings zeigt sich in dem Spiel „Bälle – Kooperative Kommunikation“ ein vermehrter Rückzug aus dem Spielgeschehen: Viele Schüler/innen setzen sich zunächst aktiv mit der Spielaufgabe auseinander, aber nehmen mit der Spielzeit ihr Spielengagement zurück und ziehen sich – meist mit anderen Schüler/innen zusammen – aus dem Spielgeschehen komplett 67

Wie allerdings die Folgestrategie des „Dranbleibens“ (vgl. Kapitel 7.2.2.3) zeigt, führt eine exkludierende Spiellogik nicht zwangsläufig zu einem Rückzug aus dem Spielgeschehen.

68

Hierzu sei angemerkt, dass trotz des methodischen Arrangements (Wattebausche und laute Musik) Stimmen und Zurufe nicht ausreichend abgeschirmt werden konnten.

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7 Ergebnisse

zurück. Einige legen sich beispielsweise während der Spielzeit auf eine im Raum liegende Weichbodenmatte, reden miteinander und beteiligen sich somit bewusst nicht mehr am Spielgeschehen. Da in diesem Spiel prinzipiell eine Spielbeteiligung nicht durch externe Regeln verwehrt bleibt, müssen andere Erklärungsmuster für die bewusste Zurücknahme des Engagements im Spielgeschehen herangezogen werden. Bei diesem Spiel mussten drei verschiedene, aber prinzipiell vereinbare Aufgaben, von der Klasse nonverbal erfüllt werden (vgl. Kapitel 5.6.3). Im weiteren Spielverlauf ist zu beobachten, dass alle Schüler/innen nur auf ihre eigene Aufgabenbewältigung fokussiert sind und keine Rücksicht auf potenzielle Mitspieler/innen mit derselben Aufgabe nehmen. Auch die Idee, alle drei unterschiedlichen Aufgaben zu verbinden, um die Interessen und Vorgaben von allen zu vereinen, bleibt in den Klassen aus. Die individuelle Aufgabenbewältigung und das Erleben von `Konkurrenzkämpfen´ – im Sinne davon, dass die eigene `Arbeit´ immer wieder von anderen `zerstört´ bzw. konterkariert wird – kann zu Frustrationsmomenten führen. Ähnlich wie bei den Spielen, in denen den Kindern bewusst deren Handlungsfähigkeit und Spielbeteiligung genommen wird, kann bei diesem Spiel ebenfalls ein Gefühl der Ohnmacht entstehen. Die Kinder fühlen sich einem `Einzelkampf´ ausgeliefert, bei dem jegliche eigene Bemühungen von anderen – zumindest gefühlt – zunichte gemacht werden. Eine freudvolle Interaktion mit anderen, als ein Kriterium für die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls (Baumeister & Leary, 1995, S. 497), bleibt somit in dieser Spielsituation aus. Der Sinn des Spiels erschließt sich den Kindern in ihrer situativ interpretierten Spielkonstruktion (i.S. eines `zerstörerischen Alle-gegen-Einen´) nicht, sodass sie sich aus dem Spiel zurückziehen, um wieder für sie nachvollziehbare Sinnstrukturen herzustellen. Durch den Zusammenschluss mit anderen Schüler/innen während des Rückzugs aus dem Spielgeschehen, wird ein Wir-Gefühl und prinzipiell mehr Sicherheit durch intersubjektive Bestätigung des infrage Stellens der Spielsituation hergestellt.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene 7.2.2.2

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Handlungsstrategie des Vereinnahmens

Eine (vermeintlich) geringe Machtrate an Wissen wird durch eine situativ verfügbare Machtquelle – i.d.R. materielle Ressourcen – kompensiert. Eigene Interessen werden aktiv geäußert und kompromisslos durchgesetzt. Das Bewahren bzw. Durchsetzen des Eigenen und das Vereinnahmen von (materiellen) Machtquellen werden zur Bewältigungsstrategie. Die Strategie des Vereinnahmens kommt in den vorliegenden Daten ausschließlich in dem Spielkontext des „Bafa Bafa-Spiels“ vor, bei dem Schüler/innen von einem vertrauten Spielkontext in eine unbekannte Spielumgebung mit neuem Spiel und Regeln wechseln müssen und dort mitspielen sollen. Das Charakteristikum der Strategie ist, dass bestimmte spielentscheidende Elemente von einer Person, die sich zunächst in einer benachteiligten Position befindet, komplett `beschlagnahmt´ und somit vereinnahmt werden. Dadurch werden die am Anfang herrschende (Spiel-)Ordnung und Zugehörigkeiten durch die Vereinnahmung einer zentralen `Schlüsselposition´ umgekehrt: Die zu Beginn vorherrschende Rolle eines `Outsiders´ entwickelt sich durch die Strategie des Vereinnahmens zu einer essenziellen und das Spiel mitbestimmenden `Insider-Rolle´. Eigene Ansprüche, (Spiel-)Konstruktionen und Bedürfnisse werden auch gegenüber den vorherrschenden `Alteingesessenen´ des Spiels durchgesetzt. Wie Nick (2005, S. 253) äußert, sind Differenz- und Kontingenzerfahrungen als Ausgangspunkt für die Entwicklung der individuellen Identitätskonstruktion anzusehen. Gerade in Konflikt- und Krisensituationen nimmt die Vergewisserung der individuellen Identität einen hohen Stellenwert ein: „Das Gewinnen und Bewahren der eigenen Identität wird zur Bewältigungsstrategie“ (Nick, 2005, S. 253). Deshalb kann die „Strategie der Vereinnahmung“ als identitätssichernde Strategie der Schüler/innen angesehen werden, indem eine Rückbesinnung auf das Eigene und dessen Durchsetzung erfolgt – gegebenenfalls auch gegen Widerstände von anderen. Letztendlich dient die Vereinnahmung des Spiels auch einer

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7 Ergebnisse

Sicherung von Zugehörigkeit und Anerkennung. Durch das Einnehmen von Schlüsselpositionen wird eine Beteiligung am (Spiel-)Geschehen forciert, sodass eine (Spiel-)Zugehörigkeit zwangsläufig entsteht. Somit wird in Anlehnung an Giddens (1988) Theorie der Strukturierung deutlich, dass nicht nur Strukturen und gegebene Rahmenbedingungen auf das Handeln einwirken und es reglementieren, sondern auch, dass soziale Strukturen durch das individuelle Handeln modifiziert und (neu) produziert werden. Durch die Strategie des Vereinnahmens werden die gegebenen Strukturen aktiv durch die Person (und zugunsten ihres Selbst) verändert. Folgende Sequenz stammt aus dem Spiel „Bafa Bafa-Spiel erfinden mit eigenem Regelwerk“. Sara kommt mit Daniel in die neue Spielsituation. Das von der anderen Gruppe entwickelte und für Sara und Daniel unbekannte Spiel wird folgendermaßen gespielt: An jeder Stirnseite des Feldes steht je ein kleiner umgedrehter Turnkasten. Ein paar Meter vor dem Kasten liegt jeweils eine Turnmatte auf dem Boden. Es spielen zwei Teams gegeneinander. Ziel ist es, mit dem Tennisball einen Treffer in das gegnerische `Tor´ – den umgedrehten Turnkasten – zu erzielen. Ein Torwurf darf allerdings nur getätigt werden, wenn man mit beiden Beinen auf der Turnmatte steht. Diese Position ist nicht fix, sondern kann beliebig oft gewechselt werden. Im Raum hinter der Turnmatte (dort, wo der Turnkasten steht) darf sich nur eine Person („Torwächter/in“) befinden. Mit dem Tennisball in der Hand dürfen nur drei Schritte gemacht werden. Am Ende gewinnt jenes Team, das die meisten Punkte erzielt hat. Sara kommt auf das neue Spielfeld. Ihr Team ist in Ballbesitz. Sara rennt erst in Richtung des Balles, dann rennt sie zur gegnerischen Matte und stellt sich direkt an die Matte. Als Vincent aus ihrem Team den Ball bekommt ruft Sara laut: „Hier! Hier! Hier! Hier! Vince!“ und streckt einen Arm in die Höhe. Sara bekommt den Ball und überreicht den Ball an ihren Teamkollegen Marvin. Daniel, der mit Sara vom anderen Feld gewechselt ist, betritt die Turnmatte, auf der Marvin und Sara bereits stehen. Sara zieht Daniel herunter und sagt: „Nicht berühren!“, Marvin wirft auf den Turnkasten und trifft nicht.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

209

Nina aus demselben Team ist in Ballbesitz. Sara, die immer noch auf der Matte steht, nimmt beide Arme in die Luft, schaut zu Nina und ruft ihr zu. Nina passt den Ball zu Sara, die den Ball in Richtung Kasten wirft. Der von Sara geworfene Ball wird von der Torwächterin gehalten. Sara bleibt auf der Matte stehen. Ihr Teamkollege Tristan ist in Ballbesitz und Sara hebt sofort eine Hand in die Luft und ruft: „Hier! Tristan!“ Tristan wirft den Ball zu Vincent. Dieser wirft zu Nina. Daraufhin hebt Daniel beide Arme in die Höhe und ruft: „Hier!“, auch Sara streckt eine Hand in die Luft. Marvin aus dem gleichen Team hat sich ebenfalls auf die Matte gestellt und steht vor Sara. Als der Ball von Nina geworfen wird, springt Marvin in die Höhe und ergattert den Ball. Sara geht auf Marvin zu und versucht ihm den Ball wegzunehmen. Sie schaut ihn mit gerunzelter Stirn an und sagt: „Hey, ich will!“ Daniel kommt auch auf die Matte und bekommt von Marvin den Ball. Sara versucht nun den Ball aus Daniels Hand zu nehmen und sagt laut: „Nein, ich will werfen!“ Daniel wirft, trifft allerdings den Kasten nicht und geht rückwärts von der Matter runter. Sara bleibt auf der Matte stehen. Als Nina wieder den Ball ergattert, reißt Sara, die immer noch auf der Matte steht, ihre Arme in die Höhe, lächelt und ruft: „Jaaaa!“ Nina wirft ihr den Ball zu. Sara wirft den Ball und trifft den Kasten nicht. Marvin klatscht in die Hände und Daniel lacht hinter vorgehaltener Hand. Sara dreht sich wieder in das Feld rein, zupft an ihrem Trägertop und bleibt auf der Matte stehen. Als Nina wieder den Ball im Spiel ergattert, streckt Sara ihre Arme zu Nina aus. Sara bekommt den Ball. Sie wirft und trifft nicht. Während das Spiel weiterläuft, haben Charlotte und Vincent vereinbart, die Turnmatten näher an die Kästen zu schieben. Vincent geht zu der Matte, auf der Sara steht und möchte die Matte weiter vorschieben. Sara bleibt auf der Matte stehen und bekommt den Ball zugespielt. Sie wirft den Ball und trifft nicht. Vincent, der immer noch gehockt an der Matte steht, nimmt seine Arme in offene Haltung, schaut Sara an und scheint ihr etwas zu sagen. Sara geht mit einem Bein von der Matte herunter, einen Fuß lässt sie jedoch auf

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7 Ergebnisse

der Matte. Vincent kann die eine Seite der Matte, auf der der Fuß von Sara nicht steht, etwas nach vorne schieben. Sara stellt sich wieder komplett auf die Matte. Vincent kickt mit dem Fuß auf die Mattenhälfte, die er vorher nicht verschieben konnte, und versucht diese somit zu verschieben. Sara bleibt auf der Turnmatte stehen. Zunächst kann Saras erste Umgangsstrategie als eine selbstständigexplorativ und aktive Auseinandersetzung mit der gegebenen Situation gedeutet werden, da sie zielgerichtet in Richtung des Balles rennt und sich aktiv in das Spielgeschehen durch Rufen und Handzeichen einbringt (vgl. auch Kapitel 7.2.1.1). Es scheint, als ob Sara sehr schnell die Spielstruktur bzw. `Schlüsselmomente´ des Spiels vergegenwärtigt, interpretiert und die für das Spiel relevanten Handlungsmöglichkeiten ausgelotet 69 hat. Sara identifiziert in kürzester Zeit die Turnmatte als zentrales und spielentscheidendes Objekt und versieht sie somit mit hoher (Spiel-) Bedeutung (vgl. auch Interaktiver Symbolismus nach Blumer, 1969). Durch die hohe Bedeutungsbeimessung der Turnmatte für die sportunterrichtliche Situation, begibt sich Sara sofort auf die Turnmatte. Als sie den Ball von ihrem Teamkollegen bekommt, übergibt sie diesen zunächst an Marvin, einem `Alteingesessenen´ des Spiels. Er führt die potenziell punkterzielende Aktion aus, wodurch Sara durch Beobachtung Sicherheit über den Spielablauf erlangen kann. Gleichzeitig `markiert´ sich Sara bereits `ihr´ Revier der Turnmatte: Daniel, der ebenfalls auf die Turnmatte steigen möchte, wird aktiv von Sara daran gehindert und von der Turnmatte vertrieben („Nicht berühren!“). Sara stellt somit ihre eigenen Spielkonstruktionen und Bedürfnisse über die ihres (mit ihr gewechselten) Mitspielers, da sie ab diesem Zeitpunkt den alleinigen Anspruch auf die Turnmatte erhebt. Durch die Einnahme einer zentralen Position – über die letztendlich alle punkterzielenden und somit spielentscheidenden Aktionen erfolgen müssen – wandelt sich die Rolle von Sara: Von der ehemalig neuen, unwissenden, mit wenig Ressourcen ausgestatteten 69

Prinzipiell wäre es auch möglich, dass Sara von anderen Personen, die bereits das Spielfeld wechseln mussten, über die grundlegenden Informationen informiert wurde. Dennoch erscheinen die anschließenden Interpretationen tragfähig, da auch ein Vereinnahmen der `Machtressource´ Turnmatte auf eine bestimmte Handlungslogik von Sara schließen lässt.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

211

`Wechslerin´ besetzt Sara nun durch ihre Strategie eine der tragfähigsten und bedeutungsvollsten Positionen innerhalb der sozialen (Spiel-) Ordnung. Demnach gewinnt Sara durch ihre Strategie an situativer (Spiel-)Kontrolle, Einflussnahme und Macht (Schneider, 1978, S. 21). Zudem wird Sara immer wieder durch ihre machtvolle Position in das Spiel involviert. Durch die Sicherung ihrer Position hat sich Sara somit die Zugehörigkeit in dem Spielgeschehen gesichert. Sara bringt sich – auf der Matte stehend – immer wieder aktiv in das Spielgeschehen ein, indem sie durch Zurufe und Gestikulieren auf sich aufmerksam macht (vgl. Abbildung 14) und letztendlich auch immer wieder den Ball von ihren Mitspieler/innen zugespielt bekommt. Die durch Sara erfolgreich vereinnahmte Schlüsselposition bietet Garantie für die Spielbeteiligung, welche Sara auch aktiv verteidigt: Das Streitigmachen ihres `Territoriums´, ihrer privilegierten Position und des spielentscheidenden Instruments (Ball) führt zu einem `Kampf´ um knappe Güter und Ressourcen (Gieß-Stüber, 2000, S. 121). Die entscheidenden Güter (Turnmatte und Spielball) möchte Sara möglichst vollständig kontrollieren und äußert ausdrücklich und offenkundig („Hey, ich will!“ und „Nein, ich will werfen!“) ihren Wunsch nach Ballbesitz und Zielhandlung. Das aktive Zugehen und der Versuch das aktuelle `Besitztum´ (Ball) einem anderen übergriffig wegzunehmen, lässt darauf schließen, dass Sara `ihre´ Position zu sichern versucht. Ihre eigenen Bedürfnisse werden versucht durchzusetzen; ein Teilen der Ressource (zumindest für die `honorable´ Zielhandlung des Wurfes) ist ausdrücklich nicht erwünscht.

Abb. 14. Folgehandlung des Vereinnahmens

212

7 Ergebnisse

Die Verhaltensweisen von Daniel und Marvin, die sich gegenseitig und nicht Sara den Ball zuspielen und den Misserfolg von Saras Wurfhandlung durch Klatschen und Grinsen zumindest bemerken, kann als eine Art „Koalition“ (Tedeschi, Schlenker & Bonoma, 1973, S. 154) gedeutet werden: Die beiden schließen sich zusammen, um die machtvolle Position von Sara zu untergraben. Die sich nach Marvins und Daniels Äußerungen zeigende Übersprungshandlung von Sara im Sinne von an dem Oberteil herumzupfen, könnte ein Indiz für das Wahrnehmen der Aktivitäten der beiden Jungen sein, welche sie zu verunsichern scheinen. Nichtsdestotrotz verharrt Sara weiterhin auf der das Spiel mitbestimmenden und -gestaltenden Position und sichert sich diese auch im weiteren Spielverlauf. Der körperliche Kontakt mit der Turnmatte bleibt über das ganze Spiel bestehen. Dies signalisiert die Besitzansprüche von Sara an das Objekt, die unter keinen Umständen aufgegeben werden. Die Fokussierung und das forcierte Vereinnahmen von machtbestimmenden Ressourcen ist somit das zentrale Charakteristikum dieser Umgangsstrategie mit Fremdheit. Der Vergleich und die Kontrastierung der Umgangsweisen der Schüler/innen auf die inszenierten Fremdheitsmomente im Sportunterricht zeigen, dass die Folgestrategie des Vereinnahmens ein spezieller Fall im Umgang mit sportunterrichtlich inszenierter Fremdheit darstellt. Die Form des aktiven Durchsetzens, Bewahrens und unter Umständen auch des `Höherstellens´ der eigenen Wünsche und Bedürfnisse kam in den drei Klassen in solch einer direkten Form nur bei dem geschilderten Ankerbeispiel mit Sara vor. In den anderen Klassen gibt es viele Schüler/innen, die ihre Wünsche (z.B. angespielt werden) aktiv äußern, allerdings kann diese Form als eine Form des „sich weiter auf das Spielgeschehen Einlassens“ gedeutet werden, weil das Eigene nicht über die Bedürfnisse anderer durchgesetzt und verteidigt wird. Da das Ankerbeispiel von Sara jedoch so gehaltvoll ist und die im Einzelfall entdeckten Merkmale und Phänomene im Umgang mit Fremdheit theoretisch relevant sind, wird das singuläre Auftreten dieser Umgangsstrategie als eigenständige Handlungsstrategie aufgeführt. Denn wie Kelle und Kluge (2010) darlegen, können auch Einzelfälle je nach Relevanz und nach

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

213

sorgfältiger Kontrastierung und Vergleichsziehung mit weiterem Datenmaterial als „Typus“ aufgeführt werden. 7.2.2.3

Handlungsstrategie des „Dranbleibens“

Von Ambiguität gekennzeichnete Situationen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit sowie Wissen und Nicht-Wissen können ausgehalten werden. Das Weiterspielen in unsicheren Situationen oder gar (offensichtlich) „aussichtslosen“ Situationen, bewahrt das Gefühl des Dazugehörens. Die eigene Position wird verteidigt und somit (theoretisch) gesichert. Die Strategie des „Dranbleibens“ ist eine Umgangsweise, die ausschließlich in Kontexten von Situation auftreten kann, die per definitionem für die Beteiligten zunächst einmal `erschwert´ bzw. gar `aussichtslos´ sind. Aussichtslos meint in diesem Zusammenhang, dass von externer Stelle Restriktionen gegen die betroffenen Personen festgelegt wurden. Im Fall dieser Studie wurden von externen Personen Bestimmungen getroffen, durch die eine Beteiligung von einigen Schüler/innen regulativ verhindert wurde. Erschwernisse werden vor allem bei jenen Spielen didaktisch provoziert, in denen Schüler/innen an neuen `Spielkulturen´ teilnehmen 70 müssen und gegebenenfalls bei Regelübertritten sanktioniert werden. Trotz der auftretenden Barrieren und eventuell auftretenden Rückschläge – auch gegenüber der eigenen Person – führen die betroffenen Personen ihre aktive Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand fort. Bezogen auf das sportunterrichtliche Spiel bleiben die Schüler/innen trotz der für sie hinderlichen didaktischen Inszenierungen an der Sache `dran´ und setzen sich weiterhin aktiv mit den unterrichtlichen Aufgaben auseinander und erfüllen somit ihre von ihnen erwartete Anforderungen an die 70

Im Spiel „Bewusstes Ignorieren“ kann die Lehrkraft als regulative Instanz gesehen werden, die die Spielbeteiligung einzelner Schüler/innen limitiert. Im „Regelspiel“ hingegen sind es teilweise die Schüler/innen selbst, die anderen Schüler/innen eine Teilnahme am Spiel verwehren. Des Weiteren wurden beispielsweise bei dem Spiel „Was bedeutet es fremd zu sein?“ Schüler/innen bei unwissentlichem Regelübertritt von der Sportlehrkraft sanktioniert, was ebenfalls eine erschwerte (aber keine „aussichtslose“) sportunterrichtliche Situation darstellt.

214

7 Ergebnisse

aktuell dominierende Rolle des/r Schülers/in. Aus einer sozialpsychologischen Perspektive kann die persistente Auseinandersetzung – trotz unsicherer und widriger Umstände – das Bedürfnis nach Zugehörigkeit widerspiegeln. Denn eine Irritation von (bisher) vertrauter und selbstverständlicher Zugehörigkeit kann zu affiliativen Handlungen führen (Baumeister & Leary, 1995, S. 508). Die Strategie des „Dranbleibens“ wird als solch eine affiliative Handlung angesehen, durch die die Schüler/innen ihre `Funktion´ als (bedeutendes) Teammitglied bewahren möchten und auch können. Durch das Dranbleiben und die aktive Teilnahme kann die eigene Position im Team gesichert werden. Das folgende Ankerbeispiel entstammt aus dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“, in dem Vincent und Lena aus „Team Grün“ und Carina und Jasmin aus „Team Blau“ zunächst aus der Halle geschickt werden und nach dem Zurückkommen in die Sporthalle von ihren jeweiligen Teams nicht mehr angespielt werden. Das Spiel beginnt. Vincent und Lena, die nach draußen geschickt wurden und im Laufe des Spiels nicht mehr angespielt werden sollen, versuchen am Spielgeschehen teilzunehmen: Sie laufen dem Ball nach, laufen sich frei und zeigen sich anspielbar durch Zurufe und Handzeichen. Marvin vom gegnerischen Team hat den Ball und sowohl Vincent als auch Lena rennen in Richtung `ihres´ Korbes. Carina und Jasmin, die aus Team blau rausgeschickt wurden und somit nicht mehr anspielbar sind, sitzen etwas abseits des Spielgeschehens auf dem Boden und haben sich aus dem Spielgeschehen zurückgezogen. Vincent wehrt einen gegnerischen Pass ab, wirft den Ball zu Daniel und rennt sofort zum gegnerischen Korb. Lena rennt auch zum gegnerischen Korb. Vincent zeigt sich spielbereit, ruft „Daniel!“, springt in die Luft, nimmt dabei seine Arme in die Höhe und winkt. Vincent bekommt den Ball nicht zugespielt. Daniel erzielt einen Korb und somit erhält Team blau den Ball. Marvin aus Team blau wirft den Ball weit und hoch in die Luft. Vincent rennt zum Ball, fängt diesen und wirft den Ball zu Daniel. Lena streckt ihre Arme in die Höhe und winkt. Vincent rennt nach vorne zu dem gegnerischen Korb, hat seinen Blick auf das

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

215

Spielgeschehen gerichtet, winkt mit den Händen und deckt verschiedene Personen des gegnerischen Teams. Lena hat den Ball ergattert und Vincent läuft sich frei, nimmt eine Hand in die Luft und ruft laut Lenas Namen. Lena passt zu Marco aus ihrem Team, der auf den Korb wirft. Der Ball prallt von der Korbwand ab und Lena fängt ihn und erzielt einen Korb. Sie nimmt ihre Hände in die Höhe, hüpft und ruft: „Wuhuuu!“ Vincent klatscht in die Hände. Kurz darauf wird das Spiel abgepfiffen. Das Ankerbeispiel mit Lena und Vincent im Spiel „Bewusstes Ignorieren“ illustriert die Strategie des „Dranbleibens“. Gleich zu Spielbeginn laufen sich die beiden frei, machen auf sich aufmerksam und haben ihren Blick immer auf den Ball und das aktuelle Spielgeschehen gerichtet. Beide werden nicht aktiv und initiativ von ihren Mitspieler/innen angespielt, ergattern allerdings durch ihre Eigeninitiative immer wieder den Ball, weshalb sie durch ihre Strategie am Spiel teilnehmen können. Carina und Jasmin, die vom gegnerischen Team nach draußen geschickt wurden und nicht mehr angespielt werden sollen, setzen sich auf den Hallenboden hin und ziehen sich gemeinsam aus dem Spielgeschehen zurück (vgl. auch Kapitel 7.2.2.1; Folgestrategie des Rückzugs). Diesen Umstand scheinen sowohl Vincent als auch Lena auszublenden, da sie den beiden keine Beachtung schenken, an ihnen vorbeirennen und sich weiterhin auf das Spielgeschehen fokussieren. Demnach können sowohl Vincent als auch Lena ihre widersprüchliche Position – eine scheinbar überflüssigen Teamzugehörigkeit – aushalten und eine Strategie für sich deuten und umsetzen, durch die zumindest der Schein des Dazugehörens bewahrt werden kann. Das Gefühl der Zughörigkeit kann selbstwertstärkende Wirkungen haben (Erdmann, 2006, S. 144). Doch nicht nur ein Gefühl der Zugehörigkeit kann durch die Strategie des Dranbleibens geschaffen werden, sondern die Eigeninitiative von Vincent und Lena provoziert auch eine Spielbeteiligung respektive -zugehörigkeit. Demnach können Lena und Vincent ihren eigenen Status des NichtDazugehörens durch das persistente und aktive Dranbleiben an der Spielsituation dekonstruieren: Durch beispielsweise das Freilaufen oder aktiv zum Spielgeschehen Hinlaufen (vgl. Abbildung 15), können sowohl

216

7 Ergebnisse

Abb. 15. Folgehandlung des Dranbleibens

Vincent als auch Lena Pässe abfangen und dadurch in das Zentrum des Spielgeschehens rücken. Der Ball als machtvolles Spielinstrument und vor allem dessen Beisitz können als das entscheidende Moment für die Vergabe von zumindest temporärer Anerkennung von Individuen gelten. Die ballbesitzende Person wird zwangsläufig von anderen identifiziert und auf sie wird in irgendeiner Form eingegangen. Erst durch das Erkennen der ballbesitzenden Person und eine Reaktion auf sie kann das Spiel fortgeführt werden. Demnach können sich Vincent und Lena durch den temporären Besitz des Spielgegenstandes aus ihrer vermeintlichen (didaktisch provozierten) 71 Unsichtbarkeit befreien (vgl. Grimminger, 2013a ). Da der Spielgegenstand eine zentrale Rolle bei der Strategie des Dranbleibens spielt, zeigt sich aus einer konfigurationsanalytischen Perspektive eine räumliche Nähe der Personen zu dem Spielinstrument. Letzten Endes kann der Besitz des Spielballes sogar dazu führen, dass sich spielentscheidende Momente aus der Situation ergeben: Lena erzielt einen Korb und leistet somit einen entscheidenden Beitrag zum Spielausgang. Der erfolgreiche Zielwurf führt dazu, dass Lena im aktuellen sportunterrichtlichen Geschehen eine tragende Rolle für das Spiel (und dessen Ausgang) innehat und 71

Die von Grimminger (2013a) untersuchten Umgangsstrategien mit Unsichtbarkeit sind im Kontext von Fang- und Abwurfspielen, in denen „Gefangene“ wieder befreit werden müssen, anzusiedeln. Das heißt, in Grimmingers (2013a) Studie waren die Schüler/innen für eine Spielteilnahme komplett auf ihre Mitschüler/innen angewiesen. Bei diesem Ankerbeispiel und dem Spielkontext können sich Schüler/innen eigeninitiativ aus ihrer Position „befreien“, indem sie in den Besitz des Machtinstruments i.S. des Balls gelangen.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

217

sie zwangsläufig zu ihrem Team dazugehört, da sich ihr Korb durch den Spielstand manifestiert. Wie bereits eingangs erwähnt, kann die Folgestrategie des „Dranbleibens“ nur in Spielkontexten auftreten, in denen eine Spielbeteiligung durch externe Vorgaben erschwert bzw. unterbunden wurde. Das Unterbinden von Spielbeteiligung betrifft die Spiele „Bewusstes Ignorieren“ und das „Regelspiel“: In diesen Spielen kam die Strategie des persistenten „Dranbleibens“ nicht in allen Klassen vor und auch seltener als die Strategie des Rückzugs, bei dem Schüler/innen nach einiger Zeit resignierten und sich bewusst aus dem Spielgeschehen zurückzogen. In den Analysen konnte zudem eine besondere Form der Strategie des Dranbleibens identifiziert werden. Es zeigte sich, dass Schüler/innen, die bei `erschwerten Bedingungen´ aktiv am Spielgeschehen dabei blieben, irgendwann mit (mindestens) einem/r weiteren „bewusst ignorierten“ Schüler/in kooperierten. Durch diese Umgangsweise wird eine „Spielkooperation“ (Grimminger, 2013a, S. 40) mit zwei `bewusst Ignorierten´ gebildet. In ihrer „verlässliche(n) Kooperation“ (Grimminger, 2013a, S. 41) passen sich die Schüler/innen gegenseitig den Ball zu, erkennen sich gegenseitig an und können dadurch am Spiel teilhaben bzw. sogar temporär durch den Ballbesitz den Spielverlauf bestimmen. Bei der schwächeren Form eines Hindernisses, bei dem spezifische Regeln verändert wurden und Schüler/innen bei Übertritt sanktioniert wurden (Spiel „Was bedeutet es fremd zu sein?“), zeigte sich das Dranbleiben der Schüler/innen trotz der Sanktionierungen durch die Sportlehrkraft. Die Schüler/innen zollten bei Ballabgabe nach einem Regelverstoß zwar oftmals Verwunderung und kommentierten ihr Unverständnis und das Spielgeschehen. Letzten Endes engagierten sich aber die Schüler/innen in den verschiedenen Klassen weiterhin am Spielgeschehen. Die Schüler/innen blieben also – trotz der Verunsicherungen – am Spielgeschehen „dran“. Ein Grund hierfür könnte sein, dass die Schüler/innen trotz allem immer wieder von ihren Mitspieler/innen angespielt wurden. Dadurch musste eine Spielbeteiligung folgen.

218 7.2.2.4

7 Ergebnisse Ambivalente Handlungsstrategien

Wenn die aktive Auseinandersetzung mit der Situation mehrmals durch passive Phasen unterbrochen wird, ist die Umgangsweise als ambivalent zu deuten. Das Wechselspiel von Aktivität und Passivität spiegelt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Stärkung der WirIdentität und zeitglich den Wunsch nach Distanzierung zum Schutz der eigenen Identität wider.

