Gottes Ich und Israel: Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11 3525538103, 9783525538104

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Gottes Ich und Israel: Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11
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Hans Hübner Gottes Ich und Israel

HANS HÜBNER

Gottes Ich und Israel Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9-11

G Ö T T I N G E N · V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T · 1984

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 136. Heft der ganzen Reihe

In memoriam Prof. D. Dr.h.c. Walther Zimmerli, D . D .

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Hübner,

Bibliothek

Hans:

Gottes Ich und Israel : r u m Schriftgebrauch d. Paulus in R ö m e r 9 - 1 1 / H a n s H ü b n e r . - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1984. (Forschungen z u r Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments ; H . 136) ISBN 3-525-53810-3 NE: G T

© Vandenhoeck Sc Ruprecht, Göttingen 1984 - Printed in Germany. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf f o t o - oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: H u b e r t & Co., Göttingen

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VORWORT Die Frage nach dem Alten Testament im Neuen hat in den letzten Jahren erheblich an theologischem Gewicht gewonnen. Die Gründe dafür sind offensichtlich und brauchen nicht eigens genannt zu werden. Diese Monographie versteht sich als primär exegetische Arbeit, wobei Exegese zugleich als historische und theologische Disziplin verstanden ist. Die relevante exegetische Literatur wurde soweit wie möglich herangezogen. Doch ist sie gerade zu Rom 9-11 schier unermeßlich. Daher konnte nicht jede in Frage kommende exegetische Publikation Gegenstand der hier geführten wissenschaftlichen Diskussion werden. In der Regel blieben vor allem jene Beiträge unberücksichtigt, in denen Rom 9-11 nicht primär aus exegetischen Gründen behandelt wird, sondern "nur", um das Verhältnis Kirche - Judentum neu zu bedenken. Dies geschah nicht etwa deshalb, weil diese Frage theologisch unerheblich wäre. Im Gegenteil! Aber um dieser offenen und oft heiklen Frage willen ist es für den christlichen Theologen, und gerade für den evangelischen Theologen, unbedingt erforderlich, zunächt die Schrift das Ihre sagen zu lassen. Nur mit diesem Fundament kann und darf das Gespräch mit der Synagoge geführt werden! Der Anhang des Buches bringt eine Übersicht über alle alttestamentlichen Zitate und Anspielungen in Rom 9-11. Die angewandte Schematik ist aus der vorangestellten Legende ersichtlich. In dieser Art soll im Laufe der nächsten Jahre das ganze Neue Testament bearbeitet und als "Vetüs Testamentum in Novo" publiziert werden. Es soll das unter dem gleichen Titel 1899/1903 ebenfalls im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienene und von Wilhelm Dittmar verfaßte Werk ablösen, das vor allem wegen der inzwischen weit fortgeschrittenen Septuagintaforschung überholt ist. Ich habe diesen Anhang dem Buche beigegeben, weil er vielleicht für den Leser nützlich sein könnte. Zugleich erhoffe ich von den Rezensenten auch ein kritisches Wort zur Technik der Darstellung. Danken möchte ich zunächst den Herausgebern der "Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments", Herrn Professor Dr. Wolfgang Schräge und Herrn Professor D. Rudolf Smend, für die Aufnahme dieser Monographie in diese Reihe, Herrn Kollegen Schräge außerdem für kritische Hinweise. Korrektur gelesen haben meine Göttinger wissenschaftlichen Hilfskräfte, Herr Diplomtheologe Burkhard Beckheuer und Herr stud, theol. Burkhard Straeck. Letzterer hat darüber hinaus die Register angefertigt, die griechischen und hebräischen Worte in das Manuskript eingesetzt und viel Arbeit in den genannten Anhang investiert. Seine Bearbeitung dieses Anhangs ging über das rein Technische hinaus. Ferner danke ich Frau Christiane Mordas für die sorgfältige Anfertigung der Druckvorlage, dem Verlag für gute Zusammenarbeit, vor allem Frau Ingeborg Twele für das Schreiben des nun vorliegenden Drucksatzes.

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Das Buch gilt dem Andenken des im vergangenen Jahr verstorbenen Prof. D. Walther Zimmerli. Nach meiner Berufung an die Universität Göttingen erhoffte ich mir besonders im geistigen Austausch mit ihm Bereicherung in der Frage der Biblischen Theologie. Sein Tod beendete zu rasch die e r sten Anfänge.

Göttingen, im Juli 1984

Hans Hübner

INHALT Vorwort

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0 . Hinführung zum Thema

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1. Der theologische Umgang des Paulus mit der Schrift in Rom 9-11

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1.1. Die Einleitung Rom 9,1-5

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1.2. Das Rom durch 9,6-29 Gottes Berufen konstituierte Israel

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1.2.1. Theologischer Exkurs: Berufender Gott - berufener Mensch

31-35

1.3. Israels Schuld angesichts der Glaubensgerechtigkeit Rom 9,30-10,21

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1.4. Das eschatologische Heil des Volkes Israel Rom 11,1-36

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2. Epilog: Israel und das Gesetz in der theologischen Entwicklung des Paulus Literaturverzeichnis

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Übersicht über die alttestamentlichen Zitate und Anspielungen in Rom 9-11

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Autorenregister

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Stellenregister

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О. HINFÜHRUNG ZUM THEMA Israel ist in den letzten Jahren zu einem brisanten theologischen Thema geworden. Dabei ist in der theologischen Diskussion weniger an den Staat Israel gedacht, der freilich auch zuweilen von christlichen Theologen zum Gegenstand der Reflexion gemacht wird. Gemeint ist hier vor allem die Diskussion um die theologische Qualität des Volkes Israel und das Verhältnis der Christen zu diesem Volk. In besonderem Maße heikel wurde diese Diskussion vor allem durch den Synodalbeschluß der Landessynode 1980 der Evangelischen Kirche im Rheinland "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden"!. Aber solche Brisanz konnte das Thema ja nur deshalb gewinnen, weil die theologische Frage nach Israel ungelöst ist. In der hier nun vorgelegten Monographie soll es nicht vordergründig um die aktuelle Israeldiskussion gehen, die leider so oft mit unbilligen Emotionen geführt wird^. Doch hoffe ich, daß die exegetischen Ergebnisse dieses Buches ein wenig zur Versachlichung der Diskussion beitragen. Die Thematisierung der Israelfrage in dieser neuen Paulus-Studie liegt zunächst in der Konsequenz meiner bisherigen Arbeiten über das Gesetz, vor allem über das Gesetz bei Paulus. Insofern liegt eine innere Verbindung beider Paulus-Monographien vor, als nicht nur die Gesetzesthematik geradezu notwendig die Explikation der Israelfrage nach sich zieht, sondern auch die bei der Erörterung des Gesetzes durch Paulus ersichtliche theologische Entwicklung ihre Parallele in der theologischen Entwicklung der Israelsicht des Apostels besitzt. Der Gedanke der Entwicklung nimmt zwar in dieser neuen Monographie nicht denselben Stellenwert wie in der über das Gesetz bei Paulus ein. Aber zumindest im Epilog wird dieser Gedanke thematisiert und konstitutiv. Zumindest provozieren ja die Israelaussagen des Paulus gerade in ihrer Disparatheit - und es sind doch die so disparaten Israelaussagen, die in der neutestamentlichen Forschung bis heute disparate Erklärungen finden! - die Frage nach einer solchen Entwicklung: Wie, wenn nun die Annahme einer theologischen Entwicklung in der Israelfrage inhaltlich mit der Hypothese einer theologischen Entwicklung der Gesetzesfrage gut konform ginge und sich somit beide Hypothesen gegenseitig stützten? 1 Am besten zugängig in: Umkehr und Erneuerung, Erläuterungen zum Synodalbeschluß der Rheinischen Landessynode 1980 "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden", hg. В .Klappert/H.Starck, Neukirchen 1980, 263 ff. ; in diesem Band finden sich zumeist die Stellungnahmen zugunsten dieses Beschlusses; kritisch dazu das Themenheft "Theologie nach Auschwitz?", Kerygma und Dogma 27 (1981), N r . 3 . 2 Meinen eigenen Beitrag zu den rheinischen Thesen s . Hübner, Der "Messias Israels" und der Christus des Neuen Testaments, KuD 27, 217-240.

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Das eigentliche Thema des Buches ist a b e r nicht das Volk Israel als solches in der Theologie des Paulus, sondern wie der Apostel in seinem Schreiben an die Römer das Verhältnis von Israel und Schrift r e f l e k t i e r t . Diese Reflexion findet im Koordinatensystem der ihn bestimmenden Autoritäten s t a t t . Da ist einerseits die Autorität der S c h r i f t , a n d e r e r s e i t s aber die Autorität des Evangeliums und somit der alles dominierenden R e c h t f e r tigungslehre, die das Herz der paulinischen Theologie, ja, der theologischen Existenz des Paulus ist und bleibt. Es wird sich auch hier wieder zeigen, daß es bei Paulus eine Konstante gibt, nämlich die Rechtfertigung sola gratia et sola fide, also das solus C h r i s t u s , und daß es bei ihm eine Reihe von Variablen gibt, wozu Gesetz und Israel zu zählen sind. Mir liegt nicht unbedingt d a r a n , von einer sich durchhaltenden R e c h t f e r tigungslehre bei Paulus zu s p r e c h e n ; denn die Elemente seiner Rechtfertigungstheologie, wozu eben die Größen Gesetz und Israel zu rechnen sind, variieren ja. Und so ist eben die Rechtfertigungslehre des Gal nicht völlig die Rechtfertigungslehre des Rom. Aber die tiefe religiöse und theologische Überzeugung des Paulus seit dem B e r u f u n g s w i d e r f a h r n i s von Damask u s ist sich in den ganzen Jahren der apostolischen Existenz gleichgeblieben: Rechtfertigung - und Rechtfertigung durch Gott bedeutet f ü r ihn allein sinnhafte Existenz - gibt es nicht durch das Gesetz, genauer: durch das vom Gesetz Gebotene, sondern allein durch Gott und die Gnade Jesu Christi. Ich darf vielleicht deshalb an dieser Stelle auch folgendes sagen: So dankbar ich f ü r die meist so e r n s t h a f t e Auseinandersetzung der meisten Rezensenten und Kritiker meines Buches ü b e r das Gesetz bei Paulus bin, so bin ich doch etwas verwundert d a r ü b e r , daß trotz so mancher eindeutigen Aussagen in diesem Buch wohl zuweilen der Eindruck e n t s t a n den i s t , daß ich eine völlige theologische Wende bei Paulus angenommen h ä t t e . Um dieses Mißverständnis ein f ü r allemal zu beseitigen: Am Eigentlichen der R e c h t f e r t i g u n g s v e r k ü n d i g u n g des Paulus hat sich vom Gal bis zum Rom nichts g e ä n d e r t . Was sich geändert h a t , sind im Rahmen der theologischen Gesamtkonstruktion einzelne theologische Bausteine. Sicherlich gewichtige Elemente, aber eben n u r - Elemente! Es ist auch zu f r a gen, ob nicht schließlich im Rom f ü r Paulus Israel als notwendiges Glied in die Rechtfertigungstheologie hineingehört, im Gegensatz zum Gal. Aber diese Frage möge sich der Leser des Buches selber beantworten. Es ist ja auch die Frage, ob sich nicht Gal und Rom dadurch u n t e r s c h e i d e n , daß im Gegensatz zum Gal im Rom auch das Gesetz notwendiger Baustein der Rechtfertigungstheologie i s t . Die hier vorgelegte Studie blickt allerdings nicht n u r zurück, um die Linie von der Gesetzesthematik zur Israelfrage durchzuziehen. Der Blick geht auch nach v o r n , nämlich auf die in Arbeit befindliche "Biblische Theologie des Neuen Testaments". "Biblisch" meint in diesem Titel "gesamtbiblisch", wobei a b e r zugleich ganz e r n s t zu nehmen i s t , daß es sich um eine gesamtbiblische Theologie des Neuen Testaments handeln soll. Was nämlich in ihr zu thematisieren i s t , ist der theologische Umgang der neutestamentlichen Autoren mit dem Alten Testament. Forschungsgeschichtlich ist die Zeit

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noch nicht reif, das Verhältnis der Theologie des Alten Testaments zu der des Neuen Testaments in der Weise systematisch darzustellen, daß eine gesamtbiblische Theologie, die Altes und Neues Testament in gleicher Weise berücksichtigt, konzipiert werden könnte. Wir müssen also in dem, was wir wollen, bescheidener sein. Diese Bescheidenheit könnte aber dazu dien e n , u n s e r e Aufmerksamkeit und Kraft derjenigen Frage ganz zuzuwenden, die dringend einer Aufarbeitung b e d a r f . Denn es ist ein dringendes Desiderat zu u n t e r s u c h e n , wo im Neuen Testament Theologien vorliegen - mit Gerhard Ebeling sei hier zwischen der in der Bibel enthaltenen Theologie und der der Bibel gemäßen, der schriftgemäßen Theologie, also der Theologie , die die biblischen Aussagen zum Gegenstand i h r e r theologischen Reflexion macht, unterschieden 3 - , die alttestamentliche Aussagen so in die eigene theologische Konzeption i n t e g r i e r e n , daß sie konstitutiv f ü r die Konzeption werden; m.a.W., daß die jeweilige Theologie innerhalb des Neuen Testaments gar nicht dargestellt werden k a n n , wenn nicht zugleich die Rezeption der alttestamentlichen Aussagen mitbedacht w i r d 4 . Zu diesen neutestamentlichen Autoren gehört mit an e r s t e r Stelle Paulus. Eine Biblische Theologie des Neuen Testaments in dem Sinne, wie sie soeben angedeutet wurde, muß ihm also besondere Aufmerksamkeit schenk e n . Doch wäre ein solches Werk, das im Prinzip nach systematischen Gesichtspunkten angelegt sein sollte, in seiner S t r u k t u r ü b e r f o r d e r t , wollte man es mit ausführlichen Detailexegesen b e f r a c h t e n . Deshalb sollen die hier vorgelegten Exegesen auch Entlastungsfunktion f ü r die noch a u s s t e hende "Biblische Theologie des Neuen Testaments" h a b e n . Insofern v e r stehen sie sich als deren exegetische Prolegomena, zumindest als einen Teil dieser Prolegomena. Da aber Rom 9-11 mit seiner Israel-Thematik ein großes Eigengewicht ü b e r die Biblische Theologie hinaus besitzt, würde man diesen Kapiteln des Paulus nicht g e r e c h t , wenn man ihre Exegese n u r als Prolegomena f ü r eine andere Aufgabe wertete. Deshalb erhebt diese Studie ü b e r Rom 9-11 den A n s p r u c h , eine eigenständige Arbeit zu sein, die auch als in sich abgeschlossene Thematik begriffen werden will. Es sind somit zwei I n t e r e s s e n , die sich in der Auslegung von Rom 9-11 k r e u z e n . Zum einen ist es auch das Israel-Thema als solches, zum andern ist es aber primär der theologische Umgang des Paulus mit dem Alten Testament. Beide Interessen kreuzen sich in dem Augenblick, wo g e f r a g t wird, ob Paulus seine Israelaussagen mit Aussagen des Alten Testaments b e g r ü n d e t ; besser formuliert: ob er sie mit der Schrift b e g r ü n d e t . Denn ein "Altes Testament" im Sinne einer von der christlichen Kirche rezipierten Schrift Israels, die erst d u r c h die Existenz des kanonischen Neuen Testaments zum Alten Testament wurde, kannte Paulus nicht. Anthony Τ . Hanson hat deshalb r e c h t , wenn er sagt: "He knew only one sacred book,

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Ebeling, Was ist "Biblische Theologie"?, in: Wort und Glaube I, 69-89. Zu diesem Programm Hübner, KuD 27,2-19.

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what we call the Old Testament. The very use of this name separates us . . . from Paul h i m s e l f . D i e Frage, ob Paulus seine Israel-Aussagen mit der Schrift begründet, läßt sich so umformulieren: Liegt den Zitaten in Rom 9-11 ein formales Schriftprinzip zugrunde, wonach das, was Paulus über Israels Verstockung und schließliche Rettung sagt, gilt, weil es die Schrift sagt? Oder bestärkt, bekräftigt Paulus mit seinen Schrift Zitaten lediglich das, was er auch unabhängig von der Schrift theologisch vom Evangelium her über Israel sagen könnte? Wie also steht es mit dem Autoritätengefüge von Schrift und christlichem Kerygma?

5 Hanson, Studies, 136; unverständlich, weil inkonsequent, sind die rheinischen Thesen, wenn sie in der Kennzeichnung des Alten Testaments als "alt" eine Abwertung sehen u n d deshalb den Terminus "Hebräische Bibel" vorschlagen gleichzeitig aber weiter vom Neuen Testament reden (Umkehr, 274)! Für die Rezeptionsgeschichte des Alten Testaments war die Septuaginta, also die "Griechische Bibel", von größerem Gewicht als die "Hebräische Bibel". Gerade Paulus argumentiert zumeist mit der LXX, an entscheidenden Stellen sogar gegen den Sinn des hebräischen Urtexts ( z . B . Gal 3,10 mit Dt 27.26LXX). Es ist e r s t a u n lich, daß in einem offiziellen Synoden text solch fundamentale exegetische Sachverhalte übersehen sind.

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1. DER THEOLOGISCHE UMGANG DES PAULUS MIT DER SCHRIFT IN ROM 9-11 Wer den Rom auch n u r flüchtig liest, stößt auf folgenden auffälligen T a t b e s t a n d : Bis 3,20 finden sich n u r wenige Zitate aus dem Alten Testament, diese jedoch an Stellen, die f ü r die Argumentation zentral sind; so vor allem Hab 2,4 in 1,17 und der Zitatenkomplex 3,10 f f . Äußerst bemerkenswert ist das Faktum, daß Paulus in dem dogmatisch so wichtigen Abschnitt 3,21-8,39, sieht man einmal von Kap.4 mit seinem Abrahammidrasch a b , fast ganz auf Zitate verzichten k a n n . Wichtigste theologische Aussagen, vor allem in Kap.5-8, werden nicht vom Alten Testament h e r b e g r ü n d e t (besonders auffällig in Kap.8, wo das neue Sein des Gerechtfertigten als Sein im Geiste Gottes geschildert wird; paulinische Theologie kommt also an zentraler Stelle ohne Schriftbeweis a u s ! ) . Dann a b e r folgen in dem I s rael-Abschnitt Kap.9-11 in so dichter Folge alttestamentliche Zitate wie n i r g e n d s sonst in den Briefen des Paulus. In Kap. 12 f f . zitiert der Apostel wieder n u r sporadisch 1. Wollen wir also den theologischen Umgang des Paulus mit dem Alten T e s t a ment u n t e r s u c h e n , so bietet sich uns der Israel-Abschnitt des Rom wegen der so gehäuften Zitate zum Einstieg in die Problematik in besonderer Weise a n . Freilich sollte u n s das reichliche Ausmaß des Bezugs auf das Alte Testament in Rom 9-11 schon deshalb nicht zu sehr wundern, weil er sich von der Thematisierung der Israelfrage her nahelegt. Mit Recht schreibt C . E . B .Cranfield: "The epistle is concerned . . . with the question of the t r u e interpretation of the ОТ. But it is clear that t h e r e can be no satisfactory interpretation of the ОТ, no making sense of i t , without taking into account the phenomenon of Israel. Gehen wir methodisch n u n so v o r , daß wir u n s , indem wir u n s den Ablauf der G e d a n k e n f ü h r u n g des Paulus vergegenwärtigen, jeweils nach der Art und Weise seines Umgangs mit der jeweiligen Schriftstelle f r a g e n . Dabei soll es u n s aber nicht um eine lückenlose Exegese der drei Kapitel des Rom gehen. Ein Kommentar zu einem Teilstück des Rom, nämlich Rom 9-11, ist an dieser Stelle nicht geplant. Daß durch u n s e r e Fragestellung dennoch die Argumentationslinie - b e s s e r g e s a g t : das Zueinander und Ineina n d e r der einzelnen Argumentationslinien zu einer Gesamt-"Strategie" der Aussageintention von Rom 9-11 ziemlich deutlich wird, liegt nun einmal an der Tatsache, daß die alttestamentlichen Zitate den Gedankengang der paulinischen A u s f ü h r u n g e n weitesthin strukturieren·*.

1 Hübner, Art. γραφή 4c, EWNT I, 633 f. 2 Cranfield, Rom II, 446. 3 Gerhard Dautzenberg wünscht sich in der Rezension meines Buches über das Gesetz bei Paulus für die weitere Diskussion dieses Themas Studien, die in ih-

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1.1. Die Einleitung Rom 9,1-5 Paulus bekennt 9,1 f f . seinen tiefen Schmerz um seine jüdischen Volksgenossen. An ihrer Stelle möchte er verflucht und von Christus getrennt sein; denn (begründendes ο ι τ ι ν ε ς V.4) sie sind ja "Israeliten", ihnen gehört all das, was im Laufe der Geschichte Israels diesem Volk von Gott zuteil wurde. In diesen Versen wird zwar kein alttestamentliches Zitat gebracht; aber das ganze Alte Testament steht Paulus vor Augen - und er will es auch seinen Lesern vor Augen stellen - , wenn er die Privilegien des Volkes, falls man überhaupt den so mißverständlichen Begriff "Privilegien" gebrauchen darf, in V.4 f . aufzählt. Wenn Paulus von Israeliten in begründender Weise spricht, so läßt er bereits das Thema anklingen, um das es in Rom 9-11 geht. In diesen Kapiteln wird die Israelfrage diskutiert, es wird in geradezu grundsätzlicher Weise gefragt, was denn "Israel" überhaupt meint (9,6 f f . ) . Im Blick auf diese so grundsätzlich geführte Diskussion des Apostels muß bereits jetzt festgehalten werden, daß er mit dem Ehrennamen "Israeliten" sowohl das religiöse Selbstverständnis der Juden als Angehörige des von Gott erwählten Israel^ als auch - wie sich aus der Gesamtargumentation von Rom 9-11 ergeben wird - ihre Zugehörigkeit zum Volke Israel hervorheben will. Der hier noch nicht ausgesprochene G e d a n k e d e r aber die Voraussetzung zum Verständnis des rem Aufbau und in i h r e r D u r c h f ü h r u n g s t ä r k e r zwischen den historischen, h e r meneutischen und theologischen Arbeitsgängen u n t e r s c h e i d e n , als dies im vorliegenden Fall geschehen sei (BZ 25, 142). Ich f ü r c h t e allerdings, daß eine solche Separierung in einer Paulusstudie dazu f ü h r t , die historische Fragestellung als theologische und die theologische £Üs historische zu verkennen - zumal wenn es um die Darstellung des Werdens einer Theologie geht und somit biographische Sachverhalte als Konstituenten theologischer Aussagen dargestellt werden sollen. Es geht ja gerade um das Verstehen dieses Gefüges von historischen u n d theologischen Aspekten. Und so sollte es dann doch der hermeneutische "Arbeitsgang" sein, der es ermöglicht, den geschichtlichen Paulus (geschichtlich als p r ä g n a n t e r B e g r i f f ) mit Hilfe der üblichen historisch-kritischen Methoden als theologische Existenz zu v e r s t e h e n . A u f g r u n d meines Verständnisses von Hermeneutik - ich gebe zu, daß ich hier von Dilthey, dem f r ü h e n Heidegger u n d Gadamer her denke - kann ich hier nicht t r e n n e n , auch nicht in meinem neuen Paulus-Buch. Auch wer, a n d e r s als ich, zu der postulierten Methodentrennung fähig i s t , wird am Ende nicht darum herumkommen, die getrennten methodischen Angänge zu einem Ganzen zu bündeln. 4 S. dazu die einschlägigen Lexikonartikel von К .G .Kuhn/W.Gutbrod, ThWNT, H.Kuhli, EWNT, und R.Mayer, TBLNT. 5 Richtig Wilckens, Rom II, 186: "Ihr ( s c . der T r a u e r des Paulus) Grund wird nicht ausdrücklich g e n a n n t , ist aber aus V.3 zu erschließen: der Unglaube der Juden gegenüber dem Evangelium; von ihm ist ausdrücklich erst von 9,31 an die R e d e . " Wilckens geht aber zu weit, wenn er ib. 187 meint, Paulus wolle wie Christus den Fluch des Gesetzes auf sich ziehen, um die durch ihren Unglauben verlorenen B r ü d e r zu r e t t e n . "Dies geht ü b e r die traditionelle prophetische I n terzession hinaus und ist gemeint als Akt stellvertretender Sühne f ü r diejenigen, die der Heillosigkeit verfallen, indem sie die im Kreuz Christi f ü r sie geschaffene Sühne abweisen."

- 15 in sich unmöglichen Selbstverfluchungswunsches des Paulus ist, besagt: Die Juden sind mehr als eins der übrigen Völker; denn sie sind Israeliten - und dennoch wurde augenscheinlich an ihnen das Israel von Gott zugesagte Heil wegen ihres Unglaubens nicht Wirklichkeit. Gemessen an der Zahl von Millionen Juden, die damals in Palästina, im ganzen Imperium Romanum und noch darüber hinaus lebten, ist nur ein verschwindend kleiner Teil zum Glauben an Jesus als den Messias gekommen. Und außerdem ist anzunehmen, daß die Zahl der Heidenchristen die der Judenchristen weit überstieg. Judenchristen also sowohl eine Minderheit unter den Christen als auch eine winzige, quantitativ kaum ins Gewicht fallende Minderheit unter den Juden! Damit muß der Judenchrist Paulus fertig werden. Das ist für ihn - und wohl nicht nur für ihn - das quälende Problem. Was ist das für ein Israel, in dem die Israeliten nicht glauben? Was ist das für ein Gott Israels, dessen Verheißungen anscheinend nicht zum Zuge kommen? Was ist das für ein Gott, dessen Gnadenwirksamkeit mit der gnaden-losen Wirklichkeit "seines" Volkes so weit auseinanderklafft? Im Zusammenhang mit dem in V.4 im Rom zum ersten Mal auftauchenden Begriff "Israelit" übrigens begegnet er bei Paulus nur dreimal: 2 Kor 11,22; hier und Rom 11,1 - sei darauf hingewiesen, daß Paulus im Rom vor Kap.9-11 nur vom "Juden" (Singular ' Ι ο υ δ α ί ο ς ! : 1,16; 2,9.10.17.28.29; 3,1; Plural nur 3,9.29) spricht®, der dadurch gewissermaßen zum Typus, zur geistigen religiösen Größe stilisiert wird'; in Kap.9-11 sagt er aber zwölfmal "Israel" und zweimal "Israelitc e n ) " . Vom Singular "Jude" ist dort nur 10,12 die Rede (wohl weil auf 3,22 zurückgegriffen wird, wo freilich "Jude" nur implizit mitgedacht ist), vom Plural "Juden" nur 9,24, wo sich dieser Plural aus sprachlichen Gründen eher als der Singular "Israel" nahelegt. 1.2. Das durch Gottes Berufen konstituierte Israel, Rom 9,6-29 Zwischen den Zeilen von 9,1-5 haben wir das den Paulus bedrängende Anliegen gelesen, ohne daß damit die Frage nach dem Anlaß des Rom auch nur annähernd beantwortet oder auch nur thematisiert werden sollte®*. Wenn nun Paulus in 9,6 mit der emphatischen Behauptung fortfährt, es sei doch nicht so, als wäre das Wort Gottes - ό λόγος τοϋ θεοϋ doch wohl im Sin-

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Von den übrigen 14 Vorkommen von ' Ι ο υ δ α ί ο ι sind 13 Pluralformen und nur 1 Singularform! Kuhn, ThWNT III, 382,45 f . ; s. auch ib. 384,10 f f . : Paulus hebt im Namen Ί ο υ δ α ϋ ο ς "das Dberpersönlich-Wesentliche, das Typische" heraus; Kuhli spricht EWNT II, 474, vom kollektiven Singular, der eine der beiden Teilmengen der Menschheit repräsentiert. Zu dieser Frage Hübner, Gesetz bei Paulus, vor allem Abschn. 2 . 2 . und 2 . 2 . 1 . ; außerdem die ib. 55, Anm.40, genannte L i t . ; s. auch u . a . The Romans Debate, ed. K.Dornfried, Minneapolis 1977, und Campbell, The Place of Romans 9-11.

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ne von "Gottes Heilsverheißung für Israel"** - hingefallen, so liegt zwischen 9,5 und 9,6 offensichtlich ein Gedankensprung Ю, der freilich dann nicht so stark auffällt, wenn man bereits den hinter 9,1-5 stehenden Gedanken erfaßt hat. Dann nämlich ist für den Leser der Übergang zu 9,6ff. doch nicht so abrupt: Obwohl die meisten Juden, die doch wie alle Juden den Ehrennamen "Israeliten" tragen, zur Zeit ihr Heil verspielt haben wir werden es so scharf formulieren müssen; denn sonst wäre der Wunsch des Paulus, stellvertretend für seine Volksgenossen den Fluch zu übernehmen, unmotiviert und sinnlos - , obwohl sie, die doch nach 9,4 die Verheißungen, αί. έπαγγελι,αι, empfangen hatten, gerade das, was diese verheißen, nicht erlangt haben, sind eben diese Verheißungen nicht hinfällig geworden. Auch nach Wilckens 11 nennt Paulus in V.6 noch immer nicht beim Namen, um was es geht. Wenn er aber dann erklärt, Paulus gehe es um die Frage, ob Gott das im Unglauben verharrende Judentum trotz der ihm als "Israel" gegebenen Heilssetzungen 9,4 f . vom Heil ausgeschlossen habe (vgl. 11,1), so ist das nicht falsch. In der Tat ist das ja die den Paulus quälende Frage. Aber in 9,6 geht es um weit mehr als um das Schicksal des ungläubigen Israel, es geht in ganz fundamentaler Weise um das Gottsein Gottes: Wenn es geschehen konnte, daß Israel das verheißene Heil verspielt hat, hat dann nicht auch Gott sein Gottsein verspielt? Wenn Gott der Gott Israels ist, wie doch das ganze Alte Testament erweisen will, ist dann nicht gerade Gott als dieser Gott Israels und somit in seinem eigentlichen Tun gescheitert 1 2 ? Ein gescheiterter Gott ist aber kein Gott! Man muß in diesem Sinne zugespitzt formulieren, um die theologische Problematik, die Paulus hier eröffnet, nicht zu verharmlosen. Hier geht es nur sekundär um Israel, primär aber geht es um Gott 1 ^. Was sich dem Apostel hier als kritische Frage stellt, ist als Fragestellung keineswegs von geringerer Wucht als die Bestreitung der Existenz Gottes in der Atheismusdebatte des 19. Jahrhunderts 1 "^· Daß die radikale, wenn auch unausgesprochene 9

So z . B . Käsemann, Rom. 252: "die Israel konkret gewährten Zusagen", zustimmend Wilckens, Rom II, 193, Anm.848; etwas anders Michel, Rom, 299. 10 Michel, Rom, 298: "Zunächst muß die Tatsache erkannt werden, daß zwischen V 1-5 und V 6-13 kein unmittelbarer Zusammenhang zu erkennen i s t . " ; Schlier, Rom, 290: "Der Einsatz in V 6a ist eigentümlich. Es ist, als sei der Apostel schon mitten im Gespräch." 11 Wilckens, Rom II, 191. 12 Luz, Geschichtsverständnis, 28: "Der Unglaube Israels stellt Gottes Glaubwürdigkeit selbst in F r a g e . " 13 Treffend Dabeistein, Beurteilung, 104: Paulus erörtert in Rom 9-11 "Das Problem der Verheipungstreue Gottes". S. auch Byrne, Sons of God, 129: "Fundamentally it is the power and validity of God's word to Israel that is at stake in this matter . . . Has not the word of God collapsed?" 13a Freilich ist damit nicht gesagt, daß im Horizont des Paulus das moderne Atheismusproblem stand. Gräßer, "Ein einziger ist Gott", 180 f . , stellt mit Recht heraus, daß die allgemeine Frage "Wer ist Gott?" als Variante der positivistischen Weltanschauungsfrage "Existiert Gott?" vom antiken Judentum und also auch von Paulus überhaupt nicht aufgeworfen wird. "Unter den Bedingungen des jüdischen Denkens seinerzeit gab es nicht die Möglichkeit . . . einer Klä-

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Frage des Paulus auch ihre alttestamentliche Vorgeschichte hat ( z . B . : wie konnte Israel als Jahwähs Volk in die babylonische Gefangenschaft geraten?), sei nur am Rande erwähnt, kann aber hier nicht näher ausgeführt werden. Paulus geht nun allerdings nicht so vor, daß er die Gottesfrage als eine theoretische stellt. Er deduziert nicht begrifflich das Wesen Gottes als des in der Geschichte sich durchsetzenden Gottes. Nachdem er vielmehr die Frage nach dem Gottsein Gottes durch die assertorische Aussage von V.6a implizit hat anklingen lassen, begründet er diese mit so großer Bestimmtheit ausgesprochene Aussage in eigentümlicher Weise. Er hält nämlich seine These von der bleibenden Gültigkeit, von der Unumstößlichkeit der göttlichen Verheißungen durch, indem er mit dem Begriff "Israel" jongliert. Wenn sich einerseits die Verheißungen nicht am empirischen Israel verifizieren lassen, wenn also empirisches Israel und Verheißungen in der gegenwärtigen Geschichte auseinanderklaffen, andererseits aber ein Hinfallen der Verheißungen nicht zugegeben werden kann^ 4 , dann bleibt nur eines, nämlich neu zu bedenken, was denn das Wort "Israel" meint. Genau dies tut Paulus in 9,6b: Nur ein Teil aus Israel ist Israel. С ranfiel d spricht vom "Israel within Israel"15. Mit dieser Formulierung ist richtig zum Ausdruck gebracht, daß Paulus hier nicht etwa Israel und Kirche gegenüberstellt, wie es z . B . Erich Dinkier ursprünglich getan hatte, indem er zwischen dem empirisch-historischen Israel und dem eschatologischen Israel unterschied und unter dem letzteren alle verstand, "die zum eschatologischen Volk gehören, unabhängig von jeder ethnischen Herk u n f t " 1 7 . Es ist zu begrüßen, daß er diese Exegese von Rom 9,6b später korrigierte: Das zweite Israel ist von Paulus auf "Judenchristen" bezogen .

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r u n g , ob es mit Gott etwas sei - oder n i c h t s . " Wenn es Paulus um das Gottsein Gottes geht, dann um Gottes Wirklichkeit als seine Wirksamkeit. Vgl. Schlier, Rom, 289, der von 9,6a als dem fundamentalen, alles tragenden Satz s p r i c h t : "Gottes Wort - das Israel zu Israel schuf - ist nicht hinfällig geworden. Im Blick auf die späteren Ausführungen könnte man sagen: vielmehr ist Israel gefallen." Cranfield, Rom II, 471 u . ö . Dinkier, Prädestination, 249. Ib. 249, Anm.19; ähnlich Schmidt, Rom, 159; gegen diese Auffassung bereits San day /Headlam, Rom, 240. Nach Dabeistein, Beurteilung, 185 f . , Anm.70, meint Paulus mit dem eigentlichen Israel nicht J u d e n c h r i s t e n . Was "Israel" zu "Israel" mache, sei nicht die Volkszugehörigkeit, sondern allein Gottes gnadenhafte Erwählung und B e r u f u n g . Abgesehen davon, daß Dabeistein die Wendung "nicht alle aus Israel" nicht recht e r n s t nimmt, beruft e r sich auch zu Unrecht auf Ch.Müller und Käsemann. L e t z t e r e r sagt Rom, 253, ausdrücklich: "Der Kontext zwingt dazu, das Vorhandensein eines wahren Israels inmitten des Judentums . . . allein auf das göttliche Erwählungshandeln zurückzuführen" und beruft sich dafür eigens auf Müller, Gottes Gerechtigkeit, 95. Dinkier, Prädestination, 267; ebenfalls ib. 267: "Die Argumentation des Apostels hat also in diesem Abschnitt noch gar nicht die Heiden oder Heidenchristen im B l i c k . "

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Was ist a b e r dann nun das wirkliche, das eigentliche Israel, wenn es das ethnische Israel nicht istl9? Das zeigt Paulus am Beispiel des Isaak. Er zitiert die Verheißung an Abraham: "In Isaak wird dir dein Nachkomme b e r u fen werden" (Gen 21,12). Das Stichwort ist eindeutig " b e r u f e n " : Wer f ü r Abraham der vor Gott geltende Nachkomme i s t , bestimmt sich allein von Gottes κ α λ ε ΰ ν , nicht a b e r vom bloßen biologischen Faktum der Vaterschaft h e r ! Beachten wir, daß die an Abraham ergangene Verheißung nicht mit "wie geschrieben s t e h t " ( κ α θ ώ ς γ έ γ ρ α π τ ο α o . ä . ) eingeführt wird. Vielmehr wird einem negativ formulierten Sachverhalt ( ο ύ δ ' δ τ ι . . . ) ein positiv formulierter entgegengestellt, der mit "sondern", ά λ λ ' , eingeleitet i s t . Zumindest liegt also hier kein förmliches Zitat v o r . Da κ λ η θ ή σ ε τ α ι als passivum divinum zu verstehen sein d ü r f t e 2 ^ , wäre V.7 wie folgt zu p a r a p h r a s i e r e n : "Und keineswegs sind alle (Israeliten), n u r weil sie leiblich von Abraham abstammen, auch schon dessen Kinder. Vielmehr hat Gott gesagt: "Mit Isaak werde ich dir denjenigen b e r u f e n , der in meinen Augen als den Sohn gelten wird."21 Die Argumentationskraft des Zitats liegt also in einem Doppelten: 1. Gott hat dem Abraham verheißen, ihm einen Sohn zu b e r u f e n . Der Verheißungsakt als solcher ist f ü r die Argumentation des Paulus konstitutiv, wie d e s sen unmittelbar anschließende Beweisführung deutlich zeigt. Doch fällt das Wort "Verheißung", έ π α γ γ ε λ £ α , in V.7 noch nicht. 2. Gott hat den Isaak als Sohn b e r u f e n . Zwar steht im Zitat das Futur κ λ η θ ή σ ε τ α ι . Aber aus der Perspektive des Paulus ist die B e r u f u n g des Isaak bereits Vergangenheit. Also nicht n u r an Gott als dem Verheißenden, sondern auch als dem Berufenden liegt dem Paulus sehr viel, wie sich an seiner weiteren A r g u -

19 Der Unterschied zwischen Israel als dem Gesamtvolk und dem eigentlichen Israel als demjenigen Teil aus dem Volke Israel, der berufen ist, wird in der Lit. mit unterschiedlichen Begriffspaaren ausgesagt, wobei sich in der jeweiligen Formulierung Nuancen von Interpretationsdifferenzen andeuten. Ich nenne hier nur einige solcher Begriffspaare: Lietzmann, Rom, 90 f . : leibliches und geistliches Israel; Käsemann, Rom, 252: das Volk Israel und das wahre Israel, "Der Begriff Israel wird wie in 2,28 f . der des Juden dialektisch gebraucht und hat in den beiden Satzhälften verschiedenen Sinn . . . Paulus bestreitet die herrschende Ansicht, wonach die Herkunft das Wesen bestimmt."; Kuß, Rom, 701: "Ganz-Israel" und "Heils-Israel"; Montagnini, Elezione e libertä, 68: l'Israele empirico e quello escatologico; Сh.Müller, Gottes Gerechtigkeit, 90: natürliches und eschatologisches "Israel"; Cranfield, Rom II, 473: comprehensive Israel und selective, special Israel; Schlier, Rom, 290: irdisches Volk Israel und "Israel" im heilsgeschichtlichen Sinn. Die genannten Autoren stimmen insofern überein, als sie alle die beiden Israel als den Gegensatz von Juden und Judenchristen fassen. 20 So auch Wilckens, Rom II, 192. 21 S. auch Gen. 35,10LXX, wo Gott Jakob mit ού κληθήσεται anredet, um ihm den Namen "Israel" zu geben. Zu paraphrasieren wäre: "Ich werde dich nicht mehr Jakob nennen, sondern Israel." Freilich ist hier κ α λ ε ί ν mit "nennen" zu übersetzen. Aber gerade dieses Nennen ist ja ein Berufen. Deshalb ist κληθήσεται inhaltliche Parallele zu Gen 21,12 (vgl. auch Gen 32,28LXX).

- 19 mentation noch deutlicher zeigen wird. Indem der Apostel aber auf Verheißung und Berufung insistiert, insistiert er auf dem, was Gott t u t . An Gottes allem menschlichen Tun vorgängiger Aktivität hängt alles. Dann aber dürfte für den Argumentationsgang in Rom 9,6 f f . nicht so sehr der Sachverhalt, daß die Verheißung von Gen 21,12 in der Schrift steht, von Bedeutung sein. Natürlich kann und soll auch nicht bestritten werden, daß Paulus eine Schriftstelle anführt. Aber primär geht es ihm darum, konkret die Einlösung einer der Rom 9,4 genannten Verheißungen 2 2 Gottes durch diesen vor dem Leser lebendig werden zu lassen. M.E. ist es b e zeichnend, daß in 9,4 f . die Schrift gerade nicht genannt ist, obwohl Paulus nun wahrlich nicht bestreiten würde, daß sie in diesem Zusammenhang auch mit aufgezählt werden könnte. Mit dem midraschtypischen τ ο ϋ τ ' έ σ τ ι ν führt Paulus den bisher nur implizit in V.7 ausgesagten Gedanken von der Verheißung expressis verbis ein. Er expliziert das Isaakbeispiel auf eben diese Verheißung hin: Nicht die Kinder des Fleisches, sondern die Kinder der Verheißung - und nur die Kinder der Verheißung - sind Kinder Gottes. Man beachte, wie Paulus sozusagen unter der Hand die Frage, wer denn nun wirklich Sohn Abrahams i s t , mit der Frage, wer Sohn Gottes i s t , zusammenfallen l ä ß t 2 ^ . Die unausgesprochene Voraussetzung, vielleicht in 9,4 mit υ ι ο θ ε σ ί α schon angedeutet, ist dann: Die Abrahamssohnschaft ist deshalb von so vitalem Interesse, weil nur sie die Gottessohnschaft verbürgt. Um also im eigentlichen Sinne Sohn - Abrahams und Gottes - zu sein, bedarf es der Anrechnung zur Kindschaft durch einen eigenen Akt Gottes: λ ο γ ί ζ ε τ α ι ε ί ς σπέρμα, V . 8 . Disqualifiziert im wörtlichen Sinne sind somit die "bloß" leiblichen Nachkommen Abrahams; denn ihnen fehlt die Qualität des wirklichen Sohnseins. So paradox es klingt: Wer als leiblicher Nachkomme Abrahams nicht von Gott als Sohn Abrahams berufen i s t , ist nicht Sohn Abrahams. Freilich hält Paulus in seiner sprachlichen Diktion diesen Gedankengang nicht streng durch; denn in V.7 meint σπέρμα in σπέρμα 'Αβραάμ den leiblichen Nachkommen, in V.8 in λ ο γ ί ζ ε τ α ι ε £ ς σπέρμα meint dasselbe Wort jedoch nur den zum Sohn berufenen und als Sohn angerechneten Nachkommen. Es ist streng darauf zu achten, weshalb Paulus zwischen den beiden I s r a els so betont unterscheidet. Er tut es im Blick auf das Israel seiner Geg e n w a r t ^ 3 . Rufen wir uns noch einmal in Erinnerung: Vor Augen hat er 22 23

Mit cit, δίαθηκοα бгегеп p46BD ή διαθήκη. Gut Käsemann, Rom, 253: "Paulus läßt als wirkliche Abrahamskinder nur die Gotteskinder g e l t e n . " Ähnlich B y r n e , Sons of God, 133; doch dürfte τέκνα in Rom 9 , 7 noch nicht, wie er i b . 1 3 1 meint, als "Söhne Gottes" zu verstehen sein. Das GenZitat in V . 7 läßt τέκνα m . E . eindeutig als "Söhne Abrahams" v e r s t e h e n . 23a Daß Paulus hier auch im vorgegebenen Rahmen des seinerzeitigen jüdischen Denkens argumentiert, soll natürlich nicht bestritten werden. Als Beispiel sei vor allem Qumran g e n a n n t . Mit Zobel, A r t . ThWAT III, 1012: "Aus dem großen, ganzen Gesamt-Israel wird demnach ein Exklusiv-Israel ausgesondert ( 1 QS 6 , 1 3 - 1 4 ) . Dieses ist das eigentliche Israel, 'das Haus der Vollkommenheit und Wahrheit in Israel' ( 1 QS 8 , 9 ) , denen Gott 'ein zuverlässiges Haus in

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das empirische,

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das völkische Israel,

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v o n dem z u s e i n e m g r o ß e n

Leidwesen

n u r ein g a n z g e r i n g e r T e i l a n d e n i n z w i s c h e n g e k o m m e n e n M e s s i a s

glaubt.

U n d im B l i c k a u f d i e s e n i c h t g l a u b e n d e M a j o r i t ä t I s r a e l s s t e l l t s i c h d i e g e , ob Gottes Wort nicht hinfällig g e w o r d e n ist,

Fra-

weil nicht W i r k l i c h k e i t

ge-

w o r d e n i s t , w a s G o t t z u g e s a g t h a t . G o t t e s T r e u e u n d somit s e i n e

Verläß-

lichkeit s t e h e n a u f dem S p i e l !

Zweifel

U n d g e n a u um zu z e i g e n ,

daß kein

an dieser göttlichen Verläßlichkeit b e r e c h t i g t ist, weist er darauf hin, s c h o n in d e r e r s t e n G e n e r a t i o n n a c h A b r a h a m n i c h t a l l e N a c h k o m m e n fen waren. tes Z u s a g e ,

N u r den B e r u f e n e n , n u r den Kindern d e r V e r h e i ß u n g d a m a l s u n d h e u t e ! D e r S c h l u ß i s t b e r e i t s in d i e s e m

der paulinischen Argumentation zwingend: eliten - a l s o d a s b l o ß e m p i r i s c h e I s r a e l liegenden Argumentationsduktus

daß

beru-

gilt

Got-

Stadium

Die jetzt nicht g l a u b e n d e n

Isra-

s i n d n i c h t b e r u f e n 2 4 ; D a im v o r -

d a s A u s e i n a n d e r k l a f f e n vom

gegenwärti-

gen völkischen Israel u n d der V e r h e i ß u n g Gottes " e r k l ä r t " w e r d e n

soll,

v e r g l e i c h t P a u l u s d i e s e s g e g e n w ä r t i g e m p i r i s c h - v ö l k i s c h e I s r a e l mit dem n i c h t b e r u f e n e n N i c h t i s r a e l i t e n I s m a e l . E s b e f i n d e t s i c h in d e r heillosen Situation wie d i e s e r .

Er kann es n u r als fatale u n d beleidigende V e r d r e h u n g urteilen,

als V e r g e w a l t i g u n g

rende Ungeheuerlichkeit

gleichen

F ü r d e n J u d e n ein u n g e h e u e r h a r t e s

Wort!

der Tatsachen

d e r W i r k l i c h k e i t . A l s eine g e n a u s o

w i e d i e H a g a r - S a r a - " A l l e g o r i e " G a l 4, 2 1 - 3 1 2 4 a !

den A u g e n eines Juden d e r a r t i g e A u s s a g e n

be-

diffamie-

d e s P a u l u s zu l e s e n k a n n

Mit nur

Israel' baute ( 1 QM 1 0 , 9 ) . " Nicht mehr paulmisch ist aber folgende A u f f a s s u n g Qumrans, i b . 1012: "Dieses Exklusiv-Israel ist die Gemeinde von Qumran, die als Kern-Israel an dem Gesamt-Israel seine Mission zu erfüllen h a t . " Sicherlich missioniert gemäß dem Beschluß der Heidenmissionssynode Gal 2,1-10 das Judenchristentum, also das eigentliche Israel, unter der Verantwortung des Petrus das Judentum; aber es wird sich im Verlauf unserer A u s f ü h r u n g e n zeigen, daß die Bekehrung Israels eben nicht der direkte Erfolg dieser Judenmission sein wird. - Ähnlich argumentiert R.Mayer, A r t . Israel, ThBWNT, 748: "Die Sonderung aus Israel ist Erwählung f ü r Israel ( 1 QS 5,5 f . ; 8,5; 9,5 TestN 8 , 2 ) . Die Restgemeinde weiß sich beauftragt, das gesamte Volk zur Umkehr zu r u f e n . " Insgesamt weist aber dieser sicherlich in mancher Hinsicht sehr interessante und aufschlußreiche Artikel grobe Verzeichnungen des Verhältnisses von Christologie und Israel a u f . Der komplizierte neutestamentliche Sachverhalt wird simplifiziert, wenn es i b . 748 heißt: "Die in der Grundschicht der nt. Überlieferung vorausgesetzte messianische Struktur kann deshalb f ü r die Zeit des Zweiten Tempels geradezu als a l l g . - j ü d . gelten." Oder ib. 749: "Das NT dient diesem Nachweis, daß Jesus, der Jude, der Hebräer . . . ganz und gar personhaft Israel darstellt und mit ihm wurzelhaft und bleibend verbunden i s t . " 24

So auch in aller Eindeutigkeit Munck, Christus und Israel, 32: "Was sich zu P a u lus' Zeit zutrug, daß nur ein Teil der Nachkommen der Patriarchen Glieder des wahren Israels wurden, während die Andern nicht auserwählt wurden, hat seine Parallele bereits in der U r z e i t . " Vielleicht bringt die englische Übersetzung am Ende des Satzes eine noch interessantere Variante: " . . . was anticipated in early times." Losada, La cuestion de Israel en Rom 9-11, macht darauf aufmerksam, daß unter den Röm9,4 f . genannten Privilegien Israels die Erwählung gerade nicht g e nannt ist. Zu kurz greift von der Osten-Sacken, Das paulinische Verständnis des Gesetzes, 584, wenn er sagt, daß die B e r u f u n g Gottes als Israel - dem Zusammenhang nach scheint er an das ethnische Israel zu denken - bereits in der Gegenwart geschenkte Möglichkeit zu begreifen sei. 24a S. Abschn. 2 dieser Untersuchung.

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b e d e u t e n , sie mit höchster Empörung zur Kenntnis zu nehmen. Wer als J u de über derartige Aussagen nicht aus ganzem Herzen empört i s t , ist kein Jude mehr! Es war soeben die Rede von einem zwingenden Schluß. Ausdrücklich sei zugestanden, daß Paulus nicht e x p r e s s i s v e r b i s e r k l ä r t , das empirische Israel als solches sei nicht b e r u f e n . Er sagt auch nicht, die jetzt nichtglaubenden Juden seien nicht b e r u f e n . Was er an u n s e r e r Stelle s a g t , ist lediglich: Damals war n u r ein Teil b e r u f e n . Aber gerade d a r a n , daß sich Paulus auf die Vergangenheit Israels b e r u f t , um die Gegenwart Israels zu d e u t e n , wird deutlich, daß er den Leser unmißverständlich zu der Konklusion f ü h r e n will: Das empirische Israel damals war und das empirische Israel heute ist jeweils als solches nicht b e r u f e n . Und deshalb ist auch Zweifel an Gottes Treue und Verläßlichkeit und deshalb ist auch Verzweiflung angesichts der gegenwärtigen katastrophalen Situation nicht e r l a u b t . Es ist geradezu das Leitmotiv, das sich mehrfach in Rom 9-11 meldet: Schon damals war es so: Nur ein kleiner Teil ist b e r u f e n ! Zugleich sei auf ein weiteres aufmerksam gemacht. Paulus sagt in 9,6 f f . auch nicht, daß die damals nicht Berufenen nicht geglaubt h a b e n . Von schuldhaftem Unglauben und ü b e r h a u p t von Schuld ist in dem hier vorliegenden A r g u mentationsgefälle nicht die Rede. Die Intention des Paulus ist also n i c h t , den Unglauben seiner jüdischen Zeitgenossen in einem mechanisch b e g r i f fenen Kausalprinzip als Wirkung des göttlichen Nichtberufens hinzustellen. Denn das würde b e d e u t e n , menschliche Schuld - und Unglaube ist nach Paulus Schuld, ist Sünde - auf Gott abzuwälzen und Theologie als ein eindimensionales Denksystem zu simplifizieren. Rom 9,6 f f . geht es n u r um d a s , was Gott t u t . Des Menschen Tun ist hier von Paulus bewußt noch nicht in die theologische Perspektive gerückt worden. Schon am Beginn der Argumentation von Kap.9 gilt e s , ä u ß e r s t genau auf das zu h ö r e n , was der Apostel sagt und was er nicht s a g t . Die Tatsache, daß in 9,6a und dort schon von 9,1-5 her - im Hintergrund die schmerzliche E r f a h r u n g vom Unglauben Israels s t e h t , gibt nicht das Recht, diesen Unglauben in die Argumentation von 9,6 f f . hineinzutragen. Der Unglaube ist hier n u r Horizont der Argumentation, nicht aber selbst Argumentationselement . Da Paulus bereits in 9,6-9 die Weichen der paulinischen Argumentation gestellt h a t , seine I n t e r p r e t e n aber n u r allzu leicht gerade an dieser Weichenrichtung geringe Ab-Weichungen vornehmen - bekanntlich wirkt sich dies um so gravierender a u s , je weiter man sich von diesem Punkte e n t f e r n t - , sei an einigen Beispielen symptomatisch gezeigt, wie leicht sich hier in der Verkennung von Nuancen Fehler in die Interpretation der p a u linischen Aussagerichtung ein schleichen. Sanday und Headlam schreiben in i h r e r Paraphrase von V.6: "Yet in spite of these privileges ( s c . der in V.4 f . genannten) Israel is rejected. Now it has been a r g u e d : ' . . . If Israel is rejected, that promise is b r o k e n . ' An examination of the conditions of the promise show that this is not so. It was

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never intended that all the descendants of Jacob should be included in the Israel of privilege . . ."25 Hier ist sicherlich vieles richtig gesehen. Aber die beiden Autoren werden eben in Nuancen unscharf. Ist Israel wirklich "rejected"? San day und Headlatir gehen hier weiter als unsere Auslegung ("nicht berufen") ging. Fast meint man die Lehre von der gemina praedestinatio zu vernehmen (dazu wird später einiges zu sagen sein). Andererseits werden aber der Ernst und die Radikalität der paulinsichen Aussage verharmlost: "Nicht alle" Nachkommen Jakobs sollten in das privilegierte Israel eingeschlossen werden. Das klingt fast so, als ob es sich bei den "Verworfenen" nur um eine Minorität handelte. Klar sehen aber die beiden englischen Exegeten, daß 9,6 f f . im Blick auf die Gegenwart gesagt ist: "There is then no breach of the Divine promise, if God rejects some Israelites as He has rejected them."2® Bedenklich sind jedoch in diesem Satz wieder die Worte "rejects" bzw. "rejected" und "some". Korrekter wäre zu sagen: " . . . , if God does not call most Israelites as He has not called them." Ein größeres Mißverständnis liegt m.E. bei Cranfield vor. Richtig hat er vom eigentlichen Israel als vom "Israel within Israel" gesprochen. Diese Wendung wurde ja bereits oben dankbar als sehr hilfreich aufgegriffen. Doch dürfte Cranfield in der Interpretation dieser an sich richtigen Formel das in jüdischer Sicht Ärgerliche so abgeschwächt haben, daß das Profil der Aussage zu stark eingeebnet ist. Er unterscheidet, wie in Anm. 19 bereits zitiert, zwischen dem "comprehensive Israel" und dem "selective, special Israel" und fährt dann fort: "But this does not mean what it has so often been taken to mean - that only part of the Jewish people is the elect people of God." 2 ^ Schließlich habe Paulus keine Charta eines christlichen Antisemitismus schreiben wollen. (Aber vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang besser das Reizwort "Antisemitismus", vermeiden, da die Unbefangenheit der wissenschaftlichen Diskussion gefährdet ist, sobald dieser Begriff auftaucht, und da Paulus selbst dann, wenn er die Meinung vertreten sollte, die Cranfield nicht von ihm vertreten sieht, schon allein aufgrund von 9,1-5 nicht als Antisemit bezeichnet werden kann.) Cranfields Deutung läuft darauf hinaus, daß nach Paulus innerhalb des erwählten Volkes Israel ein Prozeß noch speziellerer Erwählung stattgefunden hat: " . . . God's purpose of election has, from the very beginning, included a process of distinguishing and separating even within the elected people Nein, Paulus spricht hier eben nicht von zwei Arten oder zwei Stufen von Erwählung, er stellt vielmehr eindeutig Erwählung gegen Nichterwählung in der vorausgegangenen Geschichte Israels und will diesen Gegensatz von Berufung und Nichtberufung in die 25 Sanday/Headlam, Rom, 238. 26 Ib. 238. 27 Cranfield, Rom II, 473. 28 Ib. 474, Hervorhebung durch mich.

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Gegenwart Israels ü b e r t r a g e n sehen. Daß Paulus am Ende, 11,26, doch noch von der Rettung ganz Israels s p r i c h t , darf nicht voreilig in 9,6 f f . eingetragen werden. Cranfield hält die Spannung nicht d u r c h , die der Apostel durch den dramatischen Aufbau der drei Kapitel h e r s t e l l t . Es ist der lange theologische Atem des Apostels, den seine Ausleger auch haben müssen, wenn sie ihn wirklich verstehen wollen: In 9,6 f f . wird zunächst einmal eine f ü r Israel ä u ß e r s t h a r t e Aussage gemacht, die in i h r e r S u b stanz aufgeweicht wird, wenn man sie sofort mit 11,26 harmonisiert. Die Eigenart paulinischer Theologie in Rom 9-11 liegt gerade darin, d a ß , wie sich im Verlauf u n s e r e r weiteren Überlegungen noch zeigen wird, Gottes Souveränität dadurch theologisch ausgesagt wird, daß sein Handeln nicht in ein gedanklich einsichtiges System eingepaßt werden k a n n . Das Anstößige in 9,6 f f . beseitigen heißt, die Aussagekraft von 11,26 domestizieren. Das nächste Zitat, nämlich in etwa Gen 18,14b LXX 2 ^ "Um diese Zeit werde ich kommen und Sara wird einen Sohn haben" Rom 9,9, bildet den Abschluß der Argumentationseinheit 9,6b-9. Auch dieses Wort wird von Paulus wieder nicht als förmliches Schriftzitat e i n g e f ü h r t . Worum es ihm g e h t , i s t , daß das Wort, das Gott zu Abraham gesprochen h a t , ein Wort der Verheißung war, und zwar einer Verheißung, die dann tatsächlich auch in E r füllung gegangen ist - ü b r i g e n s , ehe "Mose" sie in seinem ersten Buch niedergeschrieben h a t t e ! Es kann also Paulus primär nicht darum gegangen sein, daß diese göttliche Verheißung in der Schrift geschrieben s t e h t . Was f ü r ihn von theologischem Gewicht i s t , ist in e r s t e r Linie die Qualifizier u n g des Gotteswortes als έ π α γ γ ε λ ί α ς 6 λ ό γ ο ς ο δ τ ο ς , "dieses Wort (Gottes) ist ein Wort der Verheißung". So sagen Sanday und Headlam mit Recht, daß έ π α γ γ ε λ ί α ς Prädikat^O sein muß "in order to give emphasis and to show where the point of the argument lies"31. Wenn sie dann mit der Bemerkung f o r t f a h r e n , wer sich der Schriftstelle zuwende, werde seh e n , daß Isaak ein Kind der Verheißung war, so widerspricht das nicht im mindestesten u n s e r e r Auslegung. Denn selbstverständlich soll hier nicht b e s t r i t t e n werden, daß das Verheißungswort in der Schrift s t e h t . Natürlich steht es in der Schrift! Und natürlich ist diese Schrift f ü r Paulus das Buch der göttlichen Offenbarung und somit ein Buch mit göttlicher Autorität! Aber in u n s e r e n Überlegungen kommt es im Augenblick darauf an, ob es Paulus primär darum geht, daß etwas in der Schrift s t e h t , oder ob er theologisch mit dem o p e r i e r t , was in der Schrift s t e h t . Und diese Unterscheidung darf nicht als Quisquilie abgetan werden. Ist auch die Autorität der Schrift f ü r Paulus u n b e s t r i t t e n , so gibt jedoch die Schrift im A r gumentation selement von 9,6b-9 mit eben diesem ihrem autoritativen Cha-

29 Aus Gen 18,10 stammt nur die Präposition κατά (statt ε ί ς in Gen 18,14); stammt έ λ ε ύ σ ο μ α ι aus η£ω Gen 18,10? So Wilckens, Rom II, 193, Anm.856; dort richtig: "Die Satzstruktur ( s c . des Zitats in Rom 9,9) entspricht Gen 18,14." 30 Natürlich als Genitivattribut eines hinzuzufügenden λ ό γ ο ς ! 31 Sanday/Headlam, Rom, 242.

