Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existenzialismus und Postmoderne [2. rev. ed.] 9783826073328

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Gestalten der Gegenaufklärung. Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existenzialismus und Postmoderne [2. rev. ed.]
 9783826073328

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Inhalt
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Der Autor: Ingo Eibe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Philosophie der earl von Ossietzky-Universität Oldenburg. 2008 promovierte er über die Marx-Rezeption in der Bundesrepublik (Marx im Westen, 2. Aufl., Berlin 2010). Habilitation mit der Arbeit Paradigmen anonymer Herrschaft. Politische Philosophie von Hobbes bis Arendt, erschienen 2015 bei K&N.

Ingo EIbe

Gestalten der Gegenaufklärung Untersuchungen zu Konservatismus, politischem Existentialismus und Postmoderne

2., überarbeitete Auflage

Känigshausen & Neumann

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~"J Bibliografische lnfonnation der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

© Verlag Känigshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2021 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics I coverart Umschlagabbildung: Kushnirov Avraham: Spirals; # 32669845 © adobestock.com Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 978-3-8260-7332-8 www.koenigshausen-neumann.de www.ebook.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Inhalt Einleitung Gestalten der Gegenaufklärung: Konservatismus, politischer Existentialismus und Postmoderne 8

Politische Aufklärung Kontraktualismus Zur politischen Philosophie der Aufklärung

19

1. Traditioneller und moderner Kontraktualismus - 2. Die Begründung des modemen Kontraktttalismus (Hobbes, Locke) - 3. Modifikationen des Kontraktualismus im 18. Jahrhundert (Hume, Rousseau, Kant)

Konservatismus und politischer Existentialismus Ein "erschreckender Prophet unserer Zeit" J oseph de Maistres "Anti-Gesellschaftsvertrag"

37

1. Die Nation als Keim und Pflanze - 2. Kulturrelativismus und -determinismus - 3. Funktionalisierung der Religion und Verschwärungstheorie - 4. Ein "erschreckender Prophet unserer Zeit"

Der Zweck des Politischen earl Schmitts faschistischer Begriff der ernsthaften Existenz

46

1. Der deskriptive Gehalt des Begriffs des Politischen - 2. Der normative Gehalt des Begriffs des Politischen: Die Ermäglichung einer ernsthaften Existenz - 3. Der humanistische und der faschistische Begriff des Ernstes

"Die Reinigung macht uns frei" Kar! Jaspers' Beitrag zur Herstellung der nationalen Schuldgemeinschaft durch Akzeptanz des Kollektivschuldbegriffs 68 1. Schuldtypologie und das Nachleben der NS-Moral- 2. Moralisch-politische Kollektivschuld - 3. Das "Analogon von Mitschuld" und die selbstbewusste Schuldgemeinschaft

Das öffentliche Leben Zu Hannah Arendts konservativer Theorie wirtschaftlichen Wachstums

88

(zusammen mit Sven Ellmers) 1. Menschliche Grundtätigkeiten: Arbeiten, Herstellen, Handeln - 2. Verhä'ltnis von Arbeiten und Herstellen - 3. Kolonialisierung durch Arbeit - 4. Kritische Anmerkungen zu einer verfehlten Wachstumsdiagnose - 5. Resümee

5

Die falsche Versöhnung von Subjekt und Objekt Hans-Georg Gadamers Hermeneutik zwischen Heideggerscher Provinz und postmodernem Historyland 112 1. Methodischer hermeneutischer Zirkel - 2. Der ontologische hermeneutische Zirkel 3. Der ontologische Zirkel- traditionalistische Variante - 4. Der ontologische Zirkelrelativistische Variante - 5. Kritik des hermeneutischen Antirealismus - 6. Die Vermischung von Erkennen und Anerkennen der Bedeutung - Epilog: Konservative Hermeneutik in Dipesh Chakrabartys postkolonialer Geschichtsschreibung

Postmoderne Theorien des Politischen Prolog: Theorien des Politischen in der Kritik

144

Politische Macht, Faschismus und Ideologie Zur Genese von Ernesto Laclaus Postmarxismus in der Auseinandersetzung mit Nicos Poulantzas 147 1. Aufräumarbeiten im strukturmarxistischen Baukasten - 2. Faschismus, Populismus, Ideologie

Die postmoderne Querfront Anmerkungen zu Chantal Mouffes Theorie des Politischen

180

1. Sozialtheoretischer Antiliberalismus und Irrationalismus - 2. Liberalismus, Rechtspopulismus und Terror - Dampfkessel und Ventil- 3. Schluss: Eine Sozialphilosophie des autoritären Charakters

Antisemitismus im Kontext "Anständig geblieben" - Die Moral der NS-Täter Zu Raphael Grass: Anstcindig geblieben

204

Die "Verschwörung der Asche von Zion" Zur Vorgeschichte der gegenwärtigen Holocaustrelativierung

210

1. Prtizedenzlosigkeit und die Gefahren der Mystijizierung - 2. Überlagerung der Erinnerung, Verstellung des Blicks, Holocaustrelativierung - 3. Michael Rothbergs ,Multidirektionale Erinnerung'

,Wir Opfer', oder: ,Die Welt als KZ' Auschwitzrelativierung mit Adorno

6

235

" ... it's not systemic" Antisemitismus im postmodernen Antirassismus

241

1. Begriffliche Eliminierung des Antisemitismus - 2. Holocaustrelativierung - 3. Dämonisierung Israels - 4. Postmoderne Dethematisierzmg des islamischen Antisemitismus - 5. Resümee: Ein Persilschein für den Hass der ,Subalternen'

Literaturverzeichnis

276

Drucknachweise

310

7

Die falsche Versöhnung von Subjekt und Objekt Hans-Georg Gadamers Hermeneutik zwischen Heideggerscher Provinz und postmodernem Historyland 112 1. Methodischer hermeneutischer Zirkel- 2. Der ontologische hermeneutische Zirkel 3. Der ontologische Zirkel - traditionalistische Variante - 4. Der ontologische Zirkel relativistische Variante - 5. Kritik des hermeneutischen Antirealismus - 6. Die Vermischung von Erkennen und Anerkennen der Bedeutung - Epilog: Konservative Hermeneutik in Dipesh Chakrabartys postkolonialer Geschichtsschreibung

Postmoderne Theorien des Politischen Prolog: Theorien des Politischen in der Kritik

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Politische Macht, Faschismus und Ideologie Zur Genese von Ernesto Laclaus Postmarxismus in der Auseinandersetzung mit Nicos Poulamzas 147 1. Aufräumarbeiten im strukturmarxistischen Baukasten - 2. Faschismus, Populismus, Ideologie Die postmoderne Querfrom Anmerkungen zu Chantal Mouffes Theorie des Politischen 180 1. Sozialtheoretischer Antiliberalismus und Irrationalismus - 2. Liberalismus, Rechtspopulismus und Terror - Dampfkessel und Ventil- 3. Schluss: Eine Sozialphilosophie des autoritären Charakters

Antisemitismus im Kontext "Anständig geblieben" - Die Moral der NS-Täter Zu Raphael Gross: Anständig geblieben

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Die "Verschwörung der Asche von Zion" Zur Vorgeschichte der gegenwärtigen Holocaustrelativierung 210 1. Präzedenzlosigkeit und die Gefahren der MystiJizierung - 2. Überlagerung der Erinnerung, Verstellung des Blicks, Holocaustrelativiertmg - 3. Michael Rothbergs ,Multidirektionale Erinnerung' ,Wir Opfer', oder: ,Die Welt als KZ' Auschwitzrelativierung mit Adorno

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ce ... it's not systemic" Antisemitismus im postmodernen Antirassismus

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1. Begriffliche Eliminierung des Antisemitismus - 2. Holocaustrelativierung - 3. Dämonisierung Israels - 4. Postmoderne Dethematisierung des islamischen Antisemitismus - 5. Resümee: Ein Persilschein für den Hass der ,Subalternen'

Literaturverzeichnis

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Einleitung: Gestalten der Gegenaufklärung Konservatismus, politischer Existentialismus und Postmoderne Der vorliegende Band versammelt Beiträge zu konservativem, politexistentialistischem und postmodernem Denken. Diese Denkströmungen haben einen enorm weitreichenden, alle politischen Lager umspannenden Einfluss: In Uniseminaren und Thinktanks, bei Antirassismus-Trainings und Integrationsbeauftragten, in Medien und bei Politaktivisten verschiedenster Couleur hat sich eine ideologische Querfront formiert, die Grundmotive der Aufklärung bekämpft - ihre Stichwortgeber sind immer wieder Friedrich Nietzsche, Carl Schmitt und Martin Heidegger. Alle drei Strömungen thematisieren zentrale Irrationalismen, legitimationstheoretische Lücken, Entfremdungserfahrungen, paradoxe Effekte und Widersprüche im modernen Kapitalismus, betrachten sie aber in einer ideologisierten Form als Schicksal oder als unmittelbare Folgen einer zu bekämpfenden "pluralitätsausmerzende[nJ Hybris" (Gruber 2018a, 144) des aufklärerischen Humanitätsideals und Vernunftanspruchs mit seinem moralischen und wissenschaftlichen U niversalismus.! Vom Konservatismus bis zur Postmoderne wird versucht, die Aufklärung als partikulares Projekt zu entlarven oder als eurozentrisch zu "provinzialisieren". (Chakrabarty 2010,61)2 Dabei wird in heillos widersprüchlicher Manier im Medium der Vernunft gegen die Vernunft argumentiert,3 gegen die ein numinoses ,Heterogenes', ,Lokales', ,Konkretes' oder ,Anderes' beschworen wird. Begriffe und Metaphern wie Herkunft, Genealogie, Lokalität oder Boden spielen dabei eine wichtige Rolle. Luc Ferry und Alain Renaut haben diese Tendenz treffend als "Sieg des Daseins über das Bewußtsein" (Ferry/Renaut 1987, 110) diagnostiziert: Das Subjekt, sein Denken und Handeln werden "reduziert auf einen ,Ort'" (215) oder eine lokalisierte Gemeinschaft, die den Charakter einer "vereinnahmenden Totalität" (Finkielkraut 1989a, 24) hat, selbst wenn diese als ,dynamisch' und ,fluide' betrachtet wird.

Vgl. dazu kritisch: Eagleton 1997b, 81-86, Salzborn 2020b, 103. Es sind dabei oft diejenigen, die Komplexität und Differenz im Munde führen, die Ambivalenzen und Widersprüche der kapitalistischen Moderne pauschalisierend auflösen, um "durchgängig [... ] simplistisch" (Ferry/Renaut 1987,235) gegen das Subjekt, den Logozentrismus, die Moderne, den Westen, die Kerkergesellschaft anzugehen. Postkoloniale Ansätze schwanken bei dem Projekt der Provinzialisierung stets zwischen der Aufweisung einer tatsächlich falschen Universalisierung bloß historisch-spezifischer, partikularer Handlungs-, Rationalitäts- und sozialer Ordnungsmuster und dem hier angesprochenen relativistischen Programm, das alle universellen Rationalitäts- und Handlungsmuster leugnet und den Universalismus zu einem rein lokalen Projekt kulturalisiert. Zur Kritik an diesem relativistischen Kulturalismus in den postkolonialen Studien vgl. Chibber 2018, v.a. Kap. 7/8. Zu den Aporien totalisierter Vernunftkritik, den Selbstwidersprüchen und Selbstmarginalisierungen dieser Positionen vgl. Ferry/Renaut 1987, 41ff., Finkielkraut 1989a, 9lf., 99, 106, Wendel 1989, Frank 1991, 238ff., 356-366, 393-399, Habermas 1993, Nagel 1999, 24f., 38ff., Krämer 2007, Boghossian 2013, Eco 2014, 3M., 43, Zima 2016a, Kap. III sowie die Beiträge zu Gadamer und Antisemitismus im postmodernen Antirassismus in diesem Band. Als Einstieg in die Erörterung von Rationalitätskonzepten vgl. Schnädelbach 1992, Steinvorth 2002.

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Proklamiert wird die "Einübung in eine neue Heteronomie". (Habermas 1993, 123) Ein solcher Modus der Selbstkritik der Moderne mit seiner "genealogische [n] 4 [ " . ] Rückführung des Universellen auf das Partikulare: der Wahrheit auf die Macht und das Spiel, des Subjekts auf die reglementierte Körperlichkeit des Einzelnen und des Denkens auf das Leben" (Zima 2016a, 168), kann die sozialen und kulturellen Widersprüche nur in Richtung weiterer Regression verschärfen: in das von abstrakten Vermittlungs formen universeller Vernunft oder auch nur rechtsstaatlich gemilderter Herrschaft befreite, ungehemmte Aufeinanderprallen von Partikularitäten. Die Begriffe Konservatismus, Politexistentialismus und Postmoderne sind hochgradig schillernd und die mit ihnen bezeichneten Strömungen weisen zudem zu viele Variationen und Überschneidungen auf, als dass man sie in starren Definitionen fassen und immer klar voneinander abgrenzen könnte. Dennoch soll hier die Annäherung an eine Bestimmung versucht werden, von der ausgehend in den einzelnen Texten Konkretisierungen, Modifikationen und Differenzierungen vorgenommen werden: Von Konservatismus ist in diesem Band zunächst als Radikalkonservatismus die Rede. Ausdrücklich nicht gemeint ist ein Konservatismus, der sich affirmativ auf liberale, menschenrechtliche Werte bezieht. Unter Radikalkonservatismus verstehe ich Positionen, die gegen die aufklärerischen Ideen von egalitären Rechten und Universalismus eine inner- und zwischenstaatliche natürliche Ordnung der Ungleichheit und Differenz geltend machen und die das Individuum und seine Fähigkeiten ins lokale, völkische oder wie auch immer bestimmte partikulare ,Sein' auflösen. 5 Dieses ,Sein' von Volk, Nation, Rasse, Kultur oder Gemeinschaft - in diesem Kontext meist austauschbare Begriffe - weist jeweils einen bestimmten ,Charakter' auf, einen am Anfang der historischen Entwicklung dieser Einheiten festgelegten kulturellen Wachstumscode, der von großen Führerpersönlichkeiten oder aristokratischen Eliten intuitiv erkannt und politisch entfaltet wird und der in der Regel mit anderen kulturellen Entwicklungscodes und Volks-Sittlichkeiten unvereinbar ist. Nationen und Kulturen werden hierbei als "Pflanze[nJ der Natur" (Herder 1985,243) konzipiert. Ein solcher Konservatismus weist damit eine charakteristische physis-ethos-nomos-Struktur auf, die traditionalistisch, partikularistisch und harmonistisch artikuliert wird: Ein unverfügbares, intransparentes, partikulares, tradiertes ,Sein' (physis) bestimmt die homogene Alltagssittlichkeit eines Volkes (ethos), die wiederum die Grundlage für seine politisch-rechtliche Ordnung (nomos) ist. Jede Abweichung von dieser Bodenständigkeit kultureller Entwicklung kann nur zu Katastrophen (Gefährdungsthese) oder ebenso eitler wie ohnmächtiger Planungshybris (Vergeblichkeitsthese ) führen. 6 Zentral ist dabei der Versuch konservativer Positionen, eine politische Religion als Heilmittel zur Restitution einer

Alle in diesem Band in eckigen Klammern stehenden Einfügungen oder Auslassungen sind von mir vorgenommen worden. Vgl. dazu Finkielkraut 1989a, 14, 19-35. Hinsichtlich der Auflösung demokratischrechtsstaatlicher normativer Gestaltungskompetenzen in das ,Sein' kapitalistischer Subsysteme vgl. instruktiv: Maus 1980, 10-20, 85f., 124, 131, Hirsch 2007, Hirsch 2011. Zu den beiden Begriffen der Vergeblichkeits- und Gefährdungsthese vgl. Hirschman 1995, Kap. III und IV.

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vermeintlich harmonischen und homogenen Gemeinschaft inmitten einer nicht auf den Begriff gebrachten pluralistischen und antagonistischen Gesellschaft zu verabreichen. 7 Das spirituelle Interesse an der Heilsbotschaft weicht hier einer letztlich instrumentellen Bezugnahme auf Religion als Ideologie und "politische[ ... ] Form" (Schmitt 1925, 34), die eine rein weltliche Integrationsfunktion als soziales "Bindemittel" (de Maistre 2000, 66) und als Motivationsbasis der Nationen zur Machtentfaltung zugesprochen bekommt. 8 Wie einflussreich ein solches radikalkonservatives Denken heute ist, zeigen nicht nur Teile des Rechtspopulismus und vor allem der Ethnopluralismus der Neuen Rechten 9 , sondern auch linksidentitäre Kulturalismen und Exotismen, deren Überschneidungen mit konservativen Topoi Alain Finkielkraut bereits 1987 in seinem Essay Die Niederlage des Denkens herausgearbeitet hat. tC Der politische Existentialismus ll kann in einer seiner wesentlichen Ausprägungen als aktivistischer Radikalkonservatismus unter Bedingungen der entfalteten kapitalistischen Moderne und der Massendemokratie begriffen werden. Der klassische Existentialismus proklamiert die unvertretbare, von keinem Dritten zu verantwortende, nicht prinzipiengeleitete Wahl des individuellen Lebensentwurfs (dezisionistische, nichtnormierte Nonngebung) sowie die freilich nie völlig erreichbare Übereinstimmung mit sich selbst (Authentizität statt Regelkonformität). Er legt dabei den Schwerpunkt auf moralische Dilemmata, Grenzsituationen und Brüche des Alltäglichen, in denen sich der Einzelne präzedenzlos handelnd zu bewähren hat. t2 Diese Prinzipien werden nun in einer eigentümlichen Weise ins Kollektive und Politische gewendet: Hier liegt die Betonung auf der Entscheidung zur Heteronomie, auf der Dezision des sich als isoliert, ohnmächtig und losgerissen von allem erfahrenden Individuums zur Wiederverbindung mit einer ,Sache' oder Gemeinschaft durch autoritär-masochistische Unterwerfung oder ,totales' Engagement. 13 Die willkürliche Auswahl der ,Sache', die einen ergreifen soll, korrespondiert mit umso stärkeren Beschwörungen ihrer Verbindlichkeit, Substantialität, Schicksalhaftigkeit, nicht selten auch ihres "tellurischen" Charakters (Schmitt 2006, 26) - andere Varianten sind Schmitts ,konkrete Ordnung' des "Nomos" (Schmitt 1985c, 493), Jaspers' "nähere[ ... ] und engere[ ... ] Gemeinschaften", ohne die wir "ins Bodenlose sinken" würden, Gaspers 2012, 57) und auch Arendts "an einen bestimmten Ort", an Haus und Herd "gebunden[esJ" ,Eigentum' (Arendt 2007, 76f.) innerhalb der ,natürlichen'

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Vgl. Greiffenhagen 1986, 98ff., Salzborn 2015. Vgl. de Maistre 2000, 47, 66f. Instrumentelle Bezugnahme muss dabei nicht heißen, dass dieser konservative Religionsbezug gar nichts mit den religiösen Gehalten zu tun hat. Zudem muss der Islam - im Gegensatz zum inzwischen politisch weitgehend depotenzierten Christentum der westlichen Gesellschaften - in den meisten Fällen gar nicht erst politisiert werden, sondern war dies von Beginn an und mehrheitlich durchgehend. Vgl. Benoist 2017, v.a. Kap. 3 und 4. Vgl. Finkielkraut 1989a, 57-92. Zum Begriff vgl. Marcuse 1968,44-55, Großheim 1999, EIbe 2015, 266ff., 457f. Klassisch dargelegt in Same 1994c, 126f., zur Kritik vgl. EIbe 2015, 433-445. Zum Begriff der autoritär-masochistischen Unterwerfung vgl. Fromm 1989, 178f.

Ordnung der Tätigkeitsformen. 14 Hubert Rottleuthner hat deshalb treffend von einem "substantielle [n] Dezisionismus" gesprochen (Rottleuthner 1983, 20), der das engagierte politische Handeln im Geiste ,substanzieller Werte' propagiert, die freilich vom Handelnden selbst mehr oder weniger willkürlich gewählt werden. Charakteristisch für den politischen Existentialismus sind der paradoxe Sprung in den politischen Glauben, die Ablehnung des moralischen Universalismus und verallgemeinerbarer Normierungen des Handelns zugunsten einer Ästhetisierung der Politik, die Legitimation der partikularen politischen Einheit durch ihre bloße Existenz 15 sowie die Auflösung des Individuums in Härte und totale Ergriffenheit durch den kollektiven Ernstfall des symbolischen oder existentiellen Kampfes oder Krieges. 16 Nichts ist dem politischen Existentialisten so verächtlich wie das auf seinem individuellen, leiblichen Glücksanspruch und seiner jede partikulare Gemeinschaft überschreitende Vernunft beharrende Individuum. Dem "Narrenparadies" (Arendt 2007, 156) einer Welt der "Unterhaltung" (Schmitt 2002, 121) werden die "Krise" (Unsichtbares Komitee 2010,60), der Kampf oder das " [B]ewohnen" eines Krieges (54) vorgezogen. Allerdings gibt es Spielarten des politischen Existentialismus, die, wie im Falle Hannah Arendts, die Flucht in naturalistische Ideologien und kollektivistische Bewegungen explizit kritisieren. Doch selbst bei Arendt finden wir die Beschreibung sozialer Dynamiken in naturalistischen Kategorien, die Diagnose des Totalversagens universeller moralischer Regeln und einen Begriff des Politischen, der einen aristokratischen Authentizitätskult, eine Abneigung gegen Durchschnittlichkeit, Alltäglichkeit und physisches Behagen sowie ein bisweilen extrem dezisionistisches Freiheitspathos enthält. 17 Der antiinstitutionelle und agonale Charakter des existentialistischen Begriffs des Politischen, seine Abgrenzung von Staat und Verwaltung, die Annäherung an den Ausnahmezustand sowie die vollständige Ablehnung von ökonomischen und gesellschaftstheoretischen Fundierungsversuchen hat insbesondere die postmodernen Theorien des Politischen inspiriert. In der Postmoderne verwandelt sich schließlich die Wurzel der deutschen Eiche in das Gewimmel des Rhizoms, die Empfindungskomplexe des Leibes, das Fließen der Machtströme. An die Stelle der Tradition tritt die Diskontinuität des "Ereignisses" (Foucault 1991, 80), aber auch hier ist Heteronomie omnipräsent, auch hier finden wir einen offenen Angriff auf Ideen der Autonomie und der regelgeleiteten universellen Moral, des Fortschritts, der sinnvollen Rede und objektiven Erkenntnis. Der Boden, vom Konservatismus noch als naturwüchsig beschworen, im Politexistentialismus geradezu zwanghaft gesucht und in seiner Künstlichkeit schon halb durchschaut, wird in der Postmoderne nun vollends schwankend - für alle, die paradoxe Formulierungen mögen: bodenlos. Der "Boden, aus dem wir stammen" sagt Foucault, ist "kein Fundament" mehr (87, 74), sondern eine heterogene Ansammlung von Determinanten. Alle metaphysischen Instanzen und Allgemeinbegriffe 14

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Vgl. die Beiträge zu Jaspers und Arendt in diesem Band. Vgl. Schmitt 2003, 22, 87. Damit werden "die irrationalen Vorgegebenheiten in nonnative um[gedeutetJ". (Marcuse 1968,29) Vgl. dazu den Beitrag zu Schmitt in diesem Band. Vgl. dazu Eibe 2015, 457f. sowie den Beitrag zu Arendt in diesem Band.

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werden radikal lokalisiert und temporalisiert, partikularisiert, atomisiert - vor dem Hintergrund einer Philosophie radikaler Diskontinuität, Intransparenz und nominalistischer Heterogenität. Die "Bodenständigkeit", die Hans-Georg Gadamer (1993, 361) an Heideggers Denken lobt, trifft, recht verstanden, dennoch eine Gemeinsamkeit von Postmoderne, politischem Existentialismus und Konservatismus: die Akzeptanz des "Schicksal[sj" (Bauman 1995, 166) totaler Determiniertheit durch ein "Spiel, das sich dem Begriff entzieht" (Laclau/Mouffe 2000, 238), ein rational nicht aufzuschließendes ,Sein', das man "mit vollem Bewußtsein [... ] wählen" und zur eigenen Angelegenheit machen soll. (Bauman 1995, 167) Damit einher geht die Haltung, sich "beharrlich [zu] weigern, auf den Vorwurf des Relativismus ernsthaft einzugehen" und "nicht bereit" zu sein, "sich außerhalb der (unvermeidlich partikularen und ,lokalen') Diskurse zu positionieren und einen anderen Grund und Boden zu suchen, als den, den jene bereitstellen." (166) Wahrheit, Moral, Subjekt und Objekt gehen in den konventionellen Regeln einer vernünftig nicht begründbaren, kontingenten Gemeinschaft auf. 18 Diese Diskursheimat, die das Subjekt (aufgrund der in allen drei Strömungen undurchschauten und ideologisch verzerrt artikulierten Widersprüche der kapitalistischen Moderne) aber immer wieder vertreibt und die Weigerung ihrer Verteidiger, auf universalistische Argumente überhaupt einzugehen, diese trotzige Affirmation des "Tellurischen", deutet auf den regressiven Charakter auch der Postmoderne als "Revolte des Bürgers gegen die Herrschaft des Abstrakten" (Gruber/Lenhard 2014, 21) oder, wie Armin Mohler es affirmativ ausdrückt, als "Aufstand des Menschen gegen seine Vergewaltigung durch Abstraktionen" hin. (Mohier 1987, 33). "Abstraktionen" sind dabei für die Postmoderne, ganz im Sinne des Konservatismus und Politexistentialismus, "immer trojanische Pferde des Besonderen". (Kersting 2007b, 5) "Wer Menschheit sagt, will betrügen" (Schmitt 2002, 55) - ein Leitmotiv für alle drei Strömungen, die letztlich nur noch zwischen dem angeblich lügenhaften Partikularismus, der sich Universalismus nennt, und dem aufrichtigen Einstehen fürs Partikulare unterscheiden können. Postmodernes Denken ist dabei ein Radikalkonstruktivismus, der Wahrheit als lebensdienliche Fiktion, Sprache als performative Weltkonstruktion, begriffliche Erkenntnis als projektives und gewaltsames Zurechtschneiden eines numinosen Konkreten und Besonderen, von uneindeutigen, "unbenennbaren Gemischen" (Deleuze 1993, 168), begreift. 19 Mit der Opferung des Erkenntnisobjekts im Wahrheitsrelativismus und Antirealismus geht die "Opferung des Erkenntnissubjekts" (Foucault 1991, 87) einher. In einer totalisierten Verdachtshermeneutik wird alle Geltung von Aussagen auf ihre agonale Genesis im Willen zur Macht - in den Ausschließungspraktiken von Diskursen - reduziert. Nach dieser Herkunft allein, deren Inhalt ein anonymes Machtgeschehen oder ein dadurch zustande gekommenes Subjekt ist, fragt die postmoderne Genealogie: "Man interpretiert nicht, was im Bezeichneten ist, sondern fragt letztlich, von wem die Interpretation stammt. Das Prinzip der Interpretation ist nichts anderes als der Interpret". (Foucault 2005, 736) 18 19

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Vgl. Bauman 1995,174. Foucault (1991,81) nennt es "unaussprechliche[s] Wimmeln[ ... ]". Vgl. dazu die Beiträge zu Gadamer, Mouffe und Antisemitismus im postmodernen Antirassismus in diesem Band.

Die Postmoderne ist damit ein Diskurssozialdarwinismus, der Wahrheit als Ritual privilegierter Sprecher, "als Mittel der Kriegsführung" (Habermas 1993,333) identifiziert, als Spielmarke im ewigen Kampf der Bemächtigungswillen: wahr ist, was sich durchsetzt und "von den hierzu Befugten nach dem erforderlichen Ritual verlautbart worden ist." (Foucault 1993, 14)20 Damit einhergehend ist postmodernes Denken schließlich Differenzfetischismus, moralischer Antiuniversalismus und Fortschrittskritik: Rationalisierung bedeutet demnach nicht einmal mehr potentiell Humanisierung im Sinne fortschreitender Autonomie und Selbstverwirklichung der Menschen: das Wissen "vervielfältigt die Gefahren" und "versammelt immer mehr Gewaltinstinkte in sich" (Foucault 1991, 87), behauptet Foucault apodiktisch. Die Menschheit schreitet nur noch trostlos von Kampf zu Kampf, in dem die Individuen einem aleatorischen, gewalttätigen und agonalen Geschehen ausgeliefert sind - dem "Würfelspiel des Ereignisses" (80) und einer "Reihe von Interpretationen", die nichts als "gewaltsam [e J" (78) Bemächtigungen und Verzerrungen steten Andersverstehens sind. 21 Als Befreiungssurrogat hat dieses Denken lediglich die anarchische Entfesselung von Differenzen und Heterogenitäten sowie unendliche Spaltungen und Zerstreuungen anzubieten. "Die normative Prämisse des Poststrukturalismus", so lautet eine treffende Charakterisierung durch eine seiner Vertreterinnen, "dass eine politische Ordnung stets prekär bleibt, ja das soziale System als solches durch das endlose Spiel variierender Codes und Zeichen letztlich unkontrollierbar ist und auch sein soll, transzendiert nicht nur die Unterscheidung von Realität und ihrer zeichenhaften Repräsentation, sondern kultiviert einen Modus der Kritik, der soziale Dynamisierung zum Selbstzweck erhebt." (Amlinger 2020,334)22 Wer glaubt, in emanzipatorischer Absicht gegen die konservative Beschwörung von homogener Identität die postmoderne Zerstreuung und Temporalisierung des Subjekts anführen oder mit Foucault gegen rechte fake news argumentieren zu können, ist also auf dem Holzweg. Selbst einen Verbündeten im Kampf gegen den vielbeschworenen Gegner ,N eoliberalismus' findet man hier nicht. 23 Das im Macht-Affekt-Zeichen-Geschehen zerstreute Ich ist genauso wenig zur Freiheit fähig wie das völkisch verwurzelte. Was wie ein Aufstand des Subjekts gegen die Herrschaft aussieht, ist tatsächlich eine abstrakte Negation des "Universalitätsanspruch[sJ der Normen" (Ferry/Renaut 20 21

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Vgl. Foucault 1978, 51, Foucault 1991, 78, Foucault 1993, 14. Zu diesen Topoi vgl. v.a. die Beiträge zu Gadamer, zu Mouffe und zum Antisemitismus im postmodernen Antirassismus in diesem Band. Wie Manfred Frank (1991,238) zu Recht anmerkt, wird der "Angriff" der Postmoderne "auf die Ordnung als Ordnung universell" und gilt damit "keiner Ordnung insbesondere mehr, d.h., die Angriffsziele werden indifferent und austauschbar." Vgl. auch (am Beispiel Agambens) Rickermann 2018 sowie (allgemein für die Postmoderne) Amlinger 2020, 334 und Priester 2014, 240: "Die Trennlinie zwischen rechts und links wird verwischt, wenn der Kampf nicht gegen ein inhaltlich spezifizierbares System geführt wird, sondern gegen dessen Systemcharakter überhaupt." Dies verbindet in der politischen Philosophie dann das antiinstitutionelle Intensitätsethos des Politexistentialismus mit poststrukturalistischen Theorien, vgl. ebd., 254. Die Kompatibilität mit neoliberalen Dogmen haben Annuß 1997 und Soiland 2011, 18ff. am Beispiel von Judith Butlers Ansatz diskutiert.

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1987, 77) und der Fähigkeit des Subjekts, sich durch die Idee des Allgemeinen zum Handeln zu bewegen, und zwar im Namen eines haltlosen, in Neigungen, heterogene ,Sensationen' und Signifikantenketten aufgelösten Individuellen. Praktiziert wird die "Auflösung des Ich qua autonomen Willen" in eine "hyperbolische" Idee unbegreiflicher Einzigkeit. (77)24 Ein Ich, das des Allgemeinen entbehrt, kann wiederum keine sozialen Beziehungen eingehen, die nicht bloß in der "Betrachtungsweise des anderen als ,verrücktes Dingsda'" münden. Wo das Allgemeine fehlt, gibt es weder ein Subjekt noch Gesellschaft, nur ein "pulverisierte [s] oder desintegrierte [s] Ich" (79), bzw. einen zufälligen Knotenpunkt von Affektströmen oder sprachlichen Ereignissen. So konstatieren Ferry/Renaut, "daß der gegen die Subjektivität geführte Prozeß hier jede Möglichkeit des echten Dialogs zwischen Bewußtseinen, die ihre Verschiedenheit auf dem Hintergrund von Identität zu denken in der Lage wären, zerstört: Wenn alles, was uns bleibt, nur die auf die Spitze getriebenen individuellen Differenzen sind, dann wird jede dem anderen der ,ganz Andere', also der ,Barbar'." (130) "Es ist Keiner Meinesgleichen", schreibt Max Stirner, ein Wegbereiter der Postmoderne, "sondern lediglich [... ] ein interessanter oder uninteressanter Gegenstand". (Stirner 1985, 349)25 Was dieses ,Ding' oder Andere sein soll - ,Einziger', Individuum, Kultur, Volk, ,Rasse' - ist weitgehender Beliebigkeit überantwortet, ebenso wie man sich zu diesem stellt - in Hass und Abstandnahme, in exotisierender Bewunderung oder in schuldbesetzter Parteinahme 26 für alles und jedes Diverse. Die Konsequenz einer Vielfalt ohne vernünftiges Allgemeines ist die Gleichgültigkeit oder der Kampf. ,,[W] enn die heterogenen Interessen sich selbst überlassen werden", kommt "allein das Gesetz des Stärkeren zur Herrschaft". (Ferry/Renaut 1987,235) Ein solches Plädoyer für Differenz verhindert also immer schon den Dialog, den es stets beschwört. 27 Von Gemeinschaft kann und will man bei allem im Munde geführten Besonderen, Einzigen und Heterogenen aber doch nicht lassen. Das paradoxe konservative Programm eines "glaubenslosen Glaube [ns]" (Adorno 1998e, 477) als soziales Band

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Vgl. auch Eagleton 1997b, SM. Man ist nicht zufällig an den konsequenten Nominalismus von Stirners vermittlungslosem "Einzigen" erinnert, vgl. dazu Kratz 1979, 139-162, Lindner 2013,150-153, Gruber/Lenhard 2014, 22. Und weiter: "Wie wir im Baume, im Tiere nicht Unsersgleichen erblicken, so entspringt die Voraussetzung, daß die Andern Unsersgleichen seien, aus einer Heuchelei." (Stirner 1985, 348f.) Das bestätigt auch Foucault 1991, 79: ,,[N] ichts am Menschen - auch nicht sein Leib ist so fest, um auch die anderen Menschen verstehen und sich in ihnen wiedererkennen zu können." Vgl. dazu v.a. den Beitrag zum Antisemitismus im postmodernen Antirassismus in diesem Band. Die letztere Haltung hat Wolfgang Kersting treffend als die "bußfertige[r] Söhne und Töchter des Westens" charakterisiert, "die sich in der Rolle des schlechten Gewissens des Liberalismus gefallen und in einer Geste des nachgeholten Widerstandes den Menschenrechtsuniversalismus als Moralkolonialismus [... ] brandmarken. So entschieden ist ihr Engagement für das Andere, Nicht-Identische und Fremde, dass sie nicht bemerken, dass sie zu nützlichen Idioten der Diktatoren dieser Welt werden, die unter dem Vorwand kultureller Selbstverteidigung ihre autokratischen Regime gegen eindringende Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitsforderungen abdichten." (Kersting 2007b, 3) Vgl. Finkielkraut 1989a, 92.

und als Motivationskraft politischer Aktion, die instrumentell rationale Propaganda für irrationale Bindekräfte, wird in der Postmoderne nun aber in der Regel offen praktiziert. Weil man sich gerne direkt der sozialtheoretischen Irrationalismen und Plutokratiediagnosen eines Georges Sorel oder Carl Schmitt bedient, sehen diese Gemeinschaften den faschistischen (oder islamistischen) doch oft zum Verwechseln ähnlich - allerdings mit einem großen "Als-ob" versehen: Wie Zygmunt Baumans "postmoderne Stämme" sind die Kollektive Chantal Mouffes und Ernesto Laclaus mit einer hohen "Intensität emotionalen Verhaltens" und einer "symbolisch demonstrierten Feindseligkeit" ausgestattete "vorgestellte Gemeinschaften" (Bauman 1995, 234), die keine Substanz besitzen, "ihr Dasein einem falschen Versprechen" von Einmütigkeit verdanken, ohne die "der Einzelne [aber] keine Entscheidungen treffen" kann (172) und die man deswegen angeblich wollen muss. Was den Konservativen der Volksgründer, dem politischen Existentialismus das sich im Kampf bewährende politische Genie, das ist dem postmodernen Hegemonietheoretiker der das Volk mittels Mythen zum Volk konstruierende Diskursingenieur. 28 Die Neue Rechte hat die Postmoderne schon lange für sich entdeckt und völlig zu Recht festgestellt, dass man es bei ihr eigentlich mit dem Re-Import einer mit neuem Theoriedesign versehenen eigenen, insbesondere deutschen, Tradition zu tun hat: So schreibt Armin Mohler im Jahr 1987: "Wir halten die Beschäftigung mit der ,Postmoderne' gerade für Konservative notwendig, weil es sich bei dieser Geistesströmung um eine Weiterführung konservativer Ideen handelt, die sich außerhalb des sogenannten ,konservativen Lagers' vollzogen hat.". Es bestehe kein Anlass, "sich gegen ,fremden Import' wehren zu wollen [... ]. Die französischen Wortführer dieser neuen Bewegung haben nichts anderes getan, als aus deutschem Denken, voran Nietzsche und Heidegger, jene Konsequenzen zu ziehen, zu welchen die verschüchterten Deutschen nicht mehr den Mut hatten." (MohIer 1987, 38) 29 Nicht alle postmodernen Linken bestätigen allerdings die Diagnose einer Nähe von Neuer Rechter und Poststrukturalismus wie Banu Bargu, die die "productive convergence of the far Right and the far Left" (Bargu 2014, 726) im akademischen Schmittianismus ausdrücklich lobt. Meist reagiert man allergisch mit der Handbremsenstrategie der Verleugnung der radikalen Konsequenzen des eigenen Paradigmas. Dann werden Foucault und Derrida, Rorty und Vattimo, Mouffe und Butler plötzlich zu Humanisten stilisiert, die die blinden Flecken der bisherigen Aufklärung rational re28 29

Vgl. dazu die Beiträge zu de Maistre, Laclau und Mouffe in diesem Band. Ich danke Matheus Hagedorny für den Hinweis auf Mohlers Text. Vgl. auch die Charakterisierung der Postmoderne durch den Neurechten Martin Sellner (2019): "Ich verstehe die Postmoderne als eine Epoche der Destabilisierung, Verflüssigung und des radikalen Zweifels. [... ] die Postmoderne ist antiuniversalistisch. Sie kritisiert die Annahme eines akulturellen überzeitlichen ,Sprechorts', also einer außenstehenden Position, von der aus eine umfassende Kritik und Definition erst möglich wäre. [... ] Die Geschichtlichkeit, Kulturalität und damit ,Ethnizität' allen Denkens wird wiederentdeckt. [... ] Die postmoderne Philosophie bringt die Frage nach Körperlichkeit, Sprache, Emotion, Herkunft und Geschichte wieder ins Spiel, indem sie nicht nur über sie nachdenkt, sondern ihre unhintergehbare Prägung des Denkens nachvollzieht. Sie wird in vielen Bereichen performativ und treibt die Methodenkritik auf die Spitze - und darüber hinaus."

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flektierten und die Welt ein bisschen menschlicher machen wollten. Solche Strategien können sich zum Teil an die ebenso mannigfachen wie notwendigen logischen Widersprüche und normativen Inkonsistenzen anlehnen, die in den Texten der Genannten zu finden sind. Allein ist es einerseits ein rabulistisches Kunststück, die uneingestandenen logischen Widersprüche einer Theorie zu ihrer Stärke zu erklären 31 , andererseits ein Zeichen intellektueller Unredlichkeit, sich das gerade Genehme aus einer Theorie herauszusuchen und ihre radikale Intention, Bedeutung und Konsequenz bei Bedarf zu leugnen. Inzwischen wird mit einigem argumentativen Aufwand versucht, die These von der gefährlichen Nähe zwischen Postmodernismus und Neuer Rechter durch systematische Verharmlosung der postmodernen Positionen zu entkräften. 32 Meist bleibt es bei der anfechtbaren Behauptung, die Differenzen zwischen Konservatismus und Postmoderne bestünden entlang der Achsen Homogenität-Heterogenität, Naturalismus-Antinaturalismus und dem Plädoyer für die Dominanzgesellschaft oder für die Subalternen. 33 Dabei wird ignoriert, dass bereits die faschistische Rechte bisweilen recht freimütig ,konstruktivistisch' argumentierte 34 und das Kriterium für die Unterstützung von Subalternen im postmodernen )0

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Vgl. Biskamp 2020, Amlinger 2020, 322. Das kann zwei Formen annehmen: Man kann behaupten, Foucault z.B. sei gar kein Wahrheitsrelativist, weil er doch selbst (universell gültige) Wahrheit für seine machtreduktionistische Diskursanalyse beanspruche. Das tut er zwar implizit, aber eben im Widerspruch zu seiner eigenen globalen wahrheitsrelativistischen Diskursanalyse. Eine andere Möglichkeit besteht darin, zu behaupten, selbstverständlich sei auch die Machttheorie des Denkens nur eine Machtstrategie, also den Selbstwiderspruch prima facie durch konsequente Selbstanwendung zu unterlaufen und als "eine Tugend [zu] begreifen". (Münker/Roesler 2012, 158) Zu den Konsequenzen einer solchen Strategie vgl. Wendel 1989, 49ff., 60-68 sowie Boghossian 2013, 60ff. Vgl. Schubert 2020, Amlinger 2020. Fast jede von Amlinger aufgeführte vermeintliche Differenz zwischen Postmoderne und Neuer Rechter ist mit guten Gründen bestreitbar. Vgl. ein Beispiel dafür im Text zu Mouffe in diesem Band. Merkwürdig an ihrem Beitrag ist, dass sie im Text durchgehend versucht, Neue Rechte und Postmoderne voneinander abzugrenzen, um am Ende zu konstatieren, in der Postmoderne werde "die Unbegründbarkeit von Politik und Gesellschaft [... ] zur impliziten Norm erhoben", womit bereits "die Infragestellung politischer Ordnung [... ] als emanzipatorisch" gelte. (334) Dies könne allerdings "nichtintendierte politische Nebenfolgen" wie die "Vereinnahmung poststrukturalistischer Kritik von rechts" nach sich ziehen. Daher gelte: "Statt den politischen Gründungsversuch als solchen aufzugeben, tut es angesichts des veränderten politischen Koordinatensystems wohl Not, die Frage politischer Gründung von links neu zu stellen." Das kann aber nur heißen, den normativen Rahmen der Postmoderne zu verabschieden. Vgl. Mouffe 2013, 62-66, Schubert 2020, 41f., Amlinger 2020, 321ff. Vgl. Mussolini in Neumann 1993,535 oder Schmitt 1996a, 37f. Dies erkennt richtig und affirmiert zugleich Hetze12009, 17M. In diesem Sinne argumentieren auch heutige Neue Rechte, alles sei politisch motivierter Interpretation und Perspektive unterworfen, nichts entgehe dem Kampf um kulturelle Hegemonie: "Kunst, Literatur, Mode, Symbole und Zeichen, nichts entgeht der Interpretation, die eine spezifische Weltsicht zu geben vermag." (Benoist 2017,44). Benoist stellt fest, "daß nichts im Dasein ,neutral' ist" (45): "Wahr ist das, was sich in die Lage versetzt, zu existieren und fortzudauern [... ]. Der Marxismus kann die ,Wahrheit' von morgen sein. Aber es handelt sich um eine ,Wahrheit', die abzulehnen man berechtigt ist, um ihr eine stärkere entgegenzustellen [... ]. Ich glaube vor allem, daß man, gerade weil die

Bezugsrahmen völlig willkürlich ist, was durchaus folgerichtig in die absurden Allyship-Konzepte von Critical Whiteness-Vertretern 35 oder die Eingemeindung islamfaschistischer Banden in die globale Linke münden kann. 36 Allen Abgrenzungsversuchen zum Trotz werden die fatalen Konsequenzen und Allianzen eines postmodernen Denkens seit Jahrzehnten immer wieder kritisch thematisiert. 37 ,,[WJenn man nur einen Augenblick an die politischen Implikationen" der postmodernen Ideologie "denkt", schrieben Ferry/Renaut 1987, "dann kann man sich nur beglückwünschen, daß die Urheber so eifrig die Inkonsequenz kultiviert haben und [... J so großzügig die Menschenrechte und die republikanischen Werte haben verteidigen können." (Ferry/Renaut 1987, 131) Die letzten Jahrzehnte haben allerdings gezeigt, dass man sich lieber nicht auf den Zufall der Inkonsequenz von postmodernen Intellektuellen verlassen sollte: Wenn man sich um nur einige Beispiele zu nennen - die Anbiederungen an den konservativen Mehrheitsislam, die linkspopulistischen Phantasien einer neuen Antiplutokratie, die Verbreitung der kruden Critical Whiteness-Ideologie, das Dogma einer völligen Entmaterialisierung von Geschlecht und die damit einhergehenden Kampagnen gegen Feministinnen oder die Begeisterung für postkolonialen Israelhass anschaut 38 , die allesamt postmoderne akademische Kreise weit überschreiten, dann steht zu befürchten, dass sich die Zeit der von Ferry und Renaut erwähnten sympathischen politisch-liberalen Inkonsequenzen rasant dem Ende nähert.

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reine Wahrheit unentscheidbar ist, mehr denn je ,heroisch' schaffen, aufbauen und gestalten muß." (52ff.) Eine mit allerlei akademischen salvatorischen Klauseln versehene Variante dieser Idee findet man bei Karsten Schubert (2020, 45f.): "Wenn man nun die Prämisse der emanzipativen Politik teilt, sollte man konsequenterweise große Offenheit gegenüber dem politischen Urteilen und seinen Regeländerungsprojekten haben, auch wenn damit eigene Komfort- und Privilegieneinbußen verbunden sind [... ]. Dies sollte man auch dann tun, wenn sich die Sinnhaftigkeit mancher Projekte nicht intuitiv erschließt - denn es kann gut sein, dass das an der eigenen Privilegienblindheit liegt. [... ] Das bedeutet für solidarische Praxis: Auch wenn man vielleicht denkt, dass eine partikulare Regelung oder Protestart sinnlos, schädlich oder unangenehm ist, gibt es gute Gründe, sie trotzdem zu unterstützen [... ], weil die Wirkung auf der symbolpolitischen Metaebene liegt." In noch extremerer Form vgl. Strohschein 2007. AmIinger (2020, 333) betrachtet Kritik ohnehin "meist" als "Interessenartikulation [... ] von sozialen, ethnischen oder geschlechtlichen Minderheiten" - man fragt sich, was es dann mit der Frauen- oder der Arbeiterbewegung auf sich hatte. Vgl. Judith Butlers Aussage, Hamas und Hisbollah seien Teil der globalen Linken. Sie versuchte sich anschließend mit ihrer Ablehnung von "Gewalt" herauszureden (vgl. Butler 2012), delegitimierte aber zugleich den israelischen Staat und betonte ihre Unterstützung für die antisemitische BDS-Kampagne, zu deren Gründungsmitgliedern Hamas und Islamischer Jihad gehören und deren ,gewaltloser' Charakter eine reine Legende ist. Vgl. u.a. Ferry/Renaut 1987, Habermas 1993, Hirsch 2007, Gruber/Lenhard 2014, Priester 2014. Einen kleinen, kritischen Einblick in das Ausmaß der theoretischen und politischen Regression im Gefolge von Foucault, Butler und Co. liefert die Kreischreihe des Querverlags, u.a. mit den Bänden Beißreflexe, Freiheit ist keine Metapher und Irrwege.

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Der vorliegende Band enthält neben zwei neuen Texten zum Teil erheblich erweiterte Versionen von Aufsätzen, die in den letzten fünf Jahren publiziert wurden. Thematisch wird unter anderem an einige Beiträge angeknüpft, die in meinem Band Paradigmen anonymer Herrschaft zu finden sind, vor allem an die Auseinandersetzung mit dem politischen Existentialismus (Schmitt, Arendt) sowie der Kritik des Antisemitismus (Kritische Theorie, Sartre). Danksagung: Für die gemeinsame kritische Diskussion vor allem postmoderner Theorien danke ich den Teilnehmern des Bremer Lesekreises zum Thema Rassismus und Antirassismus. Für Korrekturen oder für inhaltliche Anmerkungen zu einzelnen Kapiteln gilt mein Dank Michael Heidemann, Andreas Stahl und Sven Ellmers. Auch dafür und für viel mehr möchte ich mich bei Samira Sassi bedanken. Für die zweite Auflage habe ich die Texte zur "Verschwörung der Asche von Zion" sowie zum Antisemitismus im postmodernen Antirassismus überarbeitet und erstgenannten Beitrag erheblich erweitert. Dafür wurden die beiden kurzen Rezensionen zu Jan-Werner Müller und Michael Blume in der vorliegenden Auflage nicht mehr berücksichtigt.

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Kontraktualismus Zur politischen Philosophie der Aufklärung Die revolutionäre Idee der Emanzipation des Individuums von einer vereinnahmenden Gemeinschaft und einer naturwüchsigen Ordnung kollektiv-ständischer Ungleichheit wurde in der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts in der juridischen Terminologie des Vertrags formuliert. Der moderne Kontraktualismus ist die theoretische Gestalt einer politischen Philosophie der Aufklärung, einer Philosophie, der bis heute von konservativer und postmoderner Seite vorgeworfen wird, dass an ihren Ideen "die Völker zu Grunde" gehen (Moeller van den Bruck 1931, 79) oder von ihr "kollektive Identitäten nicht anerk[ a] nnt" werden. (Mouffe 2007, 17) 1. Traditioneller und moderner Kontraktualismus

Die vorherrschende Strömung der mittelalterlichen politischen Philosophie Europas unterstellt eine Menschennatur, die auf ein sittliches Kollektiv hingeneigt ist, in ihm ihre Potentiale entfaltet und dessen ständische Hierarchie als unverfügbar und gottgewollt, also naturrechtlich verbürgt, gedacht wird. Gefragt wird hier allenfalls nach der Qualität der immer schon vorausgesetzten Herrschaftsordnung. Hier taucht bereits der Topos gesellschaftsweiter Verträge in zwei Varianten auf, allerdings als nachgeordnetes Moment eines nichtvertraglichen Gemeinschaftstelos: 1) Die Idee des Herrschaftsvertrags unterstellt Stände und Fürsten als vorgängige Vertragssubjekte und damit ursprüngliche kollektive Willenseinheiten. Ziel des Vertrags ist die Bewahrung ständischer Privilegien in einer natürlichen Ordnung der Ungleichheit, keineswegs die Konstitution bzw. Sicherung universeller individueller Freiheitsrechte oder die Hervorbringung einer Herrschaftsordnung überhaupt. Als Gegenleistung für die Privilegien wird ein bedingtes Gehorsamsversprechen gegeben, das dem Volk als Summe von ständisch gegliederten Korporationen zugleich ein Widerstandsrecht gegen den Fürsten bei Vertragsverletzung einräumt.! 2) Im Konzept des Eigentumsbegründungsvertrags wird die private Auf teilung des gottgewollten Gemeineigentums als Reaktion auf den Sündenfall und die Korrumpierung der menschlichen Natur gerechtfertigt: Da durch Stolz, Egoismus und Habgier die Bedingungen für eine kollektive Aneignung der Existenzgrundlagen verloren gehen, muss der Mensch die göttliche lex naturalis durch menschliche Satzung (lex humana) modifizieren. Der Vertrags gedanke verleiht hier der Aufteilung durch die Freiwilligkeitsunterstellung, "dass Alle übereingekommen sind, Jeder solle das zu eigen haben, was er in Besitz nehmen werde", Legitimität. (Grotius 2007, 245fY Dagegen fragt der moderne Kontraktualismus seit dem 17. Jahrhundert, unter welchen Bedingungen politische Herrschaft, die eine Einschränkung individueller Freiheit impliziert, überhaupt legitim ist und beantwortet diese Frage, nicht mehr V gl. Hespe 2005, 204-217. V gl. Brocker 1992, Kap. 3.

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diejenige bestimmter Ausgestaltungen vorab bestehender Herrschaftsordnungen, mit dem Konzept des Gesellschaftsvertrags. Es wird gefragt, wann ein Individuum verpflichtet ist, einer zwangsbewehrten sozialen Norm Folge zu leisten. Verpflichtet ist es, so die Idee, wenn die Einschränkung individueller Handlungsspielräume durch staatlich garantierte Kooperations- und Unterlassungsregeln nicht nur faktisch möglich, sondern berechtigt ist. Berechtigt sein kann sie dem Kontraktualismus zufolge nur, wenn die Herrschaftsunterworfenen dieses Recht verleihen, weil "Natur, Gott und Herkommen" (Kersting 1994, 12) als Legitimitätsquellen weggefallen sind. Diese Verleihung von Herrschaftsrechten wird als Gesellschaftsvertrag der zukünftig Herrschaftsunterworfenen verstanden, Verpflichtung (berechtigte Fremdbestimmung) somit als "selbstgewollte und selbstgewählte" (Stemmer 2013, 2) gedeutet. 3 Selbst gewählt wird Verpflichtung schließlich, wenn Bedingungen gegeben sind, unter denen sie den eigenen (langfristigen) Interessen (oder der eigenen Würde) entspricht, was zugleich heißt, dass diesen Interessen (oder dieser Würde) des Individuums die Rolle eines von allen tradierten und historisch kontingenten Gemeinschaftsbindungen unabhängigen Rechtfertigungsfundaments zugewiesen wird. Diese Interessen streben (meist) ein metaphysisch unanspruchsvolles, generell anzutreffendes individuelles Ziel an, vor allem die Selbsterhaltung. 4 Die Bedingungen, unter denen politische Pflichten diesen Interessen (oder der Würde) der Individuen entsprechen, sind die Prekarität oder Unmöglichkeit der Realisierung dieses Ziels unter staatlich ungeregelten Verhältnissen - ein Naturzustand, der zum Beispiel Verletzbarkeit, Knappheit, Bedrohungssymmetrie, Konkurrenz, begrenzten Altruismus und begrenzte Willensstärke beinhalten kann. 5 Diese Bedingungen zusammengenommen lassen es rational erscheinen, den unpolitischen Zustand zu verlassen, solange die anderen Akteure dies ebenfalls tun. Der Kontraktualismus argumentiert in der Regel wie folgt: ,Wenn Du x (Selbsterhaltung) anstrebst und Bedingung y (gefahrvoller Naturzustand) gegeben ist, dann ist es für Dich erforderlich (rational), das Mittel z (Etablierung von Unterlassungsregeln) zu ergreifen, um Dein Ziel zu erreichen.' Das kontraktualistische Argument entfaltet sich damit im Dreischritt von Naturzustand (Ziele und Bedingungen ihrer Nichtrealisierbarkeit) Gesellschaftsvertrag (wechselseitige freiwillige Übereinkunft der Etablierung von Unterlassungsregeln und einer Instanz, die deren Einhaltung garantiert) - Staat. Der moderne Kontraktualismus ist allerdings ein heterogener Diskurs. In ihm finden sich nicht nur unterschiedliche axiologische Prämissen und Naturzustandsbeschreibungen, er ist auch durch eine Reihe von Ambivalenzen gekennzeichnet, die Anlass zur Kritik und zu internen Revisionsprozessen gegeben haben: 1) Moderne Vertragstheorien sind sowohllegitimationstheoretische Konstrukte, die bestehende staatliche Herrschaftsstrukturen normativ rechtfertigen sollen, als auch auf (dem Anspruch nach) anthropologisches Wissen gestützte Projekte sozialtechnologischer Befriedung anomischer Verhältnisse. Normative Philosophie und empirische Sozialwissenschaft bilden hier noch eine spannungsgeladene Einheit. Im vorliegenden Absatz referiere ich die Argumentation von Stemmer 2013, 2ff. Vgl. Hoerster 2003,42. Vgl. Hart 1973,266-275.

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2) Der kontraktualistische Diskurs changiert zwischen Vertragsempirismus und Vertragsfiktionalismus 6, d.h. er unterstellt die (einstige oder gegenwärtige) empirische Realität der naturzuständlichen Bedingungen und ihrer einvernehmlichen Modifikation in politische, oder er führt eine legitimationstheoretische Fiktion ein, die ausmalt, was passieren würde, wenn Menschen staatlicher Herrschaft entbehren müssten und was diese Menschen vernünftigerweise tun würden, um diesen Zustand zu verlassen, wenn man sie denn fragen würde. Der Vertragsfiktionalismus antwortet, wie zu zeigen sein wird, auf die legitimationstheoretischen Aporien des Vertragsempirismus, allerdings mit dem Ergebnis der "Devoluntarisierung" (Kersting 1994,209) und damit Depotenzierung des Vertrags gedankens selbst. 7 3) Moderne Vertrags theorien haben spezifische historische Bedingungen. Es ist kein Zufall, dass sie im England des 17. Jahrhunderts entstehen, einem Land, das sich anschickt, das erste kapitalistische Land der Welt zu werden und das neben einem langjährigen Bürgerkrieg durch die radikale Loslösung der Individuen aus feudalen und ständischen Bindungen sowie ihre Freisetzung als prekäre Marktsubjekte gekennzeichnet ist. Diese Prozesse gewaltförmiger Enttraditionalisierung und Individualisierung werden theoretisch in Gestalt einer ideologischen Überhöhung dieses von Gemeinschaftsbindungen freigesetzten Marktakteurs zum natürlichen Menschen überhaupt verarbeitet, also durch die Enthistorisierung einer historisch spezifischen Individualitätsform zum legitimationstheoretischen Fundament. 8 Die universalistischen und rechte-egalitaristischen Kategorien des Kontraktualismus handeln sich damit historische, klassenspezifische, koloniale und patriarchale Partikularismen ein, die in marxistischen 9, feministischen 10, kommunitaristischenIl und postkolonialen Theorien 12 kritisiert wurden. Allerdings besteht dabei die Gefahr, zu übersehen, dass erstens der universalistische Gehalt des Kontraktualismus und seines rechtfertigungstheoretischen Individualismus nicht in diesen Partikularismen aufgeht (der Mensch der Naturzustandskonstruktionen ist eben keinesfalls nur der moderne männliche Besitzbürger und weiße Imperialist) und zweitens damit auf anthropologische Systemprobleme und universalistisch begründbare Ansprüche des Individuums reflektiert wird, ohne die menschenrechtliche Argumentationen in Zeiten kollektivistischer Regressionsphänomene (in Gestalt von Faschismus, Stalinismus, Antisemitismus, Islamismus oder postmodernem Kulturrelativismus) in der Luft hängen. Die Gefahr ideologiekritisch-verdachtshermeneutischer Zugänge besteht also in einer zur Enthistorisierung des Bürgers komplementären falschen Historisierung des Menschen zum männlichen, weißen Besitzbürger und damit in der voll-

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Vgl. dazu Kersting 1994, 32ff. Er benutzt die Unterscheidung Vertragsempirismus und Vertragsapriorismus. V gl. Kersting 1994, 31. Vgl. Macpherson 1980. Vgl. u.a. Tuschling 1978, Teil II. Vgl. u.a. Pateman 1988. Vgl. u.a. Taylor 1995. Vgl. u.a. Hall 1994, TeilS.

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ständigen Depotenzierung kulturübergreifender individueller Bedürfnisse als Legitimationsbasis für kollektive Verpflichtungen. 13 2. Die Begründung des modernen Kontraktualismus 2.1 Rationale Konstruktion absoluter Souveränität: Thomas Hobbes 14 Der moderne Kontraktualismus wird von Thomas Hobbes begründet. Vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs und der Entstehung des Kapitalismus in England erscheint Hobbes die soziale Ordnung als Konstruktionsproblem und nicht mehr als selbstverständliche Voraussetzung.

Ambivalenz des Ausgangspunkts der Staatskonstruktion Der Mensch des Naturzustands ist der aus allen vorgegebenen moralischen und Sinnkontexten freigesetzte Einzelne, der "proletarian of creation". (Strauss 2001 b, 145) Die Menschheit als Menge primär dissoziierter Individuen ist Ergebnis der analytischen Abstraktion Hobbes' von allen staatlichen Zuständen, die damit eine Problemsituation freilegt, aus der wiederum synthetisch der Staat als in seiner N otwendigkeit begriffene und legitimierte Problemlösungsinstanz rekonstruiert werden soll.15 Der Hobbes'sche Begriff des Menschen ist ein (nicht als solches ausgewiesenes) Konglomerat aus anthropologischen Bestimmungen und historischspezifischen Individualitätsformen: Auf der einen Seite steht der quälbare, angsterfüllte Körper als Ausgangspunkt der Staatskonstruktion: Hobbes' mechanischer Naturbegriff verabschiedet das aristotelisch-christliche Weltbild einer von objektiven Normen durchtränkten, teleologisch strukturierten und nach dem Vergeltungsprinzip funktionierenden Natur zugunsten eines reduktiven Materialismus, der das Universum als Ansammlung von Körpern in Bewegung betrachtet. Den menschlichen Körper leitet ein hedonistisches Handlungsprinzip (Lust suchen, Schmerz meiden), das aufgrund der sprachvermittelten Antizipationsfähigkeit dieses Körpers die Furcht vor dem gewaltsamen Tod als größtes Übel einsetzt. In diesen Körper werden allerdings auf der anderen Seite elementare Prinzipien einer historisch spezifischen kapitalistischen Akkumulationslogik (Anhäufung und Re-Investition von Kapital, um in der Konkurrenz bestehen zu können) projiziert: Hobbes begreift den Menschen als Wesen, das Macht - bestimmt als Mittel zur Aneignung von Güternanstrebt, die wiederum als Mittel zur Erlangung weiterer Macht dient und zwar von mehr Macht als andere besitzen. 16 Das Machtstreben ist damit kompetitiv und prinzipiell maßlos. Das Leben des Menschen ist ein "Wettrennen", dessen einziges Ziel es ist, "an erster Stelle zu stehen. [... ] Und das Rennen aufgeben heißt sterben". (Hobbes 1976, 76f.)

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Vgl. Tugendhat 2009, 66, 71. Zu Konzepten kulturübergreifender Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnisse vgl. deskriptiv Chibber 2018, Kap. 8., normativ Nussbaum 2010, 45-49. Zu den Abschnitten über Hobbes, Locke und Kant vgl. ausführlich: EIbe 2015. Vgl. u.a. Kersting 1994, 62f. V gl. Hobbes 1999,66; 1994a, 24; 1976,65.

Legitimation und Sozialtechnologie

Der von Knappheit, Misstrauen und maßlosem Steigerungswettbewerb im Überlebenskampf der Körper geprägte Naturzustand ist einerseits legitimationstheoretisches Konstrukt - er gibt die Situation an, unter der eine wechselseitige Freiheitsbeschränkung als vernünftig erscheint -, andererseits empirische Diagnose und Prognose und zwar als den politischen Gemeinwesen stets drohende Möglichkeit von Bürgerkriegen sowie stets präsente, zur Lösung aufgegebene Problemsituation des modernen Staates. Denn die menschliche Wolfs-Natur, d.h. der soziale Antagonismus, ändert sich Hobbes zufolge im Staat nicht, er wird nur eingehegt und muss permanent eingehegt werden. 17 Hobbes formuliert im Leviathan den Anspruch, dass "lange nachdem die Menschen begonnen hatten, unvollkommene, zum Rückfall in Unordnung neigende Staaten zu errichten, durch eifriges Nachdenken Vernunftsprinzipien ausfindig gemacht werden [müssen], um ihre Verfassung dauerhaft zu machen". (Hobbes 1999, 256) Da für Hobbes jede hinsichtlich des Friedensziels wirksame Regierung legitim, d.h. kontraktualistisch interpretierbar ist, ist seine Legitimitätsanalyse immer identisch mit der Untersuchung der Stabilitätsbedingungen von Gemeinwesen, woraus optimierende Ratschläge für wirkliche Staatswesen hervorgehen: Ziel ist die Angabe von "sicheren Regeln" für die "Kunst, Staaten zu schaffen und zu erhalten". (162) 18 Hobbes' Kontraktualismus glaubt, dass "die Einsicht in die rationalen Gründe staatlicher Existenz die Bürger zu einem gesetzestreuen Verhalten motivieren könnte, dass sich also der rationale Grund der Staatsentstehung in eine rationale U rsache der Staatserhaltung ummünzen ließe." (Kersting 2002, 196f.) Schließlich ist der Naturzustand auch zwischenstaatliche Realitit't. Hobbes geht unhinterfragt vom bestehenden Staaten-Pluriversum aus, obwohl seine Prämissen dies nicht hergeben: Der Mensch, nicht der Engländer, Franzose etc., ist die Deduktionsbasis seiner Staatskonstruktion. Aporie des Gesellschaftsvertrags

Das Naturrecht der Körper im Naturzustand bedeutet bei Hobbes lediglich die faktisch gegebene Bedürftigkeit und Fähigkeit zur Selbsterhaltung - ein ,Recht' aller auf alle und alles, was beliebt und zu erlangen ist -, es weist im Gegensatz zur naturrechtlichen Tradition keinerlei normativ definierte Grenze oder juridischen Gehalt auf. Das Leben unter diesen Bedingungen wäre "armselig, ekelhaft, tierisch und kurz". (Hobbes 1999, 97) Unter der Bedingung angestrebter individueller Selbsterhaltung und der Tatsache, dass die Menschen füreinander eine reale Gefahr darstellen (Bedrohungssymmetrie), wird so die wechselseitige Unterlassung von Tötung und Versklavung zum Mittel individueller Sicherheit und Nutzenmaximierung. Im Gegensatz zum rein auf Macht und natürliche Bedürfnisse reduzierbaren ,Naturrecht' (natural right) ist das ,Gesetz der Natur' (law of nature) ein Set klugheitsbasierter Unterlassungs- und Kooperationsregeln. Die Akteure praktizieren "Sclbstbeschränkung [... ] mit dem Ziel [... ] , dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen". 17 18

Vgl. Weiß 1980, 139f., 231. Vgl. Euchner 1979,207.