In der Regel zeichnen sich innerhalb der unterschiedlichen Handlungsentwicklungen während der sportunterrichtlichen Spiele vor allem die beiden Stränge ab, dass sich entweder jemand aktiv mit der `Sache´ auseinandersetzt und auch über das ganze Spiel hindurch – mehr oder weniger – aktiv am Spiel teilnimmt. Auf der anderen Seite kann sich eine zunächst vorherrschende Aktivität in eine Passivität bzw. Resignation entwickeln. Im Rahmen der Analysen konnten aber auch Sequenzen identifiziert werden, in denen Kinder ambivalente Strategien anwenden: Ambivalent bedeutet in diesem Zusammenhang, dass aktive Phasen immer wieder von passiven Phasen unterbrochen werden. Dieses Wechselspiel von aktiven und inaktiven Phasen ist das Charakteristikum der ambivalenten Umgangsstrategie mit den Fremdheitsspielen. Die im Spiel auftretenden Ambivalenzen führen dazu, dass die Personen ihre aktuellen sportunterrichtlichen Rollen nicht kohärent verorten können, dadurch ihre aktualisierte (Teil-)Identität in Frage stellen und wieder in Kohärenz bringen möchten. Die in dem Spiel inszenierten Rollen stehen für die Schüler/innen im Widerspruch zu eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen, weshalb sie durch die passiven Spielphasen räumliche als auch selbstwertbezogene Distanz bewahren. Die durch subjektiv erlebte Benachteiligung, Ungerechtigkeit und enttäuschte Erwartungen entstehende Frustration, kann durch einen bewussten Rückzug aus der aktuellen Situation zur Demonstration gestellt werden. Dadurch wiederum kann gegebenenfalls auch Frust abgebaut und neue Sicherheit erlangt werden (Miethling & Krieger, 2004, S. 250). Gleichzeitig verspüren die Schüler/innen auch ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und möchten als Teil der

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

219

Gruppe aktiv am Spielgeschehen teilnehmen und sich als das Spiel mitgestaltendes Gruppenmitglied identifizieren. Die Hoffnung auf Erfolg (z.B. einen Beitrag zum Spiel leisten) in einer subjektiv bedeutsamen Situation treibt demnach die Schüler/innen zur aktiven Beteiligung an (vgl. auch Theorie der Leistungsmotivation nach Atkinson, 1957). Bei Spielen, in denen es per Instruktion nicht zu einer Beteiligung der Schüler/innen kommen kann, ist an einem bestimmten Punkt im Spielverlauf die Frustrations- und Ambiguitätstoleranz der Schüler/innen überschritten und es folgt eine primär distanzorientierte Handlung der Schüler/innen: Sie bevorzugen einen Rückzug (mit gegebenenfalls aktiven Beschwerden) vom Spielgeschehen. Demnach kann eine höhere Furcht vor Misserfolg bzw. Ablehnung im Gegensatz zu einer Hoffnung auf Erfolg bzw. Teilhabe handlungsleitend für die Vermeidungstendenz sein (Atkinson, 1957, S. 368). Folgende Sequenz stammt aus dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“. Die Klasse spielt auf zwei Hallendritteln Basketball nach ihren vertrauten Regeln. Nach einiger Zeit werden von jedem Spielfeld pro Gruppe zwei 72 Schüler/innen nach draußen geschickt. Den `Dringebliebenen´ teilte die Lehrkraft mit, dass die nach draußen geschickten Mitspieler/innen im baldigen Spielverlauf bewusst nicht mehr angespielt werden sollten – ohne dass diese Regelungen den draußen Wartenden mitgeteilt wird. Die Sequenz beginnt, als die nach draußen geschickten Schüler/innen wieder auf ihr Spielfeld kommen. Aus `Team bunt´ wurden Lana und Marie nach draußen geschickt; aus `Team gelb´ Pia und Jule. Lana kommt auf das Spielfeld. Aileen fängt den vom Korb abgeprallten Ball. Lana, die etwa drei Meter entfernt von Aileen frei steht, gibt lautstark zu verstehen, dass sie anspielbar ist: Lana ruft laut „Aileen!“ und gestikuliert mit ihren Armen. Neben Lana bieten sich noch zwei weitere Schülerinnen an, die ebenfalls ihre Arme nach vorne-oben strecken.

72

Ein Kriterium für die Auswahl der nach draußen geschickten Kindern war, dass es sich um Schüler/innen handelt, die im Klassenverband eher einen hohen Beliebtheitsstatus aufweisen und eher als sportlich stärker eingeschätzt wurden. Diese Abschätzung konnte gemeinsam mit der Sportlehrerin bzw. -lehrer getroffen werden.

220

7 Ergebnisse

Lana bewegt sich rückwärts, läuft sich so noch weiter frei und hat ihren Blick stets auf den Ball bzw. auf die Ballbesitzende fixiert. Aileen passt den Ball an Mara, die direkt neben ihr steht. Diese wiederum wirft den Ball zu Nadine. Als Nadine den Ball hat, steht Lana frei anspielbar und ruft laut: „Hier!“, und gibt erneut per Handzeichen an, dass sie angespielt werden kann. Nadine spielt nach kurzem Zögern den Ball an Mira ab. Mira spielt den Ball an Mara. Lana winkt erneut mit den Armen, doch Mara passt den Ball direkt an Nadine. Währenddessen läuft Lana weiter in Richtung des gegnerischen Korbes und versucht sich freizulaufen. Nadine passt den Ball an Mara zurück, die den Ball an die freistehende Stella spielt. Zeitgleich steht auch Lana auf der anderen Seite frei. Nadine erhält den Ball und versucht einen Korb zu erzielen. Lana verfolgt den Ball genau, um zu sehen, ob der Wurf erfolgreich ist. Der Ball prallt von der Korbwand ab und Lana versucht den Ball zu bekommen und streckt ihre Arme nach dem Ball aus. Dorian aus dem anderen Team ergattert den Ball. Es kommt zu einem Gegenangriff. Pia – die aus `Team gelb´ nach draußen geschickt wurde und nicht mehr angespielt werden darf – ruft laut in die Halle: „Ja, ich weiß es!“ Pia und Jule stehen zusammen; Lana geht langsam auf die beiden zu. Pia zuckt mit den Schultern und sagt laut: „Dann mach ich gar nicht mit!“. Pia, Jule und Lana stehen zu dritt abseits des Spielgeschehens. Pia setzt sich auf den Boden, Lana scheint mit ihr zu reden – bleibt jedoch stehen. Während sich Jule langsam zum Spielgeschehen bewegt, geht Lana auch langsam weg von Pia, die nun laut: „Ist voll die blöde Regel!“, ruft. Lana dreht sich wieder zu Pia, geht auf sie zu und stellt sich zu Pia. Lana geht hin und her und schaut währenddessen auf das Spielgeschehen. Sie entfernt sich wieder von Pia und geht in Richtung des Spielgeschehens. `Team bunt´ ist nun in Ballbesitz und es kommt zu einem Spielrichtungswechsel. Als Mira aus Lanas Team den Ball in den Händen hält, ruft Lana laut: „Mira!“ und geht

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

221

auf sie zu. Mira schaut zu Lana, die ihre Arme gestreckt hält, und passt dann zu Nadine. Lana entfernt sich vom Spielgeschehen und setzt sich auf dem Boden. Lana ruft laut nach Pia. Pia kommt zu Lana und setzt sich sofort neben ihr hin. Die anderen Spieler/innen ziehen an den beiden Sitzenden vorbei. Lana und Pia haben ihren Blick auf das Spielgeschehen gerichtet und reden miteinander. Dieses Ankerbeispiel zeigt anhand von Lana die ambivalenten Handlungsweisen auf die inszenierte sportunterrichtliche Situation. Am Anfang des Spiels, als Lana vom Hallenflur wieder auf dem Spielfeld erscheint, zeigt sie ein klar motiviertes und engagiertes Verhalten, indem sie durch aktive Zeichen wie die Hand in die Luft strecken oder laute Zurufe auf sich aufmerksam macht und das Spielgeschehen mit ihren Blicken verfolgt (siehe Abbildung 16). Ihre anfängliche Reaktion auf das sportunterrichtliche Geschehen kann in die anfängliche Umgangsstrategie der selbstständig-explorativen Auseinandersetzung eingeordnet werden. Im weiteren Spielverlauf macht Lana immer wieder auf sich aufmerksam, zeigt sich anspielbereit und bleibt auf das Spielgeschehen fokussiert. Als allerdings Pia, die aus dem gegnerischen Team ebenfalls nicht mehr angespielt werden soll, sie auf die sportunterrichtliche Benachteiligungssituation aufmerksam macht, nimmt Lana ihr Spielengagement zurück. Lana distanziert sich räumlich vom Spielgeschehen und bleibt solidarisch bei Pia und Jule stehen. Allerdings setzt sich Lana nicht wie Pia auf den Boden, sondern bleibt erhöht stehen (vgl. Abbildung 17).

Abb. 16. Folgehandlung Ambivalente Strategien Teil I

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7 Ergebnisse

Abb. 17. Folgehandlung Ambivalente Strategien Teil II

Das Stehenbleiben von Lana lässt darauf schließen, dass sie der aktuellen sportunterrichtlichen ambivalent gegenüber Situation steht. Einerseits befindet sich Lana nun abseits des Spielgeschehens und hat durch ihre Positionierung keine unmittelbare Möglichkeit der Spielbeteiligung. Andererseits ist Lana durch die Standposition immer noch „im Spiel“: Sie signalisiert – im Gegensatz zu Pia – keinen vollständigen Rückzug aus dem Spielgeschehen, da sie prinzipiell durch ihre stehende Positionierung handlungsfähiger und anspielbarer bleibt. Lana scheint zwischen aktiver Teilnahme und Solidarisierung zu Pia hin- und hergerissen. Das Entfernen von und wieder Zurückkommen zu Pia deuten darauf hin, dass Lana zwischen ambivalenten Rollen (primär: „Akteurin im Sportunterricht“ und „Solidarische Freundin“), an die verschiedene Erwartungen und Vorstellungen geknüpft sind, zu oszillieren scheint. Lana scheint den Wunsch zu haben, aktiv am Spielgeschehen teilzunehmen (auch unter dem Wissen, dass sie nicht angespielt werden darf), aber gleichzeitig möchte sie auch Pia gerecht werden und ihr unterstützend zur Seite stehen. Bei Pia stehen zu bleiben, aber das Spielgeschehen noch mit Blicken zu verfolgen scheint für Lana ein Kompromiss zur Situationsbewältigung zu sein und somit verschiedene Rollen zu verinnerlichen (Krappmann, 2000, S. 137). Anschließend scheint Lanas situatives Bedürfnis nach Spielteilnahme zu überwiegen und sie entfernt sich langsam von Pia. Als sich die Spielrichtung ändert und nun Lanas Team in Ballbesitz ist, scheint Lana wieder Hoffnung auf Erfolg (im Sinne von angespielt werden) zu haben: Sie geht auf die ballbesitzende Teamkollegin Mira zu und zeigt sich durch Zurufe und Gestikulieren aktiv anspielbar (vgl. Abbildung 18).

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

223

Abb. 18. Folgehandlung Ambivalente Strategie Teil III

Als Lana den Ball von Mira nicht zugespielt bekommt, scheint Lana die definitive Vergewisserung zu haben, dass sie im aktuellen Spielgeschehen nicht angespielt werden darf. Ihre Erwartungen, angespielt zu werden, von der Gruppe anerkannt zu werden und ein bereichernder Teil der Gruppe zu sein, wurden in hohem Maße enttäuscht. Lana erfährt in diesem Zusammenhang die grundlegende Missachtung des „lookingthrough“ (Grimminger, 2013a, S. 29) und begreift, dass sie in diesem Spiel quasi bewusst kollektiv ignoriert wird. Durch die restriktiven Regeleinführungen ist eine Spielteilnahme nicht möglich, weshalb Lanas Selbstwirksamkeitserwartungen hinsichtlich des aktiven Eingreifens in die Spielsituation niedrig sind. Um sich von der potenziell selbstwertmindernden Situation zu distanzieren, setzt sich Lana während des Spielgeschehens auf den Boden. Dies kann als Protesthandlung gegen das Spiel und die eingeführten und sie benachteiligenden Regeln gedeutet werden. Durch die `Verinselung´ von Lana während des Spielgeschehens kann zumindest zeitweilig entstandene Frustration abgebaut werden und wieder mehr (Handlungs-)Sicherheit erlangt werden. Lana ruft nachdem sie sich hingesetzt hat unmittelbar Pia zu sich, die sich ebenfalls hinsetzt (siehe Abbildung 19). Dadurch wird eine Strategie des Zusammenhaltens von ebenfalls benachteiligten Personen forciert (Bröskamp, 1994, S. 167), wobei das gemeinsame `Schicksal´ des Ausgegrenzt-Werdens als verbindendes Merkmal dient – unabhängig davon, ob sie im selben oder gegnerischen Team spielen. Durch den Zusammenschluss wird dem Bedürfnis nach Sicherheit, Akzeptanz und Geborgenheit nachgegangen (Erdmann, 2005,

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7 Ergebnisse

Abb. 19. Folgehandlung Ambivalente Strategien Teil IV

S. 49), was eine hochgradig identitätsstiftende Funktion aufweist: Durch den Aufbau und die Stärkung des `Wir´, wird auch das `Ich´ gefestigt. Unter Hinzunahme von konfigurations- und konstellationsanalytischen Perspektiven wird der ambivalente Umgang mit der Situation unterstrichen. Die Konfigurationsanalyse kann zwei zentrale Bezugspunkte für Lana ausmachen. Einmal das Spielgeschehen bzw. das Spielinstrument als zentraler Bezugsort bei aktiven Phasen und die Bezugsperson Pia, die ebenfalls nicht angespielt werden soll. Wenn sich Lana in der Nähe von Pia befindet, ist sie in einer eher passiven Phase und abseits des Spielgeschehens. Gleichzeitig macht die Konstellationsanalyse deutlich, dass die Blickrichtung von Lana (und auch Pia) oftmals zum Spielgeschehen hingewandt ist. Der `Fernweh´-Blick im Sinne davon räumlich separiert zu sein, aber den Blick auf ein Zielobjekt zu richten, könnte eine Sehnsuchtssymbolik innehaben: Die Sehnsucht aktiv am Spielgeschehen teilzunehmen und die Sehnsucht ein Teil der Gruppe zu sein. Die ambivalenten Strategien können als ein Balancieren und Jonglieren zwischen Erwartungen, Zuschreibungen und eigenen Interessen und Sehnsüchten gedeutet werden, sodass versucht wird seinen eigenen Platz in einer widersprüchlichen Situation zu finden (Krappmann, 1997, S. 81). Der komparative Vergleich zwischen den Klassen und auch Spielformen zeigt, dass ambivalente Strategien im Sinne eines Wechselspiels von passiven und aktiven Phasen in allen Klassen vorkommen. Gerade in jenen Spielen, in denen die Spielbeteiligung durch andere Personen (Lehrkraft oder Mitschüler/innen) restringiert wurde, wird die Strategie der Ambivalenz deutlich gemacht. Die passiven Phasen müssen sich nicht – wie in diesem Ankerbeispiel verdeutlicht – in einem kompletten Rückzug

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

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(i.S. eines Hinsetzens oder Hinlegens) der Personen resultieren. Die passiven Phasen können auch dadurch kenntlich gemacht werden, dass das Engagement der Schüler/innen zurückgenommen wird und sich der Bewegungsradius verringert sowie der Blick nicht mehr auf das Spielgeschehen gerichtet ist, um dann wieder einen „Energieschub“ zu erhalten wieder mitten im Spielgeschehen zu sein. Die ambivalenten Strategien kommen auch im Spiel „Bälle – Kooperative Kommunikation“ vor, bei dem Schüler/innen nonverbal drei verschiedene Aufgaben lösen mussten. Das Zurücknehmen des anfänglichen Engagements und ein eventueller (räumlicher) Rückzug aus dem Spielgeschehen, sind verbreitete Folgestrategien bei diesem Spiel (vgl. Kapitel 7.2.2.1). Allerdings gibt es auch jene Kinder, die dann wieder ihr Spielengagement erhöhen und sich erneut der Bewältigung ihrer Aufgabe aktiv widmen. Nach einer kurzen Zeit kann allerdings wieder eine Leistungsreduktion beobachtet werden. Die Phasen von Aktivität und Passivität bei diesem Spiel könnten als ein Ringen der Schüler/innen zwischen dem Wunsch nach Erfüllung der Aufgabe und einer subjektiv gedeuteten Unmöglichkeit der Aufgabenbewältigung gedeutet werden. Durch letztere Interpretationsfolie wird die Sinnhaftigkeit des Spiels in Frage gestellt, weshalb eventuell das Engagement zurückgenommen wird. 7.2.3 Zusammenfassende Betrachtung: Anfängliche Handlungsweisen und folgende Handlungsstrategien mit inszenierter Fremdheit im Sportunterricht Die Analysen erheben nicht den Anspruch, normativ einzuordnen, welche Umgangsweise mit den sportunterrichtlichen Situationen die beste, wünschenswerteste oder erfolgreichste ist. Vielmehr geht es darum, zu analysieren, welche Umgangsweisen auf die in dieser Studie intendierte Inszenierung von Fremdheit sichtbar werden, wie diese interpretiert und eingeordnet werden können und in welchem Zusammenhang diese mit den sportunterrichtlichen Inszenierungen stehen könnten. Zunächst kann festgehalten werden, dass Schüler/innen die didaktisch inszenierte Fremdheit in sportunterrichtlichen Spielen auf unterschiedliche Weise verarbeiten, einordnen und verschieden mit den gegebenen Anforderungen auf beobachtbarer Ebene umgehen. Insgesamt

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7 Ergebnisse

konnten verschiedene – auch theoretisch angenommene – Umgangsweisen der Schüler/innen auf Fremdheit beobachtet werden. Allerdings handelt es sich meist nicht um den einen Umgang mit Fremdheit, wie in den theoretischen Darlegungen beschrieben, sondern vielmehr um eine Verkettung verschiedener Umgangsweisen auf Fremdheit innerhalb eines sportunterrichtlichen Spiels. Deshalb wurden zunächst die „Startreaktionen“ der Schüler/innen auf den gesetzten `Fremdheitsreiz´ analysiert. Anfängliche Umgangsweisen bilden am besten die vorreflexive und die grundsätzliche Haltung der Schüler/innen auf den gesetzten „Fremdheitstrigger“ ab. Im weiteren Verlauf wurden sequenzielle Handlungsverläufe der Schüler/innen innerhalb des gesamten Fremdheitsspiels analysiert. Durch komparative Vergleiche konnten die Handlungsmuster auf Fremdheit im Klassen- als auch Spielkontextvergleich eingeordnet werden. Wenn theoretisch angenommen wird, dass `Schüler´ bzw. `Schülerin´ eine spezifische Rolle von Heranwachsenden darstellt, die innerhalb der Institution Schule bzw. vor allem im Kontext von Unterrichts stets aktualisiert wird, kann anhand der beobachtbaren Umgangsweisen auf die sportunterrichtlich inszenierte Fremdheit davon ausgegangen werden, dass die Kinder ihre Rolle als `Schüler´ bzw. `Schülerin´ weitestgehend erfüllen. Das Erfüllen von schulischen Anforderungen seitens der Schüler/innen im Sinne eines „doing pupil“ (Kampshoff, 2000) bzw. „doing student“ (Kampshoff, 2013) zeigt, dass Schüler/innen ihre Zugehörigkeit zur Schülerschaft und den implizit und explizit vorhandenen Rollenvorstellungen dieser Zugehörigkeitskategorie prozessieren. Ein `Nichtsmachen´ bzw. ein `Nichtmitmachen´ auf die jeweiligen didaktischen Inszenierungen bezogen, ist in der Regel nicht zu erkennen, weshalb Schüler/innen ihren sportunterrichtlichen Auftrag im Sinne einer Auseinandersetzung mit den von der Sportlehrkraft aufgegebenen Instruktionen erfüllen. Die anfänglichen Abwehrstrategien bei didaktischen Inszenierungen bei der Veränderung eines vertrauten Spiels (vor allem „Fußball – was bedeutet es fremd zu sein?“) sind mit den höchsten emotionalen Reaktionen (vor allem in der reinen Jungenklasse) verbunden und teilweise muss die Lehrkraft darum „kämpfen“, dass die Schüler sich auf das Spiel bzw. Regeländerungen einlassen. Im sequenziellen Verlauf der Daten wird deutlich, dass der Unterrichtsfluss wieder aufgenommen wird und

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene

227

die Schüler/innen sich dem sportunterrichtlichen Inhalten widmen (vgl. auch Kamper, 2015). Identitätstheoretisch kann argumentiert werden, dass die Schüler/innen die Rollenerwartungen und Normen in der gegebenen Situation (Sportunterricht – Aufgabe wird von der Sportlehrkraft gestellt) interpretieren, reflektieren und dementsprechend handeln. Für sie bestehende Widersprüchlichkeiten können dann zugunsten der sportunterrichtlichen Aufgabe durch eine bestehende Frustrationstoleranz ausgehalten werden. Die Entwicklungen innerhalb der Umgangsweisen verdeutlichen allerdings, dass nicht alle Schüler/innen unter allen Umständen ihre erwartete Rolle als Schüler/innen aufrechterhalten, sondern ihre eigenen Bedürfnisse in das aktuelle Geschehen einbringen und durch Handlungsweisen wie das „Sich-Zurückziehen“ in Passivität geraten und sich der Auseinandersetzung mit den Inhalten entziehen respektive diese bewusst verweigern. Dies lässt sich in der für die Identitätsarbeit wichtigen Komponente der Rollendistanz beschreiben (u.a. Krappmann, 2000): Schüler/innen distanzieren sich durch ihre Handlung explizit von ihrer Rolle als Schüler bzw. Schülerin und aktivieren in dieser Situation eine für sie aktuell bedeutsamere Rolle. Eine Rolle, die in diesen Situationen aktualisiert werden könnte und geschützt wird, kann die des Mitschülers bzw. der Mitschülerin sein: Es geht hierbei um das soziale Beziehungsgeflecht innerhalb der Klasse und nicht mehr um die Rolle der/s Schülers/in, um der Lehrkraft gerecht zu werden. Vielmehr kann durch den Rückzug signalisiert werden, dass die didaktische Inszenierung nicht hingenommen wird. Außerdem können durch den Rückzug nicht nur räumliche, sondern auch selbstwertbezogene Distanz gewahrt werden. Doch nicht nur der Handlungsstrategie des „Sich-Zurückziehens“ liegen identitätssichernde bzw. -stärkende Motive zugrunde, sondern prinzipiell können alle empirisch identifizierten Handlungsweisen so gedeutet werden, dass sie dem Identitätsschutz des Individuums dienen. Wenn Identität und Zugehörigkeit durch Spielsituationen ins Straucheln geraten, werden Handlungsstrategien angewandt, um wieder Sicherheit und Ordnung zu erlangen. Sei es durch die Vergewisserung durch Dritte („Die Suche nach sozialer Unterstützung“), durch die aktive Beteiligung in `aussichtslosen´ Spielsituationen („Strategie des Dranbleibens“; „Strategie des Vereinnahmens“) oder durch verbale und non-verbale Protest-

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7 Ergebnisse

strategien („Die Abwehr“). Durch das Erzielen von (Handlungs-) Sicherheit, ist ein aktives „Sich-Einlassen“ möglich. Im letzteren Fall und bei der anfänglichen Strategie der selbstständig-explorativen Auseinandersetzung wird die eigene Identität wahrscheinlich nicht (mehr) in Frage gestellt, sondern das sportunterrichtliche Spiel wird als positive `Bewältigungsaufgabe´ gesehen. Wenn die Handlungsweisen im Zusammenhang mit den beiden übergeordneten Spielkontexten („Verfremdungsspiele“ und „Spiele mit Inklusions- bzw. Exklusionscharakter“) betrachtet werden, zeigen sich unterschiedliche Verlaufsmuster der Umgangsweisen der Schüler/innen: Bei Verfremdungsspielen, in denen das vertraute Spiel durch spezifische didaktische Inszenierungen „verstört“ wird, sind die anfänglichen Reaktionen der Schüler/innen teilweise durch Proteststrategien gekennzeichnet. Sowohl auf verbaler als auch nonverbaler Ebene wird der Unmut bezüglich der Verfremdung des Vertrauten deutlich. Allerdings lassen sich alle Schüler/innen anschließend auf das verfremdete Spiel ein und setzen sich mit den gesetzten Anforderungen auseinander. Zwischenzeitlich können zwar noch (negative) Kommentierungen bezüglich des Spiels auftreten; die grundlegende Orientierung der Schüler/innen ist allerdings die aktive Auseinandersetzung mit dem Spielinhalt. Die in den Verfremdungsspielen deutlich werdenden aktiven Proteststrategien der Schüler/innen kommen bei den Spielen, die den Schwerpunkt auf Inklusions-/ Exklusionskonstellationen richten, als anfängliche Strategie in der Regel vor. Erst im Laufe des Spiels, wenn die Spiellogik durchdrungen wird und Schüler/innen realisieren, dass gewohnte Zugehörigkeiten nicht mehr greifen, können Rückzugsstrategien (oftmals in Kombination mit Protesten) aktualisiert werden. Andererseits sind auch in diesen Spielen Umgangsstrategien möglich, die trotz verschiedener benachteiligender Situationen zu einer aktiven Auseinandersetzung der Schüler/innen mit dem sportunterrichtlichen Fremdheitsspiel führen. Nichtsdestotrotz können zwei systematische Muster der groben Handlungsverläufe der Schüler/innen mit steigender Spielzeit kontextuell differenziert werden: x

Verfremdungsspiele bzw. normalitätsstörende Spiele: Der anfängliche große Protest nimmt mit der Spielzeit ab.

7.2 Umgang mit Fremdheit auf beobachtbarer Ebene x

229

Spiele mit Inklusions- bzw. Exklusionscharakter: Der anfängliche geringe bzw. nicht vorhandene Protest nimmt mit der Spielzeit zu.

Die kontextuelle Einbettung der Spiele und deren Folgen für den Umgang mit den inszenierten Spielen sind aus analytischer Sicht bedeutsam. Aus den Analysen und Interpretationen zu den unterschiedlichen Handlungsmustern und den strukturellen Spielbedingungen lässt sich ableiten, dass vier ineinander verwobene Komponenten eine entscheidende Rolle bei den Handlungsstrategien bzw. -entwicklungen der Schüler/innen beim Umgang mit Fremdheit zu spielen scheinen: x x x x

Zeitlicher Verlauf (dynamisch vs. persistent), Zugehörigkeit/Anerkennung (gegeben vs. verweigert), Ressourcen sowie Rechte (akkumulierend vs. konstant niedrig) und 73 Selbstwirksamkeitserwartung (hoch vs. niedrig).

Diese Dimensionen sind unmittelbar miteinander verzahnt und bedürfen einer gemeinsamen Betrachtung, wenn es um die Analyse des Verlaufs der Handlungsstrategien der Schüler/innen im Umgang mit Fremdheit geht. Demnach führen Spiele, bei denen im zeitlichen Verlauf trotz individueller Bemühungen die Aspekte um Zugehörigkeit und Anerkennung stets verweigert werden, gegebene Ressourcen (Wissensressourcen und soziale Ressourcen) sowie Rechte und Handlungsoptionen konstant niedrig bleiben und dementsprechend auch die Selbstwirksamkeit über den gesamten Verlauf niedrig bleibt bzw. abnimmt, eher zu resignierenden und abwehrenden Handlungsweisen. Ob sich jemand als handlungsfähig bzw. selbstwirksam erlebt, ist demnach stark abhängig davon, welche Rechte und Handlungsoptionen der Person zugestanden werden. Denn Rechte ermöglichen oder verschließen den Eintritt in Handlungsräume 73

Die unterschiedlichen Konstrukte sind nicht zwangsläufig beobachtbar. Allerdings verweisen die Spiellogiken in gemeinsamer Betrachtung mit den rekonstruierten Handlungsweisen darauf, dass die Konstrukte für den Umgang mit der didaktischen Inszenierung von Fremdheit relevant erscheinen. Anhand der Handlungsentwicklung in einem spezifischen Spielkontext kann beispielsweise erschlossen werden, ob das Konstrukt Selbstwirksamkeitserwartung in diesem Zusammenhang bedeutsam zu sein scheint.