- 24 r a k t e r mehr im H i n t e r g r u n d den Horizont der Argumentation a b , als daß sie v o r d e r - g r ü n d i g als autoritative Schrift bemüht wird. Vergleicht man nun die beiden "Zitate" der soeben behandelten Argumentationseinheiten, so kann man folgende Beobachtung machen: In dem in V.7 zitierten Gotteswort Gen 21,12 d ü r f t e Gottes Handeln in der grammatischen Form des passivum divinum ausgesagt sein und daher sinngemäß mit "ich werde b e r u f e n " zu übersetzen sein. In dem in V.9 zitierten Gotteswort ist aber dieses Ich Gottes bereits direkt ausgesprochen: "Ich werde kommen". Festgehalten zu werden v e r d i e n t , daß in beiden Fällen Gott selbst als der Redende zitiert wird, und zwar so, daß er - indirekt oder direkt "ich" s a g t . Da, wo Paulus darlegen will, wer denn nun das eigentliche Israel i s t , verweist er auf das sich artikulierende Ich Gottes. Gott sagt "ich" und konstituiert so Israel. Unsere Annahme, daß es dem Paulus p r i mär nicht um formale Schriftautorität geht, daß er also seine Belege nicht so sehr als Aussagen der Schrift v o r t r ä g t , sondern vornehmlich von ihrem autoritativen Inhalt h e r in die Argumentation e i n b r i n g t , wird durch die zuletzt gemachte Beobachtung b e s t ä r k t . Nach dem Isaak-Beispiel b r i n g t Paulus die B e r u f u n g des Jakob als zweite Argumentationseinheit 9,10-13. Das Jakob-Beispiel vermag noch schlagender zu beweisen, was Paulus darlegen will. Denn immerhin besteht zwischen Ismael und dem e r s t danach geborenen Isaak der Unterschied, daß jener n u r Sohn einer Sklavin, dieser aber Sohn der Freien i s t . T r e f fend bemerkt dazu Cranfield: "a significant difference between them on the human level"32. Die beiden B r ü d e r Esau und Jakob sind aber Söhne derselben Mutter und desselben Vaters, beide sind d a r ü b e r hinaus noch im selben Augenblick empfangen ( ' Ρ ε β έ κ κ α ένός κοίτην £ χ ο υ σ α ) 3 3 . (Eine interessante Parallele zwischen den Halbbrüdern Ismael und Isaak und den Zwillingen Esau u n d Jakob besteht darin, daß bei beiden der Ältere der Nichtberufene i s t . ) Daß Rebekka von Isaak schwanger wurde, wird a b e r nicht mit den Worten der Schrift b e r i c h t e t . Vielmehr formuliert Paulus es mit der soeben zitierten Wendung in eigenen Worten, um sofort in V . U . 12a die theologische Deutung a n z u f ü g e n . Diese Deutung wird in der Literatur oft so i n t e r p r e t i e r t , daß gerade hier deutlich werde, wie auch das Problem Israel u n t e r den Kriterien der R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e stehe ( z . B . K ä s e m a n n ^ ) . Auch nach Wilckens wendet Paulus den G r u n d satz seiner Rechtfertigungslehre auf die Anfangsgeschichte Israels und damit auf die Erwählungsgeschichte im ganzen a n . Mit Recht wendet er aber sofort ein, daß der entscheidende Gedanke der R e c h t f e r t i g u n g s l e h re Rom 4,1-8, nämlich die Rechtfertigung des Gottlosen, hier f e h l t ^ . Ausdrücklich e r k l ä r t Paulus, daß Gott die beiden Zwillinge b e r u f e n h a t t e , ehe sie geboren wurden und irgend etwas Gutes oder Böses t a t e n , "damit 32 Cranfield, Rom II, 476. 33 Andere Deutung dieses griechischen Ausdrucks Hanson, Studies, 87-90. 34 Käsemann, Rom, 254; ähnlich Dugandzic, "Ja" Gottes, 282: "In diesem Kontext fällt der entscheidende Satz der Rechtfertigungslehre: ούκ έξ έργων . . . (120) nicht entsprechend den Werken, sondern dem, der ruft." 35 Wilckens, Rom II, 194.

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Gottes e r w ä h l e n d e V o r h e r b e s t i m m u n g in K r a f t b l e i b e " , Ενα ή κ α τ ' έ κ λ ο γ ή ν π ρ ό θ ε σ ι ς τ ο ϋ θ ε ο ϋ μ έ ν η , wie e s in theologisch f a s t ü b e r l a d e n e r S p r a c h e h e i ß t . Und in d e r f ü r P a u l u s t y p i s c h e n Weise a n t i t h e t i s c h e r Z u s p i t z u n g heißt e s d a n n ο ύ κ έ ξ έ ρ γ ω ν , άλλ* έ κ τ ο ϋ κ α λ ο ύ ν τ ο ς - ein in g r i f f i g e r P r ä g n a n z f o r m u l i e r t e r S a t z , d e r sich in d i e s e r s p r a c h l i chen Z u s p i t z u n g n u r mit Mühe i n s D e u t s c h e ü b e r s e t z e n l ä ß t : "Nichts g r ü n det in M e n s c h e n w e r k e n , alles a b e r im Ruf G o t t e s . " ( J e d e U b e r s e t z u n g , die sich ziemlich e n g an den g r i e c h i s c h e n T e x t h ä l t , bleibt i r g e n d w i e steif ohne Schuld d e s Ü b e r s e t z e r s ! Gerade bei Rom 9,12 zeigt sich die Wahrheit d e s italienischen S p r i c h w o r t s : T r a d u t t o r e ё t r a d i t o r e . ) Hier ist nicht die Rede von Werken d e s G e s e t z e s . Das T u n ( π ρ α £ ά ν τ ω ν ) ist sittlich u n d religiös ambivalent g e s e h e n , so d a ß s o g a r im G r u n d e ein W i d e r s p r u c h zur G e r i c h t s a n s c h a u u n g in Rom 2, die i h r e r s e i t s die theologische V o r a u s s e t z u n g zur R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e in K a p . 3 u n d 4 a u s m a c h t , b e s t e h t . Denn n a c h 2,13 wird Gott die T ä t e r d e s G e s e t z e s g e r e c h t s p r e c h e n ( p a s s i v u m d i v i n u m ) . I n n e r h a l b d e r R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e l a u t e t die A n t i t h e s e έ ξ έ ρ γ ω ν ν ό μ ο υ - έ κ π ί σ τ ε ω ς , " a u f g r u n d von G e s e t z e s w e r k e n - a u f g r u n d d e s G l a u b e n s " , Rom 3,20 f f . Zwei menschliche V e r h a l t e n s w e i s e n w e r d e n als sich e i n a n d e r a u s s c h l i e ß e n d e n t g e g e n g e s t e l l t . In Rom 9,12 h i n g e g e n g e h t e s um den G e g e n s a t z Gott - Mensch. Und daß d e r Glaube h i e r n i c h t g e n a n n t i s t , e n t s p r i n g t d e r Gesamtanlage von Rom 9 - 1 1 ^ 6 . i m e r s t e n A b s c h n i t t 9,6-29 i s t , worauf schon hingewiesen w u r d e , vom Glauben keine R e d e . Weder π ί σ τ ι , ς noch π ι σ τ ε ύ ε ι ν kommt v o r . Das Stichwort u n d Leitwort ist " b e r u f e n " , κ α λ ε ΐ ν 3 7 . Es b e g e g n e t e b e r e i t s in V . 7 im passivum divinum κ λ η θ ή σ ε τ α ι im e r s t e n G o t t e s w o r t . Es b e g e g n e t jetzt in V.12 wied e r im G o t t e s p r ä d i k a t " d e r B e r u f e n d e " 3 8 . Es wird noch in 9 , 2 4 . 2 5 . 2 6 b e 36 37

S. auch Kuß, Rom, 709. Damit ist nicht bestritten, daß die καλε С ν-Aussagen des Kap.9 in gewisser Weise - sicher auch von Paulus gewollt - an das έ κ ά λ ε σ ε ν 8,30 anschließen, das seinerseits im strikten Junktim mit έ δ ι κ α ί ω σ ε ν steht. Aber dieses έ δ ι κ α ί ω σ ε ν wird sein Pendant erst in Kap. 10 haben. Die Konzeption von Kap. 9 blendet diesen Aspekt bewußt aus. Daß das die christliche Existenz konstituierende κ α λ ε ΐ ν von 8,30 mit dem das Israel konstituierende κ α λ ε ΐ ν von Kap.9 in Gott selbst koinzidiert (sit venia verbo!), ergibt sich aus der theologischen Gesamtaussage von Rom. 38 Das Gottesprädikat δ καλών begegnet einige Male in Deuterojesaja; jedoch nicht in dem theologisch präzisen Sinn wie in Rom 9 (41,4: αυτήν meint wohl die δ ι κ α ι ο σ ύ ν η aus V.2; anders MT, dazu Elliger, BK.AT XI/1, 104-107; 45,3 und 46,11: Kyros). Als Gottesrede findet sich καλώ oder έκάλεσα im Blick auf Israel (Jakob) öfter ( z . B . 43,1.22; 48,12). Mit Recht verweist K.L.Schmidt, ThWNT III, 491, 25 f f . , auf Dt-Jes für die Herkunft des neutestamentlichen Gebrauchs von κ α λ ε ΐ ν . Doch dürfen die Differenzen zu Paulus nicht übersehen werden. Bei ihm ist nämlich κ α λ ε ΐ ν ein Berufen ins endgültige Heil; denn die Berufenen sind ja die Glaubenden (Verhältnis von Rom 9 zu Rom 10) bzw. die Gerechtgesprochencn und Verherrlichten (Rom 8,30). Dt-Jes kann immerhin 50,2 sagen: έ κ ά λ ε σ α , και. ουκ fiv 6 υπακούων, vgl. auch Jer 7,13: έ κ ά λ ε σ α ϋμας και ούκ ά π ε κ ρ ί θ η τ ε . Zum Gottesprädikat "der Berufende" im Neuen Testament s . auch Delling, Geprägte partizipiale Gottesaussagen, 408 f . , und Gräßer, "Ein einziger ist Gott", 194 f .

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gegnen, um dann in Rom 9-11 (und überhaupt im ganzen Rom) nicht mehr aufzutauchen"*®. Das theologische Stichwort des zweiten Teils 9,30-10,21 ist aber, wie sich später noch zeigen wird, glauben/Glaube. Während also in der Rechtfertigungslehre zu Beginn des Briefes die Darstellung der Glaubensgerechtigkeit von der Darstellung der Sünde präludiert wird, wird in Kap.9-11 die Darstellung der Glaubensgerechtigkeit in Kap. 10 von der Darstellung der göttlichen Berufungsaktivität präludiert. Da die Passage ϊνα . . . καλούντος 9, l i b . 12а als Parenthese aufzufassen ist^O, führt der Hauptsatz V.12b έρρέθη αύτη die Partizipialkonstruktion V . l l a fort: "Als sie noch nicht geboren waren e t c . , wurde ihr (der Rebekka) gesagt: . . . " Die Frage ist aber, ob έρρέθη αύτη Einleitung der Gottesrede V.12c = Gen 25,23 ist. Sowohl in The Greek New Testament als auch in Nestle-Aland 25. und 26.Auflage ist als alttestamentliches Zitat durch Fett- oder Kursivdruck nur hervorgehoben δ μείζων δουλεύσει τψ έλάσσονι, "Der Ältere wird dem Jüngeren dienen". Somit werden dort anscheinend die Worte έρρέθη αύτη δ τ ι als formula quotationis aufgefaßt, wie dies z . B . Ellis (Introduction Formula) 41 und C r a n f i e l d 4 ^ tun. Nun lesen wir aber in Gen 25.23LXX: και είπεν κ ύ ρ ι ο ς αύτη . . . δ μείζων δουλεύσει τφ έλάσσονι. Somit läßt sich das paulinische έρρέθη mühelos als passivum-divinum-Umschreibung von εΓπεν κ ύ ρ ι ο ς aus LXX verstehen und αύτη dann folglich als wörtliche Übernahme aus LXX 43. Eine derartige Annahme fügt sich bestens in unsere bereits erfolgte Auslegung von Rom 9 ein: Paulus argumentiert damit, daß Gott der Rebekka gesagt hat, der ältere ihrer Söhne werde dem jüngeren dienen. Wiederum ginge es dann nicht um ein formales Schriftzitat, sondern darum, daß damals Gott gesprochen hat. Die Aktivität Gottes ist allerdings in diesem dritten Zitat sprachlich nicht durch das Ich Gottes zum Ausdruck gebracht, weder direkt noch indirekt. Aber daß der Jüngere der ist, dem der Ältere dient, ist Ausdruck dafür, daß Gott jenen, nicht aber diesen berufen hat. Insofern meint das Gotteswort letztlich doch, daß Gott auf sein Berufen hinweist. Erst in 9,13 finden wir zum ersten Mal die Formel "wie geschrieben steht", γέγρατιται, die ein nun endlich förmliches Zitat der Schrift einleitet, und zwar, sieht man von der Umstellung der ersten drei Worte ab,

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Allerdings findet sich in Rom 1 1 , 2 9 das S u b s t a n t i v κλησι,ς, B e r u f u n g . Damit ist jedoch das κ α λ ε ί ν a u s K a p . 9 a u f g e g r i f f e n : Das Wort Gottes ist nicht "hingefallen" ( 9 , 6 ) , weil die B e r u f u n g d u r c h Gott, die κ λ η σ ι ς той θ ε ο ϋ , unumstößlich ist ( s . u . ) . So z . B . S c h l i e r , Rom, 289. Ellis, Paul's U s e , 160. C r a n f i e l d , Rom II, 864. I b . 479 e r k l ä r t a u c h C r a n f i e l d : " T h e p a s s i v e avoids the u s e of the divine name: Gen 2 5 . 2 3 h a s 'the LORD said unto h e r ' . " - t r o t z i b . 864! καθώς: P^®, К, A , D; vielleicht ist a b e r d o c h , wie a u c h in Nestle-Aland 25. A u f l . angenommen, καθάπερ, d a s n u r in В b e z e u g t i s t , u r s p r ü n g l i c h .

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ein wörtliches Zitat aus Mal 1,2 f.LXX: τ ό ν ' Ι α κ ώ β ή γ ά π η σ α , τ ό ν δέ Ή σ α ϋ έ μ ί σ η σ α , "Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehaßt". Daß Paulus im Unterschied zu Maleachi, der Liebe und Haß Gottes vor allem auf die Völker der Juden und Edomiter im Blick auf zeitgenössische Ereignisse bez i e h t ^ , die beiden B r ü d e r als Einzelpersonen in die Argumentation hineinnimmt, ergibt sich zwingend aus dem Bezug von V.13 auf V. 10-12. Wenn nach Michel auch Paulus sie als "typische und gleichnisartige Umschreibungen von Völkern"^® v e r s t e h t , dann ist ü b e r s e h e n , daß der Apostel das Volk Israel gerade nicht als geliebt, d . h . b e r u f e n , erweisen will^?. Unbestreitbar steht "ich habe Jakob geliebt" f ü r "ich habe Jakob b e r u f e n " . Möglicherweise hatte Paulus, der mit Deuterojesaja besonders v e r t r a u t war, Jes 51,2 (dort im Blick auf Abraham) vor Augen g e h a b t : έ κ ά λ ε σ α α υ τ ό ν . . . κ α ι ή γ ά π η σ α α υ τ ό ν , "ich habe ihn b e r u f e n . . . und ihn geliebt". Was aber heißt in dem Maleachi-Zitat "ich habe Esau gehaßt"? Nach Wilckens meint "lieben" Erwählung und "hassen" Verwerfung; Paulus s t e u e r e also auf eine doppelte Prädestination, freilich im heilsgeschichtlichen Sinn, Findet sich also jetzt endlich die bisher vielleicht doch implizit gegebene Vorstellung von der Verwerfung Israels durch Gott? Auch Michel setzt Hassen mit Verwerfen gleich. Es gehe bei Lieben und Hassen nicht um einen Komparatives, "sondern um einen a b soluten, sogar in der Geschichte erkennbaren Gegensatz im Sinn einer echten Prädestination". Aber sofort schwächt Michel a b : Man d ü r f e nicht ü b e r s e h e n , daß in dieser geschichtlichen Prädestination die Nichterwählung und die Verwerfung "im Schatten der Erwählung, der Gnade und der Liebe stehen"; schließlich halte Paulus "grundsätzlich ein volles Ja zum geschichtlichen Vorrecht Israels" in Rom 9,1-5 bei. Also sei 9,6-13 nicht als Aufhebung oder Korrektur von 9,1-5 zu sehen^O. Käsemann 45

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So wohl mit Recht Rudolph, ΚΑΤ XIII/4, 255: Die bereits über Edom hereingebrochene Katastrophe und die Verschonung Judas sind "Tatsachen als Beweis für Jahwes Liebe zu seinem Volk"; anders Horst, HAT 1/14, 264 f . , der mit Hilfe einer Konjektur eine "Ansage kommenden Geschehens" annimmt. Michel, Rom, 303; s. auch Schmidt, Rom, 162. S. z . B . auch Lietzmann, Rom, 91: " . . . daß nicht eigentlich die Prädestination des einzelnen Menschen, sondern die ganzer Völker das Thema des Paulus ist . . . " Aber am Beispiel des einzelnen soll doch das Thema des ganzen Volkes (nicht der Völker!) illustriert werden! Wilckens, Rom II, 195; auch Dinkier, Prädestination, 254, spricht von prädestinatio gemina; sie werde an den Beispielen der Söhne Abrahams, der Zwillinge Rebekkas und am Pharao aufgezeigt. Zu Dinkier s . u . Gen 29,31.33 meint das hebr. Wort für "hassen" (NJüi) im abgeschwächten Sinn "zurücksetzen": Jakob hat die Lea der Rachel gegenüber zurückgesetzt. Michel, Rom 303 f . ; daß auch Cranfield, Rom II, 481, den radikalen Gedanken des Paulus abschwächt, war zu erwarten: "According to Scripture, God distinguished, in the working out of His purpose, between Isaac and Ishmael and between Jacob and Esau. But this was distinguishing inside the general area of election, since, although there were not Israelites, offspring of Jacob, Ishmael was a son of Abraham . . . , and Esau was one of the twin sons of Isaac, that son of Abraham in whom Abraham's seed was to be reckoned."

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wehrt sich jedoch energisch gegen jeglichen Versuch einer Abschwächung: "so darf man auch nicht schon hier von c . l l her die Verwerfung als geschichtlich begrenzt erklären . . . " 5 1 . Käsemann hat recht, wenn er eine Auslegung unserer Passage von solchen Stellen her ablehnt, in denen die Härte der Aussage von 9,13 aufgeweicht wird. Wir haben bereits im Anschluß an die Auslegung von 9,6-9 in der Auseinandersetzung mit Cranfield auf dem insistiert, was Paulus zunächst einmal sagt. Wilckens, der in diesem Zusammenhang noch einmal zu nennen ist, stellt zum Abschluß seiner Auslegung von 9,6-13 die Frage, ob Gott, wenn er in der Weise von 9,6 ff. auswählt und verwirft, nicht doch das ungläubige Israel in der Freiheit seines Prädestinationshandelns verworfen habe. Zumindest entstehe "der Anschein, Paulus wolle darauf hinaus, daß sich im Unglauben der gegenwärtigen Juden herausstelle, daß Gott sie bereits zuvor verworfen habe, und sie daher den Ehrennamen Israel zu Unrecht trügen"52. Aber Wilckens praktiziert dann genau das, was Käsemann unter allen Umständen verhindern will, nämlich die Erklärung von 9,6-13 durch Kap. 11: Dieses Kapitel werde zeigen, "daß dies nicht die Lösung ist, die Paulus letztlich auf das Problem Israel zu geben hat"53. Wenn ich Wilckens richtig verstehe, sagt er, daß nach 9,10-13 Gott zwar den Esau damals verworfen hat, jetzt aber die ungläubigen Juden nicht verworfen hat. Aber dient denn nicht 9,6 ff. der Erhellung der Situation des zeitgenössischen Judentums, wie Paulus es sieht? Richtig stellt Otto Kuß, der 9,13 in keinerlei Weise abgeschwächt sehen möchte^, heraus, daß die Auswertung der jüdischen Geschichtslegenden durch Paulus in 9,6-13 einem ganz bestimmten Beweisziel dienen will: "was heute geschieht . . . , das hat Analogien in der 'heiligen Geschichte'"55, Wir werden also daran festhalten müssen: Wenn Paulus im Blick auf Judenchristen und Juden auf Jakob und Esau verweist, dann ist für ihn die Situation Esaus die der Juden, wie die Jakobs die der Judenchristen ist. Dann aber kann die Konsequenz nur heißen, so hart dies auch klingen mag: Ich habe Esau gehaßt - ich hasse heute die ungläubigen Juden. Aber damit ist unsere Frage noch nicht beantwortet, was denn nun in diesem Zusammenhang "hassen" meint. Ohne Schwierigkeit läßt sich im Rahmen des Argumentationsgefälles von 9,6 her in negativer Weise sagen: Ich habe Esau nicht berufen - ich habe die jetzt ungläubigen Juden nicht berufen. Von Verwerfen ist aber in 9,6-13 expressis verbis nirgends die Rede. Sollte man diesen Tatbestand nicht als solchen erst einmal zur Kenntnis nehmen? Es wäre jetzt ein Leichtes, auf 11,1 f. zu verweisen und zu sagen: Weil Paulus dort ausdrücklich auf das Energischste abwehrt, Gott habe

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Käsemann, Rom, 255. Wilckens, Rom II, 196. Ib. 197; Wilckens hebt eigens "nicht" im T e x t durch K u r s i v d r u c k h e r v o r ! Kuß, Rom, 714. Ib. 715.

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sein Volk verworfen (άπώσατο), vermeide er hier dieses Wort. Vielleicht, daß wir nachher bei der Auslegung dieser Stelle derartiges sagen werden. Aber widerstehen wir der Versuchung, jetzt schon auf Kap. 11 zu schielen, und stellen wir nur fest: Paulus vermeidet anscheinend geflissentlich, in 9,6-13 von "Verwerfen" zu sprechen. Er spricht von "Berufen". Er suggeriert, daß andere nicht berufen sind, ohne auch nur einmal dieses Verb in negierender Weise zu verwenden. Vielleicht will er dann auch noch darüber hinaus seine Leser dazu bringen, daß sie von sich aus die Frage stellen: Ist also das ungläubige Volk Israel von Gott verworfen? Hat Gott sein Volk verworfen? Begnügen wir uns einstweilen damit, daß wir sagen: Auf keinen Fall hat Paulus klar zum Ausdruck gebracht, daß Gott die Nichtberufenen verworfen hat^5a. Was die Argumentation bis V.13 angeht, so bleibt die Frage offen. Sie kann im Augenblick weder endgültig bejaht noch endgültig verneint werden. Unsere eingangs formulierte Leitfrage lautete, ob Paulus seine Israelaussagen mit der Schrift begründet - ob er also seine Israelaussagen nur deshalb vorträgt, weil ihn allein die Autorität der Schrift dazu ermächtigt oder ob er nur mit Hilfe der Schrift bestätigt, was er auch unabhängig von ihr von der Evangeliumsverkündigung her sagen würde. Stellen wir diese Frage jetzt im Blick auf das Zitat Mal 1,2 f . : Hat es begründende Funktion? Und falls ja, was begründet es? Allgemein wird angenommen, daß die Zitatenkombination Gen 25,23 und Mal 1,2 f . jener rabbinischen Methode entspricht, nach der für die Beweisführung einem Torahzitat ein Prophetenzitat f o l g t D a m i t ständen wir aber vor dem merkwürdigen Tatbestand, daß da, wo zum ersten Mal durch eine auch bei den Rabbinen übliche formula quotationis^ ein Schriftzitat förmlich eingeführt wird und die formula quotationis will ja in der Regel ein mit Schriftautorität versehenes und somit begründendes Zitat einführen - , dieses, das, was zuvor gesagt wurde, gar nicht begründen kann. Denn zuvor steht ein Wort Gottes. Und ein Gotteswort mit einem Schriftzitat zu begründen wäre doch wohl ein reichlich absurdes U n t e r n e h m e n ! Wollte man aber darauf 55a Oesterreicher, Israel's Misstep and Her Rise, hat sich, soweit dies in einer kurzen Studie von etwa 10 Seiten möglich ist, bemüht, dem dialektischen Vorgehen des Paulus zu folgen. Ohne daß hier das Gespräch und die Diskussion mit Oesterreicher möglich ist, sei doch hervorgehoben, daß er einen wertvollen Beitrag zur Exegese von Rom 9-11 geleistet hat. Zur Frage, ob Gott sein Volk verworfen habe, lesen wir ib. 320: "His question is: 'How does God's redemptive will accomplish its purpose? How will creation be soaked in His glory?' As he asks the question, he sees that part of Israel which refuses to move with the great messianic current temporarily suspended or inactivated. I repeat, inactivated and not rejected." Allerdings begründet er dies, indem er sofort auf Rom 11,2 verweist, nicht aber aus der Exegese von Rom 9,6-29. 56 So z . B . Michel, Paulus und seine Bibel, 33; Käsemann, Rom, 255; Wilckens, Rom II, 195^ 57 Bacher, Terminologie I, 88 f f . ; II, 91 f f . ; Hübner, Art. γραφή, EWNT I, 630. 58 Selbst wenn man "wie geschrieben steht" nicht nur auf das Gen-Zitat, sondern auf V. 10-12 insgesamt bezöge, würde sich in dieser Hinsicht nichts ändern, denn "ihr wurde gesagt" ist der Hauptsatz der ganzen Satzperiode.

- 30 aufmerksam machen, daß doch das Mal-Zitat ein Ich-Wort Gottes b r i n g t , so würde dies besagen, daß nach dem Wortlaut von Rom 9,10 f f . das zu Rebekka gesprochene Gotteswort durch die Autorität des geschriebenen Gotteswortes gedeckt wäre. Dann hätte es Gott nötig, sein eigenes gesprochenes Wort durch ein Schrift wort zu autorisieren. Denn das Problem ist ja, daß das aus der Gen entnommene Wort zu Rebekka nicht als förmliches Schriftwort e i n g e f ü h r t wird, sondern n u r und erst das aus Mal entnommene Wort G o t t e s ^ . Daß das b e t o n t e ^ und in der Argumentation von 9,6 an zum ersten Mal hier begegnenede "wie geschreiben s t e h t " , auffallen muß, wird vollends k l a r , wenn man b e d e n k t , was Michel im Anschluß an George Foot Moore 6 1 h e r a u s h e b t : "Man stellt also Stellen aus allen S c h r i f t g a t t u n gen zusammen, nicht um die Thora von Nebiim und Kethubim beglaubigen zu lassen, sondern um zu zeigen, wie die Schrift die Stelle durch Wiederholung b e s t ä t i g t . " 6 2 Heinrich Schlier d ü r f t e dem, was Paulus wirklich wollte, sehr nahe kommen. In seiner Auslegung von 9,11 f . spricht er wohl von der "Schriftstelle" in V.12b; aber der Akzent seiner Interpretation ist darauf gesetzt, daß Rebekka gegenüber das schöpferische Wort Gottes e r g i n g . "Und dieses wurde ihr gesagt . . . , so daß die verheißene Herrschaft des J ü n g e r e n ü b e r den Älteren . . . allein in der Freiheit des souveränen Gottes b e g r ü n det w a r . " 6 3 Und zu V.13 wird wiederum auf die Freiheit des souveränen Gottes abgehoben, die durch das prophetische Stichwort b e k r ä f t i g t wird 6 ^. Was b e k r ä f t i g t wird, ist also nach Schlier nicht eine Schriftstelle durch eine a n d e r e , sondern die im gesprochenen Wort sich manifestierende Freiheit Gottes durch eine Schriftstelle· Wiederum ist es die Nuance, die beachtet sein will. Es ist aber gerade diese, auch von Schlier so k r ä f t i g herausgestellte, Freiheit des in der Geschichte Israels souverän durch B e r u f u n g wirkenden Gottes, die in dem erneuten "Ich" Gottes des Mal-Zitats ihren a n g e messenen Ausdruck f i n d e t . Auch da, wo Paulus - endlich! - das förmliche,

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Nur am Rande sei vermerkt, daß die Anwendung des aramäischen 3'riD gerade an der Spitze von Proömien zur Einführung des Proömiumtextes dort geschieht, wo der Urheber der betreffenden Deutung nicht genannt ist, Bacher, Terminologie II, 91. 60 Vgl. Cranfield, Rom II, 479: "The use of κ α θ ά π ε ρ , 'a slight literary touch', perhaps gives just a little extra emphasis to solemnity with which the following scriptural quotation is introduced to conclude this stage of the argument." Aber der Eindruck von "solemnity" bleibt auch, wenn mit Nestle-Aland 26. Aufl. καθώς zu lesen wäre. 61 Moore, Judaism I, 239 f . 62 Michel, Paulus und seine Bibel, 84; s . auch ders. , Rom, 303: Mal 1,2 f . dient "als Bestätigung (Hervorhebung von mir) des Genesiszitates, als Abschluß und Höhepunkt unseres Abschnittes"; nach Schmidt, Rom, 162, wird das erste alttestamentliche Wort durch ein zweites Zitat ergänzt. 63 Schlier, Rom, 293; Hervorhebung durch mich. 64 Ib. 293.

- 31 das formale Schriftzitat bringt, liegt alle Betonung auf diesem Ich Gottes. Durch das geschriebene Prophetenwort bekräftigt Gott sein Berufen und sein Nichtberufen. Es wäre nun falsch, wollte man das geschriebene Schriftwort in irgendwelcher Konkurrenz zum gesprochenen Gotteswort sehen. Denn zum einen ist für Paulus auch dieses gesprochene Gotteswort in der Schrift aufbewahrt. Und zum anderen ist ja, wie sich soeben zeigte, das Schriftwort gerade an dieser Stelle schriftlich fixiertes Gottes-Wort. Daß bereits im so kurzen Argumentationsduktus Rom 9,6-13 von vier Zitaten in zweien Gott in direkter Weise im Ich-Stil redet, eins in indirekter Weise durch passivum-divinum-Umschreibung das Ich Gottes zum Ausdruck bringt und eins in indirekter Weise Gottes Handeln artikuliert, zeigt in aller Deutlichkeit, wie sehr Paulus, wenn es ihm um Israel geht, von Gottes Berufen, besser noch: vom berufenden Gott her denkt. Schließlich weiß er sich selbst als den von Gott Berufenen (Gal 1,15 ! ) . Gerade er als "berufener Apostel", κλητός Απόστολος, (Rom 1,1; 1 Kor 1,1), der als solcher zu jenem Israel gehört, das berufen ist, also zum eigentlichen Israel von Rom 9,6, kann nicht in distanzierter Neutralität von Gottes Berufen sprechen. Er als selbst Berufener will klarmachen: Wer begreifen will, was Israel ist, muß zuvor begreifen, was Berufung durch Gott ist! In κληθήσεται 9,7 und dann vor allem in dem thematisch dominierenden έκ τοϋ καλούντος 9,12 hat er unmißverständlich den Grundakkord seiner Israeldarlegungen erklingen lassen. Haben wir soeben auf den berufenen Apostel Paulus aufmerksam gemacht, der vom berufenen Israel spricht, so müssen wir doch eine gewisse Einschränkung vornehmen. Denn wir müssen "berufen" und "berufen" ein wenig voneinander unterscheiden, nämlich den "breiter gestreuten Begriff κλητός", in dem sich "Kernelemente biblisch-christlichen Existenz- und Heilsverständnisses erkennen" lassen, von "Gottes souveräne(m) Berufen in der Geschichte Israels" Rom 9,12 f.65. Denn es zeigte sich ja bereits, daß in Rom 9-11 Gott als der in der Geschichte Israels Berufende zunächst nicht im Rahmen der paulinischen Rechtfertigungslehre ausgesagt wurde®®. 1.2.1 Theologischer Exkurs: Berufender Gott berufener Mensch Von entscheidender Wichtigkeit ist das Gottes- und Menschenverständnis des Paulus, das sowohl in der Berufungstheologie der Israelreflexion von Rom 9-11 als auch in den Berufungsaussagen der Rechtfertigungstheologie der Paulinen (vor allem Rom 8,30) zum Ausdruck kommt: Der Mensch ist vom berufenden, vom ansprechenden Gott her verstanden; der Mensch ist der auf Gottes Berufen und Rufen Hörende. Menschsein ist Berufensein und 65 66

E c k e r t , A r t . καλέω, EWNT II, S. Anm.35.

597.

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Angesprochensein durch Gott. Gott sagt "Ich" und der Mensch vernimmt darin, daß Gott ihn, den Menschen, meint. Sehr schön schreibt Gräßer: "Für (den Pharisäer [Phil 3,5] und späteren Apostel) Paulus ist 'Gott' in der definitiven Weise einer Selbstprädikation als der "Ich bin da" (Ex 3,14) die fraglose Voraussetzung, von der seine theologischen Gedanken a u s g e h e n , nicht aber der f r a g - w ü r d i g e Gegenstand, den sie denkend umkreisen. Indem aber Gott durch sein Ich, das er s p r i c h t , zum Du des Menschen wird, wird dieser e r s t damit im eigentlichen Sinne zum menschlichen Ich. In diesem Sinne kann vom Menschen mit Martin Buber gesagt werden: "Ich werde am Du . . . Alles wirkliche Leben ist Begegnung."68 Aber es darf auch gewagt werden, von Gott zu sagen, er "werde" am Du des Menschen, insofern er dadurch zum Gott des Menschen wird, daß er zu diesem sein "Ich" sagt und so zu dessen Du wird69. Dieses "Werden" Gottes als ein f ü r den Menschen Gott-Werden Gottes ist freilich in der Ewigkeit b e g r ü n d e t , wie Paulus mit der Wendung "Gottes erwählende Vorherbestimmung" in Rom 9,11 zeigt. "Was in der Ewigkeit beschlossen i s t , vollzieht sich in der Geschichte"70. Sofort mag der Einwand kommen, daß ja dann der nichtberufene Mensch nicht Mensch sei, wenn Menschsein als Berufensein bestimmt wird. Doch wäre dieser Einwand n u r dann b e r e c h t i g t , wenn es um eine allgemein gültige anthropologische oder philosophische Definition des Menschen ginge. Paulus aber denkt in seiner Theologie nicht allgemein von einer a b s t r a k t e n Definition des Menschen h e r . Er denkt vielmehr sehr konkret von jenem Menschen h e r , dem sich Gott zugewandt h a t . Anders gesagt: Er denkt vom Heilsgeschehen h e r und somit von dem Menschen h e r , dem Heil in Christus widerfahren i s t . Stellte jemand die Frage nach dem n i c h t b e r u f e nen oder nichtgerechtfertigten Menschen, so würde Paulus antworten, daß er u n t e r der menschenverneinenden Macht der Sünde, der Hamartia, exis t i e r t . Denn die Hamartia ist jene Macht, die den Menschen zum Nichts

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Gräßer, "Ein einziger ist Gott", 180 f. Buber, Ich und Du, in: Das dialogische Prinzip, 15, hier freilich nur im Blick auf innermenschliche Begegnung gesagt; S.76 f f . geht es um das ewige Du; doch liegt hier der Akzent auf dem Du, das der Mensch zu Gott spricht, nicht aber auf Gottes Ich. 69 Ib. 83 sagt Buber, Gott brauche den Menschen "- zu eben dem, was der Sinn deines Lebens ist"; "welch ein trübes und überhebliches Gerede, das vom 'werdenden Gott1 - aber ein Werden des seienden Gottes ist, das wissen wir unverbrüchlich in unserem Herzen. Die Welt ist nicht göttliches Spiel, sie ist göttliches Schicksal". Natürlich ist das keine Paraphrase von Rom 9-11 der IchDu-Philosophie; aber Paulus und Martin Buber sprechen hier in der gleichen Tradition personalen Denkens. Gerade darin haben beide die gleiche alttestamentliche Vergangenheit. 70 Michel,"Rom 303; s. auch ib. 289: "Jedes entscheidende Handeln Gottes in der Geschichte des Menschen hat seinen Ursprung und seine Grundlage in der Ewigkeit."

- 33 macht, zum Nichts im Blick auf sein Sein vor Gott. Für Paulus ist der Mensch immer nur in der Beziehung zu Gott wirklich. Wo aber die Beziehung zu und die Begegnung mit Gott für den Menschen, dessen "Wesen" ja durch diese Relationalität bestimmt ist, zerstört sind, da ist der Mensch zerstört. Zu sagen, daß Paulus den Menschen vom Berufensein her versteht, heißt also nicht, daß seine theologische Anthropologie inhuman sei, weil sie den nichtberufenen Menschen nicht als Menschen gelten lasse. Im Blick auf den nichtberufenen Menschen denkt Paulus überhaupt nicht daran, eine "Wesens"-Bestimmung zu geben. Er spricht vielmehr vom "Wesen" der ihn vernichtenden Macht^l. Paulus klagt diese Macht an. Paulus deckt das verheerende Wirken dieser Macht auf, einer Macht, die gerade der J u de nicht als Macht durchschaut hat ( s . u . ) . Diese den Menschen vernichtende Macht läßt sich im Sinne des Paulus als Macht des Nihilismus interpretieren. Sagen wir es mit einem von Martin Heidegger entlehnten Wort, das wir hier in einem anderen Sprachspiel, nämlich einem theologischen, verwenden: Die Sünde als Hamartia ist die "nichtende" Macht. So radikal, wie einst Heidegger als Philosoph sagte "Das Nichts selbst n i c h t e t " ^ , so radikal denkt Paulus als Theologe, wenn er die Harmatia als nichtende Macht darlegt. Es ist das Sein des Menschen coram Deo, was genichtet ist. Auf dieser dunklen Negativfolie der Heil-losen Welt der Hamartia bekommt die paulinische Anthropologie, die den Menschen von seinem Berufen sein her versteht, erst ihr Aussageprofil. In dieser Heil-losen Welt zählt nur,

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Könnte man aber nicht sagen, Paulus bestimme dort das "Wesen" des Menschen unter der Hamartia, nämlich als S a r x , als Fleisch? Aber fassen wir Sarx als den je individuellen Ort der Hamartia - jedenfalls ist das eine Grundbedeutung innerhalb des Bedeutungsspektrums des paulinischen Gebrauchs dieses B e griffs so geht es doch wieder mehr um eine Beschreibung dieses Menscher, von außen h e r . Während Gottes Berufen den Menschen zu dem macht, was er als Mensch ist, bestimmen Hamartia und Sarx ihren Menschen dahingehend, daß er sich als Mensch verliert und so dem Tod, dem theologisch qualifizierten Thanatos, preisgegeben i s t . Beide Unheilsmächte machen so diesen Menschen zum Nicht-Menschen, zu seiner eigenen Negation. Insofern aber nun die Sarx nicht ausmacht, was der gott-lose Mensch i s t , wird man nicht in gleicher Weise, wie man vom berufenen Menschen sagt, sein Sein sei Berufensein, vom nichtberufenen Menschen sagen können, sein Sein sei S a r x . Wenn man will, kann man hier von einer gewissen Asymmetrie in der Theologie des Paulus sprechen. Doch sie ergibt sich nur für den, der paulinisches Denken von außen erfassen will, d . h . sich damit begnügt, paulinische Theologie als ein S y stem objektivierenden Denkens zur Kenntnis zu nehmen. Aber so anspruchslos sollten wir nicht sein! Auch Karl Barth spricht von Asymmetrie im Blick auf die Theologie des Paulus in Rom 9-11 (KD 11/2,246: "höchste Asymmetrie"). Doch versteht er den Begriff um eine Nuance anders als es hier der Fall i s t . Er meint eine Asymmetrie im Inhalt der paulinischen Theologie, hier ist aber eine Asymmetrie in der Konzeption der paulinischen Theologie gemeint.

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Heidegger, Was ist Metaphysik?, 34; radikal ist die Aussage, weil die Nichtung weder Vernichtung des Seienden i s t , noch sich in Vernichtung und Verneinung aufrechnen läßt.

- 34 was Gott tut. Die Sünde zählt dann eben nicht. (Was nicht heißt, daß Paulus die Sünde nicht ernst nähme!). Daß freilich die Sünde in 9,6 f f . nicht reflektiert wird, mag uns zunächst ungereimt vorkommen. Immerhin kommen wir, wenn wir Kap.9 lesen, schon von 1,18-3,20 und 5,1221 h e r . Daß Paulus in diesen Abschnitten die Zeit vor Christus, auch und gerade die Zeit Israels, anders darstellt als in 9,6 f f . , mag unser Bedürfnis nach Stimmigkeit von Theologie nicht befriedigen. Aber er bringt durch die "Unstimmigkeit" seiner einzelnen theologischen Facetten ein klein wenig von dem zum Ausdruck, daß Theologie nicht als in einer einzigen Dimension verrechenbar konstruiert werden kann. Das Problem wird uns noch weiter beschäftigen, vor allem, wenn das Verhältnis von Kap.9 und 10 zueinander zu bedenken i s t . Angedeutet wurde ja davon schon ein wenig. Hat sich gezeigt, daß die Berufungsaussagen für Israel Rom 9,6 f f . im Rahmen einer bestimmten theologischen Anthropologie gemacht werden, so ist damit auch schon gesagt, von woher für Paulus Gott in den Blick kommt. Wie sich des Menschen Sein vom berufenden Gott her versteht, so ist hier Gott als derjenige in den Horizont reflektierender Theologie getreten, der "Ich" sagt. Er als der den Menschen Berufende kommt so primär als der Gott der Begegnung theologisch zur Sprache. Gottes-"Bild" und Menschenbild entsprechen sich also bei Paulus. Der Apostel entwirft nicht eine Theologie, in der spekulativ über das Wesen göttlicher Souveränität reflektiert wird. Er theologisiert vom selbst vernommenen Ich Gottes her und weiß von diesem Vernehmen her Bescheid um Gott als den Rufenden und Berufenden. Er selbst ist Gerufener und Berufener. Gott aber ist dann erfahrene Souveränität. Gott als Berufender - das ist der Ansatz der Theo-Logie des Apostels. Das ist aber auch der Ansatz seines Schriftverständnisses. Die Schrift ist nämlich für ihn vor allem Ausdruck des sein Ich aussprechenden Gottes. Mag sie auch immer wieder von Gott sprechen, so besitzt sie doch dort ihre eigentliche Kraft - sagen wir ruhig: Wucht - , wo Gott sein Ich in ihr machtvoll ausspricht. So erhält sie von daher ihre Autorität, mag auch Paulus vielleicht nicht darüber reflektiert haben, daß Schriftautorität die vom autoritativen Ich Gottes abgeleitete Autorität ist. Gerade die Tatsache, daß Paulus so .unbefangen mit den IchWorten Gottes theologisch operiert und sie in ihrem Ich-Charakter anführt, ehe er endlich die formale Autorität der Schrift bemüht, zeigt, wie sehr er in seinem ganzen Denken und Trachten Theologe jenes Gottes ist, der "Ich" sagt. Gott ist für Paulus begegnendes I c h . Und wurde zuvor gesagt, wer begreifen will, was Israel i s t , müsse zuvor begreifen, was Berufen durch Gott i s t , so kann jetzt theologisch zugespitzt werden: Wer begreifen will, was Israel ist, muß zuvor "begreifen", daß Gott begegnendes Ich i s t . Es mag den Anschein haben, als wäre soeben eine sehr wichtige Fragestellung ignoriert worden, nämlich die, ob denn nun das Gottesverständnis vom berufenden Gott her nicht die Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament zu einseitig betont. Stellt nicht Gräßer in seinem bereits

- 35 erwähnten Aufsatz über die Einzigkeit Gottes zu Recht h e r a u s , daß christlicher Glaube, mag er auch die S t r u k t u r jüdischen Glaubens d u r c h halten (esse in relatione), in der neuen eschatologischen Situation doch etwas a n d e r e s sei als das alttestamentliche Credo 7 ·*? Ist nicht gerade angesichts der totalen Wende durch das Christusereignis zu f r a g e n , "ob auf dem neuen Standpunkt nicht auch das Gottesbild totaliter aliter v e r ä n d e r t ist gegenüber dem a l t e n " 7 4 ? Dazu k u r z zwei Anmerkungen: 1. In dem bisher exegesierten Abschnitt von Rom 9-11 i s t , worauf schon aufmerksam gemacht wurde, bewußt von Paulus das Thema "Glauben" ausgeklammert. Jedoch redet er als Glaubender von seinem christlichen Gottesverständnis h e r "über" Gott in der vergangenen Geschichte Israels. Für seine Überzeugung hat sich aber Gott nicht durch das C h r i s t u s e r eignis v e r ä n d e r t . Eine andere Frage ist es d a n n , ob der christliche Gottesglaube nicht gegenüber dem alttestamentlichen und jüdischen Gottesglauben eine ganz neue Dimension des Wirkens Gottes in den Blick b e kommen h a t . Dann geht es jedoch nicht um die Frage, ob sich Gott v e r ändet h a t , sondern ob sich der Glaube an diesen Gott v e r ä n d e r t h a t . 2. Die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität im Blick auf die Heilsökonomie im Alten und Neuen Bund wird in u n s e r e n weiteren Überlegungen noch eine entscheidende Rolle spielen. In diesem "Theologischen E x k u r s " sind also mit voller Absicht noch entscheidende Fragen von theologischer Brisanz offengehalten 7 4 a . Fortsetzung von 1.2. Noch nicht beantwortet ist die F r a g e , ob in der Sequenz der Zitate in 9,12f. die rabbinisch geläufige Reihenfolge Torahzitat - Prophetenzitat vorliegt. Angesichts dessen a b e r , daß das formal als Schriftzitat so hervorgehobene Mal-Zitat kein formales Gen-, also Torah-Zitat, sondern eine - freilich in der Torah stehende - Gottesrede b e k r ä f t i g t , wird man zumindest Zweifel daran anmelden d ü r f e n , daß Paulus hier genau nach diesem rabbinischen Schema v e r f a h r e n will. Außerdem ist es doch wohl auch auffällig, daß er f ü r das Isaak-Beispiel eine derartige Zitatensequenz nicht b r i n g t , wobei zuzugeben i s t , daß f ü r Isaak ein so schlagendes Wort, wie es Mal 1,2 f . f ü r Jakob h e r g i b t , nicht zu finden i s t . Aber es verdient wohl festgehalten zu werden, daß Paulus auf folgende Weise v e r f ä h r t : Isaak: Jakob:

Torah-Zitat Torah-Zitat

-

Torah-Zitat Propheten zitat

Daß Paulus im zweiten Fall Torah und Propheten als "chain quotation" (Haraz) zitiert, sagt Ellis 1957 in "Paul's Use of the Old Testament" 7 5 .Im selben Werk erklärt er jedoch auch: "In Rom. 9-11 and Gal. 3 Paul employs 73 Gräßer, "Ein einziger ist Gott", 195 f . 74 Ib. 202. 74a Vielleicht mag jemand einwenden, daß die im Exkurs vorgetragenen Überlegungen ein individualistisches Vorverständnis und Verständnis von Rom 9 verrieten. Ein solcher Einwand berücksichtigt nicht, daß Berufung auch von Paulus am Individuum exemplifiziert wird - schon der Jahwist hat es so getan! Die Berufung eines "Kollektivs" geschieht biblisch in der Berufung von Individuen, da Individuen in der Bibel nicht individualistisch verstanden sind. 75 Op. cit. 186.

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the ancient midrashic form of commentary; but his incisive manner and compact, integrated treatment is quite at odds with the rabbinic system. Often to support an opinion the rabbis quote the Law, Prophets and Hagiographa in succession and Paul also adopts this custom on occasion. It is not habitual with the apostle, however, and probably r e p r e s e n t s only an incidental reminiscence." 7 ® 1977 sieht er in seinem Aufsatz "How the New Testament Uses the O l d " ' 7 in Rom 9,6-29 einen Proömium-Midrasch, in dem Gen 21,12 als Eingangstext und Gen 18,18 als zweiter, ergänzender Text zitiert werden. Alle übrigen Zitate aus Rom 9 betrachtet er nach dem Schema dieser Art von Midrasch als bloße zusätzliche Zitate, die mit den Eingangstexten durch Stichworte v e r b u n d e n s i n d 7 8 . Daß in Rom 9 eine Art Midrasch vorliegt, wird man wohl annehmen können. Die umstrittene Frage nach dem Wesen des Midrasch schlechthin soll hier a b e r nicht a u f g e g r i f f e n werden 7 ^. In Anbetracht der Tatsache, daß u n s rabbinische Midraschim erst aus später nachchristlicher Zeit zur V e r f ü g u n g stehen, mächte ich bei der Beurteilung der F r a g e , wie sich die Zitation der S c h r i f t stellen in Rom 9,6-13 einem rabbinischen Schema e i n f ü g t , offenlassen. Die von uns im Augenblick praktizierte Methode, die jeweiligen Zitate in Rom 9-11 textimmanent auf ihre jeweilige Funktion im Argumentationszusammenhang abzuhorchen, steht in der Gefahr, in der jede textimmanente I n t e r pretation notwendig s t e h t . Weiß man aber um die Begrenztheit der eigenen Methode, so ist einiges an Gefahr g e b a n n t . Beginnt mit 9,14 der zweite Teil von 9,6-29? So sehen es fast alle Komment a t o r e n . Käsemann z . B . ü b e r s c h r e i b t 9,6-13 mit "Wer ist T r ä g e r der Verheißung?", 9,14-23 mit "Gottes freie Macht" und 9,24-29 mit "Das vorläufige Ziel göttlicher E r w ä h l u n g " 8 0 , B a r r e t t 9,6-13 mit "God's Elective P u r pose" und 9,14-29 mit "God's S o v e r e i g n t y " 8 1 . Fast alle Kommentatoren gehen auch darin überein, daß sie in 9,14-29 die Freiheit bzw. Souveränität Gottes behandelt sehen und deshalb V. 14-18 zu diesem zweiten Unterabschnitt ziehen. Es gibt aber auch Ausnahmen. Die Herausgeber von The Greek New Testament überschreiben 9,1-18 mit "God's Election of Israel" (ein, milde g e s a g t , s e h r i n t e r p r e t a t i o n s b e d ü r f t i g e r Titel!) und 9,19-29 mit "God's Wrath and Mercy" (eine kaum den Skopus wirklich t r e f f e n d e Formulierung). (Nestle-Aland 26.Aufl. hingegen setzen wieder, wie auch schon zuvor in der 25.Aufl., zwischen V.13 und_ 14 eine größere Zäsur als 76 77 78 79

Ib. 46. Jetzt veröffentlich in Ellis, Prophecy and Hermeneutic, 147-172. Ib. 155; s. auch ib. 218 f. Als erste Hinführung zur Midrasch-Problematik mögen sich anbieten Hanson, Studies, 201 f f . ; Vermes, Scripture; Wright, CBQ 28, 105-138.517-557, und Ellis, Prophecy and Hermeneutic, 151 f f . ; zu diesem Buch von Ellis s. die Rezension von Holtz, ThLZ 106, 419 f . : Hinsichtlich der vom Autor gesehenen sehr engen Anlehnung im Neuen Testament an Auslegungsformen des jüdischen Midrasch könne man wesentlich zurückhaltender urteilen; aber: Das Buch ist "geeignet . . . , besonders im deutschsprachigen Bereich festgeschriebene Positionen zu erschüttern und weiterführende Fragen zu wecken". 80 Käsemann, Rom, 250.257.263. 81 Barrett, Rom, 179.183.

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als zwischen V.18 und 19.) Exegetisch ausführlich v e r s u c h t Montagnini die Zäsur zwischen V.18 und 19 zu b e g r ü n d e n . Ehe wir aber auf dessen Exegese eingehen, erst einige Worte zum Stellenwert der Frage nach dieser Zäsur. Die Frage hat n u r relatives Gewicht; denn von erheblich g r ö ß e r e r Bedeutung ist die übergeordnete Zäsur zwischen 9,29 und 9,30. Kümmel hat klar ausgesprochen, was m.E. u n b e s t r e i t b a r e r Tatbestand ist: "Die in 9,6 begonnene E r ö r t e r u n g der Frage nach Gottes Verhalten endet mit 9,29; 9,30 setzt mit der E r ö r t e r u n g des Verhaltens Israels neu ein."82 Mit Recht macht er gegen Michel und Plag darauf aufmerksam, "daß in 9,30 f . nicht mehr von Gottes Verhalten, sondern von Israels Reaktion die Rede ist"®·*. Für den Neueinsatz in 9,30 f ü h r t er aber auch die Diatribe-Frage τ ί ο δ ν έ ρ ο ϋ μ ε ν ; "Was sollen wir nun dazu sagen?", an, die im Rom immer einen neuen Gedanken einleit e ^ , ohne n ä h e r auf die gleiche Frage in 9,14, also innerhalb des Abschnittes 9,6-29, einzugehen. Eine Untereinteilung in diesem Abschnitt nimmt er nicht vor85. Feiice Montagnini teilt, wie schon g e s a g t , 9,6-29 in seiner stilistischen Analyse in die Abschnitte 9,6-18 und 9,19-29. Zwei "sentenze di stile oracolare" unterteilten wiederum 9,6-18 in zwei "pericopi minori", deren erste in dem Mal-Zitat V.13b und deren zweite in der "enunciazione del principio" V.18 kulminiere 8 6 . Im ersten Unterabschnitt gehe es um die Unterscheidung empirisches und eschatologisches Israel, im zweiten um die souveräne Freiheit Gottes. Während der e r s t e Unterabschnitt mit einer apodiktisch ausgesprochenen These beginne ( " e s p r e s s a in maniera p e r e n t o r i a " ) , werde die These des zweiten mit einer doppelten Frage zum Ausdruck g e b r a c h t . Darin spiegele sich wider, daß es im e r s t e n Fall um das göttliche Wollen und Handeln gehe ("il pensiero biblico ё perentorio quando enuncia il volere divino"), im zweiten a b e r um das Problem, das e n t s t e h e , wenn das göttliche Wollen auf die konkrete Situation stößt^?. Das Resultat schließlich: In Analogie zu 1 Kor 7,10.12, wo Paulus zwischen dem, was der H e r r , und dem, was e r selbst sagt, hinsichtlich des Autoritätsgrades u n t e r s c h e i d e t , erklärt Montagnini: " . . . la sentenza della Scrittura (che per Paolo ё poi de Signore in persona . . . ) chiude definitivamente il problema . . . ; la sentenza dell' Apostolo, al contrario, non ha valore altrettanto conclusivo , . . " 8 8 . Die literarische Analyse habe also zu einem ersten Schluß großer Wichtigkeit g e f ü h r t : Die tragende Achse des Gedankens ("l'asse portante del pensiero") des Paulus sei in den biblischen Zitaten gegeben, während seine Bemerkungen und Kommentare ("le 82 83 84 85 86 87 88

Kümmel, Die Probleme von Römer 9-11, S.1.8. Ib. 18, Anm. 19. Ib. 18, Anm.19. Ib. 18, Anm. 19, nennt er allerdings diese Stelle. Montagnini, Elezione e libertä, 67. Ib. 68 f . Ib. 70.

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chiose e i commenti") im Argumentationsganzen nur "eine untergeordnete Funktion" besäßen89. Daß Montagnini also genau unsere Frage nach der Funktion der alttestamentlichen Zitate beantworten will, hat sich gezeigt. Deshalb auch das ausführliche Eingehen auf seinen "esame stilistico". Inwiefern seine stilistische Analyse und die daraus gefolgerten theologischen Schlüsse zutreffen, wird sich bei der Exegese von 9,14-18 zeigen müssen. Daß ein gewisser Neuansatz mit der Diatribe-Frage von 9,14 vorliegt, wird niemand bestreiten. Daß aber gerade diese Fragen den unmittelbar zuvor geäußerten Gedanken - Israel ist, wer als Israel berufen ist; Israel ist nicht, wer als Israel nicht berufen ist - aufgreift bzw. den sich fast mit Notwendigkeit aus diesem Gedanken ergebenden Einwand einleitet, liegt ebenso auf der Hand. Wenn Gott bereits "liebt" und "haßt", ehe der Geliebte und der Gehaßte auch nur irgendetwas Gutes oder Böses getan haben, so meldet sich ja für menschliches Denken und Rechtsempfinden die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes: Ist dann Gott nicht in der Tat ungerecht? Mit Käsemann ist άδικ ί α als "richterliche Ungerechtigkeit" zu verstehen90; denn mag auch die Rechtfertigungslehre, in der diese Bedeutung ihren begrifflichen Ort besitzt, nicht in Kap. 9 unmittelbar thematisiert sein ( s . o . ) , so gibt sie doch für den Fragenden - sei er fiktiv oder nicht - den weiteren Horizont ab: Wie kann Gott einen Menschen, der nicht Schuld an seiner Nichtberufung hat, verurteilen? Ob sogar im Sinne des Paulus dieser Frager bereits so weit denkt, daß der, welcher schon vor seiner Geburt als Nichtberufener prädestiniert ist, aufgrund eben dieser Nichtberufung der Schuldige sein wird und sich somit auch das Problem von Gottes Gericht notwendig stellen wird, kann nicht mit letzter Sicherheit bejaht werden, ist aber wohl anzunehmen. Dann würde Gott in seiner richterlichen Tätigkeit im Endgericht ausgerechnet jene Schuld verurteilen, die er selber durch Prädestination verschuldet hat ein nicht zu überbietendes Zerrbild von "Gerechtigkeit"! Aber der Apostel läßt den so naheliegenden Einwand nicht gelten. Er schmettert ihn mit dem bekannten μή γ έ ν ο ι τ ο , "Gott bewahre!", energisch ab. Und er begründet dann seine so entschiedene Ablehnung mit zwei Zitaten, denen gemeinsam ist, daß sie - wiederum! - das Ich Gottes in der 1.Person Singular aufweisen, die aber mit auffällig unterschiedlichen formulae quotationis eingeführt werden.

89 90

Ib. 70. Käsemann, Rom, 257; so weithin von der Lit. akzeptiert. Abgelehnt wird diese Deutung von Schmidt, Rom, 164, mit der Begründung, Paulus denke nicht an den richtenden, sondern an den souverän und unprovoziert handelnden Gott. Das stimmt im Blick auf die paulinische Argumentation in Kap.9. Aber der Einwand in V. 14 ist ja ein Einwand gegen Paulus. Nur als solcher kann er überhaupt auf der Ebene der Diskussion über Gott als den Richter erhoben werden. Darüber hinaus: Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es sich um einen Einwand auf dieser Ebene handelt.