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(131) Die natürlichen Gesetze sind hypothetische Imperative, die nur unter bestimmten Bedingungen gelten, wie bereits die Formulierungen der drei wichtigsten verraten: "Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht". (99) "Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten". (100) "Abgeschlossene Verträge sind zu halten [... ], aber auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Verträge [sind] ungültig, wenn [... ] eine der bei den Parteien die Nichterfüllung befürchtet". (110) Zwar sind den Akteuren diese Regeln durchaus gegenwärtig, im Naturzustand ist ihre Befolgung aber nicht möglich, da stets die Wahrscheinlichkeit besteht, dass andere die Option des Trittbrettfahrens wählen, also Kooperationsopfer vermeiden: Für A besteht keinerlei Sicherheit, dass beim Niederlegen der Waffen auch B die Waffen niederlegt. Eine Korrektur des Verhaltens ist nicht möglich, da der eigene Tod die Folge sein könnte. Die Selbstbeschränkung muss demnach die Form einer erzwingbaren Kooperationsordnung annehmen: Die Gesetze der Natur müssen von einer Instanz durch Androhung von Zwang in Geltung gesetzt werden, die unmittelbaren Kosten für Nichtkooperation müssen höher sein als deren Nutzen. Diese Instanz wird durch den "Vertrag eines jeden mit jedem" (134) errichtet, indem eine Person oder Personengruppe autorisiert wird, die Selbsterhaltungsbedingungen der Individuen verbindlich zu interpretieren und durch Zwangs androhung zu implementieren. Empirisch interpretiert verfängt sich dieser Gedanke in einer Aporie, denn Verträge, die nur auf gegenseitigem Vertrauen beruhen, sind Hobbes zufolge ungültig, solange Vertragsbruch befürchtet werden muss, was im Naturzustand stets der Fall ist. Das "Band der Worte" sei "viel zu schwach [... ] , um den Ehrgeiz, die Habgier, den Zorn und die anderen menschlichen Leidenschaften ohne die Furcht vor einer Zwangsgewalt zu zügeln". (105) Im Naturzustand ist die den Vertrag auszeichnende Reziprozitätsbedingung stets gefährdet, denn hier "gibt es [... ] nichts, was einem Friedensvertrag Kraft verleihen könnte". (108) Erst im Staatszustand, "wo eine Gewalt zu dem Zweck errichtet wurde, diejenigen zu zwingen, die andernfalls ihre Treuepflicht verletzen würden, ist eine solche Furcht nicht länger vernünftig, und deshalb ist derjenige, welcher aufgrund des Vertrags vorzuleisten hat, dazu verpflichtet". (105) Verträge sind also nur unter der Bedingung der Existenz eines Gewaltmonopols gültig, das aber durch den Gesellschaftsvertrag erst hervorgebracht werden soll. Dieser spezielle Vertrag muss also vor der Existenz seiner Geltungsbedingungen gültig sein. Der Vertrag könnte freilich auch als reine legitimationstheoretische Fiktion gelesen werden, wozu Hobbes' Theorie durchaus Material liefert. Der Staat als Ungeheuer - Souveriinitilt als Naturzustand zwischen Staat und Bürgern

Gesellschaftsvertragliehe Autorisierung begründet Souveränität, in der der Wille einer Person oder einer Gruppe die Kooperationsordnung repräsentiert. Nur durch die furchtbegründete und autorisierte Herrschaft des Souveräns ist die Koordination der Privatwillen zu gewährleisten, nur dann existiert ein gesellschaftliches Band. Diese Autorisierung konzipiert Hobbes als Selbstentmündigungsakt der Individuen: ihr Wille und ihre Kraft, ihr Recht auf alles werden im Akt einer "Schenkung" (Hobbes 1994b, 148) zugunsten eines vertragsunbeteiligten Dritten vollständig und

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irreversibel an die dadurch souveräne Instanz übertragen. 19 Damit entstehen staatskonstitutive Paradoxien: Der Staat ist inhaltlich zweckgebunden an die Aufgabe der Sicherung der individuellen Existenz eines jeden, kann diese aber durch seine Macht jederzeit gefährden, weil er nicht selbst wiederum rechtlich eingehegt ist - der Souverän ist höchstens ,funktional', nicht aber rechtlich auf den Staatszweck verpflichtet. 20 Zudem kann der Souverän nun verbindlich entscheiden, wann Selbsterhaltung gefährdet ist, welche Bedingungen sie hat, ja sogar, was ein Mensch ist, dessen Selbsterhaltung es zu schützen giltY Der Staat ist rational ausgehend von den konvergenten Interessen der Individuen konstruiert und legitimiert, kann von seiner Position aus aber willkürlich (höchstens durch faktische Bedingungen begrenzt) entscheiden, was rational ist: ,,[D] er Leviathan erlaubt es dem Leviathan, den Leviathan zu verbieten". (Ludwig 1998, 385) In seiner Ablehnung von Gewaltenteilung und Meinungspluralismus sowie seiner Bevorzugung der Monarchie vertraut Hobbes ganz und gar auf die sichtbare Hand des Staates als einziges soziales Band, was John Locke zu Folge hieße, "die Menschen für solche Narren zu halten, daß sie sich zwar bemühen, den Schaden zu verhüten, der ihnen durch Marder oder Füchse entstehen kann, aber glücklich sind, ja, es für Sicherheit halten, von Löwen verschlungen zu werden." (Locke 1998,258) Bei allen totalitären Tendenzen, die Hobbes' Leviathan aufweist, ist seine Idee absoluter Souveränität doch keineswegs auf eine spezielle Regierungsform reduzierbar, sondern zeigt fundamentale Probleme jeder modernen Staatlichkeit auf. Hobbes führt drei Argumente dafür an, dass Souveränität absolut sein muss: 1) Eine Interpretationshoheit der Bürger darüber, was eine angemessene Realisierung der Kooperations ordnung ist, würde einen Rückfall in den vorstaatlichen Zustand bedeuten und (künstliche) Verbindlichkeit des Staates durch (natürlichen) Relativismus und Subjektivismus ersetzen. 2) Eine Selbstverpflichtung des Souveräns ist nicht möglich, "denn wer verpflichten kann, kann die Verpflichtung aufheben, und deshalb ist einer, der nur gegen sich selbst verpflichtet ist, nicht verpflichtet". (Hobbes 1999,204) 3) Eine rechtliche Bindung des Souveräns würde einen infiniten Regress der Souveräne mit sich bringen. Die These der konstitutionellen Bindung des Gewaltmonopolisten stellt mit dem Gesetz "auch einen Richter und eine Gewalt zu seiner Bestrafung über ihn, was die Schaffung eines neuen Souveräns und aus demselben Grund wieder die Schaffung eines dritten zur Bestrafung des zweiten bedeutet, und so endlos weiter". (248) 2.2 Liberaler und empiristischer Kontraktualismus: John Locke Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689) stellen das zweite Gründungsdokument des modernen Kontraktualismus dar. Die Abhandlungen entstanden im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die englische Thronnachfolge und dem Kampf zwischen absolutistischen Tendenzen auf der einen Seite und der liberalen Bewegung für die Konstitutionalisierung der Herrschaft als Siche19

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Zum inkonsistenten Topos des Rechtsvorbehalts bei Hobbes vgl. Hüning 2005. V gl. Kersting 1994,97. Vgl. Hobbes 1994b, 287.

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rung von ,Liberty and Property' auf der anderen. Es ist daher kein Zufall, dass Locke den besitzindividualistischen Ausgangspunkt der kontraktualistischen Staatslegitimation radikal ausformuliert und versucht, die Paradoxien der Hobbes'schen Staats konstruktion durch menschenrechtliche Fundierung, Modifikation des Vertragsgedankens und innerstaatliche Gewaltenteilung abzumildern. Menschenrechte ohne Vertrag

Im als empirische Hypothese verstandenen Naturzustand treten sich am eigenen Überleben und Glück interessierte Individuen gegenüber, deren legitime Handlungsoptionen durch ein schöpfungstheologisch fundiertes Naturrecht eines jeden auf Leben, Freiheit und Privateigentum begrenzt sind. Das Privateigentum gilt als vorsoziales Recht: Indem isolierte Akteure, denen Locke ein ursprüngliches Eigentum an ihren Kräften, Willen und Fähigkeiten attestiert, sich die Natur aneignen, vermischen sie diese rechtspersonale Substanz durch ihre Arbeit mit äußeren Gütern und fügen diesen etwas (rechtlich) ,Eigenes' hinzu, das den Zugriff aller anderen auf diese Güter ausschließt. 22 Arbeit wird von Locke begründungslos von vornherein als isolierte Privatproduktion verstanden, der aber zunächst enge Grenzen einer gebrauchswertorientierten Ökonomie gesetzt sind (artikuliert in Gestalt von Aneignungsschranken). Im Zuge der Entwicklung des Naturzustands wird aber durch die konventionelle Einführung des Geldes ein unverderbliches, Nutzen symbolisierendes Gut erschaffen, das gegen alle anderen eintauschbar ist, was unbegrenzte Akkumulation ermöglicht. Die Aussicht auf monetären Gewinn soll nun den Fleiß der Produzenten anspornen und zur Steigerung des Reichtums an intrinsisch wertvollen Dingen beitragen. Im Zuge dieser Anreiztheorie wird auch eine Arbeitsleidtheorie des Reichtums artikuliert ("daß die Arbeit den weitaus größten Anteil des Wertes der Dinge ausmacht" (Locke 1998,226)). Soziale Ungleichheit zwischen Eigentümern an Produktionsmitteln (Boden) und bloßen Selbsteigentümern ohne Produktionsmittel, entsteht Locke zufolge aus dem Unterschied des Fleißes. Im Naturzustand lässt die gleiche Freiheit (verstanden als Abwesenheit persönlicher Abhängigkeit) für natürliche Herrschaftsrechte keinen Raum. So gilt Locke auch die "eheliche Gesellschaft" als durch "einen freiwilligen Vertrag zwischen Mann und Frau" (248) entstanden. Allerdings bildet der Zweck der Gattungsreproduktion und Eigentumsvererbung das vorgegebene Vertragsziel. Lediglich die vorübergehende Verstandesdefizienz von Kindern begründet ein natürliches, aber an die Fürsorgepflicht gebundenes und mit der Volljährigkeit endendes Herrschaftsrecht - die väterliche Gewalt. Obwohl Locke den Naturzustand zunächst als friedlichen und rationalen zeichnet, identifiziert er hier aus der egoistischen Menschennatur fließende Konfliktpotentiale, die dazu führen, dass das gleiche Naturrecht der Eigentümer ihnen durch eine von ihnen selbst durch einen Gesellschaftsvertrag geschaffene Instanz aufgezwungen werden muss, die über das Rechtssetzungs-, auslegungs- und -anwendungs monopol verfügt.

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Zur Kritik an Lackes Arbeitsthearie vgl. Brocker 1992,354-387, Eibe 2015,99-109.

Vertragsempirismus und Treuhiinderschaft Lockes Vertrags empirismus geht von wirklichen Staats- und Beitrittsverträgen der Einzelnen aus,23 durch die sie sich freiwillig zu bestimmten Handlungen und Unterlassungen verpflichten. Daher kann ihm zufolge ein Gesellschaftsvertrag, der von einer Generation eingegangen worden ist, die folgende, sobald sie erwachsen ist, nicht verpflichten: ,,[E]in jeder steht unter der Verpflichtung aller Verbindlichkeiten und Versprechen, die er für sich selber eingegangen ist, aber er kann durch keinerlei Vertrag seine Kinder oder Nachkommen binden". (274) Nach dem historischen Gründungsvertrag gebe jeder seine Zustimmung der Zugehörigkeit zu einem bestehenden Gemeinwesen "einzeln für sich". (274) Dadurch werde dieser Beitrittsakt oft übersehen und als inexistent behauptet. Allerdings sei "zu erwägen, was als eine hinreichende Erwägung der Zustimmung eines Menschen verstanden werden soll". Im Gegensatz zur "ausdriickliche!nJ Zustimmung", die selten anzutreffen ist, erweist sich die "stillschweigende! ... ]" (275) als problematisch: Zeichen stillschweigender Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag seien vor allem (Grund-)Besitz und Aufenthalt auf dem Staats territorium. Die ausdrückliche Zustimmung verpflichte dabei "auf ewig und unwiderruflich" (277) zur Staatsbürgerschaft, während stillschweigende durch Aufgabe ihrer Anzeichen zurückgenommen werden könne. Durch stillschweigende Zustimmung kann man nach Locke allerdings kein Mitglied eines Staatswesens werden, sie begründe lediglich ein Gastrecht. Der Hobbes'sche Zirkel des Vertragsempirismus bleibt hier bestehen, denn die vernünftige Kooperationsleistung der Individuen, die den Staat begründen soll, kann nur unter staatlichen Bedingungen Wirklichkeit erlangen, da die Menschen Locke zufolge zu parteilich und egoistisch sind, um eine naturzuständliche Einigkeit über die Reichweite der individuellen Freiheitsräume und ihrer Sicherung zu erzielen.

Rechtsstaat des Eigentums Der als empirisches Faktum verstandene Gesellschaftsvertrag konstituiere legitime Herrschaft, die allerdings nur Treuhänderin der Naturrechte ist und damit rechtsstaatlich limitiert sein soll. Das bedeutet allerdings nicht, dass es ein unbedingtes Recht auf Leben gäbe. Bereits im Naturzustand erachtet Locke die Todesstrafe für Eigentumsdelikte als legitim (211); im staatlichen Zustand kann der einzelne jederzeit im Zuge des Krieges für den Erhalt der Eigentumsordnung geopfert werden (289). Primär ist also das Privateigentum. Der Staat wird in legislative und exekutive Gewalt (darunter Rechtsprechung, föderative außenpolitische Gewalt und Prärogative) unterteilt. Die "Schwäche der menschlichen Natur, die stets bereit ist, nach der Macht zu greifen" (291), erfordere eine Teilung der legislativen und der exekutiven Gewalt. Diejenigen, die die Gesetze beschließen, seien ihrer Ausführung unterworfen, die Ausführenden wiederum den Gesetzen verpflichtet. Innerhalb der konstituierten Gewalten des Staates komme der Legislative im Regelfall, der Prärogative im Ausnahmefall der Vorrang zu. Alle Gewalten seien aber natur- und positivrechtlich gebunden. Auch die Staatsräson des Fürsten, die im Ausnahmezustand gegen das 23

Vgl. Locke 1998, §§101-122.

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Gesetz zugunsten des öffentlichen Wohls handeln soll, stelle lediglich einen Teil der vom Volk überantworteten Gewalt dar. Generell bestehe damit Herrschaft des Gesetzes. Im Zweifelsfall dauerhaften und schweren Missbrauchs der Macht existiere für das Volk ein Recht auf Widerstand. Damit bleibt das Volk bei Locke als konstituierende Gewalt der Souverän, wobei das Recht, in der konstituierten Gewalt der Legislative vertreten zu werden, jedem "Teil des Volkes [...] lediglich im Verhältnis zu dem Beistand [... ], den er der Öffentlichkeit leistet" (300), zustehe (Zensuswahlrecht). 3. Modifikationen des Kontraktualismus im 18. Jahrhundert Die Entwicklung des modernen Kontraktualismus ist durch fundamentale Selbstkritiken gekennzeichnet. Selbstkritiken, weil dabei nicht auf eine traditionalistische und kollektivistische Begründungsstrategie zurückgegriffen wird, wie im Konservatismus, sondern Herrschaft sich immer noch vor dem Individuum rechtfertigen muss: Zum einen werden die begründungstheoretischen Aporien des Vertragskonzepts durch eine De-Voluntarisierung des Vertrags gedankens gelöst - statt freier Willkürakte werden bei David Hume und Immanuel Kant Interesse oder Vernunft zum Geltungsgrund staatlicher Verpflichtung. Zum anderen werden von JeanJacques Rousseau die anachronistischen Projektionen des modernen Menschen in den Naturzustand einer Kritik unterzogen, die demokratietheoretischen Defizite des bisherigen Herrschaftsmodells thematisiert und die klassenspezifische Kehrseite des formal rechte-egalitaristischen Kontraktualismus entlarvt. 3.1 Klugheitstheoretischer Kontraktualismus: David Hume Hume kritisiert die legitimations theoretische Schwäche des Vertragsempirismus und arbeitet die obligationstheoretische Aporie des Vertragsgedankens heraus, allerdings ohne zentrale Motive des Kontraktualismus aufzugeben. Die Unbrauchbarkeit der stillschweigenden Zustimmung

Zunächst argumentiert er im Jahr 1748 gegen Lockes Idee stillschweigender Verträge: Die Annahme solcher Verträge setze eine Entscheidungsfreiheit voraus, die meist nicht bestehe, weil der Gedanke, Herrschaft und Regierung stünden überhaupt zur Disposition der Untertanen, in der Regel nicht vorhanden sei. Hume konstatiert, "daß wortlose Zustimmung nur dort gegeben werden kann, wo zunächst die Vorstellung bestand, die Sache sei der eigenen Entscheidung überlassen". Da aber die Mehrheit der Menschen "an eine angeborene Pflicht zur Loyalität zu einem bestimmten Fürsten oder einer bestimmten Form der Regierung glaubt", sei diese Voraussetzung nicht gegeben. (Hume 1988, 311) Zudem seien die Freiwilligkeitsbedingungen für Residenz als Zeichen stillschweigender Zustimmung nicht vorhanden: "Können wir allen Ernstes behaupten", so Hume, "daß ein armer Bauer oder Handwerker, die freie Wahl hat, sein Land zu verlassen, wenn er keine Fremdsprache spricht oder Umgangsformen kennt und Tag für Tag von seinem geringen Lohn lebt? Wir könnten ebenso gut behaupten, daß ein Mann durch seinen Aufenthalt auf einem Schiff die Herrschaft des Kapitäns freiwillig anerkennt, obwohl er im

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Schlaf an Bord getragen wurde und ins Meer springen und untergehen müsste, wenn er das Schiff verlassen wollte." (311) Schließlich errichteten Staaten sogar nicht selten Einschränkungen der Freizügigkeit, also Residenzpflicht, um ihre "Entvölkerung" zu verhindern. (312) Interesse statt Vertrag

Hume stellt in seinem Traktat über die menschliche Natur (1739/40) zudem die verpflichtungstheoretische Tauglichkeit des Vertrags gedankens in Frage: Die ,Übereinkunft', die die Basis für legitime Herrschaft ist, stellt ihm zufolge weder einen Vertrag noch ein Versprechen dar. Die Begründung von Unterlassungsnormen (z.B. des Eigentumsrechts), liege im allgemeinen Wissen um den individuellen Vorteil dieser Unterlassung, wobei die Reziprozität der Unterlassung Geltungsbedingung dieser Norm sei: Der andere hat nur dann ein Motiv, meine Güter unangetastet zu lassen, wenn ich seine Güter nicht ohne seine Zustimmung aneigne. 24 Eine solche Übereinkunft ist für Hume deshalb kein Versprechen, weil solche vielmehr selbst auf einer, Übereinkunft' im oben genannten Sinne beruhen: Er nennt "Versprechen menschliche Erfindungen [... ], die sich auf die Bedürfnisse und Interessen der Gesellschaft gründen" (Hume 1978,266), und wenn das Wissen um den Vorteil der Unterlassungs regel "wechselseitig kundgegeben" werde, sei das "Zwischenglied eines Versprechens [... ] nicht erforderlich." (233) Hume schält damit den klugheitstheoretischen Kern des Kontraktualismus heraus, verzichtet aber auf die vertragstheoretische Hülle: Eine künstliche, zwangsbewehrte Kooperationsordnung wird direkt aus dem konvergenten Interesse aller an ihrem individuellen Nutzen hergeleitet. Der Kontraktualismus beschreite den überflüssigen Umweg, die Verpflichtung zur staatsbürgerlichen Loyalität aus der Verpflichtung zur Vertragstreue herzuleiten. Doch wenn der Kontraktualist gefragt würde, "warum man sein Wort halten" solle, so käme er "in Verlegenheit" und gebe schließlich dieselbe Antwort wie H urne: "Eure einzige Antwort darauf hätte [... ] sofort und ohne jeden Umweg unsere Verpflichtung zu Loyalität begründet" (Hume 1988, 318), d.h. man benötige jenseits von Klugheitserwägungen nicht noch einmal einen Vertrag, um die Vertragstreue zu begründen. Humes Kritik erweist sich damit als Variante des Zirkularitätsoder Regresseinwandes gegen den Kontraktualismus: Wenn A und B einen Vertrag schließen, der die wechselseitige Einhaltung bestimmter Normen zum Inhalt hat, so ist die primäre Verpflichtung, Verträge zu halten, vorausgesetzt, um diese sekundären Verpflichtungen zu generieren. Soll diese primäre Verpflichtung wieder durch Vertrag generiert werden, so verschiebt sich das Problem nur in einen infiniten Regress - die Verpflichtung, Verträge einzuhalten, ist nicht vertraglich hervorzubringen. Eine rein immanente Generierung von Verpflichtungen, ohne die Geltung von Normen jenseits vertraglicher Zustimmung vorauszusetzen, ist also nicht möglich. 25 Der Hinweis auf das Versprechen, Verträge zu halten, reproduziert lediglich die Problematik, da nun die Pflicht, Versprechen zu halten, vorausgesetzt werden muss.

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Vgl. Hume 1978,233. Vgl. Stemmer 2013,4.

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Das Naturrecht als Basis legitimer Rechtsordnungen, ist Hume zufolge eine "eine Erfindung [, die] sich aufdrängt". (Hume 1978, 227) Die drei "Grundgesetze des Naturrechtes" (274) (Sicherheit des Besitzes; Eigentumsübertragung durch Zustimmung; Einhalten von Versprechen) sind Lösungsformen humanspezifischer Mängel und Vergesellschaftungsprobleme: All diese Regeln wurden aus der Nützlichkeit der gesellschaftlichen Kooperation für das Individuum und der Nützlichkeit dieser Regeln für die Kooperation abgeleitet. Obwohl Hume damit Herrschaftslegitimation vollständig von vertraglichen Bindungswirkungen unabhängig macht, bewahrt er Grundelemente kontraktualistischer Norm- und Rechtsbegründung: 1) Die Immanenz der Rechtsordnung: sie ist menschengemacht, "nicht etwas durch die Natur oder transzendente Mächte Vorgegebenes" (Stemmer 2013,2); 2) das individualistische Legitimitätskriterium: Nur solche Normordnungen gelten als legitim (also nicht bloß gewaltsam nötigend), die als aus einem Vertrag hervorgehend gedeutet werden können; 3) die Interessebasiertheit rechtlich-staatlicher Verpflichtung: Unterlassungs regeln können als aus einem Vertrag hervorgehend gedeutet werden, wenn ihre Befolgung als im individuellen Eigeninteresse eines jeden liegend verstanden werden kann. Die wechselseitige Befolgung von Unterlassungsregeln generiert für jeden einen Vorteil, der ohne diese Befolgung nicht zu haben wäre; 4) die Erklärung von Fremd- aus Selbstverpjlichtung: mir auferlegte Gesetze werden damit als selbstauferlegte gedeutet. 26 3.2 Sozialkritischer und Rousseau

republikanischer Kontraktualismus: J ean-Jacques

Rousseau hat in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) sowie im Gesellschaftsvertrag (1762) eine sozialkri~sche und demokratietheoretische Umwälzung kontraktualistischer Motive vorgenommen. Die Klassenspezifik des Gesellschaftsvertrags Rousseaus Abhandlung ist eine kulturkritische Erzählung, die mit dem für dieses Genre stilbildenden Dreischritt ,Goldenes Zeitalter', fortschrittskritische ,Verfallsgeschichte' sowie ,pessimistische Zukunftsdiagnose' arbeitet. 27 Der methodische Status des Naturzustands ist schillernd: er fungiert als normative Kritikfolie für die Gegenwart ebenso wie als "Hypothese mit empirischen Begründungselementen aus der Ethnologie und der Biologie". (Bollenbeck 2007,51) Die Verfallsgeschichte geht von dem autarken und weitgehend isoliert lebenden Naturzustandsbewohner aus, dessen einfache Bedürfnisse von der Natur gedeckt werden und der nur punktuelle sexuelle Kontakte ohne jegliche Sippenbildung pflegt. Aufgrund der humanspezifischen Perfektibilitätsanlage, der Entwicklung von Arbeits-, Urteils- und Vergleichsfähigkeit vor dem Hintergrund feindlich werdender Naturbedingungen und vor allem der Entstehung eines das Naturrecht brechenden und positivrechtlich ungeschützten Privatbesitzes, wird der Mensch allmählich vergesellschaftet, was kompe26 27

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So argumentiert Stemmer 2013, 3,18. Vgl. Rousseau 2005, 34, Bollenbeck 2007.

titive Selbstliebe, Neid und brutalen Kampf um Besitzanteile bedeutet. Der "Kriegszustand" zwischen den (Land-)Besitzenden und den Besitzlosen, die gezwungen sind, sich zu verdingen oder durch Raub ihr Leben zu fristen, lässt das "Recht des Stärkeren" zwischen den "Usurpationen der Reichen" und den "Raubtaten der Armen" entscheiden. (Rousseau 2005, 90) Der Kriegszustand eines jeden gegen jeden ist für Rousseau Endpunkt dieser Entwicklung, nicht Ausdruck einer ursprünglichen Menschennatur. Er kritisiert Hobbes' (und Lockes) Anthropologisierung des modernen Besitzindividualisten und führt damit eine historisierende Perspektive in den Kontraktualismus ein: "Ein oberflächlicher Philosoph beobachtet Seelen, die hundertfach im Sauerteig der Gesellschaft geknetet und fermentiert sind, und glaubt, den Menschen beobachtet zu haben. [... ] Sie wissen durchaus, was ein Bürger von London oder Paris ist, aber was ein Mensch ist, werden sie nie begreifen." (Rousseau 1981 b, 418) Allerdings ist auch für Rousseau die einmal gefallene Menschennatur nicht mehr revidierbar und sind daher Privateigentum und bürgerliche Gesellschaft alternativlos. Dennoch kritisiert er die illegitime Form einer gesellschaftsvertraglichen Beendigung des Kriegszustands durch bloße formalrechtliche gleiche Freiheitsgarantien: Die Reichen erkannten, dass der Kriegszustand für sie maximal unvorteilhaft war, da "die Gefahr für das Leben allen gemeinsam war, während die für Hab und Gut allein die ihre war." (Rousseau 2005, 90) Unter diesen Bedingungen ersannen sie Rousseau zufolge einen auf betrügerischen "Scheingründe [n]" basierenden Gesellschaftsvertrag mit dem Inhalt, "jedem den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört" und zwar "ohne Ansehen der Person". (92) Die bisherige ungleiche, durch usurpatorische Gewalt hervorgebrachte Eigentumsordnung, die eine klassenspezifische Ungleichheit der Verfügung über Produktionsmittel (Bodenbesitzer vs. Besitzer von nichts als Arbeitskraft) implizierte, werde durch ein das Privateigentum schlechthin und die Sicherheit der Eigentümer garantierendes, d.h. mittels abstrakt-allgemeiner Gesetze herrschendes Zwangsmonopol festgeschrieben. Dieses lege "das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit für immer fest [...] ", mache "aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht" und unterwerfe "für den Gewinn einiger Ehrgeiziger fortan das gesamte Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend". (93) Die Gleichbehandlung aller reproduziert so die ungleichen sozialen Ausgangsbedingungen. Der formalrechtliche Gesellschaftsvertrag konstituiert eine ,betrügerische' Rechtsgleichheit in Form einer Positivierung der Ergebnisse des Kriegszustands, indem er die Verteilung der Produktionsmittel nicht zu den zustimmungsbedürftigen Vertrags in halten zählt. Rousseau kritisiert damit die sozialer Ungleichheit gegenüber indifferenten Vertragstheorien und führt die soziale Frage als Legitimitätsbedingung28 in den modernen Kontraktualismus ein.

Demokratietheoretische Erweiterung des Vertragsgedankens Im Gesellschaftsvertrag versucht Rousseau, seine bisherige Kritik des KontraktuaIismus in den positiven normativen Entwurf einer rechtlichen Ordnung zu überführen. Eigentumstheoretisch bedeutet dies, dass sozioökonomische Homogenität an28

Vgl. Kersting 1994,44,46,146-152.

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gestrebt werden muss, um den Vertrag moralisch legitim und für einen jeden klugheitstheoretisch sinnvoll erscheinen zu lassen: "In Wirklichkeit sind die Gesetze immer denen nützlich, die etwas besitzen, und schaden denen, die nichts haben. Daraus folgt, daß der gesellschaftliche Zustand für die Menschen nur in dem Maße von Vorteil ist, in dem alle etwas und keiner von ihnen zuviel hat." (Rousseau 1981 a, 287) Dies bedeutet klassentheoretisch eine kleinbürgerliche Eigentumsstruktur ohne Lohnarbeit, nämlich "daß kein Bürger so reich sein sollte, um einen anderen kaufen zu können, und niemand so arm, daß er gezwungen wäre, sich zu verkaufen." (311) Symmetrische Eigentumsverhältnisse sind aber nicht nur eine legitimationstheoretische Voraussetzung für die Gültigkeit des Gesellschaftsvertrags, sie sind zugleich entscheidende Bedingungen für eine gemeinwohlverträgliche Willensbildung im staatlichen Zustand selbst. Dies führt zur zweiten Innovation Rousseaus - die legitimitätsstiftende Allgemeinheit des staatsbegründenden Zustimmungsaktes wird nun in die Regierungsweise des Rechtsstaats selbst hinein verlängert. Die kontraktualistische Identität von Normautor und Normadressat nimmt die Gestalt der Identität von Gesetzgebenden und Gesetzesunterworfenen an, legitime staatliche Verfahren müssen die Form der Selbstgesetzgebung haben. Die Selbstbestimmung des den Gesellschaftsvertrag schließenden Naturzustandsbewohners soll im Gesellschaftszustand bewahrt werden und hat daher die Form der unvertretbaren Teilhabe an der Hervorbringung von allgemeinverbindlichen, jeden gleichermaßen verpflichtenden Gesetzen: individuelle Autonomie des natürlichen Menschen kann im gesellschaftlichen Zustand nur als kollektive Autonomie mittels direktdemokratischer Verfahren bewahrt werden. Politische Freiheit ist Gehorsam gegenüber dem selbstgegebenen Gesetz, das auf die gleiche Freiheit eines jeden abzielt. Für Rousseau ist daher auch nur die republikanische Form der Gesetzgebung legitim. Der Gesellschaftsvertrag muss Rousseau zufolge ein freiheits bewahrender sein, weil der Vertrag seine normativen Ausgangsbedingungen, vor allem die Freiwilligkeit der Vertragsschließenden, erhalten müsse. Ansonsten könne von einer rechtlichen Bindung, die wechselseitige freiwillige Willensübereinstimmung impliziere, keine Rede mehr sein. Das Recht des Sklavenhalters wäre ein Recht nur ihm selbst gegenüber, da der Sklave und sein Wille ihm gehören - "ein Wort ohne jeden Sinn". (275?9 Nichtsdestotrotz ist der Contrat Social eine totale Abtretung der individuellen Rechte der Naturzustandsbewohner, die ihnen aber zugleich um die Kooperationsleistungen aller und den zwangsbewehrten Schutz vermehrt zurückerstattet werden. Diese Rechtsabtretung ist nicht, wie im Falle von Hobbes, ein Begünstigungsvertrag zugunsten eines vertragsunbeteiligten Dritten, sondern unterstellt strikt reziproke Bedingungen, die "für alle gleich" sind, "da sich jeder ganz gibt". (Rousseau 1981 a, 280) Der Vertrag konstituiere "augenblicklich" aus der unverbundenen Menge der Einzelwillen und Einzelkräfte einen souveränen "politische[n] Körper" mit einem Willen und einer Kraft, der "aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat" (281), also aus allen vertragsschließenden Individuen, die dadurch Staatsbürger geworden sind und als Gesamtheit ,Volk' genannt 29

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V gl. auch Kant 1998a, 39M.

werden. Dabei müsse jedes Individuum als Einheit von citoyen (vernünftiger Allgemeinheit) und bourgeois (egoistischer Partikularität) verstanden werden. Der Allgemeinheitstyp des einheitlichen Willens bleibt mehrdeutig, er schwankt zwischen der liberalen Konzeption konvergenter Eigeninteressen, dem partikularen Gemeinschaftethos von Patrioten und einer deliberativen Idee der "argumentative[n] Ermittlung [... ] konsens fähiger Interessen". (Kersting 1994,177) Auch das Verhältnis der von Rousseau etablierten Legitimitätsbedingungen von Gesetzen bleibt problematisch: Staatsrechtlich müssen Gesetze Resultate realer Volksversammlungsbeschlüsse sein, geltttngsttmJänglich müssen sie an alle ohne Ansehen der Person gerichtet sein, normativ müssen sie das allgemeine Wohl zum Inhalt haben. 30 Da Rousseau also den Voluntarismus vertragsempiristischer Normbegründung in die staatliche Gesetzgebung verlängert, aber zugleich behauptet, der allgemeine Wille (volonte generale) sei nicht einfach der Wille aller empirischen Subjekte (volonte de tous), so stellt sich die Frage, wie deren empirische Zustimmungsakte gemeinwohlförderliche, vernünftige Gesetze geben können. Rousseaus Antwort lautet: wenn diese Zustimmungsakte auf tugendhaften, vernünftigen Willen beruhen, die durch einen Versittlichungsprozess vernünftig gemacht wurden. Damit ist die Verbindung der Legitimitätsbedingungen "unter bestimmte, staatsrechtsexterne [ ... ] ethische Bedingungen gestellt". (Kersting 2002, 132) Das Problem, dass ein sittlich unreifes Volk trotz republikanischer Verfahren unsittliche Gesetze erlässt, führt zu dem Kunstgriff, einen informellen Gesetzgeber ("Legislateur") anzunehmen, der den formellen zur richtigen Gesetzgebung fähig machen soll. Informell ist der Legislateur, weil sich das Volk nicht der Kompetenz zur Gesetzgebung entledigen kann, ohne sich selbst zu versklaven. Da Rousseau das Rationalitätsdefizit des Volkes aber für eine Tatsache hält und diese Defizite darin bestehen, dass es unfähig ist, komplexe Argumente zu verstehen und kurzfristige Interessen zugunsten langfristiger Vorteile sowie sittlicher Entscheidungen zu opfern, kann der Legislateur nicht auf rationale Argumente zurückgreifen, um es zur Mündigkeit zu erziehen. Er kann "also weder Stärke noch Vernunftschlüsse anwenden", muss daher "notwendig auf eine Autorität anderer Art zurückgreifen, die ohne Gewalt mitzureißen vermag und zu überreden, ohne zu überzeugen." (Rousseau 1981a, 303) Diese Autorität sei die suggestiv und manipulativ eingesetzte Religion, die dazu diene, die eigene Weisheit des Legislateurs als die Gottes auszugeben, der unbedingt zu gehorchen sei. Der ethisch-politischen Autonomieforderung entspricht also eine "radikal heteronome Lösung" des Problems ihrer Realisierung (Kersting 2002, 167), die Verwirklichung der Aufklärung mit den Mitteln der Gegenaufklärung. 3.3 Vernunftrechtlicher Kontraktualismus: Kant Ebenso wie Hume macht auch Kant die Legitimitätsprüfung normativer Ordnungen von allen empirischen Zustimmungsakten unabhängig. Ebenso wie bei Hume ist der Vertrag bei Kant nur noch Anzeichen für das Vorliegen von guten Gründen. Anders als Hume vertraut Kant aber nicht der empirisch-praktischen Vernunft, sondern ra30

V gl. Kersting 2002, 159-160.

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dikalisiert den Anspruch auf universelle Gültigkeit moralisch-rechtlicher Normen, indem er den von Rousseau als volonte generale in die Regierungsweise des Staates verlängerten allgemeinen Zustimmungsakt vernunftrechtlich ausformuliert. Legitime moralisch-rechtliche Normen sind Kant zu folge daher allgemein nicht im Sinne bloß genereller Geltung; nicht im Sinne klugheitstheoretischer Interessenkonvergenz; nicht als Summe empirischer Willensakte und nicht als geteilte Sittlichkeit partikularer, nationaler Ordnungen. Die Legitimität einer staatlichen Ordnung beruhe nicht auf Zwang oder geteilten empirischen Präferenzen für bestimmte Grundgüter, sondern auf ihrer Übereinstimmung mit dem allgemeinen Rechtsgesetz, welches wiederum Anerkennung verlange, weil es die äußere Existenzform der inneren Selbstgesetzgebung durch reine praktische Vernunft sei.

Recht aus reiner praktischer Vernunft Die praktische Vernunft Kants besteht nicht in einem Set von Regeln zur Realisierung einer der Vernunft heteronom vorgegebenen Materie des Willens. Solche Regeln seien niemals universell gültig, weil sie von kontingenten Zwecksetzungen abhängig seien. Eine allgemeingültige Lebensführungsregel könne daher nicht aus dem Material des Willens, sondern nur aus der intelligiblen, gesetzgebenden Form des Willens selbst stammen, wobei absolute Willensfreiheit vorausgesetzt ist, da nur eine Willkür, die frei von jedem sinnlichen Antrieb bestimmbar ist, Kant zufolge durch die nichtempirische Form des Willens bestimmt werden kann. Das Sittengesetz als reine gesetzmäßige Form des Willens gebietet unbedingt, dass die Maxime des Willens "jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung" (Kant 1998b, 140) soll gelten können. Nichtverallgemeinerbare, d.h. bei ihrer Verallgemeinerung selbstwidersprüchliche Maximen gelten demnach als unmoralisch: "Kannst Du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? wo nicht, so ist sie verwerflich, und das [... ] nicht um eines dir, oder auch anderen, daraus bevorstehenden Nachteils willen". (Kant 1998c, 30) Kant umgeht damit das Problem einer klugheitstheoretischen Fundierung des Kontraktualismus, das darin besteht, aus konvergenten Motiven eigeninteressierter Akteure eine stabile, universell gültige, rechte-egalitäre Normordnung zu deduzieren, die Rücksicht auf einen jeden nimmt und nicht nur auf potentielle Kooperationspartner. 31 Freilich hat der kategorische Imperativ bereits bei Hegel die Kritik auf sich gezogen, aufgrund seines formalen Charakters als Normbegründungsfundament zu versagen. 32 Das allgemeine Rechtsgesetz ist nun die Anwendung des kategorischen Imperativs auf das äußere Handeln, dessen Regelung gemäß verallgemeinerungsfähiger Normen, ohne dass die Befolgung dieser Normen selbst das primäre Motiv sein muss. Während die ethische Gesetzgebung auf der freiwilligen Unterwerfung unter die Nötigung der praktischen Vernunft beruht, ist "die Art der Verpflichtung" in der juridischen Gesetzgebung eine andere, auch äußerliche. (Kant 1998a, 326) Das heißt, ich kann von anderen verpflichtet werden, allerdings nur dann, wenn diese 31

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Vgl. dazu Tugendhat 2010, 74-77. Zum sog. Ausschlussproblem vgl. auch Olbrich 2017, Kap. 11. V gl. Hegel1989, 253 sowie Hoerster 2003, 108-112.

Nötigung mit der Freiheit eines jeden vereinbar ist. In diesem Fall ist die "heteronorne Pflichterfüllungsmöglichkeit [ ... ] moralisch zulässig". (Kersting 2007, 140) Und so lautet das allgemeine Rechtsgesetz: ,,[H] andle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne" (Kant 1998a, 338), was Kant zufolge im Falle der Nichteinhaltung dieser Regel mit der Befugnis der Zwangsausübung einhergeht, die als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen legitim sei. Die Pflicht zum (Welt-)Staat

Allerdings diagnostiziert Kant ein Problem des wechselseitig kompatiblen Freiheitsgebrauchs im Naturzustand, vor allem hinsichtlich der Verfügung über Sachgüter 33 : Aufgrund des von Kant dogmatisch konfliktanthropologisch unterstellten Antagonismus der Willen und der subjektiven Interpretationsmöglichkeit der allgemeinen Rechtsprinzipien 34 ist die Errichtung eines Rechtssetzungs- und durchsetzungsmonopols erforderlich. Erst der Staat implementiere die realen Ge1tungsbedingungen des allgemeinen Rechtsgesetzes. Dabei sei der Gesellschaftsvertrag, der zum Staat führt, "keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig", sei nicht zeitlich ,uranfänglich', sondern geltungslogisch "ursprünglich [... ]" (Kant 1998d, 151), d.h. Geltungsgrund, "Probirstein der Rechtmäßigkeit" und "praktische Realität" staatlicher Gesetzgebung, weil er als Norm das gesetzgebende Handeln des Souveräns derart anleiten soll, "daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können". (153) Das allgemeine Rechtsgesetz wird damit in eine Prozedur zur Hervorbringung gerechter Gesetze transformiert. Auch Kant verlängert also den Gedanken des nichtempirisch verstandenen Gesellschaftsvertrags in die Gesetzgebungsweise des Staates hinein, anders als Rousseau entkoppelt er ihn aber vollständig von den empirischen Willensbekundungen der Bürger, womit Republikanismus in monarchischer Form möglich wird, wenn der empirische Wille des Fürsten vom allgemeinen Rechtsgesetz geleitet wird - eine Als-ob-Demokratie. 3; Trotz der vernunftrechtlichen Bindung des Souveräns an verallgemeinerbare Rechtsprinzipien und der gewaltenteiligen Organisation des Staates lehnt Kant den Locke'schen Topos eines Widerstands rechts bei Zuwiderhandlung des Souveräns gegen die vernunftrechtliche Basis des Staates ab. Ein Widerstandsrecht sei ein widersprüchlicher Gedanke: "Denn um zu demselben befugt zu sein, müsste ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volkes erlaubte, d.i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein." (Kant 1998a, 440) Auch das Hobbes'sche Argument eines infiniten Regresses der Souveräne findet sich bei Kant wieder: Im Streit zwischen Volk und Souverän müsste es "ein zweites Staatsoberhaupt [geben], welches die Volksrechte gegen das erstere beschützte, [... ] dann aber auch ein drittes, welches zwischen beiden, auf wessen Seite das Recht sei, entschiede". (Kant 1998d, 33 J4

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Zur Kritik an Kants Deduktion des Privateigentums vgl. Deggau 1983, Klar 2007, Kap. 5.2. Vgl. Kant 1998a, 378, 430. Vgl. Kant 1998d,153-154, Kant 1998e, 364f.

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160) Die Maxime eines Widerstandsrechts des Volkes würde Kant zufolge, "den Zustand, worin allein Menschen im Besitz der Rechte überhaupt sein können, vertilgen". (156) Auch diese Annahme, wonach nicht Tyrannei, sondern Anarchie das größte politische Übel sei, teilt Kant mit Hobbes. 36 Dabei ist Kant der Gewaltgrund der Staatsgenese und die ungerechte Verfasstheit der Staaten seiner Zeit zwar gegenwärtig, er versucht die Lücke zwischen rechtloser Gewalt und Rechtszustand nach verallgemeinerbaren Prinzipien aber rechts- und geschichtsphilosophisch zu schließen: Was bleibe, sei die moralische Selbstbindung des empirischen Souveräns und das Recht des Volkes auf Meinungsfreiheit bezüglich der Beurteilung des positiven Rechts am Maßstab des Vernunftrechts. 37 Kant stellt jeder faktischen Ordnungsmacht einen ungedeckten transzendentalen Vernunftscheck aus, indem er den ,rechtlichen' Zustand aus gewaltgestützter Unterwerfung als empirisches Zeichen des rechtmäßigen republikanischen Verfassungsideals gleicher Freiheit deutet. Die Rechtssetzungsakte der Staatsgewalt seien apriori gültig, weil der Staat, egal welcher, als Verwirklichungsbedingung einer durch allmähliche Reform zustande kommenden republikanischen Verfassung betrachtet wird. 38 Aufgrund der kategorialen Verunmöglichung moralischen Wollens und Handelns durch den anthropologisierten Antagonismus der Willen kippt aber seine Hoffnung letztlich in die heteronome geschichtsphilosophische Zuversicht, dass dieser "Erfolg" der Reformation des Gewaltzustands in ein republikanisches Gemeinwesen "nicht sowohl davon abhängen werde, was wir tun (z.B. von der Erziehung, die wir der jüngeren Welt geben) [... ]; sondern von dem, was die menschliche Natur in und mit uns tun wird, um uns in ein Gleis zu nötigen, in welches wir uns von selbst nicht leicht fügen würden". (Kant 1998d, 169)" Eine zentrale Modifikation des Kontraktualismus gelingt Kant schließlich mit der Idee des ewigen Friedens: Die bisherigen Vertrags theorien hatten das zentrale logische Problem, ohne Angabe von Gründen vom universalistischen Modus der Normbegründung (,die Menschen im Naturzustand schaffen durch einen Vertrag den Staat') in die partikulare nationalstaatliche Empirie der Neuzeit zu wechseln. Plötzlich gab es Franzosen, Engländer usw., ohne da'ss die Prämissen der Ableitung dies hergaben.'o Damit einher ging das normative Problem, dass die nationale Form der Beendigung des Naturzustands unter den Individuen einen zwischenstaatlichen Naturzustand als potentiellen Kriegszustand konstituierte, der, wie Rousseau diagnostizierte, die Wirkungen des Krieges eines jeden gegen jeden um ein Vielfaches potenzieren konnte. 41 Die Errichtung eines gesetzlichen Zustands, so zieht Kant die Konsequenz aus diesem Gedanken, fordert daher: "Es soll kein Krieg sein" (Kam 1998f, 478), sondern ein Weltstaat oder zumindest ein "Völkerbund". (467)

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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Kam 1998f, 234. Kant 1998d,161-163. Kersting 2007, 386-396. zur Kritik: Klar 2007,220-236; 20tta 2014. Kersting 1994, 161,212. Rousseau 2005, 94.

Ein "erschreckender Prophet unserer Zeit" J oseph de Maistres "Anti-Gesellschaftsvertrag" Der savoyische Diplomat J oseph de Maistre ist im deutschsprachigen Raum wohl vor allem aufgrund von Carl Schmitts Überlegungen über die katholische "Staatsphilosophie der Gegenrevolution" (Schmitt 2004b, 57) bekannt geworden. Schmitt nennt allerdings de Maistre in einem Atemzug mit Donoso Cortes 1 und präsentiert ihn lediglich als Vertreter eines autoritären Dezisionismus. Doch de Maistre betont nicht nur die Rolle von Souveränität gegen jede demokratische Deliberation, er liefert auch eine zeitgenössische Kritik des Kontraktualismus, die wegweisend für konservatives Denken bis hin zum Kommunitarismus des 20. Jahrhunderts geworden ist, und viele Motive seiner Schriften nahmen Überlegungen späterer faschistischer und auch postmoderner Positionen vorweg. Im Folgenden sollen Grundannahmen des "Anti-Gesellschaftsvertrags" in knapper Form vorgestellt werden. 2 1. Die Nation als Keim und Pflanze

De Maistre legt in seinem Werk Von der Souveränität - Ein Anti-Gesellschaftsvertrag (1794), eine klassisch konservative Kritik des Naturzustands- und Vertragsempirismus vor: Weder gibt es demnach einen vorgemeinschaftlichen Zustand des Menschen, noch sind die Verfassungen das verabredete Werk des Menschen. Sowohl der Naturzustand als auch der Gesellschaftsvertrag seien realitätsfremde Konstruktionen. Die Gesellschaft überhaupt beruhe nicht auf einem Beschluss der Menschen, sei kein Resultat einer Wahl, womit es sinnlos sei, "über die Vor- und Nachteile des gesellschaftlichen Zustands" zu beraten. (de Maistre 2000, 7) De Maistre rekurriert dabei auf eine mittelalterlich-christliche Adaption des aristotelischen Weltbildes. Da die Gesellschaft nicht vereinbart sei, sei sie natürlich und gewachsen, womit er den antiken physis-BegrifP reaktiviert - allerdings verbunden mit einer Schöpfungstheologie: Was natürlich ist, ist dort zugleich göttlich. Gott als allmächtiges, allwissendendes und allgütiges Wesen hat demnach die Welt erschaffen, weshalb alles Seiende gut ist - ens et bonum convertuntur: "Was ist, ist gut, was man glaubt, ist gut, alles ist gut, außer den sogenannten Schöpfungen des Donoso Cortes scheint mir, bei allen Überschneidungen mit de Maistre, wesentlich stärker an den Debatten des katholischen Mittelalters und an deren, wenn auch letztlich offenbarungstheologischem, Universalismus orientiert zu sein als der Relativist avant la lettre de Maistre. Das zeigen bereits die ausufernden klassischen Reflexionen über Willensfreiheit, Böses, Wundertaten und göttliche Schöpfung in Donoso Cortes' Essay über den Katholizismus (v gl. Donoso Cortes 2007). Donoso Cortes' Kommentator Günter Maschke berichtet nicht nur, dass dieser "seinen Essay" von autoritativer Seite "auf seine theologische Triftigkeit hin prüfen" ließ (Maschke 2007, 512), er erwähnt auch, dass Donoso Cortes bereits früh "den universellen Charakter des Christentums" im "Konflikt mit dem Islam" betont. (503) De Maistre ist hier wesentlich kulturrelativistischer. Zu einer ausführlichen Analyse und Kritik de Maistres vgl. Heidemann 2020. Vgl. Antiphon 2003, 195; Aristoteies 2003, 46.

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Menschen." (78) Das Wesen oder die Natur einer Sache, auch die der Menschen und ihrer Gemeinschaften, so lautet die teleologische Konzeption, ist die von Gott nach seinem Willen geschaffene, identitätsbestimmende Eigenschaft, die zugleich eine zu realisierende Potentialität, einen wachsenden Keim darstellt, der einem seinsspezifischen Vollendungszustand zustrebt. Die Abkehr von diesem seinsspezifischen Ziel, deren Möglichkeit in diesem Paradigma nur schwer begründbar erscheint, ist das Böse als Mangel an Sein (Privationstheorie des Bösen). Der Konservatismus wendet sich damit gegen Uhrwerk, Intention, Rationalität und Vertrag als aufklärerische Leitbegriffe und Metaphern politischen Denkens und setzt an ihre Stelle Keim, Pflanze, unverfügbares Wachstum einer Ordnung der U ngleichheit als Wesen des Politischen. Die bereits bei Herder zu findende Idee des Volkes als "Pflanze der Natur" und "Familie" (Herder 1985,243)4 macht sich die theoretischen Ambivalenzen des Kontraktualismus zwischen Vertragsempirismus und -fiktionalismus sowie zwischen empirischem und normativem Anspruch zunutze und stellt die bisherige faktische Heteronomie der Menschheit sowohl gegen die empirische Behauptung der Autonomie (Idee des empirischen Gesellschaftsvertrags) als auch gegen die normative Konzeption (Vertrag als legitimationstheoretische Konstruktion). Dabei begeht de Maistre erstens den klassisch konservativen Fehlschluss von faktischer Ohnmacht auf ewige Heteronomie, also von einer Beschreibung vorgefundener, nicht selbstgewählter Vergesellschaftungsbedingungen und nicht aus rationaler Zustimmung am Maßstab individueller Bedürfnisse hervorgegangener Lebensweisen auf die prinzipielle Unverfügbarkeit dieser Bedingungen. Zweitens begeht er den naturalistischen Fehlschluss vom Sein aufs Sollen, also von dieser faktischen Fremdbestimmung auf die Gottgewolltheit und damit zugleich Güte dieser entfremdeten Ordnungen. Kaschiert wird der naturalistische Fehlschluss durch die schöpfungstheologische Theorieanlage, die Sein und Sollen vorab im Willen Gottes als identisch setzt. Damit handelt sich de Maistre aber das Problem des Bösen ausgehend von den Prämissen eines theistischen Gottesbildes ein 5, was die nur willkürlich zu behebende Schwierigkeit beinhaltet, welche Gestalten des Seins gottgewollt und welche frevelhaft, ,gemacht und nicht gewachsen', sind. Zudem arbeitet de Maistre mit der Unterstellung, die Idee einer an universeller Vernunft orientierten, säkularen Verfassungsgebung impliziere - analog zur These der Schöpfung aus dem Nichts - eine vollständige Erschaffung der Lebensweise eines Volkes ohne vorgegebene Bedingungen. 6 Es sind solche Zerrbilder vom aufklärerisch-liberalen Gegner als Verfechter eines ,rationalistischen Atomismus', die diese Kritik bis heute vielen Rezipienten als attraktiv erscheinen lassen.

Dieser Familientopos in der Beschreibung einer als homogen und harmonisch phantasierten Gemeinschaft ist ein Grundbestand des Nationalismus und heutigen Populismus, vgl. Priester 2012,81, 96f. Vgl. Hoerster 2007, Kap. VII. Vgl. v.a. de Maistre 2000,162.

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2. Kulturrelativismus und -determinismus Nicht nur die faktische Heteronomie des Vergesellschaftungszusammenhangs, auch seine in partikulare, zunehmend nationale Einheiten zersplitterte Gestalt wird in de Maistres Konservatismus in ideologischer Form reflektiert. Erkannt wird die legitimationstheoretische Lücke des Kontraktualismus: die Unbegründbarkeit von nationalstaatlichen Partikularitäten ausgehend von universalistischen Prinzipien - hier wird bereits deutlich, dass es für de Maistres Konservatismus nicht einfach ein ,Zurück' hinter die Moderne gibt. Gott gibt de Maistre zufolge jeder Nation einen eigenen Charakter, eine partikulare Volksseele als politisch-kulturellen Wachstumscode, der irreversibel ist 7 und der die Mitglieder des Volkes vollständig bestimmt. Auch hier begegnet uns ein bis in den heutigen Kommunitarismus ausstrahlender - Fehlschluss von der richtigen Beschreibung, jeder Mensch sei immer schon Teil einer Gemeinschaft, zu derjenigen, er sei alternativlos Teil einer ganz bestimmten Kultur, die er nicht ohne völligen Identitätsverlust und damit Selbstzerstörung transzendieren könne. 8 So mutiert die berechtigte Kritik an der juridischen Fiktion des Gesellschaftsvertrags zu einer Negation der in dieser Fiktion aufbewahrten Tatsache eines universellen menschlichen Urteils- und Freiheitsvermögens, das spezifisch historisch-kulturelle Situiertheit auch prinzipiell überschreiten kann (und das selbst de Maistre in seinem universellen Kulturrelativismus uneingestanden in Anspruch nehmen muss).9 Berühmt geworden ist de Maistres antiuniversalistisches Diktum, er kenne zwar "Franzosen, Italiener, Russen" und "Perser". "Einen Menschen aber erkläre ich, nie im Leben gesehen zu haben". (De Maistre 2004, 60) De Maistre beschwört dabei die Homogenität und Reinheit der Volkscharaktere sowie das Prinzip der "vollen Identität" (Maani 2015, 47) von Individuum und Kultur. Er rekurriert "auf das mystische Modell der Verschmelzung statt auf das - rechtliche - des Vertrages" (Finkielkraut 1989a, 77) und hebt in der Kritik des abstrakten Menschen und im Lob der bloß kollektiven Einzigartigkeit sowie des Rechts auf kulturelle Identität jede "Distanz zwischen der Person und ihrer Herkunftsgemeinschaft auf [ ... ], macht den Anderen zu einem einheitlichen Block und opfert dann für dieses Gebilde die anderen in ihrer V gl. Priester 2003, 25M. V gl. kritisch Benhabib 1995,24, Kymlicka 1997, 176ff., Priester 2003, 2ssf., Malik 2018, SOf. Alain Finkielkraut hat auf drei Selbstwidersprüche des Kulturrelativismus hingewiesen: 1) Er impliziert deskriptiv (als Behauptung der Relativität aller Einschätzungen zu der jeweiligen Kultur) und normativ (als Behauptung der universellen Gültigkeit der Gleichwertigkeit aller Kulturen) einen von ihm selbst negierten Universalismus. 2) Das Postulat der Gleichwertigkeit aller Kulturen impliziert notwendig auch das Postulat der Gleichwertigkeit derjenigen Kulturen, die von der Nichtgleichwertigkeit aller Kulturen ausgehen. Die "wechselseitige Feindseligkeit der Kulturen [00'] stellt den Preis dar, ,der dafür entrichtet werden muß, daß die Wertsysteme jeder geistigen Familie oder Gemeinschaft bewahrt werden'" (Finkielkraut 1989a, 91, z.T. Levi-Strauss zitierend). 3) Der "Dialog wird [00'] beschworen im Namen einer Religion der Differenz, die ebendiesen Dialog vollkommen ausschließt". (91f.) Allerdings muss erwähnt werden, dass Konservative in der Regel in Bezug auf die Naturwissenschaften universalistisch argumentieren (so auch de Maistre) und damit gegenüber den postmodernen Kulturrelativisten einen gewissen Rationalitätsvorsprung haben.

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individuellen Realität." (81) Vermischung der Volks charaktere bedeutet für ihn in der Regel Dekadenz, denn wenn die "Prinzipien mehrerer Nationen in einen Topf geworfen werden", entsteht "Mittelmäßigkeit". Es können aber auch höhere "hybride Nation (en)" entstehen (de Maistre 2000, 13), je nach ,Material'. Der Charakter der Nation - ,Nation', ,Kultur', ,Volk', aber auch "Rasse" (13) werden völlig auswechselbar verwendet - besteht in ihrem ,Sein', das durch eine äußerliche Aufzählung heterogenster Faktoren ,bestimmt' wird: Klima, Geographie, Physis, Wirtschaft, Sprache und Sittenordnung. 1o Dieses Sein, die "natiirliehe Verfassung" (44), bestimmt jeweils die Formen der Normativität 11 und vor allem die politische Ordnung des jeweiligen Volkes: Die Regierungsform wird jeder Nation durch ihre "moralische, physische, geografische und wirtschaftliche Lage [... ] gebieterisch vorgeschrieben". (15) Die schriftliche Fassung und explizite rechtliche Kodifikation von Normen sind "nur Stützen, und ein Gebäude hat nur dann Stützbalken nötig, wenn es sein Gleichgewicht verloren hat" (42). Primär wäre also eine Art moralisiertes, in der gelebten Volkssittlichkeit aufgehendes Recht. Was ist das determinierende Einheitsprinzip neben Klima, Geographie, Physis, Wirtschaft, Sprache und Sittenordnung? Sie alle sollen "das unmittelbare Resultat des Schöpferwillens" (16) sein. Aber dieser wird ja (fast) jeder gegebenen Ordnung eines Volkes unterstellt. Was dann von der bloßen äußerlichen Aufsummierung der Faktoren das innergeschichtlich Entscheidende ist, bleibt unbestimmt und der Willkür des Betrachters überlassen. Klar ist nur, dass mit der religiösen Anbindung dieses Sein als in seinen grundlegenden Bestimmungen unverfügbar, eben "gebieterisch vorgeschrieben" (15), gedacht wird. Hier sind starke Kontinuitäten zu späteren, auch faschistischen Konzepten der Rechten, wie dem Schmittschen ,konkreten Ordnungsdenken" oder ,existentiellen Verfassungsbegriff' zu verzeichnen. 12 Geschriebene Verfassungen und rationale Normierungen sind nur sekundärer, letztlich ohnmächtiger Ausfluss und Ausdruck der mit der faktischen, tradierten Lebensweise identischen eigentlichen Verfassung eines Volkes. Diese Reduzierung von Sollen auf Sein, von Abstraktion auf Konkretion, von Kultur auf Faktizität ist das Programm der von Alain Finkielkraut als "sonderbare[ ... ] Frömmler" bezeichneten Konservativen mit ihrem "Kult der Tatsachen", der nicht einmal mehr Platz für ein Jenseits lasse. (Finkielkraut 1989a, 28) 13 Mit diesem Traditionalismus verbunden ist ein politischer Kulturrelativismus: Ist die Demokratie für die eine Nation das Beste, so die Despotie für die andere 14 - wohlgemerkt: das heißt nicht, dass die letztere noch nicht reif für die Demokratie wäre. Sie kann es nie sein, weil ihr Charakter ein anderer ist. De Maistre stellt fest, "daß man niemals nach der besten Regierung im allgemeinen fragen kann, da es keine gibt, die für alle Völker geeignet ist. Jede Nati-

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Vgl. de Maistre 2000, 15. Obwohl diese Normativität in Gestalt der Alltagssittlichkeit eines Volkes auch wieder unter das Sein fällt, womit sie ihr eigener Grund wäre. Vgl. Schmitt 1934,2003; dazu auch EIbe 2015, 276ff., 308ff. Zur Reduktion von Norm auf ,Sein' als Charakteristikum rechter Verfassungstheorie vgl. auch Maus 1980 und Hirsch 2007. Vgl. de Maistre 2000, 16,82,97.

on hat die ihre, so wie sie ihre Sprache und ihre Wesensart besitzt, und diese Regierung ist die beste für sie." (De Maistre 2000, 123) Es folgt daraus, "daß alle Regierungen gut sind". (161) Der Konservatismus weist damit eine charakteristische physis-ethos-nomos-Struktur auf: Eine gottgegebene, unverfügbare Substanz bestimmt die Alltagssittlichkeit eines Volkes, die wiederum die Grundlage für seine politischrechtliche Ordnung ist. Der Rekurs auf den Anfang einer Kultur als wesensbestimmendem Keim soll verhindern, dass die These der Kulturbestimmtheit des Menschen aufgrund der Tatsache des beständigen Wandels von Kulturen zu einer universalistischen Doktrin ausgearbeitet werden kann. So wird der soziologisch und realistisch anmutende Charakter der Argumentation traditionalistisch (Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart), partikularistisch (monadisch voneinander abgekapselte Formen des sozialen Seins) und harmonistisch (Ausblendung innerer Konflikte der jeweiligen Nation) ideologisiert. Dass es eine Angleichung der Lebenslagen und zudem trans kulturelle Probleme geben kann, die ähnliche oder gleiche Normordnungen verlangen, wird allerdings nicht ausgeschlossen, sondern als nivellierender Kulturverfall kritisiert. 15 Medium der Erkenntnis des völkischen Seins ist der ,gesunde Menschenverstand' und, wie es später bei Schmitt heißt, die ,existentielle Teilhabe'.16 Die Rolle der "Volks gründer", der politischen Genies und großen Individuen ist es dabei, das von Gott gegebene Wachstums- und Entwicklungspotential vor allen anderen zu erkennen, zu entfalten und freizusetzen. Das "Genie" erkennt den Volkscharakter intuitiv, seine Ideen "verdanken sich der Inspiration" (de Maistre 2000, 25), er ist ein ,Macher', der entscheidet, kein deliberierender Intellektueller: "Man sieht ihn nie schreiben oder diskutieren." (25)17 Etwas Neues kann aber auch das Genie nicht schaffen, es arbeitet nur die Natur der Sache heraus und hat die "geschickte Hand" des Gärtners, der um die Wachstumsbedingungen der "Pflanze" seiner Nation weiß. (25) Der Gedanke verfahrenstechnisch geregelter Führerauslese steht diesem Denken genauso entgegen wie die einer wissenschaftlichen Betrachtung des politischen 15

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Es ist der heutige postmoderne Kulturschutz- und Cultural Appropriation-Diskurs, der in Anlehnung an diesen Gedanken de Maistres genuin konservative Quellen aufweist. Durch den Rekurs auf den kontingenten Ursprung einer kulturellen Praxis wird diese Praxis zum unverfügbaren Wesen deklariert und im Stile des konservativen Kulturalismus oder neurechten Ethnopluralismus als Eigentum eines Volkes, bzw. einer Rasse gedeutet. Der einzige Unterschied zu heutigen Neurechten und ihrer Rede vom "Kulturverlust" (de Benoist 2017, 87) ist dann, dass diese auch einen Kulturschutz für Weiße fordern, die postmodernen Antiimperialisten aber lediglich die Kultur der Schwarzen und ,PoCs' schützen wollen und sich über den Kulturschutz für Bayern und Russen meist ausschweigen. Zur Kritik an Kulturschutz und Cultural Appropriation-Konservatismus vgl. Finkielkraut 1989a, 8lf., Ebert 2017, Malik 2018, 52-55. Vgl. Schmitt 2002, 27, vgl. auch zu diesem Topos im heutigen Populismus: Priester 2012,5961,81. "Die der Aristokratie eigenen Qualitäten", schreibt auch Alain de Benoist, "sind schwierig zu beschreiben, denn sie kommen mehr aus dem Gemüt und der Seele als aus bloßem Intellekt oder der bloßen ,moralischen Vernunft'." (Benoist 2017, 128) Die ,,'Elite des Charakters'" (122) sei letztlich rational nicht rechtfertigbar (vgl. 128), was für Benoist aber eine Tugend und kein Mangel ist.

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Feldes (nur den Naturwissenschaften wird eine relative Berechtigung zugestanden I8 ). Der Konservatismus kombiniert damit einen kulturalistischen Kollektivismus und Determinismus, der mit Analogien aus dem Pflanzenreich plausibilisiert werden soll19 mit einem aristokratischen Individualismus und der Postulierung kulturinterner Ungleichheit. 20 3. Funktionalisierung der Religion und Verschwörungstheorie Die Stabilität der derart als Organismus beschworenen homogenen Nation wird durch ein mythisches Band garantiert. Hier zeigt sich, dass die vorgeblich pluralen und gelegentlich materialistisch anmutenden ,Seinsfaktoren' einer Gemeinschaft letztlich auf eine antirationale und idealistische Basis gestellt werden, der eine ebensolche Krisendiagnose entspricht. So behauptet de Maistre, dass nicht religiös legitimierte Herrscher und nicht durch Herkunft und Tradition gerechtfertigte Nachfolger der Gründerväter nicht respektiert werden und damit politisches Chaos und Untergang die Folgen sind: "Die Menschen respektieren niemals das, was sie gemacht haben, deshalb besitzt ein gewählter Herrscher niemals die moralische Stärke eines erblichen Herrschers, denn er ist nicht vornehm genug, d.h. er besitzt nicht diese Art der von den Menschen unabhängigen Größe, die sich der Dauer verdankt." (30) Hier zeigt sich die rein funktionalistische Betrachtung der religiösen Grundlage staatlicher Autorität. Um der Stabilität der homogenen Gemeinschaft willen werden "die unerläßliche [... ] Notwendigkeit dieses Bündnisses von Politik und Religion" (40) und die "Natur, die Zeit, die Verhältnisse, d.h. Gott" (31) als Legitimationsgrundlagen beschworen. Der Grund dieser Verwendung der Religion, so lautet das rein soziologische Argument, ist also die Instabilität einer immanent, säkular und autonom begründeten politischen Ordnung. So sind es letztlich die Menschen, die "Politik und Religion miteinander verwoben" haben, "damit sich die durch einen übernatürlichen Halt gestärkte menschliche Schwäche mit ihrer Hilfe aufrecht halten konnte" (36) - Glaube ist nur noch ein Als-ob. 18 19

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Vgl. de Maistre 2000, 61, 68. Vgl. ebd., 117: "Im allgemeinen gibt es [... ] eine verborgene Kraft, die jedes Individuum an seinen Platz stellt: sonst könnte der Staat nicht überdauern. Wir erkennen in der Pflanze eine unbekannte Macht, eine im wesentlichen unteilbare stoffliche Macht, die Früchte trägt und bewahrt, die unveränderlich ihrem Ziel zustrebt, die sich aneignet, was ihr nützt, und zurückweist, was ihr schadet, die bis in die letzte Faser des letzten Blattes den Saft trägt, den sie benötigt und mit all ihren Kräften die Krankheiten des Pflanzenkörpers bekämpft [ ... ] Wie blind wir sind! Wie können wir glauben, daß der politische Körper nicht auch sein Gesetz, seine Seele, seine stoffliche Kraft besitzt". Vgl. auch de Maistre 2004, 93: die "künstliche" Macht der Revolutionäre zeige, "daß sie weder gepflanzt noch gesät sind, daß ihr Stamm keine Wurzeln geschlagen hat und daß ein Windhauch sie fortfegen wird wie Spreu." Doch auch die (französische) Revolution wird in die göttliche Vorsehung einbezogen: Sie sei "Züchtigung für die Franzosen" (20), insbesondere für die Taten der Revolutionäre selbst, aber auch gerade wegen ihrer fanatischen Akteure ein zu begrüßendes Mittel nationaler Machtentfaltung. Vgl. de Maistre 2000, 99, 131.