230

7 Ergebnisse

(Mecheril, 2003). Da die Möglichkeiten der situativen Gestaltungskompetenz (Ahbe, 1997, S. 214) und die Fähigkeit zum Aushandeln (Keupp, 1997, S. 20) den Schüler/innen durch verschiedene didaktische Inszenierungen teilweise oder gänzlich verwehrt bleiben, ist die (räumliche und kognitive) Distanzierung der Situation die Bewältigungsmöglichkeit mit dem Ziel des Identitätsschutzes. Die didaktische Inszenierung kann ebenfalls zu einem kritischen Hinterfragen von Sinn und Zweck des Spiels führen. Die Infragestellung der Zweckgebundenheit der Spiele kann ebenfalls zur Proteststrategien führen. Andererseits erscheinen Spiele, in denen es aufgrund ihrer Spiellogik im zeitlichen Verlauf zu positiven Veränderungen in den Faktoren Zugehörigkeit/Anerkennung, Ressourcen und Selbstwirksamkeitserwartungen kommen könnte, für eine aktive Auseinandersetzung der Schüler/innen mit dem Lerngegenstand wahrscheinlicher. Denn dann können sich Schüler/innen als handlungswirksam sowie als Bestandteil einer Gruppe erleben und können durch die aktive Teilnahme das Spiel, den Verlauf und die soziale Zugehörigkeiten mitgestalten, konstruieren und modifizieren. 7.3

Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

Die Reflexion von Fremdheitserlebnissen nach ihrer didaktischen Inszenierung wird im Rahmen des Konzepts der Interkulturellen Bewegungserziehung als ein zentraler Grundsatz gesehen. Im Kontext der eigenen Studie kann ausschließlich auf verbalisierte Reflexionsgespräche eingegangen werden; die letzten Endes kognitiv stattfindenden Reflexionen der Schüler/innen bleiben unzugänglich. Im Rahmen der Reflexionsgespräche haben die Schüler/innen allerdings die Chance, kognitiv angewandte Strategien und Deutungen zu den Fremdheitsspielen und zum Umgang mit Fremdheit zum Ausdruck zu bringen und somit öffentlich und für alle zugänglich zu äußern. In der Praxis bedeutet dies, dass die Inszenierung von sportlichen Situationen nicht ausreicht, um reflexiv-interkulturellen Sportunterricht zu halten, sondern eine im Anschluss stattfindende Reflexion unerlässlich ist. Erst mit der (konkreten) reflexiven Verarbeitung des Erlebten

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

231

können gegebenenfalls Lerneffekte aufgebaut, als Erfahrungen gesichert und letztendlich als Kompetenzen in weiteren Situationen disponibel abgerufen werden (Neuber, 1999, S. 115). Die reflexive Verarbeitung und Einordnung des Erlebten kann durch verbal-reflexive Gespräche unterstützt werden. Vor allem bei der Inszenierung von Fremdheitsmomenten im Sportunterricht, die im Widerspruch zu eigenen Bedürfnissen, Interessen und Vorstellungen des Gewohnten stehen könnte, ist eine sprachliche Aufarbeitung essenziell. Nachfolgend soll die übergeordnete Fragestellung untersucht werden, wie Schüler/innen die didaktisch inszenierten Fremdheitsspiele sprachlich verarbeiten. Eine Zielperspektive der Interkulturellen Bewegungserziehung ist es, die sportunterrichtlichen Fremdheitserlebnisse auf außersportunterrichtliche Kontexte zu transferieren. Ein analytisches Augenmerk wird demnach darauf gelegt, ob Schüler/innen imstande sind, die im Sportunterricht inszenierte Fremdheit mit außersportunterrichtlichen Situationen zu verknüpfen. Neben der inhaltsanalytischen Perspektive auf das Reflexionsgespräch steht in Kapitel 7.3.2 der Verlauf der Reflexion im Fokus, um Aussagen über die Qualität des Reflexionsgesprächs treffen zu können. In den nachfolgenden Ausführungen ist die Verwendung des Begriffs „Reflexion“ immer synonym zu einem verbalen Reflexionsgespräch zu verstehen. 7.3.1 Inhaltliche Schwerpunkte der Reflexionsgespräche im Hinblick auf die Thematisierung von Fremdheit Im Rahmen der inhaltsanalytischen Kategorisierungen der Themen, die in den Reflexionsgesprächen zu den didaktisch inszenierten Fremdheitsspielen zum Tragen gekommen sind, konnten zwei zentrale Schwerpunkte herauskristallisiert werden: Zum einen das affektiv-emotionale Erleben im Rahmen der sportunterrichtlichen `Fremdheitssituation´; zum anderen Handlungsweisen im Umgang mit Fremdheit. Das affektiv-emotionale Erleben erschließt die Innenperspektive der Schüler/innen und kann zunächst als rezeptive Seite der Interaktion von Subjekt und Umwelt verstanden werden, die dann emotional und kognitiv weiterverarbeitet wird. Die Äußerungen beinhalten neben Wahrnehmungskomponenten auch das Erleben von Emotionen und Gefühlen zu

232

7 Ergebnisse

den einzelnen sportunterrichtlichen Inhalten. Affektiv-emotionale Erlebnisse sind stets subjektiv und individuell und werden erst durch das in Sprache fassen für andere zugänglich gemacht. Neben dem Aussprechen von Erlebenskomponenten wird als weiterer inhaltlicher Schwerpunkt die sprachliche Thematisierung von konkreten handlungsbezogenen Umgangsweisen der Schüler/innen gesehen. Das Aussprechen der eigenen Handlungsweise der Schüler/innen in der sportunterrichtlichen Situation und wie sie sich in eventuell zukünftigen – außersportunterrichtlichen – Situationen handeln werden, sind hierbei die beiden primären Gegenstände der Reflexionsrunden. Insbesondere das Thematisieren von objektiv beobachteten Umgangsweisen, die die Schüler/innen im zurückliegenden Sportspiel zeigten, bietet potenzielle Anknüpfungspunkte für gezielte Fragestellungen innerhalb der Gesprächsrunde. Allerdings wird innerhalb der Unterrichtsreihe eher auf eine Rekonstruktionsleistung von Schüler/innen gesetzt: Sie sollen wiedergeben, welche Umgangsweisen sie im Spiel zeigten. Nicht nur die retrospektive Rekonstruktion von Handlungen, sondern auch das Thematisieren von prospektiven Handlungsweisen im Sinne davon, wie in anderen sportbezogenen oder auch außersportunterrichtlichen Situationen mit ähnlichen Situationen umgegangen werden kann, ist ein partieller Teil der Reflexionsgespräche. Die nachfolgend dargelegten Ankerbeispiele und inhaltlichen Schwerpunkte der Schüler/innen werden analytisch erörtert. Von der Bewertung der Aussagen der Schüler/innen im Sinne davon, ob und wie gehaltvoll diese sind oder ob sie der Wahrheit entsprechen, wird abgesehen. 7.3.1.1

Äußern, Auffangen und Verarbeiten von emotionalen Erlebnissen

Reflexionsgespräche bieten Schüler/innen einen unmittelbaren Raum zum Austausch der sportunterrichtlichen Erlebnisse und können gegebenenfalls ein emotionales Ventil für das im Spiel Erlebte und die potenziellen Fremdheitserlebnisse sein. Die geäußerten Emotionen beziehen sich entweder auf die didaktische Inszenierung oder auf die eigene Gefühlslage.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

233

Die Spiele wurden mit der Intention durchgeführt, dass Schüler/innen in einem Moment der Fremdheit das bisher Selbstverständliche und Unhinterfragte auf den Prüfstand stellen. Die Inszenierungsformen können unterschiedlich emotional besetzt sein. Wie bereits die Umgangsweisen auf beobachtbarer Ebene verdeutlichen, changieren diese von einer neugierigen-aktiven Auseinandersetzung bis hin zu Protest- und Verweigerungsstrategien und sind mit unterschiedlichen emotionalen Auswirkungen verknüpft. Um die emotionalen Erlebnisse und individuellen Gedanken und Meinungen äußern zu können und diese dann auch durch die Verbalisierung weiter verarbeiten zu können, eignen sich die im direkten Anschluss an die Spiele stattfindenden Reflexionsgespräche mit der gesamten Klasse. Hier können auch kontroverse Ansichten und Auslegungen zu den einzelnen Spielen thematisiert werden. Das nachfolgende Ankerbeispiel bezieht sich auf eine Einstiegssequenz, in der die Sportlehrkraft die Schüler/innen zum Reflexionskreis nach dem Spiel „Bälle – Kooperative Kommunikation“ in der Realschule 1 zusammenruft. In diesem Ankerbeispiel wird der methodische Gewinn durch die zusätzliche Verwendung von Videomaterial bei der Analyse von Reflexionsgesprächen in besonderem Maße deutlich, da non-verbale Kommunikationswege auch mitanalysiert und interpretiert werden können. Die Sportlehrkraft pfeift das Spiel ab und ruft alle Schüler/innen zum gemeinsamen Reflexionskreis zusammen. Die Schüler/innen bewegen sich in Richtung Hallenmitte, wo das Gespräch stattfinden soll. Doreen kommt als eine der ersten Schüler/innen zum Reflexionskreis und setzt sich neben die Sportlehrkraft. Doreen schaut die Sportlehrkraft an und streckt ihren Zeigefinger in die Höhe, obwohl die Gesprächsrunde noch nicht eröffnet ist. Weitere Kinder kommen zum Reflexionskreis und Doreen meldet sich weiterhin. Die Reflexionsrunde wird von der Sportlehrkraft eröffnet.

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7 Ergebnisse

Lk74: Doreen hat irgendwie was ganz Dringendes auf dem Herzen. Do:

Ja es war irgendwie halt ein bisschen, hat halt nicht so gut geklappt, weil es waren ja zwei verschiedene, (.) es waren ja zwei verschiedene Sachen, was auf den Zetteln stand. Und dann haben halt alle zuerst die Sachen rausgebracht und dann haben wir halt angefangen, nach und nach immer ein Stück in die Mitte zu bringen, dass wir unseren Kreis bilden können und dann standen die Anderen vor uns alle da uns sobald wir was hingelegt haben, haben die es gleich wieder weggenommen. (.) Und dann, irgendwie standen alle nur und haben's (.) des hat irgendwie nicht geklappt. (Zeilen 1-12)

Die Videodaten zeigen, dass Doreen einen unmittelbaren Gesprächsbedarf nach dem Abpfiff des Spiels hat, sodass die Situation für Doreen subjektiv bedeutsam zu sein scheint. Das dringende Bedürfnis von Doreen über die Spielereignisse und ihre gemachten Wahrnehmungen zu sprechen zeigt sich darin, dass sie sich nach der Lehrkraftanweisung unverzüglich zum Reflexionskreis begibt, sich neben die Lehrkraft setzt, sofort ihren Arm in die Höhe streckt und dadurch signalisiert, dass sie von der Lehrkraft aufgerufen werden und sich mitteilen möchte (vgl. Abbildung 20). Obwohl das Reflexionsgespräch noch nicht eröffnet werden kann, da sich etwa die Hälfte ihrer Mitschüler/innen noch nicht in den Gesprächskreis eingefunden haben, signalisiert Doreen durch das Hinsetzen mit unmittelbarer räumlicher Nähe zur Lehrkraft, das direkte Anschauen der Lehrkraft und vor allem durch das Melden ihr Mittelungsbedürfnis. Doreen scheint somit verinnerlicht zu haben, dass der Reflexi74

In den nachfolgenden Ankerbeispielen bedeutet „Lk“ stets externe Lehrkraft. Die weiteren Sprechersiglen sind Abkürzungen der (fiktiven) Namen, wobei die Namen im Laufe der Analysen auch zwangsläufig ausgeschrieben werden.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

235

Abb. 20. Frühzeitige Meldung verweist auf einen dringenden Gesprächsbedarf

onskreis eine (sport-)didaktische Praxis darbietet, in dessen Rahmen sich über das aktuell Erlebte ausgetauscht werden kann. Das Reflexionsgespräch wird von der Lehrkraft eingeleitet, wobei Doreen durch die namentliche Nennung direkt in den Fokus des Gesprächs und ihrer Eröffnung gestellt wird. Doreen fängt nach der impliziten Gesprächsaufforderung der Lehrkraft sofort an, ihre gemachten Erlebnisse auszusprechen und eine Analyse des Spiels vorzunehmen. Das Äußern der Spielwahrnehmung in Kombination mit den resultierenden Folgen („hat halt nicht so gut geklappt“ und „hat irgendwie nicht geklappt“) spiegeln Doreens Unmut über das sportunterrichtliche Spiel wider, der vor der Lehrkraft und vor allen Mitschüler/innen zur Sprache kommen soll. Reflexionsgespräche können in diesem Zusammenhang als Maßnahme gesehen werden, um die im Spiel entstandenen Emotionen zu explizieren und dadurch zum Beispiel Frust abzuladen (vgl. auch Miethling & Krieger, 2004; Sicherungsstrategie „Angehen/ Umbringen“). In diesen Fällen kann das Äußern des Erlebten im sportunterrichtlichen Spiel als eine Art emotionales Ventil gesehen werden. Eine unmittelbare Thematisierung des Erlebten nach der didaktischen Inszenierung scheint bedeutsam. Wie das Ankerbeispiel darlegt, möchte Doreen unmittelbar das Erlebte und ihre Spielwahrnehmungen thematisieren. Das heißt, dass möglichst keine Verlagerung der Reflexionsgesprächs in anderen Unterricht erfolgen sollte, wie es teilweise in der Fachdiskussion gefordert wird (Neumann, 2006, S. 54). Zumindest ein kurzes Gespräch nach der didaktischen Inszenierung, damit den Schü-

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7 Ergebnisse

ler/innen der Raum geboten wird, um das Erlebte zu äußern und einzuordnen, scheint bedeutsam. Je nach didaktischer Inszenierung, steht es auch in der pädagogischen Verantwortung der Lehrkraft, das Erlebte kontextuell einzubetten und somit die Kinder emotional `aufzufangen´. Das Ankerbeispiel zeigt die von Doreen im Spielgeschehen wahrgenommene Spiellogik eines `Gegeneinanders´ im Sinne, dass eigenständig hingelegte Gegenstände „gleich wieder weggenommen“ wurde. Die Äußerung von Doreen fordert Potenzial zur weiteren Verarbeitung, Aufklärung und Einordnung des Erlebten, was die Lehrkraft im Laufe des weiteren Gesprächs auch anleitet. So legt die Lehrkraft die Spielidee dar und kann aufklären, dass der Sinn des Spiels nicht darin lag, bewusst gegeneinander zu spielen, sondern eine Lösung zu finden, die alle Interessen miteinander vereint. Aus identitätstheoretischer Sicht kann die im Spiel wahrgenommene fehlende soziale Bezogenheit durch die Thematisierung des Erlebten im Klassenplenum intersubjektiv bestätigt werden, was zu einem Sicherheitserleben der Schüler/innen führen kann. Identität als das Ergebnis sozialer Bezogenheit, macht deutlich, dass Personen auf die Einbettung in beständige soziale Kontexte angewiesen sind, um eine positive Identität aufrecht zu erhalten. Brüche in der Beziehung zum sozialen Umfeld labilisieren das Identitätserleben – wie es beispielsweise durch spezifische didaktische Inszenierungen geschehen kann. Wenn die Selbstwahrnehmung und das durch das Umfeld gespiegelte Selbst nicht mehr zusammenpassen, dann kippt die Balance, die das Identitätsgefühl aufrechterhält (Krappmann, 1997). Um diesen eventuell im Spiel provozierten Zustand der Orientierungslosigkeit bzw. Dysbalance der eigenen Identität aufzuarbeiten, können Reflexionsgespräche dienlich sein. Insgesamt zeigt sich, dass die didaktisch provozierten Situationen zu emotionalen Erlebnissen führten, die Rede- und Austauschbedarf bei den Schüler/innen forderten. Vor allem jene didaktischen Inszenierungen, die zu einer Verwehrung von sozialen Zugehörigkeiten führten (z.B. das Spiel „Bewusstes Ignorieren“) weisen aufgrund der unmittelbaren Selbstbezogenheit auf ein starkes affektives Erleben der sportunterrichtlichen Situation und eine subjektive Betroffenheit der Schüler/innen hin. In diesen Fällen sind stark negativ konnotiere Äußerungen (u.a. „scheiße“; „dumm“; „doof“) keine Seltenheit und betreffen sowohl die eigene Ge-

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

237

fühlsebene als auch die didaktische Inszenierung. Beispielsweise fasst Paul aus Realschule 3 nach dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“ seine eigene Emotionslage mit folgendem Satz zusammen: „Voll des scheiß Gefühl.“ (Zeile 10). Andererseits werden didaktische Inszenierungen von zum Beispiel Regeländerungen des vertrauten Spiels als „Scheiß Regel“ (Karim, Realschule 3, Spiel „Was bedeutet es fremd zu sein?“, Zeile 44) lautstark geäußert. Dadurch wird sich offenkundig über die didaktische Inszenierung beschwert und entstandene Aggressionen und Frustrationen können abgebaut werden. In allen Klassen wird von Schüler/innen unmittelbarer Gesprächsbedarf nach den Spielen gefordert, was sich unter anderem dadurch kennzeichnet, dass Schüler/innen der Lehrkraft ihre Wahrnehmungen zum Spiel bereits auf dem Weg zum Reflexionskreis mitteilen oder vor Beginn der Reflexion das Gespräch mit der Lehrkraft und den Austausch mit ihren Mitschüler/innen suchen. Nicht nur verunsichernde und Frust ablassende Äußerungen können verbalisiert werden. Sondern auch für Schüler/innen überraschend positive Erlebnisse der didaktischen Inszenierungen wurden im Rahmen der Reflexionsrunden geäußert. Bei dem Spiel „Fußball einmal anders“, bei dem verschiedene Varianten des gewohnten Fußballspiels ausprobiert wurden, äußert Bahar (Realschule 2, Zeile 34) beispielsweise, dass ihr das „Blindsein“ auf unerwartete Weise Spaß gemacht hatte und es „cool“ war, Stimmen zu hören, aber gleichzeitig nichts zu sehen. Die Verbalisierung von positiven Emotionen zu den didaktischen Inszenierungen kam insgesamt in allen drei Klassen selten vor. Vielmehr zeigen die Analysen auf emotional-affektiver Ebene eher negativ konnotierte Äußerungen und in diesem Zuge manchmal auch ein kritisch-reflexives Hinterfragen der im Sportunterricht inszenierten `Fremdheitsspiele´. Teilweise prüfen die Schüler/innen die Spiele und deren Ideen kritisch auf Realitätsnähe. Der Transfer der im Sportunterricht durchgeführten Spiele in außersportunterrichtliche (Spiel-) Situationen und die Infragestellung einer Übertragung in die Lebenspraxis der Schüler/innen verweisen ebenfalls auf emotionale Momente, die das Thematisieren und Diskutieren der didaktischen Inszenierung forderten. Marco aus Klasse 1 thematisiert in Bezug auf die didaktische Insze-

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7 Ergebnisse

nierung des Spiels „Was bedeutet es fremd zu sein“ folgendes zum Nicht-Verbalisieren der Regeln seitens seiner Mitschüler/innen: Ma:

[gestikuliert während des Sprechens mit seinen Armen herum] Aber wenn man irgendwo hingeht, sagen sie es ja zumindest, was, wie die neuen Regeln sind. Ich hab jetzt auch paar Mal gefragt. Sie sagen [nachahmend mit verstellter Stimme]: „Dürfen wir nicht sagen. Dürfen wir nicht sagen.“ (Zeilen 134-139)

Marco zeigt sich im Gespräch emotional bewegt, was durch seine starke Gestikulation während des Sprechens unterstrichen wird. Auch in seiner Aussprache wird die emotionale Beteiligung von Marco deutlich. Er redet sehr schnell und gerade an der Stelle, an der er seine Mitschüler/innen imitiert, spricht er in einer nachäffenden, genervten Tonlage. Marco kritisiert an dem Spiel explizit die didaktische Inszenierung und weist – im Gegensatz zum ersten Ankerbeispiel mit Doreen – darauf hin, dass das `Ignoriertwerden´ von anderen Personen bei konstruktiven Umgangsweisen wie ein offenes Zugehen auf andere und ein `Sich-Informieren´ bei den beteiligten Personen, nicht alltagsnah ist. Marco ist davon überzeugt, dass ihm die Regeln auf Nachfrage in einer `realen´ Situation mitgeteilt werden würden. Durch die Infragestellung des Spiels bzw. der didaktischen Vorgaben eröffnet Marco nicht nur einen Diskussionsraum, sondern kann auch durch das Identifizieren und Aussprechen der von ihm angezweifelten didaktischen Inszenierung für sich Sicherheit herstellen. Marco hat offenkundig zum Ausdruck gebracht, dass die entstandene sportunterrichtliche Situation auf die didaktische Inszenierung zurückzuführen ist und nicht auf eine andere Situation „irgendwo“ zu übertragen ist. Die didaktische Inszenierung gilt somit als `Sündenbock´ für die Situation, in die Marco gebracht wurde und durch die externale Ursachenzuschreibung konnte die eigene Identität gesichert werden kann. Eine besondere Situation zeigt sich in Klassen 2 und 3 bei der letzten Reflexionsrunde nach dem „Bafa Bafa-Spiel“. In Klasse 3 meinen einige Jungen am Ende der Unterrichtseinheit, dass die Stunden „gar kein(en)

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

239

Spaß“ (Abdal, Klasse 3, Zeile 200-201) gemacht hätten und dass der „Sport irgendwann so langweilig (war)“ (nicht identifizierbarer Schüler, Klasse 3, Zeile 205). Auch in Realschulklasse 2 stellen die Schüler/innen in der Reflexion nach dem „Bafa Bafa-Spiel“ nicht nur spezifische didaktische Inhalte in Frage, sondern die gesamte Interventionseinheit wird vor allem von Tamara, Clarissa und Peter nachdrücklich kritisiert, wobei sich auch mehrere Schüler/innen den Aussagen der beiden anschließen. Tamara betont mehrfach, dass die Spiele „sowas für den Kindergarten (sind)“ (Zeile 254). Peter redet sich emotional in Rage und meint, dass er sich als „Versuchskaninchen“ (Zeile 361) fühlt und das Ganze „einfach keinen Spaß“ gemacht hatte (Zeile 364). Die didaktisch inszenierten Fremdheitsspiele und sportunterrichtliche Situation haben bei den Schüler/innen Unlust hervorgerufen und berührten sie emotional-affektiv (Combe & Gebhard, 2012, S. 22). Die experimentell hergestellten Situationen und Verfremdungsmomente führten dazu, dass sich Peter in der Rolle eines „Versuchskaninchens“ denn als Schüler sah, weshalb er durch die emotionalen Äußerungen gegen die Unterrichtseinheit seinen Ärger über die hergestellte Rollenzuweisung publik macht. Durch die Zustimmung von weiteren Mitschüler/innen bildet die Klasse eine Art Opposition gegen die Lehrkraft und deren Intervention. Das Abschlussgespräch in dieser Klasse kann als eine Art Rebellion gegen die Intervention über die wochenlang akkumulierte `Frustration´ gedeutet werden. Durch das gemeinsame Reflexionsgespräch wird den Schüler/innen die Gelegenheit geboten, ihre negativen Emotionen gegenüber der Unterrichtseinheit äußern und diskutieren zu können.

240 7.3.1.2

7 Ergebnisse Affektiv-emotionales Erleben und kognitive Verknüpfungen: Transferpotenzial in außersportunterrichtliche Situationen

Das im Spiel Erlebte und die damit verbundenen Emotionen können zum einen in eigene bisherige außersportunterrichtliche Erfahrungen der Schüler/innen eingeordnet werden. Zum anderen sind Schüler/innen auch in der Lage einen Perspektivwechsel vorzunehmen und das im sportunterrichtlichen Spiel Erlebte auf Situationen von `anderen´ zu übertragen. Die sportunterrichtlichen Fremdheitserlebnisse können mit unterschiedlichen außersportunterrichtlichen Situationen verknüpft werden, weshalb das im Sportunterricht erzeugte Gefühl von Fremdheit als ein übergeordnetes, kontextunspezifisches affektives Phänomen gesehen werden kann. Darüber hinaus sind Schüler/innen fähig, die in den Spielsituationen bedeutsamen Konstrukte wie Regeln (und ihre Veränderungen) ebenfalls auf außersportunterrichtliche Situationen zu übertragen. Mithilfe der sprachlichen Reflexionen möchte die Interkulturelle Bewegungserziehung Bezüge zu „außerunterrichtlichen und außerschulischen Handlungsfeldern“ (Gieß-Stüber, 2008, S. 241) der Schüler/innen schaffen und thematisieren. Diese Transferleistung von der sportunterrichtlich inszenierten Fremdheit auf außersportunterrichtliche Situation können als ein zentrales Moment der didaktischen Inszenierung von Reflexionsgesprächen angesehen werden, da hier eine Verknüpfungsleistung des sportunterrichtlichen Arrangements, seinem affektiven Erleben und bisherigen Erfahrungen erbracht wird. Dadurch wird ein Gesprächshorizont eröffnet, in dem das situativ Erlebte in Bisheriges eingebettet, thematisiert und reflektiert werden kann. Die Analysen zeigen, dass Schüler/innen durchaus in der Lage sind das im Spiel Erlebte und die damit verbundenen Emotionen auf bisherige Erfahrungen und außersportunterrichtliche Situationen zu übertragen. Je nach thematischem Schwerpunkt der Fremdheitsspiele werden verschiedene Kontexte von den Schüler/innen beschrieben, in denen ihnen entweder selbst das im Spiel erlebte Gefühl widerfahren ist (Innenperspektive) oder sie sich vorstellen können, dass das im Spiel Erlebte auch in

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

241

weiteren außersportunterrichtlichen Kontexten erfahren werden kann (Außenperspektive). Das nachfolgende Ankerbeispiel bezieht sich auf ein Reflexionsgespräch nach dem Spiel „Was bedeutet es fremd zu sein?“. Clarissa (Cl) aus Realschule 2 wurde in diesem Spiel nach draußen geschickt und wusste nichts von der Regeländerung, sodass sie bei Regelübertritt sanktioniert wurde. Sie zieht folgende Analogie zu den Spielerlebnissen. Cl:

Ja, da wo ich, also ich bin ja auch erst dieses Jahr neu gekommen. (2) Und da fand ich auch (.) also (.) ich fand‘s halt komisch, weil die hatten ganz andere Regeln, als ich in der anderen Schule hatte, und dann musste ich mich erst wieder drangewöhnen. Man hat immer Angst, dass man was falsch macht. (Zeilen 120-125)

Clarissa greift auf, dass sie das im Spiel erlebte Gefühl auf den Kontext des Schulwechsels übertragen kann. Sie beschreibt den Schul- und Klassenwechsel (in die jetzige Klasse) als „komisch“, da im Gegensatz zur vorherigen Institution „ganz andere Regeln“ herrschten. An bestehende Regeln musste man sich gewöhnen. Gleichzeitig äußert Clarissa auch, dass die Unwissenheit über die handlungsleitenden Regeln zu angstbesetzten Gefühlen führten: „Angst, dass man was falsch macht“. Der Wechsel der Schule und der Eintritt in die neue Klasse sind für Clarissa mit ähnlichen Gefühlen wie die im Spiel gemachten besetzt. Die von Clarissa geäußerten Emotionen („komisch“ und „Angst“) sind als negativ einzuordnen. Betrachtet man weitere Transferverknüpfungen von den didaktisch inszenierten Spielen, dem emotionalen Erleben der Schüler/innen in diesen Spielen und weiteren außersportunterrichtlichen Situationen, kann eine breite Vielfalt an bisherigen Erfahrungen der Schüler/innen ausgemacht werden. Die von Schüler/innen gezogenen Analogien zu Fremdheitsspielen, in denen sie in einen neuen Spielkontext treten mussten, waren neben dem Schulwechsel auch Vereinseintritt, Wohnortwechsel, neue Spielsituationen und Urlaubssituationen. In allen thematisierten

242

7 Ergebnisse

Bereichen verknüpfen die Schüler/innen ihre eigenen Erfahrungen mit der sportunterrichtlichen Situation. In den diskriminierungskritischen Spielen, in denen es um die Simulation und Sensibilisierung von hierarchischen und machtvollen Beziehungen (Inklusions- und Exklusionsgruppierungen) geht, ziehen Schüler/innen Analogien, in dem sie eine Fremdperspektive einnehmen: Die Schüler/innen vollziehen eine Perspektivübernahme, nehmen den Standpunkt eines anderen ein und können sich in andere Personen oder Situationen hineinversetzen (Selman, 1984, S. 52). Kontextuell wird der Transfer vollzogen, in welchen Situationen sich andere Personen in einer benachteiligten Lage befinden. In Klasse 1 wird von Sara nach dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“ eine besondere Analogie zu Ausgrenzungssituationen gezogen: Sara spricht offen und vor allen Mitschüler/innen an, dass ein Mädchen der Klasse, Nadine, ausgegrenzt wird (Zitat: „Nadine wird manchmal ausgegrenzt“). Sara thematisiert eine emotional prekäre Situation aus Sicht einer Mitschülerin, wobei Sara nur deskriptiv Analogien des Spiels zur Situation von Nadine zieht und diese nicht mit emotionalen Attributen verknüpft. Zudem wird im Rahmen der Analysen deutlich, dass auch Analogien zu gesellschaftlichen Verhältnissen und den (diskriminierungskritischen) Spielen gezogen werden können. Marco aus Klasse 1 meint im Reflexionsgespräch nach dem „Regelspiel“ folgendes: Lk:

Die [jene Schüler/innen, die keine Regeln aufstellen durften, AM] haben sich ungerecht behandelt gefühlt, oder Marco?

Ma:

Ja so ist die Welt zurzeit.

Lk:

So ist die Welt?

Ma:

Ja! In Afrika verrecken die ganzen Leute und wir hier leben super. (Zeilen 137-142)

Marco, der sich in diesem Spiel in einer machtvolleren Position befand, transferiert das im Spiel entstandene Ungerechtigkeitsgefühl auf weltpolitische Bedingungen sozialer Ungleichheit. Er macht deutlich, dass es

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

243

eine soziale Diskrepanz zwischen den (Lebens-)Bedingungen in einem weniger entwickelten Land bzw. Kontinent wie Afrika und der Industrienation Deutschland gibt. Hochemotional äußert Marco, dass in Afrika die Menschen „verrecken“ während es den Menschen in Deutschland gut geht. Durch die Verwendung der ersten Person Plural („Wir“) grenzt er sich von den Menschen in Afrika ab und nimmt eine Fremdperspektive bezüglich der Lebensumstände in Afrika ein. Marco steht demnach den bestehenden Verhältnissen kritisch gegenüber. Neben den affektiven Erlebenskomponenten, die auf außerschulsportliche Situationen transferiert werden, kann eine weitere Verknüpfungsleistung der Schüler/innen identifiziert werden: Für die sportunterrichtlichen Inhalte sowie die Inszenierung von Fremdheit wurde als ein zentrales didaktisches Mittel – das Ändern von (für die Schüler/innen unhinterfragten) Regeln – eingesetzt. Der Transfer von übersportunterrichtlichen Situationen, die `geregelt´ werden müssen, kann von den Schüler/innen geleistet werden. Allerdings bleibt der Transfer auf einer rein deskriptiven Ebene, wie das Beispiel von Doreen (Realschule 1; Reflexion nach dem „Regelspiel“) zeigt. Lk:

Kennt ihr Situationen, wo‘s im Alltag wichti– wo es im (.) wo brauchen wir im Alltag Regeln? (.) Doreen?

Do:

Wenn man zum Beispiel das Zimmer aufräumen soll. (Zeilen 151-155)

Doreen bezieht den Kontext, in denen Regeln von Bedeutung sind, auf den Kontext des Aufräumens des Zimmers. Mit diesem Satz ist die kognitive Transferleistung von Doreen beendet. Auch andere Schüler/innen geben quasi ein Schlagwort zu Situationen, in denen Regeln von Bedeutung sind („Haushalt“; „Schule“; „Fußballspiel“). Die Bedeutungsebene von Regeln (in Bewegung, Spiel und Sport, aber Allgemein) wird nur rudimentär von den Schüler/innen behandelt, zum Beispiel, „dass das Spiel auch fair ist“ (Cedric, Klasse 3, Regelspiel, Zeile 103). Insgesamt machen die Analysen deutlich, dass die Übertragung der sportunterrichtlichen Erlebnisse auf außersportunterrichtliche und teilwei-

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7 Ergebnisse

se auch gesellschaftliche Phänomene möglich ist. Dem Ziehen von übersportunterrichtlichen Analogien im Rahmen von didaktischen Inszenierungen der Interkulturellen Bewegungserziehung wurde teilweise kritisch entgegengetreten (Neuber, 1999, S.116). Die Transferleistungen der Schüler/innen bleiben allerdings oftmals auf einer deskriptiven Ebene: Die gezogenen außersportunterrichtlichen Analogien werden benannt, aber nicht weiter ausgeführt und auch nicht immer mit der Verbalisierung von Emotionen verknüpft. Da Schüler/innen die durch die didaktischen Inszenierungen provozierten Gefühle von Fremdheit mit unterschiedlichen Kontexten aus ihrer unmittelbaren Lebenswelt und ihren Sichtweisen auf die Umwelt beziehen, kann Fremdheit als ein übergeordnetes, in unterschiedlichsten Kontexten und Begegnungen aufkommendes affektives Phänomen auftreten. Demnach ist für diese Schülergruppe Fremdheit als ein von ethnischkultureller Fremdheit losgelöstes Phänomen zu verstehen. 7.3.1.3

Retrospektive Handlungsebene: Einordnung des eigenen situativen Umgangs mit Fremdheit

Schüler/innen sind retrospektiv in der Lage, die eigene (beobachtbare) Umgangsweise zu verbalisieren und kontextuell einzubetten. Teilweise kommt es zur Verknüpfung von affektiv Erlebtem und der Umgangsweise damit. Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt der Reflexionsgespräche betrifft die Thematisierung und reflexive Einordnung der eigenen Handlungen innerhalb der Spielsituationen. Das Thematisieren von unterschiedlichen Handlungsstrategien in der Begegnung mit Fremdheit wird auch von Gieß-Stüber (2008, S. 241) als ein Themenbereich für die Reflexionsgespräche im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung offengelegt. Durch die reflexive Betrachtung, Besprechung und Einordnung von unterschiedlichen beobachtbaren Umgangsstrategien kann beispielsweise die individuelle Vielfalt von potenziellen Handlungen auf Fremdheit thematisiert werden und die Beweggründe für die jeweilige Strategie rekonstruiert werden.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

245

Das nachstehende Ankerbeispiel zeigt einen Ausschnitt aus einem Reflexionsgespräch nach dem Spiel „Was bedeutet es fremd zu sein?“ in Klasse 1. Sascha, der gemeinsam mit Nina nach draußen geschickt wurde, thematisiert eine Umgangsstrategie mit der inszenierten Fremdheit nach der Gesprächseröffnung durch die Lehrkraft. Lk:

Und wie habt ihr euch dabei gefühlt, weil ihr es nicht rausgefunden habt? Also weil ich euch immer abgepfiffen hab, wenn ihr (.) wenn ihr am Ball wart.