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Die erste Begründung ist fast wörtlich aus Ex 33.19LXX genommen: "Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich nun einmal erbarmen will. Ich werde Mitleid haben, mit wem ich nun einmal Mitleid haben will."91 In diesem Zitat ist also nur "ich habe Jakob geliebt" aus Mal 1,2 f. aufgegriffen. Mit ihm ist die Freiheit Gottes zum Lieben begründet; von der Freiheit Gottes zum Haß ist aber hier keine Rede. С ranfiel d kommentiert deshalb: " . . . not of the freedom of an unqualified will of God, but of the freedom of God's mercy. These words of Exodus . . . do not suggest that this freedom of God's mercy is an absolute freedom either to be merciful or to be unmerciful. "92 Aber begründet Paulus nicht den zweiten Teil aus dem MalZitat "ich habe aber Esau gehaßt" mit dem zweiten Zitat in 9,14-18? In diesem Zitat wird jedoch gesagt, daß es zur souveränen Freiheit Gottes gehört, sich nicht nur zu erbarmen, wessen er sich erbarmen will, sondern auch zu verhärten, wen er verhärten will. Er erbarmt sich also nicht, wessen er sich nicht erbarmen will! Versucht also Cranfield eine Verharmlosung der so harten Aussage des Paulus, eine Verharmlosung, die gerade nicht im Aussagegefälle von 9,14-18 liegt? An beide Schriftzitate fügt Paulus je eine Folgerung an, die formal darin übereinstimmen, daß sie mit άρα οδν eingeleitet werden. Dieses für Rom so charakteristische άρα οδν 93 verstärkt einfaches άρα, so daß man es am besten übersetzt: "Also ist es unbestreitbar so, daß . . . " Bereits für das einfache άρα gilt im klassischen Griechisch (dort άρα οδν noch unbekannt), daß es - im Sinne von "also", "folglich", (igitur) - "Behauptungen" zum Ausdruck bringen kann, "die als verstandesmäßige unmittelbare Folgerungen aus dem Vorhergehenden . . . erscheinen"; vor allem bei Plato findet es sich dann "in ausgeprägt syllogistischer Verwendung (folglich, ergo)"94. sind aber 9,16 und 9,18 unmittelbare Folgerungen, geradezu unmittelbar evidente Folgerungen aus den beiden Zitaten, so wird man bereits angesichts dieses Sachverhalts Zweifel daran hegen, daß ihnen mit Montagnini lediglich "una funzione subordinata" zugebilligt werden kann. Steuert nicht Paulus sehr bewußt auf diese Aussagen als Fazit seines Beweisganges zu? Doch untersuchen wir erst noch genauer, wie Paulus in V. 17 Ex 9,16 zitiert, jenes alttestamentliche Wort also, das als die zweite Begründung zur Abweichung des in V.14 genannten Einwands dient. 91 92

93 94

Die Konjunktive έ λ ε ώ und о Сит С ρω im iterativ-hypothetischen Relativsatz mit άν lassen sich hier gut mit "ich will mich erbarmen" und "ich will Mitleid haben" übersetzen. Cranfield, Rom II, 483; äußerst unwahrscheinlich ist seine Vermutung, daß Paulus Ex 33,19 als "explicatory p a r a p h r a s e of the 'ehyeh ' a s e r 'ehyeh of Exod 3,14" verstehe, ib. 483. Denn LXX übersetzt Ex 3,14 mit έγώ είμι. ί> ων und Paulus argumentiert zumeist mit LXX - und außerdem zitiert er nirgends diese Stelle. άρα findet sich in den echten Paulinen 25mal, davon llmal in Rom, άρα οδν in den echten Paulinen lOmal, davon 8mal in Rom! Kühner/Gerth II/2, 320.322; Hervorhebung von mir; dort auch Beispiele; s . auch Horstmann, Art. ά ρ α , EWNT I, 356-358.

- 40 Das Zitat Ex 9,16 in 9,17 stimmt weder ganz mit MT noch ganz mit LXX überein. Die Abweichung gerade von LXX ist bezeichnend: Das mehr farblose ε ν ε κ ε ν τ ο ύ τ ο υ , "deswegen", wird zum betonten ε £ ς α υ τ ό τ ο ϋ τ ο , "zu genau diesem Zweck". Vor allem a b e r wird die 2.Person Singular δ ΐ - ε τ η ρ ή θ η ς "du bist erhalten geblieben", in die 1.Person Singular έ ξ ή γ ε ι ρ ά σ ε , "ich habe dich geschichtlich a u f t r e t e n lassen"95, umgewandelt. Dabei lehnt sich diese Umwandlung an MT an; denn auch dort findet sich die 1.Person Singular, allerdings V n m y i i mit der Bedeutung "ich habe dich leben gelassen"96. Paulus hat also anscheinend das Hiph. m y im theologisch prägnanten Sinn verstanden und dementsprechend ü b e r s e t z t . Daß ihm f ü r seinen Schriftbeweis der hebräische Urtext e n t gegenkam, ist offensichtlich. (Übrigens ein deutliches Zeichen, daß Paul u s , obwohl er in der Regel mit LXX argumentiert, da, wo er den hebräischen Text besser gebrauchen k a n n , auf diesen z u r ü c k g r e i f t , ihn also gut k e n n t . ) (Der "Septuaginta-Jude" [Adolf Peissmann97] kann also auch sehr gut einmal auf seine Septuaginta v e r z i c h t e n d e ; ) Daß er in Ex 9,16LXX d a r ü b e r h i n a u s ί σ χ ύ ν , "Stärke", in δ ύ ν α μ ι ν , "Macht", ä n d e r t ^ , hängt vielleicht damit zusammen, daß δ ύ ν α μ ι ς bei Paulus ein theologisch t r a g e n der Begriff ist, der schon in der Inhaltsangabe des Rom, nämlich in l , 1 6 f . , als ein Zentralbegriff erscheint ( s . auch 1 Kor). Dem Pharao wird also ges a g t : "Zu genau diesem Zwecke habe ich dich geschichtlich a u f t r e t e n lass e n , daß ich an dir meine Macht erweise und mein Name auf der ganzen Erde v e r k ü n d e t w e r d e . " Dem Leser steht - jedenfalls nimmt es Paulus so an - jener Abschnitt aus Ex vor Augen, wo von der Verstockung des Pharao durch Gott die Rede i s t . Daß nämlich der Apostel mit seinem "ich habe dich geschichtlich a u f t r e t e n lassen" das Verstockt-Werden des Pharao durch Gott meint, zeigt die Folgerung in V.18: "Also erbarmt er sich, wessen er will, verstockt a b e r , wen er will." Wie Paulus in V.16 als der Folgerung aus dem b e g r ü n d e n d e n Zitat von V.15 auf das "Lieben" des Mal-Zitats zielt, so in V.18 als der Folgerung aus dem begründenden Zitat von V.17 auf das "Hassen" des Mal-Zitats. Dann entspricht in V.16 das έ λ ε ε ι ν , "sich erbarmen", dem α γ α π ά ν , "lieben", das seinerseits f ü r κ α λ ε ϋ ν , " b e r u f e n " , s t e h t . Also: Gott b e r u f t , wen er will, weil er sich erbarmt, wessen er will. B a r r e t t erklärt sogar, freilich auch im Blick auf 11,30 f . : "Mercy ( ε λ ε ο ς ; v e r b , έ λ ε ε ϊ ν ) is the key-note of c h s . ix-xi . . . " 9 8 a Entspricht aber dann in V.18 das σ κ λ η ρ ύ ν ε LV , " v e r -

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So richtig Michel, Rom, 309. So auch Cranfield, Rom II, 486; Gesenius/Buhl, 599: verschonen. Deissmann, Paulus, 79. Es kann freilich nicht ausgeschlossen werden, daß Paulus eine andere LXXVersion ^on Ex 9,16 vorgelegen hat als unser LXX-Text. 98 Ex 9,16LXX bietet in Α die Lesart δ ύ ν α μ ι ν . Sie dürfte aber kaum ursprünglich sein. 98a Barrett, Rom, 185.

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h ä r t e n " , dem μ ι σ ε ΐ ν , "hassen", im Mal-Zitat, dann heißt das zugleich, daß mit "verhärten" auch das Nichtberufen b e g r ü n d e t wird und zwar als souveräne göttliche Aktivität. Der Sachverhalt jedoch, daß Paulus das Nichtberufen und Hassen Gottes ausgerechnet durch "Verhärten" b e g r ü n det, ist theologisch aufschlußreich. Denn eins ist durch den Spruch an den Pharao gerade nicht gesagt, nämlich daß er sein Heil verwirkt h a t , daß er dem endgültigen Gericht Gottes verfallen ist. An dieser Stelle wird man wohl Cranfield zustimmen müssen, wenn er gegen Calvin e r k l ä r t : "The assumption that Paul is here thinking of the ultimate destiny of the individual, of his final salvation or final r u i n , is not justified by the t e x t . The words s t s ά π ώ λ ε ι α ν are indeed used in v.22; but we have no right ro read them back into v . 18."99 Vielleicht ist aber jetzt schon der Ort, in aller Vorläufigkeit die Frage anklingen zu lassen, ob sich nicht in der von Paulus gewählten Artikulation der Israelfrage eine Chance f ü r das nichtberufene Israel abzeichnet, ob sich nicht am sonst f ü r dieses nichtberufene Israel so düsteren Horizont ein schwacher Lichtstrahl zeigt. Wir wissen b e r e i t s , daß Paulus am Ende seiner A u s f ü h r u n g e n von Rom 9-11 die Rettung von ganz Israel ankündigen wird. Der Leser a b e r , der e r s t bis 9,18 gekommen ist, weiß es natürlich noch nicht. Aber sollte er nicht vielleicht d a r a u s , daß des Pharaos geschichtliche Rolle in Gottes Heilsplan zur B e g r ü n d u n g des gegenwärtigen Unglaubens der Juden h e r a n g e zogen wird, zur Überlegung kommen, daß dieser Unglaube irgend etwas mit dem Heilsplan Gottes zu tun hat? Und eine weitere Frage sei angeschlossen: Wenn Paulus den Einwand abweist, daß bei Gott keine "richterliche Ungerechtigkeit" b e s t e h t , könnte dann nicht auch vielleicht ein wenig folgender Gedanke mitschwingen: Weil es beim Pharao nicht um Gottes eschatologisches Gericht geht, ist jede Argumentation mit der "richterlichen Ungerechtigkeit" - im Blick auf den Pharao und die ungläubigen J u den - deplaciert? Die Frage kann hier nicht überzeugend bejaht werden; aber das Recht, sie zu stellen, sollte nicht vorschnell geleugnet werden.

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Cranfield, Rom II, 489; anders Michel, Rom, 309: "Eine Scheidung zwischen der geschichtlichen Rolle, die Gott dem Menschen zudiktiert, und dem ewigen Ratschluß, der über den Menschen verhängt ist, läßt sich schwer durchführen." Genauso gut läßt sich aber auch umgekehrt argumentieren: Das Junktim zwischen geschichtlicher Rolle und Endgericht wird erst von Michel behauptet. Gaugier, gegen den sich Michel wendet, dürfte Rom II, 53, richtig geurteilt haben: "Es geht allein auf die Rolle dieses Herrschers in der Heilsgeschichte, es geht nicht auf das persönliche Geschick dieses Menschen im Gericht. Die Oberinterpretation, die hier das ewige Urteil Gottes über die einzelnen Menschen ausgesprochen findet, ist gerade der Fehler der alten Prädestinationslehre." Es wäre höchstens noch über den Begriff "Heilsgeschichte" zu diskutieren. Mit Cranfield wendet sich also Gau gier gegen die calvinische Prädestinationslehre. Ober das Problem "Paulus und die praedestinatio gemina" wird nachher noch zu handeln sein. Auch Schmidt, Rom, 165, erklärt ausdrücklich, man dürfe an ein "Gericht" hier nicht denken; denn Gottes Handeln sei keine Reaktion auf Pharaos Sünden.

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Ein weiterer Hinweis d a r a u f , daß Gottes Nichtberufen nicht einfach mit Gottes endgültiger Verurteilung identisch i s t , könnte Gen 21,20 sein: Ismael ist zwar nicht als Sohn Abrahams und Gottes b e r u f e n , Gott aber hat seine Hand nicht von ihm zurückgezogen. Die Verstoßung der Hagar mit ihrem Sohn durch Abraham ist ja deshalb von Gott zugelassen, weil dieser auch den Ismael zu einem großen Volk machen will und konsequent deshalb auf wunderhafte Weise Mutter und Kind in der Wüste r e t t e t . In Gen 21,20 heißt es dann: "Und Gott war mit dem Kind, μ ε τ ά τ ο ϋ π ο α δ ί ο υ . " Immerhin steht dieser Satz im unmittelbaren Kontext von Gen 21,12, dem in Rom 9,7 zitierten Vers^-^O. u n d daß es methodisch nicht gerechtfertigt i s t , einfach ein zunächst einmal völliges Absehen vom alttestamentlichen Kontext durch den neutestamentlichen Autor im Sinne einer atomistisch praktizierten Exegese des Alten Testaments anzunehmen, wurde in letzter Zeit mehrfach in der Forschung betont, z . B . von A . T . Hanson 101. Andererseits ist freilich der einfache Hinweis auf den Kontext eines alttestamentlichen Zitats bei Paulus kein unwiderruflicher Beweis. So sehr es methodisch geboten ist, zu erwägen, ob der Kontext nicht Interpretationshilfe bieten könne, so sehr ist auch zu berücksichtigen, mit welcher Souveränität Paulus ihm nicht genehme Stellen des Alten T e s t a ments ausblenden k a n n ^ 2 . Im Falle Ismael spricht allerdings nichts d a f ü r , daß Paulus den alttestamentlichen Kontext bewußt völlig ignoriert habe. Nun zu den Zitationsformeln! Ex 33,19 in V.15 wird mit τψ Μωϋσεϊ γαρ γ ρ ά ψ ε ι , "denn er sagt dem Mose", und Ex 9,16 in V.17 mit λ έ γ ε ι γ α ρ ή γραφή τψ Φαραψ, "denn die Schrift sagt dem Pharao", e i n g e f ü h r t . Nach Michel ist "der Unterschied der Zitationsformeln . . . nicht ganz gleichgültig"102a. Auch nach u n s e r e r bisherigen Analyse legt sich eine solche Annahme nahe; denn nach allem, was sich bisher zeigte, hat Paulus sehr bewußt formuliert. Beim ersten dieser beiden Zitate stellt sich die Frage nach dem Subjekt von λ έ γ ε ι . Aus dem Zusammenhang geht eindeutig h e r v o r , daß Gott gemeint i s t . Damit gewinnt auch das Zitat Ex 33,19 sein volles theologisches Gewicht. Wenn es nämlich um Gottes "Sich-Erbarmen" und somit um Gottes "Berufen" geht, dann ist es a n g e b r a c h t , daß es heißt: Gott sagt ( P r ä s e n s ! ) nämlich dem Mose: "Ich werde mich erbarmen, wessen ich mich 100

Daß eine gewisse Unausgeglichenheit im Verständnis der Gen-Aussagen durch Paulus vorliegt, läßt sich allerdings nicht bestreiten. Gen.21,12 έ ν 'Ισαάκ κληθήσεταί σ ο ι σπέρμα ist im Sinne des Paulus zu verstehen als "Derjenige, den ich dir als Sohn berufen werde, ist allein Isaak", also nur Isaak gilt für Paulus als Abrahams σπέρμα, d . h . als Abrahams Sohn. Aber Gen 21,13, also unmittelbar danach, heißt es von Ismael: "Der Sohn der Magd ich werde ihn zu einem großen Volk machen". Die Begründung: δ τ ι σπέρμα σόν έ σ τ ι ν , "denn er ist dein Sohn". Doch haben wir ja schon festgestellt, daß auch Paulus selbst σπέρμα in V.7a und V.7b nicht völlig synonym verwendet. 101 Hanson, Interpretation, 7. 102 Z.B. Gen 17 in Gal 3; dazu Hübner, Gesetz bei Paulus, 17 f . 102a Michel, Rom, 308.

- 43 auch immer erbarmen will. Ich werde Mitleid haben, mit wem ich auch immer Mitleid haben will." Gerade da, wo Gott sein eigentliches Tun a u s s p r i c h t , da finden wir auch wieder die 1.Person Singular. Gott ist eben d e r , der von sich sagt: "Ich will mich erbarmen!" Gott erschließt sich in seiner Selbstoffenbarung als d e r , der "Ich" s a g t , wenn er sich als den Sich-Erbarmenden a u s s p r i c h t - ^ b . Die Vermutung, daß mit dieser Häuf u n g von Ich-Worten Gottes eine theologische Strategie praktiziert wird, verdichtet sich immer mehr. Aber wie paßt dazu die formula quotationis von V.17? Daß ihre I n t e r p r e tation schwierig i s t , ist evident. Denn die Schrift hat dem Pharao kein Wort g e s a g t . Es ist das Wort Gottes, das dieser allerdings nicht selbst zum Pharao s a g t , sondern ihm durch Mose sagen läßt. Es ist also n u r ein übermitteltes, ein vermitteltes Wort. Nach Michel will Paulus mit dieser Zitationsformel "vielleicht s t ä r k e r den Abstand zwischen Gott und dem heidnischen König betonen"103. Wilckens weist dies mit der Bemerkung z u r ü c k , daß im Judentum "Gott spricht" und "Die Schrift spricht" gleich häufig gebrauchte Einleitungsformeln s e i e n ^ 4 . Nach Käsemann ist die Schrift die personifizierte Gottesstimme, wie sie der spätere Leser v e r n i m m t ^ ; ähnlich B a r r e t t , der ü b e r s e t z t : "For God in Scripture (literally, Scripture - the written word being almost personified) says to Pharao . . . " Ю 6 Schmidt erwägt die Möglichkeit, durch "Schrift" solle das Gotteswort a u s der bestimmten, einmaligen Geschichtssituation herausgehoben und in seiner allgemeinen Bedeutsamkeit herausgestellt werdenlO?. Aber ist die allgemeine Bedeutsamkeit nicht auch durch das Präsens in der e r sten Zitationsformel zum Ausdruck gebracht worden? Doch genug der Beispiele! Sie zeigen deutlich die Verlegenheit der Exegeten an dieser Stelle. Bezeichnend ist d a f ü r das mehrfach gebrauchte Wort "vielleicht". 1

Muß es bei dieser Verlegenheit bleiben? Über eine e r s t e Verlegenheit d ü r f t e man schnell hinwegkommen, wenn man die Zitationsformel so p a r a p h r a s i e r t : "Denn dem Pharao sagt Gott, wie es jetzt in der Schrift steht . . . " Aber damit ist das theologische Problem keineswegs gelöst, sondern höchstens ü b e r s p i e l t . Denn eine Antwort verlangt die Frage, warum hier diese so unpassend scheinende Formel s t e h t . Man könnte zunächst die Vermutung a u s s p r e c h e n , daß in der Zitationsformel von V.17 eine gewisse Abschwächung gegenüber der von V.15 gegeben ist: Zu Mose spricht Gott persönlich, wie er auch zuvor schon zu Abraham und Rebekka persönlich gesprochen h a t . Wenige Zeilen vor Ex 33,19, dem in Rom 9,15 durch "(Gott) sagt nämlich dem Mose" eingeleiteten Vers, findet sich in Ex 33 der wichtige Vers 11: "Und der Herr sprach

102b Daß in Kap.9 auch Worte der Nichtberufung diese 1.Person Singular für Gott aufweisen (Rom 9,13.33; s. auch 10,19), kann nicht als Argument gegen das soeben Gesagte angeführt werden; denn das Gefalle der paulinischen Aussage geht von der Nichtberufung zur Berufung - nicht umgekehrt! 103 Ib. 308. 104 Wilckens, Rom II, 200, Anm.881. 105 Käsemann, Rom, 258. 106 Barrett, Rom, 186. 107 Schmidt, Rom, 165.

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zu Mose von Angesicht zu Angesicht, wie einer zu seinem eigenen Freund s p r i c h t " (Übersetzung nach LXX). Gerade hier könnte man also auf den alttestamentlichen Kontext h i n w e i s e n ^ 7 3 . Das Vorrecht des Mose genießt aber der Pharao nicht! Diese Interpretation n ä h e r t sich der genannten A u f f a s sung Michels. Aber es leuchtet nicht ganz ein, warum dann nicht Mose als Mittler des Gotteswortes an den Pharao genannt wird, sondern die Schrift. Wie aber steht es mit der These von der Gleichwertigkeit der Zitationsformeln "Gott sagt" und "Die Schrift sagt"? Nun ist im Rabbinischen "фЛ а т э л , "die Schrift s a g t " , eine Zitationsformel, die die Schrift mit der Autorität Gottes a n f ü h r t und die somit letztlich mit "Gott sagt" identisch ist (die häufigste Einführungsformel ist jedoch "es ist gesagt worden"108). Auch finden wir in der rabbinischen Literatur wie in Rom 9,17 diese Formel mit einem "Dativobjekt" v e r b u n d e n 1 ^ . Aber damit ist f ü r die Exegese u n s e r e r Paulusstelle noch nichts gewonnen. Denn es wäre eine petitio principii, wollte man auf den rabbinischen Gebrauch der Zitationsformel hinweisen, wo doch hier zur Diskussion s t e h t , ob beide gleichlautenden Formeln auch bei Paulus dasselbe meinen. Nun könnte man aber auch darauf aufmerksam machen, daß in der Zitationsreihe von 9,6 an V. 17 das letzte alttestamentliche Zitat b r i n g t ; und wenn dann diese betont als Schrift-Zitat eingeführt wird, könnte man v e r muten , daß auf diese Weise die eminent hohe Autorität der Schrift zum Ausdruck gebracht werden soll. Gerade 9,17, so könnte man plädieren, zeigt, daß Paulus Schrifttheologe sein will, daß er also im ganzen Abschnitt doch primär von der Autorität der Schrift her argumentiert. An dieser Überlegung ist auf den e r s t e n Blick schon einmal eins einleucht e n d . Rom 9,6-18 läßt sich leicht als eine in sich geschlossene Zitatenreihe begreifen, deren Einheit noch durch jene Beobachtung wahrscheinlicher wird, die wir im Verlauf der bisherigen Exegese gemacht haben: Der rote Faden der sich aneinanderreihenden Zitate ist das Ich Gottes, meist in der 1.Person Singular a u s g e s p r o c h e n . Dies spricht d a f ü r , daß Montagnini mit seiner B e h a u p t u n g , 9,6-18 sei als e r s t e r Teil von 9,6-29 zu verstehen ( s . o . ) , im Recht i s t . Dem sei hier - trotz a n d e r e r bereits erhobener Einwände gegen seine Exegese - zugestimmt. Aber so einleuchtend es auch auf den ersten Blick sein mag, daß die B e r u f u n g auf die Schrift in 9,17 von erheblicher theologischer Bedeutung f ü r den ganzen Abschnitt 9,6-18 i s t , so wenig kann dies in dem eben dargelegten Sinn a u f r e c h t e r h a l t e n werden, wenn wir weitere Beobachtungen im folgenden notieren. Vergleichen wir nämlich den formalen Aufbau von 9,10-13 mit dem von 9,14-18, so fällt eine Parallele auf: 107a In anderer Hinsicht verweist Piper, Prolegomena to Understanding Rom 9:14-15, auf den Kontext von Ex 33,19cd, um von dort aus diese Stelle als eine feierliche Deklaration des Wesens Gottes zu verstehen. Diesem Wesen lägen alle seine Entscheidungen zugrunde. 108 Bacher, Terminologie 1,6. 109 Ib. 5.

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9,10-13: Jakob-Esau-Beispiel: 1. Gott spricht zu Rebekka. 2. Gottes Ich wird als Aussage der Schrift zitiert. 9,14-18: Der Einwand: 1. Gott spricht zu Mose. 2. Gottes Ich wird als Aussage d e r Schrift zitiert. Die Parallele ist m.E. u n v e r k e n n b a r . Aber alles hängt jetzt an der Deut u n g . Das theologische Aussagegefälle von 9,10-13 wurde bereits b e d a c h t . Es zeigte sich, daß in ihm das förmliche Schriftzitat b e k r ä f t i g e n d e Bedeut u n g h a t , daß aber von b e g r ü n d e n d e r Funktion nicht die Rede sein k a n n . Inhaltlich koinzidieren beide Zitate, nämlich das gesprochene Gotteswort an Rebekka und das schriftlich fixierte Gotteswort bei Maleachi. Anders ist es aber in 9,14-18. Hier belegen beide Gottesworte zwar gemeinsam Gottes souveränes Handeln; doch b e g r ü n d e t das e r s t e das eigentliche Handeln Gottes, nämlich sein Berufen als sein Sich-Erbarmen, während das zweite das "uneigentliche" Handeln Gottes b e g r ü n d e t , nämlich sein Nichtberufen als sein Verstocken. Wir müssen u n s noch einmal in E r i n n e r u n g r u f e n , worum es in dem ganzen Abschnitt 9,6-18 g e h t . Es geht um das Rätsel der Glaubensverweigerung durch die Majorität der Juden und somit um die Frage nach der Verläßlichkeit von Gottes Verheißungen. Kein Wunder also, wenn es zum Abschluß von 9,10-13 heißt "Ich habe Esau gehaßt" und zum Abschluß von 9,14-18 das Fazit "Ich verstocke, wenn ich will" aus dem Wort an den Pharao gefolgert wird. Gottes Wort aber kann nicht hingefallen sein; denn das Wort Gottes über Esau und das Wort Gottes an den Pharao, beide autoritatives Schriftwort, sind zugleich Worte ü b e r die jetzt ungläubigen J u d e n . Sie sind Esau, sie sind der Pharao. Paulus f ü h r t also Gottes eigentliches Wort, das Wort des Erbarmens, als von Gott gesprochenes Wort a n . Mose ist ja nach Ex 33,11, wie sich schon zeigte, derjenige, den Gott mit seiner anredenden Gegenwart würdigt wie jetzt die Christen! Dem "Pharao" a b e r , sprich: der Majorität der J u den, wird eben jene Schrift entgegengehalten, auf die sie sich selbst b e r u f e n , die Schrift also, die sie f ü r ihre Weigerung, J e s u s als den Messias zu akzeptieren, ins Feld f ü h r e n . Wir sehen, es handelt sich um einen gut durchdachten Plan des Paulus, um eine glänzende theologische Strategie! Wie aber steht es mit der Frage, ob Paulus seine Israel-Aussagen allein der Autorität der Schrift verdankt HO - denn auch jene Zitate, die nicht 110

So z . B . Althaus, Rom, 93, zu Rom 9,14: "Er begründet Gottes Handeln nicht, er zeiyt einfach in der Heilsgeschichte auf, daß Gott nie anders gehandelt

- 46 als Schriftzitate hervorgehoben sind, entnahm er ja der Schrift - oder ob er auch unabhängig von ihr sie vom Evangelium her hätte machen können. Vom Evangelium war freilich bisher direkt noch nicht die Rede. Indirekt aber kommt es natürlich zum Tragen; denn die Voraussetzung der ganzen Darlegung ist ja, daß es Juden gibt, die an Christus glauben, und daß es Juden gibt, die an ihn zu glauben sich weigern. Da aber in 9,6-29 weder Glaube noch Unglaube thematisiert ist - selbst Abraham wird nicht als Glaubender dargestellt! - , war auch nicht zu erwarten, daß vom Evangelium, zu dem der Glaube essentiell gehört, die Rede ist. Daß allerdings die ganze Schriftargumentation nur vom Standpunkt des christlichen Glaubens aus sinnvoll ist, liegt auf der Hand. Ausgesprochen ist das - noch nicht. Der erneute Einwand 9,19, wieder mit einer Frage im Stil der Diatribe eingeleitet - έρεϋς UOL οδν, "Nun wirst du mir wohl entgegenhalten" - , könnte zunächst als unmittelbare Fortführung der von 9,6 herkommenden Argumentation verstanden werden, so daß zwischen 9,18 und 9,19 keine größere Zäsur läge als zwischen 9,13 und 9,14. Aber so sehr auch zuzugestehen ist, daß 9,19 den bisherigen Argumentationsverlauf weitertreibt, also auch dieser Vers dazu dient, den Gedankengang des Paulus einfach nicht zur Ruhe kommen zu lassen, so zeigt doch schon allein ein Blick auf das äußere Bild, wie sehr 9,6-18 eine formale Einheit ausmacht. Zumindest 9,19-24 erweist sich als Abschnitt ohne formales Schriftzitat - die Herausgeber von The Greek New Testament heben in diesen ganzen Versen bezeichnenderweise kein Zitat durch Fettdruck hervor - und weiterhin, ebenfalls als formale Auffälligkeit, besteht der Abschnitt aus einer Aneinanderreihung von Fragen, zumindest bis V.21, wenn nicht sogar bis V.24 einschließlich (in 9,6-18 findet sich nur die Doppelfrage V.14). Auch inhaltlich hebt sich der neue Abschnitt vom zu vor stehen den deutlich ab. Während es 9,6-18 um die Frage der Erwählung ging, wird jetzt eine Art Scheltrede an die zuvor "objektiven" Darlegungen angeschlossen. Die 9,14 gestellte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes wurde zwar auch schon, wie wir etwas salopp formuliert haben, "abgeschmettert"; aber die Begründung wurde mit Gottes Wort gegeben, indem Gott sich als den Erbarmenden und dann als den Verstockenden aussagt. Der Frager selbst aber wurde nicht "abgekanzelt". Genau das aber geschieht jetzt in V.2Ö: "Wer bist du denn, о Mensch, daß du dich erdreistest, Gott zu widersprechen!" Für unsere Frage ist aber noch wichtiger, wie Paulus hier mit dem Alten Testament umgeht. Obwohl kein formales Schriftzitat vorkommt, ist unser Text von alttestamentlichen Vorstellungen und Begriffen durch und durch geprägt. Schon die Frage V.19 "Wer kann seinem Willen widerstehen?" erinnert an Sap 12,12 τ ί ς άντι,στήσεται. τφ κρίματί σου; "Wer würde hat . . . So genügt es, auf das gewaltige Wort an Mose hinzuweisen, das besagt: Gottes Erbarmen ist f r e i . "

- 47 deinem Gericht widerstehen?", zumal, wie sich gleich noch zeigen wird, derselbe Vers auch in der Frage V.20 mitschwingen d ü r f t e . Im Hinterg r u n d von V.19b könnte aber auch Sap 11,21 "Wer würde der Gewalt deines Arms widerstehen?" anzunehmen sein, wie vielleicht Rom 9,22 f . und 11,32 nahelegen k ö n n t e n 1 1 1 . Daß f ü r V.19 Sap 12,12 als von Paulus bedachter Schrifttext zu vermuten i s t , legt sich auch möglicherweise von daher nahe, daß es in Sap 12 um die nichtisraelitischen Kanaanäer ( v g l . 12,3 f f . ) geht - genau wie in Ex 9,16 (= Rom 9,17) um den nichtisraelitischen Pharao! Und von diesen Kanaanäern heißt es Sap 12,4, Gott habe sie "gehaßt". Ist es doch dasselbe Verb μ ι σ ε ϊ ν wie in Mal 1,3 (= Rom 9,13) als Umschreibung f ü r Gottes Nichtberufen von Esau. Die genannten Einzelpunkte sind jeweils als solche nicht mehr als Indizien f ü r die Annahme, Paulus habe in Rom 9,19 f f . Sap 11 f . vor Augen g e h a b t . Aber nimmt man diese Indizien zusammen, so d ü r f t e n sie in i h r e r Summe keine geringere Argumentationskraft b e s i t z e n . Wörtlich "zitiert" ist in Rom 9,20b aus Jes 29.16LXX der Anfang μή . . . π λ ά σ α ν τ ι und der Schluß με έ π ο ί η σ α ς ; nicht aber der in dieser J e s Stelle ausgesprochene Gedanke, daß doch das Geschöpf nicht dem Schöpf e r entgegenhält "Du hast mich nicht gemacht" und "Du hast mich nicht mit Verstand gemacht". Denn Paulus f r a g t ja, ob es ihm etwa e n t g e g e n halte, warum ( τ ί ) er es so gemacht h a t . Das Fragepronomen findet sich freilich in Dt-Jes 45,9, ebenso dort in etwa auch der von Paulus a u s g e sprochene Gedanke, wobei immerhin auch eine wörtliche Übereinstimmung zwischen Rom 9,20 und Jes 45,9 in den Worten μή έ ρ ε ι . . . τ φ . . . τ ί . . . ( έ ) π ο ι ( η σ α / ε ι ) ς . . . b e s t e h t 1 1 2 . Die Sache wird dadurch noch komplizierter, daß der hebräische Text von Jes 45,9d unsicher i s t 1 1 ^ und Jes 45,9dLXX keinen rechten Sinn e r g i b t . Hinzu kommt, daß in Jes 45,9 "die LXX . . . f ü r das e r s t e Distichon eine wunderliche Übersetzung . . . ( h a t ) , deren fremdartige Vorlage man kaum herzustellen w a g t " 1 1 ^ . Den historischen Kontext des D t - J e s - T e x t e s hat Paulus völlig ignoriert, einerlei, ob man mit Duhm an die Israeliten d e n k t , die sich nicht gegen Jahwähs Absicht, sein Volk d u r c h die Perser zu r e t t e n , auflehnen sollen i 1 ^ , mit Westermann die Hypothese erwägt, im Rechtsstreit der Völker bzw. der Götter der Völker mit Jahwäh stellten diese an ihn die Frage: "Wie konntest du deine eigenen Söhne preisgeben! , ! l l 6 oder mit Westermann Elligers The111

112 113 114 115 116

Rom 9,22 f. ist mit Sap 11,23, also dem unmittelbaren Kontext von Sap 11,21, durch die Stichworte δ λ ε ο ς / έ λ ε ε C v und τδ δ ύ ν α τ ο ν / δ ύ ν α σ θ α ι verbunden, aber auch durch die theologisch verwandten Aussagen ή ν ε γ κ ε ν έ ν πολλή μακροθυμίςι σκεύη δργης und καί παρορφς (du übersiehst) αμαρτήματα Ανθρώπων eCs μ ε τ ά ν ο ι , α ν . Rom 11,32 und Sap 11,23 koinzidieren in τ ο ύ ς πάντας έλεήση und έ λ ε ε ΐ ς δέ π ά ν τ α ς . S. aber auch Hiob 9,12LXX: τ ί ς έ ρ ε ι αύτψ· τ£ έ π ο ί η σ α ς ; S. die Kommentare. Duhm, Jesaja, 343. Ib. 343. Westermann, Jesaja 40-66; 134.

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se f ü r wahrscheinlich hält, daß ein Wort Deuterojesajas von einem späteren Bearbeiter (nach Elliger Tritojesaja) zu einem Disputationswort umgestaltet w u r d e - 4 7 . Paulus geht also so souverän mit dem Text des Jes-Buches um, daß er aus mehreren Stellen eine gemacht h a t , dabei wahrscheinlich aber auch J e r l 8 , 6 und mit großer Sicherheit auch Sap 12,12 (Rom 9,19!, s . o . ) vor Augen hatH7a_ Daß er dabei bewußt den Kontext der beiden Jes-Stellen und wohl auch Jer 18,6 und Sap 15,7 mit "Ton" und "Töpfer", berücksichtigt, zeigt unmißverständlich V.21. Das Bild vom Töpfer und vom Ton f ü r das Verhältnis Gott - Mensch ist also f ü r das Alte Testament ein geläufiges BildH^, doch hat Paulus diesem Bild durch die Einbeziehung in seine "Prädestinationslehre" ( s . u . ) , eine spezifische theologische Aussage gegeben. Es ist nicht mehr einfach das Bild f ü r die Geschöpflichkeit des Menschen, es ist jetzt Ausdruck der absoluten Verfügungsmacht Gottes über den Menschen im Blick auf dessen Stellung im Heilsplan - wobei uns immer vor Augen s t e hen muß, daß es im Zusammenhang von 9,6-29 nicht um den Menschen an sich, sondern um die nichtberufenen Juden g e h t . So dient also der R e k u r s auf das alttestamentliche Bild vom Töpfer und seiner selbstverständlichen Macht über den Ton der Veranschaulichung seiner Berufungstheologie. Er ist ganz dem Entwurf dienstbar gemacht, in dem zuvor Paulus die "Geschichte 'Israels'" in die von ihm konstruierte B e r u f u n g s g e s c h i c h t e ger ü c k t h a t . Die dem Paulus eigentümliche Deutung u n d der ihm eigentümliche Gebrauch der Schrift wurden hier zum hermeneutischen Schlüssel f ü r das Verständnis des Töpfer-Ton-Bildes. Ob Paulus nun in V.20b Jes 29,16 als von Gott gesprochenes Wort a n f ü h r t (wofür dann Jes 29,13 als von Paulus b e r ü c k s i c h t i g t e r Kontext genannt werden müßte), ist schwer zu sagen. Dagegen wird wohl s p r e c h e n , daß er gerade hier nicht präzise bei der inhaltlichen Aussage des "Zitats" bleibt. Bei keinem der zuvor in 9,6-18 gebrachten Zitate ist die Differenz zwischen alttestamentlicher Aussage und neutestamentlicher Interpretation so groß wie hier - trotz der dort bereits aufgefallenen eigenwilligen Akzentuierung und Sinnverschieb u n g e n . Es wurde schon darauf aufmerksam gemacht, daß in The Greek New Testament V.19b nicht als alttestamentliches Zitat gekennzeichnet i s t . Man wird wohl in der Tat a u f g r u n d der Selbstverständlichkeit, mit der in 9,19 f f . die alttestamentlichen Worte in die paulinische Argumentation einfließen, urteilen d ü r f e n , daß der Apostel so sehr in der Bilderund Gedankenwelt des Alten Testaments lebt, daß ihm die v e r t r a u t e n Idiome des Buches sofort, wo sie angebracht sind, zur V e r f ü g u n g s t e h e n . Die Welt der Septuaginta ist so sehr seine Welt, ist so sehr die Welt, in der er lebt und atmet, daß er immer wieder mit ihren Worten u n d Sätzen

117

Ib. 134 f . ; Elliger, Deuterojesaja in seinem Verhältnis zu Tritojesaja, 179-182; leider starb Elliger so f r ü h , daß er seinen Dt-Jes-Kommentar nur bis 45,7 schreiben konnte. 117a Christian Wolff, Jeremia, 134-140, b e s t r e i t e t , daß Paulus das Jer-Buch jemals b e nutzt habe (zu R ö m 9 , 2 1 f . ib . 140). S . aber Hübner, Der v e r g e s s e n e Baruch. 118 S. auch R e n g s t o r f , Art. π η λ ό ς : ThWNT VI, 118 f .

- 49 r e d e t , mit ihren Gedanken denkt, ohne daß er jedesmal d a r ü b e r r e f l e k t i e r t , daß e r , was er s a g t , der ihn so sehr bestimmenden Schrift v e r d a n k t . Immer wieder zeigt sich zwar, daß Paulus auch solche Reflexionen a n s t e l l t H 9 . Aber es wäre von u n s nicht konkret gedacht, würden wir a n nehmen, daß er sich bei jeder theologischen Sachaussage, die er zumindest teilweise der Schrift v e r d a n k t , in einem geradezu permanenten f u n damental-theologischen Reflexionsprozeß bewegte. Rom 9,22-24 ist nicht n u r wegen seines anakoluthischen C h a r a k t e r s 120 und wegen der Unsicherheit, ob hier eine Frage oder eine Aussage v o r liegt, schwierig. Die F r a g e , wie man das Partizip θέλων in V.20 aufzulösen h a t , ist Symptom f ü r die Übersetzungsschwierigkeiten. Wichtiger ist noch, welche Funktion dieser Satz im Aufbau von 9,6-29 h a t . F ü h r t er lediglich die Scheltrede 9,20 f . f o r t ? Begründet er sie? Ist mit L u z 1 2 1 9,19-21 als U n t e r b r e c h u n g des Gedankenganges zu werten oder mit Wilckensl22 in diesen Versen die Vorbereitung der Anwendung des Gedankens auf die Gegenwart, wie es dann in 9,22 f f . geschieht, zu sehen? Noch schwieriger sind inhaltliche Probleme. Bisher konnte gezeigt werden, daß Paulus keine praedestinatio gemina l e h r t . Wie aber steht es mit dieser Frage, wenn man in V.22 liest, daß "Gefäße des Zorns", also "zum Verderben", hergestellt sind? Ist damit nicht in der Tat die p r a e destinatio gemina a u s g e s a g t , zumal die beiden Begriffe ά π ώ λ ε ι α und όργή die eschatologische Aussichtslosigkeit des verurteilten Menschen meinen? α π ώ λ ε ι α ist das von Gott bewirkte eschatologische Verderben^ 2 "*. Und f ü r όργή d ü r f t e im Sinne von Rom 2,5 oder 5,9 ( s . auch IThess 1,10; 2,16) Metapher f ü r das endgültig verdammende Urteil am Jüngsten Tage sein. Für "Gefäße des Zorns" d ü r f t e sich dann aber die Interpretation nahelegen, nach der es sich um jene Menschen handelt, f ü r die die endgültige Verurteilung durch Gott unwiderruflich i s t . Allerdings ist diese Auslegung noch nicht g e s i c h e r t . Wir haben nämlich bisher n u r einzelne B e g r i f f e , aus ihrem Zusammenhang g e r i s s e n , anvisiert, aber sie weder im Aussagegefälle des zu interpretierenden Satzes noch diesen Satz im Argumentationszusammenhang von 9,6-29 exegesiert. Zunächst zum Aussagegefälle des Satzes! Zu f r a g e n i s t , ob in der Wendung σ κ ε ύ η δ ρ γ η ς κ α τ η ρ τ ι σ μ έ ν α ε ι ς ά π ώ λ ε ι α ν das p a r t . p e r f . p a s s . als passivum

119 Hübner, Art. γραφή: EWNT I, 633 f . 120 Dazu u . a . Bornkamm, Paulinische Anakoluthe, 90-92. 121 Luz, Geschichtsverständnis, 237, unter Berufung auf Kühl, Rom, 330, und Gaugier, Rom II, 61. 122 Wilckens, Rom II, 203; ib. 203, Anm.904, bewußt gegen Luz. 123 Unmöglich ist die Deutung von Armin Kretzer, EWNT I, 327, der von άπώλεια im Blick auf den selbstverschuldeten, endgültigen Untergang des Menschen spricht. Die so starke Hervorhebung des Selbstverschuldetseins verstellt den Blick auf Gottes forensisch-eschatologische Aktivität. Gott bereitet den ά π ο λ λ υ ι ι έ ν ο ι ς (vgl. 1 Kor 1,18 im Gegensatz zu τ ο ι ς σ ψ ζ ο μ έ ν ο ι ς ) die ewige άπώλεια.

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divinum zu verstehen und folglich antithetisch zu der Aktivform προητοίμασεν in der Wendung σκεύη έλέους α πρ. ε ι ς δόξαν zu fassen ist. Nach Michel z . B . gehören die beiden Verben καταρτίζει ν und προετοίμαζειν eng zueinander; "beide weisen auf das vorzeitliche und vorgeschichtliche Handeln Gottes z u r ü c k " ! 2 ^ . Dann aber hätten wir es in der Tat mit einer praedestinatio gemina zu tun. Cranfield hingegen legt σκεύη όργης κατηρτισμένα ε ί ς άπώλει,αν aus als "the vessels' condition of readiness, ripeness for destruction" und sagt dann ausdrücklich: "That they are worthy of destruction is clearly implied, but not that they will necessarily be destroyed." 1 2 5 Diese Exegese ist lexikographisch durchaus möglich, zumal angesichts des philologischen Sachverhalts, daß das Partizip κατηρτισμένος in der griechischen Sprache neben den übrigen Formen des Verbs ein gewisses Eigenleben führt Dies könnte ein Indiz dafür sein, daß Paulus die feine sprachliche Unterscheidung zwischen dem Partizip κατηρτι,σμένα und dem definiten Verb προητοιμάσει bewußt vorgenommen hat. Will also der Apostel sagen, daß Gott die einen, nämlich die Gefäße des Erbarmens, zur Herrlichkeit vorherbereitet, also prädestiniert hat, die anderen aber, die Gefäße des Zorns, eigentlich zum ewigen Verderben bereit sind, reif sindl 2 ^. Eine solche Exegese würde aus der peinlichen Situation führen, Paulus die Lehre der praedestinatio gemina, wenn auch nur im Rahmen der heilsbzw. unheilsgeschichtlichen Betrachtung Israels, zuschreiben zu müssen. So wurde bekanntlich Karl Barths Auslegung der Stelle, der von Paulus 19ft

das decretum absolutum nicht verkündigt sah 1 , weithin dankbar als Befreiung von Calvins Exegese empfunden, der die reprobatio genau wie die electio als "mysterium illud inexplicabile" bezeichnete: "Vasa sunt in exitium comparata, id est devota et destinata exitio: sunt item vasa irae, id est in hoc facta et formata, ut documenta sint vindictae et furoris Dei . . . reprobi autem vasa irae, quandoquidem serviunt illustrandis Dei iudiciis."129 Dagegen dann Karl Barth: "Was zwischen den beiden Seiten 124 125 126

Michel, Rom, 315. Cranfield, Rom II, 496. Dann meist in der Bedeutung "gut ausgerüstet", "vollkommen" (Menge, Großwörterbuch, 374), aber auch "bereit ( f ü r ) " , "reif ( f ü r ) " . Bauer, WB, 126, übersetzt "zum Untergang geschaffen". In LXX findet sich dieses Partizip, nur ψ 88,38: η σελήνη κατηρсι,σμένη ε ί ς τόν αίώνα* par. zu V.37 τό σπέρμα αΰτοϋ ε Се τόν αίώνα μ έ ν ε ι . 127 So z . B . Β .Weiss, Rom, 424; Sanday/Headlam, Rom, 261 f . : "The construction is purposely different from that of the corresponding words α προητοίμασεν"; Zahn, Rom, 458: Wie Pharao, der als Gefäß des Zorns zum Gericht reif, nicht aber zum Verderben bestimmt war; Lagrange, Rom, 240: "Mais le parallelism n'est pas rigoureux, comme s'il у avait α κατήρτισεν . . . D'apres l'opinion attenuee ( C h r y s . , C o r n . ) , κατηρτι,σμένα est au moyen pour dire que les vases 'se sont prepares eux-memes'." Dagegen energisch Käse mann, Rom, 262. 128 Barth, KD 11/2,245. 129 Calvin, Comm. I, 128; Hervorhebung von mir.

- 51 des einen göttlichen Tuns stattfindet, ist, unbeschadet des göttlichen Ernstes nach beiden Seiten, höchste Inkongruenz, höchste Asymmetrie, höchstes Ungleichgewicht."130 Aber Sympathie kann nicht das Kriterium für die Richtigkeit einer Exegese sein. Wir haben deshalb zu fragen, ob sich die sprachliche Nuance des Unterschieds zwischen Partizip und verbum finitum als Hinweis auf eine wirkliche Asymmetrie durch andere exegetische Argumente bekräftigen läßt. Betrachten wir nun das Aussagegefälle des ganzen Satzes - wobei vorläufig noch offen bleiben soll, ob V. 24 dazu gehört - , so eskalieren die Schwierigkeiten. Zunächst ist zu fragen, wie das Partizip θέλων aufzulösen ist. Doch schon an dieser Stelle gehen die Meinungen stark auseinaner. Zwar bahnt sich insofern ein gewisser Konsens an, als die z . B . von Richard Adelbert L i p s i u s ^ l und Sanday/Headlam 132 vertretene konzessive Interpretation in den neueren tonangebenden Kommentaren nicht mehr vertreten wird. Freilich wäre mit ihr die Möglichkeit gegeben, die praedestinatio gemina zu vermeiden: "Obwohl Gott seinen Zorn zeigen wollte . . . , hat er dennoch die Gefäße des Zorns mit großer Langmut getragen." Getragen, um ihnen die Möglichkeit zur Umkehr zu geben? In diesem Sinne scheinen Sanday/Headlam ihr "although" zu verstehen, zumal sie dann ausdrücklich auf Rom 2,4 verweisen. Aber Lipsius, der ja das Partizip konzessiv auflöst, wehrt diese Interpretation energisch ab: Dann wären sie keine Gefäße des Zornes und dann könnte von einem Wollen, den Zorn zu zeigen, keine Rede mehr sein. Andererseits lehnt Schlier das konzessive Verständnis des Partizips ab und bringt mit seinem relativen Verständnis den Gedanken, daß Gott den Juden Frist zur Umkehr g e w ä h r e ^ , z u m Ausdruck: "Wenn aber Gott, der seinen Zorn erweisen . . . will, mit großer Langmut die zum Untergang bestimmten Gefäße des Zorns ertragen hat . . . " 1 3 4 . Auch die Vertreter der kausalen Deutung unterscheiden sich in der theologischen Interpretation des Satzes. Der Gegensatz der Auslegung von σκεύη δργης κατηρτυσμένα ε£ς άπώλειαν durch Michel Und Cranfield kam bereits oben zur Sprache, so daß hier nur noch einmal darauf verwiesen zu werden braucht. Käsemann lehnt die konzessive Auffassung ab, weil sie nach seiner Meinung zur Deutung auf die Gegenwart als letzte Frist zur Buße führtl35. Das Partizip müsse daher mit Barrett, H.W.Schmidt u . a . kausal oder besser mit Zahn, Bornkamm u . a . modal durch "in der Absicht" übersetzt werdenl36. "In der Absicht" ist aber z . B . von H.W.Schmidt als kausal verstanden 137. 130 131 132 133 134 135 136 137

O p . c i t . 246. Lipsius, HC 1 1 / 2 , 1 4 9 . Sanday/Headlam, Rom, 261. Schlier, Rom, 301 f . Ib. 294. Käsemann, Rom, 261. Ib. 261. Schmidt, Rom, 1 6 3 . 1 6 7 .

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Mit der Interpretation von θέλων ist also nicht viel, wenn nicht sogar gar nichts gewonnen. Denn jede Auflösung des Partizips läßt sich mit nahezu jeder theologischen Auslegung verbinden. So spitzt sich alles auf die Frage zu, was Paulus mit der Wendung ήνεγκεν έν πολλή μακροθυμίςι beabsichtigt hat, als deren Objekt er σκεύη όργης . . . angibt. Damit sind wir aber bereits wieder bei unserem eigentlichen Thema angekommen, nämlich dem Schriftgebrauch des Paulus. Denn έΕ^νεγκεν τά σκεύη όργης findet sich Jer 27.25LXX (= Jer 15,25MT). Allerdings dürfte Paulus diese Wendung anders verstanden haben, als dies in Jer der Fall ist. Dort findet sie sich in einer Weissagung gegen Babel: Jahwäh hat sein Zeughaus geöffnet und die Waffen seines Grimms herausgeholt. Dieser Sinn des MT ist auch in etwa in der LXX erhalten. έ ^ ή ν ε γ κ ε ν heißt also bei Jer "herausholen", bei Paulus "tragen", wohl im Sinne von "geduldig gewähren lassen" ( s . u . ) . Die σκεύη όργης meinen bei Jer "Waffen des göttlichen Zorns" gegen Babel, bei Paulus aber "Menschen, die dem Zorne Gottes verfallen sind" (oder: eigentlich verfallen wären?) 138. vVer aber sind diese Menschen, die Paulus als "Gefäße des Zorns" charakterisiert? Es ist nun geboten, die bloße satzimmanente Interpretation abzuschließen und V.22 f . bzw. V. 22-24 im Rahmen des Zuvorstehenden auszulegen. Zunächst liegt der Bezug zum Argumentationselement 9,19-21 in der terminologischen Aufnahme von σκεύος in V.21 auf der Hand. Die Bilder σκεϋος ε ι ς τ ι μ ή ν und σκεϋος ε ί ς ά τ ι μ ί α ν - vielleicht bewußte Anklänge an die σκεύη von Sap 15,7, die dort als τά τ ε των καθαρών 6οϋλα und τά τ ε έ ν α ν τ ί α charakterisiert sind - werden in der abgewandelten Form σκεύη έλέους und σκεύη όργης sprachlich aufgegriffen , zugleich aber theologisch präzisiert oder, wenn man so will, theologisch zugespitzt. Während also bis einschließlich V.21 vom Verderben nicht die Rede war - wie ja auch von menschlicher Schuld nicht die Rede war - , wird mit δργή und απώλεια das Gesamtbild von 9,6-29 erheblich dunkler. Es ist aber noch einmal festzuhalten, daß auch in 9,22 f . menschliche Schuld als solche nicht thematisiert wird. Sie mag im Hintergrund der Aussagen der beiden Verse stehen; aber es liegt nicht in der Aussagetendenz von V.6 her, daß sie thematisch wird. Die Verbindung von 9,22 f . zu dem Vorherstehenden zeigt sich aber auch insofern in σκεύη έ λ έ ο υ ς , einer Formulierung, die Paulus in Antithese zu dem biblischen σκεύη δργης vorgenommen hat, als hier das theologisch 138

Nicht haltbar ist und allgemein abgelehnt wird die Deutung von Maurer, ThWNT VII, 364, 21 f f . : δργης gen. qual., also sowohl die Geräte, durch die Gott seinen Zorn bewirkt, als auch die Geräte, an denen sich sein Zorn auswirkt. Noch weiter vom Sinn dessen, was Paulus meint, entfernt sich Schlatter, Gottes Gerechtigkeit, 305: Der Genitiv gibt an, wer diese Gefäße geformt hat. "Daß sie durch Zorn entstanden sind, wird dadurch offenbar, daß ihr Ende der Verlust des Lebens i s t . " Zur These Dahls s . u . Nach Hanson, J T h S , 433-443, hat Paulus σκεύη όργης sowohl als Gefäße als auch als Instrumente des Zorns verstanden.

- 53 entscheidende έ λ ε ε ϋ ν aus Ex 33,19 = V.15, das dann auch die Konklusion V.16 p r ä g t und das nahezu synonym mit dem thematischen Leitbegriff κ α λ ε ΐ ν i s t , a u f g e g r i f f e n i s t . Wie das έ λ ε ε ϋ ν bzw. κ α λ ε ι ν in den bereits vorhandenen Versen auf keinen Fall im Gegensatz zur eschatologischen Verwerfung verstanden sein wollte, so wird man auch f ü r die Gefäße des Erbarmens wohl nicht postulieren können, daß der Gegenbegriff die Reprobation zum Ausdruck bringen will, zumal ja 9,22 f . im Grunde keinen neuen Gedanken vortragen will, sondern eher eine Art Konsequenz aus dem bisher Gesagten zieht. Außerdem findet sich dann in V.24, der in enger Verbindung zu V.22 f . steht (einerlei wie man sich den grammatischen Zusammenhang d e n k t ) , wieder eben jenes κ α λ ε ΐ ν , das als Leitbegriff das Ganze von 9,6-29 zusammenhält. Läßt sich aber 9,22 f . so im Gesamtduktus von V.6 h e r verständlich machen, dann doch wohl auch in dem P u n k t e , daß mit den Gefäßen des Zorn e s die zur Zeit der Niederschrift des Römerbriefs ungläubigen J u d e n , also die Majorität der J u d e n , gemeint sind. Dies wird auch zumeist so gesehen. Anders urteilen hier n u r sehr wenige, wie z . B . Ulrich Luz, der den Pharao aus V.17 als Modell des Gefäßes zum Zorn siehtl39. Aber so deutlich auch in V.22 f . Elemente von V.17 a u f g e g r i f f e n werden ( έ ν δ ε ί Εωμα,ι. - έ ν δ ε ί ξ α σ θ α ι ; τ ή ν δ ύ ν α μ ί ν μου - τ ό δ υ ν α τ ό ν α ύ τ ο ϋ ) so wenig kann man im Rahmen der Gesamtgedankenführung den Pharao, der in V.17 n u r die Funktion eines einzelnen Argumentationselementes besitzt, damit in V.18 ein allgemein gültiger Spitzensatz formuliert werden k a n n , als Objekt einer so zentralen Aussage wie der von V.22 f . sehen! Was heißt aber dann nach allem die a u s J e r 27,25LXX entlehnte Wendung? Sie so auszulegen, wie es die Mehrzahl der Exegeten t u t , nämlich lediglich als Aufschub der Reprobierten, scheint mir a u f g r u n d der eben genannten Argumente unmöglich. Wir wollen jetzt noch nicht vom Schluß der Kap.9-11 her exegesieren. Aber es ist sicher e r l a u b t , wenigstens folgendes zu sagen: Am Ende wird sich zeigen, daß u n s e r allein a u f g r u n d der bisher exegesierten Stellen gewonnenes Ergebnis nicht revidiert zu werden b r a u c h t . Der o . g . A u f f a s s u n g von Schlier d ü r f t e aber dann eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit zukommen, als man ihr heute gemeinhin zumißt. Dann d ü r f t e auch κ α τ η ρ τ ι σ μ έ ν α ε ί ς ά π ώ λ ε ι α ν keineswegs im Sinne der Reprobation und der praedestinatio gemina zu deuten sein. Es sei allerdings die Frage gestellt, ob nicht Paulus vielleicht die Formulierung mit Absicht so interpretationsoffen gewählt h a t , um in der Tat den Leser zunächst vermuten zu lassen, hier könne die Reprobation a u s gesprochen sein. Aus der Retrospektive von Kap. 11 wird noch einmal d a r auf zurückzukommen sein ( s . Anm.434a). 140 Ein Wort a b e r noch zu Nils Alstrup Dahls Interpretation der Stelle ! Er stellt zunächst in einem Schaubild die Entsprechungen zwischen 9,17 und 139 140

Luz, Geschichtsverständnis, 245. Dahl, The future of Israel, in: d e r s . , Studies in Paul, 144-146.

- 54 9,22-24 richtig h e r a u s , sieht aber in 9,22 in der Anspielung auf J e r 27,25 LXX141 einen Vergleich des ungläubigen Teils Israel mit dem dort in der Gottesrede bedrohten Babylon ausgesprochen: "Paul p u t s the non-believing Jews of his time on the same level not only with Ishmael and Esau, b u t also with Pharaoh and with Babylon ( J e r . 50: 25), the last-named a symbol for a world power hostile to God ."142 Durch diese Exegese ist er aber gezwungen, die bereits hier abgewiesene Interpretation der "Gefäße des Zorns" als Werkzeuge Gottes a n z u n e h m e n ^ D e r Ausdruck "Gefäße des Zorns" impliziere beides, sowohl Ziele des Zornes Gottes als auch dessen Instrumente zu sein. Inwiefern aber Instrumente? " . . . the hardening of the heart of a p a r t of Israel will both show God's power and wrath and also demonstrate God's abundant goodness toward the vessels or tools of his mercy."144 :

Dahls Exegese von 9,22 u n d der dort von ihm angenommenen Anspielung auf J e r 27,25LXX d ü r f t e auf der Voraussetzung b e r u h e n , daß Paulus in V.22 den Literalsinn der Jer-Stelle in seine Argumentation einbaut. Aber der Zusammenhang der paulinischen Argumentation bietet zu einer solchen Annahme keinerlei Anlaß. So ist zu f r a g e n , ob ü b e r h a u p t eine Anspielung im strengen Sinne des B e g r i f f s vorliegt. Selbst Michel, nach dem auch f ü r Paulus die "Gefäße des Zornes" Gottes Werkzeuge, seinem Heilsplan eingeordnet, sind, schreibt lediglich, σ κ ε ύ η ό ρ γ η ς - o h n e ή ν ε γ κ ε ν ! ' "erinnert als Begriff" an J e r 27.25LXX; "doch hat er im alttestamentlichen Zusammenhang eine andere Bedeutung" 145. Michel spricht in seiner Exegese von 9,22 bezeichnenderweise nicht von einer Anspielung, geschweige von einem Zitat. Und Cranfield e r k l ä r t ausdrücklich, daß zwar J e r 27.25LXX die engste verbale Parallele sei, "but this is not a parallel, as far as the thought is c o n c e r n e d " 146. ü b e r h a u p t wird in den meisten Kommentaren die Frage, ob eine Anspielung vorliege, gar nicht gestellt! Man wird daher wohl mit Cranfield eine bloße wörtliche Übereinstimmung a n z u nehmen haben. Paulus redet hier mit der Sprache der Septuaginta; eine bewußte Anspielung auf den Sinn jener Jer-Stelle will er aber nicht biet e n . Wieder zeigt sich, wie Paulus so sehr in der Sprachwelt der Septuaginta lebt, daß er selbst da ihre Formulierungen b r a u c h t , wo er einen a n deren Inhalt aussagt als sie. Was aber will dann Paulus in V.22 mit der Wendung, Gott wolle seinen Zorn zeigen und seine Macht k u n d t u n , zum Ausdruck bringen? Käsemann hat wohl richtig gesehen, daß eine konzessive Auflösung des Partizips

141 Ib. 145, Anm.28: "It probable alludes to Jer. 27(50):25LXX . . . it corresponds to the phrase Ί have raised you up' . . . " 142 l b . 145. 143 S. Anm.138. 144 Dahl, op. cit. 145. 145 Michel, Rom, 315, Anm.23. 146 Cranfield, Rom II, 495, Anm.l.