Aber nicht nur Stabilität, auch Motivation ist die Folge des Glaubens: De Maistre erwähnt, dass "ebenso im Koran wie in der Bibel die Politik vergöttlicht wird", um die "vernichtende menschliche Vernunft" an ihrem Werk zu hindern und den "Gehorsam" der Bürger "bis zum Enthusiasmus und Fanatismus" zu steigern. (3M.) Letztlich ist es die sogenannte "nationale Vernunft", die das Set der für eine Nation gültigen handlungsleitenden "Dogmen" und "nützlichen Vorurteile" (46) ("Meinungen, die vor jeglicher Prüfung übernommen wurden") darstellt, die der "individuellen Vernunft" entgegensteht und unhinterfragte Verbindlichkeit beansprucht, während letztere "nur Debatten produziert", problematisiert und die sittliche Einheit der Nation zersetzt - bereits eine kritische "Erörterung" der "Regierungsprinzipien" bedeutet demnach deren Zerstörung. (47) Die nationale Vernunft ist also ,vernünftig' nicht im Sinne individuell gebrauchter allgemeinverbindlicher Argumentations- und Schlussregeln oder erkenntnisgeleiteter Begründungsmuster, sondern im Sinne der Brauchbarkeit zur Herstellung und Bewahrung von partikularen Gemeinschaften. Sie ist "politischer Glaube" (47) als sinnstiftende Überzeugung, ist "das Entstehungs- und Bewahrungsprinzip jeglicher Einrichtung". (55) Das "Prinzip der Dauer" (60) ist "öffentliche Meinung" als "Korpsgeist". (55) Dieser Mythos befriedigt zugleich ein unterstelltes autoritär-masochistisches "Bedürfnis des Menschen", seinen individuellen Verstand "in der nationalen Vernunft unterge [henJ" zu lassen und "sein Einzeldasein in eine andere gemeinschaftliche Existenz" zu verwandeln. "So wie ein Fluß, der in den Ozean mündet, immer noch vorhanden ist, aber ohne Namen und ohne unterscheidbare Wirklichkeit". (47)21 Die nationale Vernunft ist "dieses heilige Feuer, das die Nationen beseelt" (48), "Patriotismus", "Verleugnung des Einzelnen" (47), ja "Vernichtung des einzelnen Willens" (55), ein mobilisierender, fanatisierender und zusammenschweißender Mythos: "Sprecht zu ihnen nicht von Prüfung, von Wahl, von Debatten: sie werden sagen, daß wir Gott lästern, denn sie kennen nur die zwei Worte: Unterwerfung und Glauben." Diese "begeistern" und "vergöttlichen" die Nation, "verhundertfachen" (47) die Kräfte derselben, was am Widerstand des Judentums, dem Korpsgeist und den Tugenden der Jesuiten (55, 58) und den "triumphalen" Eroberungen der Muslime (48) exemplifiziert wird. 22 Da der Inhalt dieser ,Vernunft' kontingent und partikular ist, ist der Begriff der Vernunft schon völlig entleert und irrationalen Bindekräften gleichgesetzt, die aber - funktionalistisch und instrumentell rational - zwecks Gemeinschaftsstiftung und mobilisierung postuliert werden. Da nationale Vernunft identisch ist mit dem nationalreligiösen Glauben, ist also auch die Religion funktionalistisch entleert. Der un2\

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Vgl. zur ,schadenfrohen' Apologie masochistischer und kollektiv-narzisstischer Verschmelzungsphantasien bei de Maistre auch: Berlin 1990, 160, 21lf. Zu de Maistres Islam-Begeisterung vgl. de Maistre 2000, 3M. 48,152-156. Er spricht von "diese[n] erstaunlichen Araber[n], ... welche die Hälfte des Globus durcheilten, den Koran in der einen und das Schwert in der anderen Hand und Sieg und Paradies riefen." Er lobt "ihre ernsten, einfachen Sitten, ihre strenge Disziplin und ihren Respekt vor der Armut" (153), die "Einfachheit und Sparsamkeit", den "nationalen Enthusiasmus der Türken und diese sittliche Kraft, die Großes hervorbringt", ihren Opfersinn, der den für Gott und Vaterland Gestorbenen als ,,'glücklichste[n} aller Menschen'" preist. (155)

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bedingte, unhinterfragte Glaube an einen autoritätsstiftenden Gott, egal welchen, ist wichtig, daher fragt de Maistre auch nicht mehr nach dem theologischen "Verdienst" der Jesuiten, sondern bewundert lediglich "die Stärke ihrer Einrichtung". (58) Damit ist der Glaube als religiöser aber von der Theorie als "Bindemittel" und "mächtiges Band" (66f.) instrumentalisiert, seines unhinterfragten Wahrheitsgehaltes und seiner unbedingten Geltungsansprüche beraubt, die ihn gen au dafür lobt und als nützlich erachtet. Politische Religion ist das heillose Heilmittel zur Restitution einer bloß imaginär harmonischen und homogenen Gemeinschaft inmitten einer nicht auf den Begriff gebrachten pluralistischen und antagonistischen Gesellschaft. Mit den Mitteln der Aufklärung gegen die Aufklärung zu argumentieren und einen ungeglaubten Glauben zu propagieren, rational für irrationale Faktoren zu plädieren,23 in subjektiv-willkürlicher Weise den Inhalt des angeblich objektiv Verbindlichen zu bestimmen 24 und den Nihilismus mittels der nihilistischen Beschwörung der Dauer als Wert an sich zu kritisieren, beschreibt Martin Greiffenhagen treffend als "Dilemma des Konservatismus".2; Dieses Dilemma und die Art der irrationalistischen und harmonistischen Vorstellung von den Gemeinschaftsbanden erzeugt mit ,psycho-Iogischer' Konsequenz eine verschwörungstheoretische, personalisierende und idealistische Krisendiagnose: Ist ein unbedingter nationalreligiöser Glaube das Bindemittel der Nationen, so sind es die Intellektuellen (Philosophen), die dieses Bindemittel durch ihre Propagierung universeller (individueller) Vernunft zersetzen. Es ist bereits Herder, der im klassisch intellektuellenfeindlichen und verschwörungstheoretischen Stil des Konservatismus den aufklärerischen Humanisten mittels einer "Sinnverkehrungsthese" (Hirschman 1995, Kap. 2) unterstellt, ihr Appell an die universelle "Menschenfreundschaft" (Herder 2012, 69) gebe, im Verein mit dem "Gott Mammon" (75), der Humanität der glücklich "eng! ... } national" (68f.) auf sich beschränkten Völker "den tiefsten Dolchstoß" (69), der diese Völker zugleich zu "Weiber[n]" (76) mache. De Maistre lobt analog dazu nicht bloß den glaubensgeleiteten Enthusiasmus der Muslime in ihren Eroberungszügen, er teilt zugleich die islamistische Verfallsdiagnose: Der geoffenbarte Glaube der "Väter" als sittliches Band der partikularen Gemeinschaft wird durch individuelle Anmaßung der Autoritätskritik im Namen einer universellen Vernunft in Gestalt von Atheismus und Sittenverfall, durch eine Verschwörung der Intellektuellen und Übernahme 23

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Zumindest diese Punkte finden sich auch in postmodernen Aufklärungskritiken und zeichnen deren "Paradoxien" (Habermas 1993, 277), "Aporien" (325) oder "Widerspruch" (Zima 2016, 218f.) aus. Vgl. zu diesem speziellen Punkt auch Sontheimer 1994, 49: "So war dank der Absage an die Vernunft ein grenzenloser Subjektivismus der Anschauungen möglich geworden, über die man nicht mehr diskutieren konnte, weil sie sich ihrem Entstehungscharakter gemäß der Diskussion auf gleicher Ebene entzogen." Vgl. Greiffenhagen 1986. Vgl. auch Weiß 2012, 73-77. Speziell zur konservativen Religionsauffassung vgl. Greiffenhagen 1986, 85-121. Dass sich die klassische Rechte auf Religion funktionalistisch-instrumentell bezieht und damit die religiöse Komponente, den Glauben, zugleich beansprucht und dementiert, zeigen auch die Debatten über Religion in der deutschen ,neuen' Rechten, vgl. Salzborn 2015.

fremder Prinzipien zersetzt. Die Osmanen unterliegen demnach den Europäern, weil sie anfangen, französisch zu lesen. 26 Ist dies ein Salafismus für Alteuropäer? Ja und nein. Sowohl der Homogenitätsfanatismus qua Totalunterwerfung unter einen Glauben als auch die verschwörungstheoretische Krisendiagnose stimmen überein. Aber de Maistre ist dem Islamismus insofern einen - unfreiwilligen - Reflexionsschritt voraus, als er sich ja völlig äußerlich und kulturre!ativistisch auf Katholizismus oder Islam als Stabilitäts- und Motivationsquellen der Gemeinschaft bezieht, während der Salafist im Idealfall ganz in seinem Glauben aufgeht und keinen anderen neben sich dulden kann.

4. Ein "erschreckender Prophet unserer Zeit" Es gibt kaum einen Gedanken de Maistres, der nicht in späteren, politisch weitaus radikaleren Strömungen der Rechten fortwirken würde, ohne dass diese sich explizit auf ihn beziehen müssten. Insofern erweisen sich daran die Grenzen der - im Detail durchaus treffenden 27 - Versuche, Konservatismus und Faschismus klar voneinander zu unterscheiden. Es ist daher mehr als berechtigt, wenn Isaiah Berlin de Maistre mit den protofaschistischen Denkern par excellence, Nietzsche und Sore!, in Verbindung bringt 28 und betont, bei de Maistres Konservatismus handle es sich keineswegs um ein obsoletes Stück Ideengeschichte, sondern um das zukunftsweisende Denken eines "erschreckenden Propheten unserer Zeit". (Berlin 1990, 221) Dass de Maistre zudem ein - wenn auch ideologisch gebrochenes - Vorbild des postmodernen Denkens mit seiner Reduktion von Vernunft auf Affektströme, Bewusstsein auf ,lokales' Sein, Subjektivität auf unkontrollierbares Diskursschicksal und Affirmation von kultureller Diversität und ,Alterität' schlechthin sein würde, war im Jahr 1960, als Berlin seinen Aufsatz schrieb, noch nicht absehbar. Diese "Niederlage des Denkens" (Finkielkraut 1989a) im Bündnis zwischen Konservatismus und Postmoderne konnte erst Jahrzehnte später konstatiert werden.

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Vgl. de Maistre 2000, 48,145,153-157. Die Türken sind demnach "schwach" geworden, "weil diese Schüler des Korans Esprit und Schulen der Wissenschaft besitzen, weil sie französisch [sie] können, weil sie nach europäischer Art exerzieren: mit einem Wort, weil sie keine Türken mehr sind." (156) Vgl. die Darstellungen des Übergangs vom klassischen Autoritarismus preußischer Prägung zum populistischen Radikalnationalismus protofaschistischer Prägung (von der Monarchie zur Diktatur, vom Kaiser zum Führer, von der Obrigkeit zur Nation, vom Gehorsam zum antidemokratischen Engagement) bei Eley 1996, v.a. 144-173, Breuer 2010, 56ff. und Weiß 2012,54-67. V gl. Berlin 1990, 164, 219.

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Der Zweck des Politischen Carl Schmitts faschistischer Begriff der ernsthaften Existenz "Es ist nicht gut, daß der Mensch ohne Feind sei" (Schmitt 1991a, 146)

Carl Schmitts Denken richtet sich offensiv gegen die liberale politische Philosophie und gegen jede Perspektive, die eine solidarische Welt gesellschaft ohne Krieg anstrebt. Schmitt lehnt eine Begründung des Politischen vom Individuum her ab, fürchtet sich vor einer Welt ohne Kriege und stellt das Opfer des Einzelnen ins Zentrum seiner Betrachtungen, die durchgehend ein normatives Programm der "Bejahung des Natur[zu]standes" (Strauss 2001a, 235) zwischen irrational konzipierten Kollektiven enthalten. Hierbei spielt die Idee der ernsthaften menschlichen Existenz eine wesentliche Rolle. Im Folgenden sollen zunächst einige Bemerkungen zu Schmitts Begriff des Politischen gemacht und auf dessen deskriptive Unbrauchbarkeit hingewiesen werden (1), um anschließend sein noch fragwürdigeres normatives Anliegen herauszuarbeiten (2). Der Begriff des Ernstes wird sich dabei als normativer Kern seiner politischen Theorie erweisen. In einem weiteren Schritt (3) soll dieser Begriff mit der aufklärerischen Idee des Ernstes in Friedrich Schillers Schrift Über Anmut und Würde konfrontiert und schließlich sein Zusammenhang mit einer autoritärmasochistischen "emotionale[n] Matrix" (Fromm 2000, 201) angedeutet werden.

1. Der deskriptive Gehalt des Begriffs des Politischen Schmitts politisches Denken kann in zweifacher Weise als faschistisch 1 bezeichnet werden. Zum einen verfolgt er in den 1920er und 1930er Jahren das bonapartistische Programm 2 des Abbaus rechtsstaatlicher und parlamentarischer Hindernisse für eine antisozialistische Präsidial-, später Führerdiktatur mit Massenbasis. 3 Dieses Programm wird rechtstheoretisch in Form eines "substanzielle[n] Dezisionismus" (Rottleuthner 1983,20) artikuliert, den Ingeborg Maus als "Vorordnung eines [... ] Ich orientiere mich dabei an den Faschismus-Definitionen von Paxton 2006, 319 und Breuer 2010, 77. Eine treffende Darstellung des Habitus faschistischer Akteure bietet Reichardt 2009 (v.a. Kap. 5: Die Praxis des Politischen). Ausgangspunkt des ,Bonapartismus' ist das Problem moderner demokratischer Staaten, durch das allgemeine Stimmrecht "der Klasse, deren alte gesellschaftliche Macht sie sanktionier[en], der Bourgeoisie, [ ... ] die politischen Garantien dieser Macht" zu entziehen (Marx 1971,43). Glauben sich Teile des Bürgertums von sozialistischen Umtrieben gefährdet, so kann ein Verzicht auf parlamentarische Herrschaft zugunsten einer sich verselbständigenden Exekutive die Konsequenz sein, die gegen die Arbeiterbewegung vorgeht, aber zugleich eine gegenüber den Kapitalinteressen relativ eigenständige Dynamik annehmen kann, u.a. weil sie sich auf eine Massenbasis stützt. Zum Begriff des Bonapartismus vgl. Marx 1960, 123, 154, 197f., Wippermann 1983. Zum Faschismus als Bonapartismus vgl. Wippermann 1997, 65ff., 114 sowie für die Endphase der Weimarer Republik Hoffmann 1996, 365-394, 408ff. Zu den Grenzen des Konzepts für die Analyse des Faschismus vgl. Poulantzas 1973, 82, 144ff., 353ff. Vgl. Schmitt 1985a, 360; 1994b, 125; 1995a, 77-80; 1996b, 143.

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auf freiem Ermessen [... ] basierenden Verwaltungsbereichs vor einem nur noch limitierte Bedeutung beanspruchenden rechtsstaatlichen Verfassungsbereich" charakterisiert, wobei das freie Ermessen "als ,Wertverwirklichung' definiert" (Maus 1980, 76) werde. 4 Das bedeutet konkret, dass bestimmte exekutive Organe Guristen, Reichspräsident, Reichskanzler etc.) eine vermeintliche ,Verfassungs substanz' entweder gegen den Wortlaut der Verfassung oder gegen legal erlassene parlamentarische Gesetze geltend machen. Bereits hier spielt der Ernstfall in Gestalt einer "blutige [n] Entscheidungsschlacht" (Schmitt 2004b, 63) eine Rolle, da Schmitt meint, der sozialistischen Arbeiterbewegung nur noch mit einer autoritären Lösung gewachsen sein zu können. Den Liberalismus, wie er ihn versteht, lehnt er ab, weil dieser nicht willens sei, mit einer entsprechenden extralegalen Gewalt und Entschlossenheit den Kampf mit den Bewegungen der Linken aufzunehmen. 5 Dieser Aspekt wird bereits in der Politischen Theologie aus dem Jahr1922 erkennbar, wenn Schmitt den gegenrevolutionären Kulturkritiker Donoso Cortes dafür lobt, ,,[ d]ie Bourgeoisie [... ] geradezu als eine ,diskutierende Klasse' [zu definieren]. Damit ist sie gerichtet, denn darin liegt, daß sie der Entscheidung ausweichen will. Eine Klasse, die alle politische Aktivität ins Reden verlegt, in Presse und Parlament, ist einer Zeit sozialer Kämpfe nicht gewachsen." (Schmitt 2004b, 63f.) Im Gegensatz zu traditionellen autoritären Ordnungsregimen reklamiert Schmitt seit 1923 den Demokratiebegriff von rechts und betrachtet die Programmatik der bonapartistischen Diktatur als Realisierung des ,wahren' Volkswillens, der sich bezeichnenderweise nicht als Entscheidung des Bürgers an der Wahlurne, sondern als Akklamation auf Massenveranstaltungen oder als diffuse, durch "Methoden der psychotechnischen Behandlung großer Massen" (Schmitt 2003, 247) gebildete öffentliche Meinung artikuliere. 6 Diese Programmatik Schmitts soll hier nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr soll der ebenfalls als faschistisch zu bezeichnende Gehalt des Schmittschen Denkens im Mittelpunkt stehen, der vor allem in seinem Werk zum Begriff des Politischen (1927/32/33) entwickelt wird. "Der Begriff des Staates", schreibt Schmitt hier, "setzt den Begriff des Politischen voraus." (Schmitt 2002, 20) Das Politische werde durch die Unterscheidung von Freund und öffentlichem Feind (27) definiert. Diese Unterscheidung sei "selbständig", insofern sie nicht auf ökonomische (nützlich-schädlich, profitabelunprofitabel), ethische (gut-böse) oder ästhetische Kriterien (schön-hässlich) zu-

Vgl. dazu bereits Ernst Fraenkels Doppelstaatsdiagnose von 1941 (dort u.a. direkt zu Schmitt: Fraenkel1974, 88f., 96ff.). Vgl. Paxten 2006, 35: "Mit ihrer ökonomischen laisser-faire-Politik, ihrem Vertrauen auf offene Diskussion, ihrem schwachen Einfluss auf die Massenmeinung und ihrer Weigerung, Gewalt einzusetzen, waren die Liberalen in den Augen der Faschisten schuldhaft unfähige Wächter der Nation gegen den von den Sozialisten geführten Klassenkampf." Paxten zufolge "drückte sich für die Faschisten der Bürgerwille durch die Teilnahme an Massenveranstaltungen aus." (2006, 118) Permanente symbolpolitische Mobilisierung, "einfache Ja/Nein-Plebiszite" und systematische Ausnutzung von "neue[n] Techniken zur Kontrolle und Steuerung der ,Nationalisierung der Massen'" (118) seien genuine Kennzeichen faschistischer Politik, vgl. auch ebd., 210, 242.

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rückgeführt werden könne. Sie eröffne aber kein eigenes "Sachgebiet".7 Stattdessen arbeitet Schmitt mit einem Intensitätsbegriff des Politischen, der auf die FreundFeind-Bestimmung als "äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung" (27) von Menschengruppen rekurriert. Steigern sich Gegensätze aus einem Sachgebiet bis zur "Kampfgruppierung nach Freund oder Feind" (36), so erreichen sie Schmitt zufolge den politischen Intensitätsgrad. Die äußerste Intensität sei gleichbedeutend mit der Möglichkeit des kommunikativ nicht zu schlichtenden, bis zur physischen Auseinandersetzung gehenden Konflikts, der Möglichkeit der physischen Tötung und des Getötet-Werdens. Feind sei die stets "der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht". (29) Der Krieg wird damit zur "äußerste[nJ Realisierung der Feindschaft". (33) Das Politische sei dabei aber nicht der Kampf selbst, sondern das durch dessen stets gegebene Möglichkeit bestimmte Verhalten. Als Feind gilt "der andere, der Fremde", der "existenziell etwas anderes und Fremdes ist". (27) Dieses Anderssein beinhalte die Möglichkeit eines nicht objektiv beurteilbaren oder normierbaren Konfliktes aufgrund der "Negation der eigenen Art Existenz" durch diesen Fremden. Wer der andere ist und wann "das Anderssein des Fremden" die eigene Art der Existenz gefährdet, entscheide ausschließlich die souveräne politische Einheit selbst. "Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben". (27) "Dadurch, dass ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt", schreibt Schmitt. "Es verschwindet nur ein schwaches Volk". (54) Das bedient einerseits einen kruden Politsozialdarwinismus, andererseits ist Schmitt natürlich darin zustimmen, dass der Verzicht einer Seite auf Feindbestimmung und der Glaube, alles im interkulturellen Dauerdialog und mit dem Verzicht auf robustere Formen der Abgrenzung lösen zu können, bei real vorhandener Feindschaft seitens der anderen Seite, zum Untergang der ,eigenen Art Existenz' führen kann. Der Souverän entscheidet also darüber, wann die äußerste Intensität, die extremste Möglichkeit, die seinsmäßige Negation oder der "Ernstfall" (39) vorliegt. Der Feind ist dabei buchstäblich identitätsstiftend. Es ist, schreibt Schmitt, Sache "der hohen Politik [ ... ], den Feind zu bestimmen (was immer zugleich Selbstbestimmung ist)". (Schmitt 1991a, 36; 2006, 87f.) Feindschaft ist bei Schmitt aber nicht auf den außenpolitischen Konflikt beschränkt. Im Zuge der Herstellung politischer Einheit könne es auch eine innerstaatliche Feinderklärung geben. Der Feind werde damit tendenziell außerhalb des Gesetzes gestellt - für vogelfrei erklärt. Das geschehe nicht nur bei faktisch außerlegalem Handeln, sondern auch im Falle nur vermuteter staatsfeindlicher Gesinnung bei legalem Verhalten: "Den Ketzer", so zitiert Schmitt zustimmend, "darf man auch dann nicht im Staate dulden, wenn er

In der Erstauflage von 1927 wird das Politische hingegen noch eng an den Staat angelehnt und als eigenes Sachgebiet, das der Außenpolitik, von der Möglichkeit des zwischenstaatlichen Krieges her, bestimmt, d.h. von der äußeren Souveränität, dem ius ad bellum, abgeleitet.

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friedlich ist, denn Menschen wie Ketzer können gar nicht friedlich sein." (Schmitt 2002,47)8 Die Definition des Politischen von der Freund-Feind-Unterscheidung her ist allerdings in höchstem Maße fragwürdig, wenn man sie als deskriptiven Beitrag versteht. Es ergeben sich gleich mehrere Probleme: 1) Schmitts These, "nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen" (27) sei die Beurteilung von Freund und Feind möglich, wird 1933 erneut aufgegriffen und radikalisiert, indem er behauptet, die "Volks- und Rassenzugehörigkeit" determiniere die Möglichkeit der Individuen zur Bewertung und Einschätzung jedweden Sachverhalts: "Ein Artfremder mag sich noch so kritisch gebärden und noch so scharfsinnig bemühen, mag Bücher lesen und Bücher schreiben, er denkt und versteht anders, weil er anders geartet ist, und bleibt in jedem entscheidenden Gedankengang in den existenziellen Bedingungen seiner eigenen Art. Das ist die objektive Wirklichkeit der ,Objektivität'." Alles Recht sei "das Recht eines bestimmten Volkes", das nur der verstehe, der "existenziell" zu ihm gehöre. (Schmitt 1934,45) Dieser völkische Relativismus ist selbstwidersprüchlich - denn offenbar will die ,artgerechte' Relativierung der Objektivität objektiv sein und dementiert damit gen au das, was sie behauptet, nämlich die bloße Relativität allen Denkens - Schmitt selbst unterstellt im Zitat, dass es objektiv gültig sei, dass jeder "entscheidende [... ] Gedankengang" nur subjektiv gültig ist. 9 Die Bedeutung des ,existenziellen Teilhabens' orientiert sich möglicherweise an Heideggers Kritik an der kontemplativen Subjekt-Objekt-Anordnung einer ,Ontologie der Vorhandenheit' und an seinem Ausgehen vom primären In-der-Welt-Sein (der Verwobenheit von Selbst und Welt). So stellt Heidegger fest, "daß das Erkennen selbst vorgängig gründet in einem Schon-sein-bei-der-Welt, als welches das Sein von Dasein wesenhaft konstituiert. [sic!] Dieses Schon-sein-bei ist zunächst nicht lediglich ein starres Begaffen eines puren Vorhandenen" (Heidegger 1993, 61), sondern ein Engagiert-sein in der Welt. Schmitt deutet dieses Engagement als Situiertheit in Freund-Feind-Gegensätzen. Heideggers Ansatz wird bei Schmitt also nicht nur zur These vom bloß kontextuell gültigen, polemischen Charakter aller politischen Begriffe,lo sondern zur Behauptung des "Menschen als eines primär [... ] politischen und politisch-handelnden Wesens" (Marcuse 1968,47), die, wenn auch nicht konsequent,ll zur Ablehnung jedes Gedankens an wissenschaftliche Objektivität

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Die Idee einer Rechtlosstellung des Feindes hat im Zuge der Terrorismusbekämpfung Konjunktur. Vgl. schmittianische Staats- und Strafrechtler wie Günther Jakobs 2004 oder Otto Depenheuer 2008. Aber vielleicht soll diese objektiv gültige Einsicht ja selbst kein ,entscheidender Gedankengang' sein. Schmitts polemischer Sprachduktus lässt immer noch ein Hintertürchen offen. "alle politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte [haben] einen polemischen Sinn". (Schmitt 2002, 31) Vgl. Schmitt 1988, 47, wo er sich gegen die Übersetzung von Sitte mit Noos in Homers Odyssee wendet und statt dessen Nomos lesen will, denn: "Nous ist das AllgemeinMenschliche, das nicht nur vielen, sondern allen denkenden Menschen gemeinsam ist, wäh-

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und Distanznahrne, an Rationalität schlechthin ausgearbeitet wird. Denken kann dann nur noch aus Freund-Feind-Antagonismen heraus und als auf diese hin funktionalisiert verstanden werden. 1z 2) Feindschaft bezieht sich auf eine "der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht". (Schmitt 2002, 29) Der Feind soll aber nicht privater und psychologischer Feind sein, er müsse nicht gehasst werden. Er soll öffentlicher Feind sein, "weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch [I] öffentlich wird." (29) Wie entstehen aber diese Gesamtheiten und ihr Bezug aufeinander? Wenn der Begriff des Staates den Begriff des Politischen voraussetzt, das Politische aber durch die Unterscheidung von Freund und öffentlichem Feind definiert ist, so stellt sich die Frage, welche Instanz, wenn nicht das Entscheidungsmonopol, die öffentliche Gewalt des Staates, die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Feind treffen soll. Es muss schon eine Instanz geben, die eine spezifische Menge von Personen ("Gesamtheit") unter sich befasst und für sie verbindliche Entscheidungen trifft. Es existiert also die Tendenz zu einer zirkulären Definition des Staates aus dem Politischen und des Politischen aus dem Staat. "Schmitts Verständnis des Feindes als öffentlicher hostis", so stellt Christoph Schönberger fest, "bezieht seine Anschaulichkeit ursprünglich vom Krieg zwischen in Staaten geeinten Völkern und damit letztlich doch noch vom Staat her". (Schönberger 2003, 42) Der Staat ist also vorausgesetzt, um in sinnvoller Weise den öffen tlichen Feind zu bestimmen. 3) Noch im Vorwort der 1963er Ausgabe des Begriffs des Politischen reklamiert Schmitt die Identität von Politischem und Staatlichem für die Epoche einer "klare[n] Begrenzung des Krieges" und "Relativierung der Feindschaft" (Schmitt 2002, 11) im ius publicum europaeum zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert. Dessen U nterscheidungen zwischen "Innen und Außen, Krieg und Frieden, [ ... ] Militär und Zivil, Neutralität oder Nicht-Neutralität" (11) werden also explizit unter den Begriff des Politischen subsumiert. Die von Schmitt mit dem Politischen verbundene Formel von der "Negation der eigenen Art Existenz", bzw. "seins mäßigen Behauptung der eigenen Existenzform" (50) ist damit aber nicht zwangsläufig vereinbar und stellt keine zutreffende Beschreibung der Logik aller zwischenstaatlichen Kriege des 18. oder 19. Jahrhunderts dar. Diese waren, wie Bernd Ladwig feststellt, "von den dafür Verantwortlichen keineswegs als Negation der Negation ,der eigenen Art Existenz' angezettelt worden, sondern, zum Beispiel, als Kampf um Schlesien oder

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rend Einfriedung, Hegung und die sakrale Ortung, die in dem Wort Nomos liegt, gerade die einteilenden und unterscheidenden Ordnungen zum Ausdruck bringt". Im linksschmittianischen Diskurs der ,radikalen Demokratie' existiert Vernunft nur noch als "Schleier" (Mouffe 2013, 106) vor der eigentlich partikularen, irrationalen, gewaltbegründeten Wirklichkeit. Chantal Mouffe betrachtet jede Form der Erkenntnis und jeden allgemeinen Wahrheitsanspruch als gewaltkonstituiert, als bloßen Ausschlussakt und Machteffekt (vgl. ebd., 101, 125f.) und formuliert damit letztlich eine "politische Ontologie", eine ,,allgemeine" Gewalt- und Konflikttheorie "der Bedeutungsproduktion" (Marchart 2011, 213), die alle menschlichen Praktiken als politisch begreift. Vgl. den Beitrag zu Mouffe in diesem Band.

um überseeische Kolonien." (Ladwig 2003, 59) 13 Die Formel verweist eher auf den totalen Krieg und auf den Vernichtungs krieg im 20. Jahrhundert. 14 Im Jahr 1937 spricht Schmitt denn auch offen aus, es sei "richtig und sinnvoll [... ], eine vorher bestehende, unabänderliche, echte und totale Feindschaft zu dem Gottesurteil eines totalen Krieges" führen zu lassen. (Schmitt 1994a, 273) Unter den Bedeutungen des ,totalen' Krieges taucht explizit die Einwirkung auf den Feind mittels "rücksichtslosen Einsatzes vernichtender Kriegsmittel" (268) und des Einziehens der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten (270) auf. Völlig unklar bleibt also der Zusammenhang zwischen relativierter Feindschaft und ihrem doch vermeintlich politischen, dann aber auch existenziellen, um die "Negation der eigenen Art Existenz" (Schmitt 2002, 27) kreisenden Charakter. "Etwas weniger Feindschaft", so Hans Boldt, "die nicht mehr das Existentielle, sondern rechtliche Regeln und allgemein anerkannte Sitten als oberstes Gebot nimmt, ist mit der ursprünglichen Anlage der Theorie unvereinbar." "Was ist - wenn Feindschaft die Negation der eigenen Art des Seins bedeutet - eine ,relativierte' Negation?" (Boldt 2005, 111,118) 4) In der Theorie des Partisanen im Jahr 1963 trennt Schmitt seinen Begriff des Politischen vom Staat ab, wobei der Begriff des Ernstes als Unterscheidungskriterium eine wichtige Rolle spielt. Die dabei vorgenommene Differenzierung zwischen konventionellem, wirklichem und absolutem Feind bewirkt allerdings keine Klärung des Feindbegriffs. Es bleibt unverständlich, wie die Kategorie des konventionellen Feindes mit dem Begriff des Politischen vereinbar sein soll: Schmitt zufolge ist der konventionelle Feind der Feind im gehegten europäischen Kabinettskrieg des 18. Jahrhunderts. Dieser erscheine im Vergleich zu den totalen Kriegen als "nicht viel mehr als ein Duell zwischen satisfaktionsfähigen Kavallieren". (Schmitt 2006, 56) 15 Der Krieg werde hier gar so stark gehegt, "daß er als ein Spiel aufgefasst werden konnte". (90) Schmitt hat also offenbar bemerkt, dass sein auf ,Existenz'behauptung fokussiertes Intensitätskriterium des Politischen für viele kriegerische Auseinandersetzungen nicht zutrifft. 16 Was im Begriff des Politischen ohne weiteres unter das Intensitätskriterium des Politischen fällt, der gehegte Krieg, wird in der Theorie des Partisanen zum bloßen Spiel - zu dem, wogegen sich, wie noch zu zeigen sein wird, Schmitts ganzes Ressentiment wendet. Nun soll erst der "spanische Partisan [... ]

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Vgl. auch Krockow 1990,105. Dass hier kein Hass auf den Feind im Spiel sein musste (v gl. Schmitt 2002, 29), leuchtet bei diesen Kriegen noch eher ein. Zum Vernichtungskrieg vgl. Reemtsma 1995,377. Michael Wildt zeigt in seiner Studie über die Elite des Reichssicherheitshauptamts, einem Brückenkopf des NS-Vernichtungskrieges, dass diese sich bis ins Detail Schmitts Vokabular bedient. "Voller Einsatz, höchste Intensität", so auch Hans Freyer 1929 auf einer Tagung von künftigen Mitgliedern dieser Funktionselite, zeichnet diese Generation aus. Zu den Bezügen auf Schmitt vgl. Wildt 2008, 115125, 136, 14lf, 205, 21 off., 853. Vgl. auch Münkler 2010, 110-122 zur Entwicklung von der asymmetrischen Rechtfertigung des Krieges im bellum iustum-Paradigma des Mittelalters zur symmetrischen im Paradigma des "Duells oder Turniers" (113) in der europäischen Völkerrechtsordnung. Natürlich ging es denjenigen, die sich für territoriale oder sonstige Interessen ihrer Herren töten und verstümmeln lassen mussten, in der Situation des Kampfes um ihre konkrete Existenz, den Gemeinwesen aber nicht unbedingt.

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den Ernst des Krieges wieder her[gestelltJ" haben (91), indem er einen ,wirklichen' Feind bekämpfte und so aus einem unernsten einen ernsten, also existenziellen, "wirklichen Krieg" (91) gemacht habe. Den irregulär kämpfenden Partisanen zeichnet Schmitt zufolge aus, dass er sich "die Entscheidung darüber vorbehält, wer der ,wirkliche Feind' ist". (90) In der wirklichen Feindschaft finde der Partisan "den Sinn der Sache und den Sinn des Rechts" (92) im Gegensatz zur stumpfen oder untergegangenen Legalität des Gesetzes. Er sieht in ihm einen Statthalter des Politischen, der Entscheidung unter Bedingungen offizieller Entscheidungsohnmacht, dem Untergang des legalen Souveräns. Es fragt sich allerdings, ob das noch als öffentliche Feindbestimmung durchgeht. Ist der Partisan wirklich der Souverän? So stellt Marcus Llanque fest, dass der Partisan "nicht mehr in Ausführung einer öffentlichen Sache und als regulärer Soldat, sondern als Privatmann" agiert. (Llanque 1990, 70) Dies widerspreche aber Schmitts These vom öffentlichen, nicht privaten Charakter der Feindbestimmung. Wichtig ist allerdings, dass der Partisan offenbar einen direkten Draht zur Legitimität, zu den von Schmitt proklamierten ,substanzhaften' Werten einer Verfassung, schließlich zum Boden haben soll, weshalb ihm auch ein "tellurische[rJ" (Schmitt 2006, 26) Charakter bescheinigt wirdY Der Partisan, schreibt Llanque, erkenne Schmitt zufolge "den Sinn des Rechts als Einheit von Ordnung und Ortung". (Llanque 1990, 76) 18 Eine Möglichkeit, dem Partisanen Souveränität, d.h. eine öffentliche, verbindliche Entscheidungsgewalt zuzusprechen, besteht demnach darin, ihn als Exponent einer relativ homogenen Weltanschauungsgemeinschaft zu betrachten, die ,unterhalb' des formal bestehenden Staates existiert. Der absolute Feind hingegen sei der Feind des von Schmitt befehdeten revolutionären, linken Partisanen, der aufgrund seiner ,Motorisierung'19 den Bezug zum Boden verliere und der wegen seiner universalistischen, humanitären Ausrichtung den Feind aus dem Menschengeschlecht ausscheide, keine Hegungen mehr kenne. 2o Wenn die Relativierung des wirklichen Feindes, die ihn immer noch vom absoluten Feind unterscheiden soll, vom defensiven Charakter des Partisanen herrührt, so wäre nun das Politische ausschließlich ein Verteidigungskrieg, der die eigenen Landesgrenzen nicht mehr überschreitet, ,ernster' ist als die Kabinettskriege der Vergangenheit, aber keinesfalls so intensiv wie ein Kampf gegen absolute Feinde. Solche Festlegungen widersprächen der relativistischen (bzw. dezisionistischen) Behauptung, dass das Vorliegen des Ernstfalls, die Definition von ,Bedrohung der eigenen Art Existenz durch den Feind' - damit auch, worin die eigene Art Existenz besteht - ausschließlich bei den Beteiligten selbst liege und von keinem Dritten beurteilt 17

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Hier knüpft Schmitt an Motive der Partisanentheorie von Rolf Schroers aus dem Jahr 1961 an. Aber auch Ernst Jüngers Partisan aus dem Jahr 1951, genannt "Waldgänger", steht Pate, weist doch bereits dieser einen unmittelbaren Bezug zur Legitimität bzw. den "Quellen der Sittlichkeit" auf, wenn "alle Institutionen zweifelhaft oder sogar anrüchig werden" Uünger 2014,83). Der geschichtsphilosophische Hintergrund dieser Idee eines legitimen Rechts als Einheit von Ordnung und Ortung ist Schmitts esoterische "Nomos"theorie, vgl. Schmitt 1988. Vgl. Schmitt 2006, 78. Vgl. ebd., 56, 91ff.

oder gerichtet werden könne. 21 Es widerspräche auch wieder der Formel von der höchsten Intensität - dem Partisanen wird ja sogar ein "intensiv politische [rJ Charakter" (Schmitt 2006, 21) bescheinigt, was eigentlich schlecht möglich ist, wenn das Politische schon die äußerste Intensität der Trennung/Verbindung von Menschengruppen sein soll. Im Spätwerk wird aber nicht nur plötzlich der gehegte Kabinettskrieg als gar nicht die ,eigene Art Existenz' betreffendes Spiel erkannt, sondern, wie in Hamlet oder Hekuba, scheinbar der Staat selbst mit dem Spiel gleichgesetzt 22 , gegen das "der unkonstruierbare, nicht relativierbare [!J Ernst des tragischen Geschehens" (Schmitt 1985b, 47) geltend gemacht wird - auch hier ist Hegung also nicht vorgesehen. So konstatiert Schmitt, "daß es zum Wesen der Tragik gehört, sich nicht in ein sekundäres System einbeziehen zu lassen, ebenso wie umgekehrt das sekundäre System ein Bereich von Spielregeln ist, die Einbrüche des tragischen Geschehens ausschließen". (71) "Vielleicht findet sich eines Tages ein Gesetzgeber der - den Zusammenhang von Spiel und Freiheit, Freiheit und Freizeit realisierend - die einfache Legaldefinition aufstellt: Spiel ist alles, was ein Mensch im Rahmen der ihm gesetzlich zustehenden Freizeit zu deren Ausfüllung oder Gestaltung unternimmt." (72) Dass Schmitt Hans Freyers ,sekundäres System' erwähnt, dessen Begriff für die Institutionen der ,industriellen Gesellschaft'23, verdeutlicht, dass er nicht den Staat generell, sondern den technisch-administrativen Apparat der ,Industriegesellschaft' mit dem Spiel assoziiert - eine rechte Kritik der vermeintlich ,verwalteten Welt': "Die Flucht vor der Freiheit", so Schmitt im Glossarium, "ist in concreto nichts an: deres als die Flucht in die Technik." (Schmitt 1991a, 134) Hier wird Freiheit mit dem Politischen, also mit der (in der Regel heteronom vom Souverän vorgegebenen) Möglichkeit des Kampfes und Todes verknüpft, während Unfreiheit mit physischem Behagen und rationaler Planung per se assoziiert wird. Es geht Schmitt also keineswegs um den Gegensatz von Autonomie und Heteronomie, sondern lediglich darum, zu welchem Zweck sich das Individuum in den Dienst nehmen lässt. In der Tat spielt aber, wie gezeigt, im Partisanenkonzept die Haltung des ehemals Souveränitätsunterworfenen eine Rolle, die man im Begriff des Politischen noch nicht erkennen kann - darf dieser sich der ,falschen' bzw. ,fremden' Souveränität doch nicht mehr fraglos unterwerfen, sondern muss seine eigene künftige Unterwerfung unter eine bodenbezogene, wahre Souveränität aktiv betreiben und vorbereiten. Das Freiheits- und Individualitätspathos ist reiner Schein. 24 Faschistischen Theoretikern wie Schmitt und seinen Schülern liegt nichts ferner, als die bürokratische Mentalität einer nüchternen Bedienung der Staats apparatur. Immer wieder wird die Entwicklung des Staates zum bloßen Mechanismus, "große[nJ Betrieb" (Schmitt 2004b, 69) oder 21 22 23

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Vgl. Schmitt 2002,50. Vgl. Schmitt 1985b, 43, 65f., 72. Vgl. Freyer 1955. Hinter diesem verbirgt sich, wie Erich Fromm darlegt, der rebellische Typus des autoritären Charakters, der "Abfall von einer Autorität unter Beibehaltung der autoritären Charakterstruktur mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Befriedigungen". Die Ursache dieses Abfalls liegt darin, dass eine "bestehende Autorität ihre entscheidende Qualität einbüßt, nämlich die der absoluten Macht und Überlegenheit". (Fromm 1989, 184f.)

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"bürokratische [n] Apparaturstaat" unter dem "Gesetz der Zweckrationalität" (Forsthoff 1933, 11) als Verfalls geschichte interpretiert. Diese ,Kritik der instrumentellen Vernunft'25 propagiert dagegen existentialistisch das engagierte politische Handeln im Geiste willkürlich bestimmter ,substanzieller Werte', wenn nötig auch gegen die formal zuständigen Instanzen. Bereits 1914 spricht sich Schmitt denn auch gegen die ,,'Pflichtwichte[ ... ]''' und deren "Unfähigkeit [sic!] in einer großen Sache aufzugehn" aus. Diese Bürokraten verwechselten das, "was hier Staat und Aufgabe genannt wird, mit der ,vorgesetzten Behörde'''. (Schmitt 2004a, 92) Ein guter Kandidat für diese Reanimierung des "nicht relativierbare [n] Ernst [es]" des Tragischen bzw. des Politischen gegen die verhasste Sekurität und bürokratische Mentalität, ist also für den späten Schmitt der Partisan. Auch und gerade dieser eignet sich, wie Herfried Münkler betont, für eine existentielle Kriegsauffassung, "in welcher der Krieg nicht als Mittel der Politik, sondern als Medium der Konsti~ oder Transformation einer politischen Größe begriffen wird". Diese Figur sei mit dem "arbeitsame[n], strebsame[n], fast in allen Entschlüssen am Kosten-NutzenKalkül orientierte[n] Bürger" (Münkler 2002,106) nicht zu vereinbaren. Schmitts deskriptiver Begriff des Politischen ist, wie hier nur angedeutet werden konnte, wirr und analytisch unbrauchbar. Doch mit den letzten Ausführungen befinden wir uns bereits mitten in Schmitts normativem Programm. Dieses soll nun näher betrachtet werden. 2. Der normative Gehalt des Begriffs des Politischen: Die Ermöglichung einer ernsthaften Existenz Die Entscheidung über Krieg und Feind ist der "entscheidende [ ... ] Punkt des Politischen". (Schmitt 2002, 39) Die politische Gruppierung orientiert sich am "Ernstfall", ist für diesen die "maßgebende" Einheit und in diesem Sinne der Entscheidung über das Vorliegen des Ernstfalls ,,'souverän"'. (39) Der Kriegsfall ist der Ausnahmefall, aber von diesem her bestimmt sich für Schmitt das Wesen des Politischen, das demgemäß eine Existenzform unter der beständigen Möglichkeit des Krieges ist. Staatliche Souveränität besteht also zunächst darin, "kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen". (45) Bemerkenswert ist, dass Schmitt hiermit ein höherrangiges ,,'Recht auf Selbsterhaltung'" (Schmitt 2003, 22) geltend macht, nämlich das Recht auf "Existenz [,] [... ] Unabhängigkeit [,] Freiheit" des Volkes, "wobei es kraft eigener Entscheidung bestimmt", worin diese bestehen.

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Bereits 1916 entfaltet Schmitt dieses Motiv ausführlich in seinen Anmerkungen zu Däublers "Nordlicht". Dort moniert er den "Betrieb, der den Einzelnen so vernichtet, daß er seine Aufhebung nicht einmal fühlt" [I] (Schmitt 1991 b, 59), das ,mechanische' "Zeitalter der Sekurität" (62), mit seinen "großartig funktionierende[n] Mittel[n] zu irgendeinem kläglichen oder sinnlosen Zweck". (59) Was hier als Kritik der verwalteten Welt anhebt, ist pures Ressentiment gegen Planung und irdisches Glück per se, die Furcht vor der Freiheit, die denjenigen ergreift, der keine transzendenten, ewigen, der Menschheit entzogenen Werte und Instanzen mehr erblicken und ihnen doch nicht entraten kann.

(Schmitt 2002, 46)26 Indem das ius ad bellum das Entscheidungsmonopol des Staates über Krieg und Feind darstellt, beinhaltet es "die Möglichkeit [... ] [,] offen über das Leben von Menschen zu verfügen [... ] [,] von Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen, und auf der Feindesseite stehende Menschen zu töten". (46) "Durch diese Macht über das physische Leben der Menschen erhebt sich die politische Gemeinschaft über jede andere Art von Gemeinschaft". (48) Verlange eine Kirche von ihren Angehörigen das Sterben für den Glauben, so nur ihres eigenen Seelenheils wegen. Beziehe sich die Einforderung der Todes- und Tötungsbereitschaft auf die Kirche als "weltliches Machtgebilde", mutiere sie hingegen "zu einer politischen Größe". (48) Die diesseitige Ausrichtung der Todesbereitschaft, ihre verbindliche Einforderung von einer jenseits des Einzelnen liegenden, öffentlichen Instanz und der eigeninteressierte Motive auf öffentliche Belange hin überschreitende Inhalt scheinen also das Politische am politischen Verlangen des Staates zu sein. Die "Macht über das physische Leben der Menschen" (48) erweist das Politische als "Status in einem absoluten Sinne" und "relativiert und absorbiert alle anderen Statusverhältnisse". (Schmitt 2003, 49) Die nachvollziehbarste Bedeutungsschicht des schillernden Begriffs des ,Existenziellen' oder ,Seinsmäßigen' ist hiermit freigelegt. Die Frage nach dem Verhältnis von Sachgebieten und Autonomie des Politischen wird hier virulent, denn wofür eigentlich wird die Tötungs-/Todesbereitschaft verlangt? Einerseits behauptet Schmitt, dass jeder Gegensatz aus beliebigen Sachgebieten politisch werden könne, wenn er nur den höchsten Intensitätsgrad der Freund-Feind-Gruppierung erreiche. 27 Das legt nahe, dass ökonomische Konkurrenz oder moralische Ablehnung in Krieg umschlagen können: Das wären Kriege um den Zugang zu Ressourcen oder zur Verhinderung der Vernichtung spezifischer Bevölkerungsteile eines anderen Staates (,humanitäre Intervention'), also Kriege aus ökonomischen oder moralischen Gründen. Das Politische wäre hier eine Steigerung der Gegensätze von Menschengruppen, "deren Motive religiöser, nationaler [... ], wirtschaftlicher oder anderer Art sein können" (38), bis zur Tötungs- und Todesbereitschaft. Solche Motive lehnt Schmitt aber nur wenige Seiten später in aller Entschiedenheit ab. Jede Rechtfertigung von Todes- und Tötungsbereitschaft aus ökonomischen, religiösen oder ethischen Gründen sei "grauenhaft und verrückt". (49) Ein aus solchen Gründen geführter Krieg sei "sinnwidrig" (36), weil sich aus den spezifischen Gegensätzen der Sachgebiete Feindschaft und Krieg nicht ableiten ließen. Der Krieg habe "keinen normativen, sondern nur einen existenziellen Sinn, und zwar in der Realität der Situation eines wirklichen Kampfes gegen einen wirklichen

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Dieses vorpositive Recht wird aber bezeichnenderweise nicht aufs Individuum, sondern auf Herrschaftsverhältnisse bzw. politische Einheiten bezogen, vgl. Schmitt 2003, 22: "Was als politische Größe existiert, ist, juristisch betrachtet, wert, daß es existiert. Daher ist ihr ,Recht auf Selbsterhaltung' die Voraussetzung aller weiteren Erörterungen". Vgl. auch Schmitt 2004b, Isf.: "Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt." Vgl. Schmitt 2002, 37f.

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Feind". (49)28 Daher könne die Bestimmung des Feindes (wer ist zu bekämpfen?) und des Ernstfalls (wann tritt der Fall des Krieges ein?) sowie die Bestimmung der "eigenen Art Existenz" (27) nicht moralisch oder ökonomisch oder durch sonst einen "Sachbereich" bewerkstelligt werden. Sowohl die Existenzweise als auch die Bereitschaft, für deren Verteidigung zu töten, scheinen hier durch eine kriteriell leere Entscheidung 29 hervorgebrachte Gespenster. Sie sind "nur politisch sinnvoll" (50) das Politische ist aber wiederum die auf den Kriegsfall bezogene Unterscheidung von Freund und Feind. 30 Schmitt scheint hier schlicht den Krieg als Mittel für bestimmte inhaltliche Zwecke zu ignorieren. Der Feind wird zwar nur bekämpft, weil er ,unsere Art der Existenz' bedroht - was das heißt, kann Schmitt zufolge nur die 28

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"Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für Ideale oder Rechtsnormen, sondern darin, daß er gegen einen wirklichen Feind geführt wird". (Schmitt 2002, SOL) Der Linksschmittianismus reproduziert dieses dezisionistische Denken des Politischen als grundloses Konfliktgeschehen, vgl. Mouffe 2013, 106 sowie Hetzel 2009, 236: "Das Politische gründet [... ) in seinem je konkreten Vollzug; es kennt darüber hinaus keine transzendentalen Bedingungen seiner Möglichkeit, keine ihm selbst vorgängigen Vernunft- oder Rechtsgründe. [... ) Das Politische ruht buchstäblich auf nichts". Es ist bezeichnend, dass dieses politische Denken denn auch buchstäblich nichts zum Verständnis von Staat, Ökonomie und politischem Handeln beizutragen hat, mit Ausnahme der These, menschliches Handeln sei nicht durch eine Sachgebiets logik determiniert, die aber ins falsche Extrem der Aussage getrieben wird, es gebe keine historisch-spezifischen, für bestimmte Sozialformationen relativ stabilen, tiefenstrukturellen Bedingungen, die menschliches Handeln ermöglichen, begrenzen und motivieren. Das Zauberwort der ,kontingenten' Ordnungen lässt hier jede sozialtheoretisch sinnvolle Unterscheidung verschwinden. Mit Bezug auf die These, der Krieg sei "nicht Ziel und Zweck der Politik" (Schmitt 2002, 34) versuchen Schmitt-Apologeten wie Böckenförde (1991,345), die These vom "kriegerischen Kampf" als "Ziel und Inhalt der Politik" als "Mißverständnis" abzutun. Wie gezeigt, geht es beim Politischen aber sehr wohl um die Existenz unter der beständigen Möglichkeit des Krieges. Der Krieg "muß", schreibt Schmitt, "als reale Möglichkeit vorhanden bleiben", damit "der Begriff des Feindes seinen Sinn hat" (Schmitt 2002, 33), die Feindunterscheidung wiederum ist das Kriterium des Politischen (26) und Kriege dürfen zudem Schmitt zufolge nicht "für Ideale oder Rechtsnormen" (50f.) geführt werden, dies wäre ja "grauenhaft und verrückt" (49), sondern nur "politisch sinnvoll" (50) sein, haben ihren Sinn also darin, dass sie "gegen einen wirklichen Feind" (51) geführt werden. In der 3. Auflage des Begriffs des Politischen von 1933 und dem Artikel Politik aus dem Jahr 1936 weicht Schmitt scheinbar von dieser Sinngebung des Politischen ab. Im Gegensatz zur Auffassung eines "Nichts-als-Kriegertums" im heroischen Realismus Ernst Jüngers, werde der Krieg der "politischen Ansicht" gemäß "des Friedens wegen geführt" (Schmitt 1995b, 137), bzw. zwecks "Herbeiführung von Herrschaft, Ordnung und Frieden". (Schmitt 1933, 10) Aber auch hier darf man sich nicht in die Irre führen lassen, zeigt doch der Hinweis darauf, dass diese politische Ansicht auch der "auf den Frieden gerichteten [... ) Politik des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler zugrunde liegt" (1995b, 137), die rein zeitbedingte, politstrategische Ausrichtung dieser Ausführungen. Schmitts Sätze sind genauso glaubhaft wie Hitlers ,Friedenspolitik' Mitte der 30er Jahre. Dass Schmitt im "agonale[n) Prinzip" Jüngers den Gegner nur als ,,'Antagonist [en)', Gegenspieler [!) oder Gegenringer, nicht [als) Feind" (1933, 10) auftreten sieht, deutet an, dass er in Jüngers Haltung offenbar ein gewisses Maß an romantischer Politik identifiziert, ihm hier zu sehr das den Krieg als Gelegenheit betrachtende Individuum im Mittelpunkt steht (vgl. Schmitt 1998, 152f.). Es zeigt sich, dass Schmitt ,wirkliche' Feinde, nämliche Feinde des Politischen, bekämpfen will und nicht eine völlig inhaltslose Feindbestimmung im Auge hat.

politische Einheit selbst bestimmen. Wäre das aber so, dann könnte ,der Westen' einen Krieg gegen ,den Islamismus' führen, weil dieser seine moralischen und kulturellen Werte negiert, oder gegen ,den Kommunismus', weil er seine Eigentumsordnung bedroht. Aber Schmitt leugnet dies nicht nur, er schreibt den Beteiligten plötzlich, ganz im Widerspruch zu seiner Feindtheorie aus der Beteiligtenperspektive, vor, Kriege nicht aus ökonomischen oder moralischen Gründen führen zu dürfen, nur aus politischen. Und damit wird die Bekämpfung des Feindes, wird das Verlangen von Todes- und Tötungsbereitschaft recht verstanden zum Selbstzweck. 3! Was Werner Konitzer zu folge "bei allen NS-Ideologen [... ] auftaucht", trifft auch auf Schmitt zu: "die grundsätzliche und prinzipielle Bejahung des Krieges. Damit richten sie sich nicht nur gegen pazifistische Positionen, sondern gegen alle Positionen, für die Krieg überhaupt einer besonderen Begründung bedarf". (Konitzer 2009, 102)32 Es ist daher kein Zufall, dass Schmitt sich schon früh für "irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung" (Schmitt 1996a, 77) interessiert und auf Georges Sorel rekurriert. Was ihn fasziniert, ist folgende Haltung: ,,[D]ie diskutierende, transigierende, parlamentierende Verhandlung erscheint als ein Verrat am Mythus und an der großen Begeisterung, auf die alles ankommt. Dem merkantilen Bild von der Balance tritt ein anderes entgegen, die kriegerische Vorstellung einer blutigen, definitiven, vernichtenden Entscheidungsschlacht" . (81) "Die kriegerischen und heroischen Vorstellungen, die sich mit Kampf und Schlacht verbinden, werden von Sorel wieder ernst genommen als die wahren Impulse intensiven Lebens [... ]. Was das menschliche Leben an Wert hat, kommt nicht aus einem Räsonnement; es entsteht im Kriegszustande bei Menschen, die, von großen mythischen Bildern beseelt, am Kampfe teilnehmen". (83)33 Hier verselbständigt sich ein Merkmal von MoraP4 - die Verpflichtung des Einzelnen, also die Möglichkeit eines Konfliktes mit dem Prinzip der unmittelbaren Selbstliebe - zu einer entleerten "Erhabenheit" (SoreI1981, 248) als Verherrlichung des Absehens von sich selbst und allen Nutzenerwägungen. 35 Wie bei Schmitt wird der Krieg dabei von Sorel zum Selbst31

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Vgl. zum Selbstzweckbegriff Abschnitt 3 dieses Beitrags. Vgl. auch Sternhell u.a. 1999, 90f.: Hier ist "die Gewalt [... ] nicht nur Mittel zum Zweck, sondern ein Wert an sich". Reichardt (2009,609) betont die ,,[s]pezifisch faschistisch[e] [... ] Vertauschung der Zweck-Mittel-Relation" in der Frage von Gewalt und Kampf sowie die Stilisierung der "Politik" zur "totale[n] Erfahrung" (vgl. auch ebd., 659, 664, 710, 719ff.). Ein fast wörtlicher Bezug auf Sorel 1981, 252: Die "hohen moralischen Überzeugungen" "hängen keineswegs von Vernunfterwägungen oder von einer Erziehung des individuellen Willens ab; vielmehr stehen sie in Abhängigkeit von einem Kriegszustande, an dem die Menschen willig teilnehmen und der sich in scharf umrissenen Mythen ausdrückt". Sorel bewegt sich dabei in dem Zirkel, die Selbstüberwindung im Krieg als Quelle der Erhabenheit zu betrachten, die wiederum nichts anderes als eine kriegerische Tugend ist; vgl. Sternhell u.a. 1999,90. Schmitt spricht in diesem Zusammenhang auch immer wieder von ,moralischer Entscheidung' (v gl. z.B. 2004b, 68f.). Zur faschistischen ,Moral' vgl. Konitzer 2009, Gross 2010. Vgl. Sorel1981, 249. Vgl. Sternhell u.a. (1999,93), der Sorels Intention wie folgt zusammenfasst: "man muß alle Ideologien und politischen Tendenzen zerschlagen, die sich auf die Idee gründen, das Wohlergehen des einzelnen sei der Zweck jeder gesellschaftlichen Organisati-

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zweck erkoren und es kommt keineswegs auf eine rational begründbare Richtigkeit oder Wahrheit des zur Gewalt motivierenden Mythos an. So verurteilt Sorel beispielsweise den ökonomisch motivierten Eroberungskrieg. Hier habe ,,[ d] er Krieg [... ] seine Ziele nicht mehr in sich selbst" (habe also keinen ,politischen Sinn'), gehe es doch einfach darum, sich "materielle Vorteile zu schaffen". (196) Dem wird der Ruhmeskrieg gegenübergestellt, der "jegliche soziale Rücksicht der Rücksicht auf den Kampf unterordnet" (197) (höchste Intensität) und "den Menschen, der sich ihm hingibt, an eine Stelle erhebt, die den gewöhnlichen Bedingungen des Lebens überlegen ist" (195?6 (Ernst vs. Spiel; Ausnahme vs. Normalität). Ebenfalls nimmt Schmitt Sorels "Bild [... ] vom Bourgeois" (Schmitt 1996a, 87) auf, einen ,Mythos', der den Bourgeois als feigen, unkriegerischen Weichling beschreibt,37 als Gegenbild zu allen Werten des faschistischen Irrationalismus. 38 Schmitt kritisiert lediglich die vermeintliche Halbherzigkeit, mit der Sorel seinen Angriff auf den Rationalismus durchführt. Er beziehe sich inkonsequenterweise noch auf die Begrifflichkeit der Klassentheorie von Marx, mit der dieser "seinem Gegner, dem Bourgeois, auf das ökonomische Gebiet gefolgt ist" (86): "Amerikanische Finanzleute und russische Bolschewisten", so Schmitts Variation eines antisemitischen Topos, "finden sich zusammen im Kampf für das ökonomische Denken [ ... ]. In dieser Bundesgenossenschaft steht auch Georges Sore!." (Schmitt 1925, 19) Dagegen könne nur die "Energie des Nationalen" (Schmitt 1996a, 88) vor der Konsequenz einer nicht mehr zum bedingungslosen Kampf motivierenden "rationalistische [n] und mechanistische [n] Mythenlosigkeit" (86) bewahren. 39 Auch wenn Schmitt das nicht wahrhaben will: Genau das ist der Clou seines Begriffs des Politischen: das faschistische ,,'l'art pour l'art auf politischem Gebiete'"

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on." Vgl. auch Meuter 1994, 285: "Ernste Moral ist demnach totale Mobilmachung zu [... ] fremden Zwecken". Vgl. Schmitt 2004b, 21: "In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik." Eine Begeisterung für das In-der-WeltSein im Kriegsfall im Gegensatz zum punktuellen Selbst, das einer zur leeren Abstraktion mutierten ,Umwelt' gegenüberstehe, findet sich auch im Manifest Der kommende Aufstand (Unsichtbares Komitee 2010, 54): "Diejenigen, die [... ] einen Krieg [... ] bewohnen, haben keine ,Umwelt', sie entwickeln sich in einer Welt, die von Gegenständen und Gefahren, von Freunden und Feinden, von Lebenspunkten und Todespunkten [... ] bevölkert wird". Vgl. auch seine Ausführungen zu Hegels "polemisch-politischer Definition des Bourgeois", "der die Sphäre des risikolos-Privaten nicht verlassen will", die Sicherheit des Genusses seiner privaten Güter anstrebt und sich darin "als einzelner gegen das Ganze verhält". Der Bourgeois sei ein Mensch, der den Staat für seine egoistischen Geschäfte instrumentalisiert, aber "der Gefahr eines gewaltsamen Todes entnommen bleiben will". (Schmitt 2002, 62) Zur faschistischen ,Antibürgerlichkeit' vgl. detailliert Reichardt 2009, 644ff., 651, 689. Schmitt teilt diese Werte, bewahrt aber meist den für ihn charakteristischen pseudosachlichen Stil. Zu den Idealen des Faschismus vgl. Sternhell u.a. 1999, 17-22,24-27. Sternhell u.a. (1999, 103ff., 107) zeigen allerdings, dass dieser Marx-Bezug Sore!s von Anfang an mit einer irrationalistischen Fundamentalrevision verbunden war, die am Klassenkampf nur den Kampf schätzte, am Kapitalismus nur einen Mythos vom transigenten Bürger kritisierte und letztlich in den Nationalismus gemündet habe. Damit folgten Sore! und seine Schüler dem Schmittschen Wink, weil sie bemerkten: "Dieses Proletariat [... ] erwies sich als ebenso dem Utilitarismus verfallen wie die Bourgeoisie." (103)

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(Schmitt 1994b, 125), ein "Ästhetizismus [... ] des Ernstfalls". (Bürger 1986, 174) Dieser, so Friedrich Balke, habe den Anspruch der totalen Erfassung des Menschen "unter den Bedingungen einer hochgradig arbeitsteilig organsierten Gesellschaft" durch zeitweilige "Suspension aller alltäglichen (,bürgerlichen') Lebensvollzüge" mittels einer "Orientierung des Menschen an der Möglichkeit des eigenen Untergangs". (Balke 1990, 49) Im Gegensatz zum Spiel in Schillers Sinne, das den Menschen ebenfalls total erfasse,4o aber, wie Schmitt meint, dabei existenziell "entproblematisier[e]" (Schmitt 1985b, 50), womit es "die grundsätzliche Negation des Ernstfalles" darstelle (42), könne Schmitt nur eine ,Ästhetik des Ernstes' tolerieren. 41 Balke resümiert, Schmitt könne "den Wunsch ,gespaltener' Subjekte nach imaginärer Retotalisierung nur dann akzeptieren, wenn er eine Intensität entfaltet, die auch noch das zentrale Axiom neuzeitlicher Anthropologie seit Hobbes außer Kraft setzt, das den Menschen ein schlechterdings nicht zu relativierendes Interesse an ihrer conservatio unterstellt." (Balke 1990, 50) 42 Wie Leo Strauss bereits 1932 festgestellt hat, zeichnet sich Schmitts Darstellung ,entpolitisierender' Tendenzen dabei durch eine eigentümliche Inkonsistenz aus. Einerseits räume er wenigstens die Möglichkeit ein, dass "die Unterscheidung von Freund und Feind auch der bloßen Eventualität nach auf [hören]", es eine "politikreine" Welt geben könne. (Schmitt 2002, 54, auch 35f., 56; ebenso 1925, 34, 47) "Ob und wann dieser Zustand der Erde und der Menschheit eintreten wird", 40

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Schiller diagnostiziert "das Opfer ihrer [der Menschen] Totalität" im Zuge der modernen klassengespaltenen, arbeitsteiligen Gesellschaft und konstatiert, es müsse "bey uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen." (Schiller 2006b, 28) Es sei "nur das Spiel", das den Menschen wieder "vollständig macht" (61), d.h. theoretische und praktische Vernunft sowie Sinnlichkeit in Harmonie vereint: "der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt". (62f.) Am Spiel hebt Schiller hervor, dass es "weder subjektiv noch objektiv zufällig ist, und doch weder äußerlich noch innerlich nöthigt". (60) Es ist demnach dem materiellen oder moralischen Zwang genauso enthoben, wie der "nichtige[n] Lust" (63); es neutralisiert die groben sinnlichen Notwendigkeiten und Bedürfnisse, ohne einer logischen oder moralischen Nötigung zu unterliegen (zu Schillers Begriff des Spiels vgl. Matuschek 2009,180-186, 193ff., 202, 211f.). Schmitt wendet sich explizit gegen diese Idee: "Erst im Spiel wird der Mensch zum Menschen; hier findet er sich aus der Selbstentfremdung zu seiner eigenen Würde. An der Hand einer solchen Philosophie muß das Spiel dem Ernst überlegen werden." Der Ernst werde so "zum tierischen Ernst", ,,'dreckichte Wirklichkeit'" (Schmitt 1985b, 49), während er doch für Schmitt gerade den Menschen ausmachender Zweck ist. Es wäre interessant, der Frage nachzuspüren, inwiefern Schmitt hier partiell in der Tradition der Ablehnung des Spiels als eitles Blendwerk steht, die von Platon über AristoteIes bis hin zu Rousseau reicht. Allerdings sind deren Konzepte des Ernstes allesamt substanzieller als das Schmittsche, das unnötiges Leid per se in den Rang des Ernstes erhebt. Mit dieser Ästhetik-Diagnose ist nicht gemeint, dass Schmitt politische Phänomene nach ästhetischen Kriterien beurteilt, z.B. eine Bombenexplosion als ,schön' beschreibt. In diesem Sinne ist Schmitt gewiss keine Ästhetisierung vorzuwerfen (vgl. auch Schmitt 2002, 27). Vielmehr finden sich bei ihm bestimmte Analogien zu ästhetischen Phänomenen. Zu verschiedenen Bedeutungsschichten einer Ästhetisierung des Politischen vgl. Jay 1993, 121ff. Vgl. auch Marcuse 2004, 223: Im "heroische[n] Kult des Staates" und der nationalen "Erhebung" werde das "Individuum [... ] völlig geopfert" und "soll jetzt in der Größe des Volkes das Glück des einzelnen verschwinden."