Sa:

Ich hab nichts (geblickt). [leise]

Ni:

Ich hab mich verarscht gefühlt.

Lk:

Du hast dich Sascha, du?

Sa:

Ähm, verschieden. Ich hab nichts geblickt.

Lk:

Hast es nicht geblickt.

Sa:

Ja, ich wusste nicht, was ich machen soll. Dann hab ich einfach gar nicht mehr gespielt.

verarscht

gefühlt.

Okay.

Lk: Also du wusstest nicht, wie du dich verhalten sollst. Sa:

[zuckt mit den Schultern und lächelt] Ja.

Lk:

Und dann hast du einfach aufgehört.

Sa:

Ja.

Lk:

Okay. (Zeilen 46-60)

Die Frage der Lehrkraft nach der emotionalen Gefühlslage durch die didaktische Inszenierung („Also weil ich euch immer abgepfiffen hab […]“) beantwortet Sascha mit einem Gefühl der Verwirrung, da er „nichts geblickt“ hatte. Nina fasst die emotionalen Erlebnisse im Rahmen des Spiels deutlicher zusammen und sagt, dass sie sich „verarscht“ gefühlt hat. Das stark negativ besetzte Wort spiegelt die im Spiel aufgetretenen

246

7 Ergebnisse

Ambivalenzen des Ausgepfiffen Werdens in einem vermeintlich vertrauten Spiel wieder. Nachdem Sascha in einer lauteren Tonlage seine im Spiel erlebten gemischten Gefühle („verschieden“) deutlich macht und wiederholt, dass er „nichts geblickt“ hat, drückt Sascha explizit aus, dass er durch das didaktische Arrangements des ständigen AusgepfiffenWerdens seitens der Lehrkraft nicht wusste, was er machen sollte. Die Orientierungslosigkeit im Rahmen des sportunterrichtlichen Spiels, führte dazu, dass er dann „einfach gar nicht mehr gespielt [hat]“. Ohne eine Aufforderung von Seiten der Lehrkraft nimmt Sascha nicht nur eine retrospektive Perspektive bezüglich seiner im Spiel dominierenden Emotionen ein, sondern rekonstruiert und verbalisiert seinen Umgang mit der sportunterrichtlichen Fremdheitssituation. Die Lehrkraft wiederholt Saschas Aussagen zum Erleben und Umgang mit der sportunterrichtlichen Fremdheit und Sascha stimmt den Repetitionen einsilbig zu. Weitere von den Schüler/innen benannte Umgangsweisen mit den sportunterrichtlichen Inhalten waren neben Resignationsstrategien auch Beobachtungen, um das Spiel zu verstehen, die direkte aktive Auseinandersetzung und das Einfordern von Unterstützung durch Dritte. Teilweise ziehen die Schüler/innen auch Bezüge zu den didaktischen Inszenierungen, indem beispielsweise von Jasmin (Klasse 2) nach dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“ darauf hingewiesen wird, dass es „ja dann unnötig [war] noch mitzumachen, (.) wenn man es eh schon wusste.“ (Zeilen 1921). Mit letzterem meint Jasmin das Wissen um die Aufgabe der Mitschüler/innen, dass sie Jasmin und die weiteren ausgewählten Personen ignorieren sollen. Die thematisierten Umgangsstrategien sind nicht zwingend mit den affektiven Erlebenskomponenten verknüpft, sondern können auch als losgelöste retrospektive Feststellungen von Seiten der Schüler stehen. Eine direkte Konfrontation der Lehrkraft mit von ihr beobachteten Umgangsstrategien in der Begegnung mit Fremdheit und die damit verbundene Auseinandersetzung der Schüler/innen mit objektiv von der Lehrkraft festgestellten Handlungsstrategien, wie es Gieß-Stüber (2008, S. 241) empfiehlt, findet in keiner der Klassen statt.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene 7.3.1.4

247

Prospektive Handlungsebene: Umgang mit Fremdheit in zukünftigen Situationen

Prospektive Aussagen zum Umgang mit Fremdheit können von Schüler/innen für hypothetische ähnliche außersportunterrichtliche Situationen verbalisiert werden. Die Thematisierung von unterschiedlichen zukünftigen Umgangsweisen mit Fremdheit fand in den Reflexionsgesprächen in der Regel nur bei spezifischer Fragestellung der Lehrkraft statt. Die Umgangsweisen mit Fremdem und Fremden changieren von integrativen bis segregierenden Tendenzen. Neben der Thematisierung von retrospektiven Handlungsweisen, können Schüler/innen auch eine Transferleistung vollziehen und potenziell zukünftige Umgangsweisen in hypothetisch angenommenen ähnlichen Situationen wie der des sportunterrichtlichen Spiels beschreiben. Es geht also „um den gedanklichen Entwurf einer zukünftigen Praxis“ (SerwePandrick, 2013b, S. 101). Nach dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“ stellt die Lehrkraft die Frage, wie sich die Schüler/innen verhalten würden, wenn sie in ihrer Freizeit ein Spiel spielen würden und eine neue, ihnen bisher unbekannte Person, dazu stoßen würde. Die Frage der Lehrkraft expliziert spezifisch die Perspektive der machtvolleren Person. Jene Person mit dem Wissen über das Spiel und seine Regeln und die die Definitionsmacht über Zugehörigkeit oder Ausschluss besitzt (Gieß-Stüber, 2003, S. 4). Zarko aus Klasse 3 beschreibt im Reflexionsgespräch nach dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“ seine potenzielle prospektive Umgangsweise mit der neu dazugekommenen Person folgendermaßen: Za:

Würd ihn fragen, ob er mitspielen will.

75

Kl : Ja, des, okay. Za:

75

Ich würd das Spiel (und dann fertig).

ihm irgendwie erklären

In diesem Gespräch beteiligte sich auch der Sportlehrer [Kl] der Klasse (neben der externen Lehrkraft [Lk]) an dem Reflexionsgespräch.

248

7 Ergebnisse

Kl:

Was meinst du mit „Spiel erklären“?

Za:

Ähm, dass wenn er dieses Spiel nicht kennt, dass ich ihm des erkläre und dann kann er vielleicht mitspielen. (Zeilen 126-133)

Zarko erläutert einen aus normativer Sicht konstruktiven Umgang mit Fremdheit, in dem er auf eine ihm unbekannte Person offen zugehen und fragen würde, ob sie mitspielen möchte. Anschließend erläutert Zarko, dass er mit der Person in einen Dialog treten würde und – sofern die Person das gespielte Spiel nicht kennen sollte – es ihr erklären würde. Ziel ist es, dass die neue Person in das Spielgeschehen integriert wird. Die Formen des offenen Umgangs mit der neu zur Situation kommenden Person werden auch in anderen Klassen geäußert (beispielsweise Jonas aus Klasse 1, Zeilen 281-282: „Ja, ich würde ihn fragen, ob er mitmachen will und wenn er mitmachen will, würde ich’s ihm erklären.“). Allerdings zeigen auch weitere Redebeteiligungen von Schüler/innen, dass sie einer solchen Situation nicht zwangsläufig mit einer offenen Haltung gegenüberstehen würden. Es werden auch zukünftige Umgangsweisen deutlich, die assimilative und segregierende Tendenzen zeigen. Im Folgenden ein Beispiel aus der Realschulklasse 2 (Reflexion nach dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“): Sb:

Ähm, also wenn ne Position frei wird, dahingehen. Er darf nicht an eine gehen, wo andere schon sind. (.) Er soll einfach in, irgendwo in ne Ecke.

[Sabri zeigt mit der Hand in eine Ecke. Azim meldet sich. Gekicher] Lk:

Du willst gar nicht, dass er mitspielt. (.) Ok. Azim.

Az:

Also erst mal testen lassen, wie er spielt und dann ihm seine Position zeigen.

Lk:

Ok. Du würdest erst mal so ein bisschen testen lassen. (1) Ihr auch? (.) Tamara.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene Ta:

249

Warum genau zu uns? Kann er doch zu anderen Teams gehen. (Zeilen 123-133)

Sabri (Sb) eröffnet das Gespräch, nach der Frage der Lehrkraft, was man machen kann, wenn jemand Neues zu einer bestehenden Spielsituation kommt. Sabri verweist darauf, dass der Neuling nicht in bestehende (Spiel-)Strukturen eindringen darf und somit niemandem den Platz streitig machen darf. Die zur Verfügung stehenden (knappen) Ressourcen und Plätze werden nicht geteilt. Als Strategie wählt er einen kompletten Ausschluss der Person, die „irgendwo in ne Ecke [soll]“. Es wird eine klare Grenzziehung zwischen dem `Neuen´ und der eigenen Gruppe gezogen, der nicht einfach in bestehende Strukturen `eindringen´ darf (Nieke, 2012, S. 117). Nur wenn die fremde Personen funktional und nützlich für das Spielgeschehen ist und einen freien Platz besetzen kann, darf er gegebenenfalls mitspielen. Auch Azim (Az) verweist auf funktionale Orientierungsmuster (Gieß-Stüber, 2003, S. 5): Wenn die Person nach Azims Vorstellungen spielt („[…] testen lassen, wie er spielt […]“) und sich in das bestehende Gefüge assimilativ einfügen kann, darf er mitspielen. Tamara (Ta) lehnt die Teilnahme des Neulings per se und unbegründet ab und verweist nicht auf eventuelle Bezugskategorien wie die Nützlichkeit oder Funktionalität, die über eine eventuelle Teilnahme entscheiden. Sie sieht das Gruppengefüge („uns“) als gefährdet an und überträgt die Verantwortung einer potenziellen Einbindung der neuen Person an andere. Die von den Schüler/innen geäußerten (aus normativer Sicht) destruktiven Umgangsweisen mit Fremden werden auch in Klasse 3 deutlich (Moussa, Spiel „Bewusstes Ignorieren“, Zeile 120: „Nein, der soll weg bleiben.“). 7.3.1.5

Zwischenfazit: Reflexionsgespräche zum Umgang mit Fremdheit

Die bisherigen Ergebnisse auf inhaltlicher Ebene weisen auf anschlussfähige Momente der Reflexionsgespräche für die Thematisierung des Umgangs mit Fremdheit im Sportunterricht hin. Die Äußerungen auf affektiv-emotionaler Ebene auf die inszenierte Fremdheit im Sportunterricht

250

7 Ergebnisse

deuten darauf hin, dass die Erlebnisse – zumindest teilweise – subjektiv bedeutsam für die Schüler/innen waren und Gesprächsbedarf bei den Schüler/innen hervorrief. Die gemachten Erlebnisse müssen eingeordnet und in einen für die betroffenen Personen sinnstiftenden bzw. verstehenden Kontext gebracht werden. Insbesondere die didaktischen Inszenierungen von diskriminierungskritischen Spielen, in denen einzelne Kinder in (unvertraute) Außenseiterpositionen gebracht werden und einen (zumindest in sportunterrichtlichen Situationen) neuen Erfahrungshorizont für Schüler/innen ebnen, bedarf einer verbalen Thematisierung und Aufklärung, da hier die emotionale Beteiligung der Schüler/innen besonders deutlich wird. Es konnte zudem gezeigt werden, dass die im Sportunterricht inszenierten Fremdheitserlebnisse mit unterschiedlichen bisherigen Erfahrungen und Wahrnehmungen der Schüler/innen verknüpft wurden. Die von Schüler/innen gezogenen Analogien zu Fremdheitsspielen, in denen sie beispielsweise in einen neuen Spielkontext treten mussten, waren unter anderem Schulwechsel, Vereinseintritt und Urlaubssituationen. Das heißt demnach, dass Schüler/innen das Gefühl von Fremdheit aus unterschiedlichen Kontexten kennen, die nicht per se mit ethnischkulturellen Begegnungen zusammenhängen, was als eine der zentralen Kategorien innerhalb der Interkulturellen Erziehung und Bildung gilt. Fremdheit kann somit als ein übergeordnetes affektives Erleben von Schüler/innen gesehen werden. Die Thematisierung von und der Austausch über den (sportunterrichtlichen) Umgang mit Fremdheit finden immer wieder punktuell in den Klassen statt, allerdings bleiben diese Gespräche auf einer deskriptiven Ebene. Der erzieherische Anspruch der Interkulturellen Bewegungserziehung ist, dass Schüler/innen das Fremde als keine Bedrohung ansehen, sondern vielmehr als eine herausfordernde Bereicherung. Durch die von Schüler/innen angesprochenen prospektiven Handlungsweisen zeigt sich allerdings, dass viele Schüler/innen eine neu zum Spiel hinzukommende Person ablehnen oder nur unter Vorbehalt mitspielen lassen würden. Über die analytische Ebene des Inhalts und der für die Schüler/innen gegebene Bedeutungsgehalt der Reflexionsgespräche hinausgehend, wird nachfolgend der sequenzielle Verlauf der Reflexionsgespräche analysiert.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

251

7.3.2 Ergebnisse der Sequenzanalyse der Reflexionsgespräche Im Folgenden werden die Ergebnisse der Sequenzanalyse der Reflexionsgespräche dargelegt. Das Hauptaugenmerk der Analyse liegt darauf, inwiefern das von der Sportlehrkraft intendierte Gespräch über die Fremdheitsspiele mit ihren vorstrukturierten Fragen durch unterschiedliche sequenziell auftretende (alternative) Gesprächsstränge der Schüler/innen aufgenommen oder unterbrochen wurde bzw. in eine eigene Diskurslogik der Schüler/innen gelenkt wurde. Dadurch können unterschiedliche gegebenenfalls herausfordernde und chancenreiche Momente der Reflexion herausgestellt werden. Bevor auf die einzelnen, den Reflexionsfluss beeinflussenden, Ergebnisse der Sequenzanalyse eingegangen wird, soll festgehalten werden, dass die von den Schüler/innen hervorgebrachten Themen unsystematisch bzw. wiederkehrend im Laufe der Reflexionsgespräche vorkamen. Es hätte theoretisch angenommen werden können, dass Schüler/innen immer wieder bei persönlicheren und emotionsbezogenen Fragestellungen der Sportlehrkraft als eine Art Abwehrreaktion beispielsweise ein Beenden des Gespräches initiieren. Da die sich herauskristallisierenden Themen über das gesamte Reflexionsgespräch hinweg immer wieder 76 auftretende und den Reflexionsgesprächsfluss „störende“ Themen sind, kann geschlussfolgert werden, dass die von den Schüler/innen initiierten `Brüche´ des Gesprächsflusses nicht als eine Art symptomatische Abwehr auf bestimmte Fragestellungen seitens der Lehrkraft zu verstehen sind. Vielmehr können die Themen als verschiedene, den Gesprächsverlauf beeinflussende, Muster gesehen werden. Im Folgenden werden zu Beginn der Ergebnisvorstellung Thesen aufgestellt, die anhand von Ankersequenzen belegt und eingeordnet werden.

76

Letztendlich sind Reflexionsgespräche als dynamische Prozesse zu verstehen, die durch Schüler/innen und ihr Einbringen aktiv mitgestaltet werden. Deshalb kann aus einem pädagogischen Anspruch nicht von einem `Stören´ gesprochen werden. Wird aber der wissenschaftliche Anspruch der Reflexionsgespräche im Rahmen der Interventionsstudie – im Sinne eines Auffangens, Einordnen und Transferierens des im Sportunterricht Erlebten – ausgegangen, kann durch verschiedene `Schüler/innen-Diskurse´ die genuine Intention des Reflexionsgespräches im Kontext der Studie `gestört´ werden.

252 7.3.2.1

7 Ergebnisse Reflexionszeit vs. Bedürfnis nach Bewegung

Für Schüler/innen ist der Sportunterricht ein Kontext des „SichBewegens“. Der Wunsch nach körperlich-aktiver Betätigung (ohne `Fremdheitsinszenierung´) im Sportunterricht kann den Diskursverlauf des Aufgreifens, Einordnens und Transferierens des im Sportunterricht Erlebten konterkarieren. Die Lehrkraft kann ebenfalls durch ihre Äußerungen den Fokus auf die (baldige) Bewegungszeit lenken und minimiert dadurch die Bedeutung des Reflexionsgesprächs. Die von der Sportlehrkraft intendierte Reflexion wird immer wieder durch den von den Schüler/innen geäußertem Wunsch nach Bewegung und `Weiterspielen´ gestört. Der Wunsch und das Bedürfnis nach Bewegung und die dadurch stattfindende Minimierung der Gesprächsanteile im Sportunterricht sind über alle Klassen hinweg ein immer wieder auftretendes Thema der Schüler/innen während der Gesprächsrunden. Die Äußerungen der Schüler/innen betreffen vor allem den Wunsch nach Bewegung, Spiel und Sport. Das Anliegen eines Mehr an Bewegung und Spiel anstelle des Nachdenkens und Redens im Sportunterricht ist kein individuelles Bedürfnis, sondern wird von mehreren Schüler/innen einer Klasse immer wieder geäußert. Nach der ersten Äußerung eines Schülers bzw. einer Schülerin schließen sich meist noch weitere Schüler/innen dem Wunsch nach sportlicher Betätigung an. Dabei kann sich der Diskurs des Reflexionsgesprächs gruppendynamisch so wandeln, dass alle Aussagen sich nur um das Thema des „sich (wieder) Bewegens“ drehen. Die Aussagen betreffen entweder den Wunsch nach fortführender Bewegungsaktivität oder auch Vorschläge, wie das (baldige) Spiel didaktisch arrangiert werden soll (z.B. Gruppeneinteilung, Gruppengröße). Durch die von Schüler/innen geforderte Bewegungszeit, werden die Gesprächsstränge, die die Sportlehrkraft (und einzelne Schüler/innen) verfolgen, immer wieder konterkariert und durchbrochen. Die Reflexionszeit steht für Schüler/innen somit in direkter `Konkurrenz´ zur Bewegungszeit (Neumann, 2006). Eine Aufarbeitung der für die Reflexionsphase intendierten Fragen und Themen von Seiten der Lehrkraft scheint kaum noch durchführbar. In

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

253

einigen Fällen geht die Sportlehrkraft auf die Wünsche der Schüler/innen ein und verweist darauf, dass bald wieder eine Spielphase erfolgt. Teilweise stellt die Lehrkraft auch ohne Schülerimpuls die baldige Spielzeit in Aussicht. Allerdings verweist die Lehrkraft dann meist noch darauf, dass vor dem (Weiter-)Spielen die eine oder andere Frage `schnell´ gestellt wird. Der Wunsch der Schüler/innen nach Bewegung und Spiel wird demnach von der Lehrkraft instrumentalisiert und als Motivationsgrundlage für die sprachliche Auseinandersetzung verwendet. Gleichzeitig wird die Bedeutung des Gespräches durch die Ansagen der Sportlehrkraft („kurz“ bzw. „schnell“ einige Fragen stellen) minimiert. Die Sportlehrkraft scheint bei Drängen der Schüler/innen auf (Weiter-)Spielen hin und hergerissen zu sein: Einerseits scheint sie die Bedürfnisse der Schüler/innen nach mehr Bewegung nachvollziehen können, andererseits möchte sie das Gespräch `zwanghaft´ am Laufen halten, um die für die (Interventions-)Studie relevanten Themen zu behandeln. Trotz der Aussicht auf eine baldige Spiel- und Bewegungszeit, äußern Schüler/innen in den Reflexionsgesprächen immer wieder ihr Bedürfnis nach bewegungsbezogenen Anteilen im Sportunterricht. Das folgende Ankerbeispiel bezieht sich auf eine Anfangssequenz des Reflexionsgesprächs in der reinen Jungenklasse nach dem Spiel „Was bedeutet es fremd zu sein?“. Nachfolgend werden einzelne (zusammengehörige) Sequenzabschnitte dargelegt und interpretiert: Lk:

[pfeift] Ok, kommt zweimal] Fünf (.)

mal

her.

(.)

[pfeift

Xy77: Wir haben drei Minuten oder so gespielt und (.) Lk:

Wir spielen jetzt noch mal richtig. Jetzt, wir spiele- (2). Vier, drei (.)

Gi:

Zwei, eins, go. Setzen.

[Alle Schüler setzen sich außer Giovanni] (Zeilen 1-5) 77

Die Siglen „Xy“ bedeuten, dass dieser Redeanteil nicht eindeutig zu einem Schüler bzw. einer Schülerin zuordenbar ist.

254

7 Ergebnisse

Die Lehrkraft pfeift das Spiel ab und holt die Jungen zur Reflexion zusammen. Unmittelbar nach Abpfiff kommentiert ein Schüler (dessen Stimme nicht eindeutig zuordenbar ist), dass „drei Minuten oder so gespielt“ wurden. Die Äußerung lässt auf eine protestierende Haltung gegenüber der Beendigung des Spiels schließen. Die Lehrkraft interpretiert die Aussage des Schülers als eine Art Bedürfnis nach Spielfortsetzung und scheint ihn besänftigen zu wollen, indem sie ihm baldige Spielfortsetzung in Aussicht stellt, und zwar „noch mal richtig“. Es kann angenommen werden, dass die Lehrkraft mit dem „richtigen“ Spiel eine für die Jungen gewohnte Spieleweise ohne spezifische didaktische Inszenierung meint. Demnach bringt die Sportlehrkraft eine baldige Spielfortsetzung unter den von den Jungen favorisierten Bedingungen zur Sprache, ohne dass dies explizit von den Schülern thematisiert wurde. Giovannis (Gi) Verhalten und seine Äußerung, das Abzählen der Lehrkraft zu übernehmen, erscheinen widersprüchlich. Einerseits nimmt er die Lehrerrolle durch das Runterzählen und den von ihm geäußerten Imperativ „Setzen“ ein; andererseits folgt er als einziger der Klasse nicht seinem Gesagten und bleibt damit `auf dem Sprung´. Giovanni `hilft´ zwar der Lehrkraft das Reflexionsgespräch zu initiieren, aber er selbst scheint kein Interesse daran zu haben, Teilnehmer dieser Gesprächsrunde zu sein. Lk: Gi:

Wie wars? Nein, reinzukommen?(2)

oder

wie

wars

wieder

Gut.

Ga:

(Mitgespielt)

Lk:

Ja?

Gi:

Ja, ganz normal.

Lk:

Ja, warst du auch- [zu Giovanni, der steht] Setz dich mal. Setz dich mal. (1)

[Giovanni fordert den ihn und setzt sich] Lk:

Ah, sorry, ja.

„Gesprächsball“,

bekommt

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

255

Gi:

Dann hab ich geschossen und sie haben gesagt „Fehler von Giovanni“. [Enttäuschung in der Stimme]

He:

Ja, weil wir, weil man den Ball mit rechts (.) rechts und links berühren muss. (Zeilen 16-29)

Die Lehrkraft wendet sich an Gabriel (Ga) und Giovanni, die nach draußen geschickt wurden und somit die die Regeländerung im Spiel nicht mitbekommen hatten, und erfragt, wie sie die Wiederaufnahme des Spiels erlebt haben. Beide antworten kurz angebunden und deuten darauf hin, dass die didaktische Inszenierung für beide in Ordnung war bzw. kein Unterschied zum Gewohnten festzustellen war („Ja, ganz normal.“). Giovanni, der immer noch steht, wird von der Lehrkraft aufgefordert, sich hinzusetzen. Für die Lehrkraft scheint für die Teilnahme am Reflexionsgespräch das Reden `auf Augenhöhe´ bedeutsam. Mit dieser Aufforderung versucht die Lehrkraft einen Rahmen zu schaffen, der im Gegensatz zu sportunterrichtlichen Aktivitätsphasen steht: Durch das Sitzen wird implizit eine kognitive Phase eingeleitet, in der bewegungsbezogene Aktivitäten zunächst `pausieren´. Allerdings schafft die Lehrkraft den Rahmen erst inmitten des Gesprächs. Giovanni folgt der Anweisung der Lehrkraft und lässt sich regelkonform (nur die ballbesitzende Person soll reden) auf die Reflexion ein und gibt eine für ihn subjektiv bedeutsame Spielsituation wieder. Die Stimmlage von Giovanni lässt darauf schließen, dass die erlebte sportunterrichtliche Praxis doch keine wie zuvor geäußerte `normale´ Situation darstellte, sondern ein für ihn unerwartetes und bedeutsames Ereignis war. Henry (He) knüpft an den Redebeitrag von Giovanni an und versucht ihm dadurch eine Erklärung zu geben, warum sein Spielzug in diesem Moment als Fehler gesehen wurde. Lk:

Ja. Gib mal dem Tom den Ball.

[Gerede] Ka:

Das ist ne scheiß Regel.

[Tom bekommt den Ball von Giovanni und will oder versucht etwas zu sagen; Henry legt sich nach

256

7 Ergebnisse

hinten auf den Rücken und schlägt sich die Hände überm Kopf zusammen] Lk:

Wir spielen noch. (Zeilen 42-48)

Die Lehrkraft geht auf das Gesagte von Giovanni und Henry nicht ein, sondern nimmt hin, dass das Gespräch von Tom (To) fortgeführt wird, der den `Gesprächsball´ von Giovanni fordert. Zeitgleich ist der Gesprächsbedarf hoch, es ist ein wildes Durcheinander von Gesprächen zu hören. Ein Beitrag, der aus der Masse hervorsticht wird von Karim (Ka) geäußert, der an Henrys Erklärung der Regeländerung anknüpft und mit emotionalem Nachdruck äußert, dass das „ne scheiß Regel“ ist. Er greift somit den Erzählstrang von Henry, der die Regeländerung erklärte, auf und äußert seinen Unmut über die Verfremdung des Fußballspiels und baut dadurch den durch die Regeländerung aufgetretenen Frust ab (vgl. Kapitel 7.3.1.1). Henry legt sich auf den Boden und signalisiert damit, dass er sich von dem Reflexionsgespräch zurückzieht und sich nicht weiter darauf einlassen möchte. In dieser komplexen Situation greift die Lehrkraft das von Karim geäußerte und emotional geladene Statement nicht auf, sondern deutet Henrys Körpersprache sowie Aktivität und versucht ihn durch die Aussicht auf Spielen wieder in die Reflexion zurückzuholen. Die Lehrkraft legt erneut die Aufmerksamkeit auf die baldige Spielfortsetzung, ohne dass dies explizit von einem Schüler angesprochen oder eingefordert wurde. Dadurch minimiert die Lehrkraft selbst die Bedeutung des Reflexionsgesprächs, da sie auch die Teilnahme an der Reflexion in den Vordergrund hätte rücken können. To:

Also, wir haben halt die Regel geändert, wer draußen war, dass man bevor man passt oder bevor man schießt( ).

[Gerede] Lk:

Schhh.

Xy:

Oh, mein Gott. Okay, wir können los. Spiel weiter.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

257

Lk:

[zu Henry]. Aber warum war des für dich so schlimm? Du wills-, du regst dich am meisten auf.

He:

[bekommt den Gesprächsball] Bauernregel ist.

Äh.

Weils

ne

[Gerede] Ka:

Irgendein Opfer hat des erfunden.

[Gelächter] Xy:

Die Bauernregel.

Ga:

Ich glaub erfunden.

sie

[die

Lehrkraft,

AM]

hats

[Gelächter] Lk:

Hey, ich finds echt schade.

Gi:

Können wir jetzt weiterspielen?

[sehr unruhig, viele Schüler reden] Xy1: Wir wollen Fußball spielen. Xy2: Jetzt ist Stunde zu Ende. Xy3:

[Können wir nicht einfach Fußball spielen?