- 55 θέλων die Interpretation der Gegenwart als letzte Frist zur Buße zur Folge h a t 1 4 7 ; zumindest d ü r f t e dies die nächstliegende Konsequenz sein. Allerdings wird Käsemann mit seiner Ablehnung der konzessiven Deutung Unrecht h a b e n . Ist jedoch das Partizip konzessiv zu v e r s t e h e n , so liegt der Akzent in 9,22 f . auf V.23, also auf der Kundgabe der Gnade f ü r die zur Herrlichkeit Prädestinierten. Mit Karl B a r t h : Hier liegt höchste Asymmetrie vor ( s . o . ) ! V.24 ist bekanntlich in seinem grammatischen Zusammenhang mit V.22 f . umstritten. Mit Cranfield 1 4 ^ s e j hier wegen der engen Verbindung zwischen V.22 f . und V.24 in letzterem ein Relativsatz angenommen, zumal diese Lösung auch gegenüber einer Interpretation von ή μ α ς als Apposition zu σ κ ε ύ η έ λ έ ο υ ς als die einfachere und näherliegende zu b e u r t e i len sein d ü r f t e (gegen Nestle-Aland 2 6 . A u f l . ) . Dann wäre ο υ ς constructio ad sensum!49. Damit ist jedoch nicht b e s t r i t t e n , daß die ganze Argumentation auf diesen Nebensatz zueilt. Mit Schlier, der auch V.24 als Relativsatz v e r s t e h t , wird man sagen können: "Sachlich wird der Relativsatz zu einem Hauptsatz."150 Das theologische Gewicht dieser Aussage wird auch daran ersichtlich, daß nun das π ρ ο η τ ο ί μ α σ ε ν aus V.23 durch das betonte έ κ ά λ ε σ ε ν , also das theologische Stichwort aus 9,6-29, näher bestimmt wird. Indem hier wieder κ α λ ε ϊ ν begegnet u n d gerade dieses Verb, dessen Gegensatz das Nichtberufen, aber nicht das Reprobieren i s t , antithetisch zu κ α τ η ρ τ ι σ μ έ ν α s t e h t , wird noch einmal deutlich, daß die eben vorgetragene Exegese dieses Partizips erneut eine Stütze f i n d e t . Entscheidend ist a b e r , daß nun zum ersten Mal die Heidenchristen genannt werden. Es kommt also nun jene Gruppe in den Blick der Argumentation, deren Existenz als Majorität in der Kirche die Minorität der Judenchristen innerhalb von Judentum und Kirche als ein so b e d r ä n g e n d e s Problem e r scheinen läßt. Gott hat also die vielen Heidenchristen b e r u f e n - mögen sie innerhalb des Heidentums natürlich auch eine Minorität ausmachen - und nicht die Majorität der J u d e n . Die u n b e s t r e i t b a r e Tatsache, daß die Judenchristen n u r diese Minorität innerhalb der Kirche darstellen, ist somit Werk des berufenden Gottes. Wahrscheinlich ist dies auch f ü r Paulus, der hier theologisiert, ein schmerzlicher Sachverhalt. Aber es muß eben von ihm und anderen zur Kenntnis genommen werden, zumal Gott selbst durch ein prophetisches Wort dies autoritativ ausgesprochen h a t , und zwar zunächst durch den Propheten Hosea, Hos 2,25; 2,1. Bezeichnend ist aber die Abänderung, in der Paulus das Zitat gegenüber des LXX b r i n g t . Diese Abänderung kann nicht durch einen R e k u r s auf den hebräischen Text v e r u r s a c h t sein; eine bewußte redaktionelle Gestaltung durch Paulus, d . h . von ihm vorgenommene Modifikation des LXX-Textes muß also angenommen werden. 147 148 149 150 150a

Käsemann, Rom, 261. Cranfield, Rom II, 498. Anders z . B . Lipsius, HC I I / 2 , 150; Käsemann, Rom, ?63 f . Schlier, Rom, 303. S . dazu auch Villiers, The Salvation of Israel.

- 56 Paulus zitiert zunächst Hos 2,25, allerdings ändert er die Reihenfolge. In LXX lesen wir: και, έ λ ε ή σ ω τ ή ν Ουκ ή λ ε η μ έ ν η ν ( a n d e r s BV: κ α ΐ άγαπήσω τ ή ν ούκ ή γ α π η μ έ ν η ν , Abänderung a u f g r u n d von Rom 9,25?) κ α ι έρώ τ φ Ού λαφ μου λ α ό ς μου ε С σ ύ . Wichtig ist f ü r u n s e r e Fragestellung die Substitution von έρώ durch καλέσω und die dadurch bewirkte Änderung in der S y n t a x . Die Umstellung der Reihenfolge der Sätze d ü r f t e dadurch bedingt sein, daß Paulus das Zitat mit καλέσω b e ginnen wolltelSl. Denn um dieses κ α λ ε ϋ ν ging es i h m ^ l a . £>as HosZitat sollte ja den Spitzensatz Rom 9,24 b e g r ü n d e n : Wie Gott d u r c h Hosea sagte, hat er die Heiden b e r u f e n , καλέσω . . . ist demnach zu ü b e r s e t zen: "Ich werde das Volk, das nicht mein Volk ist, als mein Volk b e r u fen u n d das Volk, das nicht geliebt i s t , als das geliebte." Also nicht: "Ich werde . . . n e n n e n . " Vor allem sollte wieder die l . P e r s . S i n g . beachtet werden. Gott spricht wieder sein "Ich", und zwar diesmal sogar mit dem Verb κ α λ ε ϋ ν . Das καλέσω greift das έ λ ε ή σ ω / έ λ ε ώ und das ο ί κ τ ι , ρ ή σ ω / ο ί κ τ ί ρ ω von V.15 a u f . Und das ή γ ά π η σ α von V.13 findet seinen Nachhall in ή γ α τ ι η μ έ ν η ν . Wie Gott einst den Isaak als Sohn ber u f e n h a t , V.7, so jetzt die Heidenchristen. Daß es wieder einmal dem Paulus gar nicht so sehr darauf ankommt, ein Schriftzitat als solches zu b r i n g e n , sondern Gott selbst sein "Ich" sagen zu l a s s e n ^ 5 2 , zeigt auch die formula quotationis: ώς κ α ι έ ν τ φ Ώ σ η έ λ έ γ ε ι . Subjekt ist hier natürlich Gott 1531 Gottes Subjektsein wird aber f ü r die Majorität der J u den ä u ß e r s t bedrohlich, wie V.26 zeigt: Anstelle der nichtberufenen J u den ( έ ν τ φ τόπψ . . . έ κ ε ϊ ) werden die Heiden b e r u f e n . Paulus v e r steht dabei diese Stelle wie auch die folgenden Zitate als "eschatologisch ausgerichtete Orakel, ohne ü b e r ihren u r s p r ü n g l i c h e n Sinn zu reflektieren "154. Nach Michel wäre der paulinische Schriftbeweis "nur dann gültig u n d u n a n f e c h t b a r " , wenn Paulus im Nordreich Israel, auf das sich das Hos-Zitat bezieht, einen Typos der Nichterwählung oder der Verwerfung ( ! ) gesehen h ä t t e . Doch bleibe die Frage o f f e n , ob ein d e r a r tiger geschichtlicher Zusammenhang f ü r Paulus wichtig i s t ^ ö Aber Typologie liegt hier kaum v o r . Worum es dem Apostel ging, war einzig, ein Gotteswort zu zitieren, in dem das alte Gottesvolk durch das neue a b g e löst wird. Daß Gott so machtvoll spricht, daß am Reden Gottes und somit am Berufen Gottes, das ein Reden i s t , alles liegt, das will Paulus herausstellen, und das will er mit größter Betonung herausstellen. Das Rätsel der so eigenartigen Mehrheitsverhältnisse in der Kirche, die f ü r jeden Judenchristen so schmerzlich sein mußten, ist gelöst, wenn man 151 Michel, Rom, 316: "So stellt Paulus das machtvolle καλέσω an den Anfang . . . und läßt mit ihm die Zitatenkollektion beginnen." 151a Byrne, Sons of God, 137: "In the first part Paul replaces the LXX έρώ with καλέσω, so that the key idea of 'calling' appears in both members of the quotation. 152 Käsemann, Rom, 264: Paulus betrachtet die Propheten als "Mittler der Gottesrede ". 153 So richtig Michel, Rom, 316, Anm.27; Cranfield, Rom 11,499; В und möglicherweise P46 lesen: ώς καί τφ Ώ σ η έ λ έ γ ε ι . 154 Käsemann, Rom, 264. 155 Michel, Rom, 317

- 57 n u r auf die Stimme Gottes h ö r t : Gott hat die, die jetzt zur Kirche gehör e n , b e r u f e n . Und n u r die hat e r b e r u f e n ! Die jetzige Konstellation in der Kirche ist Gottes Werk, sein Werk allein. Dahl e r k l ä r t , das Hos-Zitat beziehe sich nicht allein auf die glaubenden Heiden, sondern auf alle "Gefäße des E r b a r m e n s " , also auch auf die J u d e n c h r i s t e n . Es sei unwahrscheinlich, daß Paulus ü b e r s e h e n h a b e , daß sich bei Hosea die symbolischen Namen auf Gottes Erbarmen g e g e n ü b e r dem v e r s t o ß e n e n Israel beziehen. "The p h r a s e s 'in the place' and ' t h e r e ' ( έ κ ε ϊ ) in 9:26 make b e t t e r sense when we include the Israelites among those to whom it was said: 'You a r e not my people', b u t who a r e to be called 'sons of the living God.'"156 Aber weder ist die V o r a u s s e t z u n g , daß Paulus den Literalsinn des Hos-Buches b e r ü c k s i c h t i g t e , g e g e b e n , noch läßt sich diese Auslegung mit dem o f f e n k u n d i g e n Aussagesinn des Zitats bei Paulus v e r e i n b a r e n . Und daß έ ν τψ τ ό π ψ Jerusalem oder Palästina gemeint sein sollte 1 ^ 7 , ist m.E. ä u ß e r s t unwahrscheinlich. So werden wir zunächst f e s t h a l t e n : Mit dem Hos-Zitat wird das ά λ λ ά και. έ ξ έ θ ν ώ ν a u s V.24 b e l e g t . Das ου μ ό ν ο ν ' Ι ο υ δ α ί ω ν findet hingegen seine biblische B e g r ü n d u n g in dem, was in 9,27 f . Jesaja ü b e r Israel a u s r u f t ( κ ρ ά ζ ε ι ; P r ä s e n s ! ) - eine s e h r eigenartige formula quotationis 1 ^! In das Zitat J e s 10,22 f . ist eine Wendung a u s Hos 1,10LXX (= 2,1MT), wohl a u s Versehen, eingeflossen: 6 ά ρ ι θ μ ό ς των υ ί ώ ν ( ' Ι σ ρ α ή λ ) . Doch stimmt auch sonst das Zitat nicht voll mit LXX überein ( g e k ü r z t g e g e n ü b e r LXX., a u s g e r e c h n e t έ ν δ ι κ α ι ο σ ύ ν η f e h l t ; a b e r gerade dieser Begriff findet sich, wohl mit Absicht, in 9,6-29 n i c h t ) . V.27 ist in seiner B e d e u t u n g unproblematisch; das Zitat will in seinem Skopus s a g e n : Mag Israel auch noch so groß sein, so wird doch n u r ein Rest ger e t t e t w e r d e n . Wer n u r bis h i e r h e r gelesen h a t , muß zu d e r Überzeug u n g kommen, daß die Majorität der Juden im Endgericht r e t t u n g s l o s verloren i s t . F ü r sie b e s t e h t also keine H o f f n u n g auf σ ω τ η ρ ί α mehr, keine H o f f n u n g auf Gottes Endheil. Bestände d e r Israel-Abschnitt im Rom n u r a u s Rom 9,1-29, so würde wohl kaum ein Exeget auf den Gedanken kommen, daß eine R e t t u n g f ü r Israel in den Augen des Paulus b e s t ä n d e . Wir haben zwar schon 11,26 mit seinem π α ς ' Ι σ ρ α ή λ σ ω θ ή σ ε τ α ι im Ohr u n d suchen schon bei der Exegese von 9,27 i r g e n d wie, u n d sei es u n b e w u ß t , nach einem Ausgleich dieser Stelle mit 11,26. Aber Paulus will zunächst dem Leser die Dramatik d e r Aussage, daß n u r

156 Dahl, Studies, 146. 157 Munck, Paulus und die Heilsgeschichte, 301, unter Berufung auf San day/ Headlam; Dahl, Studies, 146, hält dies für möglich. Kritisch dazu Cranfield, Rom, II, 500. Richtig Käsemann, Rom, 265: "έν τφ τόπψ wie έ κ ε ϊ stehen emphatisch für ein 'anstatt von'." Aber warum übersetzt er dann: "So wird es geschehen an dem Orte, wo . . . " ? 158 Der Hinweis auf rabbinisches n i s bei Cranfield, Rom II, 501, unter Verweis auf Billerbeck, III, 275, trägt nichts ein. Das Verb ist erst bei den Amoräern typisch; s. Bacher, Terminologie II, 181 f f .

- 58 ein Rest, also eine Minorität der Söhne Israels, des Heils teilhaftig wird, sehr eindrücklich zum Bewußtsein bringen. Und es sei noch einmal in Erinnerung gerufen, daß ja 9,22 f . beim ersten Lesen durchaus den Eindruck machen kann, als sei hier die praedestinatio gemina ausgesprochen. Daß V.27 f . kein reines Gerichtswort ist ( Z e l l e r 159) t wird sich erst richtig vom Ende der Argumentation in Kap. 11 erweisen. Schwierig ist V.28; eine Auslegung, die sich allgemein durchgesetzt hätte, gibt es nicht^O. Da nach V.27 ausdrücklich die Zahl derer, denen Heil widerfährt, äußerst gering ist, dieser Vers also gerade den dunklen Horizont für den größeren Teil Israels absteckt, wird die fragliche Aussage in V.28 nicht gerade im Ton der Verheißung ausgesagt sein. Bisher ging es um Gott als den redenden und dadurch wirkenden. Muß λ ό γ ο ν von daher verstanden werden: Gott wird sein Wort auf dieser Erde zur Erfüllung bringen (συν τ ε λ ώ ν ) , indem er die Zahl Israels auf den Rest " v e r kürzt" ( σ υ ν τ έ μ ν ω ν )161? "Während das Nichtvolk an Kindes Statt angenommen wird, wird die Vollzahl Israels durch das abschließende Handeln Gottes d e z i m i e r t . 2 A U f keinen Fall darf σ υ ν τ έ μ ν ω ν als Verkürzung des Verheißungswortes verstanden w e r d e n N u i . a m Rande sei notiert, daß im MT dem σωθήσετοα ein Ί3 KP 1NW entspricht! Wie so oft, läßt sich auch hier der von Paulus intendierte Sinn nur mittels der LXX gewinnen . Der drohende Ton gegen Israel findet sich auch in dem den Abschnitt 9,6-29 abschließenden Zitat Jes 1,9LXX ( z . T . unterschiedlich gegenüber MT) in V.29. Jesaja hat es vorhergesagt ( P e r f . π ρ ο ε ί ρ η κ ε ν gegenüber Präsens in V.27). Der Restgedanke ist in κ α τ έ λ ι π ε ν noch einmal deutlich ausgesprochen. Und wiederum ist Gottes Aktivität betont herausgestellt: Gott ist es, "der uns Samen übriggelassen hat". Die Katastrophe Sodoms und Gomorras hätte sonst Israel ganz ereilt, also die Katastrophe jener so verruchten und verworfenen Heiden. Die Nachkommen Abrahams wären beinahe alle, hätte Gott nicht eingegriffen, wie die im Gottesgericht umgekommen, die Abrahams Verwandten in so scheußlicher Weise zusetzten! So findet sich in dem Schwarz der Gegenwart für Israel doch ein kleiner Lichtschimmer. Mehr aber nicht 163a t *

Schauen wir zurück auf das Ganze von 9,26-29, und zwar unter der uns zunächst leitenden Fragestellung, ob Paulus die Zitate als formale Schrift 159 161 163 163a

Zeller, Juden und Heiden, 121. 160 S. die Kommentare. Ähnlich Wilckens, Rom I I , 207. 162 Michel, Rom, 318. Dagegen mit Recht z . B . Wilckens, Rom I I , 207; Schmidt, Rom, 170. Nicht behandelt, weil einer späteren Studie vorbehalten, ist hier das Verhältnis der alttestamentlichen Vorstellungen vom Rest und dessen Rezeption durch Paulus. Hier sei nur auf folgende Literatur verwiesen: W ,E .Müller, Die Vorstellung vom Rest im Alten Testament (Ergänzungen und Nachtrag von Η ,D .Preuß); Hasel, The Remnant; Clements, "A Remnant Chosen by Grace".

- 59 zitate mit formaler Schriftautorität zitiert, so muß eine differenzierte Antwort gegeben werden. Unbestreitbar ist Paulus von der Schriftgemäßheit seiner Argumentation überzeugt und verweist deshalb in 9,13.17.25 a u s drücklich auf die S c h r i f t , bzw. das Geschrieben-Sein. Sein Grundanliegen ist aber dies: Er b e r u f t sich auf Gott, der autoritativ, nämlich E r wählung setzend gesprochen h a t . Konstitutiv f ü r die Zitate i s t , daß in ihnen an entscheidenden Stellen Gott in der Ich-Form spricht, wie wir dies in solcher Massierung im ganzen übrigen Neuen Testament nicht mehr f i n d e n . Wo aber dieses Ich nicht direkt ausgesprochen i s t , da ist zumindest von Gottes Aktivität, z . T . im bezeichnenden passivum divinum, die Rede. Wird sich nun in den beiden nächsten Abschnitten von Rom 9-11 dieser Sachverhalt in dieser Ausgeprägtheit nicht mehr finden, so stehen doch beide Abschnitte u n t e r dem Vorzeichen dieses Ichs Gottes im ersten Abschnitt. Damit ist aber theo-logisch gesagt, daß von Israel nicht gesprochen werden k a n n , ohne daß zugleich von Gott die Rede i s t , der Israel durch sein Berufen k o n s t i t u i e r t . Wo in der theologischen A r gumentation des Apostels Gottes Ich formal und material bestimmend i s t , da steht das b e h e r r s c h e n d e theologische Stichwort, κ α λ ε ϊ ν , " b e r u f e n " , das seinerseits durch έ λ ε ε ϋ ν , "sich erbarmen", konkretisiert wird. Von Vers zu Vers hat sich der Eindruck v e r s t ä r k t : 9,6-29 ist ein theologisch dicht angelegter, in sich zielstrebiger Abschnitt, der durch seine inhaltliche Geschlossenheit b e e i n d r u c k t . Besäßen wir von Rom 9-11 n u r diesen Abschnitt, keiner käme wohl von sich a u s auf den Gedanken, es müsse doch irgendwie noch weitergehen. Die innere Abgerundetheit ist so offensichtlich, daß wir n u r deshalb weiterlesen wollen, weil wir ja bereits wissen, daß es weitergeht und daß 9,27-29 nicht die endgültige Lösung des Paulus i s t . Der damalige Leser bzw. Hörer wird sicher im Bann dieser A u s f ü h r u n gen gestanden haben und bei 9,27-29 - sofern er Judenchrist war - zunächst einmal gedacht haben: So also soll es mit meinem Volk stehen! Es spricht f ü r den genialen Aufbau von Rom 9-11, daß Paulus zunächst dieses "fertige" Bild gezeichnet h a t , um d a n n , modern gesprochen, im Kap. 11 das Überraschungsmoment "Gott wird ganz Israel r e t t e n " zu b r i n g e n . Zuvor a b e r - welch geschickte Regie! - spricht Paulus in Kap. 10 ü b e r das, was ü b e r den Menschen, genauer: ü b e r Israel, zu sagen i s t . Aber auch mit dieser Thematik rechnet der Leser bzw. Hörer von 9,6-29 nicht mehr. Denn Paulus hat ja in seiner Berufungstheologie ausdrücklich h e r vorgehoben: Es kommt nicht auf das Tun des Menschen a n , sondern allein auf das Berufen Gottes, 9,11. Und nun doch von 9,30 an: Israels Verhalten! Und nun auch jene Thematik, die zunächst nicht a u s g e s p r o chen wurde: die Rechtfertigungslehre des Apostels. Das Junktim Israel - Rechtfertigungslehre wird in den nun folgenden A u s f ü h r u n g e n von t r a g e n d e r Bedeutung sein.

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1.3. Israels Schuld angesichts der Glaubensgerechtigkeit Rom 9,30-10,21 Der zweite Abschnitt in Rom 9-11 beginnt eindeutig mit 9,30-33, weil nun von Paulus ein neues Thema terminologisch zum Ausdruck gebracht wird. In 9,6-29 begegnete uns weder der für den Rom zentrale Begriff νόμος noch der ebenfalls für den Rom so entscheidende Begriff δικαιοσύνη. Zur Genüge wurde bereits darauf hingewiesen, daß in diesem ersten Abschnitt vom Tun des Menschen nicht die Rede war, ja, darüber hinaus, nicht die Rede sein durfte. Aber 9,30-10,21 bringt nun endlich Aussagen über das Tun des Menschen, über sein vergebliches und über sein dem Handeln Gottes angemessenes Tun1®"*'3. Der in 9,30 f. gleich vielmal vorkommende Begriff δικαιοσύνη findet sich in Kap. 10 als theologischer Leitbegriff noch weitere siebenmal. Und der in 9,31 zweimal vorkommende Begriff νόμος steht noch zweimal, ebenfalls als theologischer Leitbegriff, in 10,4 f . Des weiteren ist 9,30-33 mit 10,1-21 durch π ί σ τ ι ς / π ι σ τ ε ύ ε ι ν ( 9 , 3 0 f . : zweimal έκ πίστεως, 9,33: Ь πιστεύων) verknüpft: in 10,1-21 π ί σ τ ι ς dreimal, davon einmal έκ πίστεως; π ι σ τ ε ύ ε ι ν siebenmal. Das terminologische Band, das 9,30-10,21 inhaltlich zu einer Einheit zusammenbindet, ist also unübersehbar. Wenn also z . B . Bertold Klappert als wichtigstes Argument für den Neueinsatz des zweiten Teils in 10,1 anführt, daß "Paulus sich im Angang aller drei Kapitel in solenner Weise für Israel erklärt und ausspricht"164 ( so trägt ein solch formales Argument angesichts der soeben aufgezeigten terminologischen und somit inhaltlichen Einheit von 9,30-10,21, die in terminologischer und inhaltlicher Weise von 9,6-29 abgesetzt ist, nicht im mindesten. Schon gar nicht kann für Klapperts These, Kap. 10 beschreibe nicht die Schuld Israels, das A r gument überzeugen, daß Paulus ja schon in 2 , 1 - 3 , 2 0 die Schuld der Juden aufgewiesen habe und somit der erneute Nachweis und Aufweis der Schuld Israels in 9,33-10,21 eine unnötige und als solche schon unwahrscheinliche Verdoppelung seil65. Warum Paulus um der Systematik seines Gedankenganges willen nicht einen bereits einmal ausgesprochenen Gedanken wiederholen könnte, leuchtet nicht ein 166. So eindeutig sich aber 9,30-33 terminologisch und inhaltlich als Anfang des zweiten Abschnitts von Rom 9-11 erweist, so wenig eindeutig sind die dort vorkommenden zentralen Begriffe. So spricht Otto Michel von der Auslegung der schwierigen V.30 und 31, bei der man berücksichtigen müsse, daß die beiden Begriffe δικαιοσύνη und νόμος doppeldeutig gebraucht werden167. 163b Villiers, Salvation, 206, kann nur deshalb in 9,6 ff. Israels Sünde ausgesprochen finden, weil er 9,30-33 als Abschluß dieses Abschnitts faßt. 164 Klappert, Traktat, 72 f . ; er beruft sich für das "kirchenkritische" Verständnis von Rom 9-11 vor allem auf Eichholz, Theologie, 10.Kap., der freilich vorsichtiger als er argumentiert. Eine Auseinandersetzung mit Eichholz halte ich in dieser Monographie nicht für erforderlich, da die hier vorgelegten Exegeten meine gegenüber ihm unterschiedliche Auffassung von Rom 9-11 deutlich zeigen. 165 Ib. 72.

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In 9,30 f . liegt zwar kein formales Zitat vor wie in V . 3 3 . Dennoch können aber die V . 3 0 und 31 nur dann richtig interpretiert werden, wenn ihr alttestamentlicher Hintergrund transparent wird. Doch zunächst zur Mehrdeutigkeit des von Paulus Gesagten! Wie z . B . in Rom 6 , 1 setzt der Apostel in 9,30 mit der typischen Diatribe-Frage τ ί οΰν έ ρ ο ϋ μ ε ν ; neu ein. Er stellt einen paradoxen Gegensatz heraus: Heiden (ohne A r t i k e l ! ) , die der Gerechtigkeit nicht nachgejagt hatten, empfingen sie trotzdem, freilich als Gerechtigkeit aus dem Glauben. Israel hingegen jagte dem "Gesetz der Gerechtigkeit" nach, gelangte aber nicht zum Gesetz. Die große Schwierigkeit liegt in V . 3 1 , und zwar in dem Begriff νόμον δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ς . Zwei Grundauslegungsmöglichkeiten bieten sich an: 1. Das Partizip διώκων ist kausal aufzulösen: Weil Israel dem Gesetz als einem Gesetz, durch das Gerechtigkeit zu erlangen sei, nachjagte, gelangte es nicht zum Gesetz. 2. Das Partizip ist adversativ aufzulösen: Obwohl Israel dem Gesetz, das auf Gerechtigkeit aus ist, nachjagte, gelangte es nicht zum Gesetz. Im ersten Fall ist die Wendung "Gesetz der Gerechtigkeit" (mehr) negativ gesehen, im zweiten Fall (mehr) positiv. Doch eine zweite Schwierigkeit ist damit gegeben, daß in V.32b wichtigste Satzteile fehlen: Ist έ δ ί ω κ ε ν zu ergänzen: "weil Israel dem Gesetz der Gerechtigkeit nicht aus Glauben, sondern wie aus Werken nachjagte"? Oder ist als Subjekt νόμος zu ergänzen: "weil das Gesetz nicht aus Glauben i s t , sondern wie aus Werken" (vgl. Gal 3 , 1 2 ! ) ? Daß die jeweilige Interpretation der einen Mehrdeutigkeit für die Interpretation der anderen von Belang ist, liegt auf der Hand. Vor allem läßt sich wohl schon folgende Dependenz festhalten: Wenn man V.32 so auslegt, daß das Gesetz seinem Wesen nach nicht "aus Glauben" ist, dann legt sich damit für V . 3 1 die Auslegung nahe: Weil Israel dem Gesetz der Gerechtigkeit, das ja nicht im Glauben seinen Grund hat, nachjagte, mußte es das Gesetz notwendig verfehlen. Freilich hätte man dann aber e r wartet, daß Paulus geschrieben hätte: " . . . hat Israel die Gerechtigkeit nicht erreicht, ε [ ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν ούκ ίφθασεν."168 Aber gerade das steht nicht da! Versteht man V . 3 2 , daß Israel dem Gesetz der Gerechtigkeit nicht aus Glauben, sondern wie aus Werken nachjagte und deshalb - V.32 begründet ja V . 3 1 ( δ τ ι ) - bei seinem Versuch, dem Gesetz der Gerechtigkeit nachzujagen, nicht das Gesetz (in dem , was es eigentlich will) erreicht hat, so liegt nahe, die Wendung "Gesetz der Gerechtigkeit" positiv zu sehen: Das Gesetz hat mit Gerechtigkeit zu tun, aber das Gerechtigkeitsziel des Gesetzes wird notwendig verfehlt, wenn man mit der Grundeinstellung "aus Werken" dem Gesetz nachjagt. Dieses "wie aus Werken" ist 166 167 168

S . vor allem Kümmel, Probleme von Rom 9 - 1 1 , S . 1 8 , Anm.19: In Rom 9 , 3 0 f . ist nicht mehr von Gottes Verhalten, sondern von Israels Reaktion die Rede. Michel, Rom, 321, A n m . 5 . Cranfield, Rom II, 507.

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etwas, was das an sich gute und heilige Gesetz (Rom 7,12) depraviert. Damit der Jude sich des Gesetzes rühmen kann, muß er es als "Gesetz der Werke" (Rom 3,27) mißinterpretieren und pervertieren. Die Frage δ ι ά ποίου νόμου.; läßt sich am besten so paraphrasieren: Wie muß denn das (ein) Gesetz beschaffen sein, so daß (konsekutiv!, also nicht im finalen Sinn "damit") durch dieses die Möglichkeit des Sich-Rühmens grundsätzlich ausgeschlossen istl69. Auffällig ist jedoch, daß weithin in den gängigen Kommentaren die Frage nach dem Sinn von νόμον δικαιοσύνης nicht oder höchstens am Rande diskutiert wird. Die von uns soeben genannte Alternative - "Gesetz, das zur Erlangung von Gerechtigkeit mißbraucht wird" und "Gesetz, dessen innere Intention nach dem Willen Gottes Gerechtigkeit ist" - wird selbst in den Kommentaren, in denen sich der Autor der Aufgabe der Begriffsbestimmung unterzieht, in dieser Schärfe zumeist nicht herausstellt. Für eine positive Wertung spricht also möglicherweise Rom 3,27, wenn dort die Wendung νόμος των έργων nicht das Gesetz als solches diffamiert, sondern mit ihr lediglich zum Ausdruck gebracht werden soll, daß der, der das Gesetz zum Mittel des Sich-Rühmens abqualifiziert, es zum "Gesetz der Werke" pervertiert 170. Wer im Rom 10,4 τέλος νόμου Χριστός mit "Christus ist das Ziel des Gesetzes" übersetzt, wird ebenfalls für eine positive Interpretation von "Gesetz der Gerechtigkeit" votieren. Doch ist diese Übersetzung kaum zutreffend ( s . u . ) . Wilckens interpretiert unseren Abschnitt von Rom 10,5 her: " e i ς νόμον ούκ έφθασεν besagt nicht nur, daß Israel die Gerechtigkeit nicht erlangt hat, sondern schärfer, weil grundsätzlicher: Es hat damit auch das Gesetz nicht 'erreicht'. Die Tora ist eben nicht eine Heilsgabe, die als solche Bestand hat, ob Israel sie erfüllt oder nicht erfüllt, sondern wer das Gesetz nicht tut, verfehlt auch die Zugehörigkeit zu ihm als signum der Erwählung (vgl. 2,12f und 10,5)."171 Aber vom Kontext Rom 10,2 f . her erscheint diese Interpretation mehr als fraglich. Rom 2,12 f f . , wo Paulus dem Juden den Vorwurf macht, das Gesetz in antinomistischer Weise zu übertreten, und Rom 10,2 f f . , wo Paulus den nomistischen, aber gerade daher törichten Eifer der Juden für das Gesetz entlarvt, decken sich nicht. Beide Anklagen gegenüber den Juden gehen in die jeweils entgegengesetzte Richtung. Man kann nicht den Vorwurf der Gesetzesübertretung in 2,12 ff. mit dem Vorwurf des Nomismus in 10,2 ff. in einer Perspektive sehen und dann die vorgeblich eine Schuld in die Aussage 9,31 hineinprojizieren. Damit ist jedoch nicht bestritten, daß 9,31 von 10,5 her beleuchtet werden kann. Im Vorgriff auf die Behandlung dieser

169 170 171

Hübner, Gesetz bei Paulus, 95. Dagegen vor allem Räisänen, Paul and the Law, 50 ff. Wilckens, Rom II, 212.

и.о.

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Stelle sei bereits gesagt, daß Paulus keineswegs die dort von Mose ausgesprochene Gerechtigkeit aus dem Gesetz - nicht einfach identisch mit der " W e r k g e r e c h t i g k e i t " 1 _ a i s a priori verwerflich hinstellt. Rom 10,5, im Lichte von Rom 7,10 - das Gebot (des Gesetzes) ist eigentlich ein Gebot auf Leben hin 173 _ gesehen, dürfte besagen: Wer die Gebote tut, weil es Gottes Gebote sind, nicht aber, weil er durch das Tun der Gebote sich als gerecht vor Gott pro-stituieren w i l l i g , der wird kraft der Gesetzesgerechtigkeit leben. Freilich ist auch mit der Interpretation von V.32b als "Israel jagte dem Gesetz nicht aus Glauben nach, sondern wie aus Werken" die pejorative Auslegung von "Gesetz der Gerechtigkeit" nicht ausgeschlossen: Weil Israel ihm als einem Gesetz nachjagte, durch dessen Befolgung ihm die Gerechtigkeit zuteil werden sollte, gelangte es nicht zum Gesetz; denn dem Gesetz auf diese Weise nachzujagen bedeutet, ihm aus der Haltung "wie aus Werken" nachzujagen. Möglich ist ferner die Interpretation: Obwohl Israel dem Gesetz nachjagte, das die Gerechtigkeit aus Glauben bzw. die Gerechtigkeit Gottes verhieß, ist es zu dem so zu verstehenden Gesetz nicht gelangt. Nach Käsemann wird dialektisch vom "Gesetz" gesprochen; der qualitative Genitiv δικαιοσύνης bezeichnet dem Kontext nach die Verheißung, so daß das Gesetz wie in 3,21 als Zeuge der Gerechtigkeit zu betrachten seil?5 # So haben wir eine ganze Palette von Interpretationsmöglichkeiten vor uns, die alle irgendwie in den größeren Kontext des Rom integrierbar sind. So wäre zu überlegen, ob nicht der Aufweis des alttestamentlichen Hintergrunds der Stelle Hilfe für eine Antwort auf die Frage nach ihrem Sinn bieten könnte. Hier sind es vor allem zwei Wortverbindungen, die in Erwägung zu ziehen wären, nämlich δ ι ώ κ ε ι ν δικαιοσύνην und νόμος της δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ς . Letztere Wendung findet sich in einer die Übernahme der Vorstellung der hellenistischen Königsideologie parodierenden Aussage, Sap.2,11: Unsere Stärke ist es, die für uns das Gesetz der Gerechtigkeit ausmachen soll 17 ®. Daß Paulus aus dieser Stelle den Begriff "Gesetz der Gerechtigkeit" übernommen haben sollte, erscheint mir als fraglich. Eher liegt es nahe, daß er die mehrfach in der LXX vorkommende Wendung δ ι ώ κ ε ι ν δικαιοσύνην bzw. δ ι ώ κ ε ι ν τδ δ ί κ α ι ο ν aufgreift. Listen wir zunächst die infrage kommenden Stellen auf: Jes 51,1 άκούσατέ μου, οι διώκοντες τό δ ί κ α ι ο ν και ζητοϋντες τδν κύριον . . .

172 173 174 175 176

Hübner, Gesetz bei Paulus, 102. Ib. 64. Ib. 101. Käsemann, Rom, 267 f . ; s . auch Cranfield, Rom II, 507 f . Georgi, JSHRZ III, 408, A n m . l l .

- 64 Prov.15,9 Sir 27,8 Dtn 16,20

βδέλυγμα κυρίψ οδοί άσεβους, δ ι ώ κ ο ν τ α ς δέ δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν άγαπςί. Έά,ν δ ι ώ κ ρ ς τ ό δ ί κ α ι ο ν , καταλήμψη κ α ι ένδύστι α ύ τ ό ώς π ο ρ δ ή ρ η δ ό £ η ς . δικαίως τδ δίκαιον δίωξη, ϊνα ζητε.

Zu klären i s t , ob Paulus eine dieser Stellen in besonderer Weise vor Augen h a t t e oder ob er eine mehrfach in der LXX vorkommende Redeweise b e n u t z t . Unsere These ist, daß das Kap.51 des Jes-Buches den alttestamentlichen Hintergrund von Rom 9,30 f . bildet. Denn gerade hier ist der Kontext von Jes 51,1 von besonderem I n t e r e s s e . Eine Reihe von Formulierungen und Motiven dieses Kapitels findet sich nämlich im Kontext von Rom 9,30 f . Anders gesagt: Der Kontext von Rom 9,30 f . und der Kontext von Jes 51,1 b e r ü h r e n sich terminologisch in bezeichnender Weise. Gemeint ist f ü r Rom 9,30 f . sowohl der zuvor u n d der danach stehende Kontext. In Jes 51,2 ist von Abraham die Rede. Dieser ist e s , von dem es als Gottes Rede heißt: Er war dieser eine, den ich b e r u f e n h a b e , έ κ ά λ ε σ α α ύ τ ό ν , und den ich geliebt habe, ήγάιτησα α υ τ ό ν . Der P r o phet spricht vom Gesetz Gottes und vom Gericht Gottes, das als Licht der Heiden dient, ε ί ς φως έ θ ν ώ ν , V.4. In V. 7 ist wieder die Rede vom Gesetz, und zwar im Herzen der Angesprochenen. In V.5 kündigt Gott seine nahe Gerechtigkeit, δ ι κ α ι ο σ ύ ν η μ ο υ , a n , wobei diese Gerechtigkeit parallel zum Heil Gottes, τ ό σ ω τ ή ρ ι ό ν μ ο υ , genannt wird. Ebenfalls in V.5 heißt es, und zwar als Fortsetzung dieses Gedankens, daß die Heiden auf Gottes Arm, also auf Gottes Macht, h o f f e n . In V.6 wird von diesem Heil g e s a g t , daß es in Ewigkeit währte, und von der Gerechtigkeit Gottes, daß sie nie a u f h ö r t e . In V.8 wird dies mit zum Teil gleichen, zum Teil ähnlichen Worten wiederholt. Wer will, mag sogar in dem ζ η τ ο ϋ ν τ ε ς Rom 10,2 einen Nachklang des ζ η τ ο ϋ ν τ ε ς von Jes 51,1 e r kennen . Man mag diese lange Reihe von Koinzidenzen mit dem Zufall e r k l ä r e n . Doch wäre eine solche Erklärung zu einfach, schon allein angesichts der Tatsache, daß Paulus gerade das Jes-Buch bevorzugt b e n u t z t . Eigentümlicherweise taucht zwar bei Paulus die Wendung ε [ ς φως έ θ ν ώ ν n i r g e n d s a u f . Aber die Sache selbst ist es ja, die f ü r den Apostel das Entscheidende seiner B e r u f u n g und seiner Theologie i s t . In Gal 1,15 d ü r f t e er seine B e r u f u n g mit den Worten von Jes 49,1 zum Ausdruck b r i n g e n : £κ κ ο ι λ ί α ς μ η τ ρ ό ς μου έ κ ά λ ε σ ε ν τ ό ό ν ο μ ά μ ο υ , s . auch Jes 49,5. Und Jes 49,6 lesen wir: Сбой τ έ θ ε ι κ ά σε ε ί ς φως έθνών . Daß Paulus in Gal 1,15 auch den Kontext von Jes 49,1, nämlich 49,6, vor Augen h a t t e , ist m.E. mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Lebte aber Paulus, was seine eigene Existenz a n g e h t , aus Jes 49 - auf Jes 49,22-26 werden wir später noch zu sprechen kommen - , so liegt es nahe a n z u n e h men, daß auch J e s 51 von ihm von höchster theologischer Relevanz war. Hier a b e r ist in V.5 die bereits enge inhaltliche Parallele von Gesetz Gott e s , Gerechtigkeit Gottes und Heil Gottes auffällig. Israel wird hier in V . l a u f g e f o r d e r t , dem Gerechten (Neutrum) - doch wohl in den Augen

- 65 des Paulus der Gerechtigkeit - nachzujagen, weil Gott den Abraham berufen hat. Paulus aber weiß, daß Israel versagt. Gottes Gesetz ist nicht in Israels Herz (vgl. 49,7). Das Heil aber geht an die Heiden. Vergegenwärtigt man sich diesen ganzen Sachverhalt, so verwundert seine Nichtbeachtung durch die Kommentatoren des Rom. Was aber bedeutet der mit höchster Wahrscheinlichkeit anzunehmende Sachverhalt, daß Paulus in Rom 9,30 f . den weiteren Kontext von Jes 51,1 mitbedacht hat? Da in ihm Gottes Gesetz von Gottes Gerechtigkeit in gleicher positiver Wertung vorkommen, länge immerhin ein Konvenienzgrund für die Auffassung vor, daß "Gesetz der Gerechtigkeit" nicht im negativen Sinne zu interpretieren ist, zumal die Gerechtigkeit Gottes in inhaltlicher Parallele zum Heil Gottes gerade im Blick auf die Heiden ausgesprochen wird, 51,5. Dann aber ist sehr ernsthaft die Auffasung Käsemanns zu erwägen, wonach Israel einem Gerechtigkeit verheißenden Gesetz nachlief!77. (Allerdings ergänzt er in V.32 nicht έδίωκεν, sondern: "Weil es nicht aus Glauben, sondern im Wahn aus Werken (lebte). x)ie Grundhaltung Israels umschreibt Käsemann wie folgt: "Vielmehr ist der zur Gerechtigkeit rufende Wille Gottes im Gesetz unzugänglich geworden, als dieses mißverstanden und zum Leistungsruf gemacht wurde. Das ergibt die Paradoxie, daß die Juden, gerade indem sie der Gerechtigkeit nachjagten, das Ziel in falscher Interpretation verschoben und verfehlten."179 Für Wilckens ist das eine Mißdeutung, die den jüdischen Glauben beleidige; von dem, was Käse mann sage, stehe nichts im Text. Aber Wilckens interpretiert, wie schon gesagt wurde, Rom 9,31 in einer nicht überzeugenden Weise von 10,5 her. Und auch die Auffassung, in 9,32 müsse das Verb δφθασεν, nicht aber έδίωκεν ergänzt werden, läßt sich nicht damit begründen, daß die Heiden nicht gelaufen sind und folglich Israel das Ziel verfehlt habe, weil es überhaupt gelaufen seil80. Das τά μή δυώκοντα von V.30 meint den reinen Gnadencharakter der Gerechtigkeit, die den Heiden zuteil wurde; es meint aber nicht, daß ein διώκεuv, welcher Art auch immer, ausgeschlossen sei. Und außerdem ergibt die Ergänzung von δφθασεν in V.32 keinen Sinn, auch nicht den, auf den es Wilckens ankommt. Mag auch wegen der fehlenden Eindeutigkeit von V.31 eine Interpretation nicht mit letzter Sicherheit möglich sein, so dürfte doch Käsemanns Auslegung immer noch die überzeugendste sein. Und so kann auch С ranfiel d zugestimmt werden, wenn er erklärt: "for v.32 implies that is was not the object of their pursuit which was wrong but the way in which they had pursued it

177 178 179 180

Käsemann, Rom, 267; anders z . B . Schlier, Rom, 307: "Νόμος δικαιοσύνης ist das jüdische Gesetz, das Gerechtigkeit fordert und insofern verheißt, wenn es getan wird (vgl. Rom 1 0 , 5 ) . Ihm entspricht die δικαιοσύνη ή έκ νόμου." Käsemann, Rom, 267. Ib. 268. Wilckens, Rom II, 212.

-

66

-

(had they pursued it έκ πίστεως instead of ώς έξ έργων, they would have been doing what was required). "181 Das Gesetz sollte, so Cranfield, zeigen, wie Israel die Gerechtigkeit vor Gott erlangen kann, nämlich über den Weg des G l a u b e n s ^ . Weil die Juden (in V.32c plötzlicher Ubergang zu 3.Pers.Plur.; überhaupt von hier ab bis 10,3 diese Pers.) "wie aus Werken" dem Gesetz nachjagten, stießen sie an den Stein des Anstoßes an. In V.33 folgt der mit der formula quotationis καθώς γέγραπται eingeleitete Schriftbeweis, der wieder aus einem Mischzitat besteht, das als solches nach fast übereinstimmender Meinung auf Paulus zurückgehtl83. Die eigentliche Problematik besteht jedoch nicht in dem Faktum, daß ein Mischzitat vorliegt. Sie liegt auch nicht in der Frage, ob Paulus in der Zitierung von Jes 28,16 bzw. Jes 8,14 einer bereits vorgegebenen christlichen Tradition folgt 184. Sie ist vor allem damit gegeben, daß der Apostel den Begriff "Stein des Anstoßes", λίθος προσκόμματος, aus Rom 9,32 in das Zitat Jes 28,16 in Rom 9,33 hineinnimmt. Dieser Begriff findet sich in Jes 8,14. So beweist paradoxerweise Paulus mit dem Zitat Jes 28,16 die Aussage von V.32 gerade dadurch, daß er den wesentlichen theologischen Leitbegriff des in V.32 assertorisch ausgesprochenen Satzes in das Zitat hineinprojiziert. Nur dadurch, daß er den zuvor ausgesprochenen Gedanken in das Zitat interpoliert, kann er das Zitat als Schriftbeweis anführen! Bleiben wir zunächst bei der Textgestalt, die Paulus bringt. Der nahezu alle Exegeten beschäftigende Sachverhalt, daß das Zitat in wichtigen Einzelheiten, vor allem in seinem ersten Teil, nicht mit dem LXX-Text übereinstimmt, wohl aber z . T . mit der Parallelzitierung von Jes 28,16 in 1 Petr 2,6, und daß Jes 8,14 in 1 Petr 2,8 wiederum in einer mit Rom 9,33 fast identischen Weise zitiert wird, führt immer wieder zu der Frage, ob nicht sowohl Paulus als auch der Autor des 1 Petr auf eine gemeinsame Tradition zurückgeht. So jüngstens wieder mit Nachdruck Dietrich-Alex Koch in seinem Aufsatz "Beobachtungen zum christologischen Schriftgebrauch in den vorpaulinischen Gemeinden"185. Die Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Leider geht er aber auf die griechischen Versionen des Aquila, des Theodotion und des Symmachus nicht ein, obwohl

181 182

183 184 185

Cranfield, Rom II, 508. Ib. 508; ä u ß e r s t unwahrscheinlich ist die Auffassung von B . M a y e r , Unter Gottes Heilsratschluß, 227, daß νόμος in Rom 9 , 3 1 im allgemeinen Sinne in Analogie zu 7 , 2 2 . 2 5 ; 8 , 2 " O r d n u n g " , "Macht" bedeute. E r zitiert ib. 228, Anm.52, F.W.Maier, der "Ideal der Gerechtigkeit" p a r a p h r a s i e r t ; Israel sei nicht zu diesem Ideal gelangt. S . die Kommentare; außerdem vor allem К .Müller, Anstoß und Gericht, 71 f f . ; Koch, ZNW 71, 178-183. Koch, ZNW 71, 186. S . Anm. 183.

- 67 d i e s e Ü b e r s e t z e r b z w . R e d a k t o r e n i n t e r e s s a n t e Ü b e r e i n s t i m m u n g e n mit d e n a u s J e s 8 , 1 4 s t a m m e n d e n W o r t e n d e s Z i t a t s i n Rom 9 , 3 3 a u f w e i s e n 1 8 ® . Z u r Ü b e r s i c h t d i e b e i d e n J e s - T e x t e , Rom 9 , 3 3 u n d 1 P e t r 2 , 6 ( w ö r t l i c h e Ü b e r e i n s t i m m u n g e n z w i s c h e n J e s u n d Rom s i n d u n t e r s t r i c h e n ) : J e s 28,16 M T 1 8 7 :

1ПЗ

13N

tl'tl'

ПК

Nt?

J e s 8,14 MT:

inwna

Jes 28,16LXX:

'Ιδού

VOKnn

Ι^Νΐη

έγώ έμβαλώ ε ί ς πολυτελή

έντιμον

είς

OJh

TD1Q Т О Щ

ПДЗ

λίθον

καΐ

*тр*

τά θεμέλια

έκλεκτδν

έπ'

ЛЗЗ

...

τά θεμέλια

6 πιστεύοον

tllp''

Σ ιών

άκρογωνιαιον

aüxfjg,

αύτφ

ο ύ μή

καταισ-

χυνθώ .

J e s 8,14 LXX:

... ουδέ

Jes 8,14α':

και

ούχ

και

ε£ς

είς

λίθον

λίθον

δέ

Rom 9 , 3 3 :

θ'

λίθον

καΐ

(α'θ1

προσκόμματος

καΐ

(α' είς

και

Q)

και

είς

καΐ

είς

στέρεον

πέτραν

προσκόμματος

πτώματος

και

Q)

είς

πτώματος

Сбои τ ί θ η μ ι και

...

πτώματι·

σκανδάλου

πέτραν

προσκόμματι

προσκόμματος

σκανδάλου είς

λίθου

ώς π έ τ ρ α ς

στέρεον

Jes 8,14σ' :

ώς

πέτραν

έν

Σ ιών

λίθον

προσκόμματος

σκανδάλου

ό πιστεώων

έπ'

αύτφ

об

καταισχυν-

θήσεται.

186 187

Von С ran field, Rom II, 512, bemerkt; ausführlich von К .Müller, Anstoß und Gericht, 72 f . , d i s k u t i e r t . Vokalisierung nach Wildberger, BK.AT X/3,1065 f . , und BHS, a n d e r s BH Kittel.

-

1 Petr 2 , 6 :

Сбой τ ί θ η μ ι άκρογωνιαΐον

68

-

έν Σιών λιθον

έκλεκτόν

έντιμον

και ό πιστεύων έ π ' αύτψ ού μή κ α τ α ι σ χυνθώ . Nicht durch die LXX oder α 1 , θ ' , σ 1 belegt ist das sowohl in Rom 9,33 als auch in 1 Petr 2,6 belegte τ ί θ η μ ι . Doch läßt sich daraus und dem für Rom und 1 Petr zugleich ausweisbaren Befund von dem Ineinander bzw. Nebeneinander von J e s 28,16 und J e s 8,14 nicht zwingend die Hypothese von einem unter dem Einfluß der LXX aus dem Hebräischen ins Griechische überführten Schriftflorilegium jüdischen Vorbildes folgern l ^ 8 . Daß Paulus in der ihm vorliegenden griechischen Übersetzung des Alten T e staments τ ί θ η μ ι έν Σιών gelesen hat, also in einer Übersetzung, die nahe am hebräischen Text ist, muß zumindest als möglich erachtet werden . Aber einerlei, ob Paulus die Zusammenstellung der beiden Zitate J e s 28,16 und J e s 8,14 bereits vorgelegen hatte oder n i c h t ^ 8 8 a - auf jeden Fall stammt die Kontamination von ihm. Und damit hat er den ursprünglichen Sinn von J e s 28,16 verkehrt, selbst wenn man im hebräischen Original ein Drohwort sehen w i l l i g . j j a t dem Paulus J e s 28,16 in einer Fassung vorgelegen , in der das Moment der Drohung dominierte, so mag die Interpolation von J e s 8,14 vom Inhaltlichen her noch ein wenig verständlich sein. Aber er hätte sich doch einer Hermeneutik bedient, in der er so sehr vom Ganzen des J e s - B u c h e s , wenn nicht sogar vom Ganzen der Schrift her ausgegangen wäre, daß er sich berechtigt sah, eine ihm noch nicht klar genug erscheinende Stelle mit einer anderen so zu kontaminieren, daß der für ihn gewünschte Sinn herauskam. Erst recht bedenklich - freilich: bedenklich nur vom Standpunkt unserer Logik! - wird diese Methode aber dann, wenn ihm ein Text vorgelegen hatte, in dem der Eckstein in der Weise der Verheißung ausgesagt wurde, wie es in der LXX der Fall ist und wie 1 Petr 2 , 6 , trotz der Differenzen zur LXX, es mit dieser identisch bringt: λ ί θ ο ν έκλεκτόν άκρογωνιαΐον έ ν τ ι μ ο ν . Dann hätte sich Paulus ermächtigt gewußt, auch mit dem Bibeltext dort frei umzugehen, wo er es von seinem Glauben an den bereits gekommenen Messias für notwendig erachtete. Da wußte er sich auch berechtigt, eine Verheißungsstelle in ihr Gegenteil umzuformen. Und das sogar bei einem Zitat, das mit der formula quotationis "wie geschrieben steht" eingeleitet ist! Es steht so geschrieben, wie er es als der geistbegabte Verkünder des Evangeliums aus dem Ganzen der Schrift herauslas. Die Autorität des Evangeliums steht hier über 188 So K.Müller, Anstoß und Gericht, 75. 188a Dugandzic, " J a " Gottes, 289: "Die F r a g e , ob die Verschmelzung von J e s 8 , 1 4 und 2 8 , 1 6 auf Paulus selbst z u r ü c k g e h t , oder einer urchristlichen antijüdischen Polemik zuzuschreiben i s t , ist kaum zu b e a n t w o r t e n . " 189 So Wildberger, BK .AT X / 3 , 1076; a n d e r s Kaiser, ATD 18, 202: Der Eckstein ist formal die Verheißung, material der Glaube.

- 69 der Autorität der Schrift. Oder anders gesagt: Die Autorität des Evangeliums ist es, die der Autorität der Schrift ihr theologisches Fundament gibt. Über des Paulus Herzen liegt ja keine Decke, wenn er die Schrift liest (vgl. 2 Kor 3,15)! Es wäre allerdings falsch, wollten wir diesen freien Umgang des Paulus mit seinem alttestamentlichen Belegtext isoliert im Blick auf Rom 9,33 behandeln. Damit würde die Perspektive verengt; denn dieser freie Umgang ist ja nicht etwas, was der Apostel hier einmal in exzeptioneller Weise praktiziert. Wir werden nachher noch sehen, wie sich in Kap. 10 das Problem zuspitzt. Im Augenblick ist aber für unsere Fragestellung ein anderer Aspekt noch wichtiger. Wiederum begegnet nämlich ein Zitat, in dem sich Gottes Ich in der l . P e r s . S i n g . artikuliert: "Ich setze in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Felsen des Ärgernisses . . . " Daß dieser Stein und Fels der Messias ist, ist offenkundig 190. Die Frage, die sich aufgrund der bereits genannten Grundstruktur von Rom 9-11 notwendig ergibt, ist die nach der Absicht dieses Ichs Gottes ausgerechnet zu Beginn jenes Abschnittes, mit dem Paulus doch jetzt gar nicht mehr auf der Ebene des alleinigen Handelns Gottes theologisiert, sondern das Verhalten des Menschen im Blick auf Gottes Handeln in dessen "Gerechtigkeit" thematisiert. Könnten nicht sogar die Vertreter jener Anschauung, die 9,30-33 zu 9,6-29 ziehen, auf das Ich in V.33 verweisen, um ihre Unterteilung von Rom 9-11 zu stützen? Aber dies würde den Skopus des Zitats verkennen. Denn dieses Ich-Zitat unterscheidet sich sehr auffällig von den bisherigen, da nun zum ersten Mal in einem solchen Zitat sowohl von Gott, der sein Ich artikuliert, die Rede ist als auch von dem Verhalten des Menschen, das dem Ich Gottes korrespondiert. Sehr schön formuliert Karlheinz Müller den theologischen Sachverhalt: "Er stellt die Menschheit aus Juden und Heiden in eine Situation eschatologisch-kritischer Unausweichlichkeit"191 und "Als der von Jesaja angekündigte Stein des Anstoßes zu Heilsgewinn und Heilsverlust ist er die von Gott über Juden und Heiden gebrachte eschatologische Krisis"192. insofern liegt hier auf keinen Fall eine prädestinatianische Aussage vor. Christian Müller spricht davon, daß Paulus durch seinen Einschub des Verbs τίθημι den prädestinatianischen Sinn des Zitats verstärkel93. Aber Bernhard Mayer wendet dagegen mit Recht ein, daß Müller das konditionale Partizip πιστεύων nicht ernst n e h m e · ^ . Dieser Einwand gilt auch dann, wenn τίθημι nicht, wie Mayer annimmt, im ursprünglichen Zitat gestanden haben s o l l t e ^ . Gewiß läßt sich Christian Müllers Satz "Gottes 1

190 191 192 193 194 195

Dazu und zu dem auffälligen Sachverhalt, daß auch im Targum zu Ps 138,22 der Stein messianisch gedeutet i s t , s.u.a. B l a c k , NTS 18,12 f . K.Müller, Anstoß und Gericht, 81. Ib. 83. Сh.Müller, Gottes Gerechtigkeit, 36, A n m . 5 8 . B . M a y e r , Unter Gottes Heilsratschluß, 232. Ib. 232, Anm.65.

- 70 Prädestination und Israels Schuld bzw. der Heiden Gehorsam ist voneinander nicht ablösbar" in dieser Allgemeinheit der Aussage noch vertreten. Aber diese Formulierung ist doch zu unscharf. In welchem Sinne nämlich kann beides nicht voneinander abgelöst werden? Gerade die Relation Gottes Prädestination (also 9,6-29!) und Israels Schuld (also 9,3010,21) ist ja von Paulus nicht so zum Ausdruck gebracht, daß beides begrifflich miteinander verbunden werden kann. Es hat sich ja deutlich genug gezeigt, wie Paulus auf zwei verschiedenen Ebenen argumentiert. Es zeigte sich doch bei der Exegese - vor allem der von 9,22 f . - , daß eine praedestinatio gemina nicht vorliegt. Es zeigte sich, daß Paulus in 9,6-29 den prädestinatiannischen Akzent auf das Berufen (im Sinne von Sich-Erbarmen) setzt. Wenn also nun Paulus zu Beginn des zweiten Argumentationsabschnittes von Rom 9-11 gleich zu Beginn Gott sein Ich sagen läßt, so deshalb, um auf die actio dei sofort die reactio hominum folgen zu lassen. Der Stein des Anstoßes wird in V.32c im negativen Sinn für die Juden genannt. In V.33 ist zwar auch vom Stein des Anstoßes die Rede, aber das - von Paulus so zusammengebaute - Mischzitat sagt ja in seinem Skopus im positiven Sinne aus, wie man nicht stolpert, nämlich durch Glauben. Die hier genannte Heilsmöglichkeit - Karlheinz Müller spricht vom Anstoß zum Heilsgewinn ( s . o . ) - hat Israel (also die Majorität Israels gemäß 9,6 f f . ) schuldhaft verspielt. Auf der Ebene der menschlichen Verantwortlichkeit, nicht auf der Ebene einer von Gott herrührenden "Kausalität" spricht der Apostel von Schuld. Wo also Paulus auf dieser Ebene argumentiert, da führt er Gottes Ich so ein, daß es dem menschlichen Verhalten korrespondiert. Aber auch da ist eben von Gottes Ich und somit von Gottes primärer Aktivität die Rede, weil im Bereich der Heilsökonomie, auf welcher Ebene auch immer, dem Menschen grundsätzlich der Primat nicht zukommt. Sieht man das Zitat im Rahmen dieser theologischen Überlegungen, dann, aber auch nur dann, läßt sich mit С ranfiel d sagen: "Its (sc. Israel's) legalistic misunderstanding and perversion of the law and its rejection of Him were inextricably intertwined."197 Nach der Interzession Pauli für Israel 10,1 folgen in"10,2-4 theologische Spitzenaussagen. Über 10,2 wurde bereits gesagt, daß hier das Versagen Israels in anderer, ja geradezu entgegengesetzter Weise herausgestellt wird als in Kap.2. Wegen seines unbestreitbaren Eifers für Gott kann in 10,2 nicht die Übertretung der Gebote des Gesetzes durch Israel gemeint sein. Nein, in nomistischer Weise, darin freilich Gott und sein Gesetz völlig mißverstehend und somit pervertierend, versuchten die zum Volke

196 197

Ch.Müller, Gottes Gerechtigkeit, 36. Cranfield, Rom II, 512.