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schreibt Schmitt, "weiß ich nicht. Vorläufig ist er nicht da." (Schmitt 2002, 54) Zum anderen werfe er der liberalen Idee einer Herrschaft des Gesetzes ebenso wie einer "humanitäre[n] Moral" (Strauss 2001a, 235) vor, mit ihrer Idee einer geeinten Menschheit, mit universalistischen Normen und der Idee des gerechten Krieges, dem Politischen nicht entkommen, ja es lediglich ins Barbarische steigern zu können. 43 "Nun könnte", wie Strauss konstatiert, "das Politische nicht bedroht sein, wenn es, wie Schmitt an einer Reihe von Stellen behauptet, schlechterdings unentrinnbar wäre." (Strauss 2001a, 229) Schmitt diagnostiziere also nicht bloß die Schicksalhaftigkeit des Politischen, seine Furcht vor der Möglichkeit einer entpolitisierten Welt offenbare sein Denken als "Eintreten für das bedrohte Politische, eine Bejahung des Politischen." (229) "Die Bejahung des Politischen" aber sei "die Bejahung des Naturstandes." (235) Schmitt hält Strauss zufolge die entpolitisierte Welt nicht für unmöglich, er "verabscheut" (232) sie, habe einen "Ekel" (233) vor ihr. Tatsächlich zieht Schmitt immer wieder zu Felde gegen bürgerliche Sekurität (Schmitt 2002, 62), gegen "vielleicht interessante [... ] Konkurrenzen und Intrigen aller Art" (35f.), gegen "Unterhaltung" (54), "Konsum" (83), "Spiel" (120) und "gemütliche[n] Bildungsgenuß" (Schmitt 1985b, 49), gegen ein "paradiesische[s] Diesseits unmittelbaren, natürlichen Lebens und problemloser ,Leib'haftigkeit" (Schmitt 2004b, 68), gegen die "nichtssagende Gleichheit", ja "schlimmste[ ... ] Formlosigkeit[ ... ]" des Kosmopolitismus (Schmitt 1996a, 17) und "Verhandeln, abwartende Halbheit", die "die blutige Entscheidungsschlacht" "in parlamentarische Debatte verwandelt", "durch eine ewige Diskussion ewig suspendieren" will. (Schmitt 2004b, 67) Dagegen wolle er den "Ernst des menschlichen Lebens" (Strauss 2001a, 233) bewahren, der mit der "spezifisch politische[n] Spannung", dem "Ernstfall" (Schmitt Vgl. Schmitt 2002, 55; 1925, 24, 44, 48. Schmitt kombiniert die von Albert O. Hirschman (1995, 141ff.) als Grundbestand einer "Rhetorik der Reaktion" analysierte "Sinnverkehrungsthese" (Humanismus führt zu Antihumanität) mit der "Vergeblichkeitsthese" (an der Logik des Politischen ist nichts zu ändern) und der "Gefährdungsthese" (einmal erreichte Hegungen des Krieges werden durch Humanismus gefährdet). Schmitt behauptet, die Kriegsfeindschaft oder die universalistische Idee eines gerechten Krieges im Namen der Menschheit führe zur Entmenschlichung des Feindes und zu einem totalen Vernichtungskrieg bis zur "äußersten Unmenschlichkeit" (2002,55, vgl. auch 1925,44). Kriege im Namen der Menschheit hätten daher einen "besonders intensiven politischen Sinn" (2002,55). Diese Behauptung, die auch im gegenwärtigen Linksschmittianismus vertreten wird (v gl. Hetze! 2009, 177, 182; 2010, 240f., 243 und Mouffe 2013,66,101) ist unhaltbar: a) Schmitt nimmt damit gerade einen universalistischen Begriff von Menschheit in Anspruch. Welchen Sinn soll sonst der Begriff der Unmenschlichkeit haben? b) Es ist nicht einsichtig, dass die Bekämpfung von Verbrechen gegen die ,Menschheit' (verstanden als allen Menschen gleichermaßen zukommender Anspruch auf Achtung ihrer Würde) den Anspruch auch der in dieser Weise als ,Feinde der Menschheit' Definierten auf menschliche Würde leugnet. Gefordert wird von ihnen vielmehr die Aufgabe der exklusiven Beanspruchung bestimmter Rechte. c) Schmitt ignoriert, dass universalistische Kriegslegitimationen auch eine "gewalt!imitierende Funktion" (Münkler 2002, 208) aufweisen können, die Totaldenunziation und abstrakte Negation universeller Normen dagegen regelmäßig zu einer Gewaltenthemmung führt, wie sie im zweiten Weltkrieg seitens der Deutschen vollzogen wurde. Schließlich war es eine Ideologie des selbstbewussten Partikularismus, für den Schmitt plädiert, mit dem die deutsche Seite den Krieg als Vernichtungskrieg geplant und durchgeführt hat.

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2002, 35), verbunden sei. Die einzige "Garantie dagegen, daß die Welt nicht eine Welt der Unterhaltung wird, sind Politik und Staat" (Strauss 2001a, 233) und damit die Möglichkeit des Krieges. 44 In der Ausgabe des Begriffs von 1963 bestätigt Schmitt Strauss' Diagnose eines Hasses aufs Behagen, auf den Hedonismus und das individuelle Glück: Strauss "legt [ ... ] den Finger auf das Wort Unterhaltung. Mit Recht. [ ... ] Heute würde ich Spiel sagen, um den Gegenbegriff zu Ernst (den Leo Strauß richtig erkannt hat) mit mehr Prägnanz zum Ausdruck zu bringen. [ ... ] In meinem Verlegenheitswort ,Unterhaltung' sind aber auch Bezugnahmen auf Sport, Freizeitgestaltung und die neuen Phänomene einer ,Überflußgesellschaft' verborgen" (Schmitt 2002, 120). Der normative Kern des Begriffs des Politischen ist damit freigelegt. 3. Der humanistische und der faschistische Begriff des Ernstes Wie sehr Schmitts Sinnstiftungsversuch des Krieges aufklärerischem Denken entgegengesetzt ist und wie sehr der Diskurs des Opfers sich hier verändert, zeigt ein Vergleich mit Friedrich Schillers Begriff des Ernstes. Schiller unterscheidet Anmut und Würde als Ausdrucksformen des menschlichen Geistes: Anmut wird verstanden als Ausdruck einer "schönen Seele", in der sittliche Pflicht - für Schiller nichts anderes als der kategorische Imperativ Kants - und Neigung harmonisch verbunden sind und die Affekte die "Leitung des Willens" übernehmen können, ohne Gefahr zu laufen, mit den Forderungen der Pflicht "im Widerspruch zu stehen." (Schiller 2006a, 111) Die schöne Seele bezeichnet also eine habitualisierte Form der Moralität, die "de [n] ganze [n] Charakter" umfasst und phänomenal als Anmut erscheint,45 weil Sinnlichkeit der Moral hier nicht unterworfen, sondern mit ihr "versöhnt!... ]" (107) ist. Der anmutige Mensch "ist einig mit sich selbst", hat ein Bedürfnis, das Richtige zu tun, seine Moralität äußert sich als "Leichtigkeit" (102) .und trägt Züge "des Spiels". (105) Schiller betrachtet diese Harmonie von Pflicht und Neigung als anzustrebendes Ideal und selber wiederum als natürliche "Verpflichtung" (107), die einfach aus dem Charakter des Menschen als vernünftiges Sinneswesen resultiere. Er ist sich allerdings bewusst, dass dieses Ideal aufgrund der Naturbedingtheit, Leidensfähigkeit und Endlichkeit menschlicher Existenz nicht vollständig zu realisieren ist (vgl. 113): "Die Gesetzgebung der Natur durch den Trieb kann mit der Gesetzgebung der Vernunft aus Prinzipien in Streit geraten, wenn der Trieb zu seiner Befriedigung eine Handlung fordert, die dem moralischen Grundsatz zuwiderläuft." (116) In diesem Fall "kann sich die Sittlichkeit des Charakters nicht anders als durch Widerstand offenbaren" (118), und unter den Ansprüchen sittlicher Pflichten "wird

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"Politisch-sein", so Strauss, "heißt ausgerichtet-sein auf den ,Ernstfall'. Daher ist die Bejahung des Politischen als solchen die Bejahung des Kampfes als solchen". Es gehe Schmitt um die "Gespanntheit zu gleichgültig welcher Entscheidung" (ebd., 236), solange sie eine auf die Möglichkeit von Kampf und Krieg bezogene sei. "In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung." (Schiller 2006a, 111) Schiller bleibt allerdings ganz Kantianer, wenn er feststellt, "daß der Anteil der Neigung an einer freien Handlung für die reine Pflichtmäßigkeit dieser Handlung nichts beweist". (106)

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sich die Sinnlichkeit in einem Zustand des Zwangs und der Unterdrückung befinden, da besonders, wo sie ein schmerzhaftes Opfer bringt." (123) Nun geht "die schöne Seele [... ] ins Heroische über", wirkt die reine "Geistesfreiheit" (119), deren Erscheinungsform als Würde, moralische Größe oder Erhabenheit bezeichnet wird. Schiller resümiert: "Wo also die sittliche Pflicht eine Handlung gebietet, die das Sinnliche notwendig leiden macht, da ist Ernst und kein Spiel, [ ... ] da kann also nicht Anmut, sondern Würde der Ausdruck sein." (124) Ungeachtet der scheinbaren Naturalisierung dieses Konflikts ("Naturtrieb" vs. Pflicht) impliziert Schillers Idee der Würde eine Unterscheidung in unausweichliche Konflikte zwischen Pflicht und Neigung und unsinnige Konflikte. Denn, so Schiller, Würde könne phänomenal mit Härte verwechselt werden, die sich dadurch auszeichne, sinnliche Ansprüche des Individuums nicht den Imperativen der Sittlichkeit, sondern einem anderen verborgenen sinnlichen Bestimmungsgrund zu opfern: "Würde allein beweist zwar überall, wo wir sie antreffen, eine gewisse Einschränkung der Begierden und Neigungen. Ob es aber nicht vielmehr Stumpfheit des Empfindungsvermögens (Härte) sei, was wir für Beherrschung halten, und ob es wirklich moralische Selbsttätigkeit und nicht vielmehr Übergewicht eines andern Affektes, also absichtliche Anspannung sei, was den Ausbruch des gegenwärtigen im Zaume hält, das kann nur die damit verbundene Anmut außer Zweifel setzen." (126) Die "falsche Würde [ ... ] ist nicht bloß streng gegen die widerstrebende, sondern hart gegen die unterwürfige Natur und sucht ihre lächerliche Größe in der Unterjochung und, wo dies nicht anders gehen will, in Verbergung derselben." (134) Es ist frappierend, wie Schiller hier das Ideal der Härte, der (An-)Spannung, des verkehrt Heroischen, des Hasses aufs Materielle und Individuelle, die "lächerliche Größe"46 des Beharrens auf einem sinnlosen Opfer antizipiert, die 140 Jahre später im faschistischen Wertekanon nicht nur eines earl Schmitt vertreten wird. Die Gegensätze sind damit klar: Bei Schiller ist der Ernst des Lebens stets bezogen aufs moralische Gesetz des kategorischen Imperativs und dessen Geltendmachung gegen nicht harmonisierte oder harmonisierbare Affekte. Ernst ist hier aber kein Selbstzweck oder etwas Anzustrebendes, sondern Ausdruck nichtversöhnter Konflikte, die als solche nichts Gutes sind. Das Ideal bleibt die Versöhnung oder Vermittlung von Empirie/Besonderem und moralischem Gesetz/Allgemeinem. Für Schmitt hingegen ist Ernst als solcher der höchste Wert, und zwar Ernst im Sinne der tragischen 47 Betätigung des Individuums im Konflikt- und Ausnahmefall. Die Opferung des Sinnlichen/Besonderen für das Allgemeine/die politische Einheit ist Zweck, der wiederum aus einem gesellschaftlich konstituierten sinnlichen Motiv heraus entsteht, wie noch erläutert werden soll. Das Allgemeine ist bei Schmitt nicht mehr das moralische Gesetz, sondern die kontingente politische, also potentiell einen Feind bekämpfende Einheit. Bereits in Der Wert des Staates und die Bedeu46

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Vgl. auch Schiller 2006a, 123: "Da die Würde ein Ausdruck des Widerstandes ist, den der selbständige Geist dem Naturtriebe leistet, dieser also als eine Gewalt muß angesehen werden, welche Widerstand nötig macht, so ist sie da, wo keine solche Gewalt zu bekämpfen ist, lächerlich, und wo keine solche Gewalt zu bekämpfen sein sollte, verächtlich." Vgl. dazu vor allem Harntet oder Hekuba (1985b, 40ff., 46).

tung des Einzelnen (1914) begründete Schmitt ein Ethos der überpositiven, nicht bloß positivrechtlichen Verpflichtung der Einzelnen "unter Streichung [ ... ] der persönlichen Entfaltung ebenso wie aller vernünftigen Kriterien" (Otten 1995, 42) der Verpflichtung, die "in der Forderung an das Individuum" auftritt, "die eigene subjektiv-empirische Wirklichkeit zu negieren". (43) Das Individuum gewinnt Schmitt zufolge Bedeutung und verdient Achtung ausschließlich durch Hingabe an eine heteronom vorgegebene, inhaltlich nahezu beliebige Aufgabe. Nicht ganz beliebig, denn sie müsse wenigstens die Eigenschaft aufweisen, keinem individuellen menschlichen Bedürfnis zu dienen, das mit materiellen Interessen, Sekurität oder Selbstentfaltung verbunden ist - "die empirischen Zufälligkeiten [des] [ ... ] persönlichen Lebens" (Schmitt 2004a, 93) oder die "Hochschätzung des Konkreten und Materiellen" (90) sind Schmitt ebenso verhasst wie "Menschen, die neben der Erfüllung ihrer Pflicht außerdem noch etwas bedeuten wollen." (90)48 Pflicht ist hier nicht die Kantische Nötigung, die uns das vernünftige moralische Gesetz auferlegt. Es geht vielmehr prinzipiell gegen die kreatürlichen Bedürfnisse, gegen das Einzelne, gegen die Lust. Zweck ist dabei das Absehen von der Individualität an sich geworden - ein klassisches Zeichen des Masochismus 49 und eine mit Schiller als "verächtliche Härte" zu identifizierende Haltung. Schmitt verwirft mit der These, es gebe "keinen rationalen Zweck, [... ] kein noch so schönes soziales Ideal [... ], die es rechtfertigen könnte[n], daß Menschen sich gegenseitig dafür töten" (Schmitt 2002, 49f.), also keineswegs den Krieg. Er lehnt lediglich jede normative Rechtfertigung von Kriegen aus anderen als politischen Gründen ab. 50 Damit besteht zugleich auch keine Möglichkeit mehr, einen Krieg aus Unrentabilität oder moralischer Verwerflichkeit zu unterlassen. Wie Kar! Löwith resümiert, "bleibt als Wozu der Entscheidung nur übrig der jedes Sachgebiet übersteigende und es in Frage stellende Krieg, d.h. die Bereitschaft zum Nichts, welches der Tod ist, verstanden als Opfer des Lebens an einem Staat, dessen eigene Voraussetzung schon das Entscheidend-Politische ist." (Löwith 1984,44)

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Schmitt wird allerdings in dieser Phase aus "Hochschätzung des Konkreten und Materiellen" (2004a, 90), sprich: aus Furcht vor dem Fronteinsatz, kurzfristig zum ,Staatskritiker'. So finden sich in seinen Tagebüchern 1915 folgende Einträge: "Ich war wahnsinnig vor Wut über die Preußen, den Militarismus, hätte die ostentativsten Befehlsverweigerungen begehen können. Wie scheußlich, als Individuum in einem solchen Gefängnis zu sitzen." (Schmitt 2005, 77) "Deutschland wird das Land der Gerechtigkeit, der Vernichtung des Einzelnen, es verwirklicht genau das, was ich in meinem Buch über den Staat als Ideal des Staates aufgestellt habe." (24) Reinhard Mehring paraphrasiert: "Der Anti-Individualismus des Frühwerks erscheint als negative Utopie". (Mehring 2009,77) Vgl. Fromm 2000, 114. Günter Meuter bezeichnet dies als "asketische Ethik des selbstvernichtenden Selbstseins im Dienst einer transsubjektiven Größe". (Meuter 2000,20) Frappant sind die Übereinstimmungen mit anderen Autoren des heroischen Realismus, wie Friedrich Georg Jünger, der schreibt: "der Krieg ist kein sittliches Phänomen; es gibt keine ethische Kategorie, in der er untergebracht werden könnte [... ], das macht ihn für das heroische Bewußtsein, welches in ihm sein Element und Schicksal ehrt, erst bedeutsam. [... ] Der geborene Krieger" ist "von der Schicksalhaftigkeit des Krieges ganz und gar durchdrungen." aünger 1930, 63)

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Man könnte nun einwenden, es bleibe doch die "eigene[ ... J Art Existenz" (Schmitt 2002, 27), ihre Bedrohung und Behauptung. Die Formulierung muss aber zur Leerformel erstarren, wenn von allen jenseits des Krieges liegenden normativen oder evaluativen Elementen abgesehen wird, also von allem, was eine Art (und Weise) von Existenz bestimmen könnte. Bernd Ladwig zufolge ist Schmitts Existenzbegriff daher "eine zeittypische Floskel zur Bemäntelung kriterialer Nacktheit". Wenn sie einen angebbaren Sinn haben solle, dann verweise sie auf "Standards der Rech tfertigung" (Ladwig 2003,56), auf Inhalte wie den Wert des Überlebens einer Gruppe, der territorialen Integrität eines Staates, der nationalen Autonomie usf. Schmitt konfundiere schlicht die normen geleitete Entscheidung zum Krieg mit der situativen Entscheidung und Feinderfahrung im Krieg: Der Soldat müsse "damit rechnen [ ... ], als Feind bekämpft zu werden" (57), ohne dass diese Möglichkeit auf seine Überzeugungen oder Intentionen Rücksicht nähme, ohne dass er von den ebenfalls in der Kampfsituation stehenden Feinden als "moralischer Scheusal oder als möglicher Konkurrent" betrachtet werde, "sondern einfach, weil er als Kämpfender kenntlich ist." (58) Betont wird also die relative Ohnmacht der Kombattanten angesichts des Kugelhagels oder "unter dem Eindruck von Streubomben" . (58) Um das Leben unter der Drohung, in eine solche Situation zu geraten, geht es Schmitt. 51 Man könnte auch spekulieren, ob bei ihm die völkerrechtliche Symmetrisierung des Krieges in Europa seit dem 17. Jahrhundert zur Idee der normativ nicht begründbaren Kriegführung mutiert. In der Symmetrisierung der Kriegführung wird die Idee des gerechten Krieges zurückgedrängt: "Staaten durften sich nun, ohne weitere Prüfung von Gründen und Ansprüchen durch einen Dritten, den Krieg erklären". (Münkler 2010, 114) Wenn die normativen Kriegsgründe als völkerrechtlich nicht mehr relevant erachtet wurden, bedeutet das aber nicht, dass keine normativen Gründe mehr vorlagen. Zwar erinnert Schmitt zu Recht an die Tatsache, dass Staaten von ihren Bürgern Todes- und Tötungsbereitschaft verlangen können, solange es ein "Pluriversum" (Schmitt 2002, 54) von politischen Einheiten gibt. Diese wenig spektakuläre Einsicht nutzt er aber, um selbst ein normatives Programm zu verfolgen - die weitgehende Entkopplung der Legitimation von Politischem und Staat von allen nichtbellizistischen Motiven. Er überschreitet damit die im liberalen Staatsdenken noch vorhandene "Rationalitätsgrenze" (Pauly/Heiß 2010, 156) für Opferund Tötungsbereitschaft, indem er die politische Einheit nicht auf wechselseitige Kooperationsvorteile egoistischer Warenbesitzer oder auf die Realisierung im kantischen Sinne moralitätskonformer sozialer Verhältnisse rückbezieht, sondern sie zur "höhere[nJ und gesteigerte[nJ, intensivere[nJ Art Sein" (Schmitt 2003, 210) verklärt. Eine politische Einheit ist es dann erklärtermaßen wert zu existieren, weil sie existiert 52 und sie ist dadurch definiert, die Möglichkeit des Krieges aufrecht zu erhalten - diese Möglichkeit ist für Schmitt in sich sinnvoll und darf nicht auf andere

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Auch Jünger gewinnt aus dieser Situation seinen "Maßstab" einer intrinsischen Sinnerfülltheit des Krieges: "Hier ist der Maßstab, der Gültigkeit besitzt: die Haltung des Menschen in der Schlacht, die das U rverhältnis einer schicksalhaft gerichteten Ordnung ist". aünger 1930, 62) Vgl. Schmitt 2003, 22.

Gründe reduziert werden. 53 Hier wird eine weitere Bedeutung von ,existenziell' erkennbar: Es wird verstanden als durch sich selbst legitimiertes Sein, bzw. als behauptete Einheit von Sein und Sollen. 54 Wenn der politische Sinn überhaupt noch auf das Individuum rückbezogen wird - und das muss er, schließlich sind es Individuen mit bestimmten Motivationen, die Krieg führen oder führen lassen, selbst in dem merkwürdigen Sinne von Schmitt -, dann steht er im Rahmen eines Opferungs- und Sinngebungsprozesses, der in faschistischen Bewegungen und Verlautbarungen anzutreffen ist. Die Idee des Opfers hat dabei zwei Bedeutungsebenen: a) eine allgemeine, auf der das Individuum vor seiner als Isolation und Ohnmacht erfahrenen gesellschaftlichen Situation flieht und Befriedigung im Aufgehen in einem die Qualitäten der Macht, Größe und affektiven Verbundenheit aufweisenden Kollektiv erfährt. Hier spielt auch ästhetisierte Politik eine Rolle, in der der Einzelne die Zugehörigkeit zum Kollektiv sinnlich erfährt und anschaulich gemacht bekommt; und b) eine besondere, in der das Individuum in der noch gesteigerten Situation des Kampfes für dieses Kollektiv, in der Bejahung des heteronomen Zwangs eine Pseudoaktivität und ein intensives Selbstgefühl entfaltet. Die allgemeine Bedeutungsebene (a), die bereits in Schillers Idee vom "Übergewicht eines [... ] Affektes" im Fall der Härte erahnt wurde, wird in der Theorie des autoritären Charakters bestätigt, die Erich Fromm seit den 1930er Jahren entwickelte. Er weist die gesellschaftlich konstituierte autoritär-masochistische 53

Vgl. Hofmann, der feststellt, "daß Schmitt in seinem existenziellen Begriff des Krieges das sachliche ,Wofür' des Kampfes eliminiert hat." (Hofmann 2002,156) Vgl. auch besonders krass und mit esoterischer ,Mutter-Erde'- und ,Boden'-Rhetorik in Schmitt 1988, 13-51. Herbert Marcuse (1968,29) sieht hierin einen Versuch, "eine rational nicht mehr zu rechtfertigende Gesellschaft durch irrationale Mächte zu rechtfertigen". Gehe dem Bürgertum das Vertrauen in seine rationalen Staats- und Eigentumslegitimationen aus, so ersetze eben ,die Existenz' jedes Argument. Marcuse betont auch die Transformationsleistung des politischen Existentialismus Schmitts (und Heideggers), die darin bestehe, die auf der "unüberholbaren personalen ,Jemeinigkeit'" gegründete "Einzelexistenz"54 (51) durch ein ,jeunsriges' politisches Kollektiv zu ersetzen, das "unter keine außerhalb seiner selbst liegende Norm gestellt werden kann", woraus folge, "daß man über einen existenziellen Sachverhalt überhaupt nicht als ,unparteiischer Dritter' denken, urteilen und entscheiden kann." (44) So versucht Schmitt in der Tat, seine These von der Rechtfertigungsunbedürftigkeit politischer Einheit durch eine Analogie zum Individuum zu plausibilisieren: Die politische Einheit sei so wenig einer Legitimation ihrer Existenz bedürftig, "wie in der Sphäre des Privatrechts der einzelne lebende Mensch seine Existenz normativ begründen müßte oder könnte." (Schmitt 2003, 89). Eine nichtnatürliche Herrschaftseinheit wird dabei schlicht mit einem lebendigen Individuum auf eine Stufe gestellt: Die Analogie "schlägt [... ] insofern fehl", schreibt Matthias Kaufmann (1988, 295), "als mit der Existenz einer staatlichen Herrschaftsordnung die (begründungsbedürftige) Forderung nach Gehorsam verbunden ist, was für die Existenz des Individuums nicht gilt." Margit Kraft-Fuchs (1930,530) moniert schließlich den Kryptonormativismus dieser Art von "Naturrechtslehre", die letztlich nichts anderes darstelle als eine "Theorie des Rechts des Stärkeren, die naturrechtliche Machttheorie." (538) Warum Schmitt ausgerechnet die politische Einheit mit der Sein-Sollen-Identität versehe, also durch bloße Existenz legitimiere, bleibe unerfindlich. Theoretiker wie Schmitt, so Kraft-Fuchs, "sollten wenigstens die Frage beantworten, warum sie mit ihren Schlüssen aus dem Sein auf ein Sollen immer dann aufhören, wenn ihnen das Sein nicht mehr angenehm, und folglich seine Existenz auch nicht erstrebenswert erscheint." (531)

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Bedürfnisstruktur auf, die hinter der faschistischen Verherrlichung von nationaler Größe, Krieg und Opfer stehe. Die faschistische Idee des Ernstes ist demnach Resultat eines erfolglosen Fluchtversuchs der Individuen vor einer in ihren Ursachen unbegriffenen Situation gesellschaftlich konstituierter Ohnmacht und einer als bloße Prekarität erfahrenen Privatautonomie - eine Flucht, die zur masochistischen Unterordnung unter eine irrationale, Schutz und unverlierbare Teilhabe an kollektiver Macht versprechende Autorität führe 55 und zugleich innere Konflikte und Krisenursachen in projektiver Weise auf innere und äußere Feinde projiziere. 56 Durch die Art, wie diese politische Einheit zustande kommt und sich erhält, ist also zugleich die Ewigkeit der Feindschaft gesichert, wobei dem Juden in diesem Feindbild eine zentrale Rolle als ,wahrer Feind' zukommt. 57 Armin Steil bestätigt diese Diagnose und betont dabei auch die besondere Bedeutungsebene (b). Er charakterisiert einen Grundzug der faschistischen Ideologie als "imaginäre Aufhebung" der "ökonomische[n], politische[n] und kulturelle[n] Vereinzelung" (Steil 1984, 13) der Individuen im Kapitalismus, dessen Zwecke sich vollends von den Bedürfnissen der Einzelnen emanzipiert hätten. 58 Das Imaginäre stelle die "zugleich fiktive und doch 55

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Michael Großheim liefert eine ähnliche, allerdings auf konservativen und idealistischen Prämissen beruhende, Deutung des politischen Existentialismus als Versuch einer spezifisch politischen Bewältigung von als Haltlosigkeit und Last erfahrener individueller Freiheit: "Am Anfang", so Großheim, "steht die Erfahrung radikalisierter personaler Emanzipation" (1999, 157) - allerdings, wie zu ergänzen ist, einer, die den Bezug zur Welt und zu den anderen Menschen bloß kappt, einen ,,'Schrecken vor der Leere'" erzeugt. Der politische Existentialismus von Schmitt, Jünger, Heidegger u.a. reagiere mit der "Sehnsucht nach Härte und Schwere [... ] [,] nach Geborgenheit in einem Gehäuse (Gemeinschaft, Staat, Nation etc.)" (152), nach einer unmittelbaren, "nicht distanzierbaren" (136) Verbundenheit und Ergriffenheit. Diese müssen unverrückbar und total sein. (V gl. 154) Eine die subjektive Willkür übersteigende, bindende ,Sache', ,Aufgabe' oder das objektive, undiskutierbare Kriterium für das eigene Handeln, werden dabei aber Groß heim zufolge vom Subjekt willkürlich gewählt, weil es eben kein Kriterium zwanglos zwingender, vernünftiger Art mehr angeben kann und auch nicht mehr naiv im Glauben an irrationale Mächte steht. Daher die eigentümliche Inhaltsleere all der verbindlichen Substanzen, Werte, Mythen, Normen, Seinsgründe, Glaubenssätze usf., die beschworen werden. "Der angestrengte Wille zur Bindung" ist demnach ein wesentliches Kennzeichen des politischen Existentialismus: "Das Problem liegt sozusagen in dem Satz ,ich will mich binden lassen' oder ,ich will gebunden werden'." (155) Schmitt versucht dieses Dilemma zu kaschieren, indem nur der Souverän diese Substanz bestimmen können soll, an die er vermeintlich selbst gebunden ist und seine Untertanen bindet. Für den Untertanen ist damit die Wahl ausgeschlossen. Der vom Souverän ausgerufene Ausnahmezustand und "das Auftauchen des Feindes", so Großheim, sind "Gelegenheiten, in denen plötzlich auftretende personale Regression die Tendenz zur endlosen personalen Emanzipation aufhebt und dem Subjekt wieder ein unverfügbares und damit gefestigtes Sosein verschafft". (162f.) Vgl. dazu Fromm 1989 und 2000; Adorno 1993 und 2001, Rensmann 1998, Eibe 2015, 403424. Auch bei Schmitt ist das der Fall: "Gerade der assimilierte Jude ist der wahre Feind". "Denn Juden bleiben immer Juden. Während der Kommunist sich bessern und ändern kann" (Schmitt 1991a, 18); vgl. Gross 2005. Das bemerkt und affirmiert Schmitt bereits in seiner Frühschrift über den Wert des Staates, vgl. 2004a, 90f.: Der Kapitalist, der Produktion um der Produktion willen betreibe, dem "an seinen persönlichen Bedürfnissen nichts, an der Vermehrung seines Kapitals alles gelegen"

real erlebte und gelebte Präsenz des Sinns inmitten der Sinnlosigkeit, [... ] gelebte Autonomie in unveränderten Verhältnissen der Fremdbestimmtheit [dar], [... ] erlebte Identität der Zwecksetzungen und Bedürfnisse mit den entfremdeten gesellschaftlichen Formen, in denen sie zugleich kompensatorische Verwirklichungsmöglichkeiten finden". (21) Eine wichtige Rolle spielten dabei "Rituale[ ... ] und Praxisformen, in denen die fiktive Sinnwelt als unmittelbar präsent erlebt wird". (21)59 Real erlebt wird eine fiktive, weil die sozialen Widersprüche und Krisen nicht aufhebende, harmonische Gemeinschaft und eine fiktive, weil keine rationale Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen erlaubende, Handlungsfähigkeit. Eine Moral des ,Ernstes' und der ,Erhabenheit' als Bejahung von Askese, Selbstüberwindung und opferung, ihre Ästhetisierung von harter Arbeit und Kampf gelten dabei als Kern faschistischer imaginärer Sinn produktion: "In den Bereichen der Arbeit und vor allen des Krieges schafft sich der Faschismus seine eigene ,künstliche Welt', in der die Erfahrung der Selbstbestimmung möglich ist - allerdings nur in der Form negativer Selbstbestimmung. Die harte, entbehrungsreiche Arbeit und - noch mehr - die Todesgefahr im Krieg stellen die Individuen vor die Entscheidung zur Selbstüberwindlmg und Selbstopferung" (47f.). 60 Es bleibt hier leider kein Raum, dies ausführlicher zu erläutern. Es konnte lediglich gezeigt werden, dass der faschistische Begriff des Ernstes den normativen Kern des Schmittschen Begriffs des Politischen darstellt. So ungeheuerlich es klingt, allein die Möglichkeit des Tötens und Getötetwerdens für ein homogenes Kollektiv verleiht der menschlichen Existenz dieser Weltanschauung zufolge einen ernsthaften und damit sinnvollen Charakter. Nichts widert Schmitt offenbar mehr an, als das Beharren auf Glücksansprüchen des Individuums gegen eine vollends nichtlegitimierbar gewordene Welt politischer und ökonomischer Strukturen: "Die, deren reale Ohnmacht andauert, ertragen das Bessere nicht einmal als Schein." (Adorno 1993,23)61

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sei, sei "groß und imponierend", als Luxuskonsument und "Genießer" hingegen sei er "lächerlich oder widerwärtig". (91) Vgl. Steil 1984, 165: Der Faschismus ermögliche nicht nur in seinen Massenaufmärschen und Totenkulten ,,[d]as sinnliche, unmittelbare Erlebnis der Volksgemeinschaft". Walter Benjamin (1992, 44) spricht in diesem Zusammenhang 1936 von der ,,Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt". Dass die Massen hier "zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen", wie Benjamin meint (42), weist darauf hin, dass sie "an der Staatsdarstellung" mitwirken, von der "StaatsJiihrung (in der Perspektive des Staatsabbaus)", also von kollektiver Handlungsfähigkeit, aber ausgeschlossen bleiben. (Behrens 1980, 106) Zum Erleben von Volksgemeinschaft in ritualisierten Praktiken vgl. auch Wildt 2007 sowie Reichardt 2009, 112-115, 562f., 592. Vgl. auch Arendt 1998, 710f., die das Fronterlebnis als "Erfahrung einer ständigen, zerstörerischen Aktivität im Rahmen einer durch keine Aktion abzuwehrenden Fatalität" beschreibt. Die weltanschaulichen Bewältigungsversuche von "Tod, Schmerz, Angst, Verstümmelung, der mörderischen Gleichheit und der völligen Bedeutungslosigkeit des einzelnen" im Ersten Weltkrieg rückt auch Michael Wildt in den Blick (vgl. Wildt 2008, 848). Mit ,Ohnmacht' soll die grundlegende gesellschaftliche Situation der Akteure, ihre Subsumiertheit unter den verselbständigten Kapitalprozess, bezeichnet werden. Keineswegs soll damit die Verantwortung faschistischer Täter geleugnet werden.

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"Die Reinigung macht uns frei" Kar! Jaspers' Beitrag zur Herstellung der nationalen Schuldgemeinschaft durch Akzeptanz des Kollektivschuldbegriffs

"Ich bin Deutschland" Gaspers 2012, 92, 60) Der Vorwurf einer "collective guilt" der Deutschen für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und der Shoah wurde bereits während des Krieges in alliierten Kreisen erhoben, hat sich aber nach 1945 nicht zu einer regierungsoffiziellen Position oder gar Politik entwickelt.! Dennoch sind Auseinandersetzungen über eine deutsche Kollektivschuld nach Kriegsende - vor allem in Deutschland selbst - zum Dauerthema geworden, das zeigte das Wiederaufleben der aggressiven Abwehr des Topos im Rahmen der Goldhagen-Debatte. Die Kollektivschuld ist offenbar eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Sie will aus drei sehr unterschiedlichen Gründen nicht vergehen: Erstens, weil der Vorwurf, recht verstanden, wahr ist. Zweitens, weil der Topos den einen zur empörten Abwehr und zur Exkulpation großer Teile der deutschen Bevölkerung bezüglich ihres Engagements im NS dient. Drittens, weil er von den anderen dazu verwendet wird, um durch seine Akzeptanz eine ,selbstbewusste' nationale "Schuldgemeinschaft" (Bajohr 2006, 75) zu konstituieren, die ihre eigenen Verbrechen als Argumente für zukünftige außenpolitische Machtansprüche verwenden kann. Die Schuldgemeinschaft der Deutschen bildet sich während des Zweiten Weltkrieges heraus, da "die begangenen Verbrechen zweifellos Bindungswirkungen des ,Mitgefangen-Mitgehangen' entfalteten" (75), wie Frank Bajohr die Stimmungslage in der Endphase des NS-Regimes beschreibt. In der Bevölkerung habe es, so Bajohr, eine weit verbreitete Furcht vor Vergeltung, insbesondere für die Entrechtung, Ausraubung, Ghettoisierung und schließliche Vernichtung der Juden gegeben, die in der Imagination der Gefahr einer Vernichtung des deutschen Volkes als Ergebnis ,jüdischer Rache' projektiv und antisemitisch artikuliert worden sei. 2 Bis weit in die Nachkriegszeit hinein wirkte dieses aggressive kollektive Schuldbewusstsein in "der reflexartigen Antizipation eines pauschalen Schuldvorwurfs" und einer Überidentifikation selbst mit NS-Haupttätern, die, so auch Norbert Frei, "auf ein durchaus verbreitetes Gefühl der persönlichen Verstrickung" und "eine unbewußte Anerkennung der Kollektivschuldthese" schließen lassen. (Frei 2009, 161, 169) Nach dem Krieg konnte dieses Schuldgemeinschaftsbewusstsein nun positiv aufgegriffen werden, nicht mehr, um den Kampf gegen die Alliierten weiterzuführen, weil "wir sowieso soviel auf dem Kerbholz [haben], dass wir siegen müssen" (Goebbels zit. nach Bajohr 2006, 74), auch nicht bloß zur Abwehr von SchuldvorVgl. Friedemann/Später 2003 sowie Frei 2009, 159f. Vgl. Bajohr 2006, 68f. sowie Friedländer 2008, 896: "So spricht ein SD-Bericht aus Ochsenfurt bei Würzburg vom 3. August 1943 von dem weitverbreiteten Gerücht, ,daß Würzburg nicht durch feindliche Flieger angegriffen würde, da in Würzburg keine Synagoge gebrannt habe.'"

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würfen,3 sondern um die wahlweise ,antitotalitäre' oder ,antifaschistische' Vollendung der Volksgemeinschaft in der ,Wiedergutwerdung der Deutschen' (Eike Geisel) zu betreiben. Aus dem Eingeständnis kollektiver Schuld konnte ein zukunftsträchtiges Vergemeinschaftungsmedium werden - inklusive Aufarbeitungsstolz, 4 dem Phantasma nationaler ,Reinigung' und schließlich eines erneuerten nationalen Selbstbewusstseins zur "sozialarbeiterischen Ermächtigung der Deutschen [ ... ], ihre Opfer davon abzuhalten, rückfällig zu werden" (Geisel 1992, 102) - um also wieder guten Gewissens Weltpolitik betreiben und bisweilen mit dem Argument der ,Aufarbeitung' der deutschen Taten diese Taten ihren ehemaligen Opfern projektiv vorwerfen zu können. Israel ist noch heute Hauptgegenstand dieser Art des deutschen ,Lernens' aus der eigenen Vergangenheit, oder wie es im Jahr 2017 ein deutscher Journalist einem deutschen Außenminister bescheinigt, der Israel Apartheidsmethoden vorwirft und sich lieber dort als im Iran mit ,regimekritischen' Organisationen trifft: "Die unverbrüchliche Verantwortung für die [deutsche] Geschichte und die klare Kritik an der [israelischen] Gegenwart gehen jetzt Hand in Hand". (Augstein 2017)5 Alle drei Aspekte der Persistenz des Kollektivschuldbegriffs finden sich exemplarisch in Karl Jaspers' 1946 veröffentlichten Vorlesungen über Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. In diesem bis heute immer wieder diskutierten Werk findet sich eine wilde Mischung aus klassischer, zeitgenössischer Exkulpation und besagter Kollektivschuld-Reflexion, die ihrer Zeit weit voraus war, nicht nur, weil hier Ansätze einer tragfähigen theoretischen Bestimmung berechtigter Kollektivschuldvorwürfe zu finden sind, die jüngst von Michael Schefczyk systematisiert wurden, sondern weil die deutsche Nachkriegsgesellschaft im Gegensatz zu Jaspers noch nicht begriffen hatte, welchen grandiosen nationalen "Erfolg"6 Gaspers 2012, 11) bzw. maximierten "Gesamtnutzen" (Schefczyk 2012, 121) die Kollektivschuld-Idee für die Deutschen bedeuten könnte.

Über den psychologischen Gewinn, den die pauschale Ablehnung imaginierter Kollektivschuldvorwürfe für die Deutschen bedeutete, vgl. Rensmann 1998, 345. Dass die britischen Kollektivschuldvorwürfe keineswegs, wie meist von deutscher Seite imaginiert wurde, alle Deutschen gleichermaßen meinten und auch nicht analog zum NS-Rassismus ein ethnisch begründetes, unveränderliches, bösartiges "deutsches Wesen" konstruierten, zeigen Friedemann/Später 2003, 60, 64ff., 89. Der Historiker Eberhard Jäckel artikulierte diesen Stolz mustergültig in dem Satz: "In anderen Uindem beneiden manche die Deutschen um dieses Mahnmal. " (https:1 Iwww.morgenpost.delbezirkel mittelarticle 140 7427781 H olocaust-Mahnmal- Wenn-jederStein-mehr-als-tausend-Worte-sagt.html), auch das Verhalten deutscher Historiker und kritischer Theoretiker gegenüber dem jüdisch-amerikanischen Soziologen Goldhagen zeugte von einer Mischung aus Abwehr und Aufarbeitungsstolz, vgl. dazu Rensmann 1998, 336-360 sowie Becker/KüntzeliThörner 1997. Die Worte in eckigen Klammern sind von mir eingefügt, aber von Augstein gemeint. Jaspers war sich auch im Klaren darüber, dass es dauern werde, bis seine Idee der nationalen Schuldgemeinschaft sich durchsetzen werde: "Wenn Erfolg möglich ist, dann nur auf lange F risten." aaspers 2012, 11)

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Im Folgenden werde ich zeigen, dass sich Jaspers' Ausführungen von den meisten deutschen Nachkriegspamphleten und ihrer pauschalen und aggressiven Schuldabwehr auf den ersten Blick dadurch unterscheiden, dass er versucht, den Gedanken kollektiver Schuld begrifflich zu differenzieren (1). Jaspers' Analyse der Schuldtypen krankt allerdings an dem vollständigen Verzicht auf eine philosophische Begründung der "normativen Grundlage für die Beurteilung der jeweiligen Schuldform" (11) sowie an der fragwürdigen Bestimmung der einzelnen Schuldbegriffe. Denn Jaspers gelingt es, innerhalb der Kategorien der moralischen und politischen Schuld Elemente jener partikularistischen Moral unterzubringen, zu deren kritischer Aufarbeitung seine Schuldfrage vorgeblich dienen soll. In einem weiteren Schritt werde ich zeigen, dass Jaspers selber die Unterscheidung der Schuldtypen unterläuft und zu einem Begriff moralisch-politischer Kollektivschuld gelangt, der durchaus geeignet ist, die Basis für einen sinnvollen, das heißt mit einem Verantwortungsindividualismus 7 zu vereinbarenden Kollektivschuldbegriff abzugeben (2). Schließlich werde ich darlegen, dass noch diese sinnvolle ethisch-politische Reflexion bei Jaspers vor allem ein Ziel verfolgt: die Restituierung der Volksgemeinschaft als Schuldgemeinschaft, die die Basis einer in Zukunft wieder ,selbstbewussten Nation' sein soll (3). 1. Schuldtypologie und das Nachleben der NS-Moral

Im "Sommer 1945", so berichtet Jaspers, hingen "Plakate in den Städten und Dörfern [ ... ] mit den Bildern und Berichten aus Belsen und dem entscheidenden Satz: Das ist eure Schuld". Gaspers 2012, 33)8 Es geht ihm zunächst darum, was dieser Satz bedeuten könnte. Zu diesem Zweck unterscheidet er vier Schuldbegriffe: Die kriminelle Schuld besteht Jaspers zufolge im Verstoß eines Individuums gegen gültige Gesetze. Die Instanz, die ihn zur Verantwortung zieht, ist das Gericht, das "von außen" (25) Vorwürfe an den Delinquenten adressiert. Die Strafe ist schließlich die Folge, die ungeachtet der Anerkennung der Strafe durch den Delinquenten erfolgt. Da sich Jaspers mit den speziellen Fragen einer juristischen Aufarbeitung der NS-Massenverbrechen kaum beschäftigt und auch nicht klärt, welche positivrechtlichen Mittel für den Vorwurf krimineller Schuld im Einzelnen zur Verfügung stehen, sei in Bezug auf diesen Punkt lediglich auf einige typische Ambivalenzen in der Schuldfrage hingewiesen: Jaspers stellt zunächst fest, dass die Ankläger der Nürnberger Prozesse Individuen beschuldigen - vor allem auch solche, die Anteil an innerhalb von Organisationen geplanten und begangenen Verbrechen hatten -, nicht aber das ganze deutsche Volk. Er betont des Weiteren, dass es bei den Anklagen nicht nur um gewöhnliche Kriegsverbrechen eines, wie er sich ausdrückt, Dieser kann in einer engen und einer weiten Bedeutung verstanden werden. Die enge Variante besagt: Eine "Person kann nicht für das Handeln einer anderen Person moralisch verantwortlich sein". Die flexiblere Bedeutung "impliziert, dass Personen nur aufgrund eigener Handlungen oder Unterlassungen für das Handeln anderer moralisch verantwortlich sein können." (Schefczyk 2012,125) V gl. für ähnliche Plakate: https:llwww.hdg.de/lemo/bestand/objekt/plakat-schandeschuld.html (letzter Zugriff: 10.7.2020).

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"ritterlich" ausgefochtenen Kampfes geht, sondern um die "bedenkenlose Totalität eines Vernichtungswillens" bei der "Ausrottung von Bevölkerungen". (39r Schließlich begreift er den Nürnberger Prozess als möglichen Vorboten einer Weltrechtsordnung, die Angriffskrieg und Menschheitsverbrechen sanktioniert. Zugleich bemüht sich Jaspers aber um eine weitgehende Exkulpation des ,einfachen Deutschen' vom Vorwurf krimineller Schuld und um eine Reinwaschung des preußischdeutschen Militarismus von Zusammenhängen mit den NS-Verbrechen. 10 So finden sich Behauptungen wie die, die KZ seien Beweis für die Existenz einer "Opposition im Lande" (63) gewesen, die Befehlsnotstandslegende, die Mär von ,den Deutschen' als ersten Opfern der ,,'Barbareninvasion'" der "kulturlosen" Nationalsozialisten (71f.), ja als prospektives "Sklavenvolk" (13) unter der Fuchtel der SS, die groteske Behauptung, alles, was andere Länder später hätten erdulden mussten, habe zunächst die Deutschen getroffen,l1 oder die Aussage, es habe "keine spontanen Grausamkeitsakte gegen Juden" seitens der deutschen Bevölkerung gegeben. (Arendt/Jaspers 1993, 73) 12 Noch den Antisemiten bescheinigt Jaspers, wohlgemerkt am 27. Juni 1946, man müsse ihnen "helfen, sich selber zu verstehen, und ihnen die Gefahr zeigen, die sie selber gar nicht wollen." (81) Hannah Arendt reagiert früh auf Jaspers' Schuldfrage und teilt ihm am 17. August 1946 mit, ihr erscheine seine "Definierung der Nazi-Politik als Verbrechen (,kriminelle Schuld') fraglich", weil diese Taten sich "juristisch nicht mehr fassen" ließen. (90) Arendt argumentiert vermutlich an dieser Stelle noch ausgehend von ihrer Theorie der NS-Massenverbrechen als Ausdruck des radikal Bösen. 13 Sie unterstellt, die Taten der Nationalsozialisten seien "unmenschlich"14 (90) im Sinne einer Motivlage, die einen "teuflischen" Willen bekunde (Arendt 1989,54), der aus einer "übernatürlichen Schlechtigkeit" (50) "jenseits des Lasters" (52) heraus das Böse um des Bösen willen angestrebt habe. Ersichtlicherweise versucht Arendt hier mit untauglichen Mitteln das Besondere der Shoah zu benennen, die sich, wie sie allerdings richtig feststellt, gängigen kriminellen Motiven (politisches Kalkül, Bereicherungssucht, Sadismus usw.) weitgehend entzieht. Dass sie mit der Theorie des radikal Bösen aber nun selbst eine irrationalistische Behauptung aufstellt, die den Nazitätern zudem einen Zug "satanischer Größe" und des "Dämonischen" verleiht, kritisiert Jaspers in seiner Antwort auf Arendts Brief. Er fordert sie dazu auf, "die Dinge in

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Zur Kritik des Begriffs "Kriegsverbrechen" für die Massenvernichtungsaktionen der Nazis vgl. Jäger 1982,352-368. Vgl. Jaspers 2012, 55. An anderer Stelle greift Jaspers Hannah Arendts Phantasma von den Deutschen als letzten Opfern der NS-Vernichtungspolitik auf und schreibt ihr begeistert: "Was Hitler den Juden antat, war das, was in irgendeinem Sinne allen Deutschen geschehen sollte (wie Sie es glänzend dargestellt haben)." (Arendt/Jaspers 1993,341). Jaspers 2012, 73: "Der deutsche Antisemitismus war in keinem Augenblick eine Volksaktion." Am 19.4.1947 schreibt Jaspers an Arendt: "Ich habe das ,Volk' eigentlich nie für eigentlich [sie!] antisemitisch gehalten. Es ist ja niemals ein spontaner Pogrom entstanden". (Arendt/Jaspers 1993, 118) Sie stellt die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen allerdings auch später von ihrer Idee einer Banalität des Bösen aus in Frage. Ebd., 90.

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ihrer ganzen Banalität [ ... ], ihrer ganzen nüchternen Nichtigkeit" zu sehen (Arendt/Jaspers 1993, 99) 15 und versteht diese Banalität als Hinweis auf soziologisch und psychologisch begreifbares ,uneigentliches'16 Handeln, das er wie folgt erläutert: "Bakterien können völkervernichtende Seuchen machen und bleiben doch nur Bakterien". (Arendt/Jaspers 1993,99) Lassen wir einmal die biologistische Analogie beiseite, so ist es charakteristisch für einen politischen Existentialismus, der auch noch Arendts späterem Erstaunen über Eichmann als gedankenlosem, "erschreckend normalem" (Arendt 2013,400) Spießer zugrunde liegt, dass die Täter als dumpf dahinvegetierende Durchschnittstypen "ohne eigentliche Menschlichkeit" Qaspers 1960,46), als "Kreaturen" ohne "Rang" (Arendt/Jaspers 1993,447) bzw. als "Dasein, das weder eigentlich Mensch noch eigentlich Tier sein kann" Qaspers 1960, 180)17 betrachtet und mit der ethisch leeren Idee historischer Größe und authentischer Lebensführung kritisiert werden sollen. Ihre Motive, so scheint Jaspers nahezulegen, seien so primitiv und mittelmäßig, dass die Jurisprudenz ausreiche, um sie zu bewältigen, es sei "keine Idee und kein Wesen" (Arendt/Jaspers 1993, 99) in ihnen zu entdecken. Dabei erfüllen Hitler und Konsorten doch alle existentialistischen Kriterien ,eigentlichen Daseins' "von Rang" Qaspers 1960, 46) und Größe, nämlich Authentizität, Entscheidungskraft, Außerordentlichkeit, Unbedingtheit. 18 Was, wenn nicht eine "Idee"19 außerordentlichen - außerordentlich schrecklichen und irrationalen - Maßes ist denn die Vernichtung aller Juden? Mit "Idee" meint Jaspers einen handlungsorientierenden Sinnhorizont, eine institutionell fundierte Ideologie, die Menschen über bloße Kooperation für egozentrische Zwecke hinaus an einer gemeinsamen Sache teilhaben und arbeiten lässt - diese Bestimmung passt auf das Projekt der Nazis. Wie Habermas schon in SOer Jahren erkannte, repräsentiert Jaspers' Einschätzung der Täter hier "ein Denken, dem Echtheit und Tiefe, 15

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Es wäre allerdings übertrieben zu behaupten, dass }aspers damit Arendt erst auf die Theorie der Banalität des Bösen gebracht hätte - denn sie vertritt diese Theorie 1945/46 bereits in ausgearbeiteter Form. Vgl. Eibe 2015, 471. Der Terminus geht auf Heidegger zurück. Ihm zufolge ist der Mensch in die Seinsweise der "Existenz" gestellt, d.h. er habe nicht, wie Gegenstände in der Seinsweise der "Vorhandenheit", schlicht konstatierbare Eigenschaften, sondern sei "Zu-sein", was meint: er muss sich zu seinen eigenen Möglichkeiten wählend und wertend verhalten, muss sein Leben unvertretbar selbst führen. Diese im dezisionistischen Sinne als frei verstandene, d.h. nicht als prinz ipiengeleitet oder sinnlich determiniert begriffene Wahl als Wahl zu verleugnen, keine Fragen an das eigene Leben zu stellen und jede mögliche Frage mit, ,weil man das so tut' zu beantworten, nennt Heidegger die Existenzweise im Modus des "Man-selbst", des "Niemand", der "Uneigentlichkeit". (Heidegger 1993, 42, 129, 128). Auch }aspers bestimmt den Menschen "als Objekt der Forschung und als Existenz der aller Forschung unzugänglichen Freiheit". Gaspers 2003, 50) Er könne nicht auf objektivierbare Eigenschaften festgelegt werden, weil das die Tatsache leugnen würde, dass der Mensch jeweils als Individuum unvertretbar sich (frei) wählend zu seinen Möglichkeiten verhalten muss. Zugleich würde diese Bestimmung vermeintlich die Bedeutsamkeit, die die ,Welt' für das Subjekt hat, nicht erfassen können. Vgl. auch Arendt (2007, 30), die zustimmend Heraklit paraphrasiert: "Nur die ,Besten', die zudem ständig sich als die ,Besten' erweisen müssen [ ... ], sind mehr als bloße Lebewesen; die Vielen, zufrieden mit dem, was die Natur ihnen gewährt, leben und sterben wie Tiere." Vgl. auch meine Kritik an Arendts Theorie der uneigentlichen Täter in Eibe 2015, 467ff. Vgl.}aspers 1956,53.

letztlich auch Rang und Größe mit Wahrheit identisch sind" und das daher "die Größe im Unwahren, im Bösen leugnen" muss. (Habermas 1991,95) Wichtiger ist für Jaspers die politische Schuld. Während er eine kriminelle Kollektivschuld der Deutschen ablehnt, hält er eine politische Kollektivhaftung nämlich für "sinnvoll" Gaspers 2012, 26): Für die "Handlungen der Staatsmänner", so behauptet er zunächst, haftet der Bürger qua "Staatsbürgerschaft". (19) Das Individuum übernimmt durch die rechtliche Bestimmung als Staatsbürger die - Schadensersatz oder Rechteverlust nach sich ziehende - Verantwortung auch für Taten, die es selbst weder begangen noch bejaht haben mag, nimmt die Rolle eines möglicherweise im kriminellen oder moralischen Sinn "unschuldigen Verantwortungsträgers" ein. (Schefczyk 2012, 79) Allerdings hält Jaspers bereits an dieser Stelle die Differenzierung zu der (im Anschluss zu erörternden) moralischen Schuld nicht durch. Plötzlich erwähnt er eine Abstufung politischer Haftung "nach dem Grade der Anteilnahme am nunmehr grundsätzlich verneinten Regime". Gaspers 2012, 29) Schließlich postuliert er gar, es sei "jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird" (19) und spricht von einer "politischen Grundschuld, die zugleich eine moralische Schuld ist". Diese bestehe bereits im "Unterlassen der Mitarbeit an der Strukturierung der Machtverhältnisse [... ] im Sinne des Dienstes für das Recht" (22), das in einem Atemzug mit den "Menschenrechten" genannt wird. Jaspers bietet also drei Be-stimmungen an, die politische Kollektivhaftung begründen sollen: 1) bloße rechtliche Mitgliedschaft; 2) den Grad der Kollaboration oder positiven Identifikation mit einem politischen ,Unrechtsregime' und 3) das Unterlassen staatsbürgerlichen Engagements für eine rechtsstaatliche Regierungsform. Ich werde im nächsten Abschnitt auf diese Frage weiter eingehen, weil sie Jaspers' Ordnungsschema unterläuft. Die äußere Instanz, die ein Volk derart kollektiv zur Verantwortung ziehe, sei nun der "Wille des Siegers" (19), der im Idealfall "aus Zweckmäßigkeit" oder "Großmut" "Gnade" mit den Besiegten walten lasse oder sich durch sein Gewissen an internationale oder naturrechtliche Normen gebunden fühle. (25) Der Sieger hat, so Jaspers, "in bezug auf das Urteil über die politische Haftung das absolute Vorrecht: er hat sein Leben eingesetzt und die Entscheidung ist für ihn gefallen" und "wo Naturrecht und Menschenrecht anerkannt werden, da nur durch den freien Willensakt der Mächtigen, der Sieger". (29ff.) Die durchaus realistische Beschreibung einer ,Siegerjustiz', die Jaspers, wie oben gezeigt, keineswegs bloß zynisch auf politische Willkür reduziert, sondern im Falle von Nürnberg für den möglichen Beginn einer gerechten Weltordnung hält, wird nun aber in erstaunlicher Weise begründet: Zunächst einmal könnte der oben zitierte Satz, der Sieger habe "in bezug auf das Urteil über die politische Haftung das absolute Vorrecht: er hat sein Leben eingesetzt und die Entscheidung ist für ihn gefallen", normativ gelesen werden, was auf ein bedenkliches ,Naturrecht des Stärkeren'2o oder zumindest ein Residuum der 20

Noch in den 1960er Jahren meint Jaspers "das Politische hat einen mit Rechtsbegriffen nicht einzufangenden Rang (der Versuch, dies zu tun, ist angelsächsisch und eine Selbsttäuschung") (16.12.1960). (Arendt/Jaspers 1993, 450)

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Idee des ,Gottesurteils' hinausliefe, da eine numinose ,Entscheidung' bemüht wird, die für den Sieger gefallen sei. Die Stelle bleibt aber unklar. Deutlicher wird Jaspers hingegen, wenn er behauptet, ein Staat, der Natur-, Menschen- und Völkerrecht missachtet habe, habe "nicht zu seinen Gunsten den Anspruch auf Anerkennung dessen, was er selbst nicht anerkannt hat". (30) Diese Position stellt Sanktionen, die wohlgemerkt ein ganzes Volk, nicht nur seine moralisch oder kriminell schuldigen Mitglieder, mit "Vernichtung, Deportation, Ausrottung" (23) treffen können, außerhalb jeder rechtlichen Normierung und zwar mit dem normativen Argument, Menschenrechte existierten nur für den, der sie selbst achtet, bzw. noch stärker: dessen Regierung sie selbst achtet - eine klare Absage an das Prinzip der Menschenrechte überhaupt. Im Zentrum der Schuldfrage steht aber die moralische Schuld: Nur der Einzelne, so Jaspers, könne moralisch für seine Taten verantwortlich sein. Eine moralische Kollektivschuld sei daher ein sinnwidriger Vorwurf. Dieses Prinzip des Verantwortungsindividualismus impliziert, jeder einzelne sei als moralisches Subjekt unvertretbar - wohl weil jeder sich selbst entscheiden muss, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen, aber offenbar auch, weil nur der einzelne Schuld empfinden und Reue zeigen kann. All diese Überlegungen bleiben vage, übrigens genauso wie die Frage nach den Kriterien der Moral, von der hier die Rede sein soll. Als Existenzphilosoph teilt Jaspers mit Denkern wie Heidegger, Arendt oder Sartre nämlich die Skepsis gegenüber Ethik und Normierung schlechthin. Auch wenn er sich gelegentlich positiv über Kants Kategorischen Imperativ äußert,21 gilt für ihn letztlich: "Moral ist nicht mehr zureichend fundiert in allgemeingültigen Gesetzen. Diese bedürfen eines tieferen Ursprungs" Gaspers 2015, 41) - nämlich einer "liebenden", "freien Kommunikation" Gaspers 2012, 20, 26) und "wesentlichen" Begegnung zwischen Mensch und Mensch. Jaspers spricht von der "Gründung allen sittlichen Tuns und Wissens in der Kommunikation". Gaspers 2015, 47, 41)22 Zwar enthalten die Bestimmungen dieser "existentiellen Kommunikation" als "liebendem Kampf" Gaspers 1956,60, 65), folgt man Jaspers' Hauptwerk Philosophie aus dem Jahr 1932, gewisse normative Implikationen, die entfernt an Habermas' ideale Sprechsituation erinnern, so z.B. vorbehaltlose Offenheit und Wahrhaftigkeit, Tabulosigkeit der Themenwahl, Bereitschaft zur Revidierung eigener Ansichten, nichtinstrumentalisierende Einstellung gegenüber dem anderen, Symmetrie "des Wissens, der Intelligenz, des Gedächtnisses, der Ermüdbarkeit". (66) Doch sind diese Kommunikationsbe21 22

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Vgl. Jaspers 1956,269 sowie Jaspers 2015,41. Diese "Gründung" scheint etwas anderes zu sein als die Vorbehalte Jaspers' gegen den Kategorischen Imperativ, die er am Beispiel des Lügenverbots erläutert: Unwahrhaftigkeit könne erstens zur Selbsterhaltung unter feindseligen Bedingungen notwendig und zweitens sogar zur Verhinderung eines schlimmeren Übels im Falle von Normenkonflikten ein, wenn auch nichtverallgemeinerbares, moralisches Gut sein (Vgl. Jaspers 1956, 359). Hier fungiert die ,liebende Kommunikation' als Metapher für gesellschaftliche Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit moralisches Handeln nicht zum eigenen Untergang führt. Die Notlüge zwecks Selbsterhaltung wird auch auf die Erhaltungsbedingungen von "Gruppen" übertragen, die die Trennung einer "Binnenmoral von einer Außenmoral" (359) gestatte.

dingungen auch in der Philosophie eher Tugenden expressiven Sprechens, "eigentlichen Forderns" (361) und Authentisch-Werdens in einem Zweiergespräch unter "Freunden". (59) Prinzipiell könne zwar jeder dieser ,eigentlich Begegnende' werden,23 aber diese Face-to-face-Konzeption ,eigentlicher Kommunikation' bleibt letztlich exklusivistisch und partikularistisch: eine "objektive Enge" (60) in "absoluter Nähe des ,ich selbst' mit dem anderen Selbst" (53): "Ich kann nicht alle Menschen erreichen", meint Jaspers apodiktisch. Und weiter: "Aber ich zerstöre schon Kommunikation, wenn ich sie mit möglichst Vielen versuche", denn "je mehr Menschen etwas verstehen, desto weniger Gehalt hat es". (60, 63)24 Dass diese Kommunikation auch noch das "Vermeiden endgültiger Maßstäbe" (59) verlangt und zudem als "Gemeinschaft im Unverständlichen" (62) bezeichnet wird, zeigt, dass Jaspers mit seinem numinosen und subjektivistisch-ästhetizistischen Kommunikationsmodell keineswegs eine universalistische Moralkonzeption anvisiert. 25 Was gerade noch als ,tieferer Ursprung' der moralischen Kriterien erschien, wird nun allerdings gleichzeitig als Instanz der "moralischen Beurteilung" angesprochen, die ja bereits Kriterien benötigt, um etwas zu beurteilen - eine grundbegriffliche Konfusion, die auch andere Versuche einer existentialistischen Moralbegründung, wie den Hannah Arendts, auszeichnet. 26 Diese Instanz sei "das eigene Gewissen und die Kommunikation mit dem Freunde und dem Nächsten, dem liebenden, an meiner Seele interessierten Mitmenschen". "Über moralische Schuld", so behauptet Jaspers weiter, "kann wahrhaft nur in liebendem Kampfe unter sich solidarischer Menschen gesprochen werden". Gaspers 2012, 19f.) Wenn Jaspers also postuliert, der Vorwurf moralischer Schuld komme von "innen", so meint er: vom eigenen Gewissen oder von der In-group derer, die sich mit dem Beschuldigten in bestimmter Hinsicht identifizieren: "Niemand kann de~ andern moralisch richten, es sei denn, er richtet ihn in der inneren Verbundenheit, als ob er es selbst wäre." (26) "Strafe und Haftung [... ] sind anzuerkennen, nicht aber die Forderung von Reue und Wiedergeburt, die nur von innen kommen können. Gegen solche Forderungen bleibt nur Abwehr durch Schweigen". (31) Wer sind diese "unter sich solidarischen Menschen", die sich in liebender Zuneigung einander ihrer Un-/Schuld versichern? Es handelt sich keineswegs um eine verblasene Formulierung für allgemeine Menschenliebe und die Achtung noch des 23 24

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Vgl. Jaspers 1956, 63. Kurt Salamun konstatiert daher, dass Jaspers' "Existenzbegriff einseitig an intimen Innerlichkeitsphänomenen orientiert ist". (Salamun 1985,87) Letztlich votiert Jaspers für eine situative Ethik (vgl. Jaspers 1956,362). Selbst apologetische Jaspers-Rezipienten müssen zugestehen, ihm gehe es "um die Verantwortung des einzelnen Menschen im Konkreten, um ein spontanes Entscheiden, um das Hören auf die Stimme des Gewissens, den moralischen Appell, die unbedingte Forderung und das Ethos ohne inhaltliche Bestimmung, Gesetze oder Gebote." (Tarmann 2016, 118). Dass es dennoch indirekt erschließbare tugendethische Ideen bei Jaspers, v.a. in Bezug auf das ,Ertragen' von "Grenzsituationen" (,Tapferkeit') und das "liebende" Kommunizieren gibt (vgl. Salamun 1985, 68ff., 80ff.), wird, die "situations ethische" Einlösung der ,liebenden Kommunikation' betreffend, gleich noch erläutert. Die kommunikativen Tugenden werden sich allerdings dabei keineswegs, wie Tarmann meint, als "universal" herausstellen. (Tarmann 2016, 120) Vgl. zur Kritik an Arendts Begriff des Urteilens: Eibe 2015, 479f.