(Zeilen 54-74) Tom erhält den Gesprächsball und erklärt erneut, welche Regeländerung im Spiel vorgenommen wurde und knüpft an den Redebeitrag von Henry an. Das von Tom (und nicht von der Lehrkraft) erneut aufgegriffene Thema der didaktischen Inszenierung einer Regeländerung und die Folgen dieser werden nicht direkt von der Lehrkraft weiter thematisiert, da sie zunächst wieder Ruhe in die Klasse bringen muss und durch ein ermahnendes „Schhh“ versucht, die Konzentration der Schüler auf das Reflexionsgespräch zu lenken. Ein Schüler reagiert genervt auf die aktuelle Situation, und versucht die Reflexion aufzulösen („Okay, wir können los“), um weiterspielen zu können. Die Lehrkraft knüpft nun an Toms Redebeitrag an und spricht Henry direkt auf die in ihm aufgekommen (emotionalen) Folgen der Regelände-

258

7 Ergebnisse

rung an. Henry ergreift das Wort und beschreibt die im Spiel festgelegte Regeländerung, die das vertraute Fußballspiel verfremdete, als „Bauernregel“. Der von Karim geäußerte „Opfer“-Begriff und die Wiederholung von „Bauernregel“ zeigen die emotionale und konfliktbeladene Atmosphäre. Die Lehrkraft wird von Gabriel zum `Sündenbock´ gemacht, da er – im Anschluss an den von Karim geäußerten Satz: „Irgendein Opfer hat des erfunden“ – darauf hinweist, dass wohl die Lehrkraft dieses `Opfer´ sei, das die Regel eingeführt hat. `Opfer´ als personifizierter Begriff („Irgendein Opfer“) ist im Verständnis der Jungen nicht als jemand zu verstehen, der durch jemand anderen Schaden erleidet, sondern wird als abwertendes Schimpfwort eines Schwächlings oder Verlierers verwendet (vgl. 78 Duden ). Die Lehrkraft versucht noch einmal die Gesprächsführung in die Hand zu nehmen und richtet einen moralischen Appel an die Schüler („Hey, ich finds echt schade!“) ohne genauer zu explizieren, was sie „schade“ findet. Die Lehrkraft kommt in eine defensive Haltung, kann diesen konfliktträchtigen Gesprächsdiskurs weder aufgreifen noch fortführen, da Giovanni das Wort ergreift und den Fokus auf das Weiterspielen lenkt. Dadurch löst er gruppendynamische Prozesse aus, sodass unterschiedliche Jungen aktiv Bewegung und das Weiterspielen einfordern. Lk:

Ich finds echt schade, echt nicht funktioniert.

dass

das

bei

euch

[Gerede] Xy1: Bauernregel. Xy2: Spielen wir einfach normal. Xy3: Ja, wir spielen gleich. Xy4: Komm wir spielen einfach normal. (Zeilen 75-81) Erneut versucht die Lehrkraft durch einen moralischen Appel die Schüler auf das Reflexionsgespräch zu lenken. Hierbei äußert sie, dass sie es 78

siehe Online-Duden: https://www.duden.de/rechtschreibung/Opfer#Bedeutung2 (letztmaliger Zugriff am 22. Februar 2019)

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

259

bedaure, dass „das bei euch echt nicht funktioniert“. Die Lehrkraft konkretisiert das „das“ nicht, sondern überlässt den Schülern die Interpretation, was genau sie damit ausdrücken möchte. Ohne die Konkretisierung – ob beispielsweise das Gespräch gemeint ist oder das didaktisch Inszenierte – haben die Schüler keinen Anknüpfungspunkt und äußern wieder wild durcheinander, dass sie spielen möchten – und zwar „normal“. Normal im Sinne von ohne didaktisch inszenierte Regeländerungen. Die Schüler gehen in dem Reflexionsgespräch somit auf die didaktisch provozierte Situation ein, die zum Anlass für weitere Reflexionen hätte genommen werden können. Allerdings ist der Diskurs der Schüler so sehr auf das „normale“ Fußballspiel, das am besten unverzüglich wieder aufgenommen werden sollte, versteift. Das Reflexionsgespräch dient in dieser Sequenz aus Schülersicht dazu, kollektiv Bewegungszeit mit dem `gewohnten´ Fußballspiel einzufordern. Die Forderung nach (gewohnter) Spielzeit konterkariert vor allem in Klasse 2 und 3 den Gesprächsverlauf. Entweder werden einzelne Erzählstränge durch die Forderung nach Bewegungszeit unterbrochen, oder wie in der vorgestellten Sequenz deutlich wird, das gesamte Reflexionsgespräch. Teilweise lenkt die Lehrkraft selbst (wie auch in diesem Beispiel) den Aufmerksamkeitsfokus auf die baldige Bewegungszeit und/oder schwächt die Bedeutung des Gespräches ab, in dem sie Begrifflichkeiten wie „kurz“, „schnell“, „ein paar“ oder „wenig“ im Zusammenhang mit der Reflexion verwendet. In dieser Sequenz werden auch weitere Herausforderungen in der Gesprächsführung deutlich, die differenzierter im nachfolgenden Kapitel verdeutlicht werden.

260 7.3.2.2

7 Ergebnisse (Un-)Strukturierte Gesprächsbedingungen: Regeln und deren (Nicht-)Einhaltung sowie (fehlende) Bezugnahme auf Gesprächsstränge

Die Haupthandlung der Reflexion kann immer wieder `Brüche´ erfahren, die aus einer fehlenden Gesprächsführung seitens der Sportlehrkraft resultieren. Das Anleiten, Strukturieren und Aufgreifen des Reflexionsgesprächs obliegt der Zuständigkeit der Lehrkraft. Durch mangelnde explizite Gesprächsregeln, konkretisierte Gesprächsfragen und -bezüge, bleibt der Verlauf des Reflexionsgesprächs in einem vagen Zustand. Wenn implizit (bei der Lehrkraft) vorherrschende, aber auch bestehende Gesprächsregeln nicht konsequent eingehalten und eingefordert werden, entsteht ein diffuser Orientierungsrahmen. Dieser lässt Raum für unterschiedliche Nebengesprächsstränge und Nebenaktivitäten, die wiederum den aktuellen Gesprächsdiskurs unterbrechen können. Sportunterricht bietet als Bewegungsfach durch seine offene Inszenierungsform eine große Bühne für unterschiedliche (Inter-)Aktionen und sozialen Handlungen. Im Rahmen von Reflexionsgesprächen werden von Schüler/innen vermehrt „unterrichtstypische Partizipationsformen“ (Serwe-Pandrick & Gruschka, 2016, S. 27) gefordert, in denen das Erbringen von kognitiven (Interpretations-)Leistungen in `unbeweglichen Aktivitätsphasen´ verbreitet scheint. Diese kognitiven Phasen und `bewegungsfreien´ Zeiten im Sportunterricht bedürfen bestimmter struktureller Rahmenbedingungen, an denen sich die teilnehmenden Akteure orientieren können, damit sie dadurch Handlungssicherheit erlangen. Wenn kein Orientierungsrahmen für Schüler/innen bereitgestellt bzw. gemeinsam ausgehandelt wird, besteht die Gefahr, dass sich die Reflexion „im Schablonenhaften und Hohlen [verliert]“ (Serwe-Padrick & Gruschka, 2016, S. 27). Dabei nimmt die Lehrkraft eine immanente Rolle ein, die die Klasse durch das Reflexionsgespräch `navigieren´ muss: Sie initiiert, moderiert und strukturiert das Gespräch. Im Folgenden wird eine Anfangssequenz aus Klasse 2 nach dem Spiel „Fußball einmal anders“ dargelegt, anhand derer deutlich wird, dass

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

261

das von der Lehrkraft intendierte Reflexionsgespräch mit den Schüler/innen immer wieder durch die mangelnde Strukturierung des Gesprächs unterbrochen wird. Die Schüler/innen kommen zum Reflexionskreis zusammen. Lk:

Sagt mal, wie war es blind zu sein?

[Die Schüler/innen sprechen durcheinander. Man hört nicht zuordenbare Äußerungen wie „schlecht, schlimm, schön“] (Zeilen 1-3) Die Lehrkraft eröffnet das Reflexionsgespräch, wobei keine klare Einführung in das Reflexionsgespräch gegeben wird, sondern eine auf das vorangegangene Spiel bezogene Frage gestellt wird, die auf die Erlebensebene der Schüler/innen abzielt. Die Schüler/innen scheinen die Frage der Lehrkraft gehört sowie verstanden zu haben und geben ihre Antworten durcheinander in die Runde. Ein Gesprächsbedarf seitens der Schüler/innen scheint vorhanden.

Lk:

Was? Schlimm? 79

SuS : Ja. Lk:

Ok. Fand das jeder?

[Gemurmel] (Zeilen 4-7) Anstatt das Durcheinanderreden der Schüler/innen zu unterbinden und aufzufangen, greift die Lehrkraft ein zuvor geäußertes Adjektiv auf und stellt für alle Schüler/innen eine geschlossene Frage. Sie schränkt die emotionalen Erlebnisse auf ein negatives Beispiel ein und stellt erneut eine Frage, die alle Schüler/innen anspricht. Wieder antworten die Schüler/innen durcheinander, sodass sich ihre Aussagen in einem Stimmengewirr verlieren.

79

SuS steht für Schülerinnen und Schüler. Dieses Sigel bedeutet, dass mehrere Schüler/innen gleichzeitig das Gleiche sagen.

262 Lk:

7 Ergebnisse Hinsetzen.

[Gemurmel] Lk:

[Pfiff von Lehrkraft] Wir reden-, bitte meldet euch, wenn ihr was zu sagen habt. Es redet immer nur einer, ok?

[Gemurmel] Lk:

Hey! [Pfiff von Lehrkraft] (Zeilen 8-13)

Da einige Schüler/innen seit Beginn des Gesprächs eher im Reflexions80 kreis liegen statt sitzen , verweist die Lehrkraft auf die vermeintliche `Sitzordnungen´, die für das Gespräch gelten. Nicht alle Schüler/innen folgen der Ansage der Sportlehrkraft, allerdings bleibt eine Nichtbefolgung in diesem Fall ohne Konsequenzen. Da das Durcheinanderreden noch besteht, greift die Lehrkraft diese Situation auf und verwendet verschiedene Disziplinierungsmaßnahmen, um Ruhe von den Schüler/innen einzufordern. Aber die Lehrkraft kann nicht auf bestehende Gesprächsregeln verweisen, da anscheinend kein Konsens darüber herrscht. Die Lehrkraft bestimmt nicht direkt die strukturierende Gesprächsregel, dass immer nur eine Person reden darf, sondern schwächt ihre Forderung durch das „ok“ ab. Sie eröffnet prinzipiell einen Aushandlungsprozess von Regeln, nimmt sich aber nicht die Zeit, um konsequent über die Gesprächsregeln mit der Klasse zu diskutieren. Me:

Wir haben doch noch zwanzig Minuten oder?

Zeit,

Lk:

Ja. Wir habe-, wir spielen gleich was. Ich möchte nur das eine Spiel, weil es irgendwie (.), ja, da ist jetzt irgendwie ein bisschen was aufgekommen.

[Gemurmel] (Zeilen 14-18) 80

Erneut wird ein Mehrwert des Einbeziehens der Videodaten in die Analysen der auditiven Daten deutlich.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

263

Trotz der vorangegangenen Disziplinierungsmaßnahmen der Lehrkraft, stellt Mehdi (Me) völlig kontextfrei eine Frage zur ausstehenden Unterrichtszeit und nimmt das Rederecht in Anspruch. Wann einer Person Rederecht geboten wird, wurde anscheinend noch nicht gemeinsam ausgehandelt, da die Lehrkraft auf die Frage von Mehdi antwortet und somit das `Reinreden´ legitimiert. Die Lehrkraft interpretiert die Frage von Mehdi als seine Erwartung, dass sich an das Reflexionsgespräch noch Bewegungs- bzw. Spielzeit anschließt, ohne dass dies von Mehdi konkret erfragt wurde. Damit reduziert die Lehrkraft selbst das hier stattfindende Gespräch und lenkt den Fokus auf das Spiel, das „gleich“ folgt. Die Lehrkraft versucht anschließend, wieder auf das vorangegangene Spiel und die entstandenen Emotionen („ein bisschen was aufgekommen“) zurückzukommen, bleibt aber in ihren Äußerungen vage und konkretisiert keine Ziel- oder Fragestellung. Lk:

Pscht. Pscht. Tamara.

Ta:

Es war schlimm.

Me:

Du warst doch gar nicht mit Augenklappe.

Ta:

Natürlich. schlimm.

Zwei

Minuten.

Und

es

war

[Gemurmel und Gelächter] (Zeilen 19-23) Da die Klasse immer noch unruhig ist, ermahnt die Lehrkraft die Klasse und ruft anschließend Tamara (Ta) auf. Sie greift die von der Lehrkraft gegebene Gesprächsaufforderung auf und verbalisiert, dass die im Spiel gemachten Erlebnisse für sie „schlimm“ waren. Obwohl Mehdi ihr die gemachte Erfahrung absprechen möchte, bestätigt Tamara ihr emotional gefärbtes Erlebnis vor der gesamten Klasse. Im direkten Anschluss wird wieder kollektiv getuschelt und es folgt Gelächter. Lk:

Warum?

Me:

Ich hab gedacht, ob das wahr ist oder nicht, weil es kam mir so vor als ob nicht.

264 Lk:

7 Ergebnisse Ja. (Zeilen 24-27)

Die von Tamara hergestellte emotionale Verknüpfung mit der didaktischen Inszenierung stellt einen optimalen Anknüpfungspunkt für die weitere Aufarbeitung des im Sportunterricht Erlebten dar. Die Lehrkraft stellt ohne das von Tamara Verbalisierte aufzugreifen eine offene Frage („Warum?“), wobei sich Tamara nicht angesprochen fühlt bzw. sie sich aus dem Gespräch zurückgezogen hat. Es könnte sein, dass das Gelächter der Mitschüler/innen, Tamara eingeschüchtert hat und sie sich deshalb aus der Gesprächshandlung zurückzieht. Tamara antwortet nicht. An ihrer Stelle ergreift Mehdi das Wort. Dadurch, dass die Lehrkraft Bezug auf Mehdis Beitrag nimmt und keine weitere Ausführung von Tamara verfolgt, nimmt die Lehrkraft die Beendigung eines für das Reflexionsgespräch zum Umgang mit Fremdheit bedeutenden Gesprächsstranges hin. Die hier analysierte Sequenz macht deutlich, dass die Lehrkraft zwar bemüht ist, eine auf das Spiel bezogene Reflexion immer wieder zu initiieren, aber der vermeintlich intendierte Gesprächsverlauf durch verschiedene Schüleraktivitäten wie Nebengespräche oder das Durcheinanderreden gestört wird. Die Nebenaktivitäten der Schüler/innen werden teilweise durch fehlende klare Ansagen seitens der Lehrkraft, nicht etablierten Gesprächsregeln und deren konsequenter Einhaltung begünstigt. Des Weiteren scheint die Lehrkraft teilweise durch mangelnde Strukturierungen und Verknüpfungen von Gesprächsbeiträgen einen Abbruch eines von Schüler/innen eröffneten Diskurses zu bewirken. In allen drei Klassen finden innerhalb der Reflexionsgespräche immer wieder störende Nebenaktivitäten statt, auf die die Lehrkraft eingeht und wodurch die Reflexionsgespräche unterbrochen werden. Zudem können durch diffuse Bezugnahmen auf Redebeiträge seitens der Lehrkraft, pädagogisch wertvolle Gesprächseröffnungen gestört oder beendet werden. Die das Reflexionsgespräch störenden Aktivitäten in den Klassen äußern sich durch verbale Techniken wie die des Miteinander-, Durcheinander- oder Reinredens oder durch körperliche Techniken wie Hinlegen, Wegdrehen, Herumzappeln oder Quatsch Machens. Insbesondere in den Realschulen 2 und 3 wendet die Lehrkraft innerhalb des Reflexionsge-

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

265

spräches vermehrt unterschiedliche Strategien an, um die Schüler/innenaktivitäten zu maßregeln bzw. diese zu minimieren. Folgende von der Lehrkraft angewandte Strategien zur Unterbindung von für die Reflexion nicht relevanten sozialen Handlungsweisen können identifiziert werden, durch die das `eigentliche´ Gespräch immer wieder unterbrochen wird: x x x x x x x

x x x

Allgemeine unspezifische Ermahnung (z.B. „Pscht“ oder „Schhh“) Spezifische Ermahnung durch direkte Ermahnung von Personen Nonverbale Zeichen (z.B. Zeigefinger zum Mund führen) Verwendung von geräuschgebenden Mitteln wie Trillerpfeife oder Klatschen Wiederholung von Gesprächsregeln Aufforderungen zum Umsetzen und Hinsetzen (von bestimmten Kindern) Mit den Fingern nonverbal bis Zehn zählen, wobei die Schüler/innen solange still sein müssen (misslingt dies, wird wieder von Null gezählt) Androhung von Strafe Strafaufgaben vergeben (z.B. Liegestütz) Versprechen von Belohnung (z.B. im Anschluss stattfindendes Spiel)

Die methodischen Mittel, um (wieder) Ruhe in der Klasse herzustellen, sind für die Strukturierung des Gesprächs von Bedeutung, allerdings unterbrechen sie immer wieder den aktuellen Reflexionsstrang. Im komparativen Klassenvergleich leiten die Schüler/innen in Klasse 1 seltener (für den Gesprächsverlauf) unerwünschte Nebenaktivitäten ein, durch die der Gesprächsverlauf in dem Maße beeinflusst wird, dass der aktuelle Diskursstrang nicht mehr weiterverfolgt werden kann. Die Androhung von Bestrafungen oder das Vergeben von Strafaufgaben durch die Lehrkraft finden in dieser Klasse nicht statt.

266 7.3.2.3

7 Ergebnisse Normativ erzieherischer Anspruch schüler/innenorientierte Themen

an

Reflexion

vs.

In Reflexionsphasen können zwei parallel verlaufende Diskursstränge von Schüler/innen und der Lehrkraft gefunden werden. Die Lehrkraft versucht an dem gesetzten Bild der Inhalte und ihrem erwünschten Reflexionsverlauf festzuhalten. Schüler/innen möchten jedoch andere, für sie subjektiv bedeutsame(re) Themen behandeln, die allerdings von der Lehrkraft oft nicht aufgegriffen wurden.

Mit dem Wissen, dass die eigene Studie in eine quasi-experimentelle Studie eingebettet war, welche zum Ziel hatte, die Einstellungen der Schüler/innen zum Zusammenleben in einer heterogenen Gesellschaft zu verändern, waren die gesetzten Fragestellungen und inhaltlichen Anregungen seitens der Sportlehrkraft vorstrukturiert. Zur Gewährleistung des wissenschaftlichen Anspruchs einer möglichst hohen Standardisierung, sollten möglichst alle zuvor verfassten Fragen im Rahmen der Reflexionsrunden mit den Klassen thematisiert werden. Gerade im Hinblick auf normative Vorstellungen im Sinne von Erziehungsabsichten, waren die Erziehungsangebote im Sportunterricht bewusst gewählt und die im Anschluss stattfindenden Reflexionsgespräche zielten darauf ab, zunächst die im Spiel gemachten Gefühle zu thematisieren und diese in einen übersituativen Kontext zu transferieren. Die nachfolgende Sequenz aus der Realschulklasse 2 stammt aus dem Spiel „Bewusstes Ignorieren“. Lk:

Ok. (.) Jetzt noch ein paar denen, die drin waren. Tamara.

Stimmen

Ta:

Also, ähm,(.) Azim hat sich selber den Ball geholt auch.

Lk:

Des kann passieren, ja.

Ta:

Und (.) Mehdi war sehr aggressiv.

von

irgendwie

[einige Schüler/innen reden durcheinander]

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene Lk:

267

Aber wie- (2)

[Gemurmel] Lk:

Wie fandet ihr es, dass ihr Mitspieler ausgrenzen musstet?

jetzt

eure

(Zeilen 72-82) Die Lehrkraft fordert die Schüler/innen, die sich im sportunterrichtlichen Spiel in der machtvolleren Position befanden, indirekt auf („ein paar Stimmen“), sich zu der Situation zu äußern. Tamara (Ta) ergreift das Wort und legt dar, dass Mehdi sehr aggressiv war. Die Lehrkraft übergeht die Äußerung von Tamara und leitet ihren nächsten Satz mit einem „Aber“ ein. Dadurch signalisiert sie, dass es andere Dimensionen gibt, auf die sie zu sprechen kommen möchte. Die Priorisierung der Behandlung von anderen Themen wird in ihrer darauffolgenden Frage deutlich. Die Lehrkraft expliziert eine eindeutige Frage, in der es um die didaktisch geforderte Ausgrenzung von Mitschüler/innen geht. Xy1: (Scheiße) (.) und dann noch die Besten. [Lehrkraft nickt] Xy2: (Nicht schlimm) Xy3: Ist egal. Xy4: Des war schlimm, gell? (1) Ji:

Ok, bei Oliver (.) des, äh, war hilfreich.

[2 Sekunden lang Gemurmel der Klasse] Lk:

Also ich glaub, hier kam schon raus, dass des Gefühl, wenn man ausgegrenzt wird (.) des war (.) immer blöd für die, die rausgeschickt wurden (.) und ich find es toll, dass ihr sagt, dass ihr das auch richtig doof fandet, dass ihr Leute ausgegrenzt habt.

Az:

Mir wars egal.

Lk:

Ja, ok, dann- (Zeilen 83-96)

268

7 Ergebnisse

Verschiedene Schüler/innen beantworten die von der Lehrkraft gestellte Frage mit unterschiedlichen Erlebenskomponenten und Bewertungen, die von eher positivem Erleben („war hilfreich“) über indifferentes Erleben („is egal“) bis hin zu negativen Emotionen („schlimm“) reichen. Auf die einzelnen Redebeiträge geht die Lehrkraft nicht ein, sondern fasst ihre normativen Vorstellungen dessen, was den Kern des Erlebens ausmachen soll, zusammen. Sie übergeht die unterschiedlichen Meinungen und die gesetzten Gesprächsimpulse zur taktischen Überlegung bezüglich des Ausschlusses leistungsstärkerer Schüler/innen aus dem Spielgeschehen („bei Oliver […] war [es] hilfreich“). Je nach Perspektive ist der Ausschluss von leistungsstärkeren Kindern für das eigene Team nachteilig oder hilfreich. Diesen potenziellen Gesprächsstrang greift die Lehrkraft nicht auf, sondern stellt soziale Aspekte in den Vordergrund. Hier spiegelt sich die in diesem Interventionsspiel handlungsleitende Intention des Thematisierens von Ausgrenzungserfahrungen und den affektiven Verknüpfungen wieder. Sie fasst zunächst die Gefühle der ausgegrenzten Schüler/innen zusammen, obwohl sie in der zuletzt gestellten Frage explizit die auszugrenzenden Personen ansprach. Demnach weicht die Lehrkraft selbst von ihrem initiierten Diskurs ab, übergeht die vielfältigen Meinungsbilder der Schüler/innen und kanalisiert den aus normativer Sicht wünschenswerten Standpunkt: „[…] dass ihr des auch richtig doof fandet, dass ihr Leute ausgegrenzt habt“. Die Lehrkraft pauschalisiert die Aussagen der Schüler/innen und versucht durch Lob („ich find es toll“) die eigene Position positiv zu bestärken. Diese von der Lehrkraft vorgegebenen normativen Vorstellungen werden von Azim (Az) nicht geteilt, was er auch darlegt („Mir wars egal“). Die Lehrkraft nimmt seine Äußerung zur Kenntnis, aber geht nicht weiter darauf ein. An dieser Stelle eröffnet Azim durch die Äußerung einer von der Sportlehrkraft abweichenden Meinung einen neuen Gesprächsanknüpfungspunkt, um Ausgrenzungssituationen (im Sportunterricht) aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Dieses Gesprächspotenzial wird allerdings von der Lehrkraft nicht aufgegriffen.

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

269

Ba:

Aber (.) Frau-

Lk:

Ja, Bahar.

Ba:

Irgendwie als ich vor dem Korb stand [kichert] sind mir Peter und Mehdi die ganze Zeit gefolgt.

Ta:

[Ja Mehdi ist mir gefolgt. Er so [nachahmend]: „Du kriegst den Ball nie wieder!“

Ba:

Aber er war die ganze Zeit vor mir. Ich hatte voll Angst (.) Er hat sich ( )

Ta:

Ich hab richtig Angst vor Mehdi. Er, er, ist ja voll aggressiv.

Ba:

Aber er war die ganze Zeit vor mir und auch wenn ich nach da ging, kommt er mit. Ich geh weg und er kommt mit.

Lk:

Mh ok.

Ta:

Mehdi war voll Angst vor ihm.

Lk:

Allerletzte Frage.

aggressiv.

Ich

hatte

voll

(Zeilen 97-114) Bahar (Ba) thematisiert eine im Spiel und unabhängig von der didaktischen Inszenierung aufgekommene soziale Interaktion, die für sie subjektiv bedeutsam scheint. Tamara greift die von Bahar geäußerte Situation auf und teilt ihre Auffassung. Bahar und Tamara waren gemeinsam in einem Team und fühlten sich von Mehdi aus dem gegnerischen Team (der allerdings regulär spielen durfte und nicht ausgegrenzt wurde) verfolgt und verängstigst. Die Lehrkraft, die die Situation nicht sehen konnte, übergeht einerseits die von Bahar und Tamara geäußerten Sorgen. Andererseits bietet sie Mehdi nicht die Chance, die Situation aus seiner Sicht zu schildern und einzuordnen. Anstelle dessen leitet sie die letzte für dieses Spiel vorformulierte Frage ein: „Allerletzte Frage“.

270

7 Ergebnisse

Insgesamt zeigt sich über die Reflexionsgespräche hinweg, dass die im Vorfeld formulierten Reflexionsfragen nicht eins zu eins in die Unterrichtspraxis überführt wurden bzw. werden konnten, aber nichtsdestotrotz die von der Lehrkraft bzw. von der Intervention vorgegebenen normativen Vorstellungen zu den Spielen durchzusetzen versucht wurden. Obwohl die Sportlehrkräfte geschult wurden und mit den Grundideen der Interkulturellen Bewegungserziehung vertraut waren, konnten sie sich nicht an die für das didaktische Konzept der Interkulturellen Bewegungserziehung bedeutsamem Prinzipien der Offenheit und des Diskurses halten. Das Wissen, eine möglichst hohe Standardisierung der Reflexionsgespräche zu gewährleisten, könnte dazu geführt haben, dass die Sportlehrkraft an die vorformulierten und pädagogisch intendierten Fragestellungen und zusammenfassende Aussagen festhält. Außerdem können vorformulierte Fragen Orientierung und somit Sicherheit geben. In Anlehnung an Kuhlmann (1986, S. 165) wird eine „eigene kognitive Karte“ aktiviert, mit Hilfe derer die Sportlehrkraft durch die Reflexion navigiert. Dadurch können sich teilweise zwei parallele Erzählstränge von Schüler/innen und der Lehrkraft eröffnen. Wie bereits in den Ergebnissen der inhaltlichen Schwerpunkte der Reflexion dargelegt, schaffen es die Schüler/innen verschiedene emotionale Erlebnisse als auch Umgangsweisen mit Fremdheit zu verbalisieren. Der sequenzielle Gesprächsverlauf zwischen Lehrkraft und Schüler/innen deckt allerdings auf, dass diese von Schüler/innen geäußerten Verknüpfungen mit Fremdheit zum Teil unkommentiert stehen bleiben oder gar nicht aufgegriffen werden. In einigen Fällen werden sozial unerwünschte Umgangsweisen mit Fremdheit mit segregierenden oder assimilierenden Tendenzen von Schüler/innen angesprochen. Diese hätten von der Sportlehrkraft aufgegriffen, hinterfragt und gemeinsam mit den Schüler/innen diskursiv behandelt werden können. An diesen Stellen scheint es der Lehrkraft schwerzufallen, mit – aus normativer Sicht – sozial unerwünschten Ansichten umzugehen, obwohl die Schüler/innen durch ihren Beitrag die Möglichkeit für einen pädagogisch wertvollen Austausch anbahnen. Erst durch die didaktische Inszenierung von sportunterrichtlicher Fremdheit und den gegebenen Reflexionsanlässen, können diese Schüleransichten

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

271

zum Ausdruck kommen und fruchtbar gemacht werden. Falls diese sozial unerwünschten Erlebens- und Verhaltenskomponenten zum Umgang mit Fremdheit nicht von der Lehrkraft strukturiert eingeordnet und hinterfragt werden, kann auf Schüler/innenseite eine Legitimierung dieser hervorgerufen werden. Hier bleiben Chancen und Potenziale des Reflexionsgesprächs ungenutzt und das Thematisieren eines (konstruktiven) Umgangs mit Fremdheit bleibt aus. In der vorliegenden Studie werden normativ erwünschte Umgangsweisen mit Fremdheit von der Lehrkraft durch positive und wertende Kommentierungen (u.a. „super Beispiel“ oder „find ich echt klasse“) positiv bestärkt. Die von den Schüler/innen in das Gespräch eingebrachten Themen betreffen in allen drei Klassen unter anderem allgemeine Spielsituationen wie zum Beispiel Mitspielerverhalten, die nicht zwangsläufig mit der didaktischen Inszenierung zusammenhängen. Auf diese von den Schüler/innen eingebrachten und situativ subjektiv bedeutsamen Gesprächsthemen geht die Lehrkraft teilweise gar nicht oder nur rudimentär ein. Die Lehrkraft versucht vielmehr das Gespräch wieder auf die (von ihr als wichtig erachteten) Reflexionsfragen zu lenken. In allen Klassen zeigt sich ebenfalls, dass die Lehrkraft die normativen Botschaften der Intervention an die Schüler/innen vermitteln möchte. Das in `top-down´-Manier Gesagte der Lehrkraft steht teilweise zusammenhangslos neben oder gar konträr zu den geäußerten Aussagen der Schüler/innen. Das Reflexionsgespräch wird demnach durch eine (vorstrukturierte und -studierte) zusammenfassende dogmatische und moralische `Predigt´ der Lehrkraft `gestört´ bzw. beendet. Die Schüler/innen nehmen meist zu dem von der Lehrkraft `Eingetrichterten´ keinen Bezug, sodass das Gesagte der Lehrkraft in einem diffusen Zustand im Raum stehen bleibt. 7.3.3 Zusammenfassende Betrachtung: Reflexionsgespräche zum Umgang mit Fremdheit Die Ergebnisse zu den verbalen Reflexionsgesprächen können aus zweierlei Perspektiven in ein Fazit überführt werden: Aus inhaltlicher sowie methodisch-didaktischer Perspektive. Die inhaltliche Perspektive umfasst die in den Reflexionsgesprächen `zur Sprache gekommenen´

272

7 Ergebnisse

Inhalte; die methodisch-didaktische Perspektive begründet nicht nur die Bedeutung von Reflexionsgesprächen, sondern verweist auch auf mögliche Gestaltungsmöglichkeiten der Reflexionen. Aus inhaltlicher Sicht zeigt sich, dass Reflexionsgespräche prinzipiell ein hohes Potenzial für das Auffangen, Verarbeiten und Einordnen des emotional geprägten Erlebten und für eine kognitive Auseinandersetzung mit Umgangsweisen auf Fremdheit aufweisen. Dies wird durch die verschiedenen reflexiv-emotionalen Äußerungen auf das im Sportunterricht Erlebte deutlich. Hierbei fällt auf, dass sich die Themen und Assoziationen mit den im Sportunterricht erlebten `Fremdheitssituationen´ auf unterschiedlichste, die (aktuelle) Lebenswelt der Heranwachsende betreffende, Bereiche beziehen. Die Thematisierung von Fremdheit als eine ethnische oder migrationsbezogene Fremdheit wird von Schüler/innen nicht assoziativ als erste gewählt. Das heißt, dass die Verknüpfung des im Sportunterricht Erlebten für Schüler/innen intuitiv auf unterschiedliche Bereiche wie einen Schulwechsel oder Vereinswechsel erfolgte. Dies deckt sich auch mit dem in der Arbeit vorliegenden Verständnis des Fremdheitskonstruktes: Es geht bei Fremdheit um ein abstrakteres, übergeordnetes Phänomen, welches affektiv-emotional beladen ist und in unterschiedlichsten Formen von Begegnung vorkommen kann. In diesem Sinne ist Fremdheit nicht per se mit Begegnungen von bestimmten Menschen unterschiedlicher Herkunft verknüpft, sondern bei unterschiedlichen sozialen Interaktionen und Situationen kann ein individuelles Gefühl der Fremdheit aufkommen. In der eigenen Studie scheinen die im Spiel entstandenen Gefühle mit bisherigen Situationen in Verbindung gebracht zu werden, die auf unterschiedliche Momente der eigenen Biographie verweisen, in denen die Schüler/innen irgendwo als `Neue´ dazukommen. Beispielsweise berichten Kinder von ähnlichen Gefühlen, die sie während eines Vereinswechsels erleben (Sabri, Realschule 2, Zeilen 106-107: „Wenn ich am Dienstag ins Fußballtraining geh bei nem neuen Verein“) oder als ein Schulwechsel vollzogen wurde und Clarissa als neue Person in die neue Klasse mit neuen Regeln und Umgangsweisen kam. Die Schüler/innen können selbstverständlich nur von ähnlichen Gefühlen berichten, wenn sie diese in einer anderen Situation bereits erfahren haben und diese in ih-

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

273

rem Erfahrungshorizont verankert sind. Deshalb kann vorsichtig vermutet werden, dass zum Beispiel Erfahrungen aufgrund von Migrationsgeschichte – die zumindest laut Fragebogendaten 58,0 % der Schüler/innen besitzen – von dieser Schülergruppe entweder nicht mit den im Spiel gemachten Gefühlen verknüpft werden, weil bislang keine signifikanten Erfahrungen aufgrund ihrer Herkunft gemacht wurden (zumindest nicht im Sinne von „neu dazukommen“). Es wäre aber auch möglich, dass die Schüler/innen diese Erfahrung nicht mit der Klasse teilen wollten. Die Ergebnisse auf inhaltlicher Ebene bestätigen, dass das Konstrukt Fremdheit ein übergeordnetes affektives Phänomen ist, das in zahlreichen Situationen erlebt werden kann und nicht an Migration, Ethnie oder Herkunft gebunden ist – was die bisherige Literatur und die Einbettung des Konstruktes in den Interkulturalitätsdiskurs suggerieren könnten. Die Thematisierung von und der Austausch über Verhaltenskomponenten im (sportunterrichtlichen) Umgang mit Fremdheit finden selten statt. Auffallend ist, dass prospektive Handlungsweisen der Schüler/innen teilweise mit destruktiven Umgangsweisen auf Fremdes geäußert werden. Aus methodisch-didaktischer Sicht obliegt es der ethisch-pädagogischen Verantwortung der Sportlehrkraft die Schüler/innen nach inszenierten Fremdheitsmomenten im Sportunterricht, welche Schüler/innen oftmals irritierten, durch die Initiierung eines Reflexionsgespräches aufzufangen und die didaktische Inszenierung aufzulösen. Aber auch positive Erlebnisse können bewusst durch die sprachliche Äußerung eingeordnet und reflexiv bearbeitet werden. Dadurch kann das im Spiel Erlebte zunächst verbal-reflexiv aufgearbeitet werden, aus theoretisch-didaktischer Sicht begründet und in den Erfahrungshorizont der Schüler/innen eingeordnet werden. Reflexionen sind im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung – wie Gieß-Stüber (1999) bereits seit Beginn in ihren beiden Grundsätzen der didaktischen Leitideen verankert – unerlässlich. Zum einen, um die durch die `Fremdheitsspiele´ entstandenen Verunsicherungen und teilweise verwehrten Zugehörigkeiten von Schüler/innen reflexiv zu verarbeiten. Zum anderen, um das im Spiel Erlebte auch in übergeordnete Kontexte einbetten zu können und dadurch das im Spiel Erlebte in einen übersportunterrichtlichen Kontext zu verankern.