- 71 Israel Gehörenden (nicht alle, aber wohl die Majorität, 9,6 f f . ) ihre eigene Gerechtigkeit vor Gott zu stellen, se coram Deo p r o - s t i t u e r e ^ 9 7 a , ζ η τ ο ϋ ν τ ε ς σ τ ή ν α ι . Daß hiermit, ohne daß der Begriff fällt, das bereits 3,27 f f . zur Sprache gekommene Thema des Sich-Rühmens wieder aufgegriffen ist, sollte man eigentlich nicht bestreiten. Es scheint a b e r , als ob sich ein gewisser Trend abzeichnet, an dieser Stelle in Auseinandersetzung mit der Theologie Bultmanns, dann aber vor allem mit mir, an diesem Punkte das übliche Paulusbild energisch zu modifizieren. Vor allem sind in diesem Zusammenhang die beiden neuesten Monographien über Paulus und das Gesetz zu nennen: Ε . P . S a n d e r s , Paul, the Law, and the Jewish People, und Heikki Räisänen, Paul and the Law, beide 1983 e r schienen. Räisänen hat seine Konzeption schon zuvor in einer Reihe von Aufsätzen angedeutet und z . T . entfaltet. Auch und gerade im Blick auf Rom 9,30-10,4 behaupten beide Forscher ihre These. Beide berufen sich gegenseitig aufeinander. Zunächst zu Sanders. Bereits in "Paul and Palestinian Judaism" schreibt e r : "Righteousness cannot be by law, since it is by faith, not since doing the law leads to boasting."198 Freilich bezieht sich dieses Zitat zunächst nur auf Gal 3, aber es umschreibt im Sinne von Sanders auch das, was Paulus im Rom meint. Programmatisch formuliert e r , indem er die theologische Argumentationsrichtung der paulinischen Theologie beschreibt: "The solution as preceding the problem"199. und programmatisch ist dementsprechend auch folgende Formulierung gemeint: " . . . Paul's thought did not run from plight to solution, but rather from solution to plight."200 Deshalb sei der Kardinalfehler der Behandlung von Pauli Theologie durch Bultmann, "that he proceded from plight to solution and supposed that Paul proceded in the same way"201. in diesem Sinne zieht er schließlich das Fazit: "In short, this is what Paul finds wrong in Judaism: it is not Christianity. "202 Diesen Grundgedanken vertritt Sanders auch in seinem neuen Buch von 1983. In ihm widmet er einige Seiten dem Abschnitt Rom 9,30-10,13203. Richtig erkennt e r , daß der mit 10,21 endende Diskussionsabschnitt mit 9,30 einsetzt204. 9,30-33 sieht er in einer Argumentationslinie mit den danach folgenden Versen. Er faßt 9,30-33, wie folgt, zusammen: "Israel's 197a Mit dieser zugegebenermaßen harten Formulierung soll, um unnötige Mißverständnisse zu vermeiden, keine theologische Diffamierung der jüdischen Religiosität unsererseits ausgesprochen, sondern nur das Urteil verdeutlicht werden, mit dem Paulus, insofern er pauschal urteilt, den Juden Unrecht tut, mit dem er aber theologisch das Richtige trifft, insofern er in einer bestimmten jüdischen Haltung eine menschliche Grundhaltung aufdeckt, s . Hübner, Das Gesetz bei Paulus, 100 f. 198 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 484. 199 Ib. 442 als Uberschrift. 200 Ib. 443. 201 Ib. 474. 202 Ib. 552, bei Sanders von "this is" an im Druck hervorgehoben. Zu diesem Werk von Sanders s. meine Kritik in: Pauli theologiae proprium, NTS 26, 445-473. 203 Sanders, Paul, the Law, and the Jewish People, 36-43. 204 Ib. 37.

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failure is not that t h e y do not obey t h e law in the c o r r e c t way, b u t that t h e y do not h a v e faith in C h r i s t . "205 Aber gehorchen die J u d e n nicht g e r a d e deshalb dem Gesetz nicht in k o r r e k t e r Weise, weil sie nicht glauben? S a n d e r s r e i ß t a u s e i n a n d e r , was im Zusammenhang der Theologie d e s P a u lus notwendig zusammengehört. Genau in diesem Sinne v e r f e h l t e r den Skopus von 10,3, wenn e r auch hier wieder eine k ü n s t l i c h e Alternative a u f b a u t : " ' T h e i r own' r i g h t e o u s n e s s , t h e n , is not c h a r a c t e r i z e d as being s e l f - r i g h t e o u s n e s s , b u t r a t h e r as being the r i g h t e o u s n e s s which is limited to followers of the law."206 Insgesamt macht die G e d a n k e n f ü h r u n g von S a n d e r s den E i n d r u c k , als ob des Paulus Theologie als theologische Tautologie v e r s t a n d e n w i r d . Doch k a n n eine a u s f ü h r l i c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit dem k a n a d i s c h e n Exegeten h i e r nicht erfolgen207. Mehr als mit S a n d e r s lohnt sich die A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit R ä i s ä n e n , der einen s e h r beachtlichen Entwurf vorgelegt h a t . Doch auch mit ihm muß die g r u n d s ä t z l i c h e A u s e i n a n d e r s e t z u n g an a n d e r e r Stelle e r f o l g e n , zumal er s e h r e n e r g i s c h seine Konzeption als A l t e r n a t i v h y p o t h e s e zu der meinen e n t f a l t e t hat208. Hier soll n u r seine I n t e r p r e t a tion von Rom 10,2-4 Gegenstand der Diskussion s e i n . Um Räisänens I n t e r p r e t a t i o n von Rom 10,1 f f . zu v e r s t e h e n , ist ein Blick auf seine D e u t u n g von 2,1-3,20 u n d vor allem von 3,27 e r f o r d e r l i c h . Zun ä c h s t ist z u z u g e b e n , daß e r richtig s i e h t , daß in 2,1-3,20 die J u d e n a n geklagt w e r d e n , das Gesetz zu ü b e r t r e t e n , nicht a b e r , den Versuch zu u n t e r n e h m e n , es (um des Selbstruhms willen) einhalten zu wollen209_ Man wird ihm auch zustimmen k ö n n e n , daß das Thema Sich-Rühmen in 3,27 zunächst mit dem speziellen S t a t u s des J u d e n zu t u n h a t u n d daß diese Stelle in Beziehung zu 2,17.23 s t e h t , wo dem J u d e n d e r Vorwurf gemacht wird, e r r u h e auf dem Besitz d e s Gesetzes aus^lO. Aber die A r g u m e n t a tion d e s Paulus hat sich doch von 2,17.23 bis 3,27 um einiges v e r s c h o b e n . Zuvor ist immerhin 3,21-26 d e r G n a d e n c h a r a k t e r d e r Gerechtigkeit Gottes h e r a u s g e s t e l l t . Die Gerechtigkeit Gottes ist a b e r eine Gerechtigkeit Gottes d u r c h den Glauben. Im Kontext von 3,20a wird der Glaube nicht dem Besitz d e s Gesetzes, s o n d e r n den Werken des Gesetzes g e g e n ü b e r g e s t e l l t . Und genau diese G e g e n ü b e r s t e l l u n g b e g e g n e t in 3,27 f . Räisänen beach tet a b e r diese V e r s c h i e b u n g innerhalb d e r paulinischen Argumentation n i c h t . Er s c h e i n t , wenn ich ihn richtig v e r s t e h e , 3,27 so a u f z u f a s s e n , als ob Paulus hier s a g t e , daß das Sich-Rühmen d e s Besitzes des Gesetzes

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Ib. 37. Ib. 38; zu seinem Verständnis von Rom 10,5 Einige Bemerkungen zu Sanders' neuem Buch zung meines Buches "Das Gesetz bei Paulus" Thought, Edinburgh 1984). S. meine in Kürze erscheinende Rezension in Räisänen, Paul and the Law, 170. Ib. 170.

ff. s.u. s . in der englischen Überset(englischer Titel: Law in Paul's ThLZ.

- 73 durch eine neue Heilsordnung ausgeschlossen sei . Er insistiert auf dem Aorist έ ξ ε κ λ ε ί σ θ η . Dieses Passiv weise "fast ohne jeden Zweifel" auf das Handeln Gottes hin212. Meine Auffassung, daß mit den Wendungen "Gesetz der Werke" und "Gesetz des Glaubens" jeweils das Verhalten des Menschen zum Ausdruck komme, sieht er durch eben diesen Aorist ad absurdum g e f ü h r t e s . Also: "'Boasting' has been excluded by an once-and-for-all act of God. The exclusion is thus an objective event."214 Der eigentliche Sinn von 3,27 ff. sei, daß durch das "Prinzip (= νόμος) des Glaubens" die Einbeziehung der Heiden in das Gottesvolk ermöglicht sei215. Was Räisänen nicht beachtet, ist, daß Paulus zwar in 3,20 und weiter in 3,21-26 und 3,27 zwar zunächst primär den Juden vor Augen hat, aber fast unmerklich in die Argumentation die allgemeine menschliche Situation mit hineinnimmt. Ähnliches zeigt sich ja auch in Gal 3 und 4216. Außerdem ist die Charakterisierung des έ ζ ε κ λ ε ί σ θ η als passivum divinum keineswegs so sicher, wie Räisänen annimmt217. Genau in diesem Sinne interpretiert er auch 10,3. Nachdem er nämlich das Sich-Rühmen in 3,27 als ein Sich-Rühmen von Werken negiert hat, kann er nun sagen, daß das Hinstellen der eigenen Gerechtigkeit durch die Juden 10,3 lediglich deren Verwerfung des Christus sei. "There is no talk of relying of one's own merits, still less of boasting of one's works. The Jews just do not understand ίαγνοοϋντες, v . 2 ) that a new age has begun, or that in the light of the Christ-event the old system has shown itself as false."218 Räisänen interpretiert von diesem Verständnis des Paulus her auch 9,32: Nur auf den ersten Blick könnte jemand versucht sein, das dem Gesetz Nachjagen als eine Haltung zu interpretieren, in der man demütig dem alten Gesetz vertraue. Aber: "In v.32a Paul simply states his basic axiom: 'faith' (in Christ) and 'works' are contrary principles of salvation . . . The character of the works of man's attitude to them is not reflected on."219 Doch will Räisänen nicht alle Untertöne der Vorstellung eines anthropologischen Legalismus bei Paulus bestreiten. "But if so, this was a by-product, not the underlying error."220

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S . auch d e r s . , Legalism and Salvation by the Law, 70 und 70, A n m . 4 0 . D e r s . , NTS 26, 110. l b . 111. D e r s . , Paul and the Law, 174. l b . 170 f . S . meine Auseinandersetzung mit F . H a h n in Hübner, Gesetz bei Paulus, 133 f f . ; e r s t ab 2 . A u f l . Daß hinter dem έΕεκλειίσθη auch das Handeln Gottes s t e h t , habe ich ib. deutlich g e s a g t . Räisänen, Paul and the Law, 174. Ib. 175. Ib. 176.

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- 74 Es ist wohl deutlich, wie sich Räisänen sehr nahe bei dem so fatalen Mißverstehen der paulinsichen Theologie durch Sanders a u f h ä l t , auch wenn er es nicht ganz so massiv v e r t r i t t . Bei Sanders wie Räisänen d ü r f t e die Tendenz vorhanden sein, das f ü r Paulus so unerklärliche Versagen der Juden in einem etwas besseren Licht erscheinen zu lassen, als dies in der Regel bei den Auslegern des Rom der Fall i s t . So billigt Paulus nach Sanders den Eifer der Juden ( " a p p r o v e s " ) ^ 2 * , wobei er auf die positive Wertung von ζ ή λ ο ς in 2 Kor 9,2 v e r w e i s t 2 2 2 . Israels Schuld ist Unkenntnis des Weges zur Gerechtigkeit Gottes. Man gewinnt den Eindruck, daß Sanders fast hat sagen wollen: Israels Schuld ist lediglich diese Unkenntnis. Ähnlich urteilt Räisänen, wenn er die Widerspenstigkeit der Juden in der Tatsache sieht, daß sie den Beginn eines neuen Zeitalters nicht verstanden haben 2 2 ·*. Die entscheidende Frage ist a b e r , wie hoch der Stellenwert der Unfähigkeit Israels, die Gerechtigkeit Gottes zu v e r s t e h e n , hinsichtlich der Schwere der Schuld anzuschlagen i s t . Hier hilft der Blick auf das sonstige Vorkommen von έ π ί γ ν ω σ ι ς im Rom. Es begegnet außer u n s e r e r Stelle in ihm n u r noch in 1,28 und 3,20. In 1,28 werden die Heiden beschuldigt, daß sie es nicht zu schätzen wußten, Gott erkennen zu können, τ ο ν θ ε ό ν δ χ ε ι ν έ ν έ π ι γ ν ώ σ ε ι . Ihre selbstverschuldete Unkenntnis Gottes steht u n t e r dessen offenbar gewordenem Zorn. Deshalb hat Gott sie aller n u r erdenklichen Bosheit preisgegeben. Der Tenor des Abschnitts 1,18 f f . ist ja, die selbst verschuldete Unkenntnis Gottes als Bedingung auf seiten der Menschen f ü r alle übrige Perversion menschlichen Handelns h e r a u s zustellen 2 2 ^. Der geringste Versuch, die - nochmals: selbstverschuldete! - Unkenntnis Gottes in i h r e r Sündhaftigkeit abzuschwächen, würde die Aussagerichtung der paulinischen Darlegung in 1,18 f f . v e r f ä l s c h e n . Die έπ.ύγνωσις ist in 3,20 primär - a b e r nicht ausschließlich! - im Blick auf den Juden gesagt: Durch das Gesetz kommt es zur Erkenntnis der Sünde 2 2 5 . In dieser Aussage ist im Zusammenhang der paulinischen Argumentation impliziert, daß der J u d e , h ä t t e er wirklich auf das Gesetz gehört, zur Erkenntnis der Sünde, Sünde als Hamartia v e r s t a n d e n , h ä t te kommen müssen. Das heißt a b e r , zur Erkenntnis der Tiefen dimension der Hamartia, wie sie vor allem in Kap.7 herausgearbeitet i s t , und damit zur Erkenntnis der R e c h t f e r t i g u n g s b e d ü r f t i g k e i t durch die Gerechtigkeit Gottes hätte kommen müssen. Wer so weit wie das "Ich" von Rom 7,14 f f . in seiner Erkenntnis fortgeschritten ist, hat den Status des "Jude"-Seins

221 Sanders, Paul, the Law, and the Jewish People, 37. 222 Ib. 37, Anm. 100. 223 Räisänen, Paul and the Law, 174. 224 S. die Kommentare. 225 Zur Tiefendimension der Erkenntnis der Sünde s. Hübner, Gesetz bei Paulus, 62 ff.

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weit hinter sich gelassen und hat somit bereits Glaubenserkenntnis gewonnen226. Wer wirklich auf das Gesetz hört, hört aus ihm heraus, wie es zusammen mit den Propheten die offenbar gewordene Gerechtigkeit Gottes bezeugt, 3,21, nämlich die Gerechtigkeit Gottes "durch den Glauben an Jesus Christus", 3,22. Wenn also Paulus den Juden nach 10,2 "Eifer für Gott, jedoch ohne Erkenntnis" bescheinigt, so ist dieser blinde, weil erkenntnislose Eifer durch ihr schuldhaftes, sündiges Nichthören auf das Gesetz, also auf ihr, der Juden, Proprium verursacht. Ein solcher in die falsche Richtung gehender Eifer, der das Gesetz, Gott und sich selbst als den Eifernden verkennt, ist aber ein wesensmäßig pervertierter Eifer, den auch Paulus vor seiner Berufung als Zelot, als Eiferer für die väterlichen Überlieferungen und somit als Eiferer für das Gesetz an den Tag legte und daher eifernd die Kirche verfolgte, Gal 1,13 f . Paulus begründet eigens in Rom 10,3 den perversen Eifer der Juden mit ihrer Unkenntnis der Gerechtigkeit Gottes, also mit jener Unkenntnis, die nach 3,20 f . aus dem sündhaften Ignorieren der eigentlichen Aussage des Gesetzes erwachsen ist. Ausdrücklich parallelisiert der Apostel in 10,3 die schuldhafte Unkenntnis der Gerechtigkeit Gottes und den jüdischen Versuch, die eigene Gerechtigkeit "hinzustellen". Das kann aber nicht heißen * daß dieses Hinstellen einfach als Verwerfung Christi definiert wird, wie es Räisänen anscheinend tut ("identical with")227. Vielmehr müßte man gerade umgekehrt sagen: Die Verwerfung Christi und in einem damit das Nichtverstehen der Gerechtigkeit Gottes wird konkret im Prostituieren der eigenen Gerechtigkeit, das der Sache nach ein SichRühmen ist. Die beiden Partizipien 10,3 ά,γνοοϋντες und ζητοΰντες lassen sich am besten ihrem Aussagegefälle nach kausal auflösen228> Cranfield beläßt es in seiner Übersetzung bei der partizipialen Ausdrucksweise 229, Er spricht von einem "carefully balanced sentence", in dem die beiden Partizipien das Wesen der Ignoranz Israels definieren und der Akt des Ungehorsams aus diesem Ignorieren resultieren dürften230. Dies kommt dem nahe, was soeben dargelegt wurde. Der Akt des schuldhaften Ungehorsams entspringt danach dem schuldhaften Mißverstehen der Gerechtigkeit Gottes und somit dem schuldhaften Mißverstehen der eigenen Existenz. In diesem Zusammenhang sollte noch einmal auch auf Rom 7,15 verwiesen werden, wo die Tragik des Gesetzesmenschen aus der Retrospektive des bereits Glaubenden als Wort eben dieses Gesetzesmenschen in präziser Weise ausgesagt ist: "Was ich tue, weiß ich nicht, ού γινώσκω." Weil der Gesetzesmensch nicht wirklich

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i b . 70. Räisänen, Paul and the Law, 174. So z . B . L a g r a n g e , Rom, 253; Michel, Rom, 323; P e s c h , Rom, 81, modal: Käsemann, Rom, 270; Wilekens, Rom II, 217; Schlier, Rom, 308. Cranfield, Rom II, 504. I b . 514.

- 76 auf das Gesetz gehört hat, ist er als Gesetzesmensch eben dadurch definiert, daß er nicht erkennen kann, in welche Richtung ihn die Hamartia verführt hat und weiter verführt. Er verkennt sich, weil er die Hamartia v e r k e n n t 2 3 1 . Und diese äußert sich - trotz Räisänen 2 3 2 - auch, wie Günter Bornkamm es 1950 klassisch herausgearbeitet h a t 2 3 3 , auch und gerade in der nomistisch verstandenen "Begierde", έ π ι θ υ μ ί α 2 3 4 . Räisänens Einspruch scheitert am Gesamtgefüge der Darlegungen im Rom. Vor allem sei für Rom 7,15 und seinen Kontext auf die hervorragende Auslegung in Käsemanns Römerbriefkommentar hingewiesen, m.E. die klarste Auslegung dieser Stelle! Nur am Rande sei noch einmal auf den vor allem in 10,2 f . zum Ausdruck kommenden Doppelcharakter der Gerechtigkeit Gottes aufmerksam gemacht. Im Gegensatz zur "eigenen" Gerechtigkeit stehend, ist sie Gabe; als die Gerechtigkeit aber, der sich die Juden nicht unterworfen haben, ist sie Macht 2 3 5 . Die brisante Frage im Zusammenhang der Exegese von 10,2-4 ist die nach der Bedeutung von τέλος νόμου in 10,4. Hier gehen bekanntlich die Meinungen nicht nur aus rein exegetischen Gründen auseinander, sondern auch, ja zum Teil sogar mehr noch, aus sehr grundsätzlichen Überzeugungen hinsichtlich der je eigenen theologischen Stellung zum Judentum. Besonders bezeichnend ist die Auslegung von Bertold Klappert , der in Rom 10 in bewußter Absetzung von und im bewußten Widerspruch zu einer "israelkritischen Orientierung der Exegese" nicht die Schuld Israels beschrieben sehen will und deshalb τέλος mit "Ziel" übersetzt 2 ·^. Hier ist die Auffassung, Christus sei Ziel des Gesetzes, eingebettet in die vehemente Polemik gegen eine israelkritische Exegese von Rom 9-11. Ähnlich urteilt Markus Barth, der 10,4 von 3,21 her interpretiert: "Christus ist die Erfüllung (oder: das Ziel, oder: die Summe; schwerlich: das Ende) des Gesetzes zur Rechtfertigung für jeden, der glaubt" 2 3 ''. "Wäre Jesus Christus das Ende des Gesetzes, so wäre er in Person das Todesurteil über das Volk, das sich an Gottes Gesetz gebunden weiß; er wäre der erste und exemplarische Antijudaist." 2 3 ^ Hier ist nun leider der furchtbare Vorwurf des Antijudaismus gegenüber jedem ausgesprochen, der τέλος aus exegetischen Gründen mit "Ende" übersetzt. Markus Barth ist auch auf exegetischen Tagungen nie müde geworden, diesen Vorwurf offen gegenüber jedermann auszusprechen, der

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Hübner, Gesetz bei Paulus, 70. Räisänen, έ π ι θ υ μ ί α und έ π ι θ υ μ ε ϊ ν . Bornkamm, Sünde, Gesetz und Tod. S. auch Hübner, A r t . έτκ,θυμία, EWNT II, 68-71. Hübner, Gesetz bei Paulus, 108 f. Klappert, T r a k t a t , 76 f f . ; s . auch Anm.164. M . B a r t h , Das Volk Gottes, 132. Ib. 133.

- 77 τ έ λ ο ς mit "Ende" ü b e r s e t z t . In u n s e r e r Exegese sollen aber solch emotionale Sachverhalte nicht bestimmend sein. Hier geht es einzig u n d allein darum, mit Hilfe des exegetisch-methodischen Instrumentariums den Sinn von τ έ λ ο ς zu ermitteln, den Paulus meinte, nicht aber denjenigen Sinn, der zu einer gerade v e r t r e t e n e n Moderichtung p a ß t . Die A u f f a s s u n g , daß wegen des Kontextes n u r die Bedeutung "Ende" in Frage kommt, hat vor allem Ernst Käsemann sehr energisch v e r t r e t e n ^ . "Für ihn ( s c . Paulus) sind Gesetz und Evangelium ganz undialektisch sich ausschließende Gegensätze, ist der Sieg der Gnade a n d e r s als deren Bewährung durch den Glaubenden nicht problematisch. Er konstatiert geschehenen Herrschaftswechsel und argumentiert deshalb nicht primär von der Anthropologie und Ekklesiologie, sondern von der Christologie her."240 Den Mittelweg, daß τ έ λ ο ς ν ό μ ο υ sowohl Ende des Gesetzes als auch Ziel des Gesetzes aussagen will, haben mehrere, immerhin recht renommierte Autoren v e r s u c h t . Ich nenne hier n u r Ulrich Wilckens. Er e r kennt zunächst ausdrücklich Bultmanns Auslegung der Stelle241 a n , nach der C h r i s t u s das Ende des Gesetzes ist als das Ende aller Bemühungen gerade des Frommen, der durch Werke des Gesetzes sich selbst vor Gott r e c h t f e r t i g e n will. "So richtig das ist, so wenig t r i t t bei dieser Auslegung h e r v o r , daß in V.4 nicht zwei verschiedene religiöse Haltungen in Gegensatz zueinander t r e t e n , sondern zwei 'Mächte': C h r i s t u s und das Gesetz; und zwar die Mosetora als diejenige, die den Sünder v e r f l u c h t , C h r i s t u s als d e r , der durch seinen Sühnetod diesen Fluch des Gesetzes aufgehoben hat."242 u n ( j s o folgert e r : "Christus ist das Ende des Gesetzes, insofern er dessen Funktion, den Sünder zu v e r f l u c h e n , beendet hat."243 Was bei Wilckens hier der f r u c h t b a r e Ansatzpunkt i s t , wird deutlich in dem "insofern". Denn er f r a g t mit Recht, u n t e r welchem Gesichtspunkt vom "Ende" gesprochen werden k a n n . Und es wird gleich noch zu zeigen sein, daß mit dieser Fragestellung das eigentliche Problem in den Horizont des Auslegers r ü c k t . Wilckens will jedoch noch eine weitere Nuance von V.4 herausstellen, indem er auf 9,31 hinweist: Christus e r f ü l l t , was die Juden vom Gesetz erwarten: "In diesem Sinn ist C h r i s t u s τ έ λ ο ς ν ό μ ο υ als das Ziel der Tora, auf das hin die Juden 'gelaufen' sind . . . Im Sinn von 8,2 kann man sogar sagen: Christus ist das Ziel des Gesetzes, sofern in C h r i s t u s J e s u s die Tora zum 'Gesetz des Geistes des Lebens' geworden i s t . "244 Ein "insofern" formuliert auch Ulrich Luz, wenn er s c h r e i b t : "Wir ü b e r setzen also: Christus ist das Ende des Gesetzes, in dem Sinne, daß er

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Käsemann, Rom, 270-273. Ib. 272. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Wilckens, Rom II, 222. Ib. 222; Hervorhebung durch mich. Ib. 223; Hervorhebung durch mich.

264.268.

- 78 von außen, als dem Gesetz Fremder an es herantrat und ihm ein Ende setzte. Er fragt jedoch sofort weiter, was denn das Wort "Gesetz" bedeute. Zwei Möglichkeiten stehen für ihn zur Debatte: 1. Das zu einem bestimmten Zeitpunkt am Sinai gegebenen mosaische Gesetz, von dem Rom 10,4 gesagt ist, daß die Zeit des Gesetzes vorüber sei. 2. Das mosaische Gesetz, insofern es zum ausgeprägtesten Stachel des menschlichen Versuchs wird, durch eigene Leistung das Gottesverhältnis zu ordnen. Das Ende des Gesetzes fände dann primär im Leben des einzelnen statt 2 4 6 . Luz unterscheidet nach eigenen Worten zwischen eher "geschichtlicher" oder eher "existentialer" Deutung; zu beiden Deutungen fänden sich aber keine Parallelen im Spätjudentum 2 47. im Rahmen des Kontextes von 9,30 her präzisiert er: Durch die exemplarische Vertretung der Glaubensgerechtigkeit durch die Heiden ist die rein geschichtliche Deutung von Rom 10,4 schon im Ansatz durchbrochen. "Theologisch ist die Gegenwart wohl Zeit des beendigten Gesetzes, faktisch ist sie aber Zeit des Nebeneinanders von Gesetzes- und Glaubensgerechtigkeit in Juden und H e i d e n . " 2 4 8 Vom nachfolgenden Kontext 10,5 f f . her interpretiert er die These 10,4 "nicht als Darstellung eines objektiven, d . h . chronologischen, feststellbaren Ende des alten Äons des Gesetzes . . . , sondern als Darlegung des Gegenübers von altem und neuem Äon, genauer: als Ansage des wirklichen Endes des Gesetzes an eine Welt, in der das Gesetz noch keineswegs am Ende ist."249 Christus ist das Ende der Geschichte menschlichen Strebens. "Das wirlich geschehene Ende dieser Geschichte geschieht jeweils neu immer dort, wo Glaube wird." 2 5 ** Wilckens und Luz haben die Diskussion dadurch erheblich weiter gebracht, daß sie sich ernsthaft um das Wie der These von Christus als dem Ende des Gesetzes bemüht haben. Wir müssen aber auch im Auge behalten, daß Bultmanns bekannte These ein wichtiges "insofern" impliziert. Doch soll die Frage nach dem Sinn von 10,4 zunächst offenbleiben, um sie erst von der Exegese von 10,5 f f . her zu beantworten. Zunächst ist die Frage nach dem Text von Rom 10,5 zu klären. NestleAland 2 6 bietet - anders als Nestle-Aland 2 ^ - die Textform nach p46 und anderen weniger wichtigen Zeugen: Μωϋσης γάρ γ ρ ά φ ε ι τ ή ν δι,και,οσύνην τ ή ν έκ τ ο ΰ νόμου δ τ ι δ ποι,ήσας α ύ τ ά άνθρωπος ζ ή σ ε τ α ι έ ν α ύ τ ο ϊ ς . Auch Β bringt τ ή ν δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν τ ή ν έκ τοΟ νόμου δ τ ι als Objekt von γράφε ι, während к* schreibt Μωϋσή ς γάρ γ ρ ά φ ε ι

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Luz, Geschichtsverständnis, 141. I b . 143. I b . 145. I b . 157. I b . 157; im Druck hervorgehoben von "als A n s a g e " an. I b . 158.

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δτL τήν δικαιοσύνην τήν έκ νόμου (so auch Nestle-Aland 2 ^). Ich schließe mich für den Anfang des Satzes Nestle-Aland2** an. Für das Verständnis dessen, was Paulus sagen will, ist aber von großer Wichtigkeit, ob das Zitat mit έν α ύ τ ο ϊ ς (p46 und jüngere Textzeugen) oder mit έν αύτη (so vor allem die gewichtigen Zeugen Α und B) schließt. Außerdem ist αύτά von к * , А u . a . ausgelassen, während es vor allem P^6 und В bringen. 46 Andreas Lindemann hat sich für die von Ρ gebotene Version, also auch für έν α ύ τ ο ι ς entschieden. Zunächst hält er nach der Regel "proclivi praestat ardua" an αυτά als Objekt von ποι,ήσας fest, da zunächst dem Leser unklar bleibe, worauf sich dieses Akkusativobjekt beziehe. Keineswegs sei zwingend, daß es sich auf die προστάγματα und κράματα von Lev 18,5 beziehe; "aber Paulus wird kaum voraussetzen, daß die römischen Leser seines Briefes sofort den ursprünglichen Kontext des Zitats assoziierten" 2 ^. Von Rom 10,5 selbst her liege es näher, dieses Objekt als inhaltliche Wiederaufnahme der "Werke", die das Gesetz zu tun befiehlt, zu verstehen. Doch sei auch diese Deutung nicht zwingend. Nun ist aber Lindemanns Postulat, Paulus habe kaum voraussetzen können, daß die Leser des Rom in Rom den ursprünglichen Kontext assoziierten, fraglich. Denn Paulus wandte sich seiner Meinung nach an solche, die das Gesetz kennen, Rom 7,1. Und daß der Kontext der alttestamentlichen Zitate zumindest bedacht werden muß, wurde bereits mehrfach deutlich. Ich kann daher die Lesart έν αύτοις nicht als die leichtere beurteilen und möchte sie eher als Angleichung an den LXX-Text und Gal 3,12 verstehen. Aber dieses Argument, das Lindemann wohl nennt 2 ^ 2 , spielt für seine Urteilsfindung praktisch keine Rolle. Für die weiteren Erörterungen sei also folgender Text - nur z . T . mit Nestle-Aland 26 und Lindemann - vorausgesetzt: Μωϋσης γαρ γράφει, τήν δικαιοσύνην τήν έκ νόμου δτι ό ποιήσας αύτά άνθρωπος ζήσεται έν αύτη. Also: Mose schreibt über die aus dem Gesetz stammende Gerechtigkeit: "Wer ihre Bestimmungen tut, wird kraft dieser Gesetzesgerechtigkeit leben." Hierbei ist der Begriff "Gesetzesgerechtigkeit" nicht in dem diffamierenden Sinne gebraucht, wie der Begriff "Werkgerechtigkeit" im Sinne der reformatorischen Rechtfertigungslehre aufgefaßt wird. Im Gesamtrahmen der Theologie des Rom ist, wie wir bereits sahen, Werkgerechtigkeit Ungehorsam gegenüber Gott, weil sie so definiert ist, daß durch ihre Werke Gerechtigkeit in Selbstrechtfertigung erstrebt wird. Lindemann hat aber recht, wenn er ausdrücklich erklärt, daß Rom 10,5 nicht so zu interpretieren sei, als habe Mose das Tun der Werke bzw. der Gebote zur Erlangung der Gerechtigkeit propagiert 2 ^.

251 252 253

L i n d e m a n n , ZNW 73, 2 3 6 . Z . B . als Zitat bei Michel, Rom, L i n d e m a n n , ZNW 7 3 , 2 4 0 .

327, Anm.12:

ZNW 73,

232.

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Selbst für den Fall, daß in dem Zitat Lev 18,5 έν αύτοϊς zu lesen wäre, hätten wir kein wörtliches Zitat aus LXX vor uns254. Auch bei dieser Annahme wäre also Paulus ziemlich frei mit dem LXX-Text umgegangen. Hat er aber, wie ich mit den meisten Kommentatoren und mit NestleAland25 annehmen möchte, έν αύτη geschrieben, so zeigt sich darin wieder einmal sein souveräner Umgang mit dem alttestamentlichen Text, den man in diesem Fall nun wirklich nicht mit einem Erinnerungsfehler o. dgl. bestreiten könnte. Hier interpretiert Paulus den Text der Schrift durch Modifikation eben dieses Textes; in welchem Sinn, ist gleich noch darzulegen. Was in Rom 10,5 Mose über die Gerechtigkeit aus dem Glauben schreibt und was in 10,6 ff. die Gerechtigkeit aus dem Glauben sagt, soll begründen, daß Christus das Telos des Gesetzes ist. Es sieht auf den ersten Blick so aus, als wolle Paulus durch Zitate aus der Torah und dann durch zwei Prophetensprüche (Jes und Joel in V.10.13) für die These von Christus als dem Telos des Gesetzes den Schriftbeweis erbringen. Aber lassen wir diese Frage zunächst auf sich beruhen. Zum Verständnis des argumentativen Duktus von 10,5 ff. ist nämlich vordringlicher, erst einmal die in der heutigen Forschung so heftig umstrittene Fragen zu beantworten, ob das, was die beiden Gerechtigkeiten über sich verlauten lassen, als Gegensatz, womöglich sogar als kontradiktorischer Gegensatz255, verstanden werden muß oder ob beide Gerechtigkeiten in irgendeiner Weise komplementär zueinander konzipiert sind. Von dieser Frage hängt auch sehr eng die nach der Bedeutung von τέλος νόμου in V.4 ab. Kraft der von Mose beschriebenen Gerechtigkeit aus dem Gesetz lebt, wer die Gebote des Gesetzes (αυτά) tut. Aufgrund der Gerechtigkeit aus dem Glauben, die Unmögliches zu tun verbietet, wird gerettet, wer dem nahen Wort der Verkündigung glaubt. Das Problem ist dabei nicht so sehr, was im Sinne des Paulus in V.6 die Glaubensgerechtigkeit sagt. Hierin sind sich die Ausleger in der Grundtendenz ihrer Exegese nahezu einig256. Problematisch ist jedoch, und zwar im Rahmen des Aussagegefälles von V.2 her, die Absicht des Paulus, die er mit der Zitierung von Lev 18,5 hegt. War das von der Gerechtigkeit aus dem Gesetz in Aussicht gestellte Leben, wenn man die Gebote des Gesetzes tut, eine reale Möglichkeit? Ist diese Möglichkeit nur deshalb eine durch das Kommen des Christus überholte und somit beseitigte, weil seither von Gott eine neue Möglichkeit geschaffen ist? Etwa in diesem Sinne wird die Anführung des Zitats

254 255 256

Mit Recht macht Lindemann, ZNW 73, 238, Anm.25 darauf aufmerksam, daß in Nestle-Aland 2 6 übersehen wurde, daß das letzte Wort von V.5 korrekt aus Lev 18,5 übernommen ist, also ebenfalls kursiv zu drucken wäre. Käsemann, Rom, 274. Strittig ist allerdings - worauf aber erst später ein zugehen ist - , wie die eigenartige Weise des Umgangs des Paulus mit dem Text des Dt, in der er den Literalsinn völlig verdreht, zu beurteilen ist.

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durch Paulus meist verstanden. Typisch für diese Auffassung ist z . B . die Auslegung von Ernest Best: "Paul does not contradict Moses; he has however already shown that since all men sin no one will gain life by obedience to the law, and has argued that Christ's coming has put an end (10:4) to this way of gaining life." 2 57 Weil keiner alle Vorschriften des Gesetzes tatsächlich erfüllt hat, ist das Lev 18,5 ausgesprochenes Heilsprinzip, welches ein wirklich ernstgemeintes Heilsprinzip von Gott aus gewesen war, hinfällig geworden. Unter Verweis auf Gal 3,10 - dessen unausgesprochene Prämisse ja die Tatsache ist, daß keiner in allen Punkten dem Gesetz gerecht wurde und deshalb alle verflucht sincl258 _ erklärt in diesem Sinne Wilckens, der das Zitat in 10,5 als "Grund-Satz der Gesetzesgerechtigkeit" bezeichnet: "Nur wer die Tora tut, wird aus ihr die Anerkennung als Gerechter erhalten und der Folge der Gerechtigkeit, dem Leben, z u g e s p r o c h e n . " 2 5 9 Dieses Tun hat also als Folge in der Tat das Leben. Jedoch wird, so Wilckens, was in Lev 18,5 Verheißung ist, bei Paulus zur Warnung bzw. zur Verurteilung des Sünders, der sich den Gal 3,10 zitierten Fluch von Dt 27,26 zuzieht 2 6 0 . Nach dieser Auslegung wäre die "Unvereinbarkeit der beiden Heilswege"261 durch das Versagen der Menschen, genauer: aller Menschen, als Sünder bedingt. Weil alle gesündigt haben ( v g l . Rom 3,9.23), ist es aus mit der Möglichkeit der Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Das Prinzip dieser Gerechtigkeit kann aber dann nicht in sich schlecht gewesen sein. Nur darf natürlich nicht Gesetzesgerechtigkeit als Werkgerechtigkeit begriffen werden ( s . o . ! ) . Daß die in Rom 10,5 sich artikulierende Gerechtigkeit aus dem Gesetz nicht Gerechtigkeit aufgrund von "Werken des Gesetzes" sei, wird vehement von Ragnar Bring v e r t r e t e n 2 6 2 . Für Paulus liege das große Mißverständnis Israels in dem Versuch, Gerechtigkeit "wie aus Werken" (Rom 9,32) zu erlangen. "Wenn Moses Gesetzeswerke befohlen hätte, ginge ja die Überzeugung der paulinischen Argumentation verloren. Denn dann hätte Moses genau das befohlen, was die Juden ausführten, und sie hätten das Gesetz richtig verstanden." 2 6 3

257 258

Best, Rom, 118. Hübner, Gesetz bei Paulus, 19 f . ; und die i b . 20, Anm.l2a, angegebene Literatur; anders vor allem Schlier, Gal, 132 f f . ; Sanders, Paul, the Law, and the Jewish People, 24.27-29.

259 260

Wilckens, Rom I I , 224. I b . 224; ähnlich Pesch, Rom, 82: "Die von Mose beschriebene Gesetzesgerechtigkeit ist von Paulus nicht mehr als Verheißung verstanden, weil sich niemand in seinem Tun ganz an sie hält (auch Gal 3 , 1 0 ) . "

261 262 263

Schmidt, Rom, 175. B r i n g , Christus und das Gesetz, I b . 52.

49.

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Gegensätzlich dazu interpretiert Ernst Käsemann Rom 10,5: Der Gesetzgeber Mose fordert "die als Leistung verstandene Tat"264. Damit dürfte aber im Verständnis Käsemanns eine grundsätzliche Disqualifikation der Gerechtigkeit aus dem Gesetz gemeint sein, zumal er im gleichen Zusammenhang von der tötenden Forderung spricht^ßS, Doch ist nicht das Gesetz als solches disqualifiziert. Käsemann spricht nämlich von der dialektischen Unterscheidung zwischen dem Gesetz als dokumentiertem Gotteswillen und Hinweis auf das Evangelium einerseits und seiner Perversion in der Leistungsforderung a n d e r e r s e i t s - ^ . Diesem pervertierten Gesetz stehe die Freiheit des Evangeliums g e g e n ü b e r 2 6 7 . Energisch plädiert er von dieser Auslegung des Zitats Lev 18,5 in Rom 10,5 her für τέλος νόμου als Ende des Gesetzes: "Das Ende des Gesetzes hat als Kehrseite die Prärogative der Kirche vor der sich dem nahen Wort verschließenden Synagoge'^öS, während sich Bring von seinem Verständnis der Gerechtigkeit aus dem Gesetz her genauso energisch für τέλος als Ziel und Erfüllung ausspricht269. Es ist gleich noch zu zeigen, wie Bring diese Deutung von V.4 mit einer christologisch überhöhten von V.5 zusammenbringt. Zunächst einmal sei aber auf folgenden Sachverhalt aufmerksam gemacht: Man auch Käse mann mit noch so großem Nachdruck die Bedeutung "Ende" für τέλος herausstellen, so bringt doch auch er, wenn er von der Perversion des Gesetzes in der Leistungsforderung spricht und genau dasselbe Gesetz auch als Dokumentation des Gotteswillens betrachtet, eine Differenzierung an die Formel von Christus als des Gesetzes Ende heran: Insofern das Gesetz als Forderung einer von Gott zur Rechtfergigung zu erbringenden Leistung mißverstanden ist270, i s t Christus sein Ende. Die Darlegungen Käsemanns implizieren aber zugleich auch die Aussage: Insofern das Gesetz Ausdruck des Gotteswillens ist und insofern es darüber hinaus Zeuge des Evangeliums ist, ist Christus gerade nicht sein Ende. Man könnte sogar sagen, daß in diesem Sinne Christus Erfüllung des das Evangelium verheißenden Gesetzes ist - aber man muß sofort hinzufügen, daß Paulus das in Rom 10,4 eben nicht sagt. Der Unterschied zwischen den Auslegungen Brings und Käsemanns besteht demnach im Blick auf Rom 10,5 vor allem darin, daß Bring die Gerechtigkeit aus dem Glauben begrifflich von einer Gerechtigkeit, die "wie aus Werken" (9,32) geschieht, entschieden absetzt, Käsemann aber die Ge-

264 267 269 270

Käsemann, Rom, 275. 265 Ib. 275. 266 Ib. 276. Ib. 275. 268 Ib. 275. B r i n g , Christus und das Gesetz, 35 ff. Käsemann, Rom, 276, ist ausdrücklich die Rede von dem vom Judentum mißverstandenen Gesetz; s . auch Dugandzic, " J a " Gottes, 287: "Vielmehr ist Christus das Ende des durch die Menschen mißverstandenen Gesetzes und Weg zur Gerechtigkeit f ü r alle, die g l a u b e n . "

- 83 rechtigkeit de Autoren dem Gesetz rechtigkeit urteilen .

aus dem Gesetz gerade in diesem Sinne p e r v e r t i e r t sieht. Beigehen aber darin ü b e r e i n , daß sie das Streben der Juden nach der Gerechtigkeit 9,31 als ein Streben nach einer falschen Gea u f g r u n d eines fundamentalen Mißverstehens des Gesetzes be-

Doch nun zur christologischen Interpretation von Rom 10,5! Es verwundert angesichts der bekannten christologischen E n g f ü h r u n g in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth nicht, wenn er in dem, der die Gebote des Gesetzes t u t und somit durch die Gerechtigkeit aus dem Gesetz lebt, C h r i s t u s selbst sieht. Es sei ganz unmöglich, das Verhältnis von V . 5 und V.6 dahin zu v e r s t e h e n , als ob hier der jüdische und der christliche Begriff der Gerechtigkeit einander gegenübergestellt w ü r d e n . "Der Mensch, der die Gerechtigkeit aus dem Gesetz, d . h . den im Gesetz a u s g e d r ü c k t e n barmherzigen Willen Gottes vollbringt, ist eben d e r , auf den ja der Satz b e g r ü n d e t zurückweist als auf den, den Gott in seinem Gesetz meint und will, um deswillen er Israel u n t e r dieses sein Gesetz gestellt h a t , welcher verborgen von jeher der Sinn, die Erfüllung, die Autorität des Gesetzes gewesen und er als das Alles nun offenbar geworden ist: der Messias I s raels. Dem schließt sich Cranfield an: B a r t h s Interpretation sei gegenüber der üblichen Auslegung vorzuziehen, denn 10,5-8 d ü r f t e ja die Aussage von 10,4 b e g r ü n d e n , nach der C h r i s t u s "the goal, the aime, the intention, the real meaning and substance of the l a w " 2 7 2 ist: "Christ is the goal of the law, for what Moses declares in Lev 18.5 is C h r i s t ' s obedience and v i c t o r y . " 2 7 ^ Deshalb kann Cranfield von dieser Lösung sogar sagen: "it yields a more closely knit sequence of t h o u g h t " 2 7 ^ . Die Schwierigkeiten f ü r die von Cranfield gebotene Hypothese ist aber das adversative 6έ in V.6. Doch auch h i e r f ü r bietet er eine E r k l ä r u n g . Es markiere das Gesetz zwischen dem gerechten Status, den Christus k r a f t seines Gehorsams und seiner Werke habe, und dem gerechten Stat u s , den die Menschen durch ihren Glauben an ihn h a b e n 2 7 ^ . Aber ist eine solche Gegenüberstellung von Christus und Menschen wirlich ein Gegensatz ( " c o n t r a s t " ) ? Die von Barth und Cranfield vorgeschlagene Auslegung d ü r f t e eher auf dogmatischer Prämisse als auf exegetischer Einsicht b e r u h e n . Die K e r n f r a g e , die an diese Exegese zu richten i s t , lautet: Welches Recht hat der Ausleger, in dem Täter des vom Gesetz Gebotenen eine Aussage über Christus zu sehen? Ist es ein aus der Theologie des Paulus entnommener Gedanke, daß Christus ist "The one Man who has done the righteousness which is of the law in His life and above

271 272 273 274 275

B a r t h , KD ΙΓ/2, 270. C r a n f i e l d , Rom II, 519. I b . 522. I b . 522. I b . 522.

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all, in His death, in the sense of fulfilling the law's requirements perfectly and so earning ( ! ) as His right a righteous s t a t u s before God" 2 76? Wo ist denn in der Theologie des Paulus die Rede davon, daß C h r i s t u s sich sein Recht durch Gesetzeserfüllung und Tod vor Gott verdient? Ist nicht g e r a de im Tode Christi Gott das Subjekt des Heilshandelns (Rom 3,25; 5,6 ff.)?277 Auf Karl Barth b e r u f t sich auch B r i n g , allerdings nicht auf die Kirchliche Dogmatik, sondern auf die "Kurze Erklärung des Römerbriefs" 2 78, wo die christologische Exegese von Rom 10,5 nicht zu finden i s t . Insofern freilich bietet auch Bring eine christologische Interpretation von 10,5, als er formuliert: "Das Ziel des Gesetzes liegt nicht in Leistungen, nicht einmal in der Erfüllung des Liebesgebotes in seiner rabbinischen Auslegung. Man kann vom Gesetz sagen, daß es in das Gericht ausmündet. Seine Aufgabe war zu urteilen. C h r i s t u s nahm dieses Urteil auf sich, u n d er gab den Menschen das Leben der Gerechtigkeit, das das Gesetz nicht geben konnte ( v g l . Rom 8,3 und Gal 3,21). ".279 6 π ο ι ή σ α ς a u s 10,5 deutet er jedoch als denjenigen, "der zu dem rechten Gehorsam des Gesetzes gelangt ist als einer, der den wahren Inhalt des Gesetzes verstanden hat, in ihm lebt, ihn in r e c h t e r Weise vollbringt, was man vom Volk Israel nicht sagen k o n n t e " 2 ^ . Kritisch zu der christologischen Deutung B r i n g s ist zu sagen, daß in Rom 10,4 im Zusammenhang des Kontextes von dem Gal 3 ausgesprochenen Gedanken, C h r i s t u s habe das Verdammungsurteil des Gesetzes stellvertretend auf sich genommen, gerade nicht die Rede ist. Auch Peter von der Osten-Sacken setzt sich mit Nachdruck f ü r τ έ λ ο ς ν ό μ ο υ als "Erfüllung des Gesetzes" ein, und zwar u n t e r voller B e r ü c k sichtigung des Kontextes. Ihm kann man wahrlich nicht v o r w e r f e n , er beachte das paulinische Argumentationsgefälle nicht. Seine Exegese von 9,30-33 b e r ü h r t sich mit der oben vorgelegten in entscheidenden P u n k t e n . Ihm ist im Rahmen u n s e r e r A u s f ü h r u n g e n beizupflichten, daß die Bestimmung des Gesetzes als ν ό μ ο ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ς 9,31 und die Angabe ε £ ς ν ό μ ο ν ούκ έφθασε ν zeigen, "daß das Gesetz selbst auf die Seite Gottes gehört und den Maßstab bildet, an dem Israel gemessen wird" 2 **!. Und zutreffen d ü r f t e auch seine Formulierung, "daß zum Nomos gelangen und δ ι κ α ι ο σ ύ ν η έκ π ί σ τ ε ω ς empfangen miteinander identisch sind"2^2. Man kann in der Zustimmung zu den A u s f ü h r u n g e n von der Osten-Sackens sogar noch ein Stück weitergehen. In der Tat ist 10,1-3 a u f s engste mit 276 Ib. 521. 277 Hübner, Sühne und Versöhnung, KuD 29, 299 f f . 278 Bring, Christus und das Gesetz, 51, Anm.l. 279 Ib. 41. 280 Ib. 41. 281 von der Osten-Sacken, Rom 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie, 253. 282 Ib. 253.

- 85 9,30-33 v e r b u n d e n ; der Ungehorsam Israels gegenüber der Gottesgerechtigkeit ist sein Ungehorsam gegenüber dem Gesetz. Aber daraus folgt doch nicht notwendig, daß dann τ έ λ ο ς ν ό μ ο υ n u r "Erfüllung des Gesetzes" bedeuten к а п п ^ З . Offen steht auf jeden Fall die I n t e r p r e t a t i o n s möglichkeit, daß wegen des Ungehorsams Israels gegenüber Gesetz und Gottesgerechtigkeit nun mit C h r i s t u s das Ende des Gesetzes hinsichtlich der Bestimmung ε ί ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν gekommen i s t . Auf das respectu kommt es doch an! Im Unterschied zu Cranfield, mit dem von der Osten-Sacken in der Deut u n g von τ έ λ ο ς verbunden i s t , faßt aber dieser 10,5 und 10,6 f f . als Gegenüberstellung. Paradoxerweise kommen nun die Auslegungen von solchen Antipoden wie Käsemann und von der Osten-Sacken zu einer eigentümlichen T u c h f ü h l u n g . Beide nämlich sehen 10,5 im Licht von 9,31 f . Die Gegenüberstellung der beiden Gerechtigkeiten in 10.5 f f . k n ü p f e n nach von der Osten-Sacken an die Gegenüberstellung von 9,32 ("aus Glauben" - "aus Werken") a n . 10,5 sei Wiederaufnahme des Motivs der Verfehlung Israels aus 9,31; in der mosaischen Definition des Verhältnisses von Gerechtigkeit, Gesetz und Leben als Grund der Verfehlung werde dieses Motiv erneut ins Spiel gebracht284, Unterstellt, diese Auslegung von 10,5 sei richtig - m.E. t r i f f t sie nicht zu ( s . u . ) - , so kann sie die Auslegung von 10,4 durch von der Osten-Sacken nicht b e g r ü n d e n . Doch dazu müßte noch seine Auslegung von 10,6 f f . herangezogen werden. Brechen wir daher die Diskussion mit von der Osten-Sacken zunächst einmal a b . Verschieben wir auch eine eigene Deutung von 10,5 f ü r eine Weile, um zunächst 10,6 f f . die erforderliche Aufmerksamkeit zu schenken. War schon die formula quotationis in 10,5 recht eigenartig - statt "Mose schreibt" findet sich ja die n u r aus dem paulinischen S p r a c h d u k t u s e r klärliche Formel "Mose schreibt ü b e r die Gerechtigkeit aus dem Gesetz" - , so gilt dies a fortiori f ü r die formula quotationis in 10,6: "Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so". Auf die mangelnde Korrespondenz beider formulae sei eigens aufmerksam gemacht. Im ersten Fall wird etwas ü b e r eine der beiden Arten von Gerechtigkeit gesagt; im zweiten spricht eine dieser Gerechtigkeiten selbst in Q u a s i p e r s o n i f i k a t i o n 2 8 5 _ Ungereimt wird diese Nichtkorrespondenz dann vor allem d a d u r c h , daß ja auch da, wo die Gerechtigkeit aus dem Glauben s p r i c h t , sie dies mit Worten des Mose t u t ! Diese Ungereimtheit ist deshalb so g r a v i e r e n d , weil dem, was Mose über die Gerechtigkeit aus dem Gesetz s a g t , mit Worten eben dieses Mose etwas entgegengesetzt wird. Moyses seipsum c o n t r a dicens? Wohl kaum, denn dann hätte man in der Tat die formula quotationis erwarten sollen: "Mose schreibt über die Gerechtigkeit a u s dem Glauben folgendes". Daß Mose etwas schreibt, γράφει, die Gerechtig283 284 285

Ib. 254. Ib. 255. Bultmann, Diatribe, 87 f .

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keit aus dem Glauben aber etwas sagt, λ έ γ ε ι , ist immer wieder beobachtet worden und teils als relevant28**, teils als i r r e l e v a n t 2 8 7 erklärt worden. Die Exegese von 10,6 f f . muß erweisen, ob wirklich Relevanz vorliegt. Paulus bietet in 10,6-8 ein Mischzitat, das in V.6 aus den Anfangsworten von Dt 9,4 μή εύπης έν τη) καρδίςι σου und einigen Worten aus Dt 30,12 τ ί ς άναβήσεται ε ί ς τ ό ν ούρανόν ; besteht (s. aber auch Bar 3,29 f . ) . Parallel zu dieser Frage findet sich in V.7 die Frage τ ί ς καταβήσεται ε ί ς τήν άβυσσον; - möglicherweise eine verbale Anleihe aus ψ 106,26 (s. Anhang!) 2 8 8 . Formal auffällig ist, daß beide Fragen, mit dem pescherartigen τ ο ϋ τ ' δ σ τ ι ν eingeleitet, ihre Erläuterung erhalten ( v g l . das analoge nwfl in 1 QpHab!). Was wohl feststeht, ist der Sinn der beiden Fragen samt ihrer pescherartigen Erläuterungen: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben sagt, man solle nichts Unmögliches tun 28 ^. Paulus wandelt aber dieses Motiv wesentlich ab, indem er diese Warnung im christologischen Sinne paraphrasiert. "Du kannst nicht den Messias aus dem Himmel oder aus der Unterwelt herausholen, denn er ist schon gekommen und in seiner Botschaft gegenwärtig, also 'nahe'." 2 90 Und so läßt Paulus in V.8 die Gottesgerechtigkeit mit Worten aus Dt 30,14 sagen, daß dem Menschen das Wort nahe ist in seinem Munde und in seinem Herzen. Wiederum folgt die mit "das heißt" eingeleitete Erläuterung: "das Wort des Glaubens, das wir verkünden". V.9 f . führt dann noch näher aus, was "mit dem Mund" und "mit dem Herzen" meint, wobei beide Male der Satz mit der Verheißung des Heils endet: σωθήση) bzw. ε ί ς σωτηρίαν ( v g l . 1,16 und 10,1!). Zwei Prophetenzitate - Jes 28,16 und Joel 3,5LXX - bestätigen diese Zusage des Heils, Jes 28,16 mit der negativen Formulierung ού κατοασχυνθήσετοα und Joel 3,5 mit der positiven σωθήσετοα. Was Paulus also inhaltlich mit Rom 10,6-8 bzw. 10,6-13 aussagen will, dürfte kaum fraglich sein. Die Probleme häufen sich aber, wenn wir darauf schauen, wie er in V.6-8 mit den alttestamentlichen Texten umgeht. Daß ein Mischzitat vorliegt bzw. eine aus drei Einzelteilen, die formal voneinander abgesetzt sind, bestehende Zitateneinheit, ist nicht die eigentliche Schwierigkeit. Auch nicht, daß dieses Mischzitat dreigeteilt ist. Und auch nicht, daß es - sit venia verbo! - aus Dt 30,12.14 nur "Wortfetzen"

286 287 288 289

Vor allem Käsemann, Rom, 277 f . Z . B . C r a n f i e l d , Rom I I , 522 f . S . die Kommentare. So z . B . Schmidt, Rom, 177: "Es sind keine extravaganten A n s t r e n g u n g e n notwendig, um die Gottesrechtigkeit zu e r l a n g e n " . Er spricht von "vielleicht schon zu sprichwörtlichen Redensarten gewordenen Bildern des alttestamentlichen T e x t e s " .

290

Michel, Rom, 328; f ü r das sich in Rom 10,5 f f . manifestierende S c h r i f t v e r ständnis des Paulus ist unbedingt auf den ausgezeichneten A u f s a t z von Josef Blank, E r w ä g u n g e n zum Schriftverständnis des Paulus, hinzuweisen. Den A u s f ü h r u n g e n stimme ich weitgehend zu.

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enthält. Das eigentliche Problem ist vielmehr, daß Paulus Worte des Mose gegen das Mose-Zitat in V.5 stellt und dies ausgerechnet Worte sind, deren Subjekt in Dt das Gebot des Gesetzes ist ( έ ν τ ο λ ή ) . Das Wort, ρήμα, das dem Glaubenden so nahe ist, ist ja in Dt 30 gar nicht das verkündete Evangelium, sondern das Wort des Gesetzes! Michel sagt es treffend: "Wo unser alttestamentliches Wort vom Gesetz sprach, redet Paulus grundsätzlich von Christus" 2 ^!. Cranfield macht sich wohl die Sache zu einfach, wenn er es als besonders bemerkenswert ansieht, daß Paulus gerade im Gesetz die Botschaft von der Rechtfertigung durch den Glauben hört292. D a h a t doch wohl Wilckens die Sache besser getroffen, wenn er erklärt, man dürfe die Augen nicht davor verschließen, "daß diese Exegese von Dtn 30 auch im Rahmen jener damals geläufigen pescher-Methode höchst gewaltsam ist"293. und Charles Kingley Barrett fragt sogar: "Is Paul's exegesis honest? is it sensible?"294 Hans Wilhelm Schmidt macht darauf aufmerksam, daß alle jene Worte aus Dt 30,11-14 ausgelassen sind, die eindeutig zugunsten der Werkgerechtigkeit reden295# Dieser "Kontext" des alttestamentlichen Zitats also entfällt somit als Auslegungshorizont für die Exegese. Einen ziemlichen Umweg, nämlich über Dt 30,6 und die dort ausgesprochene Beschneidung des Herzens, begeht E.Earle Ellis, um das Zitat vom Kontext her doch noch passend zu machen: Jer 31,33 identifiziere die Beschneidung des Herzens mit dem Neuen Bund. So gehe es in Dt 30,11-14 nicht allein um die Stellung ('"location"') des Gesetzes, sondern um die Haltung ihm gegenüber, in der man Gott mit ganzem Herzen liebt (Dt 30,6.10.16). "Paul sees implicit in this an attitude of faith, which alone can fulfil the law ( c f . Rom.8.4), and so applies the principle to his own day."296 Aber der ganze Tenor des Zitats zielt doch gerade nicht in diese Richtung. Sieht man den Abschnitt Rom 10,5-13 als ganzen, so könnte man aufgrund formaler Kriterien zunächst annehmen, daß hier ein Schriftbeweis in rabbinischer Manier geführt werde, zuerst die Anführung der Torah, nämlich Lev 18,5 und Dt 9,4; 30,12.14, dann die Nebiim, nämlich Jes 28,16 und Joel 3, 5297. Doch die Tatsache, daß das Zitat Dt 30 alles andere, nur nicht den Sinn von Dt 30 wiedergibt, hat eine Reihe von Exegeten zu der Auffassung geführt, hier liege gar kein Zitat im strengen Sinne des Wortes v o r . So deutlich Theodor Zahn: "Mit vollem Bewußtsein darum, daß Moses noch gar nicht sagen konnte, was er selbst die Glaubensgerechtigkeit sagen läßt, verwendet er mosaische Worte zum Ausdruck seines eigenen, auf die Gegenwart bezüglichen Gedankens ..."298 Ahn-

291

Ib.

292

Cranfield,

328.

293

Wilckens,

294

Barrett,

Fall a n d R e s p o n s i b i l i t y ,

295

Schmidt,

Rom,

Rom I I , Rom I I ,

522. 225.