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moralisch Beschuldigten als verantwortliches menschliches Wesen, sondern vielmehr um das deutsche Volk, das gegen die Vorwürfe von "außen" seitens der Alliierten und Nicht-Schicksalsgefährten, also der Exilanten, Oppositionellen und Opfer, die sich nicht mit ihm identifizieren wollen, abgegrenzt wird. 27 Es geht Jaspers um ein exklusives Gespräch unter Deutschen oder besser: unter ,deutsch' Empfindenden, das heißt denen, die es, wie er selbst, trotZ der NS-Massenverbrechen nicht unterlassen können, sich kollektiv-narzisstisch mit dem "deutschen Wesen" zu identifizieren und sich noch den Tätern verbunden fühlen: 28 "Wir alle [ ... ], Nationalsozialisten und Gegner des Nationalsozialismus. Wenn ich ,wir' sage, so meine ich die Menschen, mit denen ich mich zunächst - durch Sprache, Herkunft, Situation, Schicksal - solidarisch weiß." (78) Er fordert vorweg eine volksgemeinschaftliche Identifikation auf einer emotionalen Grundlage, die erst das "Recht" zu "Anklage und Vorwurf" gebe: "Was vor liebenden Menschen in nächster Verbundenheit möglich ist", schreibt er apodiktisch, "ist nicht in Distanz kalter Analyse erlaubt." (28f.) Mit den Nächsten ist die nationale Gemeinschaft des deutschen Volkes angesprochen, das "zusammenkommen" soll. Jaspers' Gemeinschaftsmoral besagt also, nur unter "Nahverbundenen" "unter Schicksalsgefährten, heute unter Deutschen", bestehe das Recht auf moralischen Vorwurf, das "durch das Maß seiner [des Nahverbundenen] Liebe" eingeräumt und begrenzt werde. Nur als "Freund", nicht als "Feind" oder "Fremder", habe man dieses Recht. (29) Die nach dem klassisch modernitätsfeindlichen Muster von ,Gemeinschaft vs. Gesellschaft' aufgeladenen Gegensätze sind eindeutig: "wir selbst", "von innen", "Kommunikation mit dem Freunde", "Nahverbundene", "unter sich solidarische Menschen" vs. "Feind", "Anklagen von außen", "Distanz kalter Analyse", "lieblose Aussagen". Jaspers' Begriff moralischer Schuld ist sowohl moralphilosophisch als auch moralisch dubios: 1) Jaspers deklariert ohne jede Begründung eine in der nationalistischen Massenlibido basierte Moral der Berechtigung29 zu moralischen Vorwürfen und Debatten. Er partikularisiert den moralischen Diskurs also in einer Weise, die an earl Schmitts Diktum über die Feindbestimmung erinnert, "die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben". (Schmitt 2002, 27) Dies ist eine typische Übertragung des ethischen Subjektivismus existentialistischer Positionen 30 auf Kollektive, die also lediglich statt der individuellen die kollektive Existenz als etwas begreift, das "unter keine außerhalb seiner selbst liegende Norm gestellt werden kann" (Marcuse 1968, 44) und daher auch nicht objektiv von Dritten zu beurteilen ist: ,,[E]s ist sich selbst absolute Norm und keiner rationalen Kritik und Rechtfertigung zugänglich". (49) Universalistisch verstandene, allgemeingültige Moral verpflichtet dagegen eine jede und einen jeden als Adressaten zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen gegenüber anderen - und zwar nach bestimmten Kriterien. Sie berechtigt damit aber 27 28 29 30

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Vgl. ]aspers 2012, 29, 35. Vgl. ebd., 49. "Zu Anklage und Vorwurf muß ein Recht sein." (Ebd., 28) Weil ich ein Prinzip gewählt habe, ist es gut. Ich habe es nicht gewählt, weil es gut ist, vgl. Sartre 1994c, 123, 12M. sowie Wachtendorf 2013, 173f.

auch zugleich, eine jede und einen jeden, selbst Vorwürfe gegenüber anderen, die diese Regeln nicht einhalten, zu formulieren. In diesem speziellen Kontext hat das zur Folge, die nicht in liebender Nahverbundenheit, sondern in moralisch berechtigtem Zorn den Tätern gegenüberstehenden Menschen, allen voran die Opfer des NS sowie die Oppositionellen und Exilanten, nochmals auszuschließen. Denn diese sind ja keineswegs "Schicksalsgefährten" der anderen Deutschen. Die Opfer haben demnach dieser eigentümlichen Ethik zufolge auch kein Recht auf moralische Kritik. Die Stimme der Opfer wird zum Schweigen gebracht und so eine exklusive nationale Schuldgemeinschaft konstituiert - natürlich nur in allerbester Absicht, auf die ich im dritten Teil zu sprechen kommen werde. Wendet sich Jean Ameryvielleicht insgeheim gegen Jaspers' furchtbaren Satz: "Daher wollen wir nicht zornig aufeinander werden, sondern versuchen, miteinander den Weg zu finden. Der Affekt spricht gegen die Wahrheit des Redenden" Gaspers 2012, 9), wenn er in den Reflexionen über sein legitimes "Ressentiment" gegenüber den Tätern und seine "Verbogenheit" als Shoah-Überlebender als "sowohl moralisch als auch geschichtlich der gesunden Geradheit gegenüber ranghöhere Form des Menschlichen" schreibt? (Amery 2002, 127) Der Subtext von Jaspers' Schulderörterungen jedenfalls lautet: ,Der Jude soll ruhig sein! Er kann uns keine Wahrheit bringen, sein Ressentiment stört unser deutsches Selbstgespräch.' Jemand wie Amcry, der jedes Weltvertrauen in "Madame und Monsieur" verloren hat, weil "Madame und Monsieur" zumindest "weggeschaut" haben, als er deportiert wurde, dieser "Katastrophenjude", der "fremd und allein gegen seine Umgebung" (168f.) in den europäischen Staaten bleiben muss, in denen die Ursachen des Antisemitismus keineswegs beseitigt sind, könnte nicht weiter von Jaspers' Deutschem entfernt sein, der sich noch angesichts der Mörder heimelig und verbunden fühlt und fühlen kann und der dem Juden seine Fremdheit noch im Eingeständnis deutscher Schuld bescheinigt. 31 . Die zeitgenössische Kritik hat diese Konsequenz von Jaspers' Schuldbegriff klar erkannt und scharf verurteilt. Heinrich Blücher, Ehemann Hannah Arendts, äußert in einem Brief vom 5. Juli 1946 über Jaspers: "Diese ganze Schulddiskussion spielt sich zu sehr vor dem Angesicht Gottes ab, ein Trick, der es erlaubt, schließlich sogar die moralischen Urteile denen zu verbieten, die die Herren Lumpen nicht direkt in liebender Kommunikation umfassen wollen. [... ] Wir haben nicht zu fragen, was deutsch ist, sondern was recht ist. [ ... ] Dieses ganze ethische Reinigungsgebabbel bringt Jaspers dahin, sich solidarisch in die deutsche Volksgemeinschaft sogar mit den Nationalsozialisten zu begeben statt in die Solidarität mit den Entwürdigten." (Arendt/Blücher 1996, 146-149) Auch Max Horkheimer konstatiert: "Indem sie sagen ,wir Deutschen', identifizieren sie sich letzten Endes mit den Nazis, denn die gehören ja auch zu den ,wir Deutschen'. Statt der eindeutigen Ver31

Jaspers kann schon unmittelbar nach dem Krieg auch mit den Displaced Persons, insbesondere den ost jüdischen, und ihrer Verbogenheit, die er generös als "verständlich" zugesteht, wenig anfangen: "Viele Ost juden" seien in Deutschland, schreibt er am 19.4.1947 an Arendt, "im Ganzen nicht zum Vorteil der Auffassung von den Juden - weil manchmal demoralisiert (begreiflich durch all die Jahre), fast immer fremd". (Arendt/Jaspers 1993, 118)

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dammung der Nazis wird die Solidarität mit ihnen durch das ,wir' aufrecht erhalten. Das Schuldbekenntnis von 1945 ist also das Gegenteil von dem, was es zu sein scheint: die Kontinuität wird gewahrt." (Horkheimer 1988, 328f.) 2) Jaspers verfehlt aber selbst den Sinn von nur partikular gültigen Sozialnormen, also einer nur für ein bestimmtes Kollektiv, aber immer noch intersubjektiv gültigen Moral, weil er die Schuldempfindung des Einzelnen mit dessen Schuldigkeit verwechselt. Denn selbst wenn man der Meinung sein sollte, Moral verpflichte und berechtige nur in nationalem Liebesgesäusel verbundene partikulare Gemeinschaftssubjekte, so ist es doch der Sinn von Standards des Verhaltens (also Normen), dass sie Kritik ermöglichen und Schuld definieren, und zwar ohne Ansehen der konkreten Person der jeweiligen Gemeinschaft und ihrer faktischen Einsichtigkeit, sondern gemäß des Inhalts der Standards. Und selbst wenn man die Geltung moralischer Standards von faktischer Anerkennung abhängig machen wollte, was in bestimmten Ethiken ja durchaus der Fall ist, so ist die Geltung der Normen nicht ins Belieben einzelner gestellt. Jaspers erklärt dagegen unzweideutig, die moralische Schuldfrage existiere nur, wenn der Einzelne "wußte oder wissen konnte", dass er gängige moralische und rechtliche Standards verletzte 32 und sich anschließend "selbst durchleuchtet". Daher stehen ihm zufolge "Hitler und seine Komplizen [... ] außerhalb der moralischen Schuld, solange sie sie überhaupt nicht spüren. Sie scheinen unfähig der Reue und Verwandlung. [... ] Moralisch schuldig sind die Sühnefähigen". Gaspers 2012, 47f.) Hier wird die Bereitschaft, sich moralisch in Frage zu stellen und Reue zu zeigen, mit der Existenz des Phänomens der moralischen Schuld konfundiert und es wird zudem die noch in den 1960er Jahren von Hannah Arendt ausgeschlachtete Legende kolportiert, die Täter hätten an "moralischer Unzurechnungsfähigkeit" (Arendt 2013, 401) gelitten, weil sie (jenseits der Frage des Schuldgefühls) nicht einmal auf die Idee gekommen seien, dass sie mit ihren Handlungen gängige moralische und rechtliche Standards verletzten. 33 Der letzte Schuld-Typus ist die metaphysische Schuld: Der Mensch sei "mitverantwortlich [... ] für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt". Angesichts dessen bestehe die Schuld im Versagen vor dem Anspruch einer unbedingten "Solidarität zwischen Menschen als Menschen", die den Einsatz des Lebens fordere. Es gelte hier "das Unbedingte [... ], nur gemeinsam oder gar nicht leben zu können". In der Grenzsituation müsse sich der Mensch entscheiden, "ohne Erfolgsaussicht, bedingungslos das Leben einzusetzen" oder schuldig zu werden und am Leben zu bleiben. Sanktionsinstanz dieser Schuld sei "Gott allein". Gaspers 2012, 20) Es ist bezeichnend, wie Jaspers die ja ganz sympathisch wirkenden universalistischen Aspekte dieser ,metaphysischen' Norm mit der existentialistischen Begeisterung für Ausnahmezustände und tragische Konflikte zusammenführt, die letztlich nur den Tod als Kriterium für Unschuld übrig lässt. Die metaphysische Schuld ist zudem 32

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Dieser Punkt ist noch - teilweise und recht verstanden - nachvollziehbar, vgl. Schefczyk 2012,28-73. Zur Widerlegung dieser These vgl. Jäger 1982, Kapitel 111 sowie Lozowick 2000; systematisch: Schefczyk 2012, 38f.

immer Kollektivschuld und zwar des ganzen Menschengeschlechts, bzw. aller Menschen, die nicht heroisch den Tod auf sich nehmen wollen. Wenn "jeder Mensch [... ] für alles Unrecht [... ] in der Welt" mitverantwortlich ist, dann, so stellt Michael Schefczyk zu Recht fest, haben "beliebige Bewohner des Planeten genauso viel Grund [... ], metaphysische Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen zu empfinden wie die Deutschen. [... ] Für diejenigen, in deren Gegenwart oder mit deren Wissen die Verbrechen geschehen, gilt dies nur in höherem Maße." Damit, so Schefczyk weiter, "hätten die Deutschen in Bezug auf die Shoa keinen besonderen Grund, metaphysische Schuld zu empfinden". (Schefczyk2012, 10M.) Die metaphysische Schuld ist daher nicht nur ein fragwürdiger moralisch-heroischer Maximalismus, der den Menschen nur in tragische und tödlich endende Konflikte treiben kann, sie ist zudem das ideale Exkulpationsmittel einer Entlastung durch Pauschalbclastung - ganz analog zu der in Deutschland nach 1945 sowohl in Theologen- als auch in Historikerkreisen üblichen Flucht ins Religiöse und den allgemeinmenschlichen Sündendiskurs. 34 Allerdings muss man Jaspers zugutehalten, dass die metaphysische Schuld bei ihm ja nur eine mögliche Form der Schuld ist, während in den genannten theologischen Schulddebatten sämtliche Schuld in eine diffuse Menschheitsschuld aufgelöst wurde. So betont er: "Die Frage der Erbsünde darf nicht zu einem Wege des Ausweichens vor der deutschen Schuld werden." Gaspers 2012,77) 2. Moralisch-politische Kollektivschuld

Die zentrale ,Schuldfrage' ist für Jaspers letztlich die nach einer moralischen Kollektivschuld des deutschen Volkes. Sie wird von ihm zunächst ausgeschlossen: Kollektivschuld könne es "außer der politischen Haftung - nicht geben, weder als verbrecherische, noch als moralische, noch als metaphysische Schuld". (28) Die kriminelle lehnt Jaspers ab, weil er davon ausgeht, die Deutschen "hätten nicht wie eine Räuberbande"35 (Schefczyk 2012, 116) gehandelt. Eine moralische Kollektivschuld sei konzeptionell unmöglich, weil sich moralische Urteile auf Handlungen und Charaktereigenschaften richteten, ein Volk aber "keinen Charakter" habe, "derart, daß jeder einzelne der Volkszugehörigkeit diesen Charakter hätte. [... ] Moralisch kann immer nur der einzelne, nie ein Kollektiv beurteilt werden.'" Gaspers 2012, 27) Jaspers hat, worauf Schefczyk hinweist, allerdings auch einen "Typenbegriff" des Deutschen, der vom "Gatungsberif~ zu unterscheiden sei. Den Gattungsbegriff lehne er ab: Einem Individuum könnten aufgrund seiner bloßen Zugehörigkeit zu den Deutschen nicht bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, weshalb man die "moralische Beurteilung eines Individuums nicht allein auf die Information stützen [kann], dass eine Person dem Kollektiv der Deutschen angehört." Das, so Schefczyk weiter, schließe aber "moralische Kollektivurteile im Sinne des Typenbegriffs" nicht aus. Diesem Begriff folgend stelle Jaspers nämlich "nicht in Abrede, dass in der Po34

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Vgl. Friedemann/Spätcr 2003,69 sowie Berg 2004, Kapitel 2. Eine gewagte These angesichts der Beteiligung breiterer Bevälkerungsschichten an arisiertem Eigentum und sonstigem Naziraubgut. Allerdings ist Schefczyks pittoreskes Bild der ,Räuberbande' schon eine veritable Verharmlosung der Vernichtungspolitik.

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pulation der Deutschen bestimmte Eigenschaften häufiger aufträten und andere weniger und dass dies ein charakteristisches Profil von Eigenschaften in der Population insgesamt ergebe". (Schefczyk 2012, 116) Demnach bewerten moralische Kollektivurteile nicht jedes beliebige Mitglied des Kollektivs, sondern "repräsentative Individuen", die "die für ein Kollektiv charakteristische Verteilung von Eigenschaften verkörpern und denen viele Mitglieder des Kollektivs in unterschiedlichen Graden ähneln". (117) Der ,typische Deutsche', so kann man also bereits hier sagen, kann durchaus Schuld auf sich geladen haben. Aber Jaspers geht noch weiter: Moralische Schuld, schreibt er, ist "Grund der Zustände, aus denen die politische Schuld und das Verbrechen erst erwachsen. [... ] Aus der moralischen Lebensart der meisten Einzelnen, breiter Volkskreise, im Alltagsverhalten, erwächst das jeweils bestimmte politische Verhalten und damit der politische Zustand." Gaspers 2012, 21f.) Zugleich sei das Verhalten der Individuen "in politischen Gesamtzuständen begründet, [... ] die gleichsam einen moralischen Charakter haben, weil sie die Moral des Einzelnen mitbestimmen." Letztlich sei die Unterscheidung von moralischer und politischer Schuld daher "einzuschränken". (58) Wie auch immer Jaspers sich dieses von ihm nur vage angedeutete Bedingungsgefüge im Einzelnen vorstellen mag, er eröffnet damit einen systematischen Zugang zur Möglichkeit moralisch-politischer Kollektivschuld. Er postuliert zwei Formen dieser Kollektivschuld: Erstens die Schuld, die daraus resultiert, dass alltägliche individuelle Haltungen und Handlungen sowie kooperative Formen sozialer Praxis moralische Ansprüche von Menschen systematisch verletzten. Insofern plädiert Jaspers für einen erweiterten Verantwortungsindividualismus, der es konzeptionell ermöglicht, "dass Personen [ ... ] aufgrund eigener Handlungen oder Unterlassungen für das Handeln anderer moralisch verantwortlich sein können." (Schefczyk 2012, 125)36 Zweitens führt Jaspers das "Analogon von Mitschuld" an Gaspers 2012, 60), das in der Identifikation mit einem Kollektiv besteht, das schuldhaft handelt oder schuldhafte Haltungen zeigt. Zur ersten Form: "So etwas wie eine moralische Kollektivschuld", schreibt Jaspers, liege "in der Lebensart" der deutschen Bevölkerung begründet, die er mit der Erziehung "zum Gehorsam, zur dynastischen Gesinnung, zur Gleichgültigkeit und Unverantwortlichkeit gegenüber der politischen Realität" beschreibt - "und wir haben etwas davon in uns, auch wenn wir in Gegnerschaft zu diesen Haltungen stehen." (58) Daher folgert er: "Daß in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime, dafür tragen wir alle eine Mitschuld." (60) Jaspers schwebt offenbar eine Mitschuld großer Teile der Bevölkerung durch eine generalisierte Gehorsamsbereitschaft und Staatshörigkeit vor, was übrigens schlecht zu seiner eigenen Verherrlichung der "ruhmvollen sittlichen

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Im Zuge der Thematisierung krimineller Schuld erwähnt auch ]aspers, dass alle, die an der Planung oder Ausführung von "Kriegsverbrechen" oder "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" beteiligt gewesen seien, "für alle Handlungen verantwortlich" seien, "die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Plans begangen worden sind." Gaspers 2012, 37)

Überlieferung der deutschen Armee" (55) und der "soldatischen Ehre" passt. 37 Die millionenfache alltägliche Unterstützung, Erhaltung oder Förderung des Regimes, die direkte oder indirekte Beteiligung an Massenmord und Ausplünderung, das wissentliche Profitieren von Kriegs- und Arisierungsbeute, die weitgehende Abwesenheit von Widerstand und vieles mehr können in diesem Sinne durchaus sinnvoll als Aspekte einer Kollektivschuld des deutschen Volkes bezeichnet werden. 38 Jaspers selbst führt an: Das "Unterlassen an der Strukturierung der Machtverhältnisse [... ] im Sinne des Dienstes für das Recht"; (22) die "Schuld durch ein falsches Gewissen" als Glaube daran, dass die Ziele des NS die "edelsten Ziele" waren; (48) den Willen zu nationaler "Macht und [... ] Ruhm"; (51, 59) die Schuld durch ,untragische Halbheit', Anpassung und partielle Zustimmung; die Schuld durch die Selbsttäuschung, man könne von innen her etwas Gutes bewirken; (50f.) die Schuld durch Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der anderen (53) und die Schuld der "intellektuellen Nazis". (52) Jaspers' durchaus treffende und nicht nur für das konservative Bürgertum Nachkriegsdeutschlands bemerkenswerte Kollektivschuldreflexion krankt allerdings neben dem Verschweigen konkreter Taten und Täter, der oben angesprochenen nationalen "Innerlichkeit und Selbstbezogenheit" (Friedemann/Später 2003, 74) des angemahnten Schulddiskurses und mannigfachen exkulpatorischen Details an einem fragwürdigen Verständnis des Nationalsozialismus, das sich unmittelbar aus seinen

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Die "soldatische Ehre" ("in Kameradschaftlichkeit treu" sein, "in Gefahr unbeirrbar", sich durch "Mut und Sachlichkeit" bewähren) sei von der Schuld ganz ausgenommen. Im Gegenteil die Bewährung in soldatischer Ehre sei "ein Fundament des Lebenssinnes". Gaspers 2012, 49) Dass die Ideale der Sachlichkeit und der Treue sowie der Kameradschaftlichkeit wichtige Beiträge zur Durchführbarkeit der Vernichtungspolitik geleistet haben, will Jaspers nicht wahr haben. Eine treffende Differenzierung möglicher Formen von Kollektivschuld findet sich bei Schefczyk: Moralische Kollektivschuld bedeutet ihm zufolge, dass ein Individuum Mitschuld an einem kooperativ begangenen Unrecht trägt, insofern dieses Individuum zu dem kollektiven Handeln beigetragen hat oder es bejaht und dieses Handeln moralische Rechte verletzt. Auch Taten, die an sich keine moralischen Pflichtverletzungen waren, aber zu solchen beigetragen haben, fallen für ihn darunter (vgl. Schefczyk 2012, 128f., 161). Besonders interessant ist Schefczyks Kategorie der "politischen Kumulationsübel". Darunter fallen z.B.: 1) die Wahl der NSDAP, womit ein Übel "durch gleichartige marginale Handlungen von Individuen innerhalb eines formalen Koordinationsmechanismus produziert" wird. (251) 2) Die bloße "Gleichartigkeit von Einstellungen und Werten". (251) Innerhalb eines rassistisch eingestellten Kollektivs kann z.B. ein Lynchmörder als "informeller Repräsentant" agieren, indem er "aufgrund der subjektiven Gewissheit tätig [wird], dass bestimmte Handlungen von den Mitgliedern eines Kollektivs befürwortet werden." (253) 3) Formen der "indirekten [ ... ] Mitwirkung" von nicht unmittelbar Tatbeteiligten an pflichtverletzenden Taten (258). Rassistische Einstellungen z.B. sind demnach nicht lediglich Meinungen, sondern disponieren zu bestimmten Handlungen, "wie abfälligen Bemerkungen oder diskriminierenden Entscheidungen. Damit trägt der Rassist zu einem kulturellen Klima bei, in dem das Risiko rassistischer Gewalt höher ist als es ohne eine solche Einstellung wäre." (256) 4) "Kollektive Untätigkeit". Hier ist eine "unstrukturierte Gruppe" von Personen dann mitverantwortlich für ein Übel, wenn sie "gemeinsam ein offensichtliches Übel hätten verhindern können, wenn sie sich in geeigneter Weise verhalten hätten." (259)

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existentialistischen Prämissen ergibt. Bereits die Aufzählung der moralisch verfehlten Mentalitäten zeigt, dass er hier an den "Pflichtwicht" (Schmitt 2004a, 92) des Kaiserreichs denkt und an der Haltung des Nationalsozialisten vorbeizielt. Zwar darf zwischen der preußisch-deutschen Untertanenmentalität und der NS-Ideologie keine vollständige Trennung hergestellt werden, zumal die eine den Siegeszug der anderen zumindest erleichtert hat. Aber der Bewegungscharakter und die völkische Zentrierung des NS unterscheiden sich doch charakteristisch vom Autoritarismus klassischer Prägung. Und so kommt es, dass Jaspers mit seinem politexistentialistisehen Eigentlichkeitskult, der authentisches, eigenverantwortliches, außergewöhnliches, gefahrvolles und mit unbedingtem Engagement vollzogenes Handeln verfahrensmäßig nicht eingeschränkter ,Männer von Rang' in ernsten Ausnahmesituationen gegen Passivität, Privatismus, Halbheit und Dienst nach Vorschrift seitens spießiger, auf sekuritäre Daseinsvorsorge bedachter Durchschnittsexistenzen 39 ins Feld führt, Tugenden als Gegengift empfiehlt, die von jedem Nationalsozialisten begeisterte Zustimmung ernten würden: "Die Staats macht" , schreibt Jaspers, sei nicht als "die eigene Sache gefühlt" worden Gaspers 2012, 22), statt dessen habe "blinder Gehorsam" von Existenzen geherrscht, die "nicht eigentlich nachdenken woll[t]en", das heißt, sie "frag[t]en nicht, und sie antworte[te]n nicht, außer durch Wiederholung eingelernter Redensarten. Sie k[onnt]nen nur behaupten und gehorchen, nicht prüfen und einsehen, daher auch nicht überzeugt werden." (14f.) Es ist kein Zufall, dass diese Beschreibung an Heideggers ,Man', Arendts ,Nichtdenkende' oder Sartres ,Unaufrichtige' erinnert. 4o Nur war es eben nicht Dienst nach Vorschrift konventioneller Typen, sondern das präzedenzlose, kreative, eigenverantwortliche und hochengagierte Handeln einer von rechtlichen Bindungen weitgehend befreiten ,kämpfenden Verwaltung', eines ideologisierten Militärs, von Führern ,aus eigenem Ursprung', von Staatsbürgern, die den Staat als ihre eigene Sache empfanden und ergriffen, die die Shoah Wirklichkeit werden ließen. 41 Dass "die Pflicht gegen das Vaterland [... ] viel tiefer [geht], als ein blinder Gehorsam gegen die jeweilige Herrschaft reicht" (49), gehörte zum guten Ton der NS-Ideologie, in der Begriffe wie Revolution, Hochverrat und Partisanenturn keineswegs per se negativ besetzt waren. Auch Jaspers' Dogma, dass "die Macht des Staates kein Ziel an sich" sei, sondern Mittel, um "das deutsche Wesen" (49)42 zu verwirklichen, ist mit der völkisch-nationalistischen Ideologie vereinbar. 43 Und gegen die ,Verirrung' einer "ahnungslosen Jugend" in Gewissensfragen fällt Jaspers schließlich nichts anderes als nationalistisches Geraune ein. Statt ein 39

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Auch hier treffen sich Jaspers' und Arendts Banalitäts- und Spießertheorien des Bösen schlicht aufgrund des beiden gemeinsamen aristokratisch-existentialistischen Ethos. Jaspers weist sogar auf Arendts Spießer-Theorie hin: Jaspers 2012, 63f. Vgl. Heidegger 1993, 128f., Sartre 1994b, 115, ISS, Arendt 2013b, 145. Vgl. Jäger 1982, Lozowick 2000, Pau12002, Wildt 2008, Stangneth 2011. Was das deutsche Wesen sei, weiß Jaspers selbst nicht so recht, er nennt es in einem Brief an Hannah Arendt vom 3.1.1933 "eine unbestimmte geschichtliche Totalitätsintention". (Arendt/Jaspers 1993, 53) Vgl. Hitler 1943, 420f.: Die "völkische Weltanschauung [... ] sieht im Staat prinzipiell nur ein Mittel zum Zweck."

moralisches Kriterium anzugeben, wann die "Pflicht gegen das Vaterland" geboten ist und wann sie endet, stellt er fest: "Pflicht gegen das Vaterland ist der Einsatz des ganzen Menschen für die höchsten Ansprüche, die zu uns sprechen aus den Besten unserer Ahnen und nicht aus den Idolen einer falschen Überlieferung." (49) Auch das könnte ein Satz Hitlers sein. Man handelt also falsch, wenn man der falschen Überlieferung folgt. Und welche, fragt man sich, ist die falsche und nach welchen Kriterien wird das entschieden? Man muss schon in der Schuldfrage zurückblättern und die ebenso vagen wie verstreuten Hinweise auf das Menschenrecht hinzuziehen, um nicht ganz leer auszugehen. Zieht man einige Äußerungen aus Jaspers' sozialphilosophischem Hauptwerk Die geistige Situation der Zeit aus dem Jahr 1931 heran, ein Werk, das er im Erscheinungsjahr der Schuldfrage als "heute wie damals gültig" (Jaspers 1960, 4) beurteilt, dann verdüstert sich das Bild noch weiter. Denn nimmt man Jaspers' kaum ausgearbeitete Idee der moralisch-politischen Kollektivschuld ernst, so muss er sich den Vorwurf einer Mitschuld gefallen lassen. Allermindestens müssen seine Schriften vor 1933 als Beitrag zu einer "öffentlichen Atmosphäre, welche Unklarheit verbreitet und die als solche das Böse erst möglich macht" gewertet werden. (Jaspers 2012, 21) Sein Jargon der Eigentlichkeit ist durchsetzt mit antidemokratischen und antiliberalen Topoi, von aristokratisch-elitärem Führerkult, Ressentiment gegen hedonistische Behaglichkeit, gegen den Massenmenschen und bürokratische Verfahren und weist wesentliche Elemente von strukturellem Antisemitismus auf. Aus der Fülle reaktionärer Ideologeme, die in Die geistige Situation der Zeit zu finden sind, sollen hier nur drei Beispiele für eine solche Mitschuld Jaspers' an der antidemokratischen Prägung der öffentlichen Meinung in der Weimarer Republik und der akademischen Systematisierung und Legitimation einer antisemitischen und führerzentrierten Weltanschauung gegeben werden: Eine Kritik der instrumentellen Vernunft von rechts: Die "Daseinsfürsorge" der dumpf vor sich hinvegetierenden Massenmenschen, die "keine Größe" dulden und "zu Ameisen" (Jaspers 1960,36) regredieren, die "nach den Vorteilen des Einzeldaseins in Kampf und Betrug" streben, so beschwört Jaspers ad nauseam, müsse transzendiert werden zum "eigentlichen Selbstsein", das "aus seinem Schicksalswillen das über alle Berechnung hinausgehende Wagnis" suchen solle, um in "existentieller Unbedingtheit" "zum Sein zu kommen". (39) Es bleibt, wie immer bei Jaspers, im Ungefähren, was das alles heißen soll. Doch nur wenige Jahre später beginnt eine "Generation des Unbedingten" (Wildt 2008) ein "über alle Berechnung hinausgehendes Wagnis", das Jaspers hier mit Sicherheit nicht im Sinn hatte, zu dem er aber mit seinem unverantwortlichen und in jungkonservativem Ressentiment befangenen Geraune einen, wenn auch minimalen, weltanschaulichen Beitrag geleistet hat. Allein durch ihren jargonhaften Sound fördern Jaspers' kulturkritische Ausführungen eine faschismuskompatible Haltung eben der "nationalistischen Jugend", deren "guten Willen und echten Schwung" (Arendt/Jaspers 1993, 53) er noch 1933 lobt und die vornehmlicher Adressat seiner Ausführungen sein sollte. Wie prätentiös Jaspers' Anspruch ist, diese Jugend zu erziehen, wird deutlich, wenn man sich vor Augen

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führt, wohin seine "Existenzerhellung" führt: "weil sie gegenstandslos bleibt", so gibt Jaspers freimütig Auskunft, "führt [... ] sie zu keinem Ergebnis". Gaspers 1960, 163) Adorno kommentiert im Jargon der Eigentlichkeit ebenso trocken wie treffend: "Eben". (Adorno 1997,27) Warum aber ist sie gegenstandslos? Weil ihr der Mensch als Existenz nichts als inhaltslos-negative Wahlfreiheit bedeutet: Der Mensch müsse sich jenseits von empirischen Bedürfnissen und moralischen Prinzipien absolut frei und unvertretbar wählend zu seinen Möglichkeiten verhalten und überschreite stets jedes "Resultatsein". Gaspers 1960, 160) Soll Existenzerhellung einen Prozess bedeuten, der den Menschen mit seinen Möglichkeiten konfrontiert, zu denen er sich selbstbewusst verhalten muss, so bleibt dieser Prozess ohne Ethik, Psychologie und Gesellschaftstheorie ein sinnloses Unterfangen, ein Prozess des "Klarwerdens", der tatsächlich niemals dahin kommt, "meine Existenz zu erkennen" (163), wie Jaspers mit entwaffnender Offenheit zugesteht. Führerkult und Demokratiefeindlichkeit: Zur Vorbereitung der faschistischen Machtergreifung gehörte eine intellektuelle Elite, der an Demokratie und Rechtsstaat nichts gelegen war. Auch hier hat Jaspers einiges zu bieten mit seinem Ressentiment gegen "Kompromiß" (73), "Instanzen, Kontrollen, Kommissionsbeschlüsse", gegen vom Volk im demokratischen Wahlakt erkorene "Zufallsführer" und bloß "tüchtige Menschen", die angeblich "nicht eigentlich entscheidend", sondern "nur mitentscheidend" sein wollten. Hinter diesen hätten "die großen Männer" "zurücktreten" müssen, die noch in die Herrschaftsposition "hineingeboren und zum Herrschen erzogen" worden seien und "das eigentliche Selbstsein als Bedingung verantwortlichen Führens" (52) aufgewiesen hätten. Die aristokratisch-elitäre Abneigung gegen demokratische Kontrolle und Verwaltungs ausbildung geht einher mit einer Beschwörung des politischen Genies, das an "den Wendepunkten der Daseinsordnung [... ] aus eigenem Ursprung das Steuer ergreifen kann auch gegen die Masse" (51) und im "Entweder-Oder [... ] die Dinge auf die Spitze treiben" will, "um zur Entscheidung zu kommen". (73) Wie noch in der Schuldfrage wird hier wahres Führertum gegen "gedankenlosen Gehorsam" (49) und gegen Dienst nach Vorschrift des "im Apparat" "zum Apparat gewordenen Menschen" (47) in Stellung gebracht. Struktureller Antisemitismus: Das Unterkapitel "Der Sophist" schließlich ist ein Paradebeispiel für strukturellen Antisemitismus. Der Sophist ist ein kontur- und "charakterloser" romantischer Subjektivist, ein "in allem versierter", sich auf nichts festlegender, "aalglatter" Opportunist - "er will dabei sein", "pflegt überall Beziehungen" und ist "unfähig zu echter Feindschaft, welche aus hoher Artung gegen die andere auf gleichem Niveau in fragenden Schicksals kampf tritt". Er ist Meister im "Bücken und Ducken", versteht sich lediglich auf "Unanständigkeiten und Betrügereien". Ihm sind "Ehrfurcht, Scham und Treue" fremd. Seine nichtige, "bodenlose" "Ungebundenheit [... ] findet in der Intellektualität die einzige Heimat", aber sein Rationalismus ist einer der Planung und geht auf "platte Verständlichkeit". Mit diesen "Schilderungen" will Jaspers "eine anonyme Macht" beschreiben, "die heimlich sich aller bemächtigen möchte, sei es, um uns in sich zu verwandeln, sei es um uns vom Dasein auszuschließen". (Alle Zitate: 168-171) Kein einziges Mal spricht Jaspers in dieser Beschreibung dessen, was Heidegger das "Man" nennt, vom Juden

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und doch sind klassische Topoi des modernen Antisemitismus in dieser Erörterung der Gefahren uneigentlicher Existenz versammelt, alle Abstraktionen dieses Antisemitismus, die sozusagen ,das Jüdische' als Sammlung negativer Eigenschaften beinhalten und nur noch in realen oder angenommenen Juden personifiziert werden müssen. Und diese Personifizierung konnte sich das in solchen Fragen versierte akademische Publikum im Deutschland des Jahres 1931 problemlos hinzudenken. 44 3. Das "Analogon von Mitschuld" und die selbstbewusste Schuldgemeinschaft Jaspers unterstellt nationale Vergemeinschaftung auf irrationaler, rein gefühlsmäßiger Basis als Schicksal 45 : Dogmatisch wird zunächst postuliert, "das wahre Kollektiv" sei zwar "die Zusammengehörigkeit aller Menschen vor Gott". Ja, man dürfe sich "irgendwo [!] freimachen von der Gebundenheit an Staat, Volk, Gruppe", aber letztlich gelte: "Geschichtlich bleiben wir gebunden an die näheren und engeren Gemeinschaften und würden ohne sie ins Bodenlose sinken." Gaspers 2012, 57) Das emotionale Band der Identifikation des Einzelnen mit dem nationalen Kollektiv ist ihm zufolge so stark, dass es "auf eine rational nicht mehr faßliche" (61) Weise funktioniert und das Gefühl einer Mitverantwortung für das Volk bewirkt. Dieses Empfinden von Kollektivschuld geht bis zur kollektiv-narzisstischen Identifikation'6 der deutschen Bevölkerung mit ihren Führern: Die Staatsbürger seien von den Verbrechen ihrer Führung und der Anklage gegen diese in den Nürnberger Prozessen "mitgetroffen": "In der Behandlung der eigenen Staatsführer, selbst wenn sie Verbrecher sind, fühlt sich daher der Staatsbürger mitbehandelt". Statt den hinter dem Gefühl liegenden regressiven Bedürfnisstrukturen und dem in gemeinsam begangenen Verbrechen bestehenden, berechtigten Grund für solche Identifikationen nachzugehen, hält Jaspers diese für "instinktive" Tatbestände. (38) Er verurteilt zwar die spezielle Form der Identifikation mit den Haupttätern, die in bloßer Abwehr von Schuldvorwürfen bestehe. Da er die autoritär-masochistische Identifikation'7 der Individuen mit der Nation - was immer diese ausmache - aber als Schicksal postuliert, damit jede Erklärung dieses Phänomens verweigert und jeden Gedanken individueller Emanzipation vom antagonistisch-solidarischen Zwangs kollektiv negiert, kann sich Jaspers eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nur als Läuterung und "Reinigung" (90) der deutschen Nation durch kollektives Schuldeingeständnis denken: Die zweite Form der Kollektivschuld, das "Analogon von Mitschuld" (60),

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Vgl. zu diesen Mechanismen antisemitischer Semantik: Holz 2010, 237-240. Zur Verbindung von Antisemitismus und Antiintellektualismus vgl. Bering 1982, 117-129. Ich beziehe mich hier explizit nicht auf spätere Schriften. Meine Aufgabe ist nicht eine Einschätzung von Jaspers' Gesamtwerk. Vgl. zum Begriff: Adorno 1979, 114: "Kollektiver Narzißmus läuft darauf hinaus, daß Menschen das bis in ihre individuellen Triebkonstellationen hineinreichende Bewusstsein ihrer sozialen Ohnmacht, und zugleich das Gefühl der Schuld, weil sie das nicht sind und tun, was sie dem eigenen Begriff nach sein und tun sollten, dadurch kompensieren, daß sie, real oder bloß in der Imagination, sich zu Gliedern eines Höheren, Umfassenden machen, dem sie die Attribute alles dessen zusprechen, was ihnen selbst fehlt, und von dem sie stellvertretend etwas wie Teilhabe an jenen Qualitäten zurückempfangen." Vgl. zum Begriff: Fromm 1989, 178 sowie EIbe 2015, 412ff.

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führt somit direkt zur zentralen Absicht von Jaspers' Schulderörterungen. Denn Eigentlich-Sein wird politexistentialistisch konzipiert als ,richtiges' Deutsch-Sein: "J eder ist, wenn er eigentlich ist, das deutsche Volk". "Weil ich mich nicht entbrechen kann, in tiefer Seele kollektiv zu fühlen", resümiert Jaspers, "ist mir, ist jedem das Deutschsein nicht Bestand, sondern Aufgabe". Die Aufgabe bestehe darin, "deutsch zu werden, wie man es noch nicht ist, aber sein soll". (60f.) Dieses eigentliche Deutschsein werde nur durch "Offenheit und Ehrlichkeit" in der Schuldprüfung erreicht, die "unsere eigene Chance" sei, die Deutschen zu Rehabilitieren und "vor dem Pariadasein [zu] bewahren". (11) Im selbstviktimisierenden und kollektivistischen Stil einer nationalistischen Moral der Ehre und Schande werden daher auch die Verbrechen der Deutschen als "nationale Schmach" (39) oder "nationale Würdelosigkeit" (13) bezeichnet. Es klingt beinahe so, als hätten die Deutschen in der Shoah vor allem ihrem internationalen Ruf und ihrer ,nationalen Seele' geschadet, als sei hier vor allem "das deutsche Wesen vernichtet" worden. (49) Die Ambivalenz solcher Anerkennung moralisch-politischer Kollektivschuld betont Raphael Gross. Er schreibt, wenn sich Deutsche "für die NS-Vergangenheit schämten oder schuldig fühlten", zeige dies zum einen die moralische Verurteilung von Taten des NSRegimes. "Wenn sie sich aber für etwas schämten, was nicht sie, sondern andere getan hatten, zeigte dies, dass sie sich auf eigenartige Weise immer noch der Gemeinschaft zugehörig fühlten, die das Bezugssystem der moralischen Gefühle geblieben war. [... ] Auschwitz war [ ... ] in der Wahrnehmung dieser [... ] Deutschen deshalb ein Verbrechen, weil es eine ,Schande' war" (Gross 2010, 212f.),48 das heißt eine Kränkung des partikularen emotionalen Bandes der nationalen ,Ehre'. Es ist daher auch kein Zufall, dass in Jaspers' Ausführungen dem Leid, dem Schrecken, dem Verlust und dem Zorn der Überlebenden keine Stimme gegeben wird. Wenn Adorno sagt: "Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären" (Adorno 1993,28), dann ist das, was Jaspers in der Schuldfrage praktiziert, nichts anderes als die Perpetuierung oder Restitution genau der autoritär-masochistischen Gefühlsmatrix, die die Grundlage von immer neuen Massenverbrechen werden kann. Jaspers konstituiert eine Volksgemeinschaft der sich selbst (oder gegenseitig) Beschuldigenden. Voraussetzung ist die Identifikation auch und gerade mit den NS-Tätern als angebliche Bedingung für moralische Urteils kompetenz, Ziel ist eine Rettung der "Seele des deutschen Volkes" Gaspers 2012, 55) und eine moralisch gereinigte Nation, die dadurch wieder "frei" werde. (92) Folge ist eine auf den irrationalen Grundlagen des autoritärmasochistischen und kollektiv-narzisstischen Identifikationsbedürfnisses restituierte Volksgemeinschaft, die bis zum Bewältigungsstolz und zur "narzisstischen Schuldbegeisterung" (Gross 2012, 182) gehen kann. So spricht Michael Schefczyk in seinem Werk Verantwortung für historisches Unrecht arglos davon, es könne den "Gesamtnutzen" eines Kollektivs "maximieren" (Schefczyk 2012, 121), wenn dieses sich für historisches Unrecht schuldig bekennt. Es bleibt zwar unklar, was er damit genau meint. Ein Schelm aber, wer daran denkt, dass das Bekenntnis der historischen Schuld dazu dienen kann, den kollektiven Narzissmus der nationalisierten 48

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Vgl. auch Rupnow 2006,35.

Subjekte zu stabilisieren, der wiederum eine Quelle neuen historischen Unrechts werden kann, das sich nun aber im Gewand moralischer Läuterung verbirgt. Und so findet sich in Jaspers' Schuldfrage bereits die sich erst später durchsetzende Einsicht, dass auch noch das größte Verbrechen der Geschichte als unfreiwilliger "jüdischer Beitrag zur neuen Selbstfindung" der Deutschen betrachtet werden konnte. "Auschwitz", schreibt Eike Geisel mit bitterer Ironie, "war also doch noch gut ausgegangen. Dieser Unort war nicht das Massengrab nationaler Aufgaben und Verpflichtungen gewesen, vielmehr hatte dort die von Juden geschaukelte Wiege eines ganz besonderen Gemeinschaftsgefühls gestanden", indem "aus der Asche der Ermordeten der Stoff geworden [ist], mit dem sich der neue deutsche Nationalismus das gute Gewissen macht". (Geisel 1998, 58, 60)49

;9

Ein gutes Gewissen, das dann auch schon Jaspers dazu verleitet, "die Schäden für Israel" zu fürchten, die von fehlender "menschliche[r] Größe" der israelischen Seite im EichmannProzess ausgehen könnten, und letztlich sogar "in dieser Staatsgründung" (Israels) "etwas dem Juden in der Tiefe Fremdes" zu sehen (Arendt/Jaspers 1993, 448 (14.12.1960) sowie ebd., 455 (31.12.1960)).

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Das öffentliche Leben Zu Hannah Arendts konservativer Theorie wirtschaftlichen Wachstums (gemeinsam verfasst mit Sven Ellmers) Hannah Arendts Schriften galten schon zu ihren Lebzeiten als Klassiker der Politischen Theorie: Mit Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) und Eichmann in Jerusalem (1963) legte sie Deutungsmuster vor, die die Debatten über den Nationalsozialismus und Holocaust bis heute prägen.! Bemerkenswert ist dabei, wie selten die Theorie der Moderne, die den beiden Schriften zugrunde liegt und die Arendt in Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1958) entwickelt, argumentativ entfaltet und kritisch reflektiert wird. 2 Vorherrschend ist vielmehr das affirmative und oberflächliche Nacherzählen}, sofern Arendts Theorie der Moderne nicht gleich ganz übergangen wird. Überraschend ist das grundlagentheoretische Desinteresse auch insofern, als zentrale Topoi der heute gängigen Wachstumskritik - ,Konsumismus', ,waste economy', ,Beschleunigung' - in Arendts Genealogie der Arbeitsgesellschaft bereits eingehend erörtert werden. Im Zuge der Arendt-Renaissance, die mit der postmodernen politischen philosophie einsetzte, hat sich an der selektiven Rezeption wenig geändert. Um die Unterscheidung des Politischen von der Politik 4 inhaltlich mit Leben zu füllen, war es zwar naheliegend, auf Arendts Handlungsbegriff zurückzugreifen, jedoch fand der argumentative Kontext ihrer Diagnose, dem (politischen) Handeln sei durch den Sieg des animallaborans der Boden entzogen, kaum Beachtung. Weit mehr als bei Arendt selbst wird solche politische Philosophie in einem gesellschaftstheoretischen Vakuum formuliert. Welche Bedeutung den ökonomischen Überlegungen Arendts zukommt, lässt sich bereits werkgeschichtlich erahnen: Nach der Niederschrift der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beginnt Arendt ein Buchprojekt mit dem Arbeitstitel ,Totalitäre Elemente des Marxismus'S, das schließlich in ihrem philosophischen Hauptwerk Vita activa sowie den Büchern Zwischen Vergangenheit und Zukunft (1961/68) und Über die Revolution (1963) aufgeht. Für eine kritische Gesellschaftstheorie stellen diese Werke eine Herausforderung dar. Arendt geht in ihnen nämlich nicht nur auf die Legitimationsideologie des Marxismus-Leninismus ein, sondern entwickelt ihre Gedanken über weite Strecken in direkter Auseinandersetzung mit Marx' Kritik der politischen Ökonomie. Die Frage, wie Arendt Marx rezipiert, be-

Zur Kritik an Arendts Totalitarismus- und Holocaust-Bild vgl. Eibe 2015, 461-485. Darin finden sich auch einige der hier entfalteten Überlegungen. Zu den Ausnahmen gehört Jaeggi 1997. Sie konzentriert sich wie Benhabib (2006, Kap. V) darauf, Arendts Unterscheidung des Politischen vom Sozialen infrage zu stellen. Wie bei Schindler 1996 oder Raimondi 2014, 64ff. Vgl. Bedorf 2010. Vgl. Young-BruehI2013, S. 384ff.

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rühren wir in unserem Beitrag nur am Rande; im Mittelpunkt steht vielmehr die Konsistenz und Nachvollziehbarkeit ihrer wachstums theoretischen Alternative. Gegen dieses Vorgehen ließe sich möglicherweise einwenden, Arendt habe weder Konsistenz beansprucht noch stünden die ökonomischen Zusammenhänge im Zentrum ihres Denkens. Beide Einwände überzeugen uns nicht. Zum einen ist Konsistenz kein Kriterium, über das sich großzügig hinwegsehen ließe, ohne den wissenschaftlichen Anspruch preiszugeben, den Arendt mit ihrer politischen Theorie durchaus verband. Welchen Status soll eine Untersuchung auch haben, die empirische Tendenzaussagen ohne logisch schlüssige und stichhaltige Argumente tätigt? . Der gut gemeinte Versuch, Arendt auf diese Weise zu verteidigen, läuft darauf hinaus, sie als Wissenschaftlerin nicht ernst zu nehmen. Zum anderen hängt Arendts Theorie des politischen Handelns ohne die Untersuchung des ökonomischen Wachstums buchstäblich in der Luft: Sie könnte nicht mehr einsichtig machen, warum menschliche Freiheit in der Moderne gefährdet sei. Die ökonomische Theorie ist darum alles andere als Zierrat der politischen Theorie.

1. Menschliche Grundtätigkeiten: Arbeiten, Herstellen, Handeln Hannah Arendts Theorie der Moderne ist eingebettet in eine normative Anthropologie: Sie unterscheidet mit dem Leben, der Weltlichkeit und der Pluralität drei Grundbedingungen der irdisch-menschlichen Existenz, sie ordnet diesen Grundbedingungen mit der Arbeit, dem Herstellen und dem Handeln drei menschliche Grundtätigkeiten zu und bringt letztere schließlich in eine evaluative Rangfolge. Unter Arbeit versteht Arendt eine instinktgeleitete Tätigkeit, die vergängliche Naturdinge für den sie verbrauchenden menschlichen Organismus stets aufs Neue bereitstellt; ihre subhumane Funktion besteht darin, die Reproduktion von Individuum und Gattung zu sichern. Unter Herstellen versteht Arendt die ihrer Ansicht nach erste wirklich menschliche Tätigkeit, die sie auf das Bedürfnis nach Ausdruck, gegenständlicher Wirkmächtigkeit und irdischer Unvergänglichkeit innerhalb des kreislaufförmigen Lebens zurückführt. Im Herstellen zeige "sich das Widernatürliche eines von der N atur abhängigen Wesens, das sich der immerwährenden Wiederkehr des Gattungslebens nicht fügen kann und für seine individuelle Vergänglichkeit keinen Ausgleich findet in der potentiellen Unvergänglichkeit des Geschlechts". (Arendt 2007, 16) Das Herstellen bringt eine Welt tradierbarer und ,Heimat' vermittelnder Gegenstände hervor, die im Unterschied zu den Erzeugnissen der Arbeit nicht verbraucht, sondern gebraucht werden. Während die ersten bei den Grundtätigkeiten angeblich ohne die Kooperation mit anderen Menschen vollzogen werden können, ist das Handeln ohne interpersonelle Bezüge noch nicht einmal denkbar. 6 Da Arbeit und Herstellen die Beteiligung anderer jedoch auch nicht ausschließen, definiert das Handeln eine bestimmte Form der Interpersonalität: Handeln ist die von allem Nützlichen und Notwendigen sich abgrenzende, darum selbstzweckhafte Praxis des Miteinanderredens, in der sich Vgl. Arendt 2007, 33f.

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menschliche Freiheit betätigt und die Einzigartigkeit der Person offenbart. Genauer: Freiheit zeigt sich im Handeln, das Arendt mit dem Politischen assoziiert, (i) als Befreiung von den gegenständlichen und interpersonellen Zwängen der materiellen Reproduktion, (ii) als eine besondere, von Arendt mit der ,Natalität' in Verbindung gebrachte Form der Spontaneität: nicht nur als Befähigung, spontan eine Kausalkette in Gang zu setzen, sondern etwas gänzlich Neues, Großes oder Außergewöhnliches zu tun (das antike Vorbild ist hier Homers AchilI), schließlich (iii) als kollektive Selbstbestimmung, die auf den politischen Freiheiten der Rede und Versammlung beruht: An die Stelle der vorpolitischen Befehlsgewalt tritt die Fähigkeit, andere mit (herausragenden) Worten zu überzeugen oder zu überreden/ Der Mensch ist darum nicht nur ein soziales Lebewesen - denn das sind nach Arendt auch Tiere -, sondern ein genuin politisches. Damit sich die menschliche Gattung erhalten, eine geteilte Welt bedeutsamer Gegenstände geschaffen und menschliche Pluralität offenbart werden kann, ist es Arendt zufolge zwingend erforderlich, dass die drei Grundtätigkeiten jeweils nur ein soziales Feld prägen. So ordnet Arendt unter Rückgriff auf antike Vorbilder das Arbeiten dem privaten Haushalt (oikos) zu, während das Handeln in der Öffentlichkeit (polis) seinen Ort habe. Normativ gesehen ist das humanspezifische freie Handeln für Arendt dem Herstellen und das Herstellen der niederen Tätigkeit des Arbeitens übergeordnet: Das Arbeiten hat lediglich eine funktionale Bedeutung, ist nur die äußere Bedingung für das politische Handeln, was umgekehrt bedeutet, dass für Arendt das politische Handeln kein Mittel für ökonomische Belange sein darf. Der Inhalt des politischen Redens und Versammelns soll (neben der Auszeichnung der Einzelnen) nur das politische Reden und Versammeln selbst sein. 2. Verhältnis von Arbeit und Herstellen Eine argumentative Voraussetzung für Arendts Wachstumstheorie ist ihre Abgrenzung von Arbeit und Herstellen. In den beiden gleichnamigen Kapiteln der Vita activa zieht sie folgende Attribute zur Unterscheidung der bei den Tätigkeitsformen heran: i. Haltbarkeit des Produkts: Die Produkte der Arbeit "überdauern kaum den Augenblick ihrer Fertigstellung". (Arendt 2007, 114) Sie sind nicht von Bestand, weil sie von Menschen konsumiert oder durch die Zersetzung des organischen Materials von der Natur wieder einverleibt werden. Das Produkt des Herstellens, das Werk, widersetzt sich hingegen relativ lange den Angriffen der Natur. ii. Zweckcharakter des Produkts: Beim Herstellungsakt werden Mittel verwandt, um einen vorgefassten Zweck zu realisieren, der nicht wieder instrumentell als Mittel für andere Zwecke eingesetzt wird; das Herstellen ist eine zweckhafte Tiitigkeit für ein selbstzweckhaftes Produkt, weshalb Arendt das Werk letztlich vom Kunstwerk her versteht, dem "weltlichsten aller Dinge". (Arendt 2012a, 289) Bei der Arbeit hingegen werden die Produkte "sofort wieder zu Mitteln, ihr Zweckcharakter ist eine ganz vorübergehende Eigenschaft". (Arendt 2007, 169) An späterer Stelle nimmt Vgl. ebd., 3M.

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Arendt eine Präzisierung vor, indem sie die Zweckhaftigkeit des Produkts durch zwei Standpunkte unterscheidet: den Standpunkt des Herstellens und den Standpunkt des Gebrauchs. Vom "Standpunkt des Herstellungsprozesses selbst ist das Endprodukt,[ ... ] ein Selbstzweck, ein unabhängig autonom Seiendes" (187), vom Standpunkt des Gebrauchs hingegen ist das Produkt kein Endzweck. So wird der Stuhl zum Mittel für einen "neuen Zweck" - dem Zweck, sitzen zu können -, sobald er "die Tischlerwerkstatt" (182) verlässt. 8 iii. Qualität des Produkts: Arendt unterscheidet Arbeit und Herstellen nach der Tradierungswürdigkeit von Produkten. In ihrer Kritik der Massenkultur werden deren - möglicherweise stofflich haltbare - Erzeugnisse als nicht erinnerungswürdig eingeschätzt, weil sie ihrem kulturellen Gehalt nach für das ephemere "Vergnügen" und oberflächliche Konsumieren hervorgebracht wurden. Dinge werden dann so "zubereite[t]" und "so behandelet], als seien sie Naturdinge". (Arendt 2012a, 280) iv. Qualifikation der Tätigkeit: Arbeit ist eine ungelernte Tätigkeit, Herstellen setzt den Erwerb technischen Wissens und Könnens voraus. v. Mühsal der Tätigkeit: Arbeit ist eine "qualvoll-erschöpfende[ ... ] Anstrengung" (Arendt 2007, 166). Herstellen hingegen beruht auf "Kraft und Stärke" (165), ist eine "gewalttätige[ ... ] Vergewaltigung eines Teils der [... ] Natur". (165) vi. Isoliertheit der Tätigkeit: Im Zuge der Arbeitsteilung wird der Gesamtvorgang der Arbeit auf das Kollektiv der Unqualifizierten aufgeteilt. Der werktätige Meister hingegen ist auf "das ungestörte Alleinsein", auf die "Isoliertheit gegen die Mitwelt" (191) angewiesen: "Es gibt kaum etwas der eigentlichen Werktätigkeit Fremderes als die Zusammenarbeit des Teams, bei der es im Prinzip einen Meister nicht gibt". (192) vii. Antizipativer Charakter der Tätigkeit: Arbeit ist ein instinktartiger Prozess, dem die "drängenden Antriebe des Lebensprozesses im Arbeiter [... ] vorangehen" (167) und der "frei ist von willentlichen Entscheidungen und vorgefaßten Zwecken". (124) Daraus folgt zum einen, dass der durch Arbeit definierte Mensch, das animallaborans, sich nicht wesentlich vom Tier unterscheidet 9, zum anderen, dass "das Ende des Arbeitsprozesses nicht durch das Endprodukt determiniert ist, sondern durch die Erschöpfung der Arbeitskraft". (169) Beim Herstellen hingegen vollziehe sich die Herstellung "unter der Leitung eines Modells" (166), einer "geistigen Vorstellungswelt" (167); die Tätigkeit endet mit dem realisierten Zweck.

Die Behauptung, der Stuhl erhalte nach Verlassen der Tischletwerkstatt einen neuen Zweck, überzeugt insofern nicht, als er im Hinblick auf diesen Zweck von vornherein konzipiert wurde. Was Arendt hier möglichetweise im Sinn hat, ist, dass der Stuhl aus Sicht des Handwerkers nicht nur ein Mittel zum Zweck des Geldetwerbs ist, sondern dass das Herstellen von Stühlen ein wesentliches Moment seines Daseins ausmacht. Aber schon dieser IdentitätsAspekt ist nicht davon zu trennen, dass der Handwerker Dinge produziert, die von anderen Menschen gebraucht werden. Mit anderen Worten: Es gibt - vielleicht abgesehen vom nichtkommerziellen Kunstwerk - keinen reinen Standpunkt des Herstellens; noch die sein Selbst vetwirklichenden Produkte des Handwerkers haben einen inwendigen Bezug zum Gebrauch durch andere. Vgl. Arendt 2007, 102.

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Für unsere folgenden Ausführungen ist weniger relevant, dass Arendt offenbar drei verschiedene Unterscheidungs kriterien verwendet: Sie differenziert Arbeit und Herstellen nach der stofflichen und qualitativen Beschaffenheit des Produkts (i, iii), nach dem Zweck, den ein Subjekt mit dem Produkt verfolgt (ii, iii) und nach den Attributen der Tätigkeit, die das Produkt hervorbringt (iv, v, vi, vii). Diese Kriterien sind mitunter inkompatibel: Ist die fünfstöckige Hochzeitstorte Resultat des Herstellens oder der Arbeit? Einerseits ist sie vom Konditor, einem Meister seines Fachs, aufwendig gestaltet, was für das Herstellen spräche, andererseits ist ihre Haltbarkeit derart begrenzt, dass ihre Hervorbringung der Arbeit zuzurechnen ist. Auch die Tätigkeitsaspekte weisen nicht zwingend in dieselbe Richtung: So sind hochqualifizierte Tätigkeiten vorstellbar, die körperlich und psychisch äußerst belastend sind: Man denke etwa an die mehrstündige Operation eines Chirurgen. Arbeitet er oder ist er werktätig? Wie verhält es sich bei der Kooperation von Fachpersonal? Entscheidender als die mögliche Unvereinbarkeit der von Arendt genannten Unterscheidungskriterien ist für ihre Wachstumstheorie jedoch, dass sie alle darauf hinauslaufen, Arbeit dem Natürlichen oder bloß Biologischen anzunähern: Arbeit ermangelt des Ideellen, des Künstlerischen, ist Ausdruck reiner Naturbefangenheit. 3. Kolonialisierung durch Arbeit Die Moderne zeichnet sich Arendt zufolge durch einen Verfall der am Vorbild der klassischen Antike orientierten Ordnung aus, in der jede Tätigkeit noch ihren angestammten Ort hatte. 1o Ihre Diagnose lautet: Kolonialisierung der dem Herstellen und Handeln zugeordneten Praxisfelder durch das Arbeiten. Ihre Argumentation (A) lässt sich folgendermaßen darstellen (L=Gesetz, C=Randbedingung, E=Explanandum): Al: (Ll) (Cl) (EI)

'0

" .2

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Naturprozesse führen zu einem Überschuss über das unbedingt Notwendige. 11 Arbeit ist ein Naturprozess: instinktartig, unqualifiziert, qualvollerschöpfend. Also produziert Arbeit Überschüsse über das unbedingt Notwendige. 12

Arendt findet auch wenige positive Bezugspunkte in der Moderne, wie die amerikanische Revolution des 18. und den ungarischen Aufstand des 20. Jahrhunderts. Doch wird auch die USRevolution wieder als Verfallsgeschichte erzählt (vgl. Arendt 2011,164,170,174, 178, 284f.), in der sinnloser Konsum und Streben nach privatem Glück das republikanische Ideal der public happiness zerstört. Arendt spricht vom "Überfluss und der Überfülle, die wir überall im Haushalt der Natur beobachten können." (Arendt 2007,126) Im Widerspruch zu ihrer These, Naturprozesse generell bewirkten einen Überschuss, behauptet Arendt an einer Stelle ihres Denktagebuchs plötzlich, es sei die menschliche Arbeit, die im Gegensatz zum Tier ein Mehrprodukt hervorbringe (vgl. Arendt 2002, 357). Aber weder kann Arendt die Differenz zwischen tierischem und menschlichem ,Stoffwechsel mit der Na-

A2: (L2) (C2) (E2)

Wird Arbeit als Naturprozess aus institutionellen Grenzen befreit, produziert sie einen hypertrophen Überschuss. Die Moderne zeichnet sich durch die Entgrenzung der naturhaften Arbeit aus. Also produziert Arbeit in der Moderne nicht nur einen Überschuss, sondern einen unkontrollierten, hypertrophen Überschuss.