274

7 Ergebnisse

Die Analysen verweisen auf verschiedene Schwierigkeiten im Rahmen der Reflexionsgespräche. Der sequenzielle Verlauf dieser Gespräche weist darauf hin, dass Unterrichtsgespräche – und eventuell insbesondere wenn solch sensiblen Themen aufgegriffen werden – von der Interaktion zwischen Schüler/innen und Lehrkraft gestaltet werden und speziell die Sportlehrkraft eine zentrale Rolle bei der Führung und Leitung von Reflexionsgesprächen einnimmt. Deshalb erscheint eine Reflexions(führungs)kompetenz der Sportlehrkraft im Sinne von Einleiten, Lenken und Führen von Gesprächen für die Aufarbeitung von Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung essentiell. Gleichzeitig muss die Lehrkraft selbst eine reflexive Haltung gegenüber den Gesprächen, deren Ziele sowie Bedeutungen einnehmen. Bezüglich der inhaltlichen Ausgestaltung der Reflexionsgespräche zum Umgang mit Fremdheit kann die Lehrkraft beispielsweise vermehrte Aufmerksamkeit auf die Verknüpfung von sportunterrichtlichen Handlungsstrategien im Umgang mit Fremdheit und der sprachlich-reflexiven Thematisierung und Einordnungen von unterschiedlichen Handlungsstrategien legen – wie auch Gieß-Stüber (2008, S. 241) empfiehlt. Zudem erscheint es für einen emanzipatorischen Ansatz der Interkulturellen Bewegungserziehung von besonderem Interesse, die von Schüler/innen benannten destruktiven Umgangsweisen differenzierter zu behandeln. Obwohl die Lehrkraft mit den erzieherischen Zielen der Interkulturellen Bewegungserziehung vertraut war, gelang es ihr nicht, die von den Schüler/innen angebotenen Diskussionsstränge aufzunehmen und die unterschiedlichen (destruktiven) Umgangsweisen auf Fremdes gemeinsam mit den Schüler/innen zu besprechen. Die Lehrkraft unterbrach die Diskussionsangebote der Schüler/innen durch neutrale Kommentierungen der jeweiligen Umgangsstrategien auf Fremdheit (z.B. „mhm“ oder „ok“) oder versuchte den Schüler/innen ihre normativen Vorstellungen `top-down´ zu vermitteln. Klassenvergleichende Ergebnisse deuten darauf hin, dass Reflexionsgespräche unter bestimmten Voraussetzungen vielversprechender erscheinen und somit weniger den Gesprächsverlauf und seine Inhalte zu `stören´ scheinen. Als methodisch-didaktische Überlegungen können folgende Punkte aus den Ergebnissen abgeleitet werden:

7.3 Umgang mit Fremdheit auf verbaler Ebene

275

Feststehende Gesprächsregeln und deren verbindliche Einhaltung sowie bestimmte ritualisierte Sitzordnungen – wie der Reflexionskreis als gesetzten Ort der Gespräche – sollten als organisatorische Maßnahmen zur Schaffung eines für Reflexionsgespräche förderlichen Klimas etabliert werden. Ein Zusammenfinden an einen ritualisierten Ort für Reflexionsrunden, leitet diese kognitive und verbale Phase des Sportunterrichts ein, sodass Schüler/innen sich auf die Gesprächsphase einstellen können. Wenn Gespräche als immanenter Teil der Sportunterrichtspraxis gelten, muss eine `Reflexionskultur´ im Sportunterricht etabliert werden, die gemeinsam mit den Schüler/innen aufgebaut und ausgehandelt wird. Denn nur wenn vorher (Gesprächs-)Regeln transparent erarbeitet wurden, können die gesetzten Gesprächsimpulse vertiefend und zielorientiert erörtert werden (Auras, 2006, S. 34). Durch eine gemeinsam ausgehandelte `Reflexionskultur´ wird zum einen die Partizipation der Schüler/innen an der Unterrichtsgestaltung forciert. Zum anderen dienen die miteinander explizierten Regeln und Umgangsformen im Rahmen der Reflexion als kollektiv vereinbartes `Unterrichtsprinzip´, auf das sich berufen werden kann. Hierfür eignet es sich, die Regeln schriftlich festzuhalten und gegebenenfalls in der Sporthalle für alle sichtbar aufzuhängen. Das Aushandeln, das Aufbauen und die Verankerung von Reflexionsgesprächen im Sportunterricht kostet Zeit, die allerdings genommen werden muss, um strukturierte Reflexionsphasen umsetzen zu können. Da das Thematisieren des emotional Geprägten ein wichtiger Bestandteil von Reflexionsgesprächen der Interkulturellen Bewegungserziehung ist, bedarf es einer vertrauensvollen Umgebung, in der unterschiedlichste Gefühle geäußert und verarbeitet werden können (vgl. auch Gieß-Stüber & Grimminger, 2008, S. 235). Demnach ist vor der Inszenierung von und vor dem Sprechen über Fremdheit eine intensive Beziehungsarbeit aller beteiligten Akteure notwendig. Innerhalb der Reflexionsgespräche muss die Lehrkraft konsequent auf die Umsetzung der erarbeiteten Regeln achten und diese gegebenenfalls kompromisslos einfordern. Ermahnungen sollten möglichst spezifisch ausgesprochen werden. Statt eines unspezifischen „Pscht“ bei Nebengesprächen, können Personen explizit angesprochen werden und auf die Gesprächsregeln aufmerksam gemacht werden. Die konsequente Einhal-

276

7 Ergebnisse

tung von gesetzten Regeln ist bedeutsam, um die Bedeutung und Wichtigkeit des Gesprächs und der erarbeiteten Regeln nach außen zu tragen. Sobald von der Sportlehrkraft beispielsweise toleriert wird, dass sich einzelne Schüler/innen aus der Reflexion `zurückziehen´ (z.B. durch Hinlegen oder durch Nebengespräche mit dem/der Nachbar/in), oder die Lehrkraft `reingerufene´ Fragen beantwortet, legitimiert sie diese Verhaltensweisen. Dabei muss sich die Lehrkraft selbst über die Bedeutung von Reflexionsgesprächen und ihrer Rolle für den weiteren Gesprächsverlauf im Klaren sein. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Gesprächsregeln teilweise nicht verbindlich erörtert wurden bzw. nicht von den Schüler/innen verinnerlicht wurden. Reflexionen (mit Aufarbeitungen eigener emotionaler Komponenten und außersportlicher Bezüge) können im Widerspruch zu dem vertrauten Sportunterricht stehen, weshalb eine schrittweise Einführung der Reflexionen mit handlungsorientierenden Regeln bedeutsam ist.

8

Integrative Gesamtdiskussion

Die Analysen der beobachtbaren und sprachlichen Umgangsweisen der Schüler/innen mit Fremdheit zeigen auf einer globalen Ebene, dass die inszenierten sportunterrichtlichen Fremdheitsmomente subjektive Betroffenheit bei den Kindern erzeugen konnten. Die Frage danach, ob durch die sportunterrichtlichen Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ Momente der Fremdheit geschaffen wurden, kann demnach bejaht werden. Wie Schüler/innen mit den unterschiedlichen inszenierten Fremdheitsspielen umgehen, wurde umfassend im vorherigen Kapitel behandelt: Schüler/innen zeigen zum einen auf beobachtbarer Ebene unterschiedliche Umgangsweisen mit der inszenierten Fremdheit im Sportunterricht. Es kann angenommen werden, dass die didaktischen Inszenierungen von zahlreichen Schüler/innen als subjektiv bedeutsame Differenz zum bisher vertrauten Sportunterricht wahrgenommen wurden und entsprechend Handlungspotenzial offenlegten. Zum anderen unterstreichen auch die emotional geprägten sprachlichen Umgangs- und Verarbeitungsweisen der Schüler/innen ihre subjektive Betroffenheit in der sportunterrichtlichen Situation. Die Reflexionsgespräche bieten Potenzial für die weitere Einordnung und Verarbeitung des im Spiel Erlebten. Es konnte gezeigt werden, dass die im Spiel entstandenen Gefühle auch in außersportunterrichtliche Situationen transferiert werden können und sich dadurch Anknüpfungspunkte an die übergeordnete Thematisierung von `fremden´ Situationen ergeben. Zur Strukturierung der integrativen Gesamtdiskussion – welche die Ergebnisse aus den Umgangsweisen der Schüler/innen auf beobachtbarer und verbaler Ebene zusammenfassend in Bezug auf die Inszenierung von Verfremdungsmomenten im Sinne der Interkulturellen Bewegungserziehung setzt – werden die sportunterrichtlichen Momente der inszenierten Fremdheit auf unterschiedlichen Ebenen dargestellt. Dadurch kann der letzten Forschungsfrage der Arbeit – welche perspektivischen Überlegungen anhand der Ergebnisse für die Sportunterrichtspraxis mit Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung getroffen werden können – Rechnung getragen werden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_8

278

8 Integrative Gesamtdiskussion

In Anlehnung an die bildungssoziologischen Analyseperspektiven von Makro-, Meso-, und Mikroebenen der Bildungsinstitution Schule (Brint, 2006, S. 20-28) werden diese Begrifflichkeiten ebenfalls für die eigene Strukturierung und Systematisierung der zentralen Fremdheitsmomente für die Schüler/innen Studie verwendet, wobei der Sportunterricht als zentrale Bezugsebene gesehen wird. Auf der Makroebene gilt der Sportunterricht als struktureller Rahmen, an den gesellschaftlich tradierte und sozialisationsbedingte strukturell-organisatorische Erwartungen geknüpft 81 sind. Auf dieser makro-sportunterrichtlichen Ebene existiert von allen teilnehmenden Akteuren ein mehr oder minder geteiltes Wissen um Organisationsstrukturen und Regeln des institutionalisierten Wesens des Sportunterrichts. Die Mesoebene stellt für den eigenen Analysefokus die inhaltliche Ebene des institutionell verankerten Sportunterrichts dar. Die meso-inhaltliche Ebene ist im makro-strukturellen Rahmen eingebettet und hat letztendlich auch Einfluss auf mikro-individueller Ebene, sodass alle Ebenen sich auch wechselseitig bedingen. Letzterer Analysepunkt betrifft die interaktive, aber vor allem individuumsbezogene Ebene der im Sportunterricht agierenden Akteure, wobei der Fokus ausschließlich auf 82 die Akteursseite von Schüler/innen gelegt wird. Auf all diesen drei Ebenen wurden Fremdheitsmomente für Schüler/innen geschaffen, die im Folgenden unter Berücksichtigung der vorliegenden Ergebnisse und im Hinblick auf zukünftige Inszenierungen von Fremdheit gemäß der Interkulturellen Bewegungserziehung diskutiert werden. Für jede der Analyseebenen wird abschließend eine These formuliert. In Abbildung 21 sind auf den unterschiedlichen Analyseebenen die verschiedenen Verfremdungssituationen zusammenfassend dargestellt. 81

Es ist selbstverständlich im Bewusstsein, dass Sportunterricht prinzipiell in höhere Kontexte wie Schule, Land, Bund bzw. Gesellschaft eingebettet ist. Für die eigene Betrachtung wird aber Sportunterricht als makroskopische Bezugsebene gesehen, da der Sportunterricht eine eigenständige Logik im System Schule aufweist und genau dieser im Rahmen der Studie – im wahrsten Sinne des Wortes – verfremdet wurde.

82

Die ausschließliche Betrachtung von Schüler/innen als Akteure des Sportunterrichts im Rahmen der eigenen Analyse begründet sich damit, dass der Akteur Sportlehrkraft im Rahmen der Interventionsstudie explizit Fremdheitsmomente für die Akteure Schüler/innen intendiert und geschaffen hat.

8.1 Fremdheit auf makro-struktureller Ebene

279

Strukturelle Ebene: Quasi-experimentelle Studie: (Rolle der) Sportlehrkraft, Videokameras, Reflexionen, strukturelle Veränderungen bzgl. Sportunterricht Methodenebene: Spielregeln, Geräte, Bewegungsformen, Gestaltung von Reflexionsgesprächen Individuumsebene: Fremdheitserfahrung, Diskriminierungserfahrung, InsiderOutsider-Verhältnisse

Abb. 21. Fremdheit auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Bezugspunkt Sportunterricht

8.1

Fremdheit auf makro-struktureller Ebene

Auf der Makroebene ergeben sich aufgrund der besonderen strukturellorganisatorischen Gegebenheiten einer quasi-experimentellen Studie unterschiedliche Verfremdungsmomente für die Schüler/innen. Um eine möglichst hohe Standardisierung der Studie in drei unterschiedlichen Klassen bzw. an drei unterschiedlichen Schulen garantieren zu können, unterrichtete eine spezifisch geschulte, externe Sportlehrkraft aus dem wissenschaftlichen Kontext alle Sportunterrichtsstunden. Dies bedeutet demnach, dass der Sportunterricht nicht von der – den Kindern seit der fünften Klasse vertrauten – Sportlehrkraft durchgeführt wurde, sondern von einer bis dato fremden Person geleitet wurde. Somit mussten sich Schüler/innen auf den neuen Lehrstil und neue zwischenmenschliche Interaktionen mit der ihnen bisher unbekannten Lehrkraft einstellen. Die Sportlehrerin bzw. der Sportlehrer war zwar während der

280

8 Integrative Gesamtdiskussion

gesamten Unterrichtseinheit anwesend, sollte allerdings – aus methodologischen Gründen – eine passive Rolle einnehmen. Obwohl eine Eingewöhnungsphase der externen Lehrkraft in das sportunterrichtliche Geschehen der jeweiligen Klassen stattgefunden hat, kann das Abhalten des Sportunterrichts von einer `fremden´ Lehrperson die gesamte Unterrichtseinheit beeinflussen. Perspektivisch ist eine Schulung der tatsächlichen Sportlehrer/innen sinnvoll, in der sowohl theoretische als auch praktische Kompetenzen bezüglich der Interkulturelle Bewegungserziehung vermittelt werden (Grimminger, 2009; Midthaugen, 2011). Damit auch die in der Fortbildungsveranstaltung (eventuell) erworbenen Kompetenzen in Performanzen überführt werden – im Sinne dass unterschiedliche Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung in den Unterricht implementiert, Lernprozesse angeregt und die gemachten Erfahrungen und sichtbar gewordenen Umgangsstrategien reflexiv mit den Schüler/innen aufgearbeitet werden – wäre eine wissenschaftliche Begleitung und Unterstützung der ausgebildeten Lehrkräfte auch nach der Schulung sinnvoll. Neben dem Fakt, dass die Unterrichtseinheit von einer externen Person geleitet wurde, ist durch die Inszenierungen unterschiedlicher Spielformen – insbesondere jener, die auf die didaktische Inszenierung von Inklusion- und Exklusionsmomenten setzten – gegebenenfalls die von den Schüler/innen erwartete Rolle einer Lehrkraft entfremdet worden: Lehrkräfte sollten ihrer Erziehungsaufgabe im Sinne einer individuellen Entwicklungsförderung aller Schüler/innen gerecht werden und dabei auch sozial-emotionale Unterstützungsfunktionen an Schüler/innen leisten. Wie die Kultusministerkonferenz (2000, S. 2) formuliert, sollen „Schülerinnen und Schüler […] spüren, dass ihre Lehrerinnen und Lehrer ‚ein Herz‘ für sie haben“. Manche Spiellogiken führten zu einer systematischen Legitimierung diskriminierender Strukturen seitens der Lehrkraft, sodass die eventuell von den Schüler/innen gewohnte und erwartete Rolle der Sportlehrkraft als `Wächter/in´ der Gleichberechtigung nicht erfüllt wurde. Somit könnte ein weiterer Bruch zwischen den Schüler/innen und der Lehrkraft entstanden sein. In Klasse 3 wird dieser Bruch zwischen der (erwarteten Rolle der) Lehrkraft und den Schülern explizit angesprochen. Im Rahmen der Reflexionsrunde nach dem „Regelspiel“

8.1 Fremdheit auf makro-struktureller Ebene

281

(bei dem ein Team die Regel aufstellte, dass die gegnerische Gruppe den Ball nicht mehr berühren darf) klagt Tom die Lehrkraft an: „Wieso haben Sie da nichts gemacht? Das war doch scheiße!“ (Zeile 93). Krieger (2011) betont, dass das (Erziehungs-)Verhältnis von Lehrkräften und Schüler/innen in sportunterrichtlichen Situationen bedeutsam ist. Die soziale Ebene des Lehrerhandelns muss für einen gelingenden Sportunterricht zu einer gleichberechtigten Begegnung zwischen Lehrkräften und Schüler/innen führen, sodass gemeinsam und interaktiv Unterricht inszeniert wird (Krieger, 2011, S. 43). In der vorliegenden Studie wurde sogar durch verschiedene didaktische Inszenierungen teilweise die ungleichberechtigte Begegnung zwischen den Schüler/innen von der Lehrkraft forciert, weshalb die Erwartungen der Schüler/innen an ihre Sportlehrkraft gegebenenfalls nicht erfüllt wurden und Frustrationsmomente entstanden. Wie in den Analysen zu den Handlungsweisen der Schüler/innen ersichtlich, wurden nach didaktischen Inszenierungen zu Exklusions- und Inklusionsspielen vermehrt Strategien des Rückzugs oder der Abwehr von den Schüler/innen angewandt. Diese für Schüler/innen subjektiv bedeutsamen Spielsituationen müssen z.B. durch gemeinsame Reflexionsrunden aufgeklärt und eingeordnet werden, was im Rahmen der eigenen Studie geleistet wurde. Ein weiterer Umstand, der zu strukturellen Verfremdungssituationen geführt haben könnte, ist der Einsatz von Videokameras zu Forschungszwecken. Um die Prozessebene des Sportunterrichts analysieren zu können, wurden alle Unterrichtsstunden mit zwei Videokameras aufgezeichnet. Die methodologische Entscheidung, den Unterricht videographisch aufzuzeichnen, um mikroanalytische Interaktionsprozesse untersuchen zu können, erfolgte zu Lasten der Wahrung der `natürlichen´ Umgebung des Sportunterrichts. Die Fokuskamera wurde außerdem stets von weiteren wissenschaftlich geschulten externen Personen bedient, wodurch neben der externen Lehrkraft auch immer eine weitere unbekannte Person in den gewohnten sozialen Raum des Sportunterrichts `eingedrungen´ ist. Obwohl im Vorfeld der Hauptuntersuchung versucht wurde, die Schüler/innen auf die Videokameras und Personen vorzubereiten, um die experimentelle Situation zu entschärfen und gewissermaßen zu normalisieren, zeigen die Videoaufzeichnungen, dass dies

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8 Integrative Gesamtdiskussion

nur bedingt funktionierte. In Klasse 3 stellten die Videokameras bzw. das Wissen um das Aufzeichnen des aktuellen sportunterrichtlichen Geschehens und der eigenen aktuell vollzogenen Praxis, für einige Schüler/innen einen „Störfaktor“ dar: Vereinzelte Schüler/innen äußerten sich zu Beginn der Unterrichtseinheit negativ über die Videoaufzeichnungen und versuchten aus dem Blickfeld der Videoaufnahmen zu gelangen. Die Vorteile des Einsatzes der Videokameras aus analytischer und auswertungsbezogener Perspektive sind nicht von der Hand zu weisen, allerdings kann durch die Verwendung dieser ein zusätzlicher Verfremdungseffekt auf struktureller Ebene bei den Schüler/innen erfolgt sein. Das quasi-experimentelle Studiendesign zog auch eine strukturelle Änderung des gewohnten Sportunterrichts nach sich: In einer Klasse war beispielsweise die Einzelsportunterrichtsstunde als sogenannte `Wunschspielstunde´ verankert, in der vor allem kleine Bewegungsspiele nach den Wünschen der Schüler/innen gespielt wurden. Zur Gewährleistung einer möglichst hohen Standardisierung zwischen allen Klassen wurden diese Stunden gestrichen und mit Interventionsinhalten gefüllt. Die strukturellen Veränderungen von für die Schüler/innen wahrscheinlich bedeutsamen Stunden, können als Verfremdungsmomente gesehen werden, die eine Unlust bei Schüler/innen hervorrufen könnten. Neben dieser strukturellen Änderung von `Spielstunden´, könnte noch eine abstraktere Verfremdung für Schüler/innen greifen: Insgesamt kann diskutiert werden, ob sich der Gegenstand `Sport´ durch die didaktische Inszenierung von Fremdheitsspielen selbst verfremdet hat und dies auch von den Schüler/innen wahrgenommen wurde. In der vorliegenden Studie wurde vor allem der erzieherische Anspruch gemäß einer „Erziehung durch Sport“ verfolgt. Durch spezifische didaktische Inszenierungen sollten gewohnte Praktiken und Ordnungen von Schüler/innen infrage gestellt und reflektiert werden. Durch das Erleben und Reflektieren von Normalitätsvorstellungen wurde ein Perspektivwechsel der Schüler/innen und beispielsweise eine Förderung von Empathiefähigkeit für Menschen in `fremden´ Situationen erhofft. Obwohl die zweite Säule des Doppelauftrags im Sinne einer „Erziehung zum Sport“ nicht gezielt forciert wurde, wurde durch die Ausführung vieler Spiele auch die Förderung motorischer Fähigkeiten und die Erschließung verschiedener Spiel- und Bewe-

8.1 Fremdheit auf makro-struktureller Ebene

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gungsformen verfolgt. Nichtsdestotrotz könnte durch die erzieherische Schwerpunktsetzung der eigentliche Gegenstand des Sportunterrichts – nämlich die Bewegung und der Sport an sich – selbst entfremdet worden sein. Dies wurde vor allem in den sprachlichen Umgangsweisen mit den einzelnen Spielinhalten deutlich, da neben der Forderung von mehr Bewegungszeit auch nach dem Sinn von einzelnen Spielen gefragt wurde. Die Entfremdung des Gegenstandes `Sport´ behandelt auch die in den 1990er Jahren aufgegriffene Instrumentalisierungsdebatte (Scherler, 1997). Auch Thiele (1999) bezieht sich im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung auf die Instrumentalisierungsdebatte und fragt sich, ob dem Sport Ziele zugesprochen werden, die nicht zu der eigentlichen `Sache´ des Sports gehören. Die Verwechslung von Sein und Sollen bei unterschiedlichsten Wirkungsversprechungen des Sports erscheinen problematisch: „Es scheint völlig ungeklärt, ob der Sport die in ihn projizierten Erwartungen auch tatsächlich erfüllen kann“ (Thiele, 1999, S. 30). Die Frage, ob `Sport´ in den Fremdheitsspielen instrumentalisiert wurde, um beispielsweise den Umgang mit Fremdheit erfahrbar zu machen und gegebenenfalls einen Perspektivwechsel zu initiieren, ist legitim und diskussionswürdig. Die pädagogischen `Eingriffe´ im Rahmen der Fremdheitsspiele galten nicht einer Verbesserung des Spiels bzw. der Spielsituation83, sondern hatten zum Ziel, eine Entwicklungsförderung und emanzipatorische Haltung der Lernenden zum Umgang mit Fremdheit zu fördern. Die `Aufopferung´ des Spielsinns zulasten eines eventuell einseitig erscheinenden erzieherischen Zwecks in einem in den Hintergrund tretenden Spiel, wird auch von Kurz (1993, S. 415) als Instrumentalisierung des Sportunterrichts gesehen. Die Kritiken sind nachvollziehbar, allerdings kann konstatiert werden, dass der holistische Ansatz von Bewegung, Spiel und Sport geeignete Zugänge schafft, um durch die Erlebenskomponente unterschiedliche Phänomene zu thematisieren. Dieses Potenzial kann im Sportunterricht aufgegriffen werden und grenzt ihn von anderen Fächergruppen ab, weshalb der Einsatz von Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung im Sportunterricht viele Chancen für die 83

Teilweise wurden Spiele bzw. der Spielfluss durch die didaktische Inszenierung eher `verschlechtert´, da beispielsweise einige Schüler/innen als `Neue´ das Spielfeld betraten und zunächst nicht mitspielen konnten und somit als Mitspieler/innen fehlten.