296

Ellis,

297

Michel, P a u l u s u n d seine B i b e l ,

Paul's Use,

298

Zahn,

Rom,

117.

176. 123,

Anm.l. 83.

477; H e r v o r h e b u n g d u r c h

mich.

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lieh San day/Headlam: Zwar basiere die Sprache des Paulus in diesen Versen auf Dt 30.11-14LXX, aber: "The Apostle selects ( ! ) certain words out of this passage and uses them to describe the characteristics of the new righteousness by faith as he concieves it."299und wenige Seiten später lesen wir: " . . . it seems probable that here the Apostle does not intend to base any argument on the quotation from the O . T . , but only selects the language as being familiar, suitable and proverbial, in order to express what he wishes to say."300 Die Auffassung von Zahn und San day /Headlam ist eindeutig genug: Paulus hat in 10,6-8 nicht die Schrift zitiert. Hier liegt kein Schriftzitat vor. Und folglich sagt Paulus das in dem Abschnitt 10,5 f f . Entscheidende ohne die Autorität der Schrift. Hier spricht weder Mose noch sonstwie die Schrift. Paulus hat lediglich gewisse Idiome aus der LXX entliehen, hat dort lediglich sprachliche Anleihen gemacht, aber nicht auf die Sache selbst rekurriert. Dann allerdings sähe das Schema der Argumentation in 10,5 f f . so aus: 1. Beschreibung der überholten Gerechtigkeit mittels eines Schriftzitates aus der Torah, 2. Beschreibung der jetzt allein geltenden Gerechtigkeit ohne Berufung auf die Schrift, 3. Begründung dieser Gerechtigkeit durch die Schrift ( λ έ γ ε ι γαρ ή γραφή , V . l l ) , wobei es sich um ein Prophetenzitat handelt, 4. Verstärkung des ersten Schriftzitats aus den Propheten durch ein zweites Prophetenzitat (ohne formula quotationis, nur mit γαρ eingeführt). Immer noch läge, rein formal gesehen, die rabbinische Weise des Schriftbeweises aus Torah und Nebiim vor. Allerdings würden Torahzitat und Propheten zitat Entgegengesetztes aussagen, letztere also das stützen, was Paulus im Gegensatz zum Torahzitat sagt. Das mag auf den ersten Augenblick reichlich unwahrscheinlich klingen. Aber es ist nicht einzusehen, warum Paulus, mit rabbinischer Auslegungstechnik vertraut, nicht eben diese rabbinische Methodik bis in die Substanz hinein modifizieren sollte. Diese Annahme ließe sich noch dadurch stützen, daß man sich die Abfolge der von Paulus so eigenartig verwendeten formulae quotationis vor Augen hält: 1. Mose sagt über die Gerechtigkeit aus dem Gesetz: 2. Die Gerechtigkeit aus dem Glauben sagt aber so: 3. Denn die Schrift sagt: 4. Denn:

299 300

San day/Headlam, Rom, 286. I b . 289.

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Nur die formulae 1, 3 und 4 sind formulae quotatae Scripturae! Somit gibt es also zumindest starke formale und inhaltliche Konvenienzgründe für die von Zahn und Sanday/Headlam vertretene These: Die völlig außer Konkurrenz stehende formula "quotationis" - die im Falle des Nichtzitats eben nicht mehr formula quotationis wäre! - neben der totalen Verdrehung des Literalsinns und der Ersetzung von Dt 30,13 durch wahrscheinlich φ 106,26b. Eine Alternative zu der von Zahn und Sanday/Headlam ist die vor allem am prägnantesten von Ernst Käsemann vertretene. Er spricht von der kaum zu überbietenden Vergewaltigung des buchstäblichen Schriftsinns in der Einleitung von V.6. Die Aussage werde dem soeben erst zitierten Mose einfach fortgenommen. Ein solches Vorgehen sei allerdings bei der hermeneutischen Prämisse des Apostels durchaus s t a t t h a f t 3 ^ . Käsemann bezieht diese Auslegungsmöglichkeit auf den von Paulus in V.5f ausgesprochenen Gegensatz von γράφει und λέγει und spricht in diesem Zusammenhang von dessen dialektischem Verständnis der Schrift. "'Buchstabe' ist etwas nicht, weil es schriftlich fixiert wurde, sondern erst, wenn es die Leistungsforderung erhebt. Umgekehrt kann das schriftlich Fixierte 'sprechen', wenn es Verheißung der Gnade ist. Zwischen γραφή und γράμμα ist also zu differenzieren. Die Schrift kann Zeugnis sowohl des γράμμα wie des πνεύμα sein, wird jedoch notwendig 'Buchstabe', wenn sie nicht vom Geist ausgelegt wird, nämlich eschatologisch auf die Glaubensgerechtigkeit ausgerichtet bleibt."302 In seinem Aufsatz "Geist und Buchstaben" faßt er Rom 10,5-13 als Testfall der paulinischen Grundüberzeugung, daß die Schrift von Christus her und auf ihn gelesen werden muß, wobei dann selbst das Gesetz seine ursprüngliche göttliche Intention zurückgewinnt und zur Verheißung des neuen eschatologischen Gehorsams wird. Rom 10,5-13 wird zum Testfall dafür, daß der Geist hermeneutische Funktion erhält303. wie später in seinem Römerbriefkommentar erklärt er unter Verweis auf Rom 4 und 2 Kor 3,7 ff. die Rechtfertigungslehre für das Kriterium der Antithese "Geist - Buchstabe" und den hermeneutischen Schlüssel für das paulinische Verständnis des Alten Testaments 3 ® 4 . Im Anschluß an die Auslegung von Rom 10,5-13 in dem genannten Aufsatz schreibt Käsemann: Paulus hat "die Verbindlichkeit von Schrift und Tradition in der christlichen Gemeinde davon abhängig gemacht, daß sie vom Geist her interpretiert wurden und sich vom Geist her interpretieren ließen"305.

301 302 303 304 305

Käsemann, Rom, 276. Ib. 277. Käsemann, Paulinische Perspektiven, 266 f. Ib. 281 f . ; d e r s . , Rom, 278: Die Rechtfertigungsbotschaft ist das entscheidende Kriterium für die kritische Auslegung des Alten Testaments. Käsemann, Paulinische Perspektiven, 285.

- 90 Im Klartext heißt das: Paulus hat dem Judentum seine Bibel entrissen und diese von seinem Christusglauben, d . h . vom Evangelium h e r k r a f t der Ermächtigung durch den Geist in der Substanz v e r ä n d e r t . Er hat der jüdischen Bibel ihre jüdische Substanz genommen und sie zu einem christlichen Dokument gemacht. Die jüdische Bibel hat das christliche Evangelium zu sagen, weil sie nun Eigentum der Christen i s t . Dieses Vorgehen charakterisiert Käsemann als die Anfänge einer theologisch r e f l e k tierten christlichen Hermeneutik 3 06. Müssen aber die beiden soeben r e f e r i e r t e n Positionen als sich einander ausschließend beurteilt werden? Immerhin gehen sie ja übereinstimmend davon a u s , daß oberstes Auslegungsprinzip der Glaube an das Evangelium von der Rechtfertigung sola gratia et sola fide i s t . Nach Zahn und Sanday/Headlam hat Paulus mit Worten aus der Schrift ohne Fixierung auf eine bestimmte Aussage eben dieser Schrift die christologische G r u n d aussage v o r g e t r a g e n : Das Wort des Glaubens, also das rechtfertigende und deshalb zu glaubende Wort vom auferweckten Kyrios J e s u s ist dir n a h e . In das Schema des aus Dt 30,14 entlehnten Wortlautes mit seinem έ υ τ φ σ τ ό μ α τ ί σου und έ ν τη κ α ρ δ ί ς ι σου wird das christliche Credo κ ύ ρ ι ο ς Ί η σ ο ϋ ς (vgl. 1 Kor 12,3; 2 Kor 4,5 und vor allem Phil 2,11) und ό θ ε ό ς α υ τ ό ν ή γ ε ι ρ ε ν έκ ν ε κ ρ ώ ν eingetragen 307. Doch dieses geradezu künstlich in das Wortkorsett von Dt 30,14 eingezwängte Credo ist das letztlich bestimmende Element. Dieses Credo "mit dem Munde" zu bekennen und "mit dem Herzen" zu glauben f ü h r t zur Gerechtigkeit und zum Heil. (Man beachte die Parallelität von ε £ ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν und ε ί ς σ ω τ η ρ ί α ν , wobei die Denkrichtung von ή έκ π ί σ τ ε ω ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η V.6 und π ι σ τ ε ύ ε τ α ι ε t ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν V. 10 die gleiche ist: Der Glaube f ü h r t zur Gerechtigkeit). Insofern geht also auch nach der A u f f a s sung von Zahn und Sanday /Headlam Paulus mit der größten Souveränität mit dem alttestamentlichen Text um, wenn er Worte aus ihm herausnimmt und sozusagen die Mosaiksteinchen zu einem neuen Mosaik zusammensetzt. Diese Verfügungsgewalt aber ist ihm von seinem Glauben und seinem Geistbesitz her gegeben. Das ist im Prinzip die gleiche Souveränität, mit der nach Käsemann Paulus v o r g e h t . Ob nun eine interpretatio Christiana von Dt 30,11-14 vorliegt oder eine bloß sprachlich-idiomatische Anleihe (Sanday/Headlam: "the language as being familiar, suitable, and p r o verbial", s . o . ) , auf jeden Fall steht diese paulinische Eigenmächtigkeit im Rahmen der B e r u f u n g auf die S c h r i f t . Sollte also, wie ich selbst a n nehmen möchte, lediglich eine sprachliche Anleihe aus Dt 30 u n d φ 106 vorliegen, so sieht doch Paulus die sich in Rom 10,6 f f . aussprechende Gerechtigkeit a u s dem Glauben in Konkordanz mit der Schrift, freilich mit der im Glauben gelesenen und im Glauben neu ausgelegten S c h r i f t . 306

Käsemann, Rom, 278. Gegen Käsemann (und Bultmann) argumentiert Via, A Structuralist Approach, 215-220, mit sehr eigenwilligen und daher nicht überzeugenden Argumenten. Ich zitiere nur eine überspitzte A u s s a g e , ib. 220: "Deuteronomy is significant for Paul's theology . . . because both some of Paul's texts and Deuteronomy are generated by the same g e n r e , and-Deuteronomy i s , t h e r e fore, a clue to the genre which unconsciously produced the Pauline performance t e x t s ( t e x t s actually uttered) in q u e s t i o n . "

- 91 Er sieht sie in Konkordanz mit der Schrift, da er ihr Diktum mit dem durch "Denn die Schrift sagt" eingeleiteten Zitat - diesmal also ein formal eindeutiges Schriftzitat! - Jes 28,16 begründet. Wer jedoch in Rom 10,11 das begründende Schriftzitat Jes 28,16 liest, wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach daran erinnern, daß er noch kurz zuvor dieselbe Schriftstelle, ebenfalls als formales Schriftzitat durch eine übliche formula quotationis eingeführt, gelesen hat, nämlich in Rom 9,33. Die Ausführungen über den Gegensatz von Gerechtigkeit aus dem Gesetz und Gerechtigkeit aus dem Glauben wird also von dieser Prophetenstelle regelrecht umrahmt. Es fehlt allerdings in 10,11 der erste Teil des in 9,33 gebrachten Zitats, und zwar gerade das für unsere Überlegungen so entscheidende Ich Gottes (τίθημι,). Sollte es in 10,11 mitgehört werden, was nicht sicher ist, aber durchaus im Bereich der Möglichkeit, wenn nicht gar im Bereich der Wahrscheinlichkeit liegt, so würde über dieses Ich Analoges wie zu 9,33 zu sagen sein. Vielleicht könnte man noch hinzufügen, daß insofern in 10,11 das möglicherweise hinzuzudenkende Ich Gottes noch einen gewissen Akzent erhält, als man in dem Ausspruch der Gerechtigkeit aus dem Glauben wohl die Anrede (2.Pers. Sing.) im Namen des rechtfertigenden Gottes sehen darf. Noch ein kurzes Wort zu von der Osten-Sackens Exegese von Rom 10,6 ff. Für ihn ist es entscheidend, "daß Paulus nun gerade einen Abschnitt aus dem Gesetz, nämlich 'Deut 30,11-14 als Weissagung der Gerechtigkeit aus dem Glauben' (Bultmann), interpretiert". Dieser hermeneutische Vorgang sei nur von der Voraussetzung aus möglich, daß Jesus die Erfüllung der Torah ist^OS. Angesichts dessen, was oben über Rom 10,6 ff. gesagt wurde, ist weder mit Notwendigkeit anzunehmen, daß Paulus hier bewußt aus dem Gesetz zitiert, noch ist zwingend ("nur") Jesus als Erfüllung der Torah auszulegen. Die endgültige Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von τέλος νόμου steht noch aus, obwohl die bisherigen Ausführungen die mutmaßliche Antwort eigentlich zur Genüge schon deutlich gemacht haben. Doch müßte zuvor noch eine andere Frage beantwortet werden, die exegetisch nicht ganz ohne Brisanz ist: Wann haben sich die Israeliten der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen? Wann haben sie ihre eigene Gerechtigkeit hingestellt? Wann sind sie dem Gesetz wie aus Werken nachgejagt? Der unmittelbare Kontext 9,33 mit dem Jesaja-Zitat vom Stein des Anstoßes legt eigentlich nahe, daß hiermit der Ungehorsam gegenüber dem gekommenen Messias gemeint ist. Diese Frage stellt u . a . Barrett, der drei mögliche Antworten nennt: 1. Israel hat die apostolische Botschaft des Paulus zurückgewiesen; 307 308

S. dazu van der Minde, Schrift und Tradition bei Paulus, 112-115. von der Osten-Sacken, Rom 8 als Beispiel paulinischer Soteriolosfie, 255; Hervorhebung durch mich.

- 92 2. Israel hatte den Dienst und die Person Jesu zurückgewiesen; 3. Israel hat bereits in der Zeit seiner Geschichte vor dem Kommen Jesu v e r s a g t 3 ^ . Er beantwortet diese Frage am Ende seiner Ausführungen dahingehend, daß Paulus ausdrücklich die Zurückweisung der apostolischen Botschaft durch Israel, nicht aber die Zurückweisung Jesu durch es behandelt hab e 3 1 0 . Zuvor sagt er im Blick auf 10,14-21 und vor allem auf 10,15.21, daß Israel sowohl während der ganzen Zeit seiner Geschichte als auch besonders gegenüber dem Evangelium von Christus versagt h a t 3 1 1 . Nun haben wir allerdings die in 10,14-21 stehenden Zitate noch nicht behandelt. Doch läßt sich bereits jetzt mit Barrett sagen, "that the answer should be comprehensive: God's hands have always been stretched out to his unresponsive people" 3 1 ^. Natürlich denkt Paulus vom Kommen Christi und vom Christusereignis her. Das zeigt in aller Deutlichkeit das Zitat in 9,33. Aber allein der Rückblick in 9,6-29 auf die Selektion im Berufen und Nichtberufen in der Geschichte Israels macht deutlich, daß Paulus die Gegenwart der Juden im Lichte ihrer ganzen Geschichte von Abrahams Zeiten her sieht. Daß Paulus, um mit Karl Prümm zu sprechen, der "Mann der Z u s a m m e n s c h a u " 3 1 3 war, läßt sich deutlich an Rom 7,7-12 zeigen 3 1 4 . Liest man also 9,30-32a von 9,6-29 herkommend, so wird man das Versagen Israels am ungezwungendsten als ein Versagen auffassen, von dem Israel immer schon herkommt. Man könnte dann 9,32b so paraphrasieren: "So verwundert es auch nicht, daß sie schließlich an dem Stein des Anstoßes anstießen." Steht aber dem nicht die Aussage Rom 10,3 entgegen, wonach sich die Juden nicht der Gerechtigkeit Gottes unterworfen haben, also jener Gerechtigkeit sich nicht unterworfen haben, die doch nach 3,21 erst mit dem Kommen des Christus offenbar geworden ist? (Daß Räisänens Exegese von 10,3^15 einer Deutung auf die Vergangenheit Israels im We'ge steht, ist evident.) Und deutet nicht auch die verneinte Aoristform ούχ ύ π ε τ ά γ η σ α ν auf ein einmaliges Versagen der Juden, nämlich die Ablehnung des Messias 316 ? Daß Paulus hier vor allem dieses einmalige Versagen Israels aussagen will, sollte man nicht bestreiten. Trotzdem muß hier nicht der Aorist der einmaligen Handlung gemeint sein. Das Prädikat von Rom 10,3 kann auch als komplexiver Aorist 3 1 7 interpretiert werden: Paulus schaut vom jetzt konstatierbaren

309 310 311 312 313 314 315 316

317

B a r r e t t , Fall and Responsibility, 104-106. I b . 120 f . I b . 118. I b . 118. Prümm, Die Botschaft des Rom, 14. Hübner, Gesetz bei Paulus, 63-69, besonders 68. Räisänen, Paul and the Law, 174. So z . B . Cranfield, Rom I I , 515: "But the aorist indicative ο ύ χ ύ π ε τ ά γ η σ α ν (like π ρ ο σ έ κ ο ψ α ν in 9.32) . . . had in mind an historical e v e n t , the rejection of the Messiah . . . and Israel's ignorance of God's righteousness was identical with its failure to recognize Jesus C h r i s t . " Kühner/Gerth, II/1, § 386, 4.

- 93 Faktum des Ungehorsams der Juden zurück auf ihre lange Geschichte des Ungehorsams. Die Schwierigkeit, damit auch die Gerechtigkeit Gottes zurückdatieren zu müssen, ist nicht unüberwindlich. Zwar ist in Rom 3,21 in aller Eindeutigkeit der in der Geschichte exakt zu bestimmende Augenblick des Offenbarwerdens der Gerechtigkeit Gottes angegeben. Aber bei Paulus fließen bereits in Kap.4 Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Bereits Abraham wurde gerechtfertigt aufgrund der Gerechtigkeit aus dem Glauben. Die έκ π ί σ τ ε ω ς δικαιοσύνη von 10,3 wird bereits in 4,11 als die δικαιοσύνη της π ί σ τ ε ω ς ausgesagt. Die Theologie des Paulus lebt nun einmal nicht von der exakten Definition ihrer Begriffe, sondern gerade davon, daß diese Begriffe reichlich elastisch sind. Das Ideal der Eindeutigkeit oder gar der Eineindeutigkeit von Begriffen war nicht das Ideal des Apostels. Und es ist allen Ernstes zu fragen, ob nicht die von ihm praktizierte Elastizität im Gebrauch der "Begriffe" für die "Sache" seiner Theologie angemessen war. So dürfte ein Einwand von 3,21 gegen eine Auslegung von 10,3, in der auch die Geschichte Israels impliziert ist, nur von einem Standpunkt aus möglich sein, der das genannte Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart bei Paulus ignoriert. Kommen wir zum Abschluß unserer Exegese von 9,30-10,12! Wenn sich der Gerechtigkeit nicht unterwerfen bedeutet, statt ihrer die eigene, nämlich mit Werken des Gesetzes selbstproduzierte Gerechtigkeit vor Gott hinstellen und somit das Gesetz, das auf Leben aus ist (vgl. Rom 7,10), pervertieren, dann heißt das, Lev 18,5 mißbrauchen. Denn diese Stelle gibt dem Juden nicht im mindesten das Recht, das Leben verheißende Gesetz als egoistisches Mittel zum Erwerb von Gerechtigkeit zu degradieren. Um an anderer Stelle Gesagtes hier noch einmal zu sagen: Es geht bei der Sequenz "Tun des vom Gesetz Gebotenen - Leben" nicht um ein finales Verhältnis, sondern um ein konsekutives. Nicht: Ich tue, was das Gesetz will, damit ich lebe. Sondern: Ich tue, was das Gesetz will; folglich werde ich leben^lS. Die so kleine Nuance zwischen beiden Gesichtspunkten ist von höchster theologischer, genauer: soteriologischer Relevanz. Daß der Mensch "Fleisch", σάρ£, ist, zeigt sich gerade darin, daß er das konsekutive Verhältnis in ein finales verfälscht und somit das heilige und pneumatische Gesetz (Rom 7,12.14) um seinen Sinn bringt. Ist aber Lev 18,5 in dieser Weise - in den Augen des Paulus!; wie Lev 18,5 in seinem eigenen Kontext mit den dort vorfindlichen Imperativen zu verstehen ist, ist hier nicht zu diskutieren - genuin von der genannten Konsekution aus zu verstehen, dann beinhaltet diese Aussage der Torah über sich selbst eine Heilsordnung, die nun ihr Ende gefunden und durch die neue Heilsordnung der Gerechtigkeit aus dem Glauben abgelöst ist. Dann läßt sich nicht mehr mit К äse mann sagen, daß Lev 318

Hübner, Gesetz bei Paulus, 95 u . ö .

- 94 18,5 im Verständnis des Paulus die als Leistung verstandene (vor Gott mit Rechtsanspruch zu stellende) Tat f o r d e r t . Mit Käsemann ist aber Rom 10,4 auszulegen: C h r i s t u s ist f ü r jeden Glaubenden das Ende des Gesetzes in seiner Funktion als Gesetz auf Gerechtigkeit und Leben h i n . Jetzt gilt nicht mehr ν ό μ ο ε ε £ ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν , V.4, sondern π ι σ τ ε ύ ε τ α ι ε ί ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν , V.10. Und diese neue Heilsordnung von der π ί σ τ ι ς ε ί ς δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν ist eine Heilsordnung f ü r alle, f ü r den Juden und f ü r den Griechen, V.12 (vgl. 1,17 und 3,30). Damit ist a b e r nicht das Gesetz als der Ausdruck des f o r d e r n d e n Gotteswillens a b g e s c h a f f t . Sonst hätte Paulus nicht wenige Kapitel danach 13,8-10 schreiben können! In 10.4 ist eben von Christus gesagt, er sei τ έ λ ο ς ν ό μ ο υ ε t g δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ν . Es ist das genannte "insofern", das hier u n t e r allen Umständen zu berücksichtigen i s t . B a r r e t t hat eine glückliche Formulierung f ü r diesen Sachverhalt g e f u n d e n : " . . . the works element in law was t h e r e fore terminated, though not the requirement that men should be obedient to G o d . " 3 1 9 Übrigens sei am Ende der A u s f ü h r u n g e n ü b e r Rom 9,30-10,13 noch einmal darauf aufmerksam gemacht, daß Paulus auch in den Text von Lev 18.5 e i n g r e i f t , indem er έ ν α ύ τ σ ι ς in έ ν α ύ τ η ä n d e r t . Damit hat er diesen Satz in die f ü r ihn richtige Perspektive g e r ü c k t . Richtig bemerkt dazu Michel: "Paulus p a r a p h r a s i e r t hier das Wort des Alten Testaments und bezieht es nicht auf die Gebote, sondern auf die Gerechtigkeit, die aus der Beobachtung des Gesetzes entsteht."320.320a *

Es sieht so a u s , als habe Paulus, indem er in 10,6 mit dem Thema "Gerechtigkeit aus dem Glauben" neu einsetzte, das Thema "Schuld der J u den" verlassen. Aber die Argumentation mit den Schriftzitaten in 10,1421 zeigt, daß auch der Abschnitt 9,30-10,21 von der Architektur der Gedankenführung aus gut gestaltet i s t . Paulus beginnt in ihm mit der Schuld Israels, b r i n g t in diesem Zusammenhang die Gerechtigkeit aus dem 319 Barrett, Fall and Responsibility, 116. 320 Michel, Rom, 327. 320a Man kann darüber spekulieren, ob und inwiefern Paulus in Rom 10,5-13 in einer jüdischen Midrasch-Tradition steht (dazu Käsemann, Rom, 279). Sollte dies der Fall sein, so ist er mit dieser Tradition genauso souverän umgegangen wie mit dem Schrifttext selbst. Im höchsten Grade spekulativ ist aber David Flussers Versuch, einen Midrasch zu Hiob 28,13-23 über Mose in unserer Röm-Stelle zugrundegelegt zu sehen (Die Auslegung der Bibel im NT, 8 8 f f . ) , zumal er sich, wie doch wohl aus seinen eigenen Worten hervorgehen dürfte, gezwungen sieht, sehr eigenwillig zu interpretieren. Der Kernfehler Flussers ist, daß auch er den offenkundigen Gegensatz Rom 10, 5 ff. einebnet. Daß Paulus Lev 18,5 im Sinne eines rabbinischen universalistischen Midraschs gelesen habe, ist Behauptung im Sinne der petitio principii. Flussers Vorgehen ist ein Musterbeispiel dafür, wie man methodisch nicht vorgehen darf. Wesentlich informativer und das Problem des Midrasch bei Paulus weiterführend ist Vicent, Derash homiletico en Rom 9-11. Eine Detailauseinandersetzung mit ihm muß einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben.

- 95 Glauben als Gegensatz u n d Ablösung d e r von den J u d e n p e r v e r t i e r t e n , a b e r nicht von sich a u s p e r v e r s e n Gerechtigkeit a u s dem Gesetz, um dann am Ende des A b s c h n i t t s wieder zu dem Motiv d e r Schuld der Juden zur ü c k z u k e h r e n u n d diese Schuld in aller Offenheit bloßzulegen. I h r e Une n t s c h u l d b a r k e i t soll vor allem a u f g e d e c k t w e r d e n . Es findet sich also in 9,30-10,21 das Schema A - Β - Α. "Die kunstvolle Stilform des r ü c k l ä u f i g e n K e t t e n s c h l u s s e s " 10,14.15a, die nach Käsemann "Indiz f ü r die B e d e u t u n g u n s e r e r Verse ist"321, f ü h r t ü b e r zu einer inhaltlich zusammenhängenden Reihe von 6 Zitaten - 4 d a von a u s dem J e s - B u c h - , deren letztes in h e f t i g s t e r Anklage gegen I s rael g i p f e l t , dessen Widerspenstigkeit u n d Ungehorsam bzw. Unglaube g e r ü g t w e r d e n . Daß Paulus den in jüdischer Manier vorgenommenen Kett e n s c h l u ß ^ 2 a u f die j n den Zitaten zum A u s d r u c k kommende Anklage hin gebildet h a t , zeigt d e r inhaltliche u n d terminologische Bezug von 10,15b21 auf 10,14.15a. Deshalb d ü r f t e nicht e r s t , wie Käsemann m e i n t m i t V.16 auf Israel geblickt s e i n ^ ^ . Deshalb ist auch - gegen Käsemann^25 zumindest ä u ß e r s t f r a g l i c h , ob die Pointe des Ganzen im letzten Glied d e r Kette liegt. Das π ί σ τ ε υ ε L V von V.14ab ist es ja, daß in V.16.17 a u f g e g r i f f e n wird, wodurch der in V.16a a u s g e s p r o c h e n e Ungehorsam g e g e n ü b e r dem Evangelium als Unglaube g e g e n ü b e r dem Evangelium qualifiziert wird. Wenn also d e r Kettenschluß in V.15b mit dem "Senden" e n d e t , so soll ja mit d e r S e n d u n g der V e r k ü n d e r des Evangeliums d e r G r u n d f ü r die Schuld des ungläubigen Israels h e r a u s g e s t e l l t w e r d e n . 326 327 J e s 52,7 ist n u r partiell zitiert . Warum s t a t t des Singulars a u s d e r LXX ( u n d MT) ε ύ α γ γ ε λ ι ζ ό μ ε ν ο ς d e r Plural steht u n d warum Paulus sich das f ü r seine Argumentation günstige ά κ ο ή ν ε £ ρ ή ν η ς : e n t g e h e n ließ (im folgenden Zitat b e g e g n e t b e r e i t s das Wort ά κ ο ή ) , wird im zweiten Fall höchst wahrscheinlich nicht zu b e a n t w o r t e n , im e r s t e n Fall a b e r wohl bewußte Ä n d e r u n g d e s Apostels sein. Er hat all die Boten vor A u g e n , auf die Israel s c h u l d h a f t nicht gehört h a t . I n t e r e s s a n t ist der A n f a n g von V.16: "Aber nicht alle, ού π ά ν τ ε ς , gehorchten dem Evangelium", das an das ου γ α ρ π ά ν τ ε ς von 9,6 e r i n n e r t u n d wohl auch e r i n n e r n З0 ц328_ Daß die V e r k ü n d e r des Evangeliums gesandt sind, wird als f o r -

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327 328

Käsemann, Rom, 283 f. Michel, Rom, 333. Käsemann, Rom, 284. Richtig Munck, Christus und Israel, 71; Cranfield, Rom II, 533; anders Wilckens, Rom II, 228, Anm.1024. Käsemann, Rom, 284. Ob die rabbinische Auslegung von Jes 52,7 im messianischen Sinne für die Exegese von Rom 10,15 etwas austrägt, sei dahingestellt. Wir wissen ja nicht, ob dies schon für die Zeit des Paulus der Fall war. Trotz der Anklänge von Nah 1,15 an Jes 52,7 bzw. Rom 10,15 hat Paulus nicht Nah zitieren wollen. So auch Käsemann, Rom, 285.

- 96 males Schriftzitat mit καθώς γ έ γ ρ α π τ α ι e i n g e f ü h r t , auch wenn im Zitat vom Senden keine Rede i s t . Im näheren Kontext von Jes 52,7 ist vom Erbarmen des Herrn ü b e r den Zion die Rede (52,8: ή ν ί κ α άν έλεήσηι κ ύ ρ ι ο ς τ ή ν Σ ι ώ ν , in 52,7 selbst findet sich σ ω τ η ρ ί α ) ; aber auch die Anklage Gottes gegen sein Volk, 52,5: δ ι , ' ύμας δ ι α π α ν τ ό ς τ ό δ ν ο μ ά μου β λ α σ ί ρ η μ ε ΐ τ α ι έ ν τ ο ϋ ς έ θ ν ε σ ι ν ( a n d e r s MT). Gerade diese Stelle zitiert Paulus Rom 2,24 als Anklage gegen die J u d e n ! Die Kommentatoren gehen jedoch nicht auf den Kontext von Jes 52,7 ein, nicht einmal Cranfield. Dennoch d ü r f t e gerade wegen Rom 2,24 e r n s t h a f t zu erwägen sein, ob Paulus, wenn er von den "lieblichen Füßen" 32 ** d e r e r s p r i c h t , die das Gute als Evangelium v e r k ü n d e n , nicht zugleich an die ablehnende Haltung der Juden gedacht h a t , wie Jes 52,5 sie a u s s p r i c h t , ein gerade deshalb so schuldhaftes Verhalten, weil im Evangelium dem Zion das Erbarmen Gottes zugesagt ist, Jes 52,8. A b e r , wie gesagt, "nicht alle" gehorchten dem Evangelium, Rom 10,16. Wieder stellt sich die F r a g e , wie der Aorist ύ π ή κ ο υ σ α ν zu v e r s t e h e n i s t . Daß zumindest primär die Ablehnung der apostolischen Botschaft gemeint ist, sollte man nicht b e s t r e i t e n . Inwiefern dieser Ungehorsam gegenüber dem Evangelium auf dem geschichtlichen Fundament des Ungehorsams Israels in vorchristlicher Zeit von Paulus mitgedacht ist, ist schwer zu s a g e n . Wenn der Apostel in 10,16 mit der formula quotationis "Denn Jesaja sagt" dessen Klage "Herr, wer hat u n s e r e r Botschaft, τη άκοη ήμών , geglaubt?" e i n f ü h r t , so kann er d u r c h a u s an den damaligen Unglauben der Juden dem Jesaja gegenüber u n d an den Unglauben der Juden seiner Zeit zugleich gedacht h a b e n . Aber auch hier gilt, was eben zu V.16a, mit dem V.16b durch y&p v e r b u n d e n ist, gesagt wurde: Primär ist die Gegenwart des Paulus gemeint. "Verse 16b is then a scriptural confirmation of v . l 6 a : this failure to believe has been foretold by the p r o p h e t . " ( C r a n f i e l d 3 3 0 ) . Anthony T.Hanson formuliert sehr vorsichtig im Blick auf Rom 10,15 f . : "there is only one gospel though it could in some sense be known during Israel's earlier h i s t o r y . " 3 3 ! In V.17 spricht Paulus seine Folgerung a u s , die wie ein theologischer Grundsatz klingt: "Also: Der Glaube kommt es aus dem Hören, das Hören aber durch das Wort von C h r i s t u s ( g e n . o b j . ) . " Daher d ü r f t e durch έ ξ ά κ ο η ς sowohl das Moment des Hörens im Sinne des gehorsamen Hör e n s als auch das der Botschaft ausgesprochen sein (gut Käsemann:"Der Glaube kommt a u s gehörter B o t s c h a f t " 3 3 2 ) .

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Zu den unterschiedlichen Deutungen von ωραίοι (LXX: ώς ώρα) s. die Kommentare, vor allem Käse mann, Rom, 282. Cranfield, Rom II, 535. Hanson, Studies, 155. Käsemann, Rom, 283.

- 97 Paulus wendet ein: Haben die Juden etwa nicht gehört? Doch, sie haben es! Das sagt ja die Schrift! Daß sie das Wort von Christus, also das Evangelium, gehört haben mußten, erweist er, indem er φ 18,5, mit μ ε ν ο ϋ ν γ ε eingeleitet, wörtlich zitiert: Überall hin erging die Verkündigung der Boten des Evangeliums! Hat Israel - dieser Name war seit 9,31 nicht mehr genannt - etwa nicht verstanden? Auch das ist unmöglich. Jetzt führt Paulus als Kronzeugen Mose selbst an (mit der eigenartigen formula quotationis: π ρ ώ τ ο ς 3 3 3 Μωϋσης λ έ γ ε ι ) , Dt 32,21 (fast wie LXX, nur zweimal ύμάς statt α υ τ ο ύ ς , um das Moment der Anrede an Israel zu betonen): "Ich will euch eifersüchtig machen, παραξηλώσω, auf die, die nicht mein Volk sind. Auf ein unverständiges Volk will ich euch zornig machen." Daß Paulus hier auch das Hos-Zitat aus 9,25 vor Augen hat, dürfte mit Sicherheit anzunehmen sein. Auffällig ist das beiden Zitaten gemeinsame Ich Gottes. Daß nämlich das Ich in dem Zitat 10,19 das Ich Gottes ist, nicht aber das Ich des Mose, ist evident. Paulus ändert das Zitat so, daß dieses Ich Gottes sich an das Du Israel richtet. Nicht nur da, wo Gottes berufende "Prädestination" in 9,6-29 dargestellt wird, ist das Ich Gottes konstitutiv. Auch in 9,30-10,21, wo es um den Aufweis der Schuld Israels geht, findet sich dieses Ich. Israel soll glauben, Gott selbst spricht es an. Aber Israel wird gegenüber dem es ansprechenden Gott schuldig. Der Unglaube ist deshalb so gravierend, deshalb so überaus schuldig, weil Gott als der mit seinem Ich sich Offenbarende brüskiert wird. Die beiden unterschiedlichen theologischen Argumentationsebenen, die, wie sich zeigte, begrifflich nicht miteinander vereinbar sind, ja nicht vereinbar sein dürfen, haben aber ihre Klammer, wodurch sie zusammengehalten werden, in eben diesem Ich Gottes. Gott spricht sein Ich und konstituiert so das eigentliche Israel. Und Gott spricht sein Ich und Israel (dieses Mal nicht das eigentliche Israel von 9 , 6 ! ) wird schuldig. Dies ist die gedankliche Bewegung, die Paulus in den beiden ersten Abschnitten von Rom 9-11 vorstellt. Darin ist der Zusammenhang beider Abschnitte als streng theo-logischer Zusammenhang offenkundig. (Inwiefern durch das Zitat Dt 32,21 die Argumentation von Kap. 11 vorbereitet ist, wird später auf zuweisen sein.) Dieser theologische Sachverhalt wird durch die beiden nächsten Zitate bestätigt. In 10,20 zitiert Paulus mit Jes 65,1 wieder " J e s a j a " 3 3 4 j u n ( j zwar wiederum mit sehr eigentümlicher formula quotationis ("Jesaja aber

333 334

Entspricht dem π ρ ώ τ ο ς Μωϋσης der in V.20 genannte Jesaja als δ ε ύ τ ε ρ ο ς Ί σ α ί ' α ς ? So z . B . Michel, Rom, 332. Der Sinn von π ρ ώ τ ο ς bleibt u n k l a r . Liegt in Rom 10,19-21 wieder das rabbinische Schema von der Sequenz "Zitat aus der Torah und Zitat b z w . Zitate aus den Nebiim" vor ( s o Michel, Paulus und seine B i b e l , 83)?

- 98 ist s e h r k ü h n u n d s a g t " ) * wobei auch h i e r gilt, d a ß d a s Ich wie bei dem Mose-Zitat d a s Ich G o t t e s i s t : "Ich ließ mich f i n d e n , ε ύ ρ έ θ η ν , von d e n e n , die mich nicht s u c h t e n . Ich w u r d e denen o f f e n b a r , die nicht nach mir f r a g t e n . " Die V e r ä n d e r u n g e n g e g e n ü b e r d e r LXX sind f ü r den Sinn d e r paulinischen Argumentation unerheblich335, Mit dem Zitat wird n a h e z u am Ende von 9,30-10,21 die e r s t e A u s s a g e d i e s e s A b s c h n i t t s , nämlich 9,30, b e g r ü n d e t (ein weiterer Hinweis d a r a u f , daß 9,30-33 zu 10,1-21 zu ziehen i s t ) . P a u l u s sieht also in J e s 65,1 eine S e l b s t a u s s a g e Gottes hinsichtlich d e s Heils d e r H e i d e n , wahrscheinlich mitbedingt d u r c h den von ihm nicht zitierten Schluß d e s V e r s e s : ε ϋ π α ' Ι δ ο ύ E C U L , τ ψ δ θ ν ε ι ο ϊ ο ύ κ έ κ ά λ ε σ α ν τ ό δ ν ο μ ά μ ο υ . Im Sinne T r i t o j e s a j a s ist d a s Volk, das J a h w ä h s Namen nicht a n g e r u f e n h a t , Israel336. i n j e s 65,2 sieht Paulus jedoch eine I c h - A u s s a g e Gottes ü b e r d a s u n d a n k b a r e u n d w i d e r s p e n s t i g e I s r a e l : "Ich h a b e T a g f ü r T a g , ό λ η ν τ ή ν ή μ έ ρ α ν 337 ( meine Hände n a c h einem u n g e h o r s a m e n u n d (mir) w i d e r s p r e c h e n d e n Volk a u s g e s t r e c k t . " Natürlich v e r g e b l i c h ! Mit d i e s e r h a r t e n Anklage e n d e t 9,3010,21 ä u ß e r s t w i r k u n g s v o l l . Michel sieht in den Zitaten in Rom 10,19-21 "einen H ö h e p u n k t d e s Kapitels"; e r macht darauf a u f m e r k s a m , daß alle d r e i Zitate "unmittelbare G o t t e s s p r ü c h e " e n t h a l t e n d e . Damit d ü r f t e Michel die auffällige H ä u f u n g d e s I c h s Gottes in diesen Zitaten a u f g e fallen s e i n . Die Schuld I s r a e l s wird also g e r a d e in dem letzten Zitat in a l l e r S c h o n u n g s l o s i g k e i t - ja, soll man s a g e n : B r u t a l i t ä t d e r A u s s a g e ? a n g e p r a n g e r t . Anklage u n d Vorwurf w e r d e n d e s h a l b so e r b a r m u n g s l o s a u s g e s p r o c h e n , weil in 9,30-10,21 auf d e r Ebene d e r menschlichen V e r a n t w o r t u n g u n d deshalb auf d e r Ebene d e r menschlichen Schuld die Mis e r e I s r a e l s b e h a n d e l t w i r d . Man mag vielleicht mit Käsemann s a g e n k ö n n e n , daß die p r ä d e s t i n a t i a n i s c h e n A u s s a g e n von K a p . 9 in K a p . 10 d u r c h a u s n i c h t a u f g e h o b e n s i n d . Das k a n n man i n s o f e r n mit Recht s a g e n , als 9,30-10,21 wegen d e r so u n t e r s c h i e d l i c h e n A r g u m e n t a t i o n s e b e n e n nicht als Negation von 9,6-29 b e u r t e i l t werden k a n n . A b e r wenn e r d a n n f o r t f ä h r t , vielmehr w ü r d e n diese A u s s a g e n u n e n t w e g t in d e r B e r u f u n g auf die S c h r i f t aufgenommen339 ) s o k a n n d a s zumindest in d e r Weise falsch v e r s t a n d e n w e r d e n , als ob in 9,30-10,21 a u c h die P r ä d e s t i n a t i o n z u r S p r a c h e käme. Das d ü r f t e a b e r nicht d e r Fall s e i n . Rom 9 , 3 0 - 1 0 , 2 1 ist n a c h u n s e r e r E x e g e s e eine eminerft i s r a e l k r i t i s c h e Argumentation im Rahmen von Rom 9-11. Trotzdem s c h r e i b t B e r t o l d K l a p p e r t : "Kapitel 10 b e s c h r e i b t n i c h t - wie eine i s r a e l k r i t i s c h e O r i e n -

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Nach Michel, Rom, 336, ist durch die geänderte Reihenfolge der beiden Versglieder eine Steigerung erkennbar; s. auch Lagrange, Rom, 263 f . 336 Jes 65,1c wird in den Kommentaren jedoch nicht zur Exegese von Rom 10,20 herangezogen. 337 Michel, Rom, 336: Semitismus: "täglich". 338 Ib. 335. 339 Käsemann, Rom, 288.

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t i e r u n g der Exegese wollte und wül - die Schuld I s r a e l s . " Er kann zu einem solchen exegetischen Urteil n u r kommen, weil er 9,30-33 zu 9,6-29 zieht, in 10,4 f . C h r i s t u s als den Erfüller der Torah ausgesagt sieht u n d sogar 10,21 als die dem ganzen Israel bleibend zugewendete Gebärde der offenen Arme Gottes d e u t e t ^ l ; Die Argumente Klapperts zu nennen b e deutet im Anschluß an die von u n s vorgelegte Exegese auf die Unhaltbarkeit dieser Argumente aufmerksam zu machen. Auf die Litotes ού π ά ν τ ε ς im Sinne von "nur ganz wenige" in 10,16^42 j s t er ü b e r h a u p t nicht eingegangen. Aber bereits die Parallele zu 10,16 in 9,6b hat er in ihrem Aussagegefälle völlig v e r d r e h t , indem er in ihr die Nichtaufhebung des Erwählungsversprechens ganz ( ! ) Israel gegenüber ausgesprochen sieht und dazu noch 9,6 kirchenkritisch i n t e r p r e t i e r t * ^ . Es ist wohl kaum noch möglich, den Sinn einer biblischen Aussage s t ä r k e r zu entstellen, nein, zu negieren, als es hier durch Klappert geschieht. Eine vorgefaßte Dogmatik, und sei sie noch so gut gemeint, ist niemals ein g u t e r Ratgeber f ü r ein methodisch richtiges exegetisches Vorgehen343a.

1.4. Das eschatologische Heil des Volkes Israel Rom 11,1-36 Hätte Paulus mit 10,21 den Israel-Abschnitt des Rom b e e n d e t , so wäre wohl kaum ein Leser auf den Gedanken gekommen, daß noch weiteres über Israel hätte a u s g e f ü h r t werden müssen. Hat doch der Apostel deutlich genug gesagt, was auf den beiden theologischen Argumentationsebenen, nämlich von Gott her und vom Menschen, genauer: von Israel h e r , zu sagen war. Von Gott her hieß die Argumentation: Gott hat das b e r u f e n e Israel, d . h . das eigentliche und wahre Israel, zum Heil gef ü h r t . Vom Menschen h e r , also von Israel h e r , hieß die Argumentation: Die nichtberufenen J u d e n , also die Majorität der J u d e n , sind aus eigen e r Schuld nicht zum Heil gelangt. Eine Unausgeglichenheit der Ged a n k e n f ü h r u n g besteht darin n u r dann, wenn beide theologischen P e r spektiven miteinander vermischt werden. Daß dies im Sinne des Paulus nicht geschehen d a r f , wurde bereits zur Genüge dargelegt. So könnte sich also der Leser am Ende von Kap. 10 zufrieden geben; denn das Nötige hat Paulus über den betrüblichen Sachverhalt im Blick auf Israel klargelegt. Und auch das, was er in Kap.3 und 4 gesagt h a t , wäre nicht inhalt-

340 341 342

Klappert, Traktat, 76. Ib. 76 f f . Rehkopf, FS Jeremias, 224, überhaupt 220-225; Blaß/Debrunner/Rehkopf, § 465,2. 343 Klappert, Traktat, 73. 343a Toews, The Law in Paul's Letter to the Romans, exegesiert Rom 9,30-10,13 in vieler Hinsicht anders als ich. Die Auseinandersetzung mit ihm kann hier nicht erfolgen. Doch soll auf diese Dissertation hier aufmerksam gemacht werden.

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lieh unstimmig mit einem bei 10,21 b e e n d e t e n I s r a e l - T e i l . Die p a u l i n i s c h e A r g u m e n t a t i o n w ä r e mit d e n zwei Kapiteln d u r c h a u s als ein in sich g e s c h l o s s e n e s u n d a b g e s c h l o s s e n e s Ganzes v e r s t e h b a r . A b e r bei P a u l u s i s t man nie v o r Ü b e r r a s c h u n g e n s i c h e r . So a u c h h i e r n i c h t . Da, wo e s so a u s sieht , als h ä t t e d e r Apostel seine t h e o l o g i s c h d e f i n i t i v e A n t w o r t g e g e b e n , d a t h e o l o g i s i e r t er u n e r w a r t e t w e i t e r . Z u n ä c h s t eine kleine B e o b a c h t u n g zum F o r m a l e n . In 10,18 f . b r i n g t e r , um s c h e i n b a r - n u r s c h e i n b a r ! - I s r a e l zu e n t l a s t e n , zwei F r a g e n , mit ά λ λ ά λ έ γ ω , μή ( . . . ) ο ύ κ e i n g e l e i t e t , in 1 1 , 1 . 1 1 zwei F r a g e n , diesmal w i r k lich z u g u n s t e n I s r a e l s , jeweils mit λ έ γ ω ο δ ν , μή eingeleitet u n d mit μή γ έ ν ο ι τ ο beantwortet. Mit diesem "Ich f r a g e also" e i n g e l e i t e t , h e i ß t es n u n : "Hat Gott etwa sein Volk v e r s t o ß e n ? " 3 4 3 b ß a ß die F r a g e mit μή b e g i n n t , i s t . j e d o c h v e r w u n d e r lich g e n u g . Denn d e r L e s e r h a t doch in 9,6 a u s d r ü c k l i c h z u r K e n n t n i s g e nommen, d a ß es g e r a d e n i c h t I s r a e l a l s völkische G r ö ß e i s t , d a s als Geg e n s t a n d d e s g ö t t l i c h e n B e r u f e n s a n g e s e h e n w e r d e n d a r f . D a s Volk I s r a e l ist doch n i c h t d a s e i g e n t l i c h e I s r a e l ! In 10,16 h a t P a u l u s d i e s e n S a c h v e r halt n o c h einmal a u s d r ü c k l i c h w i e d e r h o l t . Und j e t z t f r a g t e r mit Worten a u s Φ 9 3 , 1 4 3 4 4 (wohl kaum a u s 1 Sam 12,22) u n d z i t i e r t d a n n in 11,2 n o c h einmal d i e s e l b e n Worte als a f f i r m a t i v e A u s s a g e , lediglich d a s f r a g e n d e μή wird zum a s s e r t o r i s c h e n ο ύ κ . I s t s c h o n die F r a g e in 11,1 mit d e r l a k o n i s c h e n k u r z e n A n t w o r t " K e i n e s falls !" o d e r "Gott b e w a h r e ! " v e r w u n d e r l i c h g e n u g - Wilckens e r k l ä r t mit R e c h t : "Von Gott wie von I s r a e l h e r e r g i b t sich also eigentlich zwingend als b i t t e r e K o n s e q u e n z , d a ß Gott sein Volk v e r s t o ß e n h a t " 3 4 5 so erst r e c h t die B e g r ü n d u n g in 11,1. Da v e r w e i s t P a u l u s auf sich als J u d e n c h r i s t e n . Weil ( b e g r ü n d e n d e s γ ά ρ !) e r I s r a e l i i , weil e r Nachkomme A b r a h a m s ist u n d a u s dem Stamme Benjamin stammt, h a t Gott sein Volk n i c h t v e r s t o ß e n . Wie k a n n die E x i s t e n z d e s J u d e n P a u l u s als e i n e s g l a u b e n d e n C h r i s t e n ein Beweis f ü r die N i c h t v e r s t o ß u n g I s r a e l s als v ö l k i s c h e r G r ö ß e s e i n , wenn doch a u s 9,6 f f . k l a r g e n u g h e r v o r g e h t , d a ß P a u l u s zum e r w ä h l t e n Teil I s r a e l s , also d e r g l a u b e n d e n Minorität g e h ö r t 3 4 ® ? Hat P a u l u s

343b "Sein Volk" meint natürlich das empirische Volk Israel! Anders Güttgemanns, Heilsgeschichte, 47, der "sein Volk" als den Rest von V.5 deutet. Dagegen mit Recht Dugandzic, "Ja" Gottes, 291. 344 In Rom 11,1 u^ statt ούκ, in 11,1 und 11,2 άπώσατο (Aorist!) statt άπώσεται und ο θ ε ό ς statt κ ύ ρ ι ο ς . Vor allem die Abwandlung des Futurs in den Aorist ist theologisch von Belang. Auch hier liegt kein formales Schriftzitat vor. Paulus spricht seine These mit Worten aus, die er dem Beter des Psalms entlehnt hat. Was dieser für die Zukunft vertrauensvoll bekennt, kann Paulus rückblickend sagen. Übrigens ist im Kontext von ψ 93,14 die Rede von der δ ι κ α ι ο σ ύ ν η ! 345 Wilckens, Rom II, 236. 346 Käsemann, Rom, 290: "Die Aussage erscheint als außerordentlich kühn. Darf man wirklich aus dem Geschick des Einzelnen auf das des Volkes schließen?" Käsemann sieht die Antwort auf diese Frage im Schriftbeweis 1 Kön 19,10.18. Aber das ist, wie gleich noch zu zeigen sein wird, keine Antwort.

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etwa vergessen, was er in 9,6 ff. in aller Klarheit und zugleich mit allem Nachdruck vorgetragen hat? Natürlich hat er das nicht vergessen! Und wer den ganzen Text Rom 9-11 kennt, weiß ja auch, wohin Paulus in seiner Argumentation steuert. Aber der Leser, der zum ersten Mal bis 11,1 gekommen ist, muß hier stutzig werden. Wer das ganze Kap. 11 kennt, wirt aus der Retrospektive erkennen, wie Paulus hier ein retardierendes Moment ausbaut, um mittels dieses ritardando die innere Spannung seiner Aussagen zu erhöhen. In Widerspruch zu 9,6 ff. scheint auch der Relativsatz δν προέγνω in. 11,2a zu stehen. Denn hier wird in der Terminologie der Prädestination zum Heil (vgl. auch 8,29) vom Volk Israel gesprochen. In 9,6 ff. begegnet das Verb προγινώσκω, "vorhererkennen", im Sinne von vorherbestimmen , zwar nicht, wohl aber eine Reihe von synonymen oder zumindest fast synonymen Verben (vor allem κ α λ ε ϊ ν , ähnlich die Substantive έκλογή, πρόθεσις). So scheint in 11,2 ein hinsichtlich des "Objekts" der Vorherbestimmung anderer Prädestinationsbegriff als in 9,6 ff. vorzuliegen . Als zweites Beispiel für die Behauptung, Gott habe das Volk Israel als sein Volk nicht verstoßen, bringt Paulus 11,3 f . einen Schriftbeweis. Die Schrift ist es, die έν Έ λ ί ς ι , also in ihrem Elia-Teil (in etwa lKön 19,10.14.18 LXX), zeigt, wie sich dieser Prophet bei Gott über Israel beklagt: "Herr, sie haben deine Propheten getötet und deine Altäre zerstört. Und ich bin allein übrig geblieben, ύπελείφθην, und sie trachten mir nach dem Leben." Der Gottesspruch, ό χρηματισμός (vgl. 2 Makk 2,4), also Gott selbst, hält ihm aber entgegen: "Ich habe mir 7000 Männer übriggelassen, κατέλιπον (!)347, di e ihre Knie nicht vor Baal gebeugt haben." An diesem Gottesspruch ist vor allem zweierlei auffällig. Erstens begegnet uns wieder das für Rom 9-11 so typische Ich Gottes im Zitat; Gott ist es also, der sich die 7000 Männer - trotz der stattlichen Zahl eine erbärmlich kleine Minderheit** 4 ^ - übriggelassen hat. Zweitens ist hier von einem Rest die Rede. Der Leser von Kap.9 denkt bei dem κατέλι,τιον zurück an die Jes-Zitate in 9,27.29: τό υπόλειμμα σωθήσεται und έγκατέλιπεν ! Paulus bringt also als Argument für die Nichtverstoßung des Volks den Hinweis auf den Rest, und das angesichts seiner Ausführungen in 9,27 f f . , wo der Rest als Argument gerade dafür dient, daß nicht das ganze Volk berufen ist! Mußte doch 9,27 im Aussagegefälle von 9,6 her interpretiert werden: Gott wird nur einen Rest des Volkes Israel 347

LXX hat καταλε ίψε ι ς , MT 'ГПКИЛ, TargJon ΊΝϋΝΊ. Ob Paulus nach MT oder einer zu seiner Zeit vorhandenen aramäischen Version den LXX-Text geändert oder einen anderen LXX-Text vorliegen hatte, läßt sich nicht mehr ausmachen. Vgl. das Problem bei 9,17. Zur Änderung des Zitats durch Paulus (Gott hat sich 7000 zurückbehalten, die ihre Knie nicht vor Baal beugten) gegenüber MT (Gott läßt am Leben, die sich nicht vor Baal gebeugt haben) und LXX (Elia wird in Israel 7000 übriglassen) s. В .Mayer, Unter* Gottes Heilsratschluß, 250: "Paulus hat also dem Gottesspruch eine Form gegeben, die Gottes souveränes Handeln hervorhebt." 347a Anders z . B . Cranfield, Rom II, 546 f . ; Villiers, Salvation, 210.

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r e t t e n . Und jetzt soll die A n f ü h r u n g des Restes heißen: Gott wird das Volk Israel r e t t e n ! In allem Ernste ist die Frage zu stellen, ob Paulus nicht widersprüchlich und unlogisch a r g u m e n t i e r t e s . Die Frage wird um so dringlicher, als er in 11,5 ein theologisches Grundsatzurteil a u s spricht "So ist denn auch im jetzigen Kairos ein Rest gemäß der Gnadenwahl, λ ε ι μ μ α κ α τ ' έ κ λ ο γ ή ν χ ά ρ ι τ ο ς , geworden" und dieses G r u n d satzurteil die Terminologie aus Kap.9 a u f g r e i f t . Die Verbindung zu Kap.9 ist also gewollt. Das gilt dann e r s t recht von V.6 h e r : "Wenn es aber durch Gnade geschieht, so nicht aus Werken; denn sonst geschähe Gnade nicht mehr als Gnade." Wir wissen von 11,26 h e r , daß dem τ ό υ π ό λ ε ι μ μ α σ ω θ ή σ ε τ α ι das π α ς ' Ι σ ρ α ή λ σ ω θ ή σ ε τ α ι folgen wird. Aber auch das noch einmal: Der Leser, der zum e r s t e n Mal von 9,27 bis 11,5 v o r g e d r u n g e n i s t , weiß davon n i c h t s . Er weiß nicht, daß Paulus mit der zweiten B e g r ü n d u n g der These 11,2a in 11,3-6 im architektonischen Aufbau von Rom 9-11 ein erneutes ritardando einschiebt. Aber zunächst muß noch ein weiteres Moment den Leser i r r i t i e r e n . Warum k e h r t Paulus auf einmal wieder zum Gedanken der Prädestination zurück, den er doch in Kap. 10 wegen der anderen theologischen Argumentationsebene verlassen hat? Schafft er nicht so große Verwirrung? Aber anscheinend liegt wohl auch hier wieder jenes Schema z u g r u n d e , das wir als s t r u k t u r i e r e n d e s Prinzip schon in 9,30-10,21 erkannt h a b e n : A - Β - Α. Im e r sten Teil argumentierte Paulus auf der Ebene der göttlichen Prädestination, im zweiten Teil auf der Ebene des menschlichen Versagens und nun im dritten Teil wieder auf der Ebene der göttlichen Prädestination. Man k ö n n te sogar geneigt sein zu sagen, daß Paulus in 11,1-6 gar nicht weitergekommen sie als in 9,27-29, daß er also wegen der Argumentation mit dem Restgedanken einfach zuvor Gesagtes n u r wiederholt. Aber daß dies nicht z u t r i f f t , daß Paulus in der Tat ein Stück weitergekommen ist auf dem Wege des bohrenden theologischen F r a g e n s , das zeigt ja doch unwidersprechlich die im Rahmen von 9,6-29 unmögliche These von der Nichtverstoßung des Volkes Israel. Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, lautet somit: Inwiefern modifiziert bzw. präzisiert der Apostel seine P r ä destinationstheologie in Kap. 11?

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Käsemann, Rom, 290 f . , entgeht in gewisser Weise dieser Schwierigkeit, indem er hier Typologie vorliegen sieht. Vielleicht hat er ib. 291 damit recht, daß Paulus seine Situation als mit der des Elia vergleichbar ansieht. "Das tertium comparationis zum Apostel ist vielmehr, daß er zum Einzelnen in seinem Volk geworden zu sein scheint und über Israels Unglauben klagen muß, wie Paulus es in 9,30-10,3 getan hat." Ob damit aber schon Typologie gegeben ist, dürfte äußerst fraglich sein; dagegen Luz, Geschichtsverständnis, 81 f . , und unter Berufung auf diesen Wilckens, Rom II, 237 und 237, Anm.1058, wobei allerdings Luz zurückhaltender argumentiert ("offensichtlich ein Grenzfall"). Wilckens, ib. 237, Anm.1057, überinterpretiert aber Ch.Müller, Gottes Gerechtigkeit, 44 f . , wenn er diesem unterstellt, er habe gesagt, Paulus sehe sich hier als Elia redivivus.