3.1 Die erste Erklärung (Al) Die erste Randbedingung - Arbeit als Naturprozess - enthält fragwürdige Annahmen und Inkonsistenzen: i. Behauptet Arendt, Arbeit sei eine menschliche Tätigkeit ohne vorgängige Bestimmung von Ziel und Mittel, widerspricht sie sich bestenfalls selbst, denn in den ,Einleitenden Bemerkungen' der Vita activa hieß es noch: "Im Sinn von Initiative ein Initium setzen - steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten". (18) ii. Selbst wenn man diesen Widerspruch dadurch aufzulösen versucht, dass man Arendts Projekt als eine Phänomenologie idealtypischer Weltverhältnisse liest, ist ein Arbeitsbegriff, der lediglich biologisch bedingte Akte ohne vorgängige Willensentscheidung und Zwecksetzung fasst, aufgrund seiner geringen Extension völlig unzweckmäßig: Da der Griff zum Apfel, das Backen eines Brotes oder das Hantieren am Fließband unbestreitbar intentional-reflexive Akte sind, stellt sich die Frage, was dieser Arbeitsbegriff überhaupt trifft. Offensichtlich verfolgt Arendt damit den Zweck, alles Humanspezifische und damit alle normativen Gehalte aus der Sphäre materieller Reproduktion zu entfernen: Nur im Herstellen, vor allem aber im Handeln kann der Mensch demnach seine Potentiale entfalten und können normative Orientierungspunkte jenseits technischer Imperative gefunden werden, die dem Leben Sinn verleihen. iii. Weil Arendt Arbeit in einen instinktartigen Akt verwandelt, muss sie zu der Annahme greifen, die Arbeit habe die natürliche Qualität, ein Mehrprodukt hervorzubringen. Damit verwechselt sie die Möglichkeit mit der nur durch freien Entschluss oder Zwang herbeizuführenden Wirklichkeit der Mehrarbeit. 13

13

tur' erläutern, noch ändert das etwas an ihrer These, die Arbeit generiere automatisch ein Mehrprodukt. Marx war dieser Unterschied bewusst: "Gesetzt, ein [... ] Brotschneider brauche 12 Arbeitsstunden in der Woche zur Befriedigung aller seiner Bedürfnisse. Was ihm die Gunst der Natur unmittelbar gibt, ist viel Mußezeit. Damit er diese produktiv für sich selbst verwende, ist eine ganze Reihe geschichtlicher Umstände, damit er sie in Mehrarbeit für fremde Personen verausgabe, ist äußrer Zwang erheischt. Würde kapitalistische Produktion eingeführt, so müßte der Brave vielleicht 6 Tage in der Woche arbeiten, um sich selbst das Produkt eines Arbeitstags anzueignen. Die Gunst der Natur erklärt nicht, warum er jetzt 6 Tage in der Woche arbeitet oder warum er 5 Tage Mehrarbeit liefert. Sie erklärt nur, warum seine notwendige Arbeitszeit auf einen Tag in der Woche beschränkt ist. In keinem Fall aber entspränge sein Mehrprodukt aus einer der menschlichen Arbeit eingebornen, okkulten Qualität". (Marx 1993, 538)

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iv. Erklärt Arendt das Ende des Arbeitsprozesses allein aus der Erschöpfung der Arbeitskraft, konfundiert sie das endlose Verwertungsbedürfnis des Kapitals mit dem endlichen Konsumbedürfnis der Menschen. Letztere hören auf zu arbeiten, sobald ihre Bedürfnisse befriedigt sind oder ein gewisser Vorrat angehäuft ist, das Kapital hingegen ist ständig bestrebt, neue Bedürfnisse zu wecken und die freie Zeit zur Ausdehnung der Mehrwertakkumulation zu nutzen. Zwar können selbstverständlich auch in nicht-kapitalistischen Gesellschaften jederzeit neue Bedürfnisse entstehen, doch sind diese dann zunächst das Maß des Prozesses; dieser ist keineswegs prinzipiell maßlos und endet nicht erst mit der Erschöpfung der Arbeitskraft. Mithin naturalisiert Arendt das Arbeiten in zweifacher Hinsicht: Zum einen nähert sie Arbeit dem automatisch ablaufenden organischen Lebensprozess an, indem sie ihr jede antizipative Dimension abspricht,14 zum anderen deutet sie historisch-spezifische Formbestimmungen der Arbeit zu Bestimmungen von Arbeit an sich um und plausibilisiert dieses Verfahren durch naturalisierende Analogien: "Die eigentliche Kraft der Arbeit, die Arbeitskraft, wie die Kraft des Lebens ist Fruch tbarkeit." (127) 15

3.2 Die zweite Erklcirung (A2): Die Genealogie der Arbeitsgesellschaft Nach Arendt gewinnt die vermeintliche Natureigenschaft der Arbeit, fruchtbar wie das Leben zu sein, das heißt Mehrarbeit hervorzubringen, ihre unkontrollierte Eigendynamik erst unter der Bedingung der Auflösung des ,Eigentums'. Die Diagnose, dass in der Moderne das Eigentum im Schwinden begriffen ist, deutet auf eine weitere Umdeutung der uns zunächst vertraut klingenden Begriffe hin: Unter Eigentum versteht Arendt mit dem privaten Grund und Boden, dem Haus, dem Herd und den Sklaven alles, was "an einen bestimmten Ort [ ... ] gebunden" ist. (76f.) Das unbewegliche Eigentum hat mehrere Funktionen. Zum einen ist es als räumlich klar abgegrenzter Bezirk ein "Ort der Verborgenheit, in dessen Obhut Menschen vor dem Licht des Öffentlichen geschützt geboren werden und sterben" (77), zum anderen ist es als Grund wirtschaftlicher Autarkie funktional auf den öffentlichen Raum bezogen: Der das Lebensnotwendige besorgende oikos ermöglicht es den gleichgestellten Freien, die sich durch ihre Abgrenzung von den Unfreien erst definieren, sich in der polis für die öffentlichen Belange einzusetzen. Den Zusammenhang von Eigentum und Öffentlichkeit thematisiert Arendt nicht nur an hand der griechischen Antike. Noch in der Neuzeit, so argumentiert sie

15

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Arendt bestimmt automatische Prozesse wie folgt: "alle Bewegungsarten, die, sind sie erst einmal angelaufen, von selbst weiterlaufen, also nicht angewiesen sind auf willentliche und zweckbestimmte Eingriffe". (Arendt 2007,178) Dass Arendt durchgängig ihren Naturalismus in Marx'sche Kategorien hineinliest, nur um Marx dann des naturalistischen Reduktionismus zu zeihen, sei nur am Rande erwähnt. Der Umgang mit dem Begriff der Arbeitskraft ist dabei paradigmatisch: Gilt er für Marx als "Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert" (Marx 1993, 181), so versteht Arendt ihn lediglich als Inbegriff reiner, unqualifizierter Naturkraft (vgl. Arendt 2007, 107), unterstellt Marx aber ihr eigenes Verständnis.

in ihren Ausführungen zum Herstellen, habe das Eigentum des Handwerksmeisters einen öffentlichen Bereich ermöglicht, den sie Tauschmarkt nennt und "der aus der Tätigkeit des Herstellens selbst erwächst". (265) In dieser unpolitischen Öffentlichkeit stellen isoliert produzierende, durch das Privateigentum geschützte Meister ihre Produkte und Fertigkeiten stolz zur Schau. Das Produkt werde hier zwar "auch verkauft" (196), aber nicht bloß für den Austausch geschaffen. Das Privateigentum ist folglich nicht nur durch den unbeweglichen Schutzraum des Haushalts bestimmt, sondern wird von Arendt mit einer bestimmten Tätigkeitsform verbunden: dem Herstellen hochwertiger und auf dem Tauschmarkt präsentierbarer Gegenstände. Nach der Qualität der Produkte habe sich zudem ihre quantitative Austauschrelation bemessen: Auf dem Tauschmarkt bestimmte noch der "Gebrauchswert des betreffenden Gegenstands seinen Tauschwert". (196) Gebrauchswert steht hier für die "objektiven", das heißt zuschreibungsunabhängigen qualitativen Eigenschaften des Gegenstands, für den "intrinsick natural worth" (197) John Lockes, an dem sich die Tauschmarktteilnehmer bei ihrer Bewertung noch orientierten. Das den antiken Hausherren für das Handeln freistellende oder dem Meister als Basis für seine Qualitätsproduktion dienende Eigentum unterscheidet Arendt vom beweglichen Besitz der Neuzeit. Unter Besitz versteht Arendt zunächst den stofflichen Reichtum der Konsumprodukte. Der bewegliche Besitz der Neuzeit zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht länger unproduktiv verzehrt wird, sondern eine Bewegung in Gang setzt, durch die er sich erhält und vermehrt. Es werden auch die Produktionsmittel zu ,Besitz'. Bevor die Neuzeit diesen Punkt erreichte, musste erst der Tauschmarkt durch den Warenmarkt abgelöst werden und schließlich der Warenmarkt in die Arbeitsgesellschaft übergehen. Historisch werde der Tauschmarkt der Handwerksmeister vom Warenmarkt der Kaufleute und Händler mit dem Beginn der Manufakturperiode abgelöst. Der frühkapitalistische Waren markt trage einerseits noch "Spuren" des Produzentenstolzes, dieser werde jedoch zunehmend durch den "Tauschtrieb [... ] überspielt" (193): Das kompetitive Erwerbstreben verdrängt die selbstzweckhaften Anteile der Meisterschaft. Weil die Produkte nur noch hergestellt werden, um sie zu verkaufen, entspricht der Tauschwert auch nicht länger ihrer "immanenten Qualität" (197), sondern kontingenten Nutzenbeimessungen unter der Bedingung von Angebot und Nachfrage - "aber diese Veränderung ist graduell und nicht radikal". (196) Eine radikale Änderung der Weltbezüge trete erst mit der Arbeitsgesellschaft ein: Der Mensch werde nun weder vom Produzentenstolz noch vom kompetitiven Erfolgshunger angetrieben, sondern vom Distinktionsgewinn durch "das eitle und müßige Zurschaustellen dessen, was man sich zu konsumieren leisten kann". (194) Bereits hier deutet sich an, dass Arendt zwar in sprachlicher Anlehnung an Marx einen "Akkumulationsprozeß" sieht, "in dem Reichtum dauernd in Kapital und Kapitalprozesse verwandelt wird" (82f.), jedoch bezieht sie den Akkumulationsprozess durchgehend auf außer ihm liegende Zwecke (an dieser Stelle: auf das Streben nach Distinktion). Noch deutlicher wird die Differenz zum Marx'schen Kapitalbegriff, sobald wir uns den Gründen zuwenden, die Arendt für die moderne Unvergänglichkeit des doch vergänglichen Besitzes angibt: Ausschlaggebend für

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dieses "eigentliche ,Wunder' der kapitalistischen Wirtschaft" sei gewesen, dass "der Besitz aus einem privaten Anliegen zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde." (83) Arendt hat hier eine doppelte Entwicklung im Sinn: Zunächst sei der Besitz insofern eine öffentliche Angelegenheit geworden, als die "besitzenden Klassen" daran interessiert waren, eine Institution zu etablieren, die Hegel einst "Verstandesstaat" (Hegel 2013, 182) nannte: einen Staat, der "die Privatbesitzer in ihrem Kampf um Erwerb voreinander schützen sollte" (Arendt 2007, 83), sie ansonsten jedoch in ihrem privaten Treiben unbehelligt ließ und von der leidigen Pflicht zur Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten freistellte. Der die Öffentlichkeit auf eine Ermöglichungsbedingung privat kapitalistischer Konkurrenz reduzierende Staat ist nach Arendt jedoch nur "ein temporäres Phänomen", denn das im Schutz- und Privatismusbedürfnis bloß konvergierende Interesse der egoistischen Einzelnen wird ersetzt durch "das Interesse der Gesellschaft als Ganzes" - einer Gesellschaft, der es "gelungen ist, das Private wie das Öffentliche zu absorbieren". (83) Mithin zeichnet sich die moderne Gesellschaft nicht nur dadurch aus, dass der öffentliche Raum durch das Einsickern privatkapitalistischer Anliegen seinen freiheitlichen Charakter verliert, sondern das politische Gemeinwesen verstehe sich zunehmend als "gigantische Über-Familie": Die besitzenden Klassen, die sich zunächst der staatlichen Institutionen als Mittel für ihre selbstsüchtigen Interessen bedienten, werden nun selbst vom Familienkollektiv und seinem "ins Gigantische gewachsene [n] Haushaltsapparat" (39) erfasst. Der Haushalt einer Nation trage bereits "die Keime einer kommunistischen Gesellschaft" (56) in sich. Es ist für Arendt also keineswegs die kapitalistische Konkurrenz, die die ,Gesellschaft' antreibt. 16 Vielmehr geht sie offenbar davon aus, dass Privateigentum und Privatbesitz an bestimmte Formen der Arbeitsorganisation gebunden sind. 17 Anders lässt sich folgende Bemerkung kaum erklären: ,,[DJ er zu einem Anliegen der Öffentlichkeit gewordene gesellschaftliche Reichtum hat solche Proportionen angenommen, daß er die Formen des Privateigentums wie des Privatbesitzes automatisch sprengt. Es ist, als hätte das Öffentliche sich an denen gerächt, die es für ihre Privatzwecke [... ] auszunutzen suchten". (85) Arendt zufolge sind Liberalismus und Kommunismus letztlich Zwillingsbrüder: Die Gesellschaft "in allen ihren Spielarten" weise einen "monolithische[nJ Charakter" auf, einen "natürliche[n] Konformismus", der "immer nur ein Interesse und eine Meinung kennt" und der "letztlich in der Einheit des Menschengeschlechts" wurzelt. (58) In den Sog der Gesellschaft geraten daher nicht nur die Vermögenden, sondern auch die Arbeiter; das einzige Interesse, das die Gesellschaft gelten lässt ,,[t]o make a living" (151) -, verwandelt sie von einer Klassen- zur Massengesellschaft: "So hat in unserem Jahrhundert die Massengesellschaft schließlich die sozia16 17

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Die Konkurrenz hält sie für "ein Oberflächenphänomen". (Arendt 2002,363) Das glaubt auch schon Friedrich Engels, der behauptet, die private Form der Aneignung sei nur dem "Kleinbetrieb" (Engels 1978, 211) einfacher Warenproduzemen angemessen, während im Kapitalismus eine "Aneignungsform, die die Privatproduktion einzelner zur Voraussetzung hat" nun im Widerspruch zur "gesellschaftlich geworden [en] [... ] Produktionsweise" stünde (213). Zur Kritik an diesem Theorem vgl. Kittsteiner 1977, 40-47.

len Klassen und Gruppierungen aufgesogen und nivelliert. In der Massengesellschaft hat das Gesellschaftliche nach einer jahrhundertelangen Entwicklung schließlich den Punkt erreicht, wo es jeweils alle Glieder einer Gemeinschaft gleichermaßen erfaßt und mit gleicher Macht kontrolliert. Die Massengesellschaft zeigt den Sieg der Gesellschaft überhaupt an." (52) Mit ihrer These, dass sich die Klassengesellschaft zur Massengesellschaft transformiert, spricht Arendt zwei Tendenzen an: i) Klasse bezeichnet zum einen den Zusammenhang von sozialer Lage, kollektivem Identitätsbewusstsein, Habitus, ,zivilgesellschaftlichen' Organisationen und politischer Repräsentation. Diese relativ stabilen sozialen Klassen oder Milieus, in denen sich spezifische Gruppeninteressen herausbilden und in den politischen Diskurs eingespeist werden, sollen in der Massengesellschaft untergehen, in der nun atomisierte Individuen einem übermächtigen Staatsapparat direkt gegenüberstehen. ii) Neben der Auflösung sozialer Klassen sieht Arendt auch die Tendenz zur Auflösung ökonomischer Klassenlagen: Einen "eigentlichen Klassenkampf", schreibt sie, "bei dem der Interessengewinn einer Klasse stets auf Kosten einer anderen geht, gibt es nicht mehr in der Überflußgesellschaft". (Arendt 2011, 351) Es sei eine "ständige[ ... ] und überall noch anwachsende[ ... ] Einebnung aller gesellschaftlichen Schichten und Klassen" zu verzeichnen, ein "Zug zur Egalität". (357) Diese Diagnose fügt sich nahtlos in den seinerzeit allgegenwärtigen Massengesellschaftsdiskurs ein 18, insbesondere macht sich Arendt die in der Nachkriegszeit populäre These einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Schelsky 1965, 340) zu eigen. Im Hintergrund steht dabei ihre Annahme, die soziale Frage stehe kurz vor ihrer rein technischen Lösung: Nicht "Urteil, Entschluß und Überzeugung" (Arendt 2011, 116), sondern technischer Fortschritt und Expertenwissen würden die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. 19 Da Arendt die Wirtschaft als technisch-naturale Sphäre betrachtet, die bloß naturgesetzlichen Imperativen folge, nicht als Herrschaftsverhältnis zwischen Menschen, verwechselt sie hier offensichtlich notwendige mit hinreichenden Bedingungen der Lösung der sozialen Frage: Das technikbasierte Produktivitätslevel wird mit seiner ökonomischen Ausrichtung auf ein spezifisches Produktionsziel und mit der Art der gesellschaftlichen Organisation der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel konfundiert. Tatsächlich sei jeder Versuch der Politisierung ökonomischer Ungleichheiten nicht 18

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Bereits in der Endphase der Weimarer Republik entfaltet Arendts Lehrer Karl ]aspers alle wesentlichen Züge einer Theorie der ,Massengesellschaft', die sich später oft nur wenig variiert in ihrem Werk wiederfinden: So die Diagnose der allumfassenden Funktionalisierung des Menschen im "Apparat der Daseinsvorsorge" Oaspers 1960, 75), der kulturellen Nivellierung (77), der demokratischen Durchschnittlichkeit, die keine aristokratische Größe mehr zulasse (52, 78), des sinnlosen hedonistischen Sekuritätsstrebens (36, 41), der technischen Lösung der sozialen Frage (41), der Wegwerfökonomie (41), der Weltlosigkeit (38), der Selbstlosigkeit (41, 43), der ,Eigentums'losigkeit (38), des Autoritätsverlusts (78) und der anonymen Herrschaft der bürokratischen Apparate (47,52). Wenig verwunderlich ist es, dass ,neurechte' Autoren wie Alain de Benoist in ihrer Totalitarismusdiagnose bis in die Wortwahl hinein weitestgehend dieser ]asperschenlArendtschen konservativen Diagnose folgen, vgl. de Benoist 2017,153-176. Vgl. Arendt 2012b, 249f.; Arendt 2011,145.

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nur "veraltet[ ... ] und überflüssig[ ... ]" (Arendt 2011, 145), sondern nach gerade gefährlich, weil er das Politische dem der Naturnotwendigkeit gehorchenden Arbeitsprozess und Wohlstandsstreben unterwerfe. 20 In ihrem Endstadium trägt die Gesellschaft als Massengesellschaft denn auch totalitäre Züge. Während sich im Altertum jeder Bürger öffentlich "durch Hervorragendes in Tat, Wort und Leistung zu beweisen hatte" (Arendt 2007, 53), produziert und verlangt die Gesellschaft den durchschnittlichen Konformisten. Im hypertrophen Arbeitsprozess mutiert der Mensch zum "Exemplar der Gattung" (58): Er wird der Naturnotwendigkeit materieller Reproduktion unterworfen und vollzieht die keine Individualität oder Meisterschaft mehr zulassende Tätigkeit des Arbeitens und Konsumierens. Die Gleichheit der Arbeitenden (und Konsumierenden) ist dabei die unterschiedslose Homogenität auswechselbarer Körper. Die sozialen Verhältnisse zwischen arbeitenden Menschen bestehen Arendt zufolge "in der einfachen Multiplizität von Gattungsexemplaren, die einander bis zur Austauschbarkeit gleichen, insofern sie nämlich lediglich in ihrer Eigenschaft als lebende Organismen sind, was sie sind." (271) Der Mensch werde mittelmäßig, unfähig zu spontanem Handeln, suche nur noch "das ,Glück' des Alltäglichen" (55) und sei darum berechenbar. 21 Zudem lasse das Bevölkerungswachstum den Behaviorismus und statistische Gesetze praktisch wahr werden: Je größer die Bevölkerung, desto wahrscheinlicher sei es, "daß das Gesellschaftliche und nicht das politische Element den Vorrang innerhalb des öffentlichen Bereichs erhält" (54) - und der bevölkerungsbedingte Vorrang des Gesellschaftlichen sei gleichbedeutend mit der "nahezu automatische[n] Tendenz zu despotischen Herrschaftsformen, sei es nun die despotische Herrschaft eines Mannes oder der Despotismus von Majoritäten." (55) Die Bevölkerungszunahme als Grund des Konformismus ist ebenso wie die Beschleunigung des ökonomischen Wachstums jedoch selbst noch Effekt eines grundsätzlicheren Übels, nämlich der Reduktion aller Weltbezüge auf den des Lebens: "und der Grund für das ja sehr merkwürdige Phänomen des Anwachsens selbst liegt darin, daß durch die Gesellschaft der Lebensprozeß [... ] in den Raum des Öffentlichen hineingeleitet worden ist" (58); "dass man das wesentlich Private des rein biologischen Lebens, nämlich den Verbrennungsprozess des Biologischen, der auf Konsumtion beruht und für den Menschen ohne Arbeit - Stoffwechsel mit der Natur - nicht möglich ist, öffentlich machte." (Arendt 2002, 425)

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VgI.Arendt2011,180. Hier steht Arendt in der Tradition von Heideggers Kritik des "Man"; Das Man ist ein uneigentlicher Modus der Jemeinigkeit (des unvermeidbaren Selbstbezugs) (vgl. Heidegger 1993, 115f.), in dem man eine anonyme Norm darüber befinden lässt, was zu tun und zu lassen ist sie nimmt "dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab". (127) "Das ,Wer' [des Handelns] ist das Neutrum, das Man." (126) Es ist Durchschnittlichkeit, Einebnung, Gerede, Neugier, Zerstreuung. "Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt [... ]; wir finden ,empörend', was man empörend findet". (12M.) Arendts Differenzen zu Heidegger sind an dieser Stelle nicht von Belang.

Das Leben wird zum einzigen Ziel des Öffentlichen. Arendt hat hier wohlgemerkt nicht nur das Überleben oder angenehme Leben des Individuums im Sinn, denn die Instrumentalisierung des Gemeinwesens für egoistische Zwecke ist in ihrer genealogischen Darstellung ja nur ein Übergangsphänomen. Vielmehr zähle am Ende einer jahrhundertelangen Entwicklung jeder nur noch als Exemplar der Gattung: Jedes Mitglied der Gesellschaft ist angehalten, das Wohlergehen der Gattung über die individuellen Befindlichkeiten zu stellen. Erst mit dieser Verlagerung des Produktionsziels auf die "Volkswohlfahrt" (Arendt 2011, 347) wird "ein unnatürliches Wachstum des Natürlichen selbst entfesselt" (Arendt 2007, 60): "Nur wenn man an die Stelle des begrenzten individuellen Lebens das Leben der Gesellschaft im Ganzen als das eigentliche gigantische Subjekt des Akkumulationsprozesses setzt, kann der Prozeß selbst ungehindert und in dem ihm angemessenen Tempo vonstatten gehen, gleichsam befreit von den Begrenzungen, die die Lebensspanne der Einzelnen und das Eigentum von Privatpersonen ihm setzt. Erst wenn die Menschen nicht mehr als Privatpersonen handeln, die um ihr eigenes Leben und Überleben besorgt sind, sondern, wie Marx zu sagen pflegte, als ,Gattungswesen', für welche die Reproduktion ihres individuellen Lebens aufgeht im Lebensprozeß des Menschengeschlechts, kann der kollektive Lebensprozeß einer ,vergesellschafteten Menschheit' sich nach den Gesetzen einer ihm inhärenten Notwendigkeit entfalten, d.h. den Automatismus der Fruchtbarkeit in dem doppelten Sinne loslassen, der ungeheuren vervielfältigenden Vermehrung von Einzelleben und einer entsprechend ungeheuer vervielfältigenden Vermehrung von Konsumgütern." (136) Die Arbeitsgesellschaft ist eine wahre Überfluss gesellschaft: Sie produziert immer mehr Menschen,z2 die nicht in die Ordnung politischen Handelns integrierbar sind, und immer mehr minderwertige Verbrauchsgüter (",waste economy'" (158)). Bedingung hierfür sei, dass "alle Weltdinge, die ursprünglich Endprodukte eines Herstellungsprozesses waren, in ihn mit ständig wachsender Geschwindigkeit zurückgeleitet" (326) werden. Dabei spielt die moderne Technik, spezieller die Maschine, eine wesentliche Rolle. Sie stehe nicht mehr "im Dienst der Welt und ihrer Dinghaftigkeit", sondern ziehe die "von ihr produzierten Gegenstände in den eigenen automatischen Prozeß wieder zurück[ ... ]". (179) Maschinell und arbeitsteilig produzierte Gegenstände litten unter einem Verlust von Qualität und Haltbarkeit, womit das Herstellen zum Arbeiten transformiert werde. Zudem gehe damit eine Verkehrung von Mittel und Zweck einher, die Arendt darin begründet sieht, dass Gegenstände so entworfen werden, "daß sie maschinell hergestellt werden können, anstatt Maschinen zu erfinden, sie sich für die Fabrikation bestimmter Gegenstände eignen". (179f.) Das Leben kolonialisiert also vermittelt über die Arbeit und die fürs Arbeiten verwendete Technik die Dingwelt, wobei "dann die Technik [... ] als ein biologischer Vorgang im Großen [erscheint], bei dem die im menschlichen Orga22

Schon zu Arendts Lebzeiten war ihre Behauptung widerlegt, die Moderne tendiere prinzipiell zur "Bevölkerungsexplosion" (Arendt 2012d, 396): In Deutschland kamen 1860 auf jede Frau noch 5,0 Lebendgeburten, 1965 hingegen nur noch 1,5 (v gl. Birg 2011, 20). "In den Industrieländern haben sich die Geburtenraten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von 1950-1955 bis 1995-2000 von 2,81 auf 1,55 Lebendgeborene je Frau fast halbiert." (ebd.)

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nismus angelegten Strukturen in immer weiterem Maße auf die Umwelt des Menschen übertragen werden; ein biologischer Vorgang also, der eben als solcher der Kontrolle durch den Menschen entzogen ist." (181 )23 4. Kritische Anmerkungen zu einer verfehlten Wachstumsdiagnose Zur Kausalität des beschleunigten Wachstums

Das grundsätzliche Problem, Texte von Hannah Arendt unter dem Gesichtspunkt klar nachvollziehbarer und konsistenter Kausalzusammenhänge zu lesen, stellt sich auch bei dem von ihr beschriebenen Phänomen einer ,Produktion um der Produktion willen'. So ist Gesellschaft einerseits als Resultat der Bemächtigung der Öffentlichkeit durch den Lebensprozess definiert - was die unbeantwortete Frage aufwirft, durch welche Prozesse das Gesellschaftliche entstand -, andererseits soll "durch die Gesellschaft der Lebensprozeß [ ... ] in den Raum des Öffentlichen hineingcleitet worden" (58, Herv. durch uns) sein - womit die Gesellschaft als Voraussetzung des selbstzweckhaften wirtschaftlichen Wachstums bestimmt ist (sollte die Formulierung "durch die Gesellschaft" überhaupt einen kausalen Sinn haben). Beide Bestimmungen sind unvereinbar. Das unnatürliche Wachstum des Natiirlichen

Arendts Aussage, dass die beschleunigte Expansion des Ökonomischen ein unnatürliches Wachstum des Natürlichen sei, ist in zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens erscheint das moderne Wachstum als unnatürlich vor der Folie der normativ ausgezeichneten polis-oikos-Ordnung: Im Haushalt habe das natürliche Wachstum verstanden als ohne Zutun des menschlichen Willens im Arbeitsprozess erzieltes Mehrprodukt - noch die ihm gemäße und in diesem normativen Sinne ,natürliche' Funktion erfüllt, die äußere Bedingung für politisches Handeln zu schaffen. Wie eine solche Privateigentumsordnung heute aussehen könnte, ohne auf das antike Produktivitätsniveau zurückzufallen und ohne das freie Handeln in der Politik nur als Privileg zu ermöglichen, wird von Arendt jedoch nicht einmal angedeutet. Die Aussage ist zweitens problematisch, weil sie das Wachsende nicht als soziales Verhältnis bestimmt, sondern ebenfalls als etwas Natürliches: Das, was wächst, ist nicht das Kapital, sondern das Leben. Arendt kritisiert, dass die Menschen nicht mehr die gemeinsame gute praxis im Politischen anstreben, sondern "ihre Tätigkeit vornehmlich als Lebensunterhalt für sich selbst und ihre Familien ansehen". (59) Alle Tätigkeiten sind fortan nur noch Mittel zum Zweck des Lebens, das heißt niedere Tätigkeiten, deren Ausübung nur Bedingung für höhere Tätigkeiten sein sollte. Nur wie kam es dazu? Handelt es sich um ein Problem der Mentalität und Perspektive ("ansehen"24)? Oder werden die Menschen nicht vielmehr zu dieser ZweckMittel-Verkehrung durch eine ökonomische Struktur genötigt, die noch die grund-

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Hier zitiert Arendt zustimmend Werner Heisenberg. Auch später heißt es, dass "weltliche Gegenstände nicht mehr primär auf ihren Gebrauchscharakter angesehen" (Arendt 2007, 393) werden.

legendsten Bedürfnisse des Lebens, wie Adorno bemerkt, höchstens "beiher, als Sekundäres befriedigt"? "Primär ist der Profi t". (Adorno 1998a, 13)

Politik als Ontologie der Unfreiheit der Massen und aristokratischer Freiheit Arendt verewigt in diesem Zusammenhang die exklusive Form der politischen Freiheit, indem sie das Recht auf politische Partizipation an das Engagement für ,wahrhaft öffentliche' Belange binden will und die Gleichgültigkeit der Mehrheit für diese Belange - und damit ihre politische Entrechtung - zur unvermeidlichen Tatsache erklärt. 25 Selbst wenn sie diese rechtliche Hürde nicht errichten würde, könnte unter den Bedingungen der kleinbürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die sie favorisiert, niemals ein Produktivitätsniveau erreicht werden, dass es allen Mitgliedern der Gesellschaft gestatten würde, sich am politischen Handeln zu beteiligen. Das politische Handeln selbst wiederum weist eine eigentümliche kriterielle Leere auf. Es soll Freiheit bedeuten, allenfalls noch Freiheit, die für die Garantie von Rede- und Versammlungsfreiheit steht und einsteht, aber man fragt sich, wofür diese Freiheiten verwendet werden sollen, wenn sie nicht (unter anderem) für die Thematisierung der Ökonomie und des Sozialen verwendet werden dürfen, wie Arendt dekretiert - sie hält soziale Fragen für technische, nicht politische. 26 Mary Mc Carthy hat das auf den Punkt gebracht: "Was eigentlich soll jemand auf der politischen Bühne, im öffentlichen Raum tun, wenn er sich nicht mit dem Sozialen befaßt? Mir scheint, wenn Sie erst einmal eine Verfassung haben und die Gründung hinter Ihnen liegt, und wenn Sie ein Rahmenwerk von Gesetzen geschaffen haben, dann ist die Bühne frei für das politische Handeln. Und das einzige, was dem politischen Menschen bleibt, ist, was die Griechen taten: Krieg führen! Das aber kann nicht richtig sein! Wenn andererseits alle Fragen der Wirtschaft, der menschlichen Wohlfahrt, des ,busing' - was immer die soziale Sphäre berührt - von der politischen Bühne ausgeschlossen sind, dann wird es für mich mysteriös. Es bleiben nur noch die Kriege und die Reden übrig. Aber die Reden können nicht einfach Reden sein. Sie müssen Reden über etwas sein." (Mc Carthy 1996, 87f.) Vor allem in Vita Activa werden die politexistentialistischen Züge in Arendts Denken erkennbar: 27 Politik ist hier i) instituierendes, nicht instituiertes Handeln, regelschaffende, nicht regelgeleitete Praxis. Sie stellt einen "Bruch des Handelnden mit den gemeinhin gültigen Maßstäben des täglichen Sichverhaltens" dar (Arendt 2007,261) und "birgt in sich ein Element völliger Willkür". (Arendt 2011, 265) Politisches Handeln beginnt erst da, wo ein gelebte Maßstäbe fragwürdig und überschritten werden. Der "ernste[ ... ]" (287) Ausnahmezustand als Ausdruck dezisionistischer Freiheit (jenseits von interessen- und moralgeleiteten Gründen) sei gegen eine bloß alltägliche, unfreie, sinnlose Welt bloßer leiblicher Freuden - "Hobby" (Arendt 2007, 138), "Konsum" (136), "Narrenparadies" (156), "Humbug" (Arendt 25

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Vgl. Arendt 2011, 355-360. Die ,soziale Frage' hält sie für politisch unlösbar, sie solllediglich technisch lösbar sein, womit Arendt die notwendige mit der hinreichenden Bedingung der Lösung verwechselt, vgl. ebd., 82, 85,115,145. Der folgende Absatz findet sich auch in Eibe 2015.

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2011,284) - zu begrüßen. ii) Außerordentlichkeit und Größe des Handeins sind die immanenten Maßstäbe der Politik, weil sie mit allen anderen Maßstäben, auch mit moralischen, bricht. "Moral", so meint Arendt, "bezieht sich auf unser ,behavior', ist also von vornherein ein Gesellschafts- und kein eigentlich politischer Begriff. Alle Moral versagt, sobald wir anfangen zu handeln". (Arendt 2002, 520) Normativ "untersteht das Handeln seinem Wesen nach ausschließlich dem Kriterion der Größe, und zwar deshalb, weil es gar nicht zustande kommen würde, wenn es nicht das gemeinhin Übliche durchbräche und in das Außerordentliche vorstieße, wo eben das, was gemeinhin und im Alltagsleben gültig und maßgebend ist, nicht mehr gilt und wo alles, was geschieht, so einmalig und sui generis ist, daß es sich unter Regeln nicht mehr subsumieren läßt." (Arendt 2007, 260f.) Die Legitimation zur Setzung des Neuen, zur Gründung einer neuen politischen Ordnung, dürfe also nicht wieder in einer ihr vorausliegenden vernünftigen Norm oder einem absoluten Prinzip gesucht werden, sondern liege in ihr selbst begründet, in "der Autorität, die der Gründungsakt und das Einen-neuen-Anfang-Setzen in sich tragen." (Arendt 2011, 256) Das Neue ist legitimiert, weil es neu, weil es ein "reine [s ] Ereignis" (223) ist. 28

Kritik der, Vergnügungsindustrie' Die Profitorientierung der Wirtschaft entgeht Arendt. Daher kommt sie auf die Idee, der Zweck der Arbeitsgesellschaft sei das Wohlergehen der Gattung, womit sie die homogenen Körper und ihr "Narrenparadies" (Arendt 2007, 56) des sinnlosen Zeittotschlagens in der Freizeit meint. Dass die Freizeit "leere Zeit" sei, die ,totgeschlagen' werden muss, wird von Arendt wiederum naturalisiert: "Die leere Zeit", schreibt sie, "die hier vertrieben wird, ist biologische Zeit". (Arendt 2012a, 279)29 Den Konsumenten der Verbrauchsgüter kreidet sie denn auch ihre "Verfressenheit" (278) und ihre "ins Gigantische gestiegenen Bedürfnisse" (Arendt 2011, 180) an diese seien den "reich gewordenen armen Leute[nJ" zu danken. (88) Die Überflussgesellschaft sei nämlich Ideal des Hungernden "in der Wüste des Elends" und dieses der Armut entspringende Ideal "überwucher[tJ und verwüste[tJ" (180) nun die öffentliche Freiheit des Politischen. Arendt beschuldigt also die Armen und betrachtet, wie Aristoteles, den bios apolaustikos als Quelle des Übels der polis-zerstörenden Maßlosigkeit. Da der sinnliche Genuss am "Übermaß" hänge, so Aristoteles, suchten die ihm Ergebenen "nach einer Kunst, die ihnen das Übermaß dieses Genusses verschafft". (Aristoteies 2003, 65) Die Maß- und Endlosigkeit der Bewegung G-G' wird damit fälschlicherweise auf ein - immer begrenztes - Begehren von Gebrauchswerten zurückgeführt. Die Arbeitenden sind für Arendt zudem Schuld an der Kulturzerstörung, da sie nun einfach zu viel Zeit hätten, sich an der Kultur zu 28

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Vor allem im Spätwerk versucht Arendt hingegen mit dem ,Denken' und ,Urteilen' moralische Prinzipien des politischen Handelns zu finden, die jenseits der Größe und Ausnahme liegen. Adorno zeigt hingegen, dass freie Zeit vornehmlich von denen als Langeweile empfunden wird, die in der meisten Zeit ihres Lebens, nämlich ihrer Arbeitszeit, fremdbestimmt sind und daher in ihrer freien Zeit nicht einfach auf Selbstbestimmung umschalten können, zumal es hier wenig Relevantes zu entscheiden gibt. Die Empfindung der Zeit als leer ist demnach spezifisch gesellschaftlich bedingt (vgl. Adorno 1998b, S. 650f.).

vergreifen und diese damit in verkitschte und bedeutungslose Vergnügungsmittel zu verwandeln: "Kultur", schreibt sie, "ist ein Weltphänomen, und Vergnügen ist ein Lebensphänomen. Wenn das Leben nicht mehr zufrieden ist mit dem Vergnügen, das in dem verzehrenden Stoffwechsel des Menschen mit der Natur neben der Mühe der Arbeit immer auch mitenthalten ist, weil seine Lebensenergie sich in diesem Kreislauf nicht mehr erschöpfen kann, dann kann es zu den Dingen der Welt greifen, sich an ihnen vergreifen und sie verzehren." (Arendt 2012a, 280) Während die Frankfurter Schule die kulturindustrielIen Phänomene noch in einen Zusammenhang mit dem kapitalistischen Verwertungsimperativ bringt, tritt bei Arendt das Leben als solches in Gestalt der Arbeitenden als Subjekt der Weltentfremdung auf.

Kapitalistische Naturverhä'ltnisse Da Arendt keinen Begriff von Kapital hat, muss ihr schließlich der Akkumulationsprozess, das ,Zurückleiten' des Werts in den Prozess der Produktion von Wert, als Zurückleiten der stofflichen Bedingungen des Produktionsprozesses und seiner stofflichen Produkte erscheinen. Diese werden aber nicht sämtlich zurückgeleitet das wäre ja zu begrüßendes Recycling -, sondern in der (produktiven und nichtproduktiven) Konsumtion zu einem erheblichen Teil verbraucht. Was Arendt hier übersieht, ist die kapitalistische Nutzung natürlicher Ressourcen ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen: Ein Großteil des Plastikmülls wird in die Ozeane geleitet, nicht in die Produktion. Was hingegen in die Produktion zurückgeleitet wird, ist der durch den Verkauf der Waren realisierte Mehrwert.

Hypostasierung der Technik Diese Beschränkung auf die stoffliche Dimension modernen Wirtschaftens macht sich auch in Arendts Technikkonzeption geltend. Wenn sie die industrielle Produktionsweise als solche zum sinnlos in sich kreisenden Organismus hypostasiert, dann geht die kapitalistische Formbestimmtheit der Maschinerie verloren. Die Verkehrung von Mittel und Zweck, Produktionsprozess und Produkt, die Arendt mit der modernen Technik als solcher verbindet, ist aber erstens keine zwingende Folge fabrikmäßiger Produktion, in der vielmehr konkurrenzinduzierte Verwertungsgesichtspunkte im Zentrum stehen, die auch die Frage des Maschineneinsatzes und die Richtung technischer Innovationen wesentlich bestimmen. Zweitens ist das von Arendt unterstellte Problem inflexibler Massenfließfertigung spätestens mit dem Umschalten auf flexible, rechnergestützte und modularisierte Einzel- und Kleinserienfertigung weitgehend erledigt. 30 Und schließlich gibt es drittens kein prinzipielles Argument dafür, dass maschinell produzierte Produkte a) weniger haltbar sein müssen als handwerklich produzierte und dass b) automatisierte Produktion den Zweckcharakter (für menschliche, ,weltliche' Bedürfnisse) gefährden würde. Auch hier projiziert Arendt kapitalistische Formbestimmungen in die Technik als solche: Nicht die Maschinerie überhaupt bringt den gegen welche Bedürfnisse auch immer gleichgültigen, sich beständig beschleunigenden Prozess einer Produktion um der Produktion willen hervor, sondern das Kapital als konkurrenzvermittelter Zwang )0

Vgl. BischofflDetje 1989,62-68.

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der Anhäufung und Reinvestition von Geld, das heißt der verdinglichten Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs von Privateigentümern. Und nicht maschinenmäßige Produktion per se reduziert die Qualität von Produkten (wenigstens gilt das nicht für alle Produkte), sondern das Interesse des Kapitals an der beständigen Reproduktion mehrwertrealisierender Nachfrage, die durch geplante Obsoleszenz befördert wird. Zudem wird ein großer Teil von Waren mit schlechter Qualität eigens für Menschen mit geringer Zahlungsfähigkeit produziert, womit diese mindere Qualität ein unmittelbarer Ausdruck von Klassenverhältnissen ist. Arendts Werttheorie Die Ausblendung der kapitalistischen Reichtumsformen zugunsten einer rein stofflichen Betrachtung macht sich schließlich in Arendts Werttheorie geltend: Sie vertritt a) eine unausgearbeitete subjektive Werttheorie, die b) eingebettet ist in die genealogische Darstellung des Qualitätsverlusts der für den Austausch produzierten Dinge. Ad a: Wert, so Arendt, hat ein Produkt nicht schon als solches, sondern "wertstiftend ist allein die Öffentlichkeit" (Arendt 2007, 197) des Marktes. Dass unter privat-arbeitsteiligen, das heißt unkoordinierten Produktionsbedingungen ein Produkt nicht vor seinem Austausch Wert und Wertgröße zukommt, ist eine Einsicht, die bereits Marx' Kritik substantialistischer Arbeitswerttheorien zugrunde lag. 3l Von Marx setzt sich Arendt jedoch insofern ab, als die relativen Werte den Nutzenschätzungen der Konsumenten entspringen sollen - oder wie es der von Arendt zustimmend zitierte Abbe Galiani (1728-1787) ausdrückt: aus der ,,,Vorstellung [... ], die sich ein Mensch von dem Verhältnis zwischen dem Besitz einer Sache und dem Besitz einer anderen macht"'. (197) Wie schon Aristoteles geht Arendt davon aus, dass das im Geld dargestellte Bedürfnis es vermag, eine Gleichheit herzustellen, die in den Produkten gar nicht vorhanden sei: Das Geld werde "an die in sich ungleichen Tätigkeiten des Arztes und Bauern von außen herangetragen [... ], um sie vergleichbar zu machen". (273) Arendts Ausführungen sind leider in zweierlei Hinsicht wenig ergiebig: Zum einen enthalten sie keine Argumente gegen die (Marx'sche) Arbeitswerttheorie. Die Aussage, Tauschwerte "sind niemals die Produkte einer speziellen, menschlichen Tätigkeit" (198), stellt zwar möglicherweise eine implizite Kritik dar, träfe jedoch nicht Marx, denn ihm zufolge ist nicht die konkrete, sondern die abstrakte Arbeit die Substanz des Werts (und diese abstrakte Arbeit wiederum ist keine besondere Form der konkreten Arbeit, wie die monotone Fließbandarbeit, sondern Resultat einer sich im Austausch hinter dem Rücken der Akteure vollziehenden Reduktion). Zum anderen sind Arendts Ausführungen zur subjektiven Werttheorie selbst äußerst vage: Es ist unklar, welche Variante sie vertritt (etwa die Grenznutzentheorie, denn S. 197, Anm. 33 bezieht sie sich positiv auf Alfred Marshal1?); sie diskutiert folglich auch nicht die schon damals bekannten Probleme, die der interpersonelle und intrapersonelle Nutzenvergleich mit sich bringen. 32

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Vgl. Heinrich 1999, S. 206-219. Vgl. Büttner 2009.

Ad b: Arendt geht davon aus, dass mit der Entwicklung vom Tauschmarkt zum Warenmarkt eine Perspektive überhandnimmt, in der ein Gegenstand nicht mehr als solcher geschätzt, sondern nur noch in quantitativer Relation zu anderen Waren betrachtet wird: Es kommt zur "universale[n] Relativierung, in der ein Gegenstand seine Berechtigung nur durch sein Verhältnis zu anderen Gegenständen, seine Austauschbarkeit, ausweisen kann" - und diese universale Relativierung führe unweigerlich auch zum "Qualitätsverlust" (199f.) der Produkte, ja letztlich zu einem ,nihilistischen' Weltbezug des Menschen. Die Suche der Politischen Ökonomie nach einer objektiven Quelle des Werts interpretiert Arendt nun als eine Suche nach Sinn oder Absolutheit innerhalb der allseitigen Relativierung: "Der Grund [... ], warum die nationalökonomischen Werttheorien [... ] so verzweifelt nach einer objektiven Quelle der Werte suchten, die sie je nachdem in der Arbeit oder im Land oder im Profit zu finden meinten [... ], war, daß niemand sich mit dem simplen Tatbestand abfinden konnte, daß es auf dem Waren markt [... ] einen ,absoluten Wert' schlechterdings nicht gibt und daß dort danach Umschau zu halten der Quadratur des Zirkels verteufelt ähnlich sah." (199, Herv. durch uns) Die" Unerträglichkeit einer völligen Relativierung" war vor allem darin begründet, "daß diese Relativierung sich an einem Menschentypus auswirkte, der im Wesentlichen von dem Denken von Homo faber geprägt war." (200) Erneut unterstellt Arendt ihre eigene Thematik - die der Weltentfremdung - anderen Autoren. Die Fragestellung politischer Ökonomen wie Smith und Ricardo lässt sich jedoch auch darstellen, ohne ihnen eine durch allseitigen Relativismus irritierte Handwerksperspektive zu unterstellen: Sie wollten erklären, was den Wert einer Ware bestimmt, wenn Angebot und Nachfrage deckungsgleich sind, und was passiert, wenn sich die quantitative Mengenrelation zweier Waren in ihrem Austauschverhältnis verändert. Ihnen zufolge muss es dem relativen Wert zugrundeliegend noch einen absoluten geben. Diese Frage ist von der klassischen politischen Ökonomie richtig gestellt worden, sie wird erst zur "Quadratur des Kreises", wenn Smith et. al. ein in seinem Wert unveränderliches Wertmaß, eine wertbestimmte Ware also, als Grundlage dieser Bestimmung suchen (Wert der Arbeit, Wert des Weizens etc.).33 Mit der abstrakten Arbeit hatte Marx das Problem eines argumentativen Zirkels jedoch bereits gelöst: Abstrakte Arbeit ist selbst nicht wertbestimmt, sondern wertkonstituierend. Kommunistische Fiktion oder kommunistische Tendenz? Arendt spricht für die Moderne von "Ländern mit angeblich kapitalistischer Wirtschaft". (85, Herv. durch uns) Ihre These einer Konvergenz von Kommunismus und Liberalismus führt dazu, dass sie Marx nicht als Kritiker, sondern als Vollender der ,eigentlich' totalitären Logik des ökonomischen Liberalismus versteht. So wird ihm unterstellt, "die allen ökonomischen Theorien zugrundeliegende ,kommunistische Fiktion' in der Wirklichkeit [... ] etablieren" (56) zu wollen. Den Begriff der ,kommunistischen Fiktion' entlehnt Arendt Gunnar Myrdals Untersuchung über Das Politische Element in der nationalökonom ischen Doktrinbildung (1953; vgl. Arendt 2007, 427). Ihr Bezug auf Myrdal ist dabei ein Paradebeispiel projektiver 33

Vgl. dazu Stapelfeldt 2006, 314-332, 351-362.

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Hermeneutik: Myrdal kritisiert nämlich politökonomische Theorien, die für eine Analyse marktwirtschaftlicher Verhältnisse mit Kategorien arbeiten, die ein homogenes und einheitliches Gesellschaftsinteresse und -subjekt, also letztlich eine geplante Ökonomie ohne Interessengegensätze unterstellen. 34 So widersprechen ihm zufolge Ideen wie die einer allgemeinen Wohlfahrts funktion der Wirklichkeit der modernen marktgesteuerten Gesellschaft. Die Fiktion, so Myrdal, "schafft eine Einheit, wo Mannigfaltigkeit herrscht" und "ist natürlich trügerisch" (Myrdal 1976, 140). Arendt hingegen hält diese Fiktion letztlich gar nicht für eine Fiktion, sondern für eine in der liberalen Wirklichkeit angelegte reale Tendenz, da sie meint, der National-Haushalt trage "die Keime einer kommunistischen Gesellschaft" (Arendt 2007, 56) in sich. Dass man der Idee eines einheitlichen "Interesses" in der kapitalistischen Gesellschaft den übertragenen Sinn geben könnte, Mehrwertproduktion sei die Voraussetzung dafür, dass Gebrauchswerte produziert werden und insofern die ganze Gesellschaft dem Zwang zur Kapitalverwertung unterworfen ist, geht an Arendts Intentionen vorbei. Ihre Unterstellung eines einheitlichen Interesses bezieht sich explizit nicht auf solche formbestimmten Zwänge, sondern auf das Interesse an allgemeiner Wohlfahrt auf der Ebene von Gebrauchswerten in der sogenannten Arbeitsgesellschaft.

Marx als Kollektivist? Die Behauptung, Marx habe eine kollektivistische Tendenz als zu verwirklichendes Ideal ausgegeben, gehört zu den Gerüchten, bei denen sich der unvoreingenommene Leser fragt, wie sie überhaupt in die Welt kommen konnten: An den wenigen Stellen seines Werkes, die Marx einer befreiten Gesellschaft widmet, betont er nicht ein einziges Mal das Kollektiv, jedoch stets die Freiheit des seine Anlagen entfaltenden Individuums. Marx steht in der bis auf Aristoteies zurückgehenden Tradition des ethischen Perfektionismus, allerdings in einer liberalen, historisierten und egalitären Varian te. 35

Dirigistischer Staat, Aktiengesellschaften, Monopole In Arendts These, der Besitz sei nicht länger ein privates Anliegen, sondern Angelegenheit de~ "Familienkollektiv[sJ" (39), vermischen sich überzeugende und problematische Uberlegungen. So ist es durchaus richtig, dass der moderne Nationalgedanke auf eine vermeintlich durch Sprache, Geschichte oder Abstammung begründete Homogenität zurückgreift, die nach dem Muster der Familie gedeutet wird. Unbestritten sind auch die (begrenzten) Möglichkeiten des bürgerlichen Staats, in seinem Hoheitsgebiet den Wirtschaftsakteuren gewisse Rahmenbedingungen zu setzen und über den durch das Steueraufkommen gebildeten Haushalt nationale 3.

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Selbst in einer realen kommunistischen Gesellschaft, die Ökonomie über kollektive Beschlussfassung statt über Marktprozesse regle, sei die Annahme eines einheitlichen Interesses und einheitlicher Vorstellungen vom gesellschaftlich Nützlichen unrealistisch (vgl. Myrdal 1976, 147f.). Eine solche Idee habe höchstens in absolutistischen oder diktatorischen Regimen "eine gewisse politische Realität" (ebd., 135, vgl. auch 141), weil dort der Wille eines Einzelnen bestimmend sei. Vgl. hierzu Henning 2009, Lindner 2013,112-122,349-356.

Zwecke zu realisieren. Diese staatlichen Maßnahmen sind jedoch etwas anderes als die von Arendt behauptete Transformation des kapitalistischen Staats zu einem dirigistischen Staat, der seine Bürger einerseits mit Konsumgütern ruhigstellt, sie andererseits dazu anhält, sich bedingungslos in den Dienst des Volkes und seiner "Lebensinteressen" zu stellen. Ähnlich ambivalent sind Arendts Überlegungen zur unaufhaltsamen "Abschaffung des Privatbesitzes" (85) aufgrund der schieren Größe des gesellschaftlichen Reichtums. Arendt verweist hier insofern zu Recht auf einen Wandel in den kapitalistischen Eigentumsbeziehungen, als die "Aktien-Gesellschaften" (Arendt 2002, 364) den Kapitalisten, der noch seine eigene Firma leitet, in der Tat weitgehend abgelöst haben. Nur warum setzt sie die Ablösung des Eigentümer-Kapitalisten durch Aktionäre und Manager mit der Abschaffung des Privatbesitzes gleich, meint gar, die Aktiengesellschaften implizierten "verwaltetes, namenloses Eigentum" als "Kollektiv-Eigentum" (364)? Dagegen ist festzuhalten: i) Unternehmen als Aktiengesellschaften erwirtschaften Profite und Dividende, die privat-exklusiv angeeignet werden. ii) Aktiengesellschaften ermöglichen es privaten Investoren, dass sie durch den Besitz einer anteiligen Summe von in einem Unternehmen investiertem Kapital die privat-exklusive Kontrolle über dessen gesamtes Kapital erringen können. iii) Es zeigt sich schließlich die Tendenz, dass "das formelle Verfügungsrecht (als anteiliges Stimmrecht bei den Aktionärsversammlungen) [... ] so zersplittert, daß es real nicht bei den Aktionären liegt, sondern bei den von ihnen - indirekt - mit der Leitung des Unternehmens betrauten Managern." (Conert 1998, S. 189) Damit werden Eigentum und reale Verfügungs macht in der Form getrennt, dass die exklusive Verfügungsmacht in den Händen Weniger stärker konzentriert wird als das formelle Eigentumsrecht. Wenig überzeugend ist zudem die von Arendt angedeutete Tendenz zum Kartell und Monopol, denn ganz offensichtlich führt der kapitalistische Akkumulationsprozess nicht nur zu Unternehmenszusammenlegungen, sondern auch zu Neugründungen und zur Zersplitterung von Großunternehmen durch Aufspaltungen, Abspaltungen und Ausgliederungen. 36 Darüber hinaus hält der Staat mit den Kartellbehörden und der Förderung von Unternehmensgründungen Mittel bereit, einer fortlaufenden Kapitalzentralisation entgegenzuwirken.

Personale Herrschaft Die über den Familienbegriff hergestellte Verbindung zwischen der antiken Hausgemeinschaft und dem modernen Nationalhaushalt legt darüber hinaus ein problematisches Verständnis des bürgerlichen Rechtsstaats nahe: Die Analogie lädt dazu ein, den modernen Nationalstaat nicht als Ausdruck sachlich-anonymer, sondern persönlicher Abhängigkeiten zu verstehen. 37

)6 )7

Vgl. Marx 1993, 654 sowie Conert 1998, 186-192. Vgl.Jaeggi 1997,13.

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Herrschaft des Niemand

Gleichwohl lassen sich Arendts Überlegungen zur "Herrschaft des Niemand"38 (Arendt 2007, 57) als ihr Bemühen verstehen, die Versachlichung interpersoneller Beziehungen zu reflektieren. Die Gleichheit des modernen Bürgers "erinnert" zwar "eher an die Gleichheit aller Glieder einer Familie unter der despotischen Macht eines Familienoberhaupts" (50); nur, so fügt Arendt hinzu, habe sich in der modernen Gesellschaft die personale Alleinherrschaft erübrigt: Herrschaft ist nunmehr "an keine Person gebunden", die Bürokratie stehe exemplarisch dafür, dass "gerade niemand herrscht oder regiert". (51) Arendts Überlegungen bleiben an dieser Stelle undeutlich. Einerseits spricht sie davon, dass niemand herrsche - und der plötzlich als Gesamtsubjekt auftretende "Niemand" sei "die hypothetische Einheitlichkeit des ökonomischen Gesellschaftsinteresses". (51) Dies klingt nach verselbständigten, personal nicht zurechenbaren Wirtschaftsstrukturen. Andererseits legt Arendt mit ihren Bemerkungen zur Bürokratie doch wieder ein personales Herrschaftsverständnis nahe. So betont sie, dass die Abschaffung des "monarchische [n] Prinzip [s] der Ein-Herrschaft" durch die Bürokratie keineswegs auf "Nicht-Herrschaft" hinauslaufe. Bürokratie sei eine Herrschaftsform, die sich "unter gewissen Umständen sogar als eine der grausamsten und tyrannischsten [... ] entpuppen kann." (51) Dies dürfte auf die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft verweisen. Arendt unterscheidet hier a) zwischen rechtsstaatlicher Bürokratie und bürokratischer Herrschaft und bestimmt b) die bürokratische Herrschaft letztlich als personale Herrschaft in verschleierter Form, nämlich die Herrschaft einer Clique, die unterhalb formaler Gesetzesbindung und öffentlicher Verantwortlichkeit mittels willkürlicher Verordnungen und Maßnahmen auf die Bevölkerung einwirkt und darum mit dem klassischen Beamtenapparat der Nationalstaaten "kaum etwas zu tun" hat. (Arendt 1998, 405) Arendt zufolge ist "Bürokratie das Regime der Verordnungen. Die Macht, die in Verfassungsstaaten nur der Ausführung und Innehaltung der Gesetze dient, wird hier, wie in einem Befehl, zur direkten Quelle der Anordnung. Verordnungen sind ferner immer anonym, während Gesetze immer auf bestimmte Personen oder gesetzgebende Versammlungen zurückgeführt werden können." (516) Bürokratie als Herrschaftsform ist eine Verfallsform bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit: "Bürokratie ist eine Herrschaftsform, in welcher Verwaltung an die Stelle der Regierung, die Verordnung an die Stelle des Gesetzes und die anonyme Verfügung eines Büros an die Stelle öffentlich-rechtlicher Entscheidungen tritt, für die eine Person verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden kann." (405) Anonymität meint hier das Anonymisieren von Maßnahmen, die in Wirklichkeit auf konkrete Personen zurückzuführen sind - so wie sich ein Autor unkenntlich macht, der aber nach wie vor existiert. Dass Arendt "für die spät-kapitalistische Entwicklung" vom "verwaltete[n], namenlose[n] Eigentum" sowie vom "Eigentum von Niemand" spricht (Arendt 2002,364), scheint genau in diese Logik ihrer Theorie bürokratischer Herrschaft zu passen. Auch in der Ökonomie des Rechtsstaates sieht sie also diese Tendenz gegeben, womit zu vermuten ist, dass sie die große, pa38

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Vgl. dazu ausführlich Eibe 2015, 446-485.

ternalistische Unternehmerpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts als nicht-anonyme Besitzform betrachtet, während die Aktiengesellschaften und modernen Managementstrukturen aus ,anonymen', also ,unverantwortlichen', unsichtbaren Angestellten bestehen. Dies bedeutet, entgegen Arendts Aussagen, aber weder ein Ende des Privatbesitzes, noch berücksichtigt sie, dass auch diese Manager den strukturellen Zwängen kapitalistischer Konkurrenz unterworfen bleiben. Totalitäres Telos der Moderne

Mit beiden möglichen Lesarten einer ,Herrschaft des Niemand' läuft Arendt Gefahr, ,totalitäre' Gesellschaften als Telos der Moderne zu betrachten. Obwohl sie explizit gegen Ideen zwangsläufiger historischer Entwicklungen argumentiert 39 , suggeriert sie entweder einen Verfallsprozess vom Rechtsstaat hin zu personalbürokratischer Herrschaft oder sie beschreibt die moderne Gesellschaft so, dass sie das Ziel ,totalitärer' Regime - die Reduktion des Menschen auf berechenbare Gattungsexemplare - immer schon enthält: Es sei die Konsequenz der vollends nach dem Muster der Arbeit strukturierten Gesellschaft, dass "das menschliche Zusammenleben mit nichts mehr Ähnlichkeit haben würde als mit einem Ameisenhaufen". (Arendt 1998, 329) Was in Arendts Ausführungen unter ,totalitären' oder ,monolithischen' Zügen der Gesellschaft zu verstehen ist, bleibt dabei oft unklar. In Anlehnung an Hartrnut Rosa ließe sich für die Moderne bisweilen durchaus von einem Totalitarismus des Marktes sprechen, da die strukturellen Zwänge kapitalistischer Vergesellschaftung buchstäblich alles durchdringen. 4o Diesen Sachverhalt hat Arendt jedoch nicht im Sinn, wenn sie das Gesellschaftliche in die Nähe des Totalitarismus rückt; denn sie koppelt die von ihr diagnostizierten Zwänge ausdrücklich vom Markt ab und lastet sie stattdessen dem ominösen ,Leben' an. Arendt scheint, wenn es um die Gesellschaft geht, vielmehr auf einen bestimmten Typus staatlicher Regulation, standardisierter Lebensformen und rigider Lebensstilkontrolle hinaus zu wollen, die man im Fordismus der 1950er!60er Jahre allenthalben antreffen konnte. 41 Damit themati-

39

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Vgl. Arendt 2012c. Rosa selbst allerdings will diese "neue Form von Totalitarismus" auf die neoliberale Phase "der spät modernen Gesellschaft" begrenzt wissen (Rosa 2012, S. 284). Arendt zufolge werde in der Moderne versucht, "die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen und spontanes Handeln wie hervorragende Leistungen zu verhindern." (Arendt 2007, 5lf.) Wiederholt spricht sie von "Konformismus" und nivellierender Gleichheit als Signum der Moderne (vgl. ebd., 52). Dass die Bevölkerungen der Staaten im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus zum Gegenstand ,biopolitischer' Regulierung werden und dass die Individuen für einen freien Markt staatlich zugerichtet werden, ist ein weiterer Bedeutungsgehalt von Arendts Idee der Herrschaft des Niemand im Dienste des ,Lebens'. Hier scheint sie einige der späteren Überlegungen Foucaults zur "sorgfältige [n] Verwaltung der Körper" und "rechnerische[n] Planung des Lebens" (Foucault 1983, 167) in der Moderne zu antizipieren. Aber auch hier ist zu betonen, dass diese sozialtechnologischen Regierungsweisen zur Herstellung eines Regimes ,freier' Privateigentümer beitragen sollen und insofern die Tendenz zur umfassenden gesellschaftlichen Regulation ein genuin liberales Projekt darstellt (vgl. Bohlender 2007).

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siert sie normative und politische Zwänge und Sanktionen 42 einer bestimmten Phase kapitalistischer Vergesellschaftung, ohne diese freilich auf den Begriff zu bringen. Vielmehr hat ihre Diagnose eine bildungs aristokratische und konservative Schlagseite, die Massenkonsum, große Zahlen von Menschen und Alltäglichkeit per se, ungeachtet ihres jeweiligen Inhalts, ablehnt. 43

5. Resümee Arendts Theorie der Moderne einer begrifflich-systematischen Lektüre zu unterziehen, ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden. So entwickelt Arendt im Rahmen ihrer Unterscheidung von Arbeit und Herstellen unvereinbare Kriterien. Mitunter widersprechen sich ihre Aussagen auch einfach. Beispielsweise schreibt sie an einer Stelle, auf dem öffentlichen Warenmarkt träfen sich die "Produzenten" (Arendt 2007, 266), an anderer Stelle, hier kämen "natürlich nicht mehr die Produzenten selbst zusammen". (194) Zudem unterstellt sie anderen Autoren regelmäßig ihre eigenen Begriffe und kritisiert oder lobt diese dann für Inhalte, die von ihnen gar nicht vertreten wurden. Vor allem leidet die Nachvollziehbarkeit jedoch darunter, dass sie epistemische Verfahren nicht sauber voneinander unterscheidet: die Begriffsanalyse von Arbeit, Herstellen und Handeln ist durchgängig verwoben mit genealogischen Rekonstruktionen und Zeitdiagnosen, die über die gesamte Vita activa verstreut sind und sich vom Leser nur mit viel Mühe in eine Ordnung bringen lassen. Ein weiterer Mangel ist darin zu sehen, dass Arendt einerseits die sich wandelnden Weltbezüge durchgängig nur beschreibt (und nicht erklärt), sie andererseits zu sprachlichen Mitteln greift, die eine Ursache suggerieren: Es ist dann das zum Subjekt hypostasierte Leben, das dieses oder jenes tut, obgleich schon durch den Kontext deutlich wird, dass das, was Arendt Leben nennt, nur dann seine Wirkung entfalten kann, wenn es durch externe Prozesse entgrenzt wird - nur werden diese Entgrenzungsprozesse nicht erklärt, weshalb nicht selten der Eindruck entsteht, dass Arendt die Subalternen für die Entwicklung zur Massengesellschaft verantwortlich macht. Inhaltlich partizipiert Arendt in ihrer Theorie der Moderne an vielen zeitgenössischen Diskursen. Die Idee einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft auf Grundlage einer industriell-technischen Lösung der sozialen Frage ist seinerzeit ein ebenso gängiger Topos wie die Herrschaft der Bürokratie oder die von der Kritischen Theorie behauptete Tendenz zur dirigistischen Ökonomie des ,autoritären Staats'. Es handelt sich bei diesen Topoi um theoretische Verabsolutierungen empirischer Entwicklungen. 44 Möglich sind diese Verabsolutierungen nur, weil Arendt keinen '2

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Vgl. zur Differenz zwischen normativen Sanktionen und strukturellen Zwängen Giddens 1992, S. 228ff. Vgl. Arendt 2007, 30, 54. Zur Kritik vgl. Eibe 2015, 457f. Die These einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft beispielsweise konnte sich darauf stützen, dass in den westlichen Industrieländern der Anteil der obersten 10 Prozent am (Löhne und Kapitaleinkommen umfassenden) Nationaleinkommen von 1910 bis 1960 kontinuierlich sank, in Europa etwa von 46 Prozent auf 32 Prozent (vgl. Piketty 2014, 429). Im Zuge dieser Entwicklung entstanden numerisch bedeutende Mittellagen. Gleichwohl war die unter Kon-

zureichenden Begriff von Kapital hat. An seine Stelle tritt bei ihr das hypertrophe Wachstum des zum zentralplanwirtschaftlichen Staatszweck erhobenen Lebens. Arendt verfehlt damit nicht nur die gesellschaftlichen Mechanismen des beschleunigten Wachstums - nämlich die kapitalistische Konkurrenz und Profitorientierung -, sondern auch das, was in der Moderne wächst: Da Arendt die moderne Wirtschaft nicht als herrschaftliches soziales Verhältnis von Privateigentümern, sondern naturalistisch versteht, erscheint ihr das Wachstum lediglich als Wachstum der stofflichen Träger (Gebrauchswerte) dieser Verhältnisse (Wert, Geld, Kapital, Zins usw.). Diese Diagnose wird schließlich normativ mit einer konservativ-elitären Kulturkritik verbunden, die den Horror vor einer durchschnittlichen Existenz mit bloß niederen leiblichen Genüssen artikuliert. Arendts Thematisierung wirtschaftlicher Zusammenhänge stellt somit keine kategorialen Mittel bereit, um den Bereich der ,Gesellschaft' zu begreifen. Ihre sozial philosophische Modernediagnose ist zudem unempfindlich gegen das alltäglich und systematisch vom Kapitalismus produzierte Leid. Die Prognosen und Tendenzaussagen Arendts haben sich meist nicht bewahrheitet und entbehrten auch schon zu ihren Zeiten der Grundlage: Weder wächst in den Metropolen unaufhörlich die Bevölkerung, noch leben wir alle in der bonbonbunten Wohlstands-Welt amerikanischer Einfamilienhaussiedlungen. Die Klassenunterschiede haben sich nicht auf ein allgemeines Mittelstandsniveau reduziert, und unser Problem ist nicht bloß, ob wir unsere vermeintlich massenhaft vorhandene Freizeit mit selbstzweckhafter politischer Debatte verbringen sollen oder mit dem Konsum von Chips bei Nachmittagstalkshows - schön wär's.

servativen und "Führungsschichten" (Geißler 1996, 73) verbreitete Diagnose einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft insofern ideologisch, als die Vermögensverteilung weiterhin extrem ungleich war: Selbst in den skandinavischen Ländern der 1970er und 1980er Jahre, das heißt in den Ländern "mit der größten Vermögens gleichheit", "machen die 10 % der größten Vermögen allein etwa 50% des Nationalvermögens aus". (Piketty 2014,338) Hinzu kommt, dass die Ungleichheit der Lohneinkommen von 1910 bis heute relativ konstant geblieben ist (vgl. ebd., 359): Ein Anstieg des Lohnniveaus ist eben nicht gleichbedeutend mit der Nivellierung der Lohnunterschiede. Schließlich ist der Vorstellung, das Ende der Klassengesellschaft sei nah, ganz unabhängig von diesen Entwicklungen zu widersprechen: Selbst wenn es nicht nur zur konjunkturellen Verbesserung des Lohnniveaus, sondern auch zu einer Angleichung der Lohnabstände käme, änderte dies nichts daran, dass der überwiegende Teil der Gesellschaft nicht im Besitz der Produktionsmittel ist und darum seine Arbeitskraft auf dem Markt anbieten muss.

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Die falsche Versöhnung von Subjekt und Objekt Hans-Georg Gadamers Hermeneutik zwischen Heideggerscher Provinz und postmodernem Historyland Mit einem Epilog: Konservative Hermeneutik in Dipesh Chakrabartys postkolonialer Geschichtsschreibung

Was sind die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens? Was tun wir, wenn wir verstehen? Oder ,geschieht' etwas mit uns? Können wir der Tradition kritisch begegnen und diese besser verstehen als sie sich selbst oder behält sie eine fraglose Geltung jenseits aller Vernunftgründe? Fragen wie diese stehen im Zentrum der hermeneutischen Philosophie Hans-Georg Gadamers, die von Jürgen Habermas einmal als Projekt der "Urbanisierung der Heideggerschen Provinz" bezeichnet wurde. (Habermas 1991, 392) Der Heidegger-Schüler Gadamer präsentiert die von ihm - indes gerade wegen ihrer "Bodenständigkeit" gelobten (Gadamer 1993, 361) Grundgedanken seines Lehrers in der Tat in einer für die deutsche Nachkriegsphilosophie zeitgemäßen Form, die freilich heute schon wieder veraltet wirkt. Dennoch steht Gadamers Denken exemplarisch für eine Variante des Ineinanders von Konservatismus und Postmoderne. Viele seiner Gedanken, auch wenn sie noch in einem humanistisch behäbig daherkommenden Jargon der Eigentlichkeit verfasst wurden, sind heute nach wie vor Gemeinplätze eines akademischen Irrationalismus, den Hans Krämer kritisch als "Interpretationismus" (Krämer 2007, 215) und Zygmunt Bauman affirmativ als "interpretierende Vernunft" bezeichnet hat. (Bauman 1995, 158) Im Folgenden sollen Grundgedanken von Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode und ihr aporetischer Charakter analysiert werden. Es wird sich zeigen, dass Gadamers Erörterungen einen Versuch darstellen, die Unterscheidungen von Subjekt und Objekt des Verstehens, von Interpret und Interpretandum, von Individuum und Überlieferung sowie von Erkennen und Anerkennen der Tradition aufzulösen. Dieser Versuch bringt ein Konglomerat von unversöhnlichen Widersprüchen hervor: Eine realistische technische Hermeneutik steht einer antirealistischen ontologischen Hermeneutik gegenüber, eine relativistische Bedeutungstheorie gegen eine traditionalistische und schließlich steht die Trennung von Erkennen und Anerkennen der Textbedeutung der These gegenüber, alles Verstehen sei ein Anwenden auf die Lebenspraxis und eine Übereinstimmung in der Sache.

1. Methodischer hermeneutischer Zirkel Mit Gunter Scholtz lassen sich drei Typen von Hermeneutik unterscheiden: die technische Hermeneutik, die philosophische Hermeneutik und die hermeneutische Philosophie. Die technische Hermeneutik beansprucht, als ,Kunstlehre des Verstehens', Regeln anzugeben, die zu einem angemessenen Verständnis der Bedeutung des Interpretandums (des Erkenntnisobjekts des Verstehens ) durch den Interpreten (das Erkenntnissubjekt des Verstehens) führen. Die philosophische Hermeneutik unter-

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sucht die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. Hier tritt die "Begründungsfunktion" in den Vordergrund, während die "Anleitungsfunktion" sekundär ist. (Scholtz 1993, 103) Scholtz schlägt als Kriterium der Unterscheidung beider Formen vor, zu überprüfen, ob sich Aussagen hermeneutischer Texte in Imperative umformen lassen oder nicht: Wenn beispielsweise Schleiermacher sage, das Einzelne müssen aus dem Ganzen verstanden werden und vice versa, so lasse sich daraus eine Anweisung formulieren wie: "Bevor du das Werk eines Autors vernichtend rezensierst, lies nicht nur die Einleitung, sondern das ganze Buch." Wenn aber Dilthey meine, Verstehen setze Erleben voraus oder Gadamer die vorgängige Verbundenheit mit der Tradition als Verstehensbedingung beschreibe, so lasse sich daraus nicht folgern: ,,'Habe erlebt!'" oder ,,'Habe schon immer verstanden!" (104) Die hermeneutische Philosophie! schließlich, deren wesentliche Quelle Nietzsche ist 2, unterstellt, alle Wahrnehmung und Erkenntnis sei eine durch kulturelle Deutungsmuster codierte Interpretation des Subjekts und damit sei das zu erkennende Objekt Produkt der Deutungsmuster bzw. Erkenntnismittel (,Was wir erkennen, sind nur von uns konstruierte Gegenstände'). Dieser radikale Konstruktivismus führt zu der antirealistischen Aussage, dass es ein von den Deutungsmustern unabhängiges Erkenn tnisobjekt gar nicht gebe (,Eine interpretations-, bzw. subjektunabhängige Welt ist nicht existent'). Dieser Antirealismus wiederum kann auch fiktionalistische Formen annehmen (,Wir erkennen die Welt immer anders als sie tatsächlich ist'). Der Antirealismus wird schließlich derart relativistisch artikuliert, dass behauptet wird, die Vgl. Scholtz 1993, 109ff. Nietzsche vertritt einen Interpretationismus (es gibt eigentlich nichts zu interpretieren, weil alles schon immer Interpretation ist), Korrelationismus (alles, was wir wahrnehmen, ist nur in Bezug auf uns zu bestimmen und daher jede Aussage über ein An sich unzulässig), antirealistischen Fiktionalismus (alle Begriffe sind nur "Metaphern, der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen" (Nietzsche 1988a, 879)) sowie machtreduktionistischen Konstruktivismus im doppelten Sinne (alle Begriffe sind nur von uns gebildete "Illusionen" (881), um ein gewalttätiges Selbsterhaltungs- und Bemächtigungsstreben zu realisieren lind jede Erkenntnis ist an sich buchstäblich Gewalt, weil sie "Gleichsetzen des NichtGleichen" ist (880)). Nietzsches Grunddogma ist, "dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen, Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ,Sinn' und ,Zweck' nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss." (Nietzsche 1988c, 313f.) Michel Foucault und die Postmoderne generell knüpfen an dieses Modell an. Zwar wird sich zeigen, dass Gadamer gerade den Gewaltaspekt dethematisiert und eine homogene Tradition als harmloses Gespräch beschwört, aber da Postmoderne wie Foucault jede Erkenntnis der als stets inhomogen und plural angenommenen Tradition als illusionäre Interpretation im Dienste der "Gewaltinstinkte" (Foucault 1991,87) und als "gewaltsam[e]" Angleichung des Ungleichförmigen (77) deuten, sind sowohl der Hinweis auf die Pluralität als auch auf den Gewaltgrund schon wieder irrelevant geworden und man kann getrost von ihnen abstrahieren. Allerdings suggerieren einige postmoderne Interpretationisten, darunter Vattimo, Bauman oder Rorty, die Theorie des Interpretationismus erlaube einen weniger gewaltförmigen, sie ,seinlassenden' Zugang zur ,Welt' gerade durch den Gedanken des bedeutungsproduzierenden ,Interpretierens' und der unendlichen Bedeutungsverschiebung im Deutungsvollzug, vgl. Bauman 1995, 158ff. Es handelt sich dabei aber lediglich um unterschiedliche normative Bewertungen derselben theoretischen Annahmen über den Prozess der Interpretation.