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8 Integrative Gesamtdiskussion

Verknüpfung von sportunterrichtlichem Erleben und außersportunterrichtlichen Erfahrungen bietet. Verschiedene, durch die didaktische Inszenierung provozierte, thematische Schwerpunkte (z.B. das Erleben von `Außenseiterpositionen´) könnten allerdings auch im Rahmen von alltäglichen sportunterrichtlichen Situationen aufgegriffen und reflektiert werden (siehe hierzu Kapitel 8.3). In dieser Studie wurde eine gesamte Unterrichtsreihe mit Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung konzipiert. Die ständige Auseinandersetzung mit Fremdheitsspielen kann auch zu einer `Überfremdung´ und gegebenenfalls zu einer Überforderung der Schüler/innen führen oder Unlust hervorrufen kann. Um den vertrauten sportunterrichtlichen Rahmen beizubehalten, empfiehlt es sich, die Interkulturelle Bewegungserziehung bzw. die Inhalte zu „Fremdheit als Bildungsanlass“ partiell im Rahmen einer Unterrichtsreihe – in der beispielsweise methodisch an eine Spielsportart herangeführt wird – zu implementieren. Durch die didaktische Inszenierung von `Fremdheitsimpulsen´ wird der Gegenstand des Sports bzw. des vertrauten sportunterrichtlichen Rahmens nicht völlig verfremdet. Der Einsatz von sportunterrichtlichen Fremdheitsspielen im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung, könnte sich an den Arbeiten einer israelischen Forschungsgruppe (Eldar, Morris, DaCosta & Wolf, 2006), die mit kleinen Spielen soziale Fähigkeiten von Schüler/innen fördern möchten, orientieren. Eldar et al. (2006) setzen die Förderung von sportlichen Kompetenzen als das primäre Ziel seines Sportunterrichts und sehen den Aufbau von sozialen Fähigkeiten als sogenannte „secondary goals“. In diesem Sinne setzen die Wissenschaftler kleinere didaktische Impulse im Sportunterricht zur Förderung von sozialen Fähigkeiten und konzipieren nicht eine ganze Sportstunde oder gar eine ganze Unterrichtsreihe mit Inhalten, die soziale Kompetenzen der Schüler/innen fördern könnten. Dieser Ansatz kann auch für den Aufbau von interkulturellen Kompetenzen und einem konstruktiv-kritischen Umgang mit Fremdheit gelten, was auch durch das empirische Material unterstrichen werden kann: Klasse 3 moniert am Ende der Unterrichtseinheit, dass sie sich aufgrund der Inhalte als „Versuchskaninchen“ gefühlt haben. Die gegebenenfalls entstandene Überinszenierung und zu hohe Dosierung von Fremdheit im Sinne eines zu hoch frequentierten Einsat-

8.1 Fremdheit auf makro-struktureller Ebene

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zes von Fremdheitsspielen, lässt eine Blockade dagegen wahrscheinlicher erscheinen. Die hohe Relevanz der sprachlichen Reflexion des Erlebten wurde sowohl theoretisch dargelegt (Kapitel 5.2) als auch empirisch nachgewiesen (Kapitel 7.3). Die Interkulturelle Bewegungserziehung als emanzipatorischer Ansatz, hat unter anderem zum Ziel, eine kritisch-reflektierte Haltung gegenüber und ein Infragestellen von bestehender `Normalität´ zu initiieren. Um einen Transfer vom sportunterrichtlichen Spiel zu abstrakteren Themen anzuregen, ist ein von der Lehrkraft strukturierter Rahmen, indem ein Austausch über das Erlebte stattfinden kann, von Nöten. Dieser strukturierte Rahmen wurde innerhalb dieser Studie durch regelmäßige Reflexionsgespräche mit der gesamten Klasse gegeben. Durch informelle Gespräche mit den Sportlehrer/innen der jeweiligen Klassen konnte erörtert werden, dass zwar immer im Rahmen vom Sportunterricht Gesprächsrunden stattfinden, diese allerdings andere Zwecke wie die der Begrüßung, Verabschiedung, Spiel- und Technikeinführung oder kurze Disziplinierungsmaßnahmen beinhalten. Die bislang vertrauten strukturierten Gespräche im Rahmen des Sportunterrichts können somit als eine primär von der Lehrkraft ausgehende Redehandlung gesehen werden, die vor allem sachgebunden-informative oder bestimmte Unterrichtsphasen einleitende, instruierende und disziplinierende Funktion besitzt. Im Rahmen der Studie wurden diese Art der strukturierten Gespräche zwar weiterhin geführt, allerdings um eine weitere und für die Schüler/innen bisher nicht vertraute Art von Gesprächen im Sportunterricht ergänzt. Im Rahmen der Reflexionsgespräche nach den jeweiligen `Fremdheitsspielen´ wurden Schüler/innen aufgefordert, affektivemotionale Komponenten des gerade im Spiel Erlebten vor der gesamten Klasse zu verbalisieren und teilweise auch kognitive Transferleistungen von dem im Spiel Erlebten in außerschulische Kontexte zu leisten. Diese besondere Art von Gesprächen kann als eine bisher fremde Form des sportunterrichtlichen Reflexionsgesprächs gesehen werden, was auch die sequenzanalytischen Ergebnisse bestärken. Die fremde Unterrichtsinszenierung mit dem starken Fokus auf – und von Schüler/innen ausgehende – verbale Anteile im Sportunterricht steht im Widerspruch zu dem bisher vertrautem Bild von Sportunterricht, das als Bewegungsfach ange-

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8 Integrative Gesamtdiskussion

sehen wird (vgl. Kapitel 7.3.2.1). Analog zu Serwe-Pandricks (2013b, S. 104) Studie, wurde im Rahmen der eigenen Untersuchung eventuell aus Schülersicht ebenfalls ein „[…] Sportunterricht erlebt, der etwas weniger Sport und mehr Unterricht als sonst war“ (Hervorh. im Original). Um den Erwartungen und Vorstellungen von Sportunterricht gerecht zu werden, müssen – wenn Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung fruchtbar gemacht werden sollen – verbale Reflexionen des Erlebten als ein unabdingbarer Bestandteil der unterrichtlichen Praxis verankert werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die Bedeutung von kognitivverbalen Leistungen im Sportunterricht durch die sukzessive Verankerung einer Reflexionszeit zu stärken. Im fachwissenschaftlichen und -didaktischen Diskurs wird hierbei das Unterrichtsprinzip der „reflektierten Praxis“ (Serwe-Pandrick & Thiele, 2012) im Fach Sport diskutiert. Ziel ist es, die Erfahrungen der sportunterrichtlichen Praxis systematisch aufzuarbeiten und somit Praxis und Theorie im Fach Sport zu verknüpfen. Erst durch die Verankerung von Reflexionsgesprächen im Sinne einer Ritualisierung (wo und wie setzt sich die Klasse wie lange und wozu für eine Reflexion zusammen?) können alle Beteiligten konstruktiv und strukturiert mit den bestehenden Unterrichtsgegebenheiten umgehen, wodurch auch eine für alle nachvollziehbare soziale Ordnung (im Sportunterricht) hergestellt werden kann (Wulf, 2008). Damit es zu einer (gesellschafts-)kritischen Auseinandersetzung mit vorherrschenden strukturell-sozialen Gegebenheiten anhand des im Sportunterricht Erlebten kommen kann, bedarf es aufgrund ihrer Abstraktheit und Komplexität gegebenenfalls einer Ausdehnung der Reflexionsrunden. Die Vorstellung, dass innerhalb des zeitlich begrenzten Sportunterrichts sowohl die didaktischen Inszenierungspraktiken als auch die Aufarbeitung des Erlebten mit einem Transfer in außersportunterrichtliche Bereiche und somit eventuell ein Perspektivwechsel erfolgt, ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Auch wenn die empirischen Daten darauf hinweisen, dass Schüler/innen durchaus einen Transfer von zum Beispiel im Sportunterricht erlebtem Fremdheitsgefühl auf gesellschaftliche Verhältnisse leisten können, zeigen die Daten auch, dass das Einordnen, die umfassende Aufklärung und Verknüpfung des Spiels mit außersportunterrichtlichen Situationen, weiteres Potenzial bereithält. Möglichkeiten der

8.1 Fremdheit auf makro-struktureller Ebene

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Ausdehnung der kognitiven und sprachlichen Aufarbeitung des `Fremdheitsgefühls´ könnten in einem fächerverbindenden Unterricht oder in der Gestaltung einer Projektwoche (Loeffel, 2011) mit dem Thema Interkulturelle (Bewegungs-)Erziehung umgesetzt werden. Wenn Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung kontextuell in einem größeren Rahmen integriert werden würden, müssten die emanzipatorischen Ziele der Interkulturellen Bewegungserziehung nicht allein auf den Schultern der Sportlehrkraft bzw. des Sportunterrichts getragen werden. Dadurch könnten u.a. gesellschaftlich relevante und im Sportspiel simulierte Themen wie Ressourcenverteilungen oder Diskriminierungen aufgegriffen und in ihrer Komplexität umfassend(er) behandelt werden. Dabei könnten beispielsweise die körperlich-aktiven Inhalte als Einstieg in die weitere Thematisierung von `Fremdheit´ dienen, da durch Bewegung, Spiel und Sport eine holistische Involviertheit der Personen geschaffen wird. Gerade das Potenzial der Übertragung des im Spiel Erlebten auf gesellschaftliche Lebensumstände und die kritische Auseinandersetzung damit bedarf einer für alle Beteiligten kohärenten Aufarbeitung. Erst wenn Spielteilnehmende die Bedeutung des Spiels für die Thematisierung von übergeordneten gesellschaftlichen Verhältnissen begreifen, kann eine sinnhafte Einordnung des Spiels gelingen. Falls die Intention des sportunterrichtlichen Spiels nicht verständlich gemacht werden kann, ist die Wahrscheinlichkeit von Frustrationsmomenten bei Schüler/innen erhöht und destruktive Strategien wie Proteste oder Störungen könnten wahrscheinlicher werden. Die nicht kohärente Aufarbeitung zeigte sich beispielsweise in den Handlungsweisen der Schüler/innen bei dem Spiel `Bälle´. Die Lehrkraft schien keinen Zugang zu den Schüler/innen zu finden und ihre Erklärungen zu den Zielen und dem Sinn des Spiels stießen bei den Schüler/innen auf Unverständnis, sodass diese offenkundig den Kopf schüttelten und immer wieder den Sinn des Spiels erfragten. Zudem birgt eine inkohärente Aufarbeitung von einzelnen Spielen die Gefahr, dass bei einer dissonanten Behandlung der Fremdheitserlebnisse kontraproduktive und verkürzte Botschaften vermittelt werden. 84 Prin84

Bei Spielen, die der Spiellogik der „Teilnahme an einer neuen `Spielkultur´“ folgen, kann bei einer unvollständigen Aufarbeitung der Eindruck entstehen, dass es ausreichend sei, das Spiel zu beobachten und sich dann den neuen Gegebenheiten anzupassen.

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8 Integrative Gesamtdiskussion

zipiell konnte allerdings gezeigt werden, dass die Spiele das Potenzial bieten, das Gefühl von Fremdheit im Sportunterricht zu erzeugen und dieses Gefühl in Reflexionsgesprächen zu verbalisieren und in übergeordnete Kontexte zu transferieren. Dieses Potenzial muss im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung weiteraufgebaut werden. Als Quintessenz der Fremdheitsmomente auf der makro-strukturellen Ebene können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: Die Interkulturelle Bewegungserziehung mit Inhalten zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ sollte nicht als konsekutive Unterrichtseinheit durchgeführt werden, um einer Überfremdung des `gewohnten´ Sportunterrichts entgegenzuwirken. Zur Förderung eines konstruktiven Umgangs mit Fremdheit können beispielsweise innerhalb einer Unterrichtsreihe immer wieder kleinere didaktische Impulse gesetzt werden. Die sportunterrichtlichen `Fremdheitsimpulse´ könnten auch als Ausgangspunkt für die weitere Auseinandersetzung mit der Thematik um „Fremdheit“ und „Fremdsein“ – z.B. im Rahmen eines fächerverbindenden Unterrichts – genommen werden. Damit Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung erzieherisch wirksam werden, muss die (sprachliche) Reflexion des Erlebten als unabdingbarer Bestandteil der sportunterrichtlichen Praxis verankert werden. Die Forcierung von kognitiv-sprachlichen Phasen im Sportunterricht bedarf gegebenenfalls eines Umdenkens auf institutioneller Ebene und einer schrittweisen Implementierung von kognitiven Gesprächsphasen, wie es bereits im Falle der „Reflektierten Praxis“ etabliert wurde. Die Reflexionsgespräche haben im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung vor allem (eigen)analytische Funktionen für die Schüler/innen. Das Spektrum reicht von retrospektiven Spiel-, Umgangs- und Emotionsanalysen, welche auch mit bisherigen (außersportunterrichtlichen) Erfahrungen verknüpft werden können, bis hin zu prospektiven Analysen, die den Umgang mit Fremdheit in zukünftig ähnliche Situationen betreffen. Wenn solch eine Assimilationspraxis als Schlussfolgerung für das `erfolgreiche´ gemeinsame Zusammenleben in der Gesellschaft gezogen würde, wäre dies aus normativer Sicht bedenklich.

8.1 Fremdheit auf meso-methodischer Ebene 8.2

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Fremdheit auf meso-methodischer Ebene

Auf meso-methodischer Ebene wurden die Spiele gemäß den didaktischen Leitideen zu „Fremdheit als Bildungsanlass“ (u.a. Gieß-Stüber, 2003) initiiert. Diese können zu zwei Spielideen zugeordnet werden. Zum einen wurden Verfremdungsspiele eingesetzt, anhand derer das für Schüler/innen vertraute und gewohnte Spiel gezielt `gestört´ wurde. Die `Störung´ vollzog sich entweder durch die Änderung einer gewohnten Bewegungsform oder -ausführung oder durch die Beeinflussung des gewohnten Spiels mittels der Einführung neuer Regeln. Zum anderen bilden Spiele mit Inklusions- und Exklusionscharakter, in denen eine Dysbalance von Machtquellen zwischen verschiedenen Gruppen bzw. zwischen einzelnen Personen und einer größeren Gruppe vorherrschte, den zweiten Spielkontext. Die methodisch arrangierten Fremdheitsmomente führten zu unterschiedlichen Umgangsweisen der Schüler/innen mit Fremdheit. Insbesondere bei jenen Inszenierungsformen, die eine Verfremdung des gewohnten Spiels forcierten, zeigten die Schüler/innen anfänglich vermehrt Proteststrategien gegenüber Fremdheit. In diesen Spielen wurden das bisher Selbstverständliche eines Spiels durchbrochen. Die Schüler/innen nahmen die erzeugte Differenz wahr und werteten diese als eine in der aktuellen Situation für sie subjektiv bedeutsame Differenz – d.h. als Fremdheit. Im Laufe des zunächst auf Abwehr gestoßenen verfremdeten Spiels, schienen sich die Schüler/innen mit dem neuen Arrangement auseinandergesetzt zu haben, nahmen an dem dekonstruierten Spiel teil und verfolgten das Aufrechterhalten des Spielflusses. Diesen Verlauf der Verfremdung, des infrage Stellens von bisher Selbstverständlichem und der Aufbau von neuen, gemeinsamen Orientierungen kann in Anlehnung an den Prozess des „schonenden Ausgleichs“ sensu Bender-Szymanski (2002) als „kollektiv-aufrechterhaltender Ausgleich“ gesehen werden. Anders als bei Bender-Szymanski (2002) stoßen nicht verschiedene, gegebenenfalls kontroverse, Sichtweisen einzelner Akteure auf einen bestimmten Gegenstand aufeinander, sodass durch Aushandlungsprozesse ein gemeinsamer, dritter Handlungsrahmen geschaffen wird. Vielmehr wurde situativ ein `Problem´ geschaffen,

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8 Integrative Gesamtdiskussion

indem ein gemeinsamer, bisher selbstverständlicher Orientierungsrahmen verfremdet wurde. Ad hoc mussten gemeinsame `Lösungen´ gefunden werden, mit denen (möglichst) alle beteiligten Personen `arbeiten´ konnten. In dem Prozess des gemeinsamen Einlassens und Neuorientierens, der in der Regel auch mehr oder weniger intuitiv und ohne große Aushandlungsphasen zwischen den Akteuren verlief, konnte letztendlich das `Alte´ im `Neuen´ aufrechterhalten werden. Wenn die didaktische Inszenierung bei den Verfremdungsspielen den Kern der Spielidee unberührt ließ – bei Fußball als Zielschussspiel zum Beispiel die Grundsituation des Torschusses bzw. der Torabwehr – konnte das vertraute Kernelement den Schüler/innen Sicherheit im Umgang mit der Einführung anderer Gerätschaften oder Bewegungsformen bieten. Durch die Gewährleistung der Aufrechterhaltung einer vertrauten Spielidee, konnten die gesetzten Fremdheitsmomente ausgehalten werden. Das Aushalten von zunächst auftretenden Widersprüchlichkeiten zum vertrauten Ziel85 spiel und der anschließende produktive Umgang damit im Sinne des Sich Einlassens und Ausprobierens, kann in diesem Kontext als ambiguitätstolerantes Verhalten der Schüler/innen gedeutet werden. Auch wenn zunächst Widerstand gegen das Spiel erkennbar war und voreilige (negative) Wertungsprozesse abliefen, konnten letztlich die in der Spielaufforderung gelegenen Spannungen ausgehalten und bewältigt werden. Selbstverständlich muss auch der kontextuelle Rahmen des Sportunterrichts als schulische Pflichtveranstaltung berücksichtigt werden: Im sportunterrichtlichen Spannungsfeld von subjektiver Sinnerfüllung und Teilnahmepflicht (Prohl, 2010, S. 99), müssen sich Schüler/innen auch mit Aufgaben auseinandersetzen, die ihren Wünschen und Erwartungen an den unterrichtlichen Gegenstand entgegenstehen. In dem Verfremdungsspiel „Bälle“ fand eine Einführung in eine neue Spielform, d.h. ohne die Anknüpfung zu einem bestimmten Zielspiel, statt. Die Videoanalysen zeigen, dass sich die Schüler/innen am Anfang des Spiels aktiv und engagiert mit der Spielaufgabe auseinandersetzten. Demnach kann geschlussfolgert werden, dass die erste Phase des Spiels 85

Die durch die Lehrkraft provozierten Widersprüchlichkeiten zeigt folgendes beispielhafte Zitat eines Schülers als Reaktion auf die Ansage der Lehrkraft, dass mit einem Rugby Fußball gespielt werden soll: „Das ist doch kein Fußball mehr!“ (Dennis, Klasse 1)

8.1 Fremdheit auf meso-methodischer Ebene

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nicht im Widerspruch zu ihren aktuellen eigenen Bedürfnisse stand und sich die Schüler/innen der Erfüllung ihrer Aufgabe gemäß des „doing pupil“ (Kampshoff, 2000) widmeten. Im Laufe der Spielzeit nahmen allerdings viele Schüler/innen ihr Engagement zurück und reduzierten ihre Spielgeschwindigkeit. Zudem zogen sich vereinzelte Schüler/innen räumlich aus der Spielsituation zurück. Die spielmitgestaltenden Akteure wurden so zu passiven Statisten, die seit diesem Zeitpunkt eine für das Spiel unbedeutende Rolle einnahmen. Durch ihren Rückzug konnten sich die Schüler/innen aus identitätstheoretischer Sicht von dem aktuellen sportunterrichtlichen Geschehen distanzieren und Sicherheit für das eigene Empfinden herstellen. Durch die fehlende Auseinandersetzung mit der sportunterrichtlichen Aufgabe kann beispielsweise deren Nicht-Erfüllung nicht auf das Eigene attribuiert werden. Somit schützt sich das Individuum durch den Rückzug auch vor einer potenziellen `Niederlage´. Gleichzeitig kann der Rückzug auch als Proteststrategie gedeutet werden. Dadurch erfolgt zumindest eine zeitweise Regulierung des emotionalen Erlebens im Rahmen der sportunterrichtlichen Situation. Ein weiteres Phänomen im Rahmen des Rückzugs ist die Gruppierung von mehreren Schüler/innen an einem vom Spielgeschehen abweichenden Ort, sodass dieser auch Raum für soziale Austauschmöglichkeiten bietet. Die Suche nach Zugehörigkeit besitzt identitätsstärkende Absicht: Durch das Aufsuchen, Erkannt-Werden und den Zusammenschluss erfahren Individuen in einer für sie subjektiv bedeutsamen Situation individuelle und kollektive Bestätigung und gewinnen dadurch Sicherheit. In den anschließenden Reflexionsgesprächen wurde die subjektiv wahrgenommene Sinnlosigkeit des Spiels und der Spiellogik mehrfach geäußert. Die Frustration, die durch den subjektiv erfahrenen Unsinn des Spiels erzeugt wurde, führte demnach dazu, dass sich einige Lernende nicht mehr mit der gestellten Aufgabe und deren Bewältigung auseinandersetzen wollten und sich dementsprechend aus dem Spiel zurückzogen und Bestätigung durch andere `Betroffene´ suchten. Aus methodisch-didaktischer Sicht, könnte die Lehrkraft bei spezifischen Handlungsweisen der Schüler/innen wie der Zurücknahme des Engagements oder des räumlichen Rückzugs, sogenannte `Zwischenschleifen´ innerhalb des Spiels schalten. Beispielsweise könnte durch

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8 Integrative Gesamtdiskussion

eine spielnahe Analyse und Interpretation eines `Problems´ ein kurzes Reflexionsgespräch seitens der Lehrkraft initiiert werden, um Adaptionen im Spiel vorzunehmen (vgl. auch Greve und seine Ausführungen zum 86 genetischen Lernen, 2013). Die Problemidentifizierung kann auf Basis der Handlungsweisen der Schüler/innen und dem beobachtbaren Spielfluss erfolgen. Die im Spiel entstandenen Fremdheitsmomente, betreffen zum einen eine Verfremdung durch das Ausschalten gewohnter Kommunikationsmittel (i.S. von miteinander sprechen). Zum anderen kam es für einige Schüler/innen zu einem Fremdheitserlebnis durch die Schaffung eines methodischen Arrangements, deren Sinnstruktur nicht nachvollziehbar war. Wenn die didaktische Inszenierung keine Veränderung eines bereits vertrauten Spiels bereithält, gibt es für Schüler/innen keine vertraute Zielorientierung, an der sie festhalten können. Umso entscheidender sind in diesen Fällen methodische `Kniffe´ seitens der Lehrkraft, durch die den Schüler/innen innerhalb des Fremdheitsspiels situativ Hilfestellung und Orientierung gegeben werden kann, wodurch gegebenenfalls eine kontinuierliche Auseinandersetzung der Schüler/innen mit dem sportunterrichtlichen Inhalt erfolgt. Ein weiterer Punkt, den es bei zukünftigen methodisch-didaktischen Überlegungen von Fremdheitsspielen im Sportunterricht zu beachten gilt, betrifft die Anzahl von Personen, die einen intendierten sportunterrichtlichen `Fremdheitsreiz´ erfahren. Die einzelnen Fremdheitsspiele unterscheiden sich auch danach, wie viele Personen bei den jeweiligen Inszenierungsarten in die Rolle der `Fremdheitserlebenden´ kommen. Bei einigen Spielen werden immer nur einzelne Schüler/innen in individuelle Sonderrollen gebracht, wodurch pro Team jeweils nur ein bis zwei Personen die didaktisch intendierte Fremdheit erfahren haben. Andere Spiele folgen den methodischen Überlegungen, dass entweder die gesamte Klasse zeitgleich potenzielle Fremdheit erlebt oder aber schrittweise alle Schüler/innen in eine gegebenenfalls für sie fremde Situation kommen (z.B. durch nacheinander folgende Wechsel im Spiel „Bafa Bafa“). Vor allem jene Spiele, in denen allen Schüler/innen in der jeweiligen sportunterrichtlichen Situation die Möglichkeit gegeben wird, aufgrund der glei86

Beispielsweise hätte im konkreten Spiel „Bälle“ das Sprechverbot aufgehoben werden können.

8.1 Fremdheit auf meso-methodischer Ebene

293

chen Inszenierung Fremdheit zu erfahren, könnten für die weitere (sprachlich) reflexive Aufarbeitung im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung von besonderem Interesse sein. In diesen Spielen haben alle Schüler/innen den gleichen Zugang zu den sportunterrichtlichen Gegenständen erfahren, aber verarbeiten die Situation individuell unterschiedlich. Diese gemeinsamen und unterschiedlichen (Fremdheits-) Erlebnisse und Interpretationsfolien am gemeinsamen Lerngegenstand können zum Anlass für die Thematisierung, Diskussion und Einordnung der Spiele und deren Sinnstrukturen genommen werden. Durch die eigene aktive Auseinandersetzung mit der Fremdheitsinszenierung, sind alle Schüler/innen in den Reflexionsgesprächen zu den gemachten Fremdheitserlebnissen gleichermaßen angesprochen. Bei Spielen mit Exklusions- und Inklusionscharakter, in denen ausschließlich einzelne Kinder in `Sonderrollen´ mit geringen Macht- und Wissensressourcen gebracht werden, liegt die Intention darin, die ausgewählten Schüler/innen in eine für sie eventuell unvertraute `Sonderrolle´ zu bringen. Das heißt, vereinzelte Kinder sollen ins `Stolpern´ gebracht werden, indem sie in eine (zumindest für den sportunterrichtlichen Kontext) fremde Position geraten. Die Ebene des Erlebens von inszenierter Fremdheit aufgrund einer spezifischen `Sonderrolle´ bleibt somit in diesen Spielen nur bestimmten Kindern zugänglich. Nichtsdestotrotz können auch jene Schüler/innen Fremdheit erleben, die sich in der machtvolleren Position befinden. Beispielsweise kann die Geheimhaltung von Regeln gegenüber Freunden oder auch das bewusste Ignorieren von Mitspieler/innen im Widerspruch zu eigenen Normvorstellungen stehen, was auch beispielsweise in Klasse 1 in den Reflexionsgesprächen geäußert wurde. Das heißt, dass die Perspektive der machtvolleren Position ebenfalls in den Fragestellungen der Reflexionsgespräche berücksichtigt werden muss, auch wenn der Inszenierungsfokus von Fremdheit auf der Personengruppe mit geringerer Machtposition lag.87 Durch Reflexionsfragen an die machtvollere Gruppe wird allen Schüler/innen der Raum geboten, sich zu den im Spiel gemachten Erlebnissen zu äußern. Auch durch das Stellen von offenen Transferfragen des im Sportunterricht 87

Im Spiel „Bewusstes Ignorieren“ wurden z.B. auch explizit Fragen an jene Schüler/innen gestellt, die vereinzelte Mitschüler/innen vom Spielgeschehen ausschließen mussten.

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8 Integrative Gesamtdiskussion

Inszenierten auf außersportunterrichtliche Situationen wird allen Schüler/innen die Chance geboten, sich am Gespräch zu beteiligen. Abschließend können die Verfremdungsmomente auf mesomethodischer Ebene folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Verfremdung des Gewohnten kann zum einen durch die Dekonstruktion der Normalitätspraxis erfolgen. Wenn der Kern des Gegenstandes bestehen bleibt und somit auf die Strukturen eines bekannten Spiels zurückgegriffen werden kann, erscheint die Schwelle bezüglich des Sich-Einlassens auf die verfremdete Situation (nach einer gewissen Zeit) gering. Zum anderen kann die gewohnte Unterrichtspraxis didaktisch `gestört´ werden, indem völlig neue Spielaufgaben und -formen initiiert werden. Wenn das Ziel und der Sinn des neu Eingeführten nicht erschlossen werden können, erscheinen Umgangsformen von Resignation und Abwehr wahrscheinlicher. Hier bedarf es situative, methodische Spieladaptionen seitens der Lehrkraft. Je nach didaktischer Inszenierung variiert die Anzahl jener, die sich in einer Position mit geringerer Machtrate befinden. Die situativ hergestellte soziale Position und die damit verbundenen Emotionen und Umgangsweisen bilden die primären Anknüpfungspunkte für das Reflexionsgespräch. Spiele, in denen alle Beteiligten (zeitgleich oder nacheinander) mit dem gleichen `Fremdheitsreiz´ konfrontiert werden, bieten die Möglichkeit, dass prinzipiell jede Person ihre individuellen Erlebnisse und Umgangsweisen mit dem Verfremdungsmoment im Reflexionsgespräch berichten, differenzierter einordnen und abgrenzen kann. In Spielen mit unterschiedlichen, didaktisch provozierten `Rollenzuweisungen´ erscheint es sinnvoll, im Reflexionsgespräch die Perspektiven der verschiedenen Gruppen aufzugreifen, damit eine Beteiligung aller am Gespräch forciert wird und ein Austausch über individuelle Fremdheitsmomente stattfinden kann.

8.1 Fremdheit auf mikro-individueller Ebene 8.3

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Fremdheit auf mikro-individueller Ebene

In diesem Kapitel werden vor allem jene Spiele betrachtet, in denen einzelne Kinder bewusst in `Sonderrollen´ gebracht wurden. Dies geschah unter anderem dadurch, dass sie als `Unwissende´ in einen neuen Spielkontext kamen oder in der extremsten Form „kollektiv ignoriert“ wurden und somit „unsichtbar gemacht“ wurden (vgl. Grimminger, 2013a). Die subjektive Betroffenheit der Schüler/innen im Rahmen der didaktischen Inszenierung wird nicht nur in den unterschiedlichen Handlungsstrategien der Schüler/innen deutlich, sondern kommt auch in der sprachlichen Verarbeitung des Erlebten zum Ausdruck. Die Handlungsstrategien bei diesen Spielen sind facettenreich und reichen von einer offenen Auseinandersetzung über eine beobachtend-passive Handlungsweise bis hin zu einem aktiven Rückzug mit Proteststrategien. Die individuell unterschiedlichen Umgangsweisen haben alle zum Ziel die eigene Identität in der subjektiv bedeutsamen Situation zu stärken bzw. zu schützen. Die Analysen weisen darauf hin, dass vor allem didaktische Inszenierungen, in denen Schüler/innen bewusst in eine `Außenseiterrolle´ gebracht werden, zu einer erhöhten individuellen Reaktanz und Abwehr der Schüler/innen führen. Für diese Kontexte sind der Entzug von (Spiel-)Rechten und somit Handlungswirksamkeiten sowie die Verweigerung sozialer Zugehörigkeiten und Anerkennung charakteristisch. Solche didaktisch provozierten sozialen `Extremsituationen´ scheinen für einzelne Kinder im hohen Maße identitätsrelevant zu sein, da verschiedene selbstwertschützende Strategien wie die des körperlichen (und emotionalen) Rückzugs oder Abwehrstrategien folgen. Im Rahmen der Reflexionsgespräche wird durch die Verwendung von emotional geladener Sprache, ebenfalls die subjektive Betroffenheit der Schüler/innen deutlich. Für die didaktische Inszenierung von expliziten `Außenseiterpositionen´ wurde darauf geachtet, dass es sich bei der Auswahl der Schüler/innen um jene handelt, die sowohl im sportunterrichtlichen Kontext als auch im Rahmen des Klassengefüges eine beliebtere Position einnahmen. Dies wurde aus zweierlei Gründen berücksichtigt: Zum einen konnte Grimminger (2013b) in ihrer Studie nachweisen, dass leistungsfähigere und beliebtere Schüler/innen signifikant weniger

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8 Integrative Gesamtdiskussion

Missachtung im Sportunterricht erfahren als jene, die weniger sportlich leistungsfähig sind und im Klassengefüge als unbeliebter eingestuft werden. Durch die Auswahl von sportlich leistungsfähigeren und beliebteren Schüler/innen für die Inszenierung von `Sonderrollen´ sollte gewährleistet werden, dass diejenigen Kinder, die sich bereits in `prekären´ sozialen Lagen befinden, durch die didaktische Inszenierung der Sportlehrkraft nicht noch zusätzlich verunsichert werden. Die Außenseiterrolle sollte durch die Sportlehrkraft nicht noch gefestigt und tradiert werden. Zum anderen sollten bestehende soziale Hierarchien durchbrochen werden und jene, mit einem eher gesicherten Status innerhalb der Klasse, in die bisher eventuell weniger vertraute Rolle des (sportunterrichtlichen) `Außenseiters´ gebracht werden. Dadurch wurde das Anregen eines Perspektivwechsels von Schüler/innen aus `privilegierten´ Positionen erhofft. Die Fähigkeit zu solch einem Perspektivwechsel bzw. einer Perspektivenübernahme kann als grundlegende und wichtige Voraussetzung für jegliche zwischenmenschliche Interaktion gesehen werden, da sie zum Verständnis von unterschiedlichen Umgangsweisen, Standpunkten, Wertvorstellungen, Gedanken und Emotionen beiträgt (Dimitrova & Lüdmann, 2014, S. 3). Neuf (1997, S. 12) bezeichnet sowohl mitfühlende Reaktionen, als auch das Nacherleben von Individuen in anderen Personen(rollen) als „empathischen Perspektivwechsel“ – was als Ziel der didaktischen Inszenierung von `Sonderrollen´ gesehen wird. Auch wenn die Auswahl der Schüler/innen mit Bedacht erfolgte, muss resümiert werden, dass die sportliche Leistungsfähigkeit und der Beliebtheitsstatus der Schüler/innen primär durch Fremdeinschätzungen erfolgte: Die sportliche Leistungsfähigkeit der Schüler/innen wurde vor allem anhand von Beobachtung dritter Personen wie die der Studienleiterinnen und Sportlehrer/innen ermittelt; die Beliebtheit eines Kindes ebenfalls durch Erfahrungswissen der Sportlehrkräfte, wobei hier auch empirische Daten der Soziogramme hinzugezogen wurden. Allerdings blieben die subjektiven Sichtweisen der Schüler/innen auf sich, ihre eigenen motorischen Fähigkeiten und ihre Wahrnehmung des eigenen Status innerhalb der Klasse, unberücksichtigt. Wohlwissend, dass Kinder die Einschätzung der eigenen motorischen Fähigkeiten oftmals überschätzen (u.a. Seyda, 2011), wäre eine Eigeneinschätzung der Schüler/innen vor

8.1 Fremdheit auf mikro-individueller Ebene

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allem bezüglich ihrer wahrgenommen sozialen Position innerhalb der Klasse wünschenswert. Durch eine ergänzende Selbsteinschätzung wäre die Auswahl der Kinder, die in `Außenseiterpositionen´ gebracht werden, valider. Bei einer Übereinstimmung der Fremd- und Selbsteinschätzung zur sozialen Position im Kontext Klasse bzw. Sportunterricht, kann davon ausgegangen werden, dass die didaktisch provozierte Rolle des sportunterrichtlichen `Außenseiters´ für jene Kinder bisher unvertraut ist und sie sich situativ mit einer fremden Rolle auseinandersetzen müssen. Dadurch erlangen die Schüler/innen einen Einblick in das Erleben von Rollen mit geringer Machtrate und ein „empathischer Perspektivwechsel“ (Neuf, 1997, S. 12) im Sinne eines Nacherlebens von jenen Personenrollen kann angeregt werden. Auch wenn im alltäglichen Sportunterricht Erfahrungen von NichtZugehörigkeit, Ausschluss, Ausgrenzung und Missachtung gemacht werden (u.a. Grimminger, 2012b) und Schüler/innen in der Lage sind, Momente der Ausgrenzung oder ungleicher Ressourcenverteilung (im Sinne von Spielanteilen) zu benennen und aktives Eingebunden-Sein einzufordern (Greve, 2013), kann durch die bewusste didaktische Inszenierung von `Außenseitern´ eine andere Perspektive fokussiert werden. In diesen Spielen sollen vornehmlich jene Kinder, die sich in `gesicherten´ sportunterrichtlichen Positionen befinden, ins `Stolpern´ gebracht werden. Durch die Inversion von bisherigen Rollenmustern, wird das bisher Selbstverständliche in Frage gestellt und regt zur Reflexion an. Für jene Schüler/innen, die eine beliebtere Position im Klassengefüge haben, können die inszenierten `Sonderrollen´ als fremd gedeutet werden – was auch die emotionalen Umgangsweisen auf die didaktischen Inszenierungen bestätigen. Die emotionale Beteiligung der Kinder auf mikro-individueller Ebene zeigt, dass die inszenierten Spiele die Identität der Schüler/innen tangieren und Handlungen fordern. Der unmittelbare Identitätsbezug fordert auch zu einem Aufarbeiten der didaktischen Inszenierungen auf, was durch die sprachlich-reflexive Einordnung und Thematisierung seitens der Lehrkraft geschieht. Die Simulation von Ausgrenzungssituationen ist eine für alle Beteiligten anspruchsvolle Methode, zumal auch fingierte Diskriminierungserfahrungen zu negativen psycho-sozialen Folgen bei den Beteiligten führen

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8 Integrative Gesamtdiskussion

können (Beelmann, Heinemann & Saur, 2009, S. 441). Aus pädagogischethischer Sicht sollten solche Simulationen von systematischer Benachteiligung ausschließlich unter der Prämisse einer differenzierten (kognitiven und sprachlichen) Aufarbeitung der Situation durchgeführt werden. Dies kann durch ein im Anschluss stattfindendes Reflexionsgespräch geschehen, was in dieser Studie als obligatorischer Bestandteil der Spielinszenierungen angesehen wurde. Die Bedeutsamkeit der sprachlichen und kognitiven Reflexion wird auch von Byrnes und Kiger (1992, S. 469) betont, da sich durch die alleinige Teilnahme an einem Simulationsspiel nicht zwangsläufig die intendierten Wirkungen von z.B. Perspektivübernahme erzielen lassen. Um das Potenzial von solchen Spielen ausschöpfen zu können, müssen diese methodisch angemessen mit einer Verknüpfung von Theorie und Praxis inszeniert werden. Im Rahmen der Studie wurden durch die Spielinszenierung sowie der im Anschluss stattfindenden kognitiven und sprachlichen Auseinandersetzungsphase die erlebte Spielpraxis stets theoretisch aufgearbeitet und eingeordnet. Abschließend lässt sich folgende zusammenfassende Ableitung für Fremdheitsmomente auf mikro-individueller Ebene festhalten: Auf individuumsbezogener Mikroebene kann für das pädagogische Ziel eines Perspektivwechsels zur Förderung von Empathie und einer kritischen Reflexion von sozialen Positionierungen, die didaktische Inszenierung von Fremdheit auf individuumsbezogener Ebene vorsichtig bei insbesondere jenen Kindern eingesetzt werden, die sich im Sportunterricht in einer sozial gefestigten Position befinden. Die Thematisierung von (tatsächlich vorhandener oder inszenierter) InsiderOutsider-Konstellation bedarf aufgrund des unmittelbaren Identitätsbezugs einer sensiblen und differenzierten Aufarbeitung. Eine sprachliche Aufarbeitung des (oftmals negativ konnotierten) Erlebten obliegt der pädagogischen Verantwortung der Lehrkraft.