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Dies wird bereits in dem nun folgenden Abschnitt 11,7-10 deutlich, in dem Paulus seine These mit einem doppelten Schriftbeweis unterbaut. In V.7 stellt er nach der einleitenden Frage "Was nun?" im Sinne von 9,31, aber auch in Ergänzung dieser Stelle fest, daß das, was Israel zu erlangen suchte (vgl. 11,7 ε π ι ζ η τ ε ί mit 9,31 διώκων, aber auch mit 10,3 ζ η τ ο ϋ ν τ ε ς ), nicht erreicht hat (vgl. 11,7 ούκ έ π έ τ υ χ ε ν mit 9,31 ούκ έφθασεν). Wenn er dann weiter schreibt ή δέ έκλογή έ π έ τ υ χ ε ν - zu paraphrasieren mit: "aber die Auserwählten^® haben das von Gott gesetzte Ziel erreicht" - , so entspricht das 9,30. Der Rest des Verses ÖL δέ λ ο ι π ο ί έπωρώθησαν - zu paraphrasieren mit: "Gott hat die übrigen verstockt" (passivum divinum) - bringt aber wieder eine neue Nuance gegenüber 9,6-29; denn Paulus hatte zwar das mit πωρόω Synonyme σκληρύνω in 9,18 gebracht und dort nicht nur im Blick auf den Pharao gesagt, sondern auch auf das nichtglaubende Israel. Doch die Direktheit der Aussage auf die Majorität der Juden hin ist erst hier so offen ausgesprochen. Es muß des weiteren auf einen wichtigen Unterschied zwischen 9,30 f . und 11,7 hingewiesen werden: In 9,30 ging es um den Unterschied von den zum Heil gelangten Heiden und den nicht dorthin gelangten Juden. Hier in 11,7 geht es um den Unterschied der zum Heil gelangten Judenchristen und der nicht zum Heil gelangten Majorität der Juden. Der Hauptunterschied ist aber, daß in 11,7 - und der Schriftbeweis wird das gleich noch genauer zeigen - das in 9,30 f . auf der Ebene der menschlichen Aktivität Gesagte nun auf der Ebene der göttlichen Prädestination formuliert wird. Schon in 11,1-6 hat Paulus formale Schriftzitate neben Anspielungen auf die Schrift gebracht. So sehr er aber in 11,3 bewußt die Schrift zitiert und dieses Zitat im Argumentationsverlauf begründenden Charakter hat, so besteht die Funktion des Zitats doch darin, das autoritative Gotteswort lKön 19,18 in V.4 vorzubereiten. Und dieses Gotteswort soll ja herausstellen, daß Gott einen Rest Israels für sich bewahrt hat. Genau in die entgegengesetzte Richtung zielt aber der Schriftbeweis in 11,8 f . , der, mit der üblichen formula quotationis καθώς γέγραπται und in seinem zweiten Teil mit και Δαυίδ λ έ γ ε ι eingeleitet, Gottes verstockendes Handeln beweisen soll. Doch zunächst zur Frage, was denn Paulus in V.8 zitiert. In der Regel wird in Kommentaren und Monographien nahezu einmütig die Auffassung vertreten, für die als typisch die Bernhard Mayers zitiert sei: "Das Zitat übernimmt Paulus seiner Struktur und den wesentlichen Aussagen nach aus Dt 29,3, fügt aber aus Is 29,10 πνεύμα κατανύξεως e i n . " 3 5 0 Nach Cranfield hat Paulus durch Modifikation die Aussage des Dt verstärkt , um den Gedanken der gottgewirkten Verstockung noch klarer zum 349 350

Michel, Rom, 340, Anm.8: "In Rom 11,7 ist έ κ λ ο γ ή nicht auf Gottes Handeln, sondern auf die von ihm erwählten Menschen b e z o g e n . " В .Mayer, Unter Gottes Heilsratschluß, 256.

- 104 Ausdruck zu bringen, und zwar "by replaycing the negative ουκ έ δ ω κ ε ν . . . κ α ρ δ ί α ν . . . κ α ι όφθαλμοΰς . . . κ α ΐ ώ τ α ( . . . ) by the positive έ δ ω κ ε ν . . . π ν ε ύ μ α κ α τ α ν ύ ξ ε ω ς , όφθαλμούς . . . κ α Ι ώ τ α . . ," 3 5 1 . Dieses also übliche Verständnis des Zitats als Mischzitat wird von Karlheinz Müller bestritten. Sowohl die Beobachtung, daß derartige Stellenkombinationen im außerbiblischen jüdischen Schrifttum ungewöhnlich seien als auch ein Vergleich mit MT und der LXX-Tradition zu Jes 29,10 "macht die Annahme einer Belegmischung f ü r Rom 11,8 unwahrscheinlich" 3 5 2 . Rom 11,8a tradiere somit keine Zitatmischung aus Dt 29,3 und Jes 29,10, "sondern ausschließlich den T e x t von Jes 29,10a in einer Form, die sich durchaus in die LXX-überlieferung einordnen l ä ß t " 3 5 3 . Aufgrund dieser Erklärung sieht sich Müller in der Lage, in den beiden Zitaten von Rom 11,8 f . eine Haraz-Zitation a54> a i s o d j e Aneinanderfügung von Texten aus den drei Teilen des Alten Testaments - Pentateuch, Propheten, Hagiographen - zu sehen, und zwar hier in der Reihenfolge: Propheten wort, T o rahwort, Hagiographenwort. Aber die Beweisführung f ü r die Eliminierung von Dt 29,3 LXX aus δ δ ω κ ε ν . . . κ α τ α ν ύ Ε ε ω ς ist reichlich gekünstelt. Bernhard Meyer hat die nötigen Argumente zur Widerlegung genannt, auf die hier zu verweisen genügen möge 3 5 5 . Paulus hat durch die Einfügung des Jes-Begriffs vom "Geist der Betäubung" - Cranfield spricht sehr treffend von "a state of spiritual insensibility " 3 5 o ^ d e n S i n n der Dt-Stelle zugespitzt. Wiederum sah sich Paulus berechtigt und ermächtigt, einen Text der Schrift so zu modifizieren, daß er genau das hergab, was e r , Paulus, zum Schriftbeweis benötigte. Wiederum also war es die aus dem Glauben gelesene Schrift, die, insofern sie als ganze prophetisches Zeugnis von Christus ist, Beglaubigungsautorität darstellt. Wiederum also der theologische Sachverhalt, daß erst und daß nur die aus dem Glauben gelesene und aus dem Glauben interpretierte Schrift den Glauben autorisiert. Hier haben wir in der Tat die f ü r die theologische Argumentation in Anspruch genommene Autorität der Schrift, die aber von der Autorität der gottgewirkten Auslegung ihrer selbst lebt. Und in diesem Sinne läßt sich auch mit Cranfield sagen: "And moreover Paul no doubt means these ОТ passages to be understood in the light of the ОТ as a w h o l e . " 3 5 7 Weniger in den Text eingegriffen hat Paulus in V . 9 f . , wo ψ 68,23 f . zitiert wird. In V . 9 (= φ 68,23) läßt er ένώπι,ον α ύ τ ώ ν aus, setzt κ α ι ε ί ς θήραν hinzu und stellt im zweiten Versteil die beiden Aussagen um3i>8. 351 352 353 354 355 356 357 358

Cranfield, Rom II, 549 f . K.Müller, Anstoß und Gericht, 19. I b . 20. Zum Begriff i b . 13 f f . В . M a y e r , Unter Gottes Heilsratschluß, 257, Anm.34. Cranfield, Rom II, 550. I b . 550. Außerdem ersetzt er ά ν τ α π ό δ ο σ ι ν durch ά ν τ α π ό δ ο μ α α ύ τ ο ΰ ς .

- 105 φ 68,24 wird in V . 1 0 wörtlich nach der LXX zitiert. Käsemann meint, daß hier die LXX nach einer Sonderüberlieferung zitiert sei359. Ob auch, wie er mit anderen annimmt*^, eine Testimoniensammlung als Quelle naheliegt^ßl, j s t zumindest nicht erweisbar, m.E. aber wenig wahrscheinlich. Obwohl aber der Wortlaut der LXX weithin mit dem zitierten Text übereinstimmt, hat sich Paulus vom ursprünglichen Sinn der beiden Psalmverse weiter entfernt als vom Sinn des Dt-Zitats unmittelbar zuvor. Den Gegensatz hat Bernhard Mayer richtig herausgestellt: "Die Psalmverse sind u r sprünglich als Gebet eines unschuldig Verfolgten zu verstehen, der Gott darum bittet, er möge das gerechte Gericht an seinen Verfolgern vollziehen . . . Für Paulus haben diese Verse nicht mehr ihre ursprüngliche B e deutung, er sieht sie als Gottes Wort über das verstockte Israel der Gegenwart. "362 Paulus hat also den Psalm unter dem Gesichtspunkt gelesen, was er über das Rätsel des Unglaubens der Majorität der Juden s a g t ^ ^ . Worauf es dem Apostel vor allem ankommt, ist die autoritative Bestätigung durch die Schrift für die Aussage von V.7 "Gott hat die übrigen (= die Majorität der Juden) verstockt". Er sieht dies in dem σκοτισθήτωσαν von φ 68,24 a u s g e s p r o c h e n ^ ^ . Das so eigentümliche Aussagegefälle von 11,1 bis 11,10 ist aber dann ein Gefälle vom Lichtblick für das ganze Volk Israel bis zum Dunkel - wegen des σκοτισθήτωσαν und des του μή βλέπει ν im wörtlichen Sinn! - , ein um so eigenartigeres Gefälle, als ja nach dem all so Betrüblichen, was über Israel in Kap.9 und 10 zu sagen war, in 11,1 nun endlich die Darlegung über das Heil des Volkes Israel einzusetzen schien. Hat sich Paulus in seiner Argumentation in den ersten 10 Versen des 11. Kapitels verrannt? Wohl kaum! Er ist sehr bewußt auf dieses Dunkel zugesteuert, um in V . l l die für die Argumentation so wirkungsvolle Frage stellen zu können "Ich frage also: Strauchelten sie, damit sie liegenblieben?" und um dann die Antwort zu geben: "Nein!" Die Dramatik des Aufbaus unserer drei Kapitel wird wieder evident. Auch Ulrich Wilckens hat die dramatische Gestaltung von Rom 9-11 gut erkannt. Auch er spricht von der Spannung, die den ganzen Gedankengang von Anfang an, also von Kap.9 an, durchziehe. Sie steigere sich an 359 360 361 362 363

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К äse mann, Rom, 292. Z . B . Wilckens, Rom II, 238. Ib.. 289. В .Mayer, Unter Gottes Heilsratschluß, 258. Daß Paulus, wie Wilckens, Rom II, 239, im Anschluß an Käsemann, Rom, 289, vermutet, die Aussage des Psalms als Fluch über den Tempel v e r s t e h t , dessen Sühnekraft erloschen und durch die des Kreuzes Christi e r s e t z t worden i s t , ist im Höchstfall eine mögliche Hypothese. Hier ist wohl das kultisch i n t e r p r e tierte τράπεζα inhaltlich überladen. Kritisch dazu Cranfield, Rom II, 551 f . Zu τράπεζα auf dem Hintergrund jüdischer Vorstellungen s . auch K.Müller, Anstoß und Gericht, 23-27: Tisch des B r a n d o p f e r a l t a r s als Prinzip und Sinnbild der Versöhnung mit Gott. Daß Rom 1 1 , 8 - 1 0 in der Nähe von Mk 4 , 1 1 f . , der s o g . Parabeltheorie (dazu Räisänen, Parabeltheorie, und Hübner, Das Gesetz in der synoptischen T r a dition, 219 und 219, A n m . 1 2 1 ) , s t e h t , kann hier nicht behandelt werden.

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dem P u n k t , an dem Paulus "die Konsequenz, die sich daraus mit Notwendigkeit zu ergeben scheint, mit Emphase b e s t r e i t e t " , daß nämlich Gott Israel - und Wilckens d ü r f t e hier das Volk Israel meinen - verworfen h a ЬеЗбб^ "Aber die S c h r i f t , die er zur B e g r ü n d u n g dessen heranzieht, spricht nicht von der Rettung Israels als des Volkes Gottes, sondern n u r von der eines 'Restes', nämlich der Judenchristen"366. "Doch Gott gibt die, die sich selbst das Hören und den Gehorsam v e r s a g e n , der Verblendung und Verstockung preis . . . Dieser Fluch der Schrift scheint nun aber doch eben das zu bewirken, was Paulus zu Beginn dieses neuen Abschnitts so heftig b e s t r i t t e n h a t : Israels Verwerfung durch Gott! Der Wid e r s p r u c h scheint unauflösbar zu sein. "367 Ehe wir aber auf V . l l zu sprechen kommen, noch einige Bemerkungen zu den Zitaten in 11,8-11. Hier findet sich expressis verbis kein Ich Gottes. Aber in beiden Zitaten ist von Gott als dem Subjekt der Handlung die Rede. In V.7 fand sich zuvor das passivum divinum "Gott hat v e r s t o c k t " . Und dieses Passiv, dessen logisches Subjekt Gott ist, wird nun in seinem aktiven Charakter durch die Schrift bezeugt: "Gott hat gegeben", "ihre Augen sollen verdunkelt werden" im Sinne von "Gott soll (= wird!) ihre Augen v e r d u n k e l n " . Somit liegt Paulus auch bei diesem Zitat wieder d a r an, was sich bisher kontinuierlich zeigte, nämlich Aussagen ü b e r Gottes Handeln zu b r i n g e n , in denen entweder er sich selbst in seinem Handeln a u s s a g t , also sich selbst als Handelnden o f f e n b a r t , oder Gottes Handeln durch die Schrift oder einen Propheten ankündigen zu lassen. Rom 9-11 sind eben jene Kapitel, in denen die Gegenwart vom damals sprechenden Gott her g e d e u t e t , nein, mehr noch, bestimmt.wird. Rom 11,11 muß dann in dem Licht gelesen werden: Wenn Gott Israel ins Dunkel g e f ü h r t h a t , wollte er es dann im Dunkeln lassen? Ohne Bild: Wollte er dann nicht sein Un-Heil? Die Antwort, die Paulus in V . l l b gibt, ist seine ganz spezifisch eigene theologische Antwort, die er - sollen wir es so sagen? - "sich zurechtgelegt h a t " : Durch den Fall der Juden wird das eschatologische Heil, die σ ω τ η ρ ί α , f ü r die Heiden verwirklicht, die ihrerseits wieder die Juden eifersüchtig machen sollen, ε ϋ ς τ ό παραζηλώσαι α ύ τ ο ύ ς , 11,11c. Im rabbinischen Schluß a minori ad maius folgert er dann V.12: Wenn aber der Fall3®^ der Juden den Reichtum f ü r 365 366 367 368

Wilckens, Rom II, 239 f . Ib. 240. Ib. 241. Die Formulierung von Wolter, Art. παράπτωμα, EWNT III, 79; "Herausfallen aus dem Heilsbereich . . . Israels Fall aus der Erwählung heraus" ist aufgrund des in Rom 11,7 ausgesprochenen Gegensatzes von ' Ι σ ρ α ή λ und f) έκλογή zwar zumindest im Blick auf die zweite Formulierung exegetisch begründet. Fraglich ist jedoch, ob man mit Wolter von "Israels Fall aus der Erwählung heraus aufgrund der Ablehnung des Evangeliums" (Hervorhebung durch mich) sprechen darf; denn im Argumentationsgefälle von 11,1 her ist doch von der Aktivität Gottes und gerade von dessen verblendender Aktivität die Rede. Problematisch ist die Formulierung "Herausfallen aus dem Heilsbereich" im Rahmen der paulinischen Gesamtargumentation.

- 107 die ganze Menschheit, πλούτος κόσμου, ausmacht und die Tatsache, daß nur eine ganz geringe Zahl von Juden auserwählt ist, τό πλήρωμα α ύ τ ω ν d e n Reichtum der Völker, um wieviel mehr die Vollzahl der Juden, τό ηττημα αύτών^Ο. Damit Paulus diesen für ihn so zentralen Gedanken argumentationsgerecht aussprechen konnte, hat er im Aufbau von Kap. 11 bis V.10 einschließlich die Argumentation so zugespitzt, wie es der Leser zunächst wohl mit einem gewissen Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen mußte. Erst auf dem Hintergrund der durch Gott gewirkten Verblendung als Heilswirkung für die Heiden wird der gegenwärtige Zustand Israels "erklärlich". Somit ist eine zügige Argumentationssequenz von 11,1 bis 11,12 zu konstatieren, deren formale Klammer in dem zweifachen λέγω οδν besteht. Innerhalb dieser Einheit 11,1-12 ist aber das Heil des ganzen Volkes Israel zweimal explizit ausgesprochen, und zwar zu Beginn und am Ende. Die so energische Feststellung, Gott habe sein Volk nicht verstoßen, 11,1 f . , ist im Rahmen der Begründung dieser These in 11,12 geradezu unvermittelt, wieder einmal etwas überraschend, behauptet, wenn von der Fülle bzw. Vollzahl (der Juden) im Blick auf ihr Heil die Rede ist. Wie Paulus zu einer solchen Behauptung des Heils für ganz Israel kommt, wird erst 11,25 f . deutlich. Auffällig ist freilich, daß ausgerechnet die beiden theologischen Spitzensätze 11,11 f . keine Begründung aus der Schrift erhalten. Zwar klingt in dem Rom 10,19 zitierten Dt 32,12 der Gedanke an, daß Israel auf das Heil der Heiden eifersüchtig werden soll. Daß Paulus mit diesem Zitat die später ausgesprochene Überzeugung von 11,11 vor Augen hatte, wird man wohl kaum bestreiten können. Aber Dt 32,12 deckt mit seinem έγώ παραζηλώσω keinesfalls den Grundgedanken von 11,11 ab, nämlich daß der gegenwärtige Unheilszustand Israels das Heil der Heiden bedeutet. Es gilt also festzuhalten, daß da, wo Paulus sein Ureigenes sagt, die Berufung auf die Schrift unterbleibt. (So kann Paulus analog zu diesem theologischen Sachverhalt auch in Rom 5-8 für den entscheidenden, theologisch 369

So mit Barrett, Rom, 214: "a diminution of their numbers by the rejection of all save a remnant" (allerdings dürfte das Wort "rejection" etwas zu weit gehen, s . Ausführungen zu 9,6 f f . ) ; Wilekens, Rom II, 243: Verminderung der Vollzahl Israels; zu anderen Auffassungen s . vor allem die Kommentare. 370 Richtig Wilekens, Rom II, 243: "τδ πλήρωμα αυτών ist demnach Israel als Ganzes, d . h . die Auffüllung des gegenwärtigen 'Restes' zur Vollzahl I s r a e l s . " ; ähnlich Käsemann, Rom, 295; Zeller, Juden und Heiden, 239, Anm.2: "Aus πλήρωμα läßt sich der quantitative Sinn nicht wegdeuten." Alle berufen sich auf Delling, ThWNT VI, 303 (Käsemann und Wilekens beide mit dem gleichen Druckfehler III, 303). Auch in meinen EWNT-Artikel πλήρωμα За (III, 263) hat sich ein böser Schreibfehler eingeschlichen. Es muß natürlich heißen: "Bei Paulus ist πλήρωμα των έθνών 'die Fülle der Heiden' Rom 11,25 im Rahmen der Israel-Darlegung Rom 9-11 missionstheologischer Begriff: Die Fülle der Heiden ist im Heilsplan die 'Voraussetzung' für die Rettung 'der Fülle Israels' 11,12 bzw. von ganz Israel 1 1 , 2 6 . " Eine Auseinandersetzung mit Stuhlmann, Das eschatologische Maß, muß auf später verschoben werden.

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konstruktiven Abschnitt, wo er sowohl die Freiheit von Tod, Sünde und Gesetz als auch das Sein des Christen "im Geist" darlegt, fast ganz ohne Schriftbeweis auskommen [außer 7,7 f f . ; 8,36]. Paulinische Theologie kommt also an zentraler Stelle ohne Schriftbeweis aus - und das, obwohl der ganze Römerbrief nach 1,2 unter der Autorität der prophetisch verstandenen Schrift s t e h t ! 3 7 1 ) Die Hilfsgedanken zu seinem in 11,11 ausgesprochenen theologischen Spezifikum, also die gottgewirkte Verblendung und Verstockung und das gottgewirkte Eifersüchtigmachen, werden biblisch begründet, nicht aber der Hauptgedanke, daß das Unheil Israels um des Heils der Völker willen bewirkt ist. Auch aus Rom 9,25 bzw. dem dort zitierten Hos-Text geht das nicht hervor. Biblisch begründet wird dann allerdings später noch die Tatsache, daß Gott ganz Israel retten wird, 11,26 ( s . u . ) . Und man wird in dem in V.25 genannten "Geheimnis" die Fortsetzung der theologischen Argumentation von 11,1-12 sehen dürfen. Damit ist aber bereits ein weiteres Problem angesprochen, nämlich das der Gliederung und inneren Struktur von Kap. 11. Es fällt auf, daß die meisten Kommentare oder sonstigen Studien über Rom 9-11 mit 11,11 einen neuen Abschnitt beginnen lassen, der mit 11,24 endet. Dabei wird dieser Abschnitt teils von der Paränese her verstanden ( z . B . Wilckens: Warnung vor heidenchristlichem Heilshochmut 37 ^), teils mehr von einem dogmatischen Standpunkt her ( z . B . Lagrange: La reprobation d'Israel n'est pas definitive 3 7 3 ; Käsemann: Israel und die Heidenchristen374 ; Dreyfus: Dialectique entre le salut de paiens et le salut d ' I s r a e l 3 7 · * ) _ g s ist zu begrüßen, daß die "Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift" anders unterteilt: 11,1-12: Der erwählte "Rest" und das verblendete Volk; 11,13-24: Das Bild vom ölbaum. Dementsprechend unterteilt Rudolf Pesch im Kommentar der Neuen Echter Bibel376. Aber die Überschrift "Das Bild vom ölbaum" für 11,13-24 trifft, so richtig sie für den Inhalt ist, nicht den Charakter des Abschnitts. Bernhard Mayer überschreibt 11,1723a mit "Paränese: Warnung vor heidnischer Überheblichkeit" 3 7 7 , Ulrich Luz spricht von "einem paränetischen Exkurs an die Adresse seiner heidenchristlichen Leser" für 11,16- 2 4 3 7 8 . In der Tat schält sich zwischen 11,1-12 und 11,25 ff. ein formal auffälliger Abschnitt heraus, und zwar auffällig durch seine paränetische Ausrichtung. Nur müßte man wohl doch auch 11,13-15 hinzuziehen. (Wilckens hingegen nimmt fälschlich V . l l f . zur Paränese 37 **.) In dieser Paränese finden sich zwar auch Aus371 372 373 374 375 376 377 378 379

Hübner, A r t . γραψτί, EWNT I, 634. Wilckens, Rom II, 240. Lagrange, Rom, 274. Käsemann, Rom, 293. Dreyfus, Le passe et le present d'Israel, 131. Pesch, Rom, 84 f. 86. B.Mayer, Unter Gottes Heilsratschluß, 272. Luz, Geschichtsverständnis, 34. Wilckens, Rom II, 240 ff.

- 109 sagen von mehr dogmatischem C h a r a k t e r , aber es geht dabei weniger um die Grundargumentation von Rom 9-11 als solche als um die Situation der römischen Gemeinde. Natürlich ist diese Gemeindesituation auch für das bestimmend, was Paulus im Römerbrief und somit in Rom 9-11 s c h r e i b t . A b e r , wie in Abschnitt 2 noch zu zeigen i s t , dürfte der eigentliche Tenor der Aussagen von Rom 9-11 mehr aus der persönlichen Situation des Paulus erwachsen sein als aus der Situation der römischen Gemeinde379a. In diesem den Fluß der theologischen Argumentation unterbrechenden paränetischen Teil befinden sich auch Anspielungen auf das Alte T e s t a ment, vor allem in V . 1 6 f f . Für unsere Darlegungen genügen wenige B e merkungen. Für 11,16 sei mit Wückens angenommen, daß "im Unterschied zu 9,6 f f . , aber im Sinne von 9,4 f alle Israeliten als Zweige des Baumes, dessen Wurzel die Erzväter sind, geheiligt" sind und die "an der Erwählung der V ä t e r " t e i l h a b e n ^ . Doch wenn nach 11,17 f . die Heidenchristen an die Stelle der ausgehauenen Zweige, d . h . der ungläubigen J u d e n , t r e t e n , so folgt daraus nicht, wie Wilckens will, "daß es Israel i s t , in dem Gott ihm ( s c . dem Heiden) Aufnahme gewährt hat"381. Der Heide wird nach Paulus nicht Glied Israels und somit nicht J u d e ! Doch nun zurück zum eigentlichen Teil von Rom 11! Endlich sind wir nach langem Hin und Her zum Ziel gelangt, zum "Geheimnis" μ υ σ τ ή ρ ι ο ν , das die positive Antwort f ü r Israel g i b t . (In V . 2 5 ist lediglich der Finalsatz ί ν α μή ή τ ε π α ρ ' ( έ ν ? ) έ α υ τ ο ϊ ς φ ρ ό ν ι μ ο ι ein Nachklang der Paränese von 1 1 , 1 3 - 2 4 3 8 2 , ) J e t z t endlich stellt Paulus betont h e r a u s , daß Gott ganz Israel retten wird. I s t diese in V . 2 6 ausgesprochene Rettung von ganz Israel das in V . 2 5 genannte "Geheimnis"? Zunächst eine Frage zum syntaktischen Verhältnis von V.26a zu V . 2 5 c . Ist V.26a κ α ι ο ύ τ ω ς πας ' Ι σ ρ α ή λ σ ω θ ή σ ε τ α ι ein dritter Nebensatz, der von δ τ ι in V . 2 5 abhängt, oder ein eigener Hauptsatz, der als solc h e r einen besonderen Akzent t r ä g t ? Vielleicht läßt sich diese Frage nicht mehr endgültig beantworten. Aber so viel läßt sich doch sagen: V.26a ist im Grunde nur die Explikation dessen, was in V . 2 5 c impliziert i s t . Denn wenn Gott die teilweise Verhärtung über Israel lediglich bis zum Eintritt der Fülle der Heiden verhängt hat, so bedeutet das doch, daß er nach diesem Eintritt die Verhärtung von ganz Israel gegenüber dem Evangelium weggenommen h a t . Danach ist also ganz Israel fähig, das Wort des Evangeliums zu hören und somit des Heils, der σ ω τ η ρ ί α , teilhaftig zu werden. Also gilt nun: Gott wird ganz Israel r e t t e n .

379a Es ist bezeichnend für die Auffassung von Eichholz, Theologie, 299 f . , daß er den Exkurs nahezu zum Schlüssel von Rom 9-11 macht. 380 Ib. 246." 381 Ib. 247, Hervorhebung durch Wilckens. 382 Ob Paulus Rom 9-11 zuerst ohne 11,13-24 konzipiert hat und dieses so leicht herauslösbare Stück dann später einfügte, ist nicht mehr festzustellen. Man sollte aber zumindest diese Möglichkeit erwägen.

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Diese zeitliche Sequenz hat eine Reihe von Exegeten annehmen lassen, daß και οϋτως im temporalen Sinn als "und dann" auszulegen sei 3 8 ·*. Doch die hier dann wohl zu postulierende singulare Bedeutung "dann" für οϋτως ist überaus unwahrscheinlich, και. ούτως muß schon vom Lexikographischen h e r 3 8 ^ m jt » U nd so" übersetzt werden 3 8 ^. Freilich ist damit das temporale Moment von Paulus keineswegs ausgeschlossen: Im Heilsplan Gottes dient Israels teilweise 3 8 6 Verstockung der Bekehrung (dem "Eingehen", in die Gottesherrschaft?, in die K i r c h e 3 8 7 ? ) der Heiden, so daß Israel erst nach deren Bekehrung die Verstockung genommen und das Heil zuteil wird - so und nicht anders wird Gott Israel als Volk retten. In diesem Sinne sagt Michel zutreffend, daß dem Eingehen der Vollzahl der Heiden die Rettung von ganz Israel dann "sachlich und zeitlich" f o l g e 3 8 8 . Auch Luz ist zuzustimmen, wenn er den Skopus des Mysteriums nicht darin sieht, "daß dann, nach der Heidenbekehrung, auch noch ganz Israel gerettet werden wird", sondern daß Israel auf ganz unerwartete und paradoxe Weise gerettet wird 3 8 ^. Insofern ist aber Stuhlmacher im Recht gegenüber Luz, als Paulus die Wiederannahme Israels bewußt in eine endzeitliche Ereignisabfolge hine i n s t e l l t 3 ^ (zu seiner οϋτως-Interpretation s . u . ) . 383

Z . B . Zahn, Rom, 523; Käsemann, Rom, 303: "Es hat . . . temporalen Sinn"; B a r r e t t , Rom, 223: "when this is done"; W.D.Davies, NTS 24, 17, A n m . l . 384 S . auch Liddell /Scott, s . v . 385 Z . B . Luz, Geschichtsverständnis, 293 f . ; Schlier, Rom, 338; Wilckens, Rom II, 255; Cranfield, Rom I I , 576: "only in this way"; Hahn, Zum Verständnis von Rom 11,26a, 232, Anm.32; Zeller, Juden und Heiden, 251: Mit και οϋτως wird die Folgerung aus 11,25 gezogen. 386 άπό μέρους ist Euphemismus: In Wirklichkeit ist ja die Verstockung der überwiegenden Majorität Israels zuteil geworden! Daß άπό μέρους numerischen Sinn h a t , sollte man nicht bestreiten; gegen Plag, Israels Wege, 37,· Anm.145. Vgl. Cranfield, Rom I I , 575: "The phrase &π& μέρους is adverbial, and modifies γέγονεν: it refers to the fact that not all Jews where hardened ( c f . v v . 5,7,17)." 387 S . die Kommentare; В .Mayer, Unter Gottes Heilsratschluß, 284: "Eine letzte Entscheidung ist vielleicht nicht möglich und auch nicht nötig. In beiden Fällen geht es aber sicherlich um das Heil der Heiden." Ausgeschlossen ist aufgrund der Argumentationslinie des Paulus ein Eingehen der Hejden in das Volk Israel. Selbst Klappert, Traktat, 82, der hier wieder "kirchenkritische Absicht" des Paulus sieht und ausdrücklich hervorhebt, "daß nicht Israel in die Kirche eingeht" - für seine dogmatische, nicht exegetische Prämisse natürlich eine Unmöglichkeit - , fährt bezeichnenderweise nicht fort "sondern daß die Heiden in Israel eingehen", sondern formuliert so vorsichtig, daß man ihm beinahe zustimmen könnte, "sondern daß umgekehrt in der eschatologischen Völkerwallfahrt zum Zion das Vollmaß der Heiden eingehen darf in den Raum der Erwählung ganz I s r a e l s " . Doch zur "Völkerwallfahrt" ist gleich noch einiges zu sagen. 388 Michel, Rom, 355; ähnlich Schmidt, Rom, 199: "οϋτως meint eine zeitliche und sachliche Voraussetzung für die Bekehrung des jüdischen Volkes." 389 Luz, Geschichtsverständnis, 294. 390 Stuhlmacher, Zur Interpretation von Rom 11,25-32, 560.

- Ill Vielleicht darf man noch einen Schritt weitergehen, indem man mit Lagrange, der ausdrücklich και οϋτως von και τ ό τ ε unterscheidet, sagt: "la conversion des gentils n'est pas seulement le signal que l'heure est venue; eile aura aussi sans dout sa part de causalite sur celle des Juif."391 Etwas vorsichtiger formuliert Giovanni Torti: "καΐ οϋτως: поп equivale senz'altro a και τ ό τ ε e sembra indicare una certa causalitä. "^92 Nun ist zugegebenermaßen der Begriff der Kausalität in einem theologischen Zusammenhang wie dem von Rom 9-11 äußerst problematisch. Er ist aber vielleicht nicht dann völlig unangemessen, wenn ausdrücklich erklärt wird, daß damit keine geschichtlich immanente Kausalität gemeint ist, sondern eine von Gott gesetzte. Kausalität ist hier, was Gott in seiner "Prädestination" in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht hat. Torti beruft sich auf J.Huby/St.Lyonnet, die eine "certaine causalite" wie folgt begründen: "La transformation de l'ensemble des Gentils par la foi chretienne provoquera l'emulation d'Israel^öß et aura une part d'influence sur sa "394 Doch einerlei, ob man bereit ist, den vor allem von katholischen Exegeten vertretenen Kausalitätsgedanken zu akzeptieren oder nicht"*®®', man wird nicht um die Interpretation von Rom 11,25 f . herumkommen, nach der es im Heilsplan Gottes festgelegt ist, daß die Verstockung Israels zumindest die Voraussetzung, conditio sine qua поп, f ü r die Bekehrung der Heiden und deren Eingehen in die Gottesherrschaft ( s . Anm.387) wiederum die Voraussetzung f ü r die Rettung von ganz Israel ist. Daß V . l l f ü r die Interpretation von V.25 herangezogen werden muß, scheint mir sicher. oqe Noch eine syntaktische Bemerkung zu 11,25 f . : Christian Müller und Peter Stuhlmacher^? fassen mit Walter B a u e r ^ 8 ούτως im Sinne eines nach vorn verweisenden und mit καθώς γ έ γ ρ α π τ α ι zu verbindenden Adverbs^®®. Abgesehen davon, daß die von Joachim Jeremias u . a . erhobenen philologischen Bedenken zumindest einiges wiegen, dürfte der herausgestellte theologische Argumentationsgang des Paulus dagegen sprechen. Der innere Zusammenhang von 11,25c und 11,26a ist zu eng, als daß man 11,26a herauslösen sollte. Das Schriftzitat 11,26b.27 bezieht sich auf die Einheit der theologischen Spitzenaussage 11,25c.26a. c o n v e r s i o n .

391 Lagrange, Rom, 284; Hervorhebung durch mich. 392 Torti, Rom, 229. 393 Unter Verweis auf Rom 11,11. 394 Huby/Lyonnet, Rom, 402; Hervorhebung durch mich. 395 Dagegen z . B . Luz, Geschichtsverständnis, 393; Zeller, Juden und Heiden, 251. 396 Ch.Müller, Gottes Gerechtigkeit, 43, Anm.88. 397 Stuhlmacher, Zur Interpretation von Rom 11,25-32, 560. 398 Bauer, WB, s . v . 399 So neuerdings auch Kümmel, in: De Lorenzi ( H g . ) , Die Israelfrage nach Rom 9-11, 207 (Diskussionsbeitrag zum Referat Joachim Jeremias); J.Jeremias hat in seinem Referat (Sprachliche Beobachtungen zu Rom 11,25-36, 198) mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die korrelative Verbindung von οΰτως in Rom 11,26 mit καθώς γ έ γ ρ α π τ α ι nicht paulinischer Sprachgebrauch ist; ähnlich В .Mayer, Unter Gottes Heilsratschluß, 284.

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Nach den bisherigen Ausführungen dürfte sich das "Geheimnis" von V.25 - inzwischen hat sich gezeigt, daß es keineswegs im Daß der eschatologischen Rettung Israels, sondern in ihrem Wie besteht - gut in den Gesamtduktus der paulinischen Argumentation von Rom 9-11 einfügt. Es ist wohl kaum noch nötig, die These von Christoph Plag, Rom 11,25-27 sei Interpolation eines Paulus-Textes in den Rom, zu widerlegen^OO. vtfas aber das Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion, das auch er in Rom 11,25 ausgesprochen sieht, angeht, so ist es m.E. durchaus möglich, insofern dieses eschatologische Motiv von Jes 2,2 ff. und Micha 4,1 ff. im Rom (11,25 im Lichte von 15,25 ff. verstanden) in abgewandelter Form zu finden, als 1. das Heil der Völker gegen die alttestamentliche Verheißung dem Heil Israels vorangeht und 2. anstelle der Wallfahrt der Völker die "Wallfahrt" der Schätze der Heiden (Jes 60,1 f f . , vor allem 60,5 f . ) , sprich: die paulinische Kollekte, geschehen wird^®*. Es spricht sehr viel für ein derartiges Verständnis von Jes 60 durch Paulus, zumal in V.6 nach "Alle werden aus Saba kommen und Gold und Weihrauch bringen" die bezeichnenden Worte folgen: και τό σωτήρι,ον κυρίου εύαγγελιοϋται, "und sie werden das Heil des Herrn als Evangelium verkünden". Wie sollte Paulus, der trotz Todesgefahr fest entschlossen ist, persönlich die Kollekte in Jerusalem abzuliefern, Rom 15,25-32, Jes 60,1 ff. anders lesen denn als prophetischen Hinweis auf seine Kollekte? Wie sollte er, der sich so sehr von "Jesaja" her verstand (Jes 49,1 in Gal 1 , 1 5 ! ) diesen "jesajanischen" Text anders deuten? Allerdings ist es schwer zu beurteilen, in welchem Ausmaß

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Zur Auseinandersetzung mit der These von Plag s . vor allem В .Mayer, Unter Gottes Heilsratschluß, 293-300: Die These, daß in Rom 11, 25-27 eine andere Heilskonzeption als sonst in Rom 9-11 vorläge, nämlich die der eschatologischen Völkerwallfahrt zum Zion, findet sich dort nicht; deshalb ist Plags These falsch. Anders argumentiert gegen Plag z . B . Stuhlmacher, Zur Interpretation von Rom 11,25-32, 562 f f . , der jedoch mit ihm in V.25 das alte Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion in christlicher Verarbeitung ausgesprochen sieht. Stuhlmacher lehnt aber Plags Grundthese völlig ab. Georgi, Kollekte, 72.84; Munck, Heilsgeschichte, 298 f . ; s . auch Bornkamm, Rom als Testament, 137. Aus, Paul's Travel Plans to Spain, stützt sich vor allem auf J e s 66; seine These i b . 241: "I propose that Paul read this Isaiah text to mean that Christian missionaries, primarily he himself with his helpers, were, in a complete reversal of the normal Jewish thought regarding the end time, to gather representatives from all the Gentile nations and to bring them, the Gentiles, and not the diaspora Jews, to Jerusalem as an 'offering' or 'gift' to the Lord J e s u s , the Messiah. This would be the 'offering of the Gentiles' of which Paul speaks in R o m . x v . 1 6 . " Dabei versteht er Tharsis J e s 66,19 als Spanien, ib. 242 f f . So folgert e r , ib. 260 f . : "According to the thesis presented above, this πλήρωμα των έθνών will only be complete when Paul has also brought Christian representatives from Spain, the most distant site in the ОТ vision of the end events, with their gifts to Jerusalem. This is then the completion of the 'offering of the Gentiles' of which the Apostle speaks in Rom.xv.16, which in turn is based on Paul's Christian understanding of I s a . lxvi. 20. Paul firmly believed when he wrote Romans that his collection enterprise would be completed during his own lifetime an primarily through his own efforts. Then the Messiah would come ( a g a i n ) . " I b . 249 f f . bezieht er sich auch auf J e s 60.

- 113 Paulus durch die Aussage Rom 11,14, er selbst wolle durch seinen Missionserfolg sein Volk eifersüchtig machen und so einige, τι,νάς έξ αυτών, retten, σώσω ( ! ) , die Aussage "Gott wird ganz Israel retten, σωθήσεται" einleitet 4 *^. Dj e Vermutung Muncks u . a . , daß Paulus für die Kollekte Jes 60,5 vor Augen hat, könnte darin eine gewisse Bestätigung finden, daß er in Rom 11,26 bereits Jes 59,20 f . zitiert, also den unmittelbaren Kontext von Jes 60,5. Auch Jes 45,22 kann m.E. in diesem Zusammenhang mitbedacht werden: έπιστράφητε πρός με και σωθήσεσθε ( ! ) , οι. άτι' έσχατου της γης. Übrigens findet sich in Rom 14,11 außer Jes 49,18 auch Jes 45,23 als formales Schriftzitat (Mischzitat). Es gibt aber noch weitere Indizien für eine äußerst intensive Beschäftigung des Paulus mit dem Jes-Buch gerade zur Zeit der Abfassung des Rom. Denn auch Rom 11,26a kann in ausgezeichneter Weise von einer Jesstelle her gelesen werden, nämlich von Jes 45,25 her: άπδ κυρίου δικαιωθήσονται και έν τψ θεώ ένδοξασθήσονται πάν τό σπέρμα των υιών "Ισραήλ. Denn dieser Satz beinhaltet genau das, was Paulus in V.26 mit πας 'Ισραήλ σωθήσεται formuliert: πας 'Ισραήλ ist, zumal diese Wendung vom Alten Testament her sprichwörtlich geworden i s t403 u n ( j Paulus sie wohl deshalb benutzt 4 0 4 ( s . auch Sanh X , l : ρ1?Π Dn!? KP ί ο ) , Abkürzung von παν τό σπέρμα των υιών ' Ι σ ρ α ή λ . Und σωθήσεται entspricht inhaltlich dem δι,καιωθήσονται. Wenn es stimmt, daß das Mysterium von 11,25 mehr auf den Weg des Heils für Israel bzw. auf die von Gott gesetzte "Kausalität" des Heils für Israel als auf dessen Heil selbst bezogen ist, so will Paulus in V.26a sagen: Und so, και οϋτως, wird in der Tat Wirklichkeit werden, was Gott in Jes 45,25 verheißen hat. Sicherlich ist V.26a nicht wörtliches Zitat, wohl aber kaum ohne Blick auf diesen Prophetenvers formuliert. Im Unterschied dazu ist aber V.25c nicht in so enger Anlehnung an eine alttestamentliche Aussage formuliert 40 ·*. Vielleicht sollte man auch bedenken, daß 402

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Klappert, Traktat, 83 f f . , reißt sehr bewußt Rom 11,14 und 11,25 f. auseinander, um so 11,25 f. in dem Sinn zu deuten, daß Paulus hier "nicht missionstheologisch von der Bekehrung Israels" rede. Sein Fehler ist offenkundig: Er interpretiert S . 8 5 Rom 11,11 von 11,14 her! In V . l l ist aber von τ ίνας keine Rede! !?>ow> t>D, z . B . 1 Sam 3,20: ganz Israel, von Dan bis Beerseba; vor allem in Dt ( 1 , 1 ; 13,12 и . о . ) , dazu Zobel, ThWAT III, 1008; 1 und 2 Chr (46mal) "ganz Israel" als П1П' p, nämlich "Gemeinde Jahwähs". Die LXX sagt, wie Paulus, πας 'Ισραήλ. Unter "ganz Israel" verstehe ich mit der Mehrzahl der Forscher die Nation Israel als ganze, aber nicht notwendigerweise mit Einschluß jedes Individuums. Auf jeden Fall steht "ganz Israel" im Gegensatz zum "Rest Israels" 9,27; 11,5. Anders J.Jeremias, Sprachliche Beobachtungen zu Rom 11,25-36, 200: "das Gottesvolk aus Juden und Heiden"; Villiers, Salvation, 217: "the full total determined by God". Daß dem V.25c auch alttestamentliche Vorstellungen zugrundeliegen, wird man nicht bestreiten können. Wenn Gott über einen Teil Israels Verstockung v e r hängt hat, dann ist u . a . 11,7 mit έπωρώθησαν aufgegriffen. Dieses επωρώθησαν findet seine Schriftbegründung in den Zitaten von 11,8-10. S.

- 114 sich in J e s 49,22-26 das σ ω θ ή σ ε τ α ι im Wortfeld von τ ά έ θ ν η , ρύομαι und ' Ι α κ ώ β befindet, also in jenem Wortfeld, das auch Rom 11,25 f . aufweist. Eine Frage wird heute heftig, teilweise sogar sehr emotional diskutiert, zuweilen sogar eine sehr bestimmte Antwort auf diese Frage in sehr bestimmter Absicht dekretiert. Es ist die Frage, ob mit dem passivum divinum σ ω θ ή σ ε τ α ι in Rom 11,26 die Bekehrung des ganzen Volkes vor dem Jüngsten Tag gemeint sei oder ob Paulus damit, wozu Franz Mußner das Stichwort gab, einen "Sonderweg Israels zum Heil" zum Ausdruck gebracht hat. Dieser "Sonderweg" soll nach Mußner darin bestehen, daß der "Parusiechristus" ganz Israel ohne vorausgehende Bekehrung der J u den zum Evangelium rettet 4 0 ®. Massiver und gröber als Mußner hat es Klappert gesagt: Israels Heil geschehe nach Paulus "transkerygmatisch" und "transekklesiologisch", und zwar im kirchenkritischen Sinne; Israel komme zwar an der Kirche vorbei, nicht aber die Kirche an I s r a e l 4 0 ? . Mußners These soll jedoch erst Gegenstand unserer Überlegungen sein, wenn das Schriftzitat 11,26 f . behandelt i s t . Dieses Zitat ist wieder ein typisch paulinisches Mischzitat, dessen B e standteile zum größeren Teil aus J e s 59,20 f . und in den letzten Worten (ab δταν) aus J e s 27,9 genommen i s t . Joachim Jeremias vermutet, daß nur infolge eines Gedächtnisirrtums dem Paulus der abschließende Nachsatz J e s 27,9 in die Feder gekommen sei 4 0 ®. Doch dürfte nach all dem, was bereits zur Sprache kam, diese Annahme kaum zutreffen. Die Zitatenkontamination dürfte wiederum von Paulus selbst aufgrund seiner hier mehrfach schon genannten hermeneutischen Voraussetzungen vorgenommen worden sein. Wegen des breiten Konsenses unter den Exegeten sei zunächst ohne Begründung vorausgesetzt: 1. ή ξ ε ι meint das Kommen Christi zur Parusie und folglich auch δ ρ υ ό μ ε ν ο ς nicht Gott, sondern Christus 4 0 ®.

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auch Jes 6,9 f. (έπαχύνθη); s. auch Hatch/Redpath, s. ν . σκληρύνω (vor allem Jes 63,17: τ£ έπλάνησας ήμας, κ ύ ρ ι ε , άτιό της 6δοϋ σ ο υ , έσκλήρυνας ήμών τάς καρδίας του μή φοβεϊσθαι.' σε; immer wieder sind es Jes-Stellen, die sich gut in das theologische Aussagegefälle des Paulus fügen! Mußner, "Ganz Israel wird gerettet werden" (Rom 11,26), Kairos 18,250 f . ; ders•, Traktat, 59-61. Klappert, Traktat, 85 f. 90; zu der von Mußner, Klappert u . a . vertretenen Grundauffassung s. auch G .Klein, "Christlicher Antijudaismus", Bemerkungen zu einem semantischen Einschüchterungsversuch, ZThK, 79, 411-450. J.Jeremias, Sprachliche Beobachtungen zu Rom 11,25-36, 200. So u . a . Käsemann, Rom, 304; Michel, Rom, 356; Wilckens, Rom II, 256; Cranfield, Rom II, 578; Stuhlmacher, Zur Interpretation von Rom 11,25-32, 561; Zeller, Juden und Heiden, 258 f f . ; anders В .Mayer, Unter Gottes Heilsratschluß, 292: Gott selbst; Luz, Geschichtsverständnis, 294 f . , bezieht δ ρυόμενος zwar auch auf Christus, doch denke Paulus nicht an die Parusie als neue Heilsetappe, sondern an das Christusgeschehen insgesamt; so auch Schmidt, Rom, 199.

- 115 2. Jakob meint selbstverständlich Israel als das Volk Israel und steht nicht, wie J.Jeremias annimmt, "typologisch für das Gesamtverheißungsvolk aus Juden und Heiden" 4 1 **. Schwieriger ist zu beurteilen, wie die Abweichung von έ ν ε κ ε ν Σ ιών - so LXX - in έκ Σ ιών zu beurteilen i s t , vor allem angesichts der Tatsache, daß J e s 59,20 f . sonst fast wörtlich mit dem LXX-Text übereinstimmt (lediglich das και jeweils vor ή ξ ε ι und άποστρέψει bringt Paulus n i c h t ) . Hat Paulus bewußt in έκ g e ä n d e r t 4 1 1 ? Will er sagen, daß der zur Parusie wiederkommende Christus aus dem himmlischen Jerusalem (Gal 4,26) kommt 41 ^? Typisch ist in den Kommentaren und Monographien eine bestimmte Vagheit, wenn nicht sogar Unsicherheit der Diktion; der Tenor lautet: "vielleicht" sei das unter dem Einfluß - was immer das heißen mag - von φ 13,7 [ τ ι ς δώσει έκ Σιών τό σωτήριον ( ! ) τοΰ Ι σ ρ α ή λ ; ] , φ 4 9 , 2 [ έ κ Σιών ή ευπρέπεια της ώ ρ α ι ό τ η τ ο ς α ύ τ ο ϋ , 6 θ ε δ ς έμφανώς ή ξ ε ι ( ! ) ] oder ähnlichen Psalm-Stellen entstanden 4 Da aber außer dem έκ Σιών kein Hinweis im Rom, in dem je eindeutig Jerusalem anders als Gal 4,21-31 gewertet ist, auf ein himmlisches Zion zu finden ist und - vor allem!.- sich έ ν ε κ ε ν Σιών wesentlich besser in die Argumentation von Rom 11 fügen würde, ist vielleicht doch noch einmal e r n s t haft zu erwägen, ob Paulus nicht in seiner LXX-Vorlage έκ Σιών gelesen hat, zumal mein Göttinger Kollege Berndt Schaller in einer in Kürze zu erwartenden Publikation - mit seiner Erlaubnis darf ich mich bereits auf sie beziehen - ein m.E. gewichtiges Argument dafür a n f ü h r t 4 1 4 . Sollte man jedoch an der Auffassung festhalten wollen, daß Paulus έ ν ε κ ε ν Σιών bewußt in έκ Σιών geändert und dies natürlich, weil bewußt vorgenommen, aus theologischen Gründen getan hat, so wäre vielleicht, wenn auch nur als vage Möglichkeit, folgende Hypothese zu e r wägen: Wenn in Rom 11,25 der Gedanke der Völkerwallfahrt zum Zion, freilich in stark abgewandelter Weise (Kollekte), impliziert ist, so steht Paulus u . a . auch J e s 2,2-4 vor Augen. Da ist von den letzten Tagen die Rede, vom Berg des Herrn. Alle Völker werden zu ihm kommen: ή ξ ο υ σ ι ν έ π ' αυτό πάντα τά έ θ ν η 4 1 ^ . Auch V . 3 heißt es και πορεύσονται έθνη 410 411 412 413

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J . J e r e m i a s , Sprachliche Beobachtungen zu Rom 1 1 , 2 5 - 3 6 , 200. К äse mann, Rom, 304: Die rabbinisch bezeugte messianische Interpretation von J e s 5 9 , 2 0 veranlaßt diese T e x t ä n d e r u n g . So z . B . Michel, Rom, 356; Käsemann, Rom, 304; Wilckens, Rom II, 257. Cranfield, Rom II, 577; B . M a y e r , Unter Gottes Heilsratschluß, 291, Anm.130; Wilckens, Rom II, 257, Anm.1158: "Oder sollte έκ Σιών einfach aus 4 9 , 2 . . . eingeflossen sein?" Um dem Autor nicht vorzugreifen, deute ich hier seine Argumentation nicht a n . Sicher hat er nicht bewiesen, daß Paulus έκ Σιών gelesen haben muß. Aber ich meine schon, daß zumindest nach der Publikation von Schallers Aufsatz keiner mehr ohne B e g r ü n d u n g und ohne Bezug auf ihn sagen kann, Paulus habe bewußt den T e x t g e ä n d e r t . πάντα τά έθνη bringt Paulus an entscheidender Stelle der argumentatio in Gal 3 , 8 , außerdem Rom 1 , 5 (Dativ) und 1 5 , 1 1 (auch in dem kaum authentischen Rom 1 6 , 2 6 ) .

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πολλά . . . Ende V . 3 findet sich dann έκ γαρ Σι,ών έ ξ ε λ ε ύ σ ε τ α ι νόμος και λόγος κ υ ρ ί ο υ έξ ' Ι ε ρ ο υ σ α λ ή μ . Der Text schließt dann mit der b e kannten Friedensvision, in der Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden. Könnte es nun sein, daß Paulus in diesem alttestamentlichen Text das Miteinander vom eschatologischen Kommen der Völker und vom eschatologischen Kommen des Wortes Gottes bzw. des Retters bedenkt ( ή ξ ε ι ν in J e s 2,3 und Rom 11,26 = J e s 5 9 , 2 0 ! ) ? Von seinen hermeneutischen Voraussetzungen aus kann er nämlich leicht den λόγος κ υ ρ ί ο υ von J e s 2,3 mit dem ρυόμενος von J e s 59,20 zusammenbringen. Es wäre schön, könnten wir mit einiger Sicherheit das Problem des έκ Σ ιών lösen. Aber zumindest im Augenblick scheint es so, als kämen wir über Spekulationen nicht hinaus. Insofern aber ist dieses ignoramus für unsere Fragestellung nicht allzu schwerwiegend, als die eigentlichen Fragen im Blick auf 11,25-27 an anderer Stelle zu orten sind. Zunächst ist zu fragen, welche Funktion das mit καθώς γέγραπται eingeleitete Zitat besitzt. Inhaltlich direkt bezieht es sich - auch wenn, wie sich zeigte, και. ούτως syntaktisch nicht vorweisend mit καθώς γέγραπται zu verbinden ist - lediglich auf die in V.26a ausgesagte Rettung von ganz Israel und bestätigt also, daß Rettung für ganz Israel kommen w i r d ^ ° . Aber indirekt ist V . 2 5 , also der eigentliche Inhalt des Mysteriums, da V.26 im Grunde nur die Konsequenz aus dem in V.25 Gesagten i s t , mit anvisiert. Genau an dieser Stelle aber setzt Mußner ein. Seine bereits genannte These gründet er auf den Inhalt des Jes-Zitats: "Israel wird nach der T e x t aussage von Rom l l , 2 6 b - 3 2 nicht aufgrund einer der Parusie vorausgehenden 'Massenbekehrung' (F.W.Maier) das Heil erlangen, sondern einzig und allein durch eine völlig vom Verhalten Israels und der übrigen Menschheit unabhängige Initiative des sich aller erbarmenden Gottes, die konkret in der Parusie Jesu bestehen wird. Der Parusiechristus rettet ganz Israel, und zwar sola gratia, ohne Werke des Gesetzes, aber auch ohne vorausgehende 'Bekehrung' der Juden zum Evangelium. Gott rettet Israel auf einem 'Sonderweg', und dennoch nicht am Evangelium vorbei, weil auch sein 'Retter' Christus sein wird, der nach Rom 10,12 'der Herr aller' i s t . " ^ 1 ^ Was man bei Mußner aber vermißt, ist eine genaue Exegese des J e s - Z i t a t s . Er sieht in dem ρυόμενος den "Parusiechristus", nicht G o t t e s Darin wird er sachlich recht haben. Die Schriftaussage, daß dieser Christus die Gottlosigkeiten von Jakob nehmen wird, daß also zugegebener-

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Richtig Schmidt, Rom, 199: "Das Schriftzitat will nicht die Art der Rettung beschreiben, illustriert also nicht das οϋτως, sondern will die Tatsache bestätigen, daß Gott überhaupt und wirklich für die Endzeit eine E r r e t t u n g von Gesamtisrael in Aussicht genommen h a t . " Mußner, Kairos 18,250 f . ; T r a k t a t , 59 f . Mußner, T r a k t a t , 250.

- 117 maßen von einer Aktivität Israels in dem Zitat nicht die Rede ist, kann aber nicht für die These in Anspruch genommen werden, daß eine Bekehrung Israels am Ende der Tage ausgeschlossen sei. Hier ist wieder die Gesamtstruktur von Rom 9-11 verkannt. In 9,6-29 ist auf der Ebene des prädestinatianischen Handelns Gottes argumentiert, in 9,30-10,21 auf der Ebene des Handelns des Menschen und von 11,1 an wieder auf der Ebene des prädestinatianischen Handelns Gottes. Daß die eine Ebene die andere nicht ausschließt, ist hoffentlich im Zuge der Darlegungen deutlich geworden. Wenn aber in 11,26b mit dem passivum divinum die alles entscheidende Aktivität Gottes ausgesagt ist und durch das Schriftzitat diese Aktivität Gottes im kommenden Christus bestätigt wird, so verbietet die theologische Gesamtkonzeption von Rom 9-11 diese Aktivität Gottes bzw. Christi so zu deuten, als entspräche ihr kein Handeln der.Menschen, konkret: keine Bekehrung Israels. Dieses Ergebnis kann durch Kontextexegese sowohl des theologischen Spitzensatzes Rom 11,26a als auch des Jes-Zitats erhärtet werden. Zunächst also zum Kontext von Rom 11,26a mit seinem σ ω θ ή σ ε τ α ι ! Das Verb σ ψ ζ ε ι ν kommt im Rom 8mal, davon in Rom 9-11 5mal vor, das Substantiv σ ω τ η ρ ί α 5mal, davon in Rom 9-11 3mal. Nach Rom 1,16 - und Rom 1,16 f . ist theologische Überschrift des Briefes! - ist σ ω τ η ρ ί α das Ziel der Predigt des Evangeliums von der Gottesgerechtigkeit. Die σ ω τ η ρ ί α gilt dem Glaubenden, dem Juden zuerst und dann dem Heiden, σ ω τ η ρ ί α steht somit an entscheidender Stelle im Wortfeld von Glauben und Gottesgerechtigkeit. Schon allein von daher wird man erwarten dürfen, daß jeder Leser bzw. Hörer des Rom bei σ ω τ η ρ ί α und σ ψ ζ ε ι ν an das Heil denkt, das Gott dem Menschen mit der Gottesgerechtigkeit aufgrund des Glaubens schenkt. Die Konnotation von π ί σ τ ι ς und σ ω τ η ρ ί α als Ausdruck des sola gratia ist also bereits in der Überschrift des Rom enthalten. Rom 5 , 1 . 9 werden Rechtfertigung aus dem Glauben und Rechtfertigung aus Christi Blut parallelisiert und die Rechtfertigung als Gerettet-Werden eschatologisch qualifiziert (σωθησόμεθα, die gleiche Form noch einmal in V . 1 0 ) . In 9,27 findet in dem Jes-Zitat die Form σ ω θ ή σ ε τ α ι für die Rettung des Rests Israels, eine Rettung, die im Kontext von Kap. 10 als Rettung aufgrund des Glaubens sola gratia ausgesagt wird ( 1 0 , 9 13; V . 9 : σωθήση, V.13: σ ω θ ή σ ε τ α ι ) . Wer in 11,26 σ ω θ ή σ ε τ α ι - f ü r das ganze Israel hört, hat noch von 9,27 her das σ ω θ ή σ ε τ α ι für den Rest Israels im Ohr, von 10,9.13 her dieses Wort im Zusammenhang mit der Glaubensgerechtigkeit und wird wohl deshalb kaum auf die Idee kommen, daß das erneute σ ω θ ή σ ε τ α ι anders gemeint sein könnte als in Kap.9 und 10. Und 13,11 wird die eschatologische σ ω τ η ρ ί α als die Manifestation deö schon jetzigen Gerettet-Seins ausgesagt. Allein das σ ω θ ή σ ε τ α ι in 11,26 legt also schon nahe, an eine Rettung von ganz Israel sola gratia und sola fide zu denken, wie sie auch sonst im ganzen Rom gemeint i s t . Eine B e merkung noch zu Rom 11,23: Ferdinand H a h n 4 1 9 macht mit Recht darauf

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Hahn, Zum Verständnis von Rom 1 1 , 2 6 a ,

230,

Anm.39.

- 118 420 aufmerksam, daß auch Mußner sieht, wie diese Stelle mit ihrem έάν μή έπιμένωσιν τη άπιστίςι, έγκεντρι-σθήσονται für seine Auslegung Schwierigkeiten b e r e i t e t 4 2 1 . In der für Paulus entscheidenden Rechtfertigungsterminologie bleiben wir auch innerhalb des Jes-Zitats. Wenn dort davon die Rede ist, daß der aus dem Zion kommende Retter die Gottlosigkeiten, ασεβείας, von Jakob abwenden wird, so erinnert das sofort an 4,5, wo Paulus Gott als τόν δικαι,οϋντα τόν άσεβη bezeichnet. Und unmittelbar danach in 4,7 begegnet in φ 31,1 wie im Jes-Zitat von 11,27 der Plural von άμαρτία (LXX hat τήν ά μ α ρ τ ί α ν ! ) . Nicht bestreiten läßt sich, daß die Rettung Israels irgendwie im Zusammenhang mit der Parusie e r f o l g t 4 2 2 . Darin hat Mußner recht 4 2 "*. Daraus jedoch einen Akt jenseits der Geschichte zu konstruieren verbietet die Funktion des Zitats, das ja nicht noch zusätzlich einen neuen apokalyptischen Sachverhalt nennen, sondern für den zuvor genannten theologischen Sachverhalt den Schriftbeweis bieten will. Es kommt eben in dem Zitat allein darauf an, daß Gott am Ende - und "am Ende" ist ein sehr dehnbarer Begriff - ganz Israel r e t t e t 4 2 3 a . Das σωθήσεται. von V.26 wird durch die Wendung άποστρέφευ άσεβείας άπό "Ιακώβ und άψέλωμαι τάς αμαρτίας αυτών begründet 4 2 ^. Es wäre eine Überinterpretation des Zita420 421

Mußner, Kairos 18, 252 f . Interessant sind die Verschiebungen innerhalb der Argumentation bei Mußner von seinem Kairos-Aufsatz zu seinem B u c h . Doch kann hier nicht darauf eingegangen werden. 422 Einige Autoren verstehen έκ Σ ιών als "aus dem Himmel", so z . B . Cranfield, Rom I I , 578, der daraus folgert: "If this view of Paul's understanding of the first words of Isa 59.20 is correct, the quotation confirms our explanation of σωθήσεται. as denoting a strictly eschatological e v e n t . " ; Michel, Rom, 356: "aus dem himmlischen Heiligtum"; Käsemann, Rom, 304. Ob freilich dabei die Vorstellung vom "oberen Jerusalem" im Sinne von Gal 4,25 bestimmend i s t , wie diese Autoren annehmen, ist recht fraglich, da die Israel-Vorstellungen von Rom 9-11 sich nicht mit den Vorstellungen in Gal 4,21-31 harmonisieren lassen. 423 Luz, Geschichtsverständnis, 294, denkt im Blick auf das Zitat J e s 59,20 "doch eher an das erste Kommen des Messias"; es sei aber zu fragen, ob sich überhaupt die Alternative von vergangenem und endzeitlichem Kommen stelle. "Dafür, daß Paulus nicht nur an die Parusie, sondern an das Christusgeschehen als ganzes denkt, spricht auch, daß J s . 5 9 , 2 0 f . im Judentum messianisch gedeutet wurde, so daß ein ausschließlicher Bezug des Zitates auf die Parusie doch schwierig i s t . Vermutlich denkt also Paulus nicht an die Parusie als neue Heilsetappe, sondern an das Christusgeschehen insgesamt." 423a Schräge, J a und Nein, 150, - um nur einen zu nennen; mühelos ließe sich außerdem eine ganze Reihe von Exegeten gleicher Auffassung nennen - parallelisiert die Wiederkunft Christi 11,26 mit dem "Leben aus den Toten" 11,15 und sieht daher die Rettung von "ganz Israel" als "keine innergeschichtliche Möglichkeit der Gegenwart". Diese Parallele scheint mir zu konstruiert, zumal 11,15 im Exkurs 11,13 f f . ( s . o . ) steht, der aus paränetischen Gründen den Gedankenfluß von Rom 9-11 unterbricht. 424 S . auch Hahn, Zum Verständnis von Rom 11,26a, 228.