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Konstruktion dessen, was man zu erkennen vermeint und das unabhängig von den die Konstruktion leitenden Deutungsmustern nicht existiere, sei je nach Kultur unterschiedlich, die Kulturen und ihre Erkenntnismittel gar inkommensurabel, Verstehen sei also auch in diesem Sinne stets "Andersverstehen des Interpretandums". (Krämer 2007, 13)3 Zwar besteht die Originalität von Gadamers Wahrheit und Methode in einer Abkehr von der technischen Hermeneutik. Dennoch finden sich im Text Passagen, in denen er klassische methodologische Erörterungen anstellt, die noch in deren Tradition stehen. Auch wenn an Gadamers Textproduktion jeder methodische "Vorgriff der Vollkommenheit" (299) zerschellt, der Autor über weite Strecken offenbar nicht einmal versucht, kohärent zu argumentieren, legt er dennoch zunächst dieses Prinzip selbst einigermaßen nachvollziehbar dar: Der Vorgriff der Vollkommenheit ist zunächst ein Element des klassischen ,hermeneutischen Zirkels' - der tatsächlich kein Zirkel, sondern eine Spirale ist. Dieser angebliche Zirkel beschreibt das Vorgehen des Interpreten, der die objektive Bedeutung des Interpretandums erschließen will, den Vorgang der schrittweisen Angleichung der Annahmen des Subjekts an den Inhalt des Objekts der Erkenntnis, die hier im Sinnverstehen besteht. Der technische ,Zirkel' unterstellt korrespondenztheoretisch, dass sich die Sinnantizipationen, mit denen der Interpret sich dem Interpretandum nähert, "sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt" (Gadamer 1986, 271), "an den Sachen selbst [zu] bewähren" haben. (272) Dies geschehe im Prozess von Hypothesenbildung, dem Entwurf eines Sinn ganzen, dem Konsistenz unterstellt wird (was hier als "vollkommene Einheit von Sinn" (299) bezeichnet wird) und der Verifizierung/Falsifizierung/Modifizierung durch die weitere Lektüre der einzelnen Sätze. Im Gegensatz zum Dekonstruktivismus weist der methodische Vorgriff der Vollkommenheit darauf hin, dass der Interpret Brüche, Widersprüche und Ambiguitäten im Text erst vor dem Hintergrund der Annahme relativer Sinnkonstanz und kohärenz überhaupt wahrnehmen kann. "Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe", schreibt Gadamer, "die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich ,an den Sachen' erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens." So sollen die eigenen "Vormeinungen" über den Textsinn und der eigene "Sprachgebrauch" "ausdrücklich auf ihre Legitimation", "auf Herkunft und Geltung [ge]prüft" werden. Wir sollen unsere Sinnentwürfe nicht unkontrolliert an den Text herantragen, sondern "aus dem Sprachgebrauch der Zeit bzw. des Autors unser Verständnis des Textes erst [... ] gewinnen." (272) Die Frage bleibt für Gadamer, wie man die "Differenz" zwischen verschiedenen Sprachgebräuchen angesichts der "Unbewußtheit des eigenen" ermitteln soll (272) und wie man inhaltlich "aus dem Bannkreis seiner eigenen Vormeinungen überhaupt herausfinden soll". (273) Dies werde zum einen durch das Misslingen der Bewährung dieser Vormeinungen am Text, durch die "Erfahrung des Anstoßes [... ], den wir an einem Text nehmen", Zur Kritik des Relativismus insgesamt vgl. Wendel 1989. Die Grundidee des Wahrheitsrelativismus lautet, dass "die Wahrheit von Aussagen mit dem Kontext variiert, in dem sie gemacht werden." (ebd., VII). Dieser Kontext kann bestimmt werden als "das Individuum, ein Zeitalter, die Sprache oder auch eine sozio-kulturelle Gemeinschaft". (2)

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möglich (272), zum anderen durch eine Haltung prinzipieller Offenheit gegenüber der möglichen Andersheit der Meinungen und Sinnstrukturen des Interpretandums. Man müsse bereit sein, "sich von ihm etwas sagen zu lassen", allerdings, wie an dieser Stelle noch betont wird, "ohne daß ich dieselbe [Meinung des InterpretandumsJ zu teilen brauche." (273) Das Verstehen eines Textes impliziert somit die "abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile": "Es gilt, sich der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen." (274) Es scheint also möglich, die Differenz zwischen Interpret und Interpretandum zu erkennen, indem die Vorannahmen des Interpreten und die Sinnstruktur des Interpretandums nach einem Prozess der Hypothesenbildung und -revision an sich selbst erkannt werden. Der vermeintliche Zirkel beinhaltet damit Regeln, die anzeigen, wie "reine Zirkularität bei der Erlangung des Textverständnisses vermieden werden kann."4 (Hirsch 2000, 176) Diese "reine Zirkularität", von der Eric Hirsch spricht, wäre die Projektion eigener Sinn erwartungen in den Text, um dann immer aus dem Text auf diese zurückgeworfen zu werden oder anders gesagt: die Produktion, nicht die Reproduktion der Bedeutung des Interpretandums durch den Interpreten. Ein, wenn auch marginaler, Theoriestrang im Werk Gadamers beinhaltet also einen hermeneutischen Realismus - es gibt eine zu verstehende Bedeutung des Interpretandums unabhängig vom Interpreten und seinen Vorannahmens -, der zugleich eine Differenz zwischen dieser Bedeutung und ihrer Relevanz für den Interpreten unterstellt und die Sachangemessenheit des Verstehens von der Akzeptanz des zu verstehenden Sachgehalts der Aussagen unterscheidet. Sämtliche dieser Differenzierungen werden aber im Folgenden wieder zurückgenommen. 2. Der ontologische hermeneutische Zirkel Der entscheidende Schritt über die technische Hermeneutik hinaus besteht in der Proklamation eines ,ontologischen' hermeneutischen Zirkels. Dieser ominöse Begriff bezeichnet zunächst die "Zugehörigkeit" (Gadamer 1986, 266) des Subjekts der Erkenntnis zum Erkenntnisobjekt - Gadamer spricht immer wieder von "Verbundenheit", "Verschmelzung" oder "Darinstehen". Die technische Hermeneutik begriff sich als Methodenlehre des Verstehens, der Historismus Verstehen als Methode der Geisteswissenschaften. Damit wurden Gegensatzpaare wie Natur/Geist, Erklären/Verstehen, Äußeres/Inneres, AllgemeiZum Kanon der Eigengesetzlichkeit des Interpretandums und der Dialektik von Teil und Ganzem vgl. auch Betti 1988, 21-27. Diese Dialektik kann verschiedene Ebenen beinhalten: Satz (Teil) und Text (Ganzes), Text (Teil) und Werkganzes, Werk (Teil) und Persönlichkeit, Persönlichkeit (Teil) und Kulturganzes (vgl. ebd., 27). Was genau die Objektivität von Bedeutungen meint, hat Hirsch im Anschluss an Husserl dargelegt, vgl. Hirsch 2000, 159ff. Diese Idee darf nicht mit einem semiologischen Objektivismus 11 la Derrida oder Foucault verwechselt werden. Bedeutung ist nicht unabhängig von Bewusstsein zu konzipieren und setzt den Rekurs auf ein bewusstes Subjekt voraus, vgl. instruktiv dazu Frank 1991a, 360-364 sowie Honneth 1994, 135-167.

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nes/Individuelles konstruiert und den jeweiligen Wissenschaften zugeordnet: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir". (Dilthey zit. nach Grondin 1991, 113) Dagegen betont die hermeneutische Philosophie, Verstehen sei "die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins" und zwar "vor aller Differenzierung" in theoretische und praktische Interessen. "Verstehen", meint Gadamer, "ist der ursprüngliche Seins charakter des menschlichen Lebens selber". (Gadamer 1986, 264) Was bedeutet das? Gadamers Gewährsmann Heidegger betont, dass der Mensch ("Dasein") nicht einfach ist, sondern unhintergehbar zu seinem Sein und zur Welt Stellung bezieht ("Existenz"). Der Mensch muss sich zu seinen Möglichkeiten wählend verhalten und erfährt die Welt als auf diese Möglichkeiten bezogen bedeutsam, z.B. ist ein Hammer nur ein Hammer in einem praktischen "Bewandtniszusammenhang" im Kontext eines Entwurfs und darin nicht bloßes Ding ("Vorhandenheit"), sondern praktisch bedeutsames Ding ("Zuhandenheit"). Zugleich postuliert Heidegger die "Vor-Struktur des Verstehens": "Die Auslegung von Etwas als Etwas wird wesenhaft durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff fundiert. Auslegung ist nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen. Wenn sich die [ ... ] Textinterpretation auf das beruft, was ,dasteht', so ist das, was zunächst ,dasteht', nichts anderes als die selbstverständliche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers". "Sinn ce, so Heidegger weiter, "ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird." (Heidegger 1993, 150f.) Dies impliziert, dass es keine Erfahrung ohne Verstehen (etwas als etwas in den Kontext einer Theorie stellen) gibt und dass dieses Verstehen in praktischen Weltbezügen fundiert ist: Verstehen als theoretische Leistung und "Sichverstehen" als "Sich-Auskennen in etwas" sind demnach wesensidentisch (Gadamer 1986, 264f.) und Erfahrung ist abhängig von Deutungsmustern, die im ,Leben' fundiert sind. Diese Weltbezüge seien schließlich historisch-relativ - Gadamer spricht von der "wesenhafte[n] Relativität aller geschichtlichen Welten". (265) Im interpretationistischen Sinn wird also aus der Vor-Struktur des Verstehens: ,Etwas als etwas von einem unhintergehbaren, historisch-relativen Kontext aus erfassen'. Alle Wissenschaften, auch die "Erkenntnisweise der Naturwissenschaften", sind demnach "als eine Abart [!] von Verstehen" zu begreifen, "sind aus den Leistungen der Intentionalität des universalen Lebens, also aus einer absoluten Historizität, abzuleiten." (263) Gadamer betont, dass durch die absolute Relativität der Bestimmung der Sachen hin auf je verschiedene historisch-kulturelle Formen des "In-der-Welt-Seins", Erkennen nicht willkürliches "Sichzurechtlegen der Dinge nach Wünschen, Vorurteilen oder Suggestionen" werde, sondern "Anmessung an die Sache" bleibe, die aber wiederum als historisch-kulturelle Konstruktion begriffen wird, "nicht ein factum brutum, nicht ein bloß Vorhandenes, bloß Feststellbares und Meßbares ist, sondern zuletzt selbst von der Seinsart des Daseins." (266) Die Bedeutung einer Sache werde schließlich nicht nur durch die Vor-Struktur des Interpreten (Entwurf der Sinnhypothese), sondern diese Vor-Struktur selbst durch die "Zugehörigkeit zu Traditionen" ("Geworfenheit") bestimmt (266), was explizit nicht, wie bei Max Weber, nur die ,Kulturwerte' als Wertbasis aller Wissenschaft meint (,Was wollen wir wissen, was ist für uns relevant?') und von der die

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werturteils freie Erkenntnis der derart ausgewählten Sache zu unterscheiden wäre. 6 ,,'Zugehörigkeit''', betont Gadamer dagegen, "ist nicht deshalb eine Bedingung für den ursprünglichen Sinn historischen Interesses, weil Themenwahl und Fragestellung außerwissenschaftlichen, subjektiven Motivationen unterliegen". (266) Die These vom ontologischen hermeneutischen Zirkel besagt also zunächst: Nicht nur das Erkannte ist geschichtlich, sondern auch der Erkennende selbst, und zwar indem er Teil des Erkannten ist, bevor er es objektivierend vor sich stellt. Der Interpret ist "geworfener Entwurf" (268), es gibt keine zwei Bestandteile des Verstehensprozesses, sondern Subjekt und Objekt desselben sind ein "Geschehen". (314) Es handelt sich um einen Zirkel, weil der Sinnentwurf des Interpreten, mit dem dieser an das Interpretandum herangeht, von diesem schon immer geprägt ist. Mit dem ontologischen Zirkel beansprucht Gadamer keineswegs lediglich einen Hinweis auf die banale Tatsache, dass Traditionen einen Einfluss auf die Sinnerwartungen von Interpreten ausüben können. Er will sich vielmehr von allen objektivierenden Theorien des Verstehens abgrenzen und ,Wahrheit' jenseits von Methode begründen. Feindbilder sind dabei vor allem die Aufklärung mit ihrem universellen Vernunftbegriff sowie der Historismus als Produkt einer aufklärerischen Wendung der Romantik, der alle menschlichen Produkte als Ausdrücke historisch-spezifischer Praxis begreift und somit eine universelle Historisierung des menschlichen Geschehens vollzieht. Zwar erschienen, so Gadamer, Aufklärung und Historismus prima facie als Gegensätze, da jene die Tradition an einem inhaltlichen und universellen Wahrheits anspruch messe (z.B. die religiöse Überlieferung nicht nur als Produkt des Menschen begreife, sondern zugleich ihrer logischen Widersinnigkeit und empirischen Falschheit überführen wolle), während der Historismus den inhaltlichen Wahrheits anspruch menschlicher Geistesproduktionen vollständig ausblende, jede Aussage lediglich als Kind ihrer Zeit verstehe und den Gedanken des Fortschritts fallenlasse (jede Epoche, so Ranke, "steht zu Gott in einem unmittelbaren Verhältnis" (zit. nach Jäger/Rüsen 1992,37». Doch weise der Historismus selbst aufklärerische Potentiale auf, indem er, wie diese, den Wahrheitsanspruch der Tradition zersetze. So ist ihm die Bibel nur von historischem Interesse - als menschliche Produktion einer bestimmten Epoche. Zugleich, dies nennt Gadamer die "Aporie[ ... ] des Historismus" (Gadamer 1986, 222), nehme der Historismus mit der Behauptung der universellen Geschichtlichkeit und Epochenbezogenheit aller geistigen Produktionen seine eigene geistige Produktion aus der Geschichte heraus/ Aufklärung und Historismus betreiben damit beide einen "Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung" (280): Während die Aufklärung das Vernunftwidrige in der Tradition aufweise, sei für den Historismus "der Ausnahmefall vernunftwidriger Überlieferung die allgemeine Situation geworden". (280) Vgl. zur Unterscheidung von Wertbasis und Werturteil: Albert 1966, 189f. Vgl. auch Grondin 2000,145: "Denn just gegen den aufklärerischen Stolz des geschichtlichen Bewußtseins erhebt sich Gadamers Begriff der Wirkungsgeschichte. Die Wirkungsgeschichte bildet nämlich nicht nur die Rezeptionsgeschichte, die sich erkennen und objektivieren läßt, sondern sie ist die nie völlig einsichtig werden könnende Geschichte, in der jedes Bewußtsein - und selbst das geschichtliche Bewußtsein! - steht."

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Gegen die Objektivierung aller Wissens formen als historisch-spezifische - mit dem Anspruch einer objektiven Erkenntnis der Historizität der Produkte menschlicher Tätigkeit (,zeigen, wie es wirklich gewesen'/,jede Epoche aus sich selbst heraus verstehen') -, sollen bei Gadamer die Maßstäbe der Erkenntnis der Tradition (und zwar im Sinne des Verstehens ihrer Aussagen und der Bewertung der Gültigkeit ihrer Aussagen) selbst als geschichtlich ausgewiesen werden: Er nennt dies das "wirkungsgeschichtliche Bewusstsein" (Gadamer 1993, 444): Das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit des Bewusstseins von der Geschichtlichkeit des Geschehens. "In Wahrheit", so Gadamer, "gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins." (Gadamer 1986,281) 3. Der ontologische Zirkel- traditionalistische Variante Die traditionalistische Variante des ontologischen Zirkels tritt in Gadamers Darstellung der Überlieferung als Autoritätsverhältnis sowie in seinem Begriff des Klassischen am deutlichsten zu Tage: Gadamer behauptet, es gebe in der "Aufklärung [... J das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung". ,Vorurteil' soll zunächst lediglich "ein Urteil" bezeichnen, "das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird." Es könne daher illegitime und legitime Vorurteile geben. Die Aufklärung reduziere nun diese Bedeutung auf den Begriff des "falsche[nJ",,'unbegründete[nJ Urteil[sJ". Vorurteile seien ihr zufolge "völlig auszuschalten". "Die Begründung, die methodische Sicherung erst (und nicht das sachliche Zutreffen als solches), gibt dem Urteil seine Dignität", referiert Gadamer. "Das Fehlen der Begründung läßt in den Augen der Aufklärung nicht anderen Weisen der Gültigkeit Raum, sondern bedeutet, daß das Urteil keinen in der Sache liegenden Grund hat, ,unbegründet' ist." (275) Es bleibt zunächst rätselhaft, was die ,andere Weise' der Gültigkeit eines Vorurteils sein soll. Der klassische hermeneutische Zirkel wird nun umgedeutet in die Traditionsbestimmtheit der den Blick auf die Tradition leitenden Sinnantizipationen (,Vorurteile'), während die Aufklärung dafür kritisiert wird, "keine Autorität gelten zu lassen und alles vor dem Richterstuhl der Vernunft zu entscheiden". (277) So gefährde die Bibelkritik als Historisierung der Verkündigung zum menschengemachten Dokument "ihren dogmatischen Anspruch". (276) Es geht Gadamer also nicht mehr nur um die Sachangemessenheit der eigenen Sinnantizipationen gegenüber der Bedeutung des Textes, sondern um die Frage der Sachangemessenheit der im zu deutenden Text enthaltenen Aussagen, um die "Wahrheit der Überlieferung". (277) Die Frage ist, ob eine aufklärerische Position leugnen muss, dass wir zunächst in vorgegebene und unhinterfragte Deutungsmuster hineinsozialisiert werden, oder behaupten würde, dass die kulturell bereitgestellten Sinnressourcen stets nur als Begrenzung unserer Freiheit zu deuten seien. Was sie auf jeden Fall ablehnen würde, ist Gadamers

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Ontologisierung dieses Moments zu einem "geschlossenen Stromkreis", die Depotenzierung von Selbstreflexion zum "Zerrspiegel" oder "Flackern" - Metaphern, die suggerieren, dass es sich dabei um dysfunktionale Momente der Geschichte handele. Gadamer stellt nun die Frage, worin "die Legitimation von Vorurteilen ihren Grund finden" soll (281) und zwar, wenn man es ablehne, "die Unterwerfung aller Autorität unter die Vernunft" zu postulieren. Denn es gebe "berechtigte, für die Erkenntnis produktive Vorurteile" von denen er die illegitime Form der Autorität unterscheidet, in der "die Geltung der Autorität an die Stelle des eigenen Urteils tritt" - dieser Begriff der Autorität wird der Aufklärung als ihr einziger unterstellt, womit sie den Fehler begehe, "schlechthin alle Autorität" (283) als "blinde[nJ Gehorsam" (284) zu diffamieren und nicht zu berücksichtigen, "daß sie auch eine Wahrheitsquelle sein kann". (283) Diese Behauptung ist ideengeschichtlich einigermaßen abenteuerliehs und führt zudem zur weiteren Frage, was, wenn nicht die Vernunft, die Wahrheit der Autorität ausweisen soll? Die wahre Autorität, so Gadamer, bestehe in der auf "Freiheit" und "Erkenntnis" beruhenden "Anerkennung" der Überlegenheit einer Instanz "an Urteil und Einsicht". Erst daraus folge die Befehlsgewalt dieser Instanz. Nimmt man die Beispiele von "Erzieher", "Vorgesetzte[mJ" und "Fachmann" (285), so ist dies zunächst einsichtig, zumal Gadamer betont, dass der Autorität unterstellt wird, ihre Aussagen und Anweisungen seien "nicht unvernünftige Willkür", sondern könnten "im Prinzip eingesehen werden". (285) Autorität als "Eingenommenheit für die Person" ist hier ein Vertrauensvorschuss, der anzeigt, dass der die Autorität Anerkennende indirekt "für eine Sache" eingenommen ist. Diese Eingenommenheit für die Sache könne aber auch "auf andere Weise, z.B. durch gute Gründe, die die Vernunft geltend macht, zustande kommen". (285) Bereits Gadamers aufklärerisch anmutende Aussagen zur Quelle der Anerkennung der Autorität sind allerdings problematisch, weil sie Herrschaft und Gewalt, die hinter vielen Autoritätsverhältnissen stecken, nicht thematisieren. Hier hat Habermas' Diktum, Gadamers "Objektivität eines Überlieferungsgeschehens, das aus symbolischem Sinn gemacht ist, ist nicht objektiv genug", seine Berechtigung. (Habermas 1985, 307) 9 Zudem ignoriert Gadamer, dass Autoritätsverhältnisse oft gerade wegen ihrer Irrationalität von den ihnen Unterworfenen bejaht werden. So sind Autoritäten, die sich auf Offenbarungs erlebnisse berufen und direkt von Gott herVgl. bereits die rationalen Konstruktionsversuche von staatlicher Autorität aus dem Eigeninteresse der Individuen bei Hobbes oder die Unterscheidung von irrationaler Autorität und Sachautorität in der Kritischen Theorie, vgl. zu letzterem Fromm 2000, 123f. Zur Unbrauchbarkeit des Sprachparadigmas für eine Theorie der Geschichte, vgl. auch György Markus 1980, 194ff. Markus betont vier Punkte: 1) Sprachentwicklung könne nicht als "Progression", sondern lediglich als "Wandel" gefasst werden. Das Sprachparadigma schließe damit den Fortschrittsbegriff aus der Sozialtheorie aus (194).2) Die Verletzung der Sprachregeln sei nicht als Kritik, sondern lediglich als "Unsinn[ ... ]" (194) aufzufassen. Das Sprachparadigma schließe damit einen Begriff der Sozialkritik aus. 3) Die Individuen beziehen sich auf das Sprachsystem tendenziell als auf geteilte Regeln, an denen sie gleichermaßen partizipieren können. Das Sprachparadigma schließe damit den Begriff der Herrschaft und Ausbeutung aus der Sozialtheorie aus. 4) Es hypostasiere schließlich die Sprache zum synthetisierenden Moment menschlicher Lebensformen, es könne somit Konflikte und historische Dynamiken, die mit der Sphäre der Arbeit verbunden sind, nicht erklären.

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leiten ebenso wie weniger unmittelbar religiöse Formen eines numinosen Charismas!O keineswegs solche, von denen die Unterworfenen glauben, dass sie "im Prinzip eingesehen werden" könnten (Gadamer 1986, 285) - credo quia absurdum est. Es handelt sich also um eine Verharmlosung von Autorität, wenn Gadamer behauptet, dass "die Anerkennung der Autorität immer [!] mit dem Gedanken verbunden [ist], daß das, was die Autorität sagt, [ ... ] im Prinzip eingesehen werden kann." Der für Gadamer typische unscharfe Argumentationsstil darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm tatsächlich um die Apologie eines ganz und gar irrationalistischen Begriffs von Autorität geht, was oben nur verdeckt werden konnte, indem von ihm zu leeren Worthülsen degradierte Begriffe wie Vernunft und Freiheit verwendet wurden. Es geht, wie schon bei Joseph de Maistre und anderen Radikalkonservativen, um ein Plädoyer für fraglose Unterwerfung!!: Die Tradition, so Gadamer, sei das "durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte", habe eine "namenlos gewordene Autorität". (285) Gadamer arbeitet sich hier langsam von einem scheinbar rationalen Begriff der Autorität zu einem irrationalen vor: So ist es eine korrekte Beschreibung, dass "unser geschichtliches Sein dadurch bestimmt" sei, "daß stets auch Autorität des Überkommenen - und nicht nur das aus Gründen Einsichtige - über unser Handeln und Verhalten Gewalt hat." Es ist auch richtig, dass die Mündigkeit des Erwachsenen, bei der "eigene Einsicht und Entscheidung" an die Stelle der elterlichen Autorität tritt, nicht bedeutet, "daß er in dem Sinn Herr seiner selbst wird, daß er von allem Herkommen und aller Überlieferung frei würde." (285) Die Frage ist, wer das behauptet? Hier wird der Strohmann eines freischwebenden Ichs aufgebaut, der dem des dezisionistischen ,atomistischen' Selbsts in der kommunitaristischen Liberalismuskritik sehr ähnlich sieht.!2 Das Ziel dieser Konstruktion eines Vernunft-"Extremismus" (285) ist es, einen anderen Extremismus dagegen zu setzen, nämlich zu postulieren, Tradition gelte per definitionem auch jenseits von Vernunft gründen: "Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen:", sagt Gadamer, "ohne Begründung zu gelten." Es gehe damit um eine "Berichtigung der Aufklärung, daß außerhalb der Vernunftgründe [!] auch Tradition ein Recht [!J behält und in weitem Maße unsere Einrichtungen und Verhalten bestimmt." (285) Hier finden wir den klassisch konservativen naturalistischen Fehlschluss wieder, der die Tatsache, dass die Menschen bisher nicht unter selbstbestimmten Bedingungen gelebt haben, erstens zur conditio humana stilisiert, zweitens davon auf das Seinsollen dieser Heteronomie schließt ("ein Recht behält") und schließlich der Aufklärung attestiert, "abstrakt und revolutionär" (285) zu sein. 13 Dabei werden Emergenz (soziale Strukturen überschreiten stets das Individuum) und Entfremdung (soziale Verhältnisse können nicht rational strukturiert werden) verwechselt. Zudem wird von der Tatsache, dass die Identität und Bewertungskriterien der Menschen immer auch gesellschaftlich geprägt werden, erstens auf die absolute, reflexiv 10 11 12

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Zum Begriff vgl. Priester: 2012, 73-77. Vgl. de Maistre 2000, 47. Vgl. dazu instruktiv: Kymlicka 1997, 176-184. Vgl. de Maistre 2000, 8,16.

nicht zu überschreitende gesellschaftliche Prägung geschlossen und zweitens unterstellt, es müsse eine ganz bestimmte Überlieferung sein, die den Menschen prägt und aus deren "geschlossenem Stromkreis" er nicht ausbrechen könne. Bei Gadamer ist zudem nicht von Traditionen im Plural die Rede, sondern nur von der Tradition, in der Widersprüche und Interessengegensätze keine Rolle spielen. Wie Will Kymlicka gezeigt hat, ist die Situiertheit in einer bestimmten Tradition aber nicht alternativlos: Das Nachdenken über theoretische und praktische Fragen ist nicht mit der Erkenntnis gegebener Situiertheit in einer Tradition abgeschlossen, Erkennen ist kein bloßes Anerkennen des Überlieferten. Ein rationaler Begriff von Autorität und Überlieferung postuliert demnach kein Ich ohne Motive, sondern eines mit revidierbaren Motiven, nicht die völlige Abwesenheit von Tradition und Vorurteilen, sondern die Veränderbarkeit derselben im Lichte der Vernunft und alternativer sinnlicher Bestimmungsgründe. 14 Dass Gadamer betont, "Bewahrung [der Tradition]" sei "eine Tat der Vernunft" (286), Anerkennung der Autorität ein Akt der Freiheit und kein bloßes Wachstum oder Zwang, zeugt zunächst von leeren Vernunft- und Freiheitsbegriffen, die lediglich eine intentionale Bezugnahme auf überlieferte Gehalte und deren willentliche Fortsetzung bezeichnen. Mehrere Aspekte sind also kritikwürdig: 1) Die benannten Verhältnisse sind entweder transitorische (Ziel des Lehrer-Schüler-Verhältnisses ist die Aufhebung der Asymmetrie) oder, falls dauerhaft, insgesamt eben nicht, wie Gadamer postuliert, "außerhalb der Vernunftgründe" geltend, sondern in letzter Instanz nur rational begründete Überlegenheitsbeziehungen: Der Vorgesetzte, der Lehrer, der Fachmann können sich dann nur auf ihre Sachautorität berufen, die in der Wahrheit und Richtigkeit ihrer Erkenntnisse und daraus abgeleiteten Normen bestehen. Ihre Autorität beruht zwar faktisch zunächst auf einem Vertrauensvorschuss, kann sich aber als trügerisch und angemaßt erweisen - und zwar ausschließlich anhand von Vernunftgründen. 2) Dass Autorität u.a. deshalb wahr sei, weil sie nicht autoritär auftreten müsse, sondern freiwillig anerkannt sei ("Wahre Autorität braucht nicht autoritär aufzutreten" (284)), ist ebenfalls fragwürdig, denn auch Ideologie zeichnet sich dadurch aus, dass (rational nicht begründbare, den Untergebenen schadende) Machtasymmetrien ohne manifesten Zwang anerkannt werden. 3) Es ist bezeichnend, dass Gadamer ganz nebenbei und offenbar zustimmend erwähnt: "Die Rolle der Institutionen hat vor allem A. Gehlen herausgearbeitet." (284) Dies passt zu Gadamers Traditionalismus, der die Vernunft gründe letztlich doch als Geltungsgrund der Tradition ausschalten will, ist es doch Gehlen, der postuliert, man solle sich, um "Würde" zu erlangen, fraglos "von den Institutionen konsumieren [... ] lassen." (Gehlen 1986, 75) Zwar kritisiert Gadamer die Romantik in ihrer Naturalisierung der Tradition, die diese der Vernunft und Freiheit abstrakt gegenüberstelle. Aber er tut das nur, um darauf hinzuweisen, dass Tradition "der Bejahung, der Ergreifung und der Pflege" bedürfe: Tradition bedeute "Bewahrung", "Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft". (Gadamer 1986, 286) Hier wird die richtige Einsicht, dass das Fortwirken der Tradition nicht einfach als Naturprozess und "dank der Beharrungskraft dessen, was einmal da ist" (286) verstanden werden kann, in die fal14

Vgl. Kymlicka 1997, 18lf.

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sche Identifikation von bewusster Fortsetzung mit vernünftiger Fortsetzung überführt. Nicht jede Bewahrung aber ist vernünftige Bewahrung auch wenn sie stets bewusstseinsvermittelt ist - noch der größte Unfug und Aberglaube hat sich Jahrtausende lang tradiert. Diese Hermeneutik ist, analog zur umgekehrten Psychoanalyse faschistischer Propaganda, umgekehrter Hegelianismus, der "in aller Subjektivität die sie bestimmende Substanzialität aufweist" (307) - und zwar nicht in aufklärerischer Intention, sondern in fatalistischer Affirmation der Entfremdung. Im Folgenden kommt Gadamer wieder auf die Frage zurück, was die Behauptung der Legitimität von Vorurteilen für die Hermeneutik bedeutet: Er meint, die "geisteswissenschaftliche Forschung" könne sich "nicht in einen schlechthinnigen Gegensatz" zum faktischen Vergangenheitsverhältnis der Menschen stellen, das nicht in "Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten" bestehe. "Vielmehr stehen wir ständig in Überlieferung, und dieses Darinstehen ist kein vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre - es ist immer schon ein Eigenes". (286) Das alltägliche Verhältnis zur Tradition sei nicht kritische Objektivierung und Verfremdung, sondern "unbefangenste Anverwandlung". (287) Warum die Wissenschaft sich nicht von diesem Verhalten abgrenzen darf, bleibt im Dunkeln. Man könnte doch umgekehrt ihren Sinn darin sehen, auf kritische Distanz zur Tradition zu gehen - sei es im Sinne der Geltungsprüfung ihrer Aussagen, sei es im Sinne der historisierenden Wahrnehmung der Differenz von Vergangenheit und Gegenwart. Es ist doch Gadamer selbst, der in seinen dem klassischen Methodenideal verpflichteten Ausführungen genau diese Kontrolle der eigenen Sinnentwürfe und diese Offenheit für die Andersheit des Interpretandums einfordert. Im Begriff des Klassischen kommt Gadamers Konservatismus am stärksten zur Geltung: Das Klassische ist ihm zufolge weder ein deskriptiver und relativer historischer Epochen- oder Stilbegriff, noch "ein übergeschichtlicher Wert gedanke", sondern bezeichnet die "Bewahrung" und "Bewährung" der Tradition: Das Klassische "ist herausgehoben aus der Differenz der wechselnden Zeit und ihres wandelbaren Geschmacks" und hat eine "von allen Zeitumständen unabhängige Bedeutung" (293) - es ist Inbegriff der Geltungsmacht der Tradition. Im Klassischen "gipfelt [... ] ein allgemeiner Charakter des geschichtlichen Seins, Bewahrung im Ruin der Zeit zu sein", unvergangene Vergangenheit, die ihre eigene Erkenntnis bestimmt. Gadamer hypostasiert das Klassische mit Hegel gar zum ,,'sich selber Deutende[n]"'. (294) Das heißt, es ist das den Sinnhorizont des Interpreten bestimmende Interpretandum, durch das das Interpretandum wahrgenommen wird. "Was klassisch ist, ist nicht erst der Überwindung des historischen Abstandes bedürftig denn es vollzieht selber in beständiger Vermittlung diese Überwindung." (295) Verstehen wird durch den Begriff des Klassischen damit als "Mitzugehörigkeit" des Interpreten zur Welt des Interpretandums i.S. eines "Vorbild[es]" (294) sowie der "Mitzugehörigkeit des Werkes zu unserer Welt" (295) erkennbar. Denn "solche geschichtliche Vermittlung der Vergangenheit mit der Gegenwart, wie sie den Begriff des Klassischen prägt, [liegt] allem historischen Verhalten als wirksames Substrat zugrunde." (295) Die Gemeinsamkeit, die dem Historismus zufolge das Verstehen

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der Vergangenheit ermöglichte, der psychologische Gleichklang der Menschennatur, der hinter den Produkten die Intention des Produzierenden erraten ließ, I; wird nun selbst historisiert: ,,[N]icht nur im Geschehen, sondern ebenso noch im Verstehen geschichtliche Bewegtheit zu erkennen" lautet die Formel der Potenzierung des historischen Bewusstseins durch die hermeneutische Philosophie. Verstehen sei somit "nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrlicken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln." (295) "Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis des Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet." (298) Wenn Gadamer "das Klassische" (292), die "Verborgenheit des Beharrenden" (4) betont, die "Überschätzung des historischen Wandels" (Gadamer 1993, 447) moniert und das Verstehen der Tradition aus der Tradition heraus postuliert, scheint das Gewicht, mit dem er die Tradition ausstattet, aber gerade den Begriff der Geschichtlichkeit zu eliminieren, den er stets bemüht. So artikuliert Gunter Scholtz den "Zweifel, ob denn in der Heidegger-Schule wirklich mit der Geschichtlichkeit des Daseins und des Verstehens und das heißt mit dem Wandel der menschlichen Welt ganz ernst gemacht werden konnte", weil hier ,,'Geschichtlichkeit' [... ] eher ,Traditions gebundenheit' als die Akzeptanz von radikalem Geschichtswandel" bedeute. (Scholtz 1997, 204) Gadamer versuche so, den Relativismus einzudämmen, der die Konsequenz seiner Totalhistorisierung allen Verstehens sein müsse. 16 Auch Terry Eagleton meint, dass Gadamer "sich selbst und die Literatur den Stürmen der Geschichte gleichmütig überlassen" kann, weil "in stummer Umarmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [... ] eine einigende Kraft wirkt, ,Tradition' genannt. [... ] Es beunruhigt Gadamer nicht, daß unsere stillschweigenden kulturellen Vorannahmen [ ... ] die Rezeption des [... ] Werkes der Vergangenheit mit Vorurteilen belasten könnten, da wir dieses ,Vor-Verständnis' aus der Tradition selbst, von der das [... ] Werk ein Teil ist, erhalten haben." (Eagleton 1997a, 38) So werde Geschichte für Gadamer ein sinnvolles Gespräch in einem "Club der Gleichgesinnten" (39), ohne Kämpfe, Widersprüche, radikale Brüche, aus der Tradition Ausgeschlossene oder alternative Überlieferungen. Doch nicht nur versucht Gadamer durch die Konstruktion einer monolithischen Tradition die eigene Diagnose der unendlichen geschichtlichen Bewegtheit des Verstehens stillzustellen, er dementiert sogar die Gültigkeit seiner eigenen Theorie durch die Selbstausnahme aus der geschichtlichen Bewegtheit: Alles Verstehen unterliege dem (hier noch traditionalistisch entschärften) geschichtlichen Wandel, nur das Verstehen des Verstehens sei überhistorisch gültig. So heißt es unmissverständlich: "Wenn das Prinzip der Wirkungsgeschichte", also das Bewusstsein von der geschichtlichen Bedingtheit des Bewusstseins der geschichtlichen Bedingtheit des Geschehens, "als ein allgemeines Strukturmoment des Verstehens geltend gemacht wird, so schließt diese These gewiß keine historische Bedingtheit ein, sondern will schlechthin gelten." (Gadamer 1993, 443) Die Selbstausnahme wird im 15 16

Vgl. Humboldt 1969, 596f. Vgl. Scholtz 1993, 141.

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Vergleich zum Historismus nur eine Stufe höher angesetzt. Warum ausgerechnet dieses Wissen nicht wiederum historisch relativ gültig sein soll, bleibt unerfindlich. Die Totalrelativierung des Wissens wird hier willkürlich gestoppt, ohne auf den unteren Wissens-Ebenen die Möglichkeit objektiver Erkenntnis zuzugestehen. Die vermeintliche Erkenntnis der geschichtlichen Bewegtheit des Wissens von der geschichtlichen Bewegtheit des Geschehens, bedarf, um überhaupt formuliert werden zu können, genau der objektiven Erkenntnis von Deutungsmustern (in diesem Falle des Deutungsmusters der geschichtlichen Bewegtheit des Geschehens) und ihrer Veränderung, also ihrer geschichtlichen Bewegtheit, die sie dem Historismus (als dem Anspruch nach objektives Wissen um die geschichtliche Bewegtheit des Geschehens menschlicher Praktiken), abspricht bzw. als Aporie vorhält. l l 4. Der ontologische Zirkel- relativistische Variante Während die traditionalistische Deutung des ontologischen Zirkels davon ausgeht, dass der Interpret derart von der Überlieferung geprägt ist, dass von subjektiven Interpretationsleistungen kaum noch gesprochen werden kann, der Interpret vielmehr vom Interpretandum aufgesogen wird, bietet die relativistische Variante das genaue Gegenteil: Hier geht das Interpretandum vollständig im Interpreten, bzw. dessen Horizont auf: Die ,,Auflösung des Gegensatzes [. ..} zwischen Geschichte und Wissen von ihr" ist das Programm Gadamers: Das "Darinstehen" ist der Modus allen, auch des wissenschaftlichen Verstehens, als Vertrautheit mit der Sache und Anerkennung ihrer Geltung. Objektivierung und Distanzierung sind nachträgliche, "abkünftige" Modi des Verstehens. Bedingung auch des bloß "historischen Interess [es]" am Gegenstand ist für Gadamer, wie wir sahen, sich von diesem "angesprochen zu sehen". Hier wird einerseits auf die wissenschafts externen Relevanzkriterien der Auswahl eines Forschungsgegenstandes (Wertbasis) abgestellt, aber in einem weiteren Schritt "die eigentliche Vollendung der historischen Aufgabe" darin gesehen, "die Bedeutung des Erforschten neu zu bestimmen". (Gadamer 1986, 287) Dass die Wahrnehmung des Gegenstands als solchen historisch ist, durch Vorurteile geprägt, erhält nun eine neue Bedeutung. "Eine jede Zeit", meint Gadamer nämlich, "wird einen überlieferten Text auf ihre Weise verstehen müssen, denn er gehört in das Ganze der Überlieferung, an der sie ein sachliches Interesse nimmt und in der sie sich selbst zu verstehen sucht. Der wirkliche Sinn eines Textes [... ] ist immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt und damit durch das Ganze des objektiven Geschichtsganges". Daher sei "Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten" (301) und man könne nicht von einem "Besserverstehen" reden, sondern lediglich davon, "daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht" (302), bzw. "daß [ ... ] ein Text nur verstanden wird, wenn er jeweils anders verstanden wird." (314) 18 Das ist die Grundthese des hermeneutischen 17 18

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Vgl. zur Kritik: Scholtz 1997, 203f. Dieser antirealistische Gedanke des Anders-Verstehens, der Pluralisierung und ständigen Verschiebung des Sinns sowie der prinzipiellen Opazität des ursprünglichen Interpretandums hat seine Entsprechung in den postmodernen Bedeutungstheorien von Deleuze und Derrida,

Antirealismus: Der Interpret versteht das Interpretandum immer relativ auf seinen historischen Horizont und stets anders als es ist oder vorher war. Aus dem traditionalistischen Gedanken der Überlieferung als Gespräch unter Gleichgesinnten wird nun die Idee, es könne dabei um nicht mehr gehen, "als dem Gespräch neue W endungen zu geben". (Rorty 1994, 410) Ein Verständnis des Interpretandums im nichtkonstruktivistischen Sinne, ein Verstehen der Bedeutung, die von der Bedeutsamkeit für uns zu trennen wäre,19 ist so nicht mehr möglich, ebenso wenig wie die von Gadamer anfangs noch postulierte Annäherung unserer Sinnhypothesen an den Sinn des Interpretandums. Jeder "Versöhnungsversuch" zwischen technischer Hermeneutik und relativistischer hermeneutischer Philosophie ist, so stellt Gunter Scholtz fest, "als gescheitert zu betrachten". (Scholtz 1993, 106) Den historischen Relativismus und Antirealismus Gadamers bringt auch Terry Eagleton unkritisch, aber treffend, auf den Punkt: "J ede Interpretation ist situationsgebunden, von den historisch relativen Kriterien einer bestimmten Kultur geprägt und begrenzt; es gibt keine Möglichkeit, den literarischen Text ,an sich' zu erkennen." (Eagleton 1997a, 37) Der hermeneutische Antirealismus, der das zu verstehende Objekt, das Interpretandum, das selbst Produkt menschlicher Praxis ist, aber eben nicht derjenigen des Interpreten, in die Konstruktionsleistung des Interpreten auflöst, hat stets einen generellen Antirealismus im Schlepptau, weil ja die Welt insgesamt nur durch die Deutungsmuster des Interpreten hindurch wahrgenommen werde. Der antirealistische Fehlschluss par excellence besteht im Schluss von der begrifflichen Vermittlung der Erkenntnis der Welt auf den ontologischen Status der zu erkennenden Welt und lautet dann: "Vielmehr ist, was die Welt selbst ist, nichts von den Ansichten, in denen sie sich darbietet, Verschiedenes." (Gadamer 1986, 451) Gadamer meint nicht, das muss hier explizit festgehalten werden, dass Verstehen zunächst die Bedeutung eines Textes versteht, um ihn dann auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu befragen und schließlich diesen auf die jeweilige eigene historische Situation anzuwenden. Dies würde eine Trennung von Bedeutung und Bedeutsamkeit, die Möglichkeit objektiver Interpretation, voraussetzen. Er nennt es vielmehr eine "naive Voraussetzung des Historismus", dass dieser die Historizität der Gegenstände zu erkennen vermag, zugleich aber die Historizität des eigenen Verstehens der Gegenstände negiere, indem er unterstelle, dass man "sich in den Geist der Zeit versetzen, daß man in deren Begriffen und Vorstellungen denken solle und nicht in seinen eigenen und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringen könne." (302) Dagegen wird behauptet, dass durch den Zeitenabstand "stets neue Quellen des Verständnisses" erwachsen, "die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren". (303) Dies müsste nicht antirealistisch verstanden werden, Gadamer tut das

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die Wiederholung von Begriffen stets als Veränderung und Sinnverschiebung begreifen (vgl. Zima 2016a, 182-188). Gadamer selbst versucht diese Gemeinsamkeiten aber immer wieder mit seinem Konservatismus zu überdecken, so wenn er z.B. gegen die ,temporalis tische' Radikalisierung Heideggerscher Motive bei Derrida die "Beharrungs kraft gefügter Einheiten des Lebens" geltend macht. (Gadamer 1993, 368) Auf dieser grundlegenden Unterscheidung beharren Hirsch 2000, 158f. und Scholtz 1993, 106.

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aber. Er behauptet, dass der Interpret niemals zum Interpretandum vordringen könne und lediglich seine eigenen Vorannahmen in dasselbe projiziere, also in seinen Vorurteilen "eingeschlossen bleibe[ ... ]", wie Zygmunt Bauman zustimmend kommentiert. (Bauman 1995, 162) So beschreibe Heidegger "den Zirkel so, daß das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt". (Gadamer 1986, 298) Man kann als paradoxe Konsequenz festhalten: Verstehen ist für Gadamer stets, wenn es überhaupt geschieht, Prägung durch das Interpretandum und Übereinstimmen mit dem Wahrheitsanspruch des Tradierten, welche man aber immer im Lichte der eigenen, zeitbedingten Vorurteile anders versteht als sie wirklich sind. Er postuliert damit eine logisch unmögliche Gleichzeitigkeit von "schlechthinnige[m] Vorrang" (336) des Interpretandums und Überlegenheit des Interpreten. Im antirealistischen Furor Gadamers wird sogar geleugnet, dass es überhaupt einen von der Deutung des Interpreten zu unterscheidenden Gegenstand des Verstehens gebe. Man dürfe nicht "dem Phantom eines historischen Objektes nachjagen, das Gegenstand fortschreitender Forschung ist, sondern in dem Objekt das Andere des Eigenen und das Eine wie das Andere erkennen lernen. Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand, sondern dieses Verhältnis dieses Einen und Anderen". (305) Der "Dogmatismus eines ,Sinnes an sich'" müsse durchschaut, die "Aneignung" des Interpretandums als "neue Schöpfung" von Sinn begriffen werden (477) - der Text regrediert "zum bloßen Stimulus für die Willkür der Interpretationen". (Eco 1999, 39) Wirkungs geschichte bedeutet also zunächst, dass Verstehen eine Produktion von Bedeutung seitens des Interpreten ist, die sich auf bereits gedeutete Deutungen stützt, die sie aber als solche niemals verstehend einholen kann. Die Rede von "Substanzialität", wo sie einmal angebracht wäre, nämlich als Hinweis auf eine nicht vom Interpreten konstruierte Bedeutung des Interpretandums, fehlt hier bezeichnenderweise. Nicht gemeint ist hier, dass geschichtliche Ereignisse im Lichte späterer Ereignisse eine neue Bedeutung gewinnen können, weil sie Bestandteil nun erweiterter Kausalketten des historischen Prozesses sind. Das wäre alles objektiv erkennbar und setzte wiederum voraus, objektiv zu erkennen, welche Bedeutung das Ereignis damals unabhängig vom Bezug auf die Gegenwart besaß, sonst könnte man den neuen Bedeutungsgehalt gar nicht eruieren. So wie Gadamer Interpret und Interpretandum, Geschichte und Wissen von ihr, Deutung und Anwendung in ein einziges Geschehen auflösen will, so löst das Prinzip der Wirkungs geschichte die Differenz zwischen Werkbedeutung und Werkrezeption auf: Die historische Forschung unterliegt demnach nicht nur der die Fragestellung und Wahrnehmung des Forschungsobjekts selbst vorgängig bestimmenden Wirkungsgeschichte. Das Wirken des Werkes und seine konstruktionsperspektivischen Deutungen im Laufe der Geschichte, werden für Gadamer auch zum unabtrennbaren Teil seiner Bedeutung. Die Interpetation erreicht angeblich nie die Bedeutung des Interpretandums, sondern nur die Interpretationen der Interpretationen usw. des Interpretandums. Hans Krämer konstatiert treffend, das historische "Ansieh" werde durch das relativistische Prinzip der Wirkungs geschichte eskamotiert, die Wirkungs geschichte damit zum "undurchlässigen Raum[ ... ] der Interpre-

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tativität". (Krämer 2007, 34f.) Der antirealistische Hermeneutiker, so Krämer weiter, schließt unzulässig "aus gegebenen Interpretationen auf ein an sich ungreifbares Substrat". (16) Die Berücksichtigung der Wirkungs geschichte ist also nur scheinbar aufklärerisch, denn sie ist ja per definitionem uneinlösbar, weil es keinen direkten Zugang zu Interpretanden geben könne (also auch nicht zum eigenen Deutungsmuster als vom Interpreten verwendetes Interpretament, das selbstreflexiv zum Interpretandum werden müsste). Wirkungsgeschichte bedeutet Gadamer zufolge denn auch In-der-hermeneutischen-Situation-Stehen: "Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann." (Gadamer 1986, 307) Die Banalität, dass ein "wahrhaft historisches Bewußtsein [... ] die eigene Gegenwart immer mit [!]" sieht (310), dass "Abhebung [... ] das, wovon etwas sich abhebt, mit sichtbar sein" lässt (311), ist nicht identisch mit der These, Verstehen sei immer anders Verstehen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Gadamer wird plötzlich wieder korrespondenztheoretisch, wenn er meint, es sei eine "beständige Aufgabe, die voreilige Angleichung der Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen zu hemmen. Nur dann wird man die Überlieferung so hören, wie sie sich in ihrem eigenen anderen Sinne hörbar zu machen vermag." (310) Sollten bis hierher aufgrund der notorischen 180-Grad-Wendungen und Unklarheiten der Gadamerschen Ausführungen noch Zweifel am antirealistischen Charakter der hermeneutischen Philosophie bestehen, so werden diese durch seine These einer untrennbaren Einheit von Verstehen, Auslegen und Anwenden ausgeräumt. Gadamer betont, es sei die ,,Anwendung, die in allem [!] Verstehen gelegen ist", die das "henneneutische[... } Grundproblem[. .. j" (312) darstelle. Die klassische Trias von "subtilitas intelligendi" (Verstehen), "subtilitats explicandi" (Auslegen) und "mbtilitats applicandi" (Anwenden) soll als Einheit "innere[r] Strukturmomente[ ... ] des Verstehens" (312) erwiesen werden. Verstehen, Auslegen und Anwenden seien dabei als Momente "in einem einheitlichen Vorgang" (313) zu begreifen. Romantik und Historismus hingegen hätten die Anwendung aus dem "vollen Begriff der Hermeneutik" ausgeschlossen: "Die erbauliche Anwendung, die etwa der Heiligen Schrift in der christlichen Verkündigung und Predigt zuteil wird, schien etwas ganz anderes als das historische und theologische Verständnis derselben." Dagegen liege "im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten". Der Sinn sei der "konkreten Situation anzupassen, in die hinein er spricht". (313) Dieser Kurzschluss von intellektuellem Verstehen und lebens praktischer Anwendung resultiert in einem existentialistischen Subjektivismus mit einer situativen Semantik, auch wenn das ,Subjekt' als Epoche, Kultur oder ,Horizont' eingeführt wird: Die Abgrenzung von jeglicher Objektivierung führt schließlich zu der Behauptung, dass "der Wissende [... ] nicht einem Sachverhalt gegenüber[steht], den er nur feststellt, sondern er ist von dem, was er erkennt, unmittelbar betroffen. Es ist etwas, was er zu tun hat". (319) Die Bedeutung der Welt soll restlos in die Bedeutsamkeit fürs Subjekt in seiner je konkreten

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Situation aufgelöst werden, damit kann auch nur noch das Subjekt über die Bedeutung befinden, ein ,nicht betroffener' Dritter hat nicht mitzureden. 20 Gadamer fordert also die "Anerkennung der Applikation als eines integrierenden Moments allen Verstehens" (314) und hebt damit die Disziplingrenzen zwischen historischen und dogmatischen Wissenschaften auf: Neben der philologischen gebe es noch die theologische und die juristische Hermeneutik, die erst zusammen "den vollen Begriff der Hermeneutik" (313) ausmachten. Verstehen ist demnach immer Applikation auf die konkrete Situation des Interpreten, denn die "Selbigkeit der gemeinsamen Sache" müsse "in der wechselnden Situation" "neu und anders verstanden werden". (314) Dabei ist nicht nur die Übersetzung in seinen Sprachgebrauch gemeint, sondern zugleich das Geltendmachen eines Allgemeinen in einem besonderen Fall (317), analog zur Subsumtion eines Sachverhalts unter einen Tatbestand oder zur konkretisierenden Interpretation einer allgemeinen Norm: "Ein Gesetz", meint Gadamer, "will nicht historisch verstanden werden, sondern soll sich in seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkretisieren." (314) Allerdings ist diese erste Charakterisierung irreführend, denn Gadamer meint nicht eine schlichte Anwendung des Allgemeinen, sondern dessen Veränderung durch die Anwendung. Erklärtermaßen wird so der Rechtshistoriker zum Juristen, der Religionswissenschaftler zum Theologen, der Hermeneutiker zum Moralphilosophen und Aneignung des Textes wird im Sinne einer Überlegenheit des Interpretandums zur "Dienstform[ ... ]" (316), zur Unterordnung unter den als geltend unterstellten Sinn desselben: "Die Hermeneutik [ ... ] ordnet sich selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes unter. Dafür aber ist die juristische und die theologische Hermeneutik das wahre Vorbild." (316)21 Dieser ,Dienst' am Werk ist aber ein Bärendienst, denn laut Gadamer "schließt [das] [... ] ein, daß der Text, [... ] dem Anspruch, den der Text erhebt, entsprechend, in jedem Augenblick, d.h. in jeder konkreten Situation, neu und anders verstanden werden" (314), den "Forderungen, die von der Situation ausgehen," genügen muss (318), ja "durch den Stillwillen der eigenen Gegenwart begrenzt" wird. (315) Der hermeneutische Relativismus wird paradoxerweise als Konsequenz des hermeneutischen Traditionalismus verkauft. Damit mutet Gadamer "dem Selbstverständnis der modernen Wissenschaft" in der Tat "etwas Ungewohntes" (314) zu, nämlich die Aufhebung der Trennung "zwischen kognitiver und normativer Funktion" des Verstehens, also zwischen Verstehen und Handlungsanleitung durch das Verstandene, zwischen Deskription und Normativität. Er behauptet, "daß die [ ... ] Unterscheidung kognitiver, normativer und reproduktiver Auslegung keine grundsätzliche Bedeutung hat, sondern ein einheitliches Phänomen umschreibt." (316)22 Gadamers ,Beweisführung' dafür sieht so aus, dass er zunächst zu Recht behauptet, sowohl in der Theologie als auch der J urisprudenz seien kognitive und normative Momente anzutreffen. Das heißt aber doch nur, dass sie in einer und derselben Disziplin situiert oder von einem und dem20

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So auch bei earl 5chmitt 2002, 27. Vgl. auch Gadamer 1971, 301. Er spricht dort von der "konstitutive[n] Unterlegenheit dessen, der versteht". Zu dieser Unterscheidung vgl. Betti 1988, 64ff.

selben Juristen/Theologen ausgeübt werden. Es heißt hingegen nicht, dass, wie Gadamer behauptet, "Erkenntnis des Sinnes des Rechtstextes und Anwendung desselben auf den konkreten Rechtsfall nicht zwei getrennte Akte sind, sondern ein einheitlicher Vorgang." (315) Das von Gadamer künstlich zum Problem stilisierte Vorhandensein zweier theoretischer Leistungen (Verstehen und Anwenden) in einer und derselben Wissenschaft, lasse sich nicht dadurch lösen, "daß man die wissenschaftliche Erkenntnis von nachfolgender erbaulicher Anwendung unterscheidet." (315) Die Vorbildfunktion der juristischen Hermeneutik wird anhand des Aristotelischen Begriffs der Billigkeit erläutert: Der Gegenstand der Geisteswissenschaft, meint Gadamer, sei ein sittlicher, nämlich "der Mensch und was er von sich weiß. Er weiß sich aber als ein Handelnder, und das Wissen, das er dergestalt von sich hat, will nicht feststellen, was ist". (319) Im Gegensatz zum technischen Wissen, das in der Anwendung Kompromisse mit dem Material eingehen müsse (Abstriche machen), sei, so die antirealistische Annahme, das sittliche Wissen nicht vor seiner Anwendung gegeben. Recht existierte nur als Billigkeit: "Indem er am Gesetze nachläßt, macht er also nicht etwa Abstriche am Recht, sondern er findet im Gegenteil das bessere Recht." (323) Damit wird die Aristotelische Billigkeit - eine Ausnahme, in der die starre Subsumtion des Sachverhalts unter den gesetzlichen Tatbestand dem Einzelnen gegenüber unfair wäre -, wird also die "Berichtigung des Gesetzes" (323) im Einzelfall zum Paradigma der Anwendung des Rechts, "das richterliche Urteil" zur beständigen "produktive[n] Ergänzung des Textes". (336) Wie dem hermeneutischen Antirealismus zufolge, wenn nicht unbedingt alle Erkenntnis Verkennen, so doch zumindest alles Verstehen anders Verstehen ist, das Medium der Erkenntnis im Sinne der Unschärferelation den Gegenstand verändert,23 so ist dem juristischen Antirealismus alle Gesetzesanwendung Gesetzesveränderung. Es ist allerdings mehr als fragwürdig, aus der Tatsache des notwendigen Überschusses des Konkreten gegenüber den in einem Gesetz geregelten Fällen zu schließen, dass das Gesetz in jedem Fall "keine einfache Anwendung [ ... ] erlaubt". (324) Es ist im Gegenteil sogar so, dass viele Gesetze nicht einmal interpretiert werden müssen, wenn damit etwas anderes als das Identifizieren eines Sachverhalts als Anwendungsfall einer Regel gemeint ist. 24 Denn viele Regeln sind eindeutig auf bestimmte Sachverhalte als Tatbestände anwendbar. Auslegung bzw. Interpretation wäre dann im Unterschied zum Verstehen die "Methode der Subsumtion von Einzelfällen oder Fallgruppen unter eine Rechtsnorm auch dann, wenn diese Einzelfälle oder Fallgruppen in den Grenzbereich der Rechtsnorm fallen". (Hoerster 2006,

Zur Kritik an dieser Auffassung von Medialität der Erkenntnis vgl. Krämer 2007, 65, 147f. Gadamer erwähnt an einer Stelle (offenbar die von ihm später wieder bestrittene), dass im Gegensatz zum einfachen Verstehen von "Interpretieren" nur dort die Rede sein kann, "wo sich der Sinn eines Textes nicht unmittelbar erschließt. Interpretieren muß man überall, wo man dem, was eine Erscheinung unmittelbar darstellt, nicht trauen will." (Gadamer 1986, 342) Beispiele sind historiographische Quellenkritik, psychoanalytische Deutung, ideologiekritische Analyse.

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123)25 AristoteIes jedenfalls macht die Billigkeit erklärtermaßen nicht, wie Gadamer,26 zum Modell der Anwendung des allgemeines Gesetzes auf die besondere Situation. Er betont vielmehr, dass "sich aber über manche [!] Dinge keine richtigen allgemeinen Sätze aufstellen lassen." Nur in Fällen, die vom Gesetz nicht geregelt werden, bei denen das Gesetz "eine Lücke aufweist", und seine Anwendung daher "nicht auf richtige Weise möglich ist", ist die Billigkeit als "Berichtigung des Gesetzes" angesagt. (AristoteIes 2008, 188f. (1137b)) Auch Gadamers eigenwill,ige Aristoteles-Interpretation scheint ganz und gar im Rahmen der existentialistischen Konstruktion von Regeln ausgehend von Ausnahmesituationen und Dilemmata und des Ressentiments gegen das ethische Allgemeine zu liegen. Erst jetzt sind die antirealistischen Implikationen des Satzes deutlich geworden, dass Verstehen ein "Sonderfall der Anwendung von etwas Allgemeinem auf eine konkrete und besondere Situation" (Gadamer 1986, 317) sei: So betont Gadamer, "daß die Anwendung nicht ein nachträglicher und gelegentlicher Teil des Verstehensphänomens ist, sondern es von vornherein und im ganzen mitbestimmt. Auch hier war Anwendung nicht die Beziehung von etwas Allgemeinem, das vorgegeben wäre, auf die besondere Situation. [ ... ] auch hier heißt das nicht, daß der überlieferte Text [... ] als ein Allgemeines gegeben und verstanden und dadurch erst für besondere Anwendungen in Gebrauch genommen würde." (329) Der Interpret verstehe dagegen das Interpretandum, indem er es verändernd auf seine Situation beziehe. Er muss es laut Gadamer verändern, "wenn er überhaupt verstehen will." (329) "In allem Lesen", meint er, "geschieht vielmehr eine Applikation, so daß, wer einen Text liest, selber noch in dem vernommenen Sinn darin ist. Er gehört mit zu dem Text, den er versteht" und "muß sich eingestehen, daß kommende Geschlechter das, was er in dem Texte gelesen hat, anders verstehen werden." (345) Verstehen ist damit in die Absurdität einer Tätigkeit verwandelt, die den Sinn ihres Gegenstandes nur erfasst, indem sie ihn in ein und demselben Akt inhaltlich affirmiert, seinen Geltungsanspruch fortsetzt und damit diesen Gegenstand verändert, ihn anders versteht als er ist oder vorher verstanden worden ist. Ich erkenne den Sinn der Sache, indem ich sie anerkenne und das, was ich anerkenne, zugleich selbst produziere - darauf läuft Gadamers Hermeneutik letztlich hinaus. 5. Kritik des hermeneutischen Antirealismus Der hermeneutische Antirealismus ist grundsätzlich eine unhaltbare Position, worauf insbesondere Gunter Scholtz, Umberto Eco und Hans Krämer hingewiesen haben: Will der Antirealismus eine Erkenntnis formulieren, so Krämer, muss er realis25

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Hoerster unterscheidet bei Begriffsbedeutungen einen Kernbereich (die Bedeutung erfasst eindeutig bestimmte Fälle und schließt ebenso eindeutig andere aus) von einem Grenzbereich. In letzterem sind schwankende Bedeutungen zu finden, die der Unbestimmtheit allgemeiner Begriffe geschuldet sind. Erst in diesem Grenzbereich (fällt z.B. eine befruchtete Eizelle unter die Kategorie Mensch?) werden die gängigen juristischen Auslegungsregeln (systematische, subjektiv-teleologische, objektiv-teleologische etc.) relevant. "ist die Lage bei dem, der das Recht ,anwendet', ganz anders. Er wird in der konkreten Lage von der Strenge des Gesetzes nachlassen müssen". (Gadamer 1986,323)

tische Prämissen unterstellen, die den Antirealismus negieren: Es muss nämlich objektiv feststellbar sein, dass es historisch-kulturell verschiedene Perspektiven (Deutungspluralismus der Interpretamente) auf einen Gegenstand (Interpretandum) wirklich gibt, wenn man einen Pluralismus von Perspektiven annimmt. 27 Die Behauptung einer "Differenz der Deutungen untereinander" setzt "bereits ein realistisches Verfahren der Vergleichung voraus". (Krämer 2007, 19) Die Zugehörigkeit des Interpreten zu einem von anderen unterschiedenen historisch-kulturellen Kontext muss ebenso objektiv erkannt sein und kann nicht wieder nur als kontextrelativ behauptet werden, ohne in einen infiniten Regress zu geraten. 28 "Wir erkennen", so Krämer weiter, "den Kontext und die dadurch bewirkten Abhängigkeiten auf irgendeiner Ebene zutreffend, oder wir erkennen gar nichts". (77) Das "zentrale Argument vom Pluralismus möglicher Auffassungen" muss zudem, um zutreffend zu sein, Alternativen zur eigenen These prüfen. Es könnte ja sein, dass die pluralen Auffassungen vereinbar sind im Sinne einer realistisch verstandenen "Aspektmannigfaltigkeit" (19) oder alle Deutungen bis auf eine falsch sind. Soll das ausgeschlossen werden, muss der Gegenstand der Deutungen bekannt sein. Der Antirealismus muss also realistisch eine "Unterscheidung zwischen Interpretament und Interpretandum" treffen, sowie um "die Abweichung des Interpretaments vom Interpretandum" wissen. (15) "Die Unterscheidung zwischen Interpretandum und Interpretament ist mit dem Begriff der Interpretation selbst gegeben [... ] Das gilt erst recht, wenn die Interpretation [ ... ] als ein Andersverstehen, als ,Veränderung' des Interpretandums definiert wird. Unvermeidlich stellt sich nämlich dann die Frage, was verändert worden ist und was das Resultat der Veränderung ist. Der Vergleich beider Instanzen ist grundsätzlich nur realistisch möglich, auch wenn das Interpretandum selbst als Interpretament früherer Interpretationen aufgefaßt würde." (84f.) Auch Eco betont, die These, dass "jede Interpretation eines Textes eine Fehlinterpretation sei", unterstelle entweder selbstwidersprüchlich die Kenntnis der richtigen Interpretation oder hebe den Begriff der Interpretation selbst auf. Denn sollte jeder Text völlig eigenständig neuen Sinn produzieren, so würde kein Text mehr über den anderen sprechen, also keine Interpretation leisten. Andere Texte wären keine Träger von zu verstehendem Sinn mehr, sondern lediglich "unpräzise[ ... ] Stimuli" völliger Neuschöpfung (Eco 1999, 52f.), was einige Vertreter des sich damit selbst aufhebenden - Interpretationismus auch offen propagieren. 29 Wenn Verstehen ,immer anders Verstehen' ist (das Interpretament immer vom Interpretandum abweicht), muss das Interpretandum also zunächst unabhängig vom anders Verstehen bekannt sein, "erfordert den Vergleich zwischen Interpretament und Interpretandum, setzt also Bekanntschaft mit dem Interpretandum selbst voraus" (Krämer 2007,63), die aber in der Theorie gerade geleugnet wird. Es kann also nur vom ,immer anders Verstehen' gesprochen werden, wenn, dieser These zugleich 27

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Vgl. Krämer 2007, 15. Bei Gadamer ist der Pluralismus lediglich diachron, bei postmodernen Ansätzen auch synchron. Vgl. ebd., 76. Vgl. Derrida 1995, der die Universalisierung des Metaphorischen (= es gibt keine wörtliche Bedeutung) zur Selbstaufhebung der Metapher treibt.

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widersprechend, ein objektives Verstehen des Interpretandums möglich ist - damit ich weiß, dass eine Angleichung an meinen Deutungshorizont stattfindet, muss ich vorab das Anzugleichende unterschieden von der Angleichung kennen. "Der Antirealismus", so Krämer resümierend, "bedarf [... ] der Absetzung vom Realen, um als solcher kenntlich zu werden, hebt sich also selbst auf." (17) Auch wenn in der Theorie der Wirkungs geschichte behauptet wird, das Interpretandum sei immer schon interpretiertes Interpretandum, bleibt das Problem des Antirealismus bestehen, "daß kein Beweis für das Andersinterpretieren des - [... ] nun schon interpretierten [ ... ] - Interpretandums zu führen ist. Es müssen jedenfalls die jeweiligen Vorstufen bekannt sein, damit die jeweiligen Endstufen als Interpretamente erkennbar sind." (78) Scholtz merkt daher zur These der Wirkungsgeschichte an, dass es die methodisch angeleitete, objektive Hermeneutik ist, die das von Gadamer verleugnete Fundament einer Theorie der universellen Geschichtlichkeit ist und nicht etwa umgekehrt: "Denn jene Auffassung von der Geschichtlichkeit des Verstehens ergibt sich doch durch das unleugbare Wissen davon, daß dieselben Phänomene [... ] verschieden interpretiert wurden. Wären uns die vorliegenden Interpretationen mit ihren unterschiedlichen Auffassungen gar nicht zugänglich, wären auch sie durch unsere Situation gänzlich gefiltert oder eingefärbt, kaum könnten wir sicher sein, daß sich etwas änderte." (Scholtz 1997,202)30 Analog zu Paul Boghossians These von der Aporie des Förmchenkonstruktivismus 31 stellt Krämer schließlich fest, es führe "kein Weg an der Annahme eines letzten Substrats aller Interpretationen vorbei [... ], das nicht mehr selbst als Interpretament, sondern als reines Interpretandum vorzustellen ist." (Krämer 2007, 79) Das bestätigt Eco, der meint, "dass es etwas Interpretierbares geben muss, um überhaupt interpretieren zu können. Denn selbst wenn jede Interpretation nichts anderes wäre als die Interpretation einer vorangegangenen Interpretation, so ginge doch auch jede vorangegangene Interpretation - sobald diese als solche identifiziert wird und zum Ausgangspunkt einer neuen Interpretation wird - von einer Tatsache aus." (Eco 2014, 3M.) Genau diese zwingende Annahme leugnen die Interpretationisten: So postuliert Michel Foucault als "Prinzip[ ... ] der modernen Hermeneutik": "Die Interpretation ist niemals abgeschlossen, weil es gar nichts zu interpretieren gibt [... ], denn im Grunde ist alles immer schon Interpretation [... ]. Danach gäbe es [... ] kein interpretandum, das nicht bereits interpretans wäre. [ ... ] In der Tat erhellt die Interpretation keine interpretationsbedürftige Materie [... ], vielmehr vermag sie sich nur gewaltsam einer bereits vorhandenen Interpretation zu bemächtigen", die dann mit "dem Hammerschlag zertrümmert" und wieder anders zusammengesetzt wird. 30

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Bezogen auf Derridas, zu Gadamers ,Andersverstehen' analoge, Theorie der Iterabilität heißt das: Die Erkenntnis der Verschiebung der Bedeutung eines Signifikanten setzt die Erkenntnis der Bedeutung voraus, die sich verschoben hat. Diese Erkenntnis kann nicht wiederum eine Bedeutungsverschiebung sein, sonst könnte die Verschiebung gar nicht konstatiert werden. Vgl. auch Frank 1991 b, 204: "ohne ein Moment relativer Sich-selbst-Gleichheit wäre Differenzierung (Sinnverschiebung, metaphorische Sinn-Neueinschreibung, Wechsel der psychischen Zustände usw.) gar nicht feststellbar, sie wäre kriterienlos und vom Zustand der völligen Beharrung ununterscheidbar." Vgl. Boghossian 2013, 4H.

(Foucault 2005, 734) Die Worte "zeigen kein Bezeichnetes an, sondern zwingen eine Interpretation auf" (735), d.h. Signifikat und Referent verschwinden unter dem rein schöpferischen, stets sich verändernden Signifikanten und das Interpretandum verschwindet hinter dem Interpretament bzw. dem - allerdings nicht als Subjekt gefassten - Interpreten. "Es gibt nur noch Bedeutendes", resümieren Luc Ferry/ Alain Renaut diese Position kritisch, "und man gelangt niemals zum ursprünglichen Standort eines Bedeuteten." (Ferry/Renaut 1987,25) Hermeneutische Philosophie heißt für Foucault letztlich, "dass es nur Interpretationen gibt". (Foucault 2005, 737)32 Auch wenn Nietzsche den infiniten Regress "unendliche[rJ Interpretationen" beschwört (Nietzsche 1988d, 627) oder Judith Butler vom Geschlechtskörper als einer "Konstruktion der Konstruktion" spricht (Butler 1997, 26), wird die abstruse antirealistische Konsequenz des Interpretationismus erkennbar, der dann auch nicht mehr bestimmen kann, was Interpretation oder Konstruktion überhaupt noch bedeuten könnten. Das gilt auch hinsichtlich des Interpretaments bzw. der Interpretation des Interpretandums selbst. Diese Interpretation muss ein Faktum und als solches in seinem Bedeutungsgehalt erkennbar sein. Denn die Behauptung, auch das Vorliegen einer Interpretation - hier verstanden als verändernde, konstruktionsperspektivische Deutung des Interpretandums - sei nur eine Interpretation - die konstruktionsperspektivische Deutung, es liege eine konstruktionsperspektivische Deutung vor -, führt in einen infiniten Regress, der gar nicht mehr einsichtig machen kann, was das ,Vorliegen einer Deutung' überhaupt bedeuten soll,33 Genau in diese Falle tappt eine )2

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Dagegen wendet Jean Wahl in der Diskussion des Textes, ganz im Sinne Krämers und Ecos, ein, es gebe "auch etwas, das interpretiert werden muss" (Wahl in Foucault 2005,739). "Natürlich will man Claudel auf alle erdenklichen Weisen interpretieren, marxistisch, freudianisch; entscheidend ist aber, dass es sich in jedem Fall um Claudels Werk handelt." (740) Analog gilt: Wer die These vertritt: "Überzeugung ,x ist F' von Person a ist nur für Person a wahr", muss es für absolut wahr halten, dass Überzeugung ,x ist F' von Person a vorliegt. Der Relativist, so referiert H. J. Wendel Burnyeat, muss sich "hier, wo der relativistische Wahrheitsbegriff noch nicht eingeführt" ist, des "absoluten Begriffs der Wahrheit bedienen, um sich - auch gegenüber sich selbst - verständlich machen zu können." (Wendel 1989, 51) Anders gesagt: Die Formulierung: ,Wahrheit ist das, was a für wahr hält', ist ohne Rekurs auf einen absoluten Wahrheitsbegriff gar nicht sinnvoll einzuführen, denn was soll Wahrheit hier mehr sein als die bloße Meinung des a, deren Vorliegen aber eine absolut wahre Tatsache sein muss. Ähnlich argumentiert Paul Boghossian, dass der Relativist, der behauptet: "Gemäß einer Theorie x, die wir befürworten, gab es Dinosaurier" (Boghossian 2013, 60), das Vorliegen der Meinung (der Befürwortung einer Theorie) als objektive Tatsache unterstellen muss. Es gibt also objektive Tatsachen über Meinungen, womit der Relativismus falsch wäre. Der Satz: ,Die Überzeugung ,x ist F' ist nur für a wahr', bedeutet ja nichts anderes als: Wenn a eine Überzeugung hat, ist sie wahr. Dass die Überzeugung vorliegt, muss auch in diesem Satz unterstellt werden und zwar als nicht nur für a, sondern als für alle wahr. Nun kann der Relativist behaupten: ,Person a hat die Überzeugung ,x ist F" und dies ist "wiederum nur für ihn, somit selbst relativ wahr". (Wendel 1989,54) ,,'Selbst die Thatsache seines subjectiven Meinens", schreibt Husserl, "wird er als bloß für sein eigenes Ich, nicht aber an sich wahre behaupten.'" (zit. nach ebd., 50) Soll heißen: Dass a eine Überzeugung,x ist F' hat, die nur für a wahr ist, ist nur für a wahr. Und ist das eine Variante des infiniten Regresses, der auch gemäß Boghossian dem Relativisten übrig bleibt und der lauten würde: "Gemäß einer Theorie, die

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Position, die der Forderung Foucaults entspricht, dass "die Interpretation stets sich selbst zu interpretieren hat" (Foucault 2005, 737) und darin niemals an ein Ende komme. Letztlich bleibt nichts übrig, weder das Interpretandum noch das Interpretament, und erst recht nicht, wie wir sehen werden, das Subjekt der Interpretation. Mit diesem von Krämer so genannten "Beweisdilemma" ist aber zugleich ein "Argumentationsdilemma" verbunden, "das daraus entsteht, daß man als Interpretationsphilosoph durchweg traditionell realistisch argumentiert, ohne den Zusammenhang mit der eigenen Theorie explizit zu machen." (Krämer 2007,84) D.h., die These vom ,immer anders Verstehen' des Interpretandums darf denjenigen zufolge, die diese Theorie aufstellen, nicht wiederum immer anders verstanden werden können, sonst kippt der Interpretationismus in den Skeptizismus. 34 "Die Hypothese von der Interpretativität wird undurchsichtig, wenn sie durch mehrere bis (unendlich) viele Interpretationsschritte belastet wird" (84), meint Krämer: Jedem dürfte die Leidenschaft bekannt sein, mit der Postmoderne behaupten, man habe die Texte ihrer Meisterdenker falsch verstanden. Der Antirealismus und historische Relativismus impliziert also einen Realismus/Universalismus in Bezug auf den eigenen Standpunkt, die Unterscheidung der Standpunkte, die Differenzierung der Interpretamente untereinander und vom Interpretandum, die eigene interpretationistische (relativistische) Argumentation und, was nicht vergessen werden darf, in Bezug auf das Subjekt der Interpretation. 35 Zur Annahme eines uninterpretierten Interpretandums (und der Kenntnis seines Sinns) muss nämlich Krämer zufolge diejenige eines uninterpretierten Interpreten hinzutreten: "Die Existenz des Interpreten", ,,[e]inerlei, ob man den Interpreten personal oder impersonal auffaßt", "kann aber nicht ein Resultat von Interpretation sein, weil der Interpretationismus durch die Wirksamkeit des Interpreten definiert ist und ein Zirkel in Kauf genommen würde". (83,203) Auch Eco zufolge muss der hermeneutische Antirealismus in Bezug auf das Subjekt realistische Prämissen einführen: Wird das Sein (hier: die zu verstehende Bedeutung) als "flatus vocis" aufgefasst, so Eco, "sind die Rechnungen mit dem Sein dergestalt beglichen, muss man erneut jene mit dem Subjekt begleichen, das diesen flatus vocis allererst zulässt [ ... ] Wie soll

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wir befürworten, gibt es eine Theorie, die wir befürworten, und dieser zweiten Theorie zufolge gibt es eine Theorie, die wir befürworten, und ... gab es Dinosaurier" (Boghossian 2913, 62) Dieser infinite Regress führt aber zur absoluten Unverständlichkeit der relativistischen Wahrheitsthese. Nur, wenn man an irgendeiner Stelle die absolute Wahrheit der These behauptet, dass für a die Vorstellung vorliegt, dass für ihn eine Vorstellung vorliegt, dass für ihn eine Vorstellung vorliegt, dass ,x ist F' (und dies für ihn wahr ist), hätten die Aussagen des Relativisten einen Sinn. "Damit aber könne der Relativist selbst nicht einmal mehr behaupten, daß bloß für ihn jede Aussage nur relativ für denjenigen wahr sei, der sie behauptet." (Wendel 1989,55) Vgl. auch Zima 2016b, 64: "Denn der Dekonstruktion selbst", sagt Zima bezogen auf Derridas analogen semantischen Antirealismus, "liegt eine relativ stabile semantische Taxonomie zugrunde. [... ] Fehlte diese Taxonomie, wäre die Dekonstruktion als Theorie und Verfahren weder darstellbar noch kritisierbar. Außerdem setzt Derrida in allen seinen Kommentaren die Möglichkeit voraus, Texte wie Limited. lnc. [... ] eindeutig zu identifizieren." Vgl. Krämer 2007,88.

man aber den ontologischen Status desjenigen fassen, der vorgibt, es gebe überhaupt keinen ontologischen Status?" (Eco 2014, 43) 6. Die Vermischung von Erkennen und Anerkennen der Bedeutung In den bisherigen Ausführungen wurde bereits angedeutet, dass Gadamer sich nicht nur in den Widerspruch von traditionalistischer und relativistischer Fassung des ontologischen hermeneutischen Zirkels verfängt, sondern auch die Trennung der Hermeneutik als Methode zum "Verständnis jeder [... ] Überlieferung" von "jeder dogmatischen Bindung" (Gadamer 1986, 330) an ebendiese Überlieferung rückgängig machen will. Damit redet er einer Konfundierung der historischen mit den dogmatischen Disziplinen das Wort, deren traditionelle Unterscheidung Krämer wie folgt fasst: "Sache der Historie ist die Ermittlung der historischen Richtigkeit, Sache der systematischen Disziplinen die der theoretischen Sachwahrheit sowie der normativen und praktischen Geltung." (Krämer 2007, 161 )36 Der Wissenschaftscharakter der Theologie oder der Jurisprudenz kann dieser Trennung zufolge nur darauf beruhen, "daß für das Auslegen der Heiligen Schrift [oder des Gesetzes] keine anderen [... ] Regeln gelten sollen als für das Verständnis jeder anderen Überlieferung." (Gadamer 1986, 330) Genau diese Unterscheidung will Gadamer mit seinen Überlegungen zur Gemeinsamkeit zwischen Rechtshistoriker und Jurist unterlaufen. Die juristische Hermeneutik wird ihm nämlich in zweierlei Hinsicht zum Modell für alles Verstehen: Zum einen im oben dargestellten relativistisch-antirealistischen Sinne der Anwendung als Veränderung, Sinnanreicherung und stetes Andersverstehen des Interpretandums aus der eigenen historischen Situation heraus. Zum anderen im traditionalistischen Sinn von Anwendung als der Einziehung der Differenz zwischen historischer und dogmatischer Auslegung. Auch hier verändert Gadamer seinen traditionalistisch eingefrorenen Relativismus zunächst wieder in Richtung einer Theorie objektiven Verstehens. Dass nämlich der Rechtshistoriker wie der Jurist "den ursprünglichen Sinngehalt des Gesetzestextes von demjenigen Rechtsgehalt unterscheiden" muss, "in dessen Vorverständnis er als Gegenwärtiger lebt" (332), ist eine Banalität und setzt die Möglichkeit voraus, den ursprünglichen Sinn objektiv zu erkennen. Der zentrale Fehlschluss findet sich nun in der These, weil Jurist und Rechtshistoriker beide die gegenwärtigen Sinnhorizonte erkennen und berücksichtigen müssten, sei auch das Geschäft des Historikers nicht ohne Anerkennung der Geltung des Interpretandums, die "Gebundenheit des Auslegungsprozesses an ein im voraus hingenommenes [... ] System" (Betti 1988, 67) möglich, denn für den Historiker des Rechts gelte: "Auch in seinem Fall heißt Verstehen und Auslegen: einen geltenden Sinn Erkennen und Anerkennen." (Gadamer 1986, 333)37 Damit werde die juristische Hermeneutik, die den Gegenstand in seiner Gültigkeit ancr).

37

Vgl. auch Betti 1988, 44f., 54f., 67. Dass Verstehen als inhaltliches Einverständnis (nicht nur als dem Verstehen nachgeordnetes Ziel, sondern als wesensgleich mit dem Verstehen oder gar Voraussetzung desselben) begriffen werden müsse, wiederholt Gadamer an verschiedenen Stellen, vgl. Gadamer 1986, 298300,308, 333f., 337f., 343, 367.

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kennt, ihn auf historisch veränderte Bedingungen anwendet und damit fortsetzt, zum "Modell für das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart" in allem Verstehen. (333) Dass der Rechtshistoriker "nicht nur historisch, sondern auch juristisch denken können" muss (334), ist richtig. Das besagt aber lediglich, dass der Historiker des Rechts wissen muss, was Recht überhaupt ist, wie es funktioniert und dass es einen internen Regelbezug hat (also nur existiert, wenn es Personen gibt, die es inhaltlich als Norm anerkennen). Er beschreibt es aber in Form eines externen Regelbezuges 38 , sprich: er muss es nicht anerkennen oder vertreten, um es verstehen zu können. Die "Zugehörigkeit zur Überlieferung" als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens wird hier also wieder als Affirmation der Tradition bzw. als unwillkürliche Bestätigung der Verbindlichkeit ihrer Gehalte verstanden: "Aber keine andere Zugehörigkeit zum Gesetz ist hier gefordert als eben die, daß die Rechtsordnung für jedermann als gültig anerkannt ist". (335) Das oben noch bloß methodische "Vorurteil der Vollkommenheit" besagt Gadamer zu folge demnach inhaltlich gewendet, "daß das, was" der Text "sagt, die vollkommene Wahrheit ist". (299) Die Konfusion wird auch deutlich, wenn Gadamer darauf hinweist, es müsse, damit das Gesetz verstanden werden kann, "verbindlich" gelten (335), "alle Glieder der Rechtsgemeinschaft in gleicher Weise binde[n]" (334), sonst sei eine Auslegung sinnlos. Damit sei auch dem Historiker des Rechts notwendig die Geltung des Rechts als Bedingung für seine Verstehensbemühungen vorausgesetzt. Hier kann aber nur die Existenz des Rechts und ,Verbindlichkeit' der Bedeutung des Gesetzestextes angesprochen werden, die eine Bedingung für die Rechtsgeltung ist, und nicht, dass der Rechtshistoriker die Geltung des Gesetzes als solche anerkennen muss, um die Bedeutung zu erkennen. Ich muss, um ein anderes Beispiel zu nehmen, zwar anerkennen, dass Hitlers Mein Kampf eine Bedeutung aufweist und existiert. Ich sollte versuchen, die Argumentation des Autors in ihrem inneren Zusammenhang zu rekonstruieren und seine Aussagen in ihrem Sachgehalt zunächst einmal ernst nehmen, zumal sie das Handeln der Nazis in einem relevanten Sinn angeleitet haben. Ich muss dafür aber in keiner Weise den Geltungsanspruch der Aussagen in Mein Kampf akzeptieren. Im Falle der theologischen Hermeneutik meint Gadamer, der Theologe müsse auch als Wissenschaftler berücksichtigen, dass die "Heilige Schrift Gottes Wort" ist, "und das bedeutet, daß die Schrift vor der Lehre derer, die sie auslegen, einen schlechthinnigen Vorrang behält. [ ... ] Auch als wissenschaftliche Auslegung des Theologen muß sie stets festhalten, daß die Heilige Schrift die göttliche Heilsverkündigung ist." (336) Das Umgekehrte ist aber richtig: Insofern die Theologie überhaupt etwas Wissenschaftliches hat, ist es die methodische, historisch-kritische Textlektüre, der Rest ist Glauben. Auch hier wird wieder postuliert, "daß eine biblische Hermeneutik ein Verhältnis zum Inhalt der Bibel schon voraussetz[t]" (337), was als Akzeptanz der inhaltlichen Geltung der Bibel gemeint ist, ja sogar als notwendiges "existenziale[s] Vorverständnis", das "nur selbst ein christliches sein" kann. (337) Gadamer schließt explizit aus, dass mit dem Verbundensein mit dem Gegenstand ein distanziertes Wissen von ihm gemeint sein kann, das nicht selbst )8

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Vgl. zur Differenz zwischen internem und externem Regelbezug: Hart 1973, 83f., 128.

Glaube bzw. Anerkennung der Geltungsansprüche des Interpretandums ist. Seine Beweisführung beruht auch hier wieder auf mannigfachen Bedeutungsverschiebungen und Sophismen aller Art: "Nun könnte man vielleicht dieser Konsequenz zu entgehen suchen, indem man sagt, es genüge zu wissen, daß religiöse Texte nur zu verstehen sind als Texte, die auf die Gottesfrage Antwort geben. Der Interpret brauche nicht selber in seiner religiösen Bewegtheit in Anspruch genommen zu werden. Aber was würde ein Marxist dazu sagen, der alle religiösen Aussagen nur zu verstehen meint, wenn er sie als Interessenspiegelungen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse durchschaut? Er wird doch gewiß die Voraussetzung nicht akzeptieren, daß das menschliche Dasein als solches von der Gottesfrage bewegt ist. Eine solche Voraussetzung gilt offenbar nur für den, der die Alternative von Glauben oder Unglauben gegenüber dem wahren Gott schon anerkennt. So scheint mir der hermeneutische Sinn des theologischen Vorverständnisses selber ein theologischer zu sein." (337) Die theologische Hermeneutik, so Gadamer nochmals in aller Deutlichkeit, "setzt voraus, daß das Wort der Schrift trifft und daß nur der Betroffene [... ] versteht. Insofern ist die Applikation das erste." (338) Auch der Philologe lasse "Vorbildliches als Vorbild gelten" (343) und auch der Historiker sei lediglich Philologe "im Großen". (345) Nur wer glaubt, kann Gadamers existentialistischer Hermeneutik zufolge also die Bibel verstehen (sogar: nur wer christlich glaubt). Ganz abgesehen von der kruden Reduktion marxistischer Religionsauffassung auf eine cui bono-Theorie: Warum sollte der Marxist leugnen, dass Menschen die Gottesfrage stellen? Er muss ja umgekehrt zunächst einmal, ohne selber religiös zu sein, verstehen, was es heißt, diese Frage zu stellen (z.B.: ,Gibt es ein allmächtiges, allgütiges, allwissendes Wesen, das die Welt aus Nichts erschaffen hat?'), bevor er sie anschließend auf psychologische oder sozialstrukturelle Bedingungen zurückführen kann. Auch hier hat Gadamers Beweisführung nicht einmal den Hauch von Plausibilität für sich. Der Gestus des unmittelbaren Betroffenseins, "mit dem Streben nach Überwindung der sogenannten Subjekt-Objekt-Spaltung" führt, wie Hans Albert zutreffend konstatiert, letztlich in die autoritär-masochistische Forderung, "daß der Verstehende sich ihr [der Tradition] auszuliefern habe". (Albert 1991, 169) Im Verstehen wird Gadamer zufolge nämlich die Überlieferung erfahren und zwar im Modus eines von sich aus sprechenden "Du" ("nicht als die Lebensäußerung eines Du", sondern "Sprache", die "spricht"), eines "echte[n] Kommunikationspartner[s]". (Gadamer 1986, 364) Das Du soll "kein Gegenstand" sein, sondern sich zu einem verhalten, und zwar zur Sache und zum Ich - dem Interpreten. Dass man es bei Gadamers Hermeneutik mit einem normativen Unternehmen zu tun hat, wird hier offen ausgesprochen. Da er die Überlieferung personalisiert und ihr mit schiefen Bezügen auf Kant den Charakter der moralischen Selbstzweckhaftigkeit ("Zweck an sich") zugesteht, bezeichnet er die hermeneutische Erfahrung schließlich als "ein moralisches Phänomen". Die inadäquate Erfahrung des "Du" bestehe hingegen einmal in der Praxis, die Überlieferung zu objektivieren und typische Muster in ihr wiederzuerkennen (364f.), zum anderen darin, sie "reflektierend [zu] überspiel[en]" (365), d.h. sie besser zu verstehen als sie sich selbst: "Indem man den anderen ver-

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steht, ihn zu kennen beansprucht, nimmt man ihm jede Legitimation seiner eigenen Ansprüche." (366) Die adäquate Erfahrung bestehe dagegen in "Erkenntnis und Anerkennung" des "Du". Man soll sich "etwas vom ihm sagen [ ... ] lassen".39 "In Überlieferungen stehen", so Gadamer, macht das Verstehen erst "möglich". (36M.) Und dieses "Zueinandergehören heißt immer auch zugleich Auf-ein-ander-Hörenkönnen." Zwar soll das nicht als bloße Hörigkeit verstanden werden, inwiefern sich diese Haltung aber davon unterscheidet, bleibt im Dunkeln. "Ich muß die Überlieferung in ihrem Anspruch gelten lassen, nicht im Sinne einer bloßen Anerkennung der Andersheit der Vergangenheit, sondern in der Weise, daß sie mir etwas zu sagen hat" (367), bzw. "auf das wir zu hören haben". (465) Dagegen unterstellt er dem historistischen Verstehen, dass es, "wenn es seine Texte ,historisch' liest, die Überlieferung immer schon vorgängig und grundsätzlich nivelliert hat, sodaß die Maßstäbe des eigenen Wissens durch die Überlieferung niemals in Frage gestellt werden können." (367) Das ist reichlich unplausibel und nur für den historischen Relativismus gültig, den Gadamer selbst ja auch vertritt: Nur wenn ich behaupte, alles Verstehen sei immer Andersverstehen, kann ich den Wahrheitsgehalt des anderen niemals ernst nehmen. Tatsächlich ist der historisierende Verstehensbegriff die Voraussetzung dafür, etwas zu erkennen, das ich in einem anschließenden Akt inhaltlich als relevant erkennen, anerkennen oder kritisieren kann. Nur wenn ich beides identifiziere, kann ich behaupten, die Objektivierung des Interpretandums sei identisch mit dem Verzicht einer inhaltlichen Stellungnahme zu seinen Geltungsansprüchen, einem Verzicht darauf, sich für den "Wahrheitsanspruch" des Interpretandums "offen" zu halten. (367) 7. Resümee Es hat sich zeigt, dass Gadamers Werk für eine falsche Versöhnung von Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis, Erkennen und Anwenden, Interpret und Interpretandum, Sein und Sollen, Erkenntnis und Anerkennung der Tradition steht. Gadamers Hermeneutik und die an sie anschließenden Theorien werden denn auch von postmodernen Autoren wie Zygmunt Bauman dafür gefeiert, die "geheiligten Grenzen [ ... ] zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Sinn und Unsinn, Wissen und Meinen, Gewißheit und Kontingenz, Wahrheit und Irrtum" zum Verschwinden zu bringen. (Bauman 1995, 163f.) Ohne das kenntlich zu machen, entfaltet Gadamer dabei zwei unvereinbare Varianten einer Aufhebung der Differenz zwischen Interpretandum und Interpret im 39

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In diesem Punkt scheint sich Gadamer deutlich von der machtreduktionistischen Verdachtshermeneutik eines Nietzsche oder Foucault zu unterscheiden, die ja das genaue Gegenteil zu propagieren scheinen und den Sachgehalt der Aussagen hinter ihrer Herkunft - dem bösen Bemächtigungswillen, der ihnen zugrunde liege - beinahe völlig zum Verschwinden bringen, vgl. Foucault 2005, 736. Allerdings ist der Sachgehalt auch bei Gadamer vor allem aufgrund seiner Herkunft im Traditionszusammenhang gültig, auch hier wird letztlich Geltung auf Genesis - traditionalistisch verstanden als Dauer - reduziert. Eine Theorie der rationalen Geltung ohne Rekurs auf Herkunft gibt es (abgesehen von korrespondenztheoretischen Residuen) weder bei Gadamer noch bei Foucault.

Zuge der hermeneutischen Darstellung des Verstehens als Geschehen. Das Verstehen als Einrücken in den Überlieferungszusammenhang bzw. Horizontverschmelzung, wird einmal traditionalistisch und einmal relativistisch verstanden: Einmal wird der Interpret vollständig vom Interpretandum bestimmt (Verstehen ist dann lediglich die Selbstauslegung der Tradition durch ein demütiges Werkzeug namens Interpret), dann wieder soll alles Verstehen vollständig vom eigenen Vorverständnis bestimmt sein (Verstehen ist dann immer anders verstehen und es gibt so viele Bedeutungen wie Interpreten). Erkenntnis als Vermittlung von Subjekt und Objekt, hier: Verstehen als Vermittlung von Interpret und Interpretandum, wird stets in eine der beiden Seiten aufgelöst. Gadamer kann noch so sehr beteuern, "der wahre Ort der Hermeneutik" sei das "Zwischen" von "Fremdheit und Vertrautheit", objektivierender Haltung und Zugehörigkeit (300), er begreift dieses ,Zwischen' entweder als bloße" Überlagerung über einer fortwirkenden Tradition" (311) oder als zu "heilen[deJ" (299) und überbrückende "Sinnentfremdung" (316) zwischen Interpret und Interpretandum. Diese ,Heilung' besteht zudem keineswegs in dem Versuch, die Tradition zu verstehen. Sie soll "Einverständnis" (297) herstellen oder wahlweise immer schon voraussetzen. Neben dieser Konfundierung von Verstehen und Einverständnis ist aber der zentrale Mangel dieses falschen Versöhnungsversuchs, dass bereits die Möglichkeit einer Differenz zwischen Interpret und Interpretandum, zwischen Sinnantizipationen und Sinn, zwischen Bedeutsamkeit des Textes für uns und Bedeutung des Textes an sich mit Gadamers These von der steten Verbundenheit von Interpret und Interpretandum im ontologischen hermeneutischen Zirkel ausgeschlossen wird. Gadamer kann, mit anderen Worten, gar nicht begründen, wie es zu einer Differenz, zu einem historischen Wandel, zu einem Anders -Verstehen kommen kann. 4o Wenn er beständig die "Verborgenheit des Beharrenden" betont (4) und die "Überschätzung des historischen Wandels" (Gadamer 1993, 447) moniert, zugleich aber von einem "von innen her beweglichen" Horizont der Tradition spricht, bleibt schlicht unklar, wie das eine mit dem anderen vereinbar sein soll: das Verstehen der Tradition aus der Tradition heraus (Überlegenheit des Interpretandums) lässt fraglich werden, wie neue Sinnantizipationen, Horizonte, Deutungsmuster entstehen können, auf die die Tradition dann angewendet und so anders verstanden werden soll. Ein Verstehen, dass im Akt des Verstehens systematisch anders versteht, als untrennbare Einheit von Verstehen und Anwendung, als stete Veränderung des Interpretandums im Lichte unserer lebens praktischen Gegenwartsprobleme hingegen, lässt ebenso unklar werden, wie die Differenz der Interpretationen überhaupt festgestellt werden kann. Immer bleibt alles eins und in jedem Fall sind Verstehen und Autonomie negiert, die beider Seiten bedürfen, der 40

Gadamer-Apologeten wie Jean Grondin haben, wie ihr Meisterdenker, mit logischen Widersprüchen keine Probleme, sie lösen sie in einem Sowohl-als-auch auf: "Wir gehören der Geschichte [Interpretandum bestimmt unsere Deutung] und der Wirkungs geschichte [Interpretationen des Interpretandums bestimmen unsere Deutung] an, aber es ist auch die Geschichte, die uns gehört, sofern sie stets von der Gegenwart [... ] aus gelesen, verstanden und angeeignet wird. Es ist diese Vermittlung von Gegenwart und Vergangenheit, die für das geschichtliche Bewußtsein charakteristisch ist [... ] Die Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstand, zur Geschichte und zu seiner Zeit." (Grondin 2000, 157)

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Erkenntnisleistung des Subjekts und der Annahme einer an sich bestimmten Wirklichkeit. Die Kalamitäten der hermeneutischen Philosophie werden bereits in der paradoxen Formulierung Gadamers deutlich, verstehen sei "der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte" (Gadamer 1986, 311), zweier Horizonte, die als unterschiedene gar nicht existieren. 41 Der Widersinn, Verstehen sei Verschmelzung von etwas, das schon eines sei, verweist auf das ungeklärte Verhältnis von geschichtlicher Verschiedenheit der Horizonte sowie der Leistung eines Subjekts, der es bedarf, um die Verstehenseinheit (die zudem noch mit einer Übereinstimmung in der Sache verwechselt wird) herzustellen und der These von der Bestimmtheit des gegenwärtigen Horizonts durch den vergangenen, des immerschon in der Tradition-Stehens, der Substanzialität in der Subjektivität, der letzteren als bloßem Flackern im geschlossenen Stromkreis der Geschichte. Bei der relativistischen Auflösung des Objekts ins Subjekt werden das Individuum und seine Vernunft schließlich wiederum in die als Subjekt angesprochene Kultur bzw. deren Horizont aufgelöst - Subjekt ist nicht das urteilsfähige Individuum, sondern, wie es heute heißen würde, der Diskurs. Das Bewusstsein des Einzelnen wird in die Materialität der Sprache, in die gegenwärtigen Deutungsmuster aufgelöst. Die von Gadamer ein ums andere Mal heimelig beschworene "Zugehörigkeit" (462) ist dann nicht mehr das tatsächliche Verhaftetsein der Gegenwart in der Tradition, sondern die vermeintliche Tatsache, dass die Individuen in der Sprachstruktur der Gegenwart aufgehen, in die Struktur der Sprachgemeinschaft "gleichsam gebannt sind". (406) Bewusstsein wird auf Sein, das Sprache ist, die von einer als homogen vorgestellten Gemeinschaft gesprochen wird, reduziert - diese "Idee einer vereinnahmenden Totalität" (Finkielkraut 1989a, 24) ist das Programm des letzten Teils von Wahrheit und Methode, an das postmoderne Wissenschaftstheoretiker anschließen konnten, auch wenn Gadamer sich mit untauglichen Mitteln immer wieder gegen relativistische Konsequenzen seines Ansatzes wehrt, ja gelegentlich sogar an die "überlegene Allgemeinheit" appelliert, "mit der sich die Vernunft über die Schranken jeder gegebenen Sprachverfassung erhebt". (Gadamer 1986, 406) Allein: Die Vernunft hat keinen Platz in Gadamers Hermeneutik, ihre Allgemeinheit ruht auf dem schwankenden Grund der Behauptung eines monolithischen Traditionszusammenhangs der Menschheit.

Epilog: Konservative Hermeneutik m Dipesh Chakrabartys postkolonialer Geschichtsschreibung Wie gezeigt behauptet Gadamer, Verstehen sei das Einrücken in einen Überlieferungszusammenhang, in den der Verstehende eigentlich immer schon einbezogen sei. Verstehen enthalte aber nicht nur die Vorprägung des Interpreten durch das Interpretandum in dem Sinne, dass die eigenen Vorüberlegungen über den zu deutenden Gegenstand von eben diesem geprägt seien, sondern auch in dem Sinne, dass man die sachlichen Geltungsansprüche des Tradierten inhaltlich anerkenne, letztlich

41

140

Vgl. Gadamer 1986,309.

ein Einverständnis in der Sache herrsche - und das jenseits von Vernunftgründen. 42 Das Verstehen der Vergangenheit wird mit einer Akzeptanz dessen, was sie uns zu sagen habe, verkoppelt. Wie passt die konservative Hermeneutik eines deutschen Philosophen, der von einer monolithischen Tradition ausgeht und sich zu Herrschaft systematisch ausschweigt, zur machtkritischen Diskurstheorie postkolonialer Theoretiker? Die Antwort besteht nicht nur in einer demonstrativen HeideggerApotheose auf beiden Seiten, sondern in dem inhaltlichen Versuch, irrationale Wirkkräfte der Geschichte und die religiöse Unterwerfung unter Autoritäten gegen Fortschritt, Vernunft und Autonomie des Individuums wieder hoffähig zu machen. ,Minoritäre', ,subversive' oder ,subalterne Geschichten' sind für den postkolonialen Theoretiker Dipesh Chakrabarty nicht einfach historiographisch erfasste Vergangenheiten bislang marginalisierter Gruppen, sondern, mit Foucault gesprochen, "disqualifizierte [... ] Wissensarten" (Foucault 1978, 60)4>, Erzählungen, die geschichtswissenschaftlich nicht legitim sind, dem Wahrheits-, Rationalitäts- und Wirklichkeitsverständnis der Historiographie mit ihrem, wie er meint, ,juridischliberalen' Objektivitätspostulat, widersprechen. So habe die bisherige postkoloniale Geschichtsschreibung Ranajit Guhas zwar zu Recht religiöse Handlungsmotivationen indigener Akteure ernst genommen, indem diese nicht bloß als Hülle für eigentlich moderne ökonomische oder politische Interessenartikulationen verstanden worden seien, er begehe aber den Fehler, das Selbstverständnis z.B. der Santal, eines indischen Stammes, der im 19. Jahrhundert einen Aufstand wagte, nur wissenschaftlich zu begreifen. Die Santal deuteten ihren Aufstand nämlich als Aktion ihres Gottes Thakur, nicht als ihre eigene Tat. Guha begreife den Aufstand aber als einen der Santal, die von einem religiösen Weltverständnis geleitet worden seien. Er deute Menschen damit als Subjekte, die sich selbst gar nicht als Subjekte verstanden hätten. Damit habe Guha eben keine "subversive" (Chakrabarty 2010, 79) Geschichte erzählt, sondern eine, die den wissenschaftlichen Regeln des mit modernen "Regierungsinstrumenten" (wie dem Gericht und dem Anspruch, Aussagen objektiv zu überprüfen) verflochtenen Geschichtsdiskurses entspreche. 44 Chakrabarty will über solcherlei "Ausgrenzungs"-Diskurse (69) hinausgehen, deren Plausibilität er nur durch pragmatische Gründe und institutionelle Vorkehrungen garantiert sieht. 45 Er will "zwischen den Geschichten des Historikers und anderen Konstruktionen der Vergangenheit ein gewisses Maß an Gleichberechtigung gelten [... ] lassen" (79), d.h. er will Geschichten als legitim verstehen, in denen übernatürliche Kräfte die Akteure darstellen. Es läuft auf genau das hinaus, was 42 4l

45

Vgl. Gadamer 1986, 285. Foucault nennt "das Wissen des Psychiatrisierten, des Kranken, des Krankenwärters" usw. (Foucault 1978,60) Wohlgemerkt geht es ihm dabei nicht um eine Berücksichtigung der Erfahrungen dieser Personengruppen und eine rationale Artikulation derselben (die z.B. zu einer wissenschaftlichen Selbstkritik der Psychologie führen könnte), sondern um "lokales, regionales Wissen" als Alternative zu geltenden Rationalitätsstandards schlechthin. Diese Reduktion von Wahrheitsgeltung auf ihre institutionelle Genesis, die Betrachtung von Wahrheit als rituelle Praxis privilegierter Sprecher, ist der Grundgedanke von Foucaults machtreduktionistischer ,Wissens'-Auffassung, vgl. Foucault 1993, 14. Vgl. Chakrabany 2010,80.

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Chakrabarty leugnet: "postmoderner Wahn in Historyland". (80) Tatsächlich geht es aber keineswegs um "ein gewisses Maß an Gleichberechtigung", also ein beliebiges Nebeneinander dieser "Konstruktionen", was schon problematisch genug wäre. Es geht um eine asymmetrische Beziehung, die als Fundierungsbeziehung gedeutet wird: Chakrabarty plädiert dafür, die Historisierung der Santal zu verweigern, denn durch diese Historisierung sei "die Vergangenheit wahrhaft tot" (81), ein nichtssagendes Objekt. Er will einen Traditionszusammenhang zwischen den Santal und ,uns' deutlich werden lassen, in dem die religiöse Weltdeutung der Santal als Subjekt begriffen wird, als ,uns' sachlich ansprechende, geltende Autorität der Überlieferung, die als unsere eigene "Möglichkeit des In-der-Welt-Seins" oder "gegenwärtige Möglichkeit der Lebensführung" akzeptiert wird. Es geht also um die Zerstörung der "Subjekt-Objekt-Beziehung" zwischen ,uns' und den Santal und das Eintreten in einen Überlieferungszusammenhang der als intersubjektives ,Geschehen' mit Geltungskraft jenseits von Vernunftgründen begriffen wird. Im Gegensatz zum monolithischen Konzept der Horizontverschmelzung Gadamers, wird dies zunächst nur als ,Möglichkeit' begriffen, die Welt zu verstehen, als ein Beitrag zu "den pluralen Seinsweisen, aus denen sich unsere eigene Gegenwart zusammensetzt". (81) Was wie ein Hinweis auf die banale Tatsache daherkommt, dass man heute einen wissenschaftlichen oder einen religiösen Bezug zur Vergangenheit einnehmen kann, wird aber in ein epistemisches Argument verkehrt: Chakrabarty löst das Problem zwischen Heterogenität und Gleichartigkeit von heutigem Interpreten und vergangenem Interpretandum wie folgt: Die Santal sind einerseits historisch von uns getrennt, andererseits repräsentiert ihre Epoche und ihr Denken etwas, das auch noch heute, allerdings als ,Seinsweise' neben anderen, existiert - eine religiöse Weltdeutung jenseits des modernen säkularen Denkens. Epistemologisch irrational wird der Gedanke Chakrabartys durch folgende Konfusion: Er betont zu Recht, dass es Gemeinsamkeiten zwischen Menschen der Vergangenheit und dem modernen Menschen gibt. Diese Gemeinsamkeit wird im religiösen Selbstverständnis verortet, was einerseits richtig, andererseits falsch ist: richtig ist es, weil es natürlich auch heute Menschen mit einem religiösen Weltverständnis gibt und insofern die ,Vergangenheit' als ,plurale Seinsweise' gegenwärtig ist. Falsch wird es, wenn Chakrabarty diese Gemeinsamkeit der Akzeptanz einer religiösen Weltdeutung anscheinend zur Bedingung der Möglichkeit des Verstehens der Vergangenheit und ihrer Menschen mit religiösem Weltverständnis machen will - hier wird das Nebeneinander zu einer Fundierungsbeziehung. 46 Damit könnte nur ein religiöser ,Historiker' eine solche Vergangenheit verstehen, oder wie Chakrabarty es formuliert: "dass die Fähigkeit der modernen Person zur Historisierung in Wirklichkeit davon abhängt, ob sie an nichtmodernen Beziehungen zur Vergangenheit teilzunehmen [!J vermag". (72) Die zwei möglichen Beziehungen zur Vergangenheit, hier: zu den Santal und ihrer religiösen Kultur, die wissenschaftliche Objektivierung im Stile Guhas und die Betrachtung der Santal als "Personen" (Gadamers "Du"), die uns eine legitime ,Seinsweise' übermitteln (ein Weltverständnis, in dem Götter handelnde Wesen sind), stehen Chakrabarty zufolge in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander: Es "kommt 46

142

Vgl. ebd., 82f.

die zweite Beziehung vor der ersten. Sie ist es, die die erste Beziehung allererst ermöglicht." (86) Er rekurriert damit auf Heideggers und Gadamers Idee des nicht nur faktischen, sondern auch epistemischen Primats des Verbunden seins mit der Tradition und ihrer angeblichen sachlich gültigen Gehalte: Grundlage des Verstehens sei die "unausgesprochene[ ... ] Identifizierung" (87) mit dem zu Verstehenden. Den ,ontologischen hermeneutischen Zirkel' Gadamers, auf den er sich an dieser Stelle explizit bezieht, nennt Chakrabarty das "nicht historisierbare[ ... ]" "ontologische ,] etzt"', das der objektivierenden Distanzierung des historischen Blicks, "dem ,Dort- und-damals' und dem ,Hier-und-jetzt' voraus" (87) liege und helfe, "uns von den gebieterischen Impulsen des [historiographischen ] Faches zu distanzieren, von der Vorstellung, dass alles historisiert werden könne". (86) Vielmehr beruhe ,,[u] nsere Fähigkeit zur Historisierung [... ] auf der Fähigkeit, nicht zu historisieren. Nur weil wir sie immer schon bewohnen und sie uns niemals vollkommen fremd sind, haben wir Zugang zu den Zeiten der Götter und Geister". (87) Nochmal: Dass man wissen muss, was ein religiöser Weltbezug ist, um religiöse Menschen und ihre Handlungen zu verstehen, man dieses Verständnis dafür aber nicht sachlich teilen muss, scheint hier gerade nicht gemeint. Chakrabarty reproduziert vielmehr die konservative Annahme Gadamers, dass der ,Gegenstand' des Verstehens uns immer schon geprägt haben muss, damit wir ihn überhaupt verstehen können. Wir seien also mit dem ,Gegenstand' immer schon "verbunden" und vertraut, weil er Teil von uns ist, bevor wir ihn überhaupt objektivieren. ,Teil von uns' bedeutet, dass wir den sachlichen Gehalt des zu Verstehenden inhaltlich akzeptiert haben (nicht bloß: kennen) müssen, ein "Einverständnis in der Sache" besteht. (Gadamer 1986, 297) Diesen Traditionalismus verkauft uns ein postkolonialer Denker als ,subversiv', weil er damit die rationalen Standards wissenschaftlicher Forschung, z.B. die "SubjektObjekt-Beziehung zwischen dem Historiker und der Quelle" (Chakrabarty 2010, 81), untergraben will. Ähnlich wie bei Gadamer, allerdings in die synchrone Auffassung von Kultur hineingenommen, wird dann auch das ,Narrativ' der Vergangenheit (der Santal) neben diese Standards gestellt, ja ihnen in gewisser Hinsicht sogar vorgeordnet. Dass Chakrabarty sich auch immer wieder zurücknimmt in seinem Drang zum epistemischen "Pluralismus" (also Wahrheitsrelativismus) und am liebsten uneindeutige Formulierungen verwendet, die ihn unangreifbar machen, ändert nichts an der Logik seines Denkens, das auf puren Irrationalismus hinausläuft. Die Handbremsenstrategie, man habe es ja nicht so gemeint, ist allen postmodernen Theoretikern gemeinsam, wenn man die Konsequenzen ihres Denkens ernst nimmt. Es ist die Strategie von Menschen, die Wahrheit als "Regime" oder Strategie verstehen. Man muss sich also auch nicht wundern, wenn diese Leute mit der Wahrheit ihr Spiel treiben.

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Prolog: Theorien des Politischen in der Kritik Theorien des Politischen oder der radikalen Demokratie haben derzeit sowohl im akademischen als auch im politischen Kontext Konjunktur. Anknüpfend an die Tradition des politischen Existentialismus um Martin Heidegger, Carl Schmitt und Hannah Arendt, an neomarxistische Denker wie Antonio Gramsci und Louis Althusser sowie an poststrukturalistische Beiträge um Claude Lefort, Jean-Luc Nancy, Ernesto Laclau/Chantal Mouffe und Jacques Derrida, werden gängige gesellschaftstheoretische und normative Fundierungsversuche des Politischen radikal in Frage gestellt. Als Wesen des Politischen gilt der vermeintlich rational nicht entscheidbare, affektiv grundierte kollektive Konflikt, dessen ,ereignishafter' Charakter gegen die Routinen von Staat und Verwaltung abgegrenzt wird, nicht selten versehen mit einer normativen Auszeichnung von Ausnahmezustand und Ernstfall gegen alltägliches Behagen, Normierung und Durchschnittlichkeit. Ein Diskurs über ,das' Politische als "Situation der Öffnung, der Neugründung, der potenziell konflikthaften Aushandlung der Grundlagen des Zusammenlebens vor dem Hintergrund der Kontingenz menschlicher Angelegenheiten" (Slaby 2017, 150f.) scheint derzeit offenbar vor allem einem links akademischen Publikum 1 so einleuchtend und attraktiv, weil hier gleich ein ganzes Bündel politischer und weltanschaulicher Bedürfnisse dieses Milieus bedient wird: Er gibt dem stets nach ,Paradigmenwechseln' hungernden akademischen Betrieb eine neue ,Beschreibung' der gesellschaftlichen Wirklichkeit und eine neue ,Perspektive', mit der Drittmittelanträge, Tagungen und Stellen legitimiert werden können; er gibt der politischen Verunsicherung angesichts des Scheiterns bürgerlicher wie kommunistischer Fortschrittsideen sowie der Skepsis gegenüber ihren Subjekten - dem rationalen Individuum bzw. der proletarischen ,Klasse für sich' - mit den Begriffen der ,Kontingenz' und ,Intransparenz' des Sozialen einen theoretischen Ausdruck; er eröffnet aber zugleich mit der These einer prinzipiellen Instabilität hegemonialer Artikulationen sowie der Rede vom permanenten Kampf um Bedeutungsverschiebungen und antagonistische Reklamationen des Gemeinwesens ein Feld imaginärer politischer Handlungsfähigkeit, indem er die mit Ohnmacht assoziierbare Kontingenz 2 und Intransparenz sowie das Fehlen des einen adressierbaren, politisch gestaltenden Subjekts als Möglichkeit neuer ,gegenhegemonialer Projekte' begreift - wenn alles schwankt und immer auch anders sein kann, dann ist (fast?) alles möglich. Allerdings geht das in den Theorien des Politischen zu vernehmende Votum für die Wiederaufnahme des Kampfes um die Instituierung der Gesellschaft gegen neoliberale Sachzwangverwaltung mit einer Reihe theoretischer Grundannahmen ein-

Allerdings zeigen sich auch Rechte von vielen Überlegungen insbesondere Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes begeistert, vgl. u.a. Kaiser 2017. Eine "productive convergence of the far Right and the far Left" feiert geradezu die Links-Schmittianerin Banu Bargu (2014,726). Zum Querfrontpotential der Theorien des Politischen vgl. kritisch Priester 2014, 62, 85, 90, 131, 160ff., 270 sowie Eibe 2017, Eibe 2018. Eine kritische Reflexion des Kontingenzbegriffs der Theorien des Politischen findet sich in Mokosch 2017.

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her, die zeigen, dass es diesen Theorien um weit mehr geht, als ihre banale links pol itische Rezeption nahelegt - es geht eben nicht lediglich um ein bisschen mehr Konflikt um die Einrichtung der Gesellschaft statt neoliberales Einerlei, um ein bisschen ,Gegenhegemonie' gegen Reduzierung von Freiheit und Gleichheit auf Marktchancen usw.: Es geht um eine Theorie, die Politik als Schicksal propagiert, die Idee rationaler Gestaltung und ethisch-politischer Universalismen abweist und eine politische "prima philosophia" (Gruber Z018, 137) als "allgemeine Theorie der Bedeutungsproduktion" (Marchart ZOll, Z13) anvisiert, die ganz unbescheiden behauptet: "Alles ist politisch". (Slaby Z017, 16Z) Hatten dem - in den Theorien des Politischen als Vordenker hofierten - Faschisten earl Schmitt zufolge noch alle "politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte einen polemischen Sinn" (Schmitt ZOOZ, 31), so werden nun alle Begriffe polemisch, das heißt von einem antagonistischen Machtgeschehen epistemisch unbegründbarer Ausschließungseffekte und grundloser Entscheidungen abhängig. 3 Die um ,das' Politische kreisenden Theorien betreiben damit einen philosophischen Extremismus sondergleichen: Mit der Kritik am Ökonomismus, am Objektivismus und an ,essentialistischen' Subjektkonstruktionen geht dieser Theorie jedes Verständnis gesellschaftlicher, struktureller Bedingtheit, Begrenztheit und Motiviertheit von Subjekten verloren das Politische schaffe sich seine "Elemente performativ, im eigenen Vollzug" (Hetze1Z007, 95), existiere nur "in seinem je konkreten Vollzug" und ruhe "buchstäblich auf Nichts" (HetzelZ009, Z36), so die absurde Behauptung. Mit der Einsicht in die Machtbasiertheit ideologischer Wissensproduktionen wird die Idee der Wahrheit als partikulare und gewaltsame Anmaßung verworfen und ein diskurs-okkasionalistischer 4 Förmchen-Konstruktivismus 5 entworfen, der sich die Ordnung der Welt als willkürlich-aleatorisch und rhetorisch-alogisch zurecht geschnitten imaginiert - als "sprachliche creatio ex nihilo" (Hetzel Z007, 93) des Sozialen, als ,,'rhetorical space''', der aus "kontingenten Übergängen" (94) katachretischer Art bestehe. 6 Mit dem Beharren auf der Veränderlichkeit politischer Institutionen wird jede Institutionalisierung und jedes Verfahren dem Verdacht totalitärer Schließung ausgesetzt 7 und damit leichtfertig zur Disposition gestellt. Das geht soweit, die Idee des verwirklichten Konsenses als "Vorschein des Faschismus" (HetzelZ009, 177) zu brandmarken. Theorien, die soziale Konflikte reflektieren, aber auf deren Lösung hinarbeiten, werden Andreas Hetzel damit einerlei mit soziale Konflikte (als innere Konflikte von Gesellschaften und Kulturen) leugnenden und projektiv abwehrenden Harmonie- und Schließungsillusionen totalitärer Bewegungen.

Vgt. u.v.a. Mouffe 2007, 27. Zur Kritik: Priester 2014, 201f. sowie Gruber 2018b. Zum Okkasionalismus vgt. Hume 2005,85, Schmitt 1998,91-96, Disse 2011, 170-173 sowie Gruber 2018b. Zur Kritik des Förmchenkonstruktivismus vgt. Boghossian 2013, 41ff. Vgt. Hetzel2007, 95. Zur Kritik vgt. Priester 2014,57,102. Konsequenterweise wird dann auch Auschwitz mit Hilfe eines postmodern gedeuteten Adorno zum unmittelbaren Ausdruck moderner Rationalität erklärt (z.B. von Hetzel2011).

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Mit dem Hinweis auf das Schwanken des sozialen Grundes, die Prekarität und Intransparenz des sozialen Seins sowie die Affektgesteuertheit spätkapitalistischer Kollektivbildungen 8 werden Differenzen zwischen existentiellen und historischen Entzweiungseffekten 9 negiert, wird ,Ontisches' ontologisiert lO und ein entsubjektivierter Dezisionismus etabliert, der die Idee rationaler Gestaltung und autonomer Subjektivität verabschiedet. An deren Stelle treten wahlweise der subjektlose "unverfügbare[ ... ] kairos" (Hetzel2007, 92), der Diskurs selbst oder die "transformative[ ... ] Dynamik prä-kategorialer Affekte" (Slaby 2017, 162), denen wir alle ausgeliefert seien und sein sollen: "Die Erkenntnis, dass die herrschende Gesellschaft nicht auf Vernunft basiert", schreibt Alexander Gruber treffend, wird damit "zur Depotenzierung der Vernunft herangezogen" (Gruber 2018a, 144), nicht zur Kritik dieser Gesellschaft. So entpuppt sich der Diskurs der radikalen Demokratie als eine ganz besondere Affirmation des Bestehenden, die uns lediglich sagt, dass es anders werden kann, aber niemals besser. Inzwischen können die Vertreter der postmodernen Theorien des Politischen nicht mehr ganz unwidersprochen ihr philosophisches Geschäft betreiben. 11 Zwei kritische Beiträge zu Hauptvertretern dieser Strömung finden sich im folgenden Abschnitt des Bandes.

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Vgl. Mouffe 2007, 34ff. Zur Kritik vgl. Priester 2014, 202f. sowie Eibe 2018. Zu dieser wichtigen Differenzierung und ihrer Vermischung vgl. bereits Fromm 2014, 40-47. Vgl. kritisch: Gruber 2018a, 141ff. Grundlegende Kritiken im deutschsprachigen Raum sind u.a.: Gruber 2018a, Gruber 201Sb, Hirsch 2007, Kistner 2018, Machunsky 2007, Mattutat/Breuning 2017, Mokosch 2017, Opratko 2012, Priester 2014, Rickermann 2018, Scheit 2015, Schuck 2014, Wallat 2012.

Politische Macht, Faschismus und Ideologie Zur Genese von Ernesto Laclaus Postmarxismus in der Auseinandersetzung mit Nicos Poulantzas Die Rezeption der Schriften von Nicos Poulantzas, einem der prominentesten marxistischen Staats theoretiker der 1970er Jahre, hatte einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des Werkes von Ernesto Laclau. Im Folgenden werde ich zeigen, dass man dabei zwei thematische Felder und auch Radikalitätsgrade dieser Auseinandersetzung unterscheiden kann: Zunächst interveniert Laclau in die Kontroverse zwischen Poulantzas und dem britischen Politikwissenschaftler Ralph Miliband. Hier übt Laclau eine immanente Kritik am gesellschaftstheoretischen InstanzenFormalismus der strukturmarxistischen Schule und verbleibt noch innerhalb einer modifizierten ,historisch-materialistischen Problematik'. Laclau begnügt sich dabei mit einer Historisierung des Begriffs des Politischen. In der Diskussion von Poulantzas' Faschismusanalyse, die vor allem unter dem Aspekt der Bedeutung von ideologischen Krisen und Kämpfen geführt wird, formuliert Laclau allerdings Thesen, die nach seiner damaligen Einschätzung zwar lediglich Poulantzas' klassenreduktionistische Konzeptualisierung von Ideologien überwinden sollen, de facto aber den grundlegenden Umbau von Laclaus marxistischem Theoriegerüst vorbereiten - allerdings ohne diesen Umbau bereits vorzunehmen. Der ,populare' Diskurs, die antagonistische Reklamation des partikularen Gemeinwesens, wird hier schon zum vornehmlichen Mechanismus des Politischen - zum Modus des ideologisch-politischen Klassenkampfs, wie es hier noch heißt -, aber das Politische ist hier noch nicht, wie in Laclaus postmarxistischer Phase, die Logik der Konstitution des Sozialen schlechthin. Trotz der paradigmatischen Differenzen zwischen Laclaus marxistischer und postmarxistischer Phase wird dabei allerdings eine erstaunliche inhaltliche Kontinuität seines Verständnisses von ,linker' Politik erkennbar, die im Plädoyer für einen linken Populismus und Nationalismus besteht.

1. Aufräumarbeiten im strukturmarxistischen Baukasten 1.1. Die Spezifik des Politischen

In seinem ersten staatstheoretischen Hauptwerk Politische Macht lind gesellschaftliche Klassen (1968), das der vornehmliche Gegenstand der Poulantzas-MilibandLaclau-Debatte der 1970er Jahre sein wird, ordnet Poulantzas die Politikanalyse in ein Theoriesystem ein, das sich wesentlich an Louis Althussers und Etienne Balibars strukturalem Marxismus orientiert. Poulantzas unterscheidet zunächst eine "allgemeine Theorie" von "Einzeltheorien" und "Teilbereichstheorien". (Poulantzas 1974, 10) Die allgemeine Theorie beinhalte historisch-materialistische Grundkategorien, die den wissenschaftlichen Gegenstandsbereich ,Geschichte' konstituieren: Produktionsweise, Gesellschaftsformation, Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte, Determinante, Dominante usw. Einzeltheorien sollen dagegen eine konkrete historische Produktionsweise und Gesellschaftsformation analysieren, z.B. den Kapitalis-

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mus. Teilbereichstheorien schließlich seien solche, die bestimmte relativ autonome Instanzen, nämlich "Ökonomie, Politik, Ideologie", untersuchen, "deren jeweilige Verbindung eine Produktionsweise und eine Gesellschaftsformation ergibt". (10) Die "Theorie des Politischen" (15) ist Poulantzas zufolge damit eine Teilbereichstheorie, die den Begriff einer bestimmten Produktionsweise und allgemeine geschichtstheoretische Kategorien voraussetzt. Das soll im Folgenden erläutert werden. Zunächst unterscheidet Poulantzas die Begriffe Produktionsweise und Gesellschaftsformation. Eine Produktionsweise bezeichnet nicht lediglich das ökonomische Feld, sondern die Gesamtstruktur einer aus den "Instanzen" (12) Ökonomie, Politik und Ideologie in spezifischer Weise zusammengesetzten Gesellschaftsordnung. Eine Produktionsweise als komplex strukturiertes Ganzes sei ein "abstraktformales Objekt" (13), ein Begriff der Kernstrukturen einer Gesellschaftsordnung "in ihrem idealen Durchschnitt" (Marx 1989, 839), während mit ,Gesellschaftsformation' "ein soziales Ganzes [... ] zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner historischen Existenz" (Poulantzas 1974, 13) bezeichnet werde, also z.B. die französische Gesellschaft im Jahr 1968. Eine Gesellschaftsformation könne wiederum eine Kombination aus verschiedenen Produktionsweisen sein, wobei eine Produktionsweise die dominante Position innehabe. Die Theorie des Politischen könne daher als Teilbereichs theorie auf der hohen Abstraktionsebene einer Produktionsweise (das Politische im Kapitalismus im Allgemeinen) und auf der niedrigen Abstraktionsebene einer Gesellschaftsformation (die politische Instanz in der französischen Gesellschaft des Jahres 1968) konzeptualisiert werden. In einer Produktionsweise sei das Ökonomische in letzter Instanz determinierend, ohne immer die dominante Instanz sein zu müssen. Das Ökonomische, verstanden als bestimmte Struktur der Produktionsverhältnisse, bestehe im Kern aus den Besitz- und Eigentumsverhältnissen. ,Besitz' wird uneindeutig als" Verhältnis der realen Aneignzmg" (24) bestimmt, während ,Eigentum' das Verfügungsverhältnis des "Nicht-Arbeitenden" über die Arbeitskraft bzw. Produktionsmittel bezeichne. 1 Besitz- und Eigentumsverhältnisse kombinieren also die "invarianten Elemente" und "Nicht,unmittelbare Produzenten', ,Produktionsmittel' Arbeitende"/ Aneignende von Mehrarbeit. (24) Diese Kombination innerhalb der Produktionsverhältnisse bestimme, so Poulantzas im Anschluss an eine Stelle im dritten Band des Kapital,z welche Art von Trennung und Verbindung der sozialen Poulantzas' Bestimmungen sind hier sehr unpräzise und zum Teil zirkulär (Eigentum bedeute im Unterschied zu Besitz, dass es den Nicht-Arbeitenden "als Eigentümer dazwischen treten läßt" (Poulantzas 1974,24)), sie werden aber am Beispiel der Differenz zwischen feudalen und kapitalistischen Produktionsverhältnissen (siehe unten) deutlicher. Vgl. Marx 1989, 799f.: "Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt. Es ist jedes mal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten - ein Ver-

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Instanzen existiere, weise diesen also ihre Position im sozialen Gefüge zu und bestimme so deren relative Autonomie. Im Gegensatz zum Modell der "expressive[n] Totalität" (12), das die Determination durch die Ökonomie als völlige Unselbständigkeit der anderen Praxis felder begreife (die Politik als bloßer Ausdruck der Ökonomie weist keine Eigenlogik auf, ist vollständig auf ökonomische Sachverhalte reduzierbar), sind also hier relative Autonomie des Politischen und Determination durch das Ökonomische keine Widersprüche. Im Rekurs auf eine Passage aus Marx' KapitaP (26) behauptet Poulantzas, dass die Determination durch die Ökonomie in vorkapitalistischen Produktionsweisen das Politische als dominante Instanz setzen könne, während die Ökonomie im Kapitalismus sowohl determinierende als auch dominierende Instanz sei. Anhand der kapitalistischen Produktionsweise stelle sich das Determinationsverhältnis wie folgt dar: Der Feudalismus sei durch das Auseinanderfallen von Eigentums- und Besitzverhältnissen gekennzeichnet. Die unmittelbaren Produzenten seien in der Form mit ihren Produktionsmitteln verbunden, als sie damit ihre Subsistenz bestreiten können. Das Mehrprodukt müsse ihnen daher in Form persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse ,,'durch außerökonomischen Zwang abgepreßt werden"'. (28) Im Kapitalismus hingegen bestehe eine "Homologie" (25) von Nichtbesitz/Nichteigentum der unmittelbaren Produzenten an den Produktionsmitteln: Sie kommen erst nachträglich, durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft, überhaupt mit Produktionsmitteln in Kontakt und verfügen nicht einmal teilweise über die damit hergestellten Arbeitsprodukte. Das Mehrprodukt wird ihnen in Gestalt des Mehrwerts vermittelt über strukturelle Zwänge des Marktes (durch Nichteigentum/-besitz an Produktionsmitteln bedingter Zwang zum ,freiwilligen' Tausch) abgepresst. Damit konstituiere sich eine Struktur des gesellschaftlichen Ganzen, die eine "spezifische Autonomie" (27) der Instanzen Politik/Ökonomie aufweise. ,Ökonomie' bedeute dann eine relativ autonome, weil marktvermittelte, Abpressung des Mehrwerts, ,Politik' ein relativ autonomes, weil nicht unmittelbar die Mehrwertaneignung bewerkstelligendes Feld des organisierten Zwangs. Die politischen Strukturen bestünden damit "in der institutionalisierten Staatsmacht" (41, vgl. auch 51Fn.), die im Kapitalismus die Form des staatlichen Monopols legitimer Gewaltausübung angenommen habe. 4 Poulantzas verteidigt in seiner Theorie ,Politik' als Teilbereichskonzept. Nicht nur verwendet er die Begriffe Politik/Politisches, die später in postmarxistischen Ansätzen jeweils eine eigenständige Bedeutung erhalten,5 synonym, er wendet sich auch scharf gegen eine Entdifferenzierung des Begriffs des Politischen zum Inbegriff für den "historisch-dynamischen Aspekt" jeder gesellschaftlichen Instanz. Dies hältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht -, worin wir das innerste Geheimnis, die verhorgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden." Vgl. Marx 1993, 96Fn. Vgl. Poulantzas 1974, 235f. Politisches wird dort als instituierende und Politik als instituierte Praxis verstanden, je nach Vertreter aber anders benannt (z.B. auch als ,Politik' vs. ,Polizei').

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führe zur "Abschaffung [... ] der Besonderheit des Politischen, seine[r] Zersplitterung in lauter nicht unterscheidbare Elemente" (36), würde "eine Untersuchung der Strukturen des Politischen und der politischen Praxis überflüssig" werden lassen (37), was wohl so viel heißen soll wie die politische Theorie als Staatstheorie fallenzulassen, weil das Politische ja nun überall zu finden sei. Schließlich bewirke dies auch eine "Überpolitisierung der theoretischen Ebene",6 die in Schemata wie ,:bürgerliche Wissenschaft - proletarische Wissenschaft'" münde. (36) Diese Bemerkungen stellen eine Art Kritik des Postmarxismus avant Ja lettre dar, treffen sie doch vielen seiner Theoretiker gemeinsame Tendenzen, nämlich die Entdifferenzierung des Politischen vom mit dem Staat verbundenen Teilbereichsbegriff zum Zentralbegriff für Wandel und instituierende Praxis 7 und die extreme Politisierung des Diskurses im Sinne einer politischen Theorie der Wissensproduktion - die heute allerdings nicht mehr in einem klassentheoretischen Duktus daherkommt, sondern im Stile eines unspezifischeren epistemischen Relativismus und Machtreduktionismus formuliert wird. 8 Allerdings meint auch Poulantzas, der politische (im Gegensatz zum bloß ökonomischen) Kampf des Proletariats sei der "Angelpunkt des Veränderungsprozesses" (78) einer Gesellschaftsformation. Diese These ist aber Resultat seiner Auffassung der Zentralität des Staates für die Veränderung oder Bewahrung einer gesellschaftlichen Ordnung. D.h. politische Praxis besteht in der Bezogenheit des Handelns auf den Staatsapparat und kann auch die "Aufrechterhaltung" (41) einer Ordnung zur Folge haben oder intendieren. Daher sei die über den Klassenkampf vermittelte "Eroberung der Macht im Staat das Spezifische der politischen Praxis". (42)9 Die Bedeutung des kapitalistischen Staates als Form des Politischen bestehe nämlich in seiner "globale [n] Kohäsionsfunktion " (50) für gesellschaftliche Verhältnisse. Einerseits vereinzele der Staat die Individuen zu Rechtssubjekten und Konkurrenten auf dem Markt. Dieser "Vereinzeiungseffekt"IO werde aber vom Staat

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Im klassischen Althusserianismus der 1960er Jahre, dem Poulantzas hier treu bleibt, gibt es neben den Ebenen Politik, Ideologie, Ökonomie noch die der reinen Theorie/Wissenschaft. Vgl. Laclau/Mouffe (2000, 193), die betonen, dass "Politik als eine Praxis des Erzeugens, der Reproduktion und Transformation sozialer Verhältnisse nicht auf einer bestimmten Ebene des Gesellschaftlichen verortet werden kann, da das Problem des Politischen das Problem der Einrichtung des Sozialen ist". Vgl. Mouffe 2013, 73f., 101 sowie Marchart 2011, 213. Das wird in der Staatstheorie allerdings durch die klarere Unterscheidung von Staatsapparat und Staatsmacht modifiziert. Poulantzas ist keineswegs der Ansicht, man könne durch bloße Eroberung der Staatsmacht eine Gesellschaftsformation radikal umgestalten (vgl. ansatzweise bereits in Poulantzas 1974, 117f.). Auch die relative Autonomie des Staates wird in der Staatstheorie präziser gefasst (vgl. bereits Poulantzas 1976b, 93-98). Staatliche Politik (Staatsmacht) etabliert sich ~ls Resultante der in die materielle (=institutionelle) Struktur des Staates eingeschriebenen Kräfteverhältnisse, während die ,Materialität' der Staatsapparate durch die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse im Klassenhandeln der Akteure determiniert wird. Fragwürdig ist Poulantzas' durchgängige Ansicht, die ,realen' ökonomischen Verhältnisse bestünden in Klassenverhältnissen im unmittelbaren Produktionsprozess (in dem sich ökonomisch bestimmte Gruppen gegenüberstünden), während die Bestimmungen des Zirkulations-

durch "die repräsentativen Institutionen der Einheit des Volkes als Nation" (136) wieder kompensiert, wobei der