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Stärken und Schwächen der Studie

Neben den zusammenfassenden Grenzen der Studie – die auch bereits an anderen Stellen dargelegt wurden –, werden die Stärken der Arbeit hervorgehoben, um den Beitrag dieser Studie für die aktuelle und weitere fachwissenschaftliche Diskussion darzulegen. Als großen diskussionswürdigen Punkt gilt sicherlich die kontextuelle Einbettung der eigenen empirischen Untersuchung in eine quasiexperimentelle Studie. Die nichtaufzulösende Ambivalenz der möglichst standardisiert durchgeführten Sportunterrichtseinheit für kontrollierte Forschungszwecke bei gleichzeitigem Eingriff in die sportunterrichtliche Wirklichkeit, wurde bereits in Kapitel 6.6 ausführlich aufgegriffen und bei der Ergebnisdarstellung immer wieder mitreflektiert und dargelegt. Insgesamt ist sich die Autorin bewusst, dass diese Arbeit nur einen begrenzten Ausschnitt der subjektiven Wirklichkeit der Schüler/innen abbildet und somit nicht den Anspruch auf uneingeschränkte Generalisierung oder der Herausstellung einer objektiven und allgemein gültigen `Wahrheit´ erhebt. Nichtsdestotrotz können die mikroskopischen Prozessanalysen einen ersten Einblick in die Deutung, Annahme und den Umgang von Schüler/innen mit der didaktischen Inszenierung von sportunterrichtlicher Fremdheit bilden. Unter stetiger Berücksichtigung der unterschiedlichen didaktischen Inszenierungsformen und Spielkontexte, können bei den Analysen die Handlungslogiken der Schüler/innen in der situativen, sportunterrichtlichen Wirklichkeit vertiefter verstanden und interpretiert werden. Solche differenzierten Mikroanalysen auf sportdidaktische Inszenierungen wurden in der sportunterrichtlichen Forschungslandschaft bisher vernachlässigt. Die Beschäftigung damit, bereichert das Wissen um die potenziellen `Wirkungen´ von spezifischen didaktischen Inszenierungen auf die aktuelle (Sport-)Unterrichtspraxis. Die analytische Einbettung der Umgangsweisen der Schüler/innen erlauben die Rekonstruktion ihrer Handlungsmotive und somit eine Verstehensfolie für den situativen Unterrichts(spiel)verlauf. Neben den videographischen Mikroanalysen von beobachtbaren Umgangsweisen der Schüler/innen mit didaktischen Inszenierungen, kann auch die Analyse von Reflexionsgesprächen im Sportunterricht als relativ © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_9

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9 Stärken und Schwächen der Studie

unerforschter Forschungsgegenstand der Sportpädagogik aufgedeckt werden. Insbesondere die inhaltliche Ausrichtung der Gesprächsrunden – i.S. davon, dass nicht nur ein Austausch über die sportunterrichtlichen Erlebnisse stattfand, sondern auch außersportunterrichtliche Erfahrungen thematisiert und kritisch eingeordnet wurden – und deren Analysen stellen innovative und neue Gegenstandsbereiche der sportpädagogischen Forschung dar. Die erzieherisch-emanzipatorische Perspektive auf sportunterrichtliche Gespräche erweitert die bisherige Forschung um Reflexionsgespräche im Sportunterricht und regt zum Weiterdenken bezüglich der Funktionen und Potenziale von sportunterrichtlichen Reflexionsrunden an. Insgesamt nehmen empirische Arbeiten, die das sportunterrichtliche Geschehen erforschen, auch immer die Bedeutung des Faches Sport sowie seine zu leistenden Aufgaben in den Blick, sodass die Sportunterrichtsforschung bedeutsam für die Standortbestimmung des Faches ist. Abschließend sei auf eine weitere Stärke der Arbeit hingewiesen, die sich durch eine systematische und konsequente Integration der Interkulturellen Bewegungserziehung in die Entwicklung, Durchführung und Analyse der Studie kennzeichnet. Die Unterrichtsreihe wurde theoriegeleitet unter Berücksichtigung zentraler theoretischer Annahmen und den didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung entwickelt und durchgeführt. Die Analysen der Umgangsweisen der Schüler/innen mit der didaktisch inszenierten Fremdheit fußt ebenfalls auf demselben theoretischen Fundament wie die Heuristik der Interkulturellen Bewegungserziehung. Die Studie konnte bisher `blinde Flecken´ der sportpädagogischen sowie das Forschungsprogramm betreffenden Perspektiven aufdecken, untersuchen und weitere Entwicklungen im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung anregen.

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Fazit und Ausblick

Die Arbeit ordnet sich in das Forschungsprogramm der Interkulturellen Bewegungserziehung ein und erforschte zum ersten Mal systematisch auf mikroanalytischer Prozessebene die Umgangsweisen von Schüler/innen mit sportdidaktischen Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung. Bislang blieb im Rahmen des Forschungsprogramms unerforscht, wie theoretisch abgeleitete Inhalte zu den didaktischen Leitideen von „Fremdheit als Bildungsanalass“ (Gieß-Stüber, 2008, S. 241-243) in der Sport(unterrichts)praxis von den teilnehmenden Akteuren wahrgenommen bzw. verarbeitet werden und wie die Lernenden mit den sportunterrichtlichen Inhalten umgehen. Als Erweiterung der didaktischen Leitideen der Interkulturellen Bewegungserziehung wurden machttheoretische Aspekte ergänzend aufgenommen, da sozialkonstruktivistische Annahmen zum Umgang mit Fremdheit machtstrukturierte Beziehungsgeflechte, die die Interaktion von Individuen und somit auch deren Umgangsweisen beeinflussen, in den Vordergrund rücken. Deshalb stellen Spiele, in denen es durch ungleiche Ressourcenverteilung zu Inklusionsund Exklusionsprozessen von Personen(gruppen) kommt, eine zentrale Spielkategorie im Rahmen der Studie dar. Durch die Initiierung von sportunterrichtlichen Fremdheitsspielen sollte das affektiv beladene Gefühl von Fremdheit bei Schüler/innen didaktisch provoziert werden. Fremdheit als relatives Konstrukt stellt bisher Selbstverständliches und die aktuelle (Teil-)Identität in Frage. Die Fremdheit provozierende Situation kann im Gegensatz zu eigenen Interessen und Bedürfnissen stehen und ist für das Individuum subjektiv bedeutsam. Die Initiierung von sportunterrichtlicher Fremdheit fand durch zwei unterschiedliche Herangehensweisen statt: Zum einen wurde eine Ungleichverteilung von Machtressourcen didaktisch inszeniert, sodass Schüler/innen in einer für sie eventuell fremden Position mit geringerer Machtrate agieren mussten. Zum anderen wurde in sogenannten `Verfremdungsspielen´ ein für Schüler/innen vertrautes Spiel durch gezielte Änderung der Regeln oder Bewegungsformen verfremdet. Nach einer subjektiven Einordnung und gedanklichen Auseinandersetzung mit dem situativen Spielerlebnis, wurden sicht- und hörbare Umgangsstrategien der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Möhwald, Umgang mit Fremdheit im Sportunterricht, Bildung und Sport 17, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26542-7_10

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10 Fazit und Ausblick

Schüler/innen mit der sportunterrichtlichen Fremdheit deutlich. Der erste Impuls auf die subjektiv bedeutsame Situation kann als `intuitive´ Orientierung der Schüler/innen auf Fremdheit gedeutet werden, die im Laufe des Spiels in bewusstere Handlungsentscheidungen überführt wurden. Bezugnehmend auf die Forschungsfrage, welchen sichtbaren Umgang Schüler/innen mit Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ zeigen, können folgende zusammenfassende Ergebnisse festgehalten werden: x Analytisch werden anfängliche Handlungsweisen im Sinne des ersten beobachtbaren Umgangs mit Fremdheit von daran anschließenden Handlungsweisen unterschieden. x Die anfänglichen Umgangsweisen auf Fremdheit reichen von einer selbstständig-explorativen Auseinandersetzung über einen zurückhaltend-beobachtenden oder abwehrenden Umgang bis hin zu einem aktiven Aufsuchen von sozialen Unterstützungsquellen. Die Schüler/innen setzen sich demnach immer mit der gestellten Anforderung auseinander. x Die anschließenden Umgangsweisen, welche vielfältige Verkettungen einzelner Handlungsweisen beinhalten können, können sich neben den vier anfänglichen Handlungsweisen auch durch die Strategien des Rückzugs, Vereinnahmens und „Dranbleibens“ äußern. Zudem wurden ambivalente Handlungsstrategien identifiziert, die sich durch eine mehrmalige Aneinanderreihung von passiven und aktiven Phasen auszeichnen. x Allen Handlungsstrategien der Schüler/innen liegen identitätssichernde oder -stärkende Absichten zugrunde. x Die beiden übergeordneten Spielkontexte zeigen unterschiedliche Verlaufsmuster der Handlungsweisen der Schüler/innen. Bei den Verfremdungsspielen werden anfänglich vermehrt Proteste geäußert, welche im Laufe des Spieles abnehmen. Bei den Spielen mit Inklusions- und Exklusionscharakter finden sich anfänglich kaum protestierende Strategien; diese treten allerdings im Spielverlauf vermehrt mit der Rückzugsstrategie auf. Allerdings kommt es auch vor, dass Schüler/innen sich trotz benachteiligter Situationen aktiv

10 Fazit und Ausblick

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und engagiert mit dem sportunterrichtlichen Fremdheitsspiel auseinandersetzen. Neben den Umgangsweisen der Schüler/innen mit der sportunterrichtlichen Fremdheit auf beobachtbarer Ebene, wurden in dieser Arbeit auch die im Anschluss an die `Fremdheitsspiele´ stattfindenden Reflexionsgespräche analysiert. Es wurde untersucht, wie Schüler/innen die didaktisch inszenierten Fremdheitsspiele und deren Umgang mit ihnen sprachlich verarbeiten und inwiefern die im Sportunterricht inszenierte Fremdheit mit außersportunterrichtlichen Situationen verknüpft werden kann. Letzterer Analysefokus wird als eine Zielperspektive der Reflexionsgespräche im Rahmen der Interkulturellen Bewegungserziehung angesehen. Die systematische Analyse der audiovisuellen Daten weist folgende zentralen Ergebnisse auf: x Die Reflexionsgespräche deuten aufgrund der Verbalisierung des im Sportunterricht Erlebten und der damit verbundenen Emotionen auf für Schüler/innen subjektiv bedeutsame Momente hin. Die Schüler/innen nehmen somit eine Perspektive des `Fremdseins´ ein und erleben die damit verbundenen Gefühle. x Im Umgang mit sportunterrichtlicher Fremdheit können die Schüler/innen vereinzelt sowohl die eigene situativ stattgefundene Umgangsweise verbalisieren als auch beschreiben, wie mit prospektiven (außersportunterrichtlichen) Fremdheitssituationen umgegangen wird. x Die Schüler/innen sind in der Lage, das im Sportunterricht erlebte Gefühl der Fremdheit in außersportunterrichtliche und bereits erfahrene Situationen zu transferieren. Diese Kontexte betreffen die (aktuelle) Lebenswelt der Heranwachsenden wie zum Beispiel Vereins- oder Klassenwechsel. Das heißt, Schüler/innen haben Fremdheit als übergeordnetes und abstraktes Gefühl bereits in unterschiedlichen Kontexten erfahren. x Aus methodischer Sicht obliegt es der pädagogischen Verantwortung der Sportlehrkraft, im Anschluss an die `Fremdheitsspiele´ Reflexionsgespräche zu initiieren, um die didaktische Inszenierung einzuordnen und aufzulösen. Darüber hinaus dienen Reflexions-

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10 Fazit und Ausblick

gespräche dazu, Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung mithilfe der sprachlichen Reflexion auf eine abstraktere Ebene zu transferieren. Dadurch werden, einem emanzipatorisch-kritischen Ansatz folgend, bisher Unhinterfragtes und gewohnte Normen reflektiert. x Der sequenzielle Verlauf der Reflexionsgespräche verweist auf unterschiedliche Herausforderungen, die das Gespräch über den Umgang mit Fremdheit konterkarieren können. Nicht nur die Schüler/innen eröffnen immer wieder themenabweichende Sachverhalte. Auch die Lehrkraft geht auf die von Schüler/innen angebotenen Diskursstränge zum Umgang mit Fremdheit teilweise nicht ein oder eröffnet selbst neue Gesprächsanknüpfungspunkte. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die sportunterrichtlichen Inhalte der Interkulturellen Bewegungserziehung zu affektivemotionsgeladenen Umgangsweisen der Schüler/innen führten – und zwar sowohl auf der beobachtbaren als auch sprachlichen Ebene. Demnach bieten die didaktischen Inszenierungen ein hohes Potenzial für das Erleben und Thematisieren von Fremdheit im Sportunterricht. Auch lässt sich festhalten, dass Schüler/innen in der Lage sind, das Erlebte sprachlich-reflexiv in Worte zu fassen und die gemachten sportunterrichtlichen Erlebnisse in außersportunterrichtliche Kontexte zu transferieren. Die außersportunterrichtlichen Verknüpfungen des im Sportunterricht erzeugten `Fremdheitsgefühls´ sind vielfältig und nicht an eine zentrale Kategorie oder spezifische Situation gekoppelt. Das heißt, dass das Konstrukt Fremdheit als ein übergreifendes affektiv-emotionales Phänomen zu verstehen ist. Die Ergebnisse des Umgangs mit Fremdheit auf beobachtbarer und sprachlicher Ebene verweisen auf unterschiedliche perspektivische Überlegungen, die bei zukünftigen Vorhaben mit Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung berücksichtigt werden könnten. Unter anderem müssen für eine intensive Aufarbeitung von didaktisch inszenierter Fremdheit – auf einer übergeordneten Ebene der Sportunterrichtspraxis – der Stellenwert und die Bedeutung von kognitiv-sprachlichen Anteilen gestärkt werden. Dabei sollte schrittweise und gemeinschaftlich mit der Klasse eine Reflexionskultur mit strukturierten Gesprächsregeln im

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Sportunterricht ausgehandelt werden. Ein weiterer Vorschlag für die intensive(re) Aufarbeitung der sportunterrichtlichen Inszenierungen zum Thema „Fremdheit als Bildungsanlass“ liegt in einem fächerverbindenden Unterricht oder in einer gezielten und thematisch passenden Projektwoche. Das Medium um Bewegung, Spiel und Sport eignet sich aufgrund der holistischen Involviertheit der Personen im besonderen Maße, um Fremdheit erfahrbar zu machen. Die ganzheitliche Beteiligung der Individuen und das Erleben von affektiv geladener Fremdheit können als Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen mit der Thematik um Fremdheit und Fremdsein inner- und außerhalb des sportunterrichtlichen Kontextes dienen. Falls die Initiierung und Reflexion von Fremdheitsmomenten allerdings doch alleinig im Sportunterricht geschehen sollte, weisen die Ergebnisse darauf hin, dass keine konsekutive Unterrichtseinheit mit Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung zu „Fremdheit als Bildungsanlass“ durchgeführt werden sollte. Vielmehr könnten immer wieder im Rahmen von verschiedenen Unterrichtsvorhaben kleinere didaktische `Fremdheitsimpulse´ gesetzt werden, um einer `Überfremdung´ des vertrauten Sportunterrichts entgegenzuwirken. Aufbauend auf diese Arbeit und ihre Forschungsergebnisse ergeben sich weitere Forschungsperspektiven, die nachfolgend dargelegt werden. Weitere Forschungsperspektiven bezüglich beobachtbarer Umgangsweisen mit Fremdheit Die eigene qualitative Studie ist in einer quasi-experimentellen Studie eingebettet, sodass noch weitere quantitative Fragebogendaten existieren, die mit den Befunden dieser Arbeit trianguliert werden könnten. Innerhalb der verschiedenen Fragebogenskalen wird vor allem die von Grimminger & Möhwald (2015) konstruierte Skala „Handlungsstrategien in Unsicherheit auslösenden sozialen Situationen“ als besonders relevant betrachtet. Diese Skala umfasst drei verschiedene soziale Situationen88 und fragt ab, wie man in den jeweiligen konstruierten Fällen handeln

88

Folgende drei imaginären Situationen wurden abgebildet: a) ein/e neue/r Mitschüler/in kommt in die Klasse, b) in einer Gastfamilie wird ein unbekanntes Essen angeboten, c) man möchte als `Neue/r´ bei einem laufenden Spiel auf dem Bolzplatz mitspielen.

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10 Fazit und Ausblick 89

würde . Die im Fragebogen angegebenen Handlungsweisen in fremden Situationen ähneln den in dieser qualitativen Studie herausgestellten Umgangsweisen mit Fremdheit, sodass eine Triangulation der quantitativen und qualitativen Daten möglich wäre. Das heißt, es kann untersucht werden, ob die quantitativ angegebenen Handlungsstrategien auch mit den Handlungsweisen in sportunterrichtlichen „Fremdheitssituationen“ übereinstimmen oder theoretisch Gewähltes völlig vom praktisch Durchgeführten abweicht. Eine Zuordnung der Fragebogen-Codes zu den einzelnen Schüler/innen auf den Videos wäre durch die Forscherin möglich. In dieser Arbeit wurden – in Bezug auf die didaktisch inszenierten Inklusions- und Exklusionssituationen – vor allem jene Kinder analysiert, die sich in der Position mit geringerer Machtrate befanden. Es wurden also jene näher in den Blick genommen, die zum Beispiel aufgrund der didaktischen Inszenierung neu in eine Situation kamen, ausgegrenzt wurden oder denen bestimmte Ressourcen (anfänglich) verwehrt wurden. Eine weitere Forschungsperspektive liegt darin, dass diejenigen Schüler/innen verstärkt in den Analysefokus geraten, die sich in der didaktisch inszenierten Position mit höherer Machtrate befinden. Es könnte analog zu der vorliegenden Arbeit untersucht werden, wie Schüler/innen mit ihrer machtvollen Position umgehen. Wie verhalten sich beispielsweise die Schüler/innen, wenn die Lehrkraft ihnen explizit mitteilt, dass sie ihre Mitschüler/innen im kommenden Spiel nicht anspielen sollen oder ihnen nicht die Regeln erläutern sollen. Es wäre der Frage nachzugehen, wie Schüler/innen die Anweisungen der Lehrkraft deuten und welche sichtund hörbaren Umgangsweisen auf die Ansagen der Lehrkraft und im Spiel folgen. Des Weiteren könnte der `Entwicklungsverlauf´ der Umgangsweisen der Schüler/innen im Rahmen der Interventionsstudie analysiert werden. Im Rahmen von Einzelfallanalysen könnten von bestimmten Kindern differenzierte Analysen über deren Umgang mit den unterschiedlichen 89

Folgende fünf Strategien konnten im Fragebogen gewählt werden: a) Ethnozentristische Verhaltensweise, bei der eigene Bedürfnisse durchgesetzt werden, b) Rückzugsverhalten, c) Beobachtende passive Verhaltensweisen, d) sicherheitsbezogenes Verhalten, bei dem erst durch Vergewisserung und Informationsgewinnung eine aktive Auseinandersetzung erfolgt, e) offenes und proaktives Verhalten.

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didaktischen Inszenierungen im zeitlichen Verlauf durchgeführt werden. Dadurch könnte ein umfassenderes Bild über Umgangsweisen auf Individuumsebene nachgezeichnet werden. Der Anspruch dieser Arbeit lag darin, auf einer abstrakteren Ebene zusammenfassende Muster der Schüler/innen im Umgang mit inszenierter sportunterrichtlicher Fremdheit herauszukristallisieren und deren Bedeutungsgehalt auszuloten. Eine weitere Forschungsperspektive liegt auch darin, sich die noch nicht vollständig analysierten Spiele der Studie zu betrachten: Der Fokus dieser Arbeit lag in den Analysen der Umgangsweisen der Schüler/innen mit den sportunterrichtlich inszenierten „Fremdheitsspielen“. Die didaktischen Leitideen beinhalten neben der Inszenierung von „Fremdheit als Bildungsanlass“ den zweiten Pfeiler „Teamaufgaben als Herausforderungen“. Aus pädagogisch-didaktischer Sicht wurde die Unterrichtsreihe so aufgebaut, dass in den ersten Unterrichtsstunden vor allem Spiele initiiert wurden, die einen kooperativen Charakter besaßen. Erst nach und nach wurden Spiele mit `Fremdheitscharakter´ inszeniert. Durch die anfänglichen, eher kooperativ ausgelegten, Spiele sollte gewährleistet werden, dass die Schüler/innen sich an die Intervention und die fremde Lehrkraft gewöhnen. Zudem sollten die Schüler/innen – zumindest aus theoretischer Sicht – zunächst in ihrer Identität gestärkt werden, was durch die kooperativ-gemeinschaftlichen Spiele mit dem Ziel der Stärkung von Anerkennung und Zugehörigkeit geschehen sollte. Qualitative Mikroanalysen in Bezug auf Umgangsweisen der Schüler/innen mit Spielen mit eher kooperativem Charakter bieten eine weitere Analyseperspektive mit dem vorhandenen Datenmaterial.90 Weitere Forschungsperspektiven bezüglich verbaler Umgangsweisen mit Fremdheit Die eigene Arbeit beschäftigte sich mit verbalen Reflexionsgesprächen, die im Rahmen der Unterrichtseinheit zum Umgang mit Fremdheit durchgeführt wurden. Die Reflexionsgespräche wurden unmittelbar nach den didaktischen Inszenierungen von sogenannten Fremdheitsspielen mit der 90

Einzelne, in der Intervention durchgeführte, kooperative Bewegungsaufgaben wurden bereits unter einer geschlechtertheoretischen Interaktionsperspektive von Gieß-Stüber, Grimminger und Möhwald (2016) analysiert.

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10 Fazit und Ausblick

gesamten Klasse durchgeführt. Die Analysefokusse der Reflexionsgespräche lagen zum einen auf den unterschiedlichen Inhalten und Themen der Reflexionsgespräche und zum anderen auf dem sequenziellen Verlauf dieser. Die sequenziellen Analysen decken unterschiedliche Herausforderungen innerhalb der Reflexionsrunden auf. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Unterrichtsgeschehen bzw. das unterrichtliche Reflexionsgespräch einerseits sehr stark von der Interaktion zwischen Lehrkraft und Schüler/innen abhängt. Anderseits zeigt sich, dass intensive Gesprächsrunden im Sportunterricht in diesen Klassen noch nicht fest verankert waren, da beispielsweise immer wieder der Wunsch nach Bewegung, Spiel und Sport von Seiten der Schüler/innen gefordert wurde. Der Schwerpunkt der Analysen lag vor allem auf der sprachlichen Verarbeitung von sportunterrichtlich inszenierter Fremdheit der Schüler/innen. Eine weitere Forschungsperspektive, die sich mit dem vorhandenen Datenmaterial ergibt, ist eine umfassendere Untersuchung der Gesprächsführungsstruktur der Sportlehrkraft innerhalb der Reflexionsgespräche, aber auch innerhalb des sportunterrichtlichen (Fremdheits-) Spiels. Hierbei würde der Forschungsfokus wechseln und insbesondere die Rolle der Lehrkraft im Rahmen der Kommunikationssituationen im Sportunterricht in den Blick genommen werden. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung weisen bereits darauf hin, dass der Verlauf des Reflexionsgespräches davon abhängt, in wie fern sich die Sportlehrkraft auf Erzählstränge der Schüler/innen einlässt (Kapitel 7.3.2.2) oder am `Idealbild´ des Reflexionsgesprächsverlaufs festhält (Kapitel 7.3.2.3). Es könnten allerdings vertiefende kommunikationstheoretische Analysen angeschlossen werden, die spezifisch untersuchen, in welcher Form die Sportlehrkraft beispielsweise das mit den Schüler/innen geführte Gespräch leitet. Zudem könnten auch vertiefende Analysen folgen, welche die instruierenden Ansagen der Lehrkraft und die im Fremdheitsspiel eingeleiteten kommunikativen Prozesse in den Blick nehmen. Somit würde ein umfassenderes Bild der, durch die Lehrkraft erzeugten, kommunikativen Prozesse im Rahmen der Studie entstehen. Die ersten Hinweise, wie Reflexionsgespräche im (interkulturellen) Sportunterricht initiiert und gestaltet werden können, müssen weiter empirisch unterfüttert werden.

10 Fazit und Ausblick

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Diese Erkenntnisse könnten dann perspektivisch auch in die Praxis überführt werden: Die Förderung von interkultureller Kompetenz von (angehenden) Sportlehrkräften (Grimminger, 2009) könnte als expliziten Baustein die `Reflexions(führungs)kompetenz´ aufgreifen und näher thematisieren. In einem Sportunterricht mit Unterrichtselementen der Interkulturellen Bewegungserziehung ist die Reflexion des Erlebten unerlässlich. Die Komplexität von kommunikativen Situationen im Sportunterricht kann im Rahmen von Aus- und Fortbildungen zum Thema gemacht werden. Außerdem kann die Bedeutung von Reflexionsgesprächen im interkulturell orientieren Sportunterricht spezifischer hervorgehoben werden. Abschließend wäre der Aufbau von methodischer Kompetenz im Führen und Leiten von sportunterrichtlichen Gesprächen ein wichtiger Bestandteil von Weiterbildungsmaßnahmen, damit die Potenziale von Inhalten der Interkulturellen Bewegungserziehung zum Tragen kommen und möglichst alle Schüler/innen zum kritischen Reflektieren angeregt werden. Insgesamt könnte eine `Reflexions(führungs)kompetenz´ auch auf weitere erzieherische Intentionen und Akzentuierungen im Rahmen eines erziehenden Sportunterrichts ausgedehnt werden. Es wurden unterschiedliche Forschungsperspektiven aufgezeigt, die im Rahmen des Forschungsprogramms weiter forciert werden könnten. Diese Arbeit konnte einen Mosaikstein zum Gesamtbild der Interkulturellen Bewegungserziehung beitragen, indem gezeigt wurde, dass die sportdidaktischen Inszenierungen gemäß den didaktischen Leitideen zu „Fremdheit als Bildungsanlass“ zu affektiven Erlebnissen bei Schüler/innen führten, die sich in unterschiedlichen beobachtbaren und sprachlichen Umgangsweisen der Schüler/innen manifestierten. Die durchgeführten Inhalte bieten ein hohes Potenzial für das weitere Aufarbeiten der Thematik rund um Fremdheit im Kontext von Bewegung, Spiel und Sport sowie auch außersportbezogenen Kontexten. Um einen – aus normativer Sicht – pädagogischen Wert aus den sportunterrichtlichen Spielen, wie die Anregung zu einem Perspektivwechsel oder das kritische Hinterfragen von gesellschaftlichen Verhältnissen, ziehen zu können, bedarf es weitere Überlegungen auf struktureller, professionstheoretischer und methodisch-didaktischer Ebene, die in weiteren Forschungsvorhaben realisiert, empirisch überprüft und gesichert werden können.

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