- 119 425 tes, wollte man ihm den genauen Modus der Rettung entnehmen . Dieser Modus der Rettung ist doch schon in V.25 ausdrücklich angegeben! Nun zum Wortfeld von Jes 59 und Jes 27! Kap. 59 beginnt mit der Frage, ob die Hand des Herrn nicht stark wäre, um zu retten (τοϋ σώσαι). Daß er nicht rettet, hängt an Israel: "Wegen eurer Sünden hat Gott sein Angesicht von euch abgewandt" - man beachte hier in V.2 die zu V.20 spiegelgleiche Formulierung: б ι ά τάς άμαρτίας ύμών άπέστρεψε τό πρόσωπον αύτοΰ άφ' ύμών-, "um sich eurer nicht zu erbarmen"(τοϋ μή έλεησαι, vgl. Rom 11,32, wo der Vers und somit die Ausführungen des Paulus mit έλεήση enden!). Israel hat auf Nichtiges vertraut: πεποίθασιν έπί ματαίους, 59,4. Hat Paulus diese Stelle so verstanden, als ob Jesaja unter dem Vertrauen auf das Nichtige das Vertrauen der Juden auf das Gesetz als den Heilsweg gemeint hat (vgl. Rom 10,2!)? In V.7 liest Paulus, daß die Gedanken der Israeliten Gedanken von Törichten ( δ ι α λ ο γισμοί αφρόνων) sind; in V.9, daß deshalb die Gerechtigkeit - Paulus dürfte die δικαιοσύνη hier als δικαιοσύνη έκ πίστεως verstehen sie nicht erreicht; so wird ihnen das Licht zur Finsternis. Deshalb steht die σωτηρία weit weg von ihnen, V . I I . "Unsere Sünden, αι άμαρτίαι ήμών, stehen gegen uns", klagt der Prophet in V.12. Wir sind gottlos gewesen, ήσεβήσαμεν ( ! ) , wir sind ungehorsam gewesen, ήπειθήσαμεν (vgl. Rom 11,31: ήπείθησαν !), V.13. In V.14 ist noch einmal die Rede davon, daß ihnen κ ρ ί σ ι ς und δικαιοσύνη fehlen. Und der Zorn - όργή; Paulus versteht hier auch unter όργή Gottes Endgericht - wird vom Herrn kommen, V.19. Aber - und nun kommen die von Paulus zitierten Sätze V.20 f . - wegen Zion, ένεκεν Σ ιών, wird auch der Retter kommen und die Gottlosigkeiten von Jakob entfernen; und dies wird für sie der Bund Gottes mit ihnen sein^ 2 ^. Im Wortfeld von Jes 59 finden sich also sowohl entscheidende Begriffe aus Rom 11,25 ff. als auch aus der paulinischen Rechtfertigungslehre. Wenn anzunehmen ist, daß Paulus den Kontext von Jes 59,20 f . vor Augen hatte - und damit ist höchstwahrscheinlich zu rechnen - , dann hatte er auch die dort ausgesprochene δικαιοσύνη, sprich: δικαιοσύνη έκ πίστεως, im Sinn. Und in Jes 27,9 lesen wir unmittelbar vor dem in Rom 11,27 b zitierten Satz: δ ι α τοϋτο άφαιρεθήσεται ή άνομία 'Ιακώβ, και τοϋτό έ σ τ ι ν ή ευλογία αύτοϋ. Und das Kapitel endet damit, daß die Ver425

426

Inwieweit Paulus in V.27 auch noch Jer 31,33 f. vor Augen hat, läßt sich kaum sagen. Meint der Apostel einen "erneuerten Bund" mit Israel (Mußner, Kairos 18,250)? Meint er einen "neuen Bund", in dem die Christenheit bereits gegenwärtig lebt, der aber Israel erst in der Parusie zuteil wird (Käsemann, Rom, 304)? Die Gesamtargumentation des Paulus spricht für Käsemanns Auffassung. Richtig Käsemann, ib. 304: "Nicht das Heil ist anders, wohl aber der Termin, und die Schrift bestätigt solche Hoffnung des Apostels." S. Anm.425.

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lorenen (Israels natürlich!) im Lande Assur und in Ägypten nach Jerusalem kommen und auf dem Heiligen Berg den Herrn anbeten werden, V.13. Also ganz Israel kommt zum eschatologischen Heil nach Jerusalem ( s . auch V . 1 2 ) ! Kap.27 geht es also um das Heil Israels zur Endzeit. Kap.27 wie Kap.59 können demnach von Paulus als Schilderung ein und desselben theologischen Sachverhaltes gelesen werden. Und Paulus hat es anscheinend auch so getan. Deshalb sieht er sich im Recht, Sätze aus beiden Kapiteln zum Mischzitat zu kontaminieren. Beide Kapitel sagen in der Perspektive des Paulus das eschatologische Heil Israels als das Heil der zur Gerechtigkeit aus dem Glauben Gekommenen aus. Wir stellen also fest: Das Wortfeld in Rom 11,25 f f . wie auch das Wortfeld in Jes 27 und Jes 59 sprechen entschieden gegen die These Mußners. Rom 11,25 f f . dürfte dann aber nicht nur im Aussagengefälle von Rom 9-11, sondern auch im Aussagegefälle des ganzen Rom liegen. Das am Ende der Tage Israel von Gott gewährte Heil ist ein Heil sola gratia et sola fide, es ist das Heil aufgrund der Gerechtigkeit Gottes bzw. der Gerechtigkeit aus dem G l a u b e n ^ 2 6 a _ Nach diesen Darlegungen über den Inhalt des "Geheimnisses" und den es bestätigenden Schriftbeweis sind die Voraussetzungen geschaffen, um zu fragen, was denn nun Paulus mit dem Begriff μ υ σ τ ή ρ ι ο ν , Geheimnis, meint. Andre Viard formuliert die entscheidende Frage gut: "En annoncant cette conversion finale, Paul s'appuie-t-il sur une revelation particuliere ou pense-t-il qu'elle est exigee par le deroulement complet de l'histoire du salut, teile qu'elle lui est apparue dans la revelation qui lui a ete faite de l'Evangile du Christ ( c f . Ga 1,11s.) et la lecture des textes bibliques qu'il a pu faire a sa lumxere?"^2®^ In der Tat unterscheiden sich in dieser Weise die Deutungen des hier zu klärenden B e g r i f f s . Nur einige Exegeten seien exemplarisch genannt. Nach Michel redet Paulus als Apokalyptiker, der besondere Einsicht in den geschichtlichen Heilsprozeß Gottes und in das Ziel Gottes in der Geschichte hat^27. Käsemann bestreitet, daß μ υ σ τ ή ρ ι ο ν hier wie in IKor 15,51 die Erkenntnis des verborgenen Heilsratschlusses meine; vielmehr werde an das Heilsgeschehen als solches gedacht, das verborgen seiner Offenbarung h a r r e ^ ö . "Paulus beruft sich nicht ausdrücklich auf eine ihm zuteil gewordene Erleuchtung, die ihm das Zukunftsgeschehen enthüllt hätte . . . " Cranfield hält "a new special revelation" für m ö g l i c h ^ O . D Paulus jedoch nichts ausdrücklich davon sage, sei es nicht unbegründet, "that the contents of this mystery are to be discerned in the ОТ seen in the light of the gospel events."431 a

426a Zu Rom 11,26 und der F r a g e , ob sich Israel am Ende b e k e h r e , so auch Davies, NTS 24,24 f f . 426b V i a r d , Rom, 247. 427 Michel, Rom, 354; in Anm.4 auf S.354 nennt er als Parallele u . a . 1 Kor 15,51. 428 Käsemann, Rom, 302, unter B e r u f u n g auf Bornkamm, ThWNT I V , 822.829, und L u z , Geschichtsverständnis, 287 f . 429 Käsemann, Rom, 302. 430 C r a n f i e l d , Rom I I , 573. 431 I b . 574.

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In diesem Zusammenhang sollte auch die Auffassung Ulrich Müllers erwähnt werden, der gemäß Paulus auf seine Fürbitte für Israel, dessen definitive Verwerfung durch Gott er IThess 2,15 ff. als sicher angekündigt hatte, als göttliche Antwort das Geheimnis von Rom 11,25 empfangen habe^32. Wilckens nennt diese Deutung eine "bestechende Hypothese", mit der der gesamte Kontext von Rom 9-11 nicht nur formgeschichtlich erhellt, sondern auch die Spannung zwischen dem auf Israels Verwerfung hin drängenden Duktus in 9,22 f f . ; 10,16 ff. und 11,7 ff. und dem auf ein positives Ende zielenden Gedanken ab 11,11 erklärt werden könne433. Es ist zu fragen, ob man die beiden Grundhypothesen - Spezialoffenbarung und Erkenntnis im Lichte der Schrift - nur in Konkurrenz zueinander sehen darf. Könnte Paulus nicht über der Lektüre der Schrift und vornehmlich über der Lektüre des Buches Jesaja zu einer Erkenntnis gekommen sein, die er als ihm widerfahrene Spezialoffenbarung auffaßte? Daß Paulus durch die im Glauben gelesene Lektüre zur Überzeugung von der eschatologischen Rettung von Israel kam (vor allem aufgrund von Jes 45,25), jedoch im Zusammenhang der Verstockung Israels und des Heils der Heiden, scheint mir nach allem, was oben ausgeführt werden konnte, so gut wie sicher. Und da er seine Lektüre als eine Lektüre im Geiste verstand, spricht nichts dagegen, daß er die dabei gewonnene Erkenntnis als eine ihm als Apostel gewährte Offenbarung auffaßte. Diese Hypothese dürfte dem paulinischen Denken m.E. am ehesten angemessen sein. Dann hat С ranfiel d mit dem soeben gebrachten Zitat das Richtige gesagt. Im Epilog muß nachher noch einiges zu dieser Hypothese angemerkt werden. Ist aber Rom 11,26a eine Paraphrase von Jes 45,25 und will gar Paulus in diesem Vers seines Briefes das, was "Jesaja" in Jes 45,25 prophetisch ankündigt, als Konsequenz von dem in 11,25 Gesagten hinstellen, so stehen wir doch wohl notwendig vor der Frage, wieso er dann kein formales Zitat mit Jes 45,25 anführt, sondern für 11,25.26a insgesamt den in 11,26b.27 gebrachten, mit καθώς γέγραπταιeingeleiteten Schriftbeweis bringt. Nun könnte man sofort wieder darauf verweisen, daß ja der Apostel die Methode des Midrasch beherrscht und man deshalb fragen könnte, welche Midrasch-Elemente hier zugrundeliegen. Da aber Paulus, wie sich bereits zur Genüge gezeigt hat, in sehr eigenwilliger Weise auch mit der Praxis des Midrasch umgeht^·*4, empfiehlt es sich, hier nicht im Detail zu urteilen. Vielmehr ist eher ein Vergleich mit der Art und Weise des Umgangs mit der Schrift in Rom 9,6-13 angebracht. Der erste formale Schriftbeweis liegt in V.13 mit dem typischen καθώς γέγραπται vor. Vorher 432 433 434

U.Müller, Prophetie und Predigt im Neuen Testament, Wilckens, Rom II, 254. S. auch Hübner, Der vergessene Baruch.

229-232.

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sind, wie sich bei unserer Untersuchung gezeigt hat, mehrere Gottesworte zitiert, aber gerade nicht als formale Schriftbegründungen! Dies ist m.E. analog zu Rom 11,25-27 zu sehen. Dann aber dürfte Paulus mit dem Schriftzitat in Rom 11,26b.27 das in 11,25.26a Gesagte nicht begründen, sondern bekräftigen, verstärken - aber nicht in dem Sinne, als ob das zuvor Gesagte die Bekräftigung oder Bestärkung nötig hätte, sondern aus Gründen der Argumentation gegenüber der römischen Gemeinde! Paulus stellt die Konsistenz der Schrift heraus: Was er aus Jes 45,25 kraft seines geistgewirkten Verstehens herausliest, das findet sich auch in Jes 59,20 f . und Jes 27,9. Schauen wir noch aus anderen Erwägungen auf Rom 9,6 f f . zurück! Paulus beteuert zu Beginn seiner theologischen Argumentation über Israel, daß Gottes Wort nicht hingefallen ist. Die Antwort, die er zu Beginn gibt, indem er zwischen Israel und "Israel" unterscheidet, läßt sich mit der Antwort, daß Gott das ganze Volk Israel retten wird, begrifflich nicht harmonisieren. Während wir den Unterschied zwischen 9,6-29 und 9,30-10,21 auch als begrifflich nicht harmonisierbar erklärten, aber dafür auf die unterschiedliche kategoriale Argumentationsweise der beiden Abschnitte verweisen konnten, dürfte der Sachverhalt, daß auch die Antworten in 9,6 f f . und 11,1.2a.25-27 begrifflich nicht harmonisierbar sind, nicht auf solch kategoriale Differenz zurückgeführt werden können. Von den Gesetzen unserer Logik her bleibt nur zu konstatieren, daß ein Widerspruch v o r l i e g t ^ 4 a . Freilich ist es kein Widerspruch aufgrund von Nachlässigkeit im Denken. Eher könnte man sagen, daß Paulus den Gegensatz von Gottes vergangenem und gegenwärtigem Handeln zu seinem eschatologischen Handeln theologisch darlegen wollte. Trotzdem, es bleibt bei der Aporie. Aber vielleicht läßt sich auch von Paulus sagen, was Franz Schupp von Augustinus gesagt hat: "Denker ersten Ranges können Aporien, die aufzulösen sie nicht imstande sind, als solche stehen lassen und anerkennen, sie können sie fruchtbar werden lassen für immer neue Wendungen des Denkens; die Nachfolger jedoch suchen den Ausgleich, und dieser ist in den meisten Fällen nur dadurch möglich, daß das Aporetische unausgesprochen bleibt und das Denken erst auf der Ebene klarer Alternativen ansetzt, wobei dann diejenige der Alternativen gewählt wird, die dem allgemein A k zeptierten entspricht."435.435a

434a So etwa, wenn es Rom 9,27 heißt τ ό υ π ό λ ε ι μ μ α σ ω θ ή σ ε τ α ι , 11,27 aber δ πας ' Ι σ ρ α ή λ σ ω θ ή σ ε τ α ι . Deutlich ist aber jetzt, daß das so ausführlich behandelte κ α τ η ρ τ ι σ μ έ ν α Rom 9,22 nicht die eschatologische Verurteilung a u s sagen kann. 435 F . S c h u p p , Glaube - Kultur - Symbol, Versuch einer kritischen Theorie sakramentaler Praxis, Düsseldorf 1974, 108; zitiert nach einer Rezension von С . Meyer, ThRv 80 (1984), 37. 435a Strecker, Eschaton und Historie, 304, charakterisiert Rom 9-11 auf folgende Weise: "Die Ausführungen dieser drei Kapitel sind nicht durch eine logische Linienführung miteinander verbunden, vielmehr überschneiden sich ihre G e sichtspunkte und widersprechen sich zum Teil. Das macht deutlich: es handelt sich hier nicht um eine Spekulation im Sinne einer rational verstandenen Heils-

- 123 Paulus hat also in doppelter Weise erklärt, daß Gottes Wort nicht hinfällig geworden ist. Nach 9,6 ff. ist Gottes Wort in Kraft geblieben, weil dieser die Israel gegebenen Verheißungen am eigentlichen Israel verwirklicht. Nach 11,26 ist Gottes Wort in Kraft geblieben, weil dieser die Israel gegebenen Verheißungen am ganzen empirischen Israel verwirklichen wird. Es ist Gottes Wort, das nicht hinfällig geworden ist. Es wurde im Zusammenhang mit der Exegese von 9,6 ff. gesagt, daß der, der begreifen will, was Israel ist, zuvor begreifen muß, was Berufung durch Gott ist. Israel als theologische Größe zu denken bedeutet, zuvor Gott als berufenden Gott zu denken. Daß Gottes Verheißungen nicht hingefallen sind, daß sein Wort nicht hingefallen ist, heißt, daß Gott sein Gottsein erwiesen hat. Nach Rom 11,26 wird er es - konkret nun Jes 45,25 - darin erweisen, daß er Israel am Ende der Tage wieder als sein Volk - als Sein Volk und als sein Volk - konstituieren wird. Die ganze Israelfrage ist also letztlich eine Frage nach Gott, nach dem sich in seinem Ich aussprechenden Gott. Ging es bereits in 9,6 um Gottes Gottsein, so läßt sich nun vom Ende der Israelargumentation des Paulus her sagen: Wer Gott ist, läßt sich nur von seiner Treue her sagen, von der Identität seines Handelns, der Identität seines Wesens her, das Treue zu sich selbst ist. Paulus hat also die Israelfrage als Theo-Logie im strengen Sinne des Begriffs entfaltet, also als Lehre von Gott. Wer Israel ist, was Israels Schicksal ist, versteht nur der, der weiß, wer Gott ist. An Israel, an der ihm gegebenen Verheißung und an seinem eschatologischen Schicksal zeigt sich, wer Gott ist. Daran zeigt sich, wie Gott derselbe bleibt, wie Gott mit sich selbst identisch bleibt. Weil Gott einst zu Israel sagte: "Ich habe dich erwählt", sagt er auch: "Ich werde dich retten."435b Damit hat sich die heute immer wieder artikulierte Frage nach einer Biblischen Theologie, die zunächst rein formal als Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament gestellt werden sollte435c ) inhaltlich als Frage nach der Identität Gottes in beiden Testamenten erwiesen. Die Kongeschichte, sondern die Frage und die Antwort sind aus einer konkreten Situation geboren. Paulus denkt hier als Angehöriger seines Volkes, mit dem Gott einst den Bund geschlossen hatte und das ihn doch nicht zu bewahren verstand. Indem Paulus die Lösung des Problems auf die zukünftige Bekehrung des jüdischen Volkes verlegt, dokumentiert er damit, daß die Differenz zwischen dem aus dem Gesetz lebenden Judentum und der christlichen Gemeinde, konstituiert durch das 'sola gratia', in der Gegenwart unaufhebbar i s t . " Zur logisch nicht harmonisierbaren Argumentation des Paulus s. auch Moxnes, Theology in Conflict, 45-55; ib. 52: " . . . talking antithetically of God. The difficulty that statements about God cannot be harmoniously reconciled into a unity remains." 435b Zu Rom 11,26 s . auch Batey, So all Israel will Be Saved; T.Richardson, Israel in the Apostolic Church, 128 f . , interpretiert Rom 11,26 "Israel-cent r i c " : "The Church has no existence apart from Israel and-has no separate identity." Einen auslegungsgeschichtlichen Überblick über die Väter des 3. bis 5.Jahrhunderts gibt Caubet Iturbe, " . . . Et sie omnis Israel salvus fieret". 435c S. Hübner, KuD 21,2 ff.

- 124 nuität von Altem und Neuem Testament ist also Gott selbst. Die Kontinuität ist nicht Israel, jedenfalls nicht das ethnische Israel. Doch selbst jenes nach 9,6 berufene eigentliche Israel kann nicht beanspruchen, Verkörperung dieser Kontinuität zu sein, da die Aussagen des Paulus über dieses Israel keinesfalls auf dessen in der Geschichte laufend verifizierbare Existenz festgelegt werden könnte. Vielleicht hat Paulus wirklich geglaubt, daß es seit Abrahams Zeiten immer einen, wenn auch noch so dünnen Strom dieses eigentlichen Israel gegeben hat. Aber klar gesagt hat er das nicht. Was deutlich wurde an der Exegese von Rom 9-11, war doch dies: Gott hat gesprochen. Gott sagte " I c h " . Und dieses Ich Gottes konstituierte das eigentliche Israel. Dieses Ich Gottes ist Bürge für das endzeitliche Heil I s raels. Paulus denkt von Gott aus, denkt von dessen Ich aus. Von dort gelangt er zu Israel und von dort gelangt er auch zu den Heiden bzw. den Heidenchristen. Paulus ist also im strengen Sinne des Wortes Theologe. In Rom 11,28-32 formuliert Paulus das Resümee seiner theologischen Ausführungen, seines oft so in Windungen gegangenen theologischen Weges. Die exegetischen Probleme dieses kleinen Abschnitts, die nicht ganz unerheblich sind^G, können hier nicht behandelt werden, da dies über den Rahmen der Thematik unserer Untersuchung hinausführen würde. Deshalb sei an dieser Stelle nur darauf aufmerksam gemacht, daß es gerade die beiden theologischen Leitworte aus 9,6-29 sind, die in 11,28-32 betont anklingen: κ α λ ε ϊ ν in ή κ λ η σ ι ς τοϋ θεοϋ von V.29 und έ λ ε ε ϊ ν in ηλεήθητε in V . 3 0 , in τψ ύμετέρψ έ λ έ ε ι und έλεηθώσι,ν von V . 3 1 und in έλεήση von V . 3 2 . Außerdem wird in V.28 der für Rom 9-11 markante theologische Spitzenbegriff έκλογή, der zuvor in 9,11 und 11,5.7 begegnete, aufgegriffen, und zwar in eigenartiger Gegenüberstellung zu ε ΰ α γ γ έ λ ι ο ν . Ganz eigenartig sind das zweimalige Vorkommen von άπειθέω in 11,30 f . und das zweimalige Vorkommen von α π ε ί θ ε ι α in 11,30.32, da Verb und Substantiv hier im prädestinatianischen Kontext und wohl auch im prädestinatianischen Sinn gebraucht werden, das Verb aber in 10,21 im Jes-Zitat den von Israel zu verantwortenden Ungehorsam meint. Inhaltlich entscheidend ist vor allem der letzte Satz, also V . 3 2 : "Denn Gott hat alle unter den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen." Die theologische Argumentation des Paulus schließt also mit έλεήση. Ohne Übergang und ohne Einleitungsformel beschließt Paulus dann in 11,33-36 in einem Hymnus 4 ^ 7 den Israelteil seines B r i e f e s 4 3 7 a . Daß alle 436 437

S . vor allem die Kommentare. F a s t einmütig mit Rom 1 1 , 3 3 - 3 6 in den Kommentaren und Monographien als Hymnus klassifiziert. 437a F r a n c o Festorazzi, ОТ in Paul's thought, 173, bemerkt zu Rom 1 1 , 3 3 - 3 6 : "Perhaps the t e x t that best sums up the modest attempt to begin r e s e a r c h on St Paul's coherence with the ОТ and at the same time to bring out his richness and value is the hymn of praise to God of Rm 1 1 : 3 3 - 3 6 Rm 1 1 , 3 3 - 3 6 can be taken as the completion of Paul's thought and at the same time as an example of a profound evocation of the ОТ . . . "

- 125 drei Genitive in 11,33a - π λ ο ύ τ ο υ , σ ο φ ί α ς , γνώσεως θ ε ο ύ - von βάθος abhängig sind, wird allgemein angenommen 4 "^. Was also Paulus als Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes rühmt, ist zunächst der Weg Gottes mit seinem Volk, ein Weg zum gottgewollten Glauben über den gottgewollten Unglauben. Das ist in der Tat unerforschlich, ά ν ε ξ ε ρ α ύ ν η τ α , und unaufspürbar, α ν ε ξ ι χ ν ί α σ τ ο ι . Mit Recht stellt Käsemann heraus, daß hier "ausschließlich das Verhältnis zu Israel im Blickfeld" steht, "wenngleich das exemplarische Bedeutung h a t " 4 3 9 . Spricht aber Paulus hier von den unerforschlichen Gerichten und den unaufspürbaren Wegen Gottes für Israel, so geht es freilich nicht um die Behauptung einer absoluten Unbegreiflichkeit, sondern darum, daß mittels rein rationaler Erkenntnis die Wege Gottes mit seinem Volk nicht e r kannt werden können; dazu bedarf es eben des geistgewirkten Verstehens des Wortes Gottes. Die unerforschlichen Gerichte Gottes, κ ρ ί μ α τ α , sind - noch einmal mit Käse mann - die Entlarvung der Gottlosigkeit der Frommen 44 ^, wobei Paulus vor allem den 9,30-10,3 dargelegten Sachverhalt vor Augen hat, überhaupt das, was er im zweiten Teil seiner Israelargumentation sagt. Wahrscheinlich sollte man aber nicht κ ρ ί μ α τ α auf Gottes Richten und οδοί auf Gottes Retten aufteilen 4 4 *. Auf die Heiden zielt das Ende des Hymnus ab, wo Paulus eine stoische πάντα-Formel modifiziert442. Für unsere Fragestellung sind naturgemäß die V. 11,34 f . wichtig. In V.34 wird fast wörtlich J e s 40,13 nach der LXX zitiert, lediglich γάρ wird eingefügt, wodurch die alttestamentlichen Worte begründenden Zitatcharakter erhalten: "Denn sagt nicht die Schrift: Wer hat den Sinn (Geist) des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?"443 Dj e rhetorische Frage des Propheten erwartet natürlich als Antwort: "Kein e r ! " . Doch läßt sich jetzt möglicherweise zu diesem "Keiner!" hinzufügen: "Freilich, der, der den Geist des Herrn hat - s . 1 Kor 2,16: 'Wir aber haben den Geist Christi!' - , der versteht in eben diesem Geiste, was der Heilsplan Gottes für Juden und Heiden in der Geschichte war und i s t . "

438 439 440 441

442 443

S. die Kommentare. Käsemann, Rom, 309. Ib. 310. Fast regelmäßig wird für die Zusammenstellung von Gerichten und Wegen auf ApkBar 14,8 f. verwiesen. Dazu erklärt Michel, Rom, 361, Anm.23: "Die Zusammenstellung von Gerichten und Ratschlüssen Gottes entspricht jüdischem Hymnenstil." Dabei darf man jedoch nicht übersehen, daß ApkBar auf die Zeit nach 100 n . C h r . zu datieren ist (Klijn, JSHRZ V, 114), um Michels Satz nicht mißzuverstehen. Norden, Agnostos theos, 240 ff. S. auch 1 Kor 2,16, wo Paulus den Vers in anderer Auswahl der Satzteile zitiert, jedoch auch hier mit eingefügtem γάρ hinter dem ersten τ ι ς .

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Hiob 41,3 ist in Rom 11,35 nicht nach der LXX z i t i e r t 4 4 4 : "Oder wer hat ihm (etwas) vorausgegeben, so daß ( e s ) ihm erstattet werden müßte!" So wird mit den letzten Schriftworten in Kap.9-11 noch einmal deutlich auf die Rechtfertigungslehre sola gratia abgehoben - wobei die in V.36 auch in den Blick kommenden Heiden die Universalität der göttlichen Rechtfertigung zum Ausdruck bringen. 11,32 kommt in Erinnerung: "damit er sich aller erbarme". Das heißt aber: sich über den Weg der Schuld Israels um des Heils der Völker willen auch Israels erbarme. Mit Ernst Käsemann: "Gerettet werden immer nur die Gerichteten."445.446

444 445 446

S . aber die Nähe zum MT und zum Targum. Käsemann, Rom, 310. Zum Ganzen S . auch Vielhauer, Paulus und das Alte Testament. Nicht diskutiert habe ich die These von U Ion ska, wonach Paulus das Alte Testament lediglich da zitiert, wo es um der Adressaten willen erforderlich sei. Diese These vom Alten Testament nur als argumentum ad hominem dürfte sich durch unsere Exegese von selbst erledigt haben. Sie hat auch in der wissenschaftlichen Diskussion so gut wie keinen Nachhall gefunden. Hingegen muß noch unbedingt auf Maillot, Essai sur la citations veterotestamentaires contenues dans Romains 9 ä 11, hingewiesen werden. Er meint in jedem Kapitel "une structure coherente" ( S . 7 1 ) erkennen zu können: "en preambule qui fait allusion ä l'histoire du salut; (Gn + Ex dans c h . 9; Lv + Dt dans c h . 1 0 ; 1 S + 1 R, avec un retour au Dt, dans le c h . 11), et ensuite des citations prophetiques en general qui viennent corroborer les affirmations pauliniennes" ( S . 7 2 f . ) . Sehr eng berührt sich seine Auffassung mit der von uns vorgetragenen, wenn er darauf hinweist, daß das direkte oder indirekte Subjekt der Zitate in Kap. 9 und 11 in der Regel Gott und in Kap. 10 das Volk Gottes i s t . Oberspitzt scheint mir aber seine These von den in den 3 Kapiteln einander entsprechenden Zitatenstrukturen und der damit zusammenhängenden Auffassung, daß Paulus in Rom 9-11 eine Heilsgeschichte Israels vorgetragen habe, "une construction rigoureuse, et quasiment chronologique (d'Isaac ä Elie)" ( S . 5 8 ) .

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2. EPILOG: ISRAEL UND DAS GESETZ IN DER THEOLOGISCHEN ENTWICKLUNG DES PAULUS "Gottes Ich und Israel" heißt der Titel dieses Buches. Die bisherigen Ausführungen haben, wie ich hoffe, die Berechtigung der Wahl dieses Titels gezeigt: Paulus denkt in Rom 9-11 vom Ich Gottes her. Dieses Ich konstituiert Israel; Israel ist Israel, weil Gott sein berufendes Ich zu Israel spricht und es so als Israel schafft. Das gilt zunächst für das sog. eigentliche Israel und dann schließlich für das ganze Volk Israel. Daß sich Paulus bei seiner theologischen Argumentation hinsichtlich dieser Konstituierung Israels durch Gott in besonderer Weise des Schriftbeweises bedient, ist offenkundig. Daß seine Hermeneutik ihn aber die Schrift so auslegen läßt, daß er in der Freiheit des Geistes die Freiheit zur geistmächtigen Änderung des Buchstabens der Schrift in Anspruch nimmt, ist gleichfalls offenkundig. So ist es nicht formale Schriftautorität, die seine theologische Argumentation leitet, sondern die Autorität des sich selbst mitteilenden Gottes, die für ihn selbstverständlich hinter der Schrift, freilich, hinter der Schrift als ganzer, steht. Man mag zeigen, daß er sich rabbinischer Methodik bedient, daß er etwa mit Formen des Midrasch umgehen kann - aber all das ist sekundär gegenüber dem letzten entscheidenden Sachverhalt, nämlich daß es die Berufung des Paulus durch Gott war, sein Damaskus-Widerfahrnis also, was für ihn die eigentliche Autorität ausmachte. Als der von Gott Berufene theologisiert er über die Berufung Israels durch Gott. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf den Begriff μυστήρι,ον Rom 11,25 zurückzukommen. Der Koreaner Seyoon Kim behandelt ihn ausführlich in seiner Dissertation "The Origin of Paul's Gospel." Mit Recht hebt er hervor, Paulus impliziere durch die Anwendung dieses Begriffs auf den göttlichen Heilsplan, daß er ihn nicht durch Spekulation, sondern durch eine göttliche Offenbarung erhalten habe. Dies sei durch die abschließende Doxologie 11,33-36 bestätigt 1 . Auch Kim sieht die Antwort auf die rhetorische Frage 11,34 (= Jes 40,13) mit 1 Kor 2,12 gegeben: " . . . he . . . answers there that he has the νουν Χρίστου, by which he probably intends to say that he has God's wisdom, namely the knowledge of God's plan of salvation reveiled through the Spirit as well as the Spirit that he has received (1 Cor 2 . 1 2 ) . " 2 Es kann nicht unsere Aufgabe sein, alle Verzweigungen der Argumentation Kims zu referieren und dann kritisch zu beurteilen. Nur ein Punkt sei herausgegriffen, nämlich sein Versuch, das "Geheimnis" von V.25 auf dem Hintergrund der Aussagen des Jes-Buches zu interpretieren. Inso1 2

Kim, Origin 85 f . I b . 86.

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fern bedient er sich eines ähnlichen methodischen Zugangs, wie er in Abschn.1.4. dieser Untersuchung vorgenommen wurde. Kim geht mit Recht davon aus, daß Paulus seine Berufung zum Heidenapostel mit Worten beschreibt, die von dem Bericht ( " n a r r a t i v e " ) der Berufung des Gottesknechts Jes 49,1-6 genommen sei^. Unter Berufung auf Otto Betz^ erklärt er dann "However, one of the most famous call narratives in the ОТ, namely Isa 6, has not received as much attention in connection with Paul's call as it deserves."^ Und so stellt er als These auf, daß im Lichte von Jes 6 das Mysterium von Rom 11,25 am besten zu verstehen sei**. Jes 6 gehöre zu jenem T y p der Berufungsgeschichten, in der eine Vision vorkommt. Nun habe aber Paulus eine Christophanie anläßlich seiner Berufung bei Damaskus gehabt^: "Therefore it is possible ( ! ) that Paul narrated his experience at the Damascus call in the pattern of the Isaianic narrative while, seeing the typological correspondence between his call and the call of the Ebed he interpreted its significance in the light of the call of the Ebed in Isa 49.1-6. More precisely it is submitted here that Paul saw his Damascus call in the light of both Isa 49.1-6 and Isa 6 . " 8 Kim führt dann die Parallelen zwischen Jes 6 und den in Frage kommenden Stellen aus den Briefen des Paulus näher aus®. Angesichts dieser Parallelen sei es schwierig anzunehmen, Paulus hätte sein Damaskus-Widerfahrnis nicht im Lichte des Berufungsberichtes Jesajas und nach dem "pattern" von Jes 6 erzählt 1 0 . Bis dahin läßt sich über Kims These diskutieren. Vielleicht wird man sogar sagen können, daß seine Hypothese betreffs Jes 6 äußerst erwägenswert ist. Die Überlegungen, die er aber an diese Hypothese anschließt, sind im Höchstmaß spekulativ. Mehr noch, sie lassen sich mit Aussagen des Paulus, die er in früheren Briefen gemacht hat, nicht vereinbaren. Kim ist noch voll zuzustimmen, wenn er erklärt, Paulus sei seit Beginn seines apostolischen Werdegangs davon überzeugt gewesen, daß er als Heidenapostel berufen s e i l l . Doch unmittelbar nach dieser Feststellung heißt es dann: "For this conviction he must ( ! ) have had from the beginning an understanding about God's will for the Jews such as that which the mystery of Rom 11.25 f . reveals. This understanding he obtained when he saw in Isa 6 and 49.1-6 the pre-figurement of his Damascus call. Or, shall we say, he heard the mystery of Rom 11.25 f . together with God's call to the Gentile apostleship on Damascus road and later found in Isa 6 and 49.1-6 their confirmation? At any rate, the combination of Isa 6 3 4 5 6 7 8 9 10 11

l b . 91. O . B e t z , Vision des Paulus. Kim, Origin, 92. l b . 91. l b . 92 f . l b . 93. l b . 94. l b . 95. l b . 95.

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and 49.1-6 explains Paul's Gentile apostleship and the mystery of Rom 11.25 f . very clearly." 1 2 Daß ein Kernpunkt der Argumentation Kims Jes 6,9 LXX ist, versteht sich von selbst. Aber gerade diese Stelle kann, weil Anrede an das jüdische Volk, doch nicht als ein Predigtauftrag f ü r Paulus interpretiert werden. Paulus ist doch nicht Judenapostel! Auch nach Kim ist er doch Heidenapostel seit seiner Berufung ( s . o . ) . Schaut man, von Rom 9-11 herkommend, auf 1 Thess 2,14-16, so fällt es schwer, in beiden Briefen die Aussagen ein und desselben Mannes zu erkennen. Ist Rom 9-11 die auf das Heil von ganz Israel zielende theologische Argumentation, so hat der Schreiber von 1 Thess 2,14-16 für die Juden alle Heilshoffnung aufgegeben. Das Wort "Israel" fällt nicht. Für die Juden hat er nur verurteilende Worte übrig; sie haben den Herrn Jesus und die Propheten getötet, sie verfolgen Paulus, sie gefallen Gott nicht und sind allen Menschen zuwider, sie hindern Paulus sogar, den Heiden das Wort vom Heil zu verkünden. So machen sie das Maß ihrer Sünden voll. Die Folge: έφθασεν δέ έ π ' α ύ τ ο ύ ς ή δργή e t s τ έ λ ο ς , was zu übersetzen ist: "Das eschatologische Gericht Gottes hat sie bereits ganz und gar erreicht." Die Unheilssituation der Juden ist also aussichtslos. Daß οργή hier Metapher f ü r das Vernichtungsgericht am Ende der Tage ist, wird zumeist mit Recht angenommen^. Der Aorist δφθασεν ist mit Ernst von Dobschütz "in prophetischem Sinn zu verstehen: was die Zukunft bringt, schaut der Seher als bereits verwirklicht"^. Nun steht also diese Stelle, wenn wir sie wie soeben interpretieren, im kontradiktorischen Gegensatz zu Rom 9-11. Und es ist folglich nicht verwunderlich, wenn Exegeten den Vesuch machen, die Aussagen von 1 Thess 2,14-16, vor allem in 2,16, abzuschwächen. Nach Gustav Stählin hat Paulus, obwohl er den Zorn Gottes f ü r immer über den Juden gelegen sieht, über die Ewigkeit dieses Zorns nicht reflektiert. Hätte er es getan, so träte die Stelle "in einen unausgleichbaren Widerspruch zu Rom 11, wo Paulus seine eschatologischen Anschauungen über die Juden grundsätzlich 12 13

14

Ib. 95,; vorsichtiger als Kim argumentiert sein Lehrer Bruce, Paul, 334 f. Z.B. von Dobschütz, 1 Thess, 116; Best, 1 Thess, 119; Luz, Geschichtsverständnis, 191; Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, 277; anders Georgi, Kollekte, 34 f . von Dobschütz, 1 Thess, 116; Best, 1 Thess, 119; beide Autoren wenden sich mit Recht gegen die Auslegung, daß ein geschichtliches Ereignis, z . B . die Ausweisung der Juden aus Rom durch Claudius oder eine Hungersnot, über die Juden gekommen und somit der Zorn auch nicht eschatologisch zu verstehen sei. ε ί ς τ έ λ ο ς ist mit den meisten Autoren als "ganz und gar" zu verstehen: Gottes Gericht ist bereits ganz und gar über die Juden ergangen; s . Hübner, Art. τ έ λ ο ς , EWNT III, 834; anders neuestens wieder Broer, "Antisemitismus" und Judenpolemik im Neuen Testament, 85, der "zeitlich im Sinne von 'am Ende', 'schließlich'" erwägt.

- 130 darlegt". Und so folgert er - für den, der Paulus unfähig zur theologischen Entwicklung sieht, äußerst konsequent! - : Diese Anschauungen von Rom 11 "werden als maßgebend auch für die Interpretation anderer die Juden betreffender Stellen wie 1 Thess 2,14 ff. angesehen werden dürfen"·^. Auch andere Autoren wie z . B . Ferdinand Hahn 16 oder Ulrich Luz "Daß 1 Thess 2,14 ff. eine unreflektierte, traditionelle Aussage ist, dürfte einfacher sein als die verschiedentlich vertretene Annahme, daß im paulinischen Nachdenken über Israel eine Wandlung stattgefunden h a b e , _ versuchen zu harmonisieren. Daß Paulus hier traditionelle Aussagen mitverwendet hat, ist sicherlich unbestreitbar. Odil Hannes Steck hat dies noch einmal klar dargelegt - Paulus greift Elemente traditioneller christlicher wie heidnischer Judenpolemik auf 1 ^ - und auch Werner Kümmel hat dazu vorher schon das Nötige g e s a g t ^ . Es ist also Wilckens zuzustimmen, daß Paulus in 1 Thess 2,14-16 anders über die heilsgeschichtliche Stellung Israels gedacht hat als in Rom 9-1120. das Mysterium von Rom 11,25 f . "bedeutet nichts weniger als eine Wende in seinem heilsgeschichtlichen Denken"21. "Paulus hat als erster die Verurteilung der Juden in diesem Sinn ( s c . die Juden, Mörder der Propheten, als Mörder Jesu) vergrundsätzlicht. Der gleiche Paulus machte dann aber in Rom 11 eine Kehrtwendung, die jedoch nur in paulinischer Tradition forgewirkt hat. "22 Die andere Möglichkeit, mit Hilfe derer man der Auffassung widersprüchlicher Aussagen über Israel bei Paulus zu entgehen hofft, ist, daß man 1 Thess 2,14-16 als nichtpaulinische Interpolation beurteilt und so auf elegante Weise der Mühe enthoben ist, die Stelle im Sinne von Rom 9-11 auszulegen. Mit Karl-Gottfried Eckarts eigenwilligem Zerpflücken des 1 Thess, bei dem u . a . auch 2,14-16 als unpaulinisch entfielen^, hat sich Kümmel auseinandergesetzt. Es genüge hier, auf seine überzeugende Kritik zu verweisen 24. Auch Hans-Martin Schenke sieht Eckarts Analyse als methodisch unzureichend an, will aber trotzdem am pseudopaulinischen Charakter von 1 Thess 2,14-16 festhalten. Da er den 1 Thess literarkritisch in 2 Briefe und einzelne Redaktionsverse aufteilt, sieht er sich zu dem Urteil berechtigt: "Es ist klar, daß kaum jemand die berühmt-berüchtigte, schon seit langem und von vielen als unecht verdächtigte Stelle 2,15 f wenn im 1 Thess sowieso die Hand eines Redaktors am Werke 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Stählin, Art. όργή: ThWNT V, 435, 35 ff. Hahn, Mission, 90, Anm.l. Luz, Geschichtsverständnis, 290 f. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, 274, überhaupt 274-278. Kümmel, Das literarische und geschichtliche Problem des 1 Thess, 411 f . ; s. neuestens auch Broer, op.cit. 86: bewußt übernommene und stilisierte Judenpolemik. Wilckens, Rom II, 184. Ib. 185; Hervorhebung durch mich. Ib. 185; Hervorhebung durch mich. Eckart, ZThK 58, 30-44. Kümmel, Das literarische und geschichtliche Problem des 1 Thess, 410 f.

- 131 ist, noch dem Paulus selbst und nicht diesem Redaktor (bzw. einem Redaktor) anlasten wird. In der Perspektive der Literaranalyse erscheinen diese Verse einfach als unter dem Stichwort 'Juden' am Ende von 2,14 angehängte ätiologische Reaktion eines nachapostolischen bzw. frühkatholischen antisemitisch eingestellten, ein ganz bestimmtes, dem der Apostelgeschichte ähnliches Paulus-Bild voraussetzenden Heidenchristentums auf die im Jahre 70 n . C h r . erfolgte Zerstörung Jerusalems und seines Tempels . Das geht allerdings nach dem Motto: Paulus durfte keine judenfeindlichen Aussagen gemacht haben; also hat er auch keine gemacht2^. Nun gibt es eine eigentümliche Parallelerscheinung bei Paulus, die ein wenig Licht auf den Sachverhalt scheinen lassen könnte, der als Widerspruch bei Paulus hinsichtlich seiner Israelaussagen beurteilt werden muß. Nicht nur das Urteil über die Juden bzw. Israel hat sich zum Positiven gewandelt. Analoges gilt auch für die Aussagen des Paulus über das Gesetz. Daß für Aussagen wie "das Gesetz ist heilig" Rom 7,12, "das Gesetz ist geistlich" Rom 7,14 u . ä . im Gal kein Platz ist, daß eine Entwicklung für die paulinische Reflexion des mosaischen Gesetzes anzunehmen ist, habe ich in meiner Monographie "Das Gesetz bei Paulus" zu zeigen versucht. Dort ging es freilich nicht um den Weg vom 1 Thess bis zum Rom, sondern nur um den Weg vom Gal bis zum Rom. Zuweilen wurde mein Versuch so verstanden, als hätte ich bei Paulus einen radikalen Bruch vom Gal zum Rom behauptet. Daß dies nicht der Fall ist, geht doch wohl schon daraus hervor, daß auf S.58 ausdrücklich gesagt wurde: "Daß Paulus sich mit diesem neuen theologischen Bemühen nicht selbst untreu zu werden glaubt, sollte man annehmen. An seinem eigentlichen Anliegen nämlich, der Rechtfertigung aus dem Glauben an das Jesus Christus offenbarende Evangelium, hat sich nichts geändert. Er hat - so wird man seine Intention sicher richtig deuten - seine Rechtfertigungstheologie le25 25a

Schenke/Fischer, Einleitung I, 70. Вroer, der mit Recht gegen die Interpolationshypothese, vor allem in Auseinandersetzung mit Pearson, eintritt und der an der inhaltlichen Differenz zwischen 1 Thess 2,14 ff. und Rom 9-11 festhält, schwächt letztlich doch das theologische Gewicht von 1 Thess 2,14 ff. essentiell ab, indem er hypothetisch diese Stelle als letzten Versuch des Paulus interpretiert, seinen Brüdern dem Fleische nach mit Hilfe solcher Polemik die Augen für das zu öffnen, was er sieht und wie er es sieht. Treffe diese Hypothese nicht zu, so müsse man es dabei belassen, in dieser Stelle die Polemik eines noch nicht vom Judentum getrennten "Christentums" gegen die sich seiner Botschaft verweigernden Juden zu sehen, die nur auf dem Hintergrund der polemischen Sitten des Judentums adäquat verstanden und die nicht in das Christentum nach der Trennung vom Judentum übernommen werden könne, op.cit. 89. - An wichtiger Literatur zu 1 Thess 2,14 f f . , auf die ich hier aber nicht mehr inhaltlich eingehe, ist auf jeden Fall noch zu nennen: Bammel, Judenverfolgung und Naherwartung, Zur Eschatologie des 1 Thess, Michel, Fragen zu 1 Thess 2,14-16, Antijüdische Polemik bei Paulus, und Schade, Apokalyptische Christologie bei Paulus, 123-134.

- 132 diglich auf ihre Israel-Implikation hin neu durchdacht. Der Preis dafür war allerdings eine völlig neue Sicht der Torah."26 Im Gal sind die Themen "Gesetz" und "Israel" in bezeichnender Weise miteinander verknüpft und zwar vor allem in der Sara-Hagar-"Allegorie" Gal 4,21-31. Hier können die bis heute so strittigen Probleme dieser schwierigen Perikope nicht behandelt, geschweige denn gelöst werden. Bekanntlich reicht ja die Problematik von textkritischen Fragen bis zur Klassifizierung 2 7 . So viel ist aber deutlich: Für den Paulus des Gal ist das irdische Jerusalem - und damit doch wohl auch das das Volk Israel repräsentierende Jerusalem! - die Inkarnation der Knechtschaft und somit die Inkarnation des kontradiktorischen Gegensatzes des Evangeliums samt der es konstituierenden Freiheit. Daß Sara mit Abraham, also dem Repräsentanten der Glaubensgerechtigkeit, zusammen gesehen werden muß, versteht sich wohl von selbst. Abraham und Sara stehen aber damit nicht mehr für das Volk Israel. Es muß für jeden Juden unerträglich sein, daß sein Jerusalem und somit sein Volk ausgerechnet auf Hagar und damit auf Ismael zurückgeführt werden. Von seinem Standpunkt aus ist es auch eine totale Verkehrung der Wirklichkeit. Und der Jude kann sogar für seine Sicht die Fakten der Geschichte anführen. Denn Hagar hat nun einmal nichts mit dem Volk Israel zu tun! So wird also im Gal nicht nur das mosaische Gesetz total diffamiert 2 8, sondern auch zugleich das völkische Israel, das empirische Israel. Abraham ist also im Sinne dieses Briefes theologisch nicht als Stammvater des Volkes Israel gewertet. Wie im gesamten Gal kein positives Wort über Beschneidung und Gesetz fällt, so auch kein positives Wort über Israel als Volk. Wer die relativ positiven Aussagen des Rom über Beschneidung und Gesetz in den Gal einträgt, praktiziert einen methodisch nicht zu rechtfertigenden Schritt 2 ^. Wie also für den Gal das Gesetz das Synonym für Knechtschaft i s t , so sind Jerusalem und folglich das Volk Israel Synonyme für den geschichtlichen Ort dieser Knechtschaft. Nochmals, einzig und allein mit Hilfe von Aussagen des Rom, die man in den Gal einträgt, ist es möglich, diesen Brief im Blick auf Gesetz und Israel positiver zu interpretieren. Auch Gal 5,14 hilft dann nicht, da δ πας νόμος nicht identisch mit δλον τόν νόμον 5,3 ist^O. Dem entspricht, daß Paulus mit dem Segensspruch über Ι σ ρ α ή λ του θ ε ο ΰ Gal 6,16 nach der überwie-

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Hübner, Gesetz bei Paulus, 58. Zur Problematik s. die Kommentare, außerdem noch vor allem Luz, Geschichtsverständnis, 283 f f . , und B a r r e t t , The Allegory of Abraham, Sarah, and Hagar. S. für den exegetischen Nachweis Hübner, Gesetz bei Paulus, A b s c h n . l . Zur unterschiedlichen Behandlung des Komplexes "Abraham und die Beschneidung" s. ib. A b s c h n . 1 . 1 und 2.1, wo im Detail die Differenzen und die Übereinstimmungen nachgewiesen sind. Exegetischer Nachweis ib. A b s c h n . l . 4 . ; d e r s . , KuD 21,239 ff.

- 133 genden Mehrheit der Exegeten nicht das Volk Israel, sondern die aus Judenchristen und Heidenchristen bestehende Kirche meint'**. Der Unterschied der Aussagen von 1 Thess und Gal einerseits und der Aussagen von Rom andererseits im Blick auf Israel ist also unübersehbar und unbestreitbar. Typisch f ü r die Verlegenheit, an den Differenzen nicht vorbeikommen zu können, aber nicht die gebotene Konsequenz zu ziehen, ist, wie sich Ulrich Luz windet: Der Gegensatz zwischen Gal 3 f . und Rom 9,1-5; 11,16-32 scheine unüberwindlich. Weil aber beide Briefe sich zeitlich nicht so fern ständen, könne man nicht mit einer grundlegenden Veränderung des paulinischen Denkens rechnen*^. So sucht Luz den Grund der Divergenz allein in der Situation, in die hinein der Gal spricht. "Hier muß Paulus klarstellen: Das Gesetz f ü h r t , wird es als Heilsweg verstanden, nicht zum Heil, sondern schließt vom Heil aus. In der Konsequenz dieser Ausführungen läge: Das Judentum ist verworfen. Der Grund dieser - allerdings nicht gezogenen - Konsequenz ist: Die Gnade ist der einzige Zugang zu Gott. Kommen wir dann aber endlich zum Rom, so fügt sich die positivere Sicht des Gesetzes - noch einmal: es bleibt allerdings dabei, daß es nicht zu rechtfertigen vermag! - mit der nun partiell positiven Sicht der Beschneidung in Kap.4 und mit der gegenüber früheren Briefen veränderten Sicht Israels gut zusammen. Es ist also - gegen Kim ( s . o . ) - anzunehmen, daß ihm nach den galatischen Wirren jenes Mysterium von Rom 11,25 widerfuhr, von dem ich annehmen möchte, daß es sich eben nicht ohne erneutes intensives Bemühen um die Schriftaussagen über Israel erschlossen hat, wobei das Jes-Buch, wie sich zeigte, eine besondere Rolle spielte. Wenn

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Holsten, Evangelium des Paulus 1/1, 135 f . ; Lipsius, Gal, 63; Lietzmann, Gal, 45; Schlier, Gal, 283; Oepke, Gal, 204 f . ; H . - D . B e t z , Gal, 322 f . ; anders Schrenk, Was bedeutet Israel Gottes? (= die Judenchristen); Mußner, Gal, 416; seine Argumentation ist typisch für das falsche methodische Prinzip, im Gal etwas finden zu müssen, weil es im Rom steht. Weil er diesen Grundsatz so offen ausspricht, sei er sehr bewußt ausführlich zitiert (ib. 417): "Aber erst Justin identifiziert die Kirche ausdrücklich mit dem 'wahren Israel'. Bei Paulus selbst findet sich davon keine Spur - man denke nur an Rom 9-11. Paulus war freilich von der Hoffnung beseelt, daß auch Israel dem Ruf des Evangeliums folgen werde. Dieses Hoffnungselement könnte sich in dem Futur σ τ ο ι χ ή σ ο υ σ ι , ν anzeigen. Paulus läßt sich zwar im Gal über die Heilszukunft Israels nicht aus, wohl aber im Römerbrief; doch ruft der Apostel bereits in Gal 6,16 das 'Erbarmen' Gottes auf sein geliebtes 'Israel Gottes' herab, was sicher in den Augen des Apostels mehr als eine fromme Geste ist, wie Rom 9-11 bestätigt . . . So deutet der Apostel in Gal 6,16 schon an, was er dann in Rom 9-11 explizieren wird. Paulus hat sein Volk nie vergessen ." Müßte man nicht eher fragen, ob die Voraussetzung stimmt, nach der die Briefe zeitlich so nahe stehen? M.E. liegt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zwischen dem Gal und Rom die ganze korinthische Korrespondenz samt den korinthischen Wirren, s . Hübner, Gesetz bei Paulus, 57, Anm.47. Luz, Geschichtsverständnis, 285.

- 134 die Gegner des Paulus in Galatien Judaisten waren und somit vermutlich mit der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem in Kontakt, wenn nicht sogar in sehr engem Kontakt standen, ist eine negative Reaktion dieser Gemeinde und wohl auch ihrer Leitung unvermeidlich gewesen. Die von mir früher mehrfach geäußerte Vermutung^, daß das theologische Umdenken des Paulus auch von dieser negativen Reaktion Jerusalems zumindest mitbedingt war, dürfte durch die im Epilog skizzierten Überlegungen weitere Bestätigung erhalten haben. Um noch einmal Wilckens zu zitieren: Paulus macht in Rom 11 eine Kehrtwendung. "Was Paulus also in Rom 11,1 leidenschaftlich bestreitet, hat er kurz zuvor im Galaterbrief in definitiver Härte bekräftigt. Wo jedoch der Gedanke auch im Römerbrief von 9,2b an auf eben solche eschatologische Exkommunikation des Evangelium-feindlichen Israel zuläuft (11,8-10), wird auf dem Hintergrund seiner früheren Urteile die Antwort, die Paulus dann von Rom 11,11 ff. an in dem 'Mysterium' von 11,25 f . findet, umso erstaunlicher: Sie bedeutet nichts weniger als eine Wende in seinem heilsgeschichtlichen Denken."35 Ein kurzes Wort noch zur Frage, inwiefern das, was Paulus glaubt als geistgeschenkte Erkenntnis weitergeben zu sollen, für uns verbindliche apostolische Aussage ist. Mit Recht macht E.P.Sanders darauf aufmerksam, daß des Paulus Erwartung von der Bekehrung der Fülle der Heiden und Israels auf seiner Überzeugung beruhe, daß die Parusie bald stattfindet^. Hinzu kommt eine andere Schwierigkeit. Es ist die Frage nach der Identität des ganzen Volkes Israel. Der alte Zwölfstämmeverband besteht seit dem Untergang des Nordreiches nicht mehr. Es ist nicht die Aufgabe des Christen, das Problem dieser Identitätsfrage Israels zu lösen. Das muß der Christ dem Juden überlassen. Das darf er "sich nicht anmaßen. Er wird die Frage nach dieser Identität aber da zumindest als Frage ins Bewußtsein bringen müssen, wo der innerchristliche theologische Gesprächspartner·^ diese Identität von ganz Israel zum Baustein seiner theologischen Spekulation macht. Und hier wird man wohl zumindest diesem Gesprächspartner sagen müssen, daß er das Problem der Identität des jüdischen Volkes nicht lösen kann und daß er christliche Theologie deshalb nicht mit dem historisch nicht zu realisierenden Postulat, das notwendig zur historischen Aporie

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Vor allem Hübner, Gesetz bei Paulus, Abschn. 1.2. und 2 . 2 . Wilckens, Rom II, 185; s. auch Okeke, The fate of the unbelieving Jews; er spricht ib. 132 von einem "case of motivication in theological thought." J . E c k e r t , Paulus und Israel, 10-13, versucht die Differenz zwischen 1 Thess 2,14 ff. und Rom 9-11 durch die Kennzeichnung des paulinischen Argumentierens als Dialektik auf den Begriff zu bringen. Zuzugeben ist, wie sich ja zeigte, daß Paulus innerhalb von Rom 9-11 dialektisch argumentiert. Aber die Differenz zwischen 1 Thess und Rom läßt sich so nicht beseitigen. Sanders, Paul, the Law, and the Jewish People, 197. Ich denke z . B . an Mußner. In geistiger Nähe zu ihm steht auch Otto.Betz, Die heilsgeschichtliche Rolle Israels bei Paulus.

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f ü h r t , belasten darf. Ob der vielgeschmähte Satz Rudolf Bultmanns, das Mysterium Rom 11,25 entspringe der spekulierenden Phantasie 3 8 , nicht doch ein Moment der Wahrheit in sich birgt? Von dieser Frage ist aber strengstens eine andere zu scheiden, nämlich die nach der Selbigkeit Gottes in beiden Testamenten. Walther Zimmerli, dem das in memoriam dieses Buch gilt, hat energisch auf die unverzichtbare Selbigkeit Gottes in beiden Testamenten hingewiesen^®. Auch Bultmann bestreitet sie nicht 4 0 . Mit ihm ist daran festzuhalten, daß die konkrete heilsgeschichtliche Reflexion des Paulus in Rom 9-11 zeitbedingt ist. Diese Reflexion ist aber wie gerade die Ich-Zitate zeigen, aus dem auch vom Christen des 20.Jahrhunderts festzuhaltenden Glauben des Paulus erwachsen, daß der Gott, der sich im Alten Bund Israel offenbart hat, derselbe Gott ist, der sich uns in Jesus Christus offenbart hat. Die Aufgabe einer Biblischen Theologie, als deren Vorarbeit sich diese Monographie begreift, besteht aber in einem erheblichen Maße darin herauszuarbeiten, wo und in welchem Sinne das, was Israel als Offenbarung Gottes erfahren hat und somit per definitionem, weil Offenbarung geschichtliches Ereignis ist, nicht Offenbarung an uns ist, in Kontinuität mit der uns geltenden Offenbarung Gottes in Jesus Christus steht. Diese Frage so zu stellen bedeutet die Absage an jede Art von Markionismus.

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Bultmann, Theologie des NT, 484. Zimmerli, Biblische Theologie, 9. Hübner, Bultmann und das Alte Testament.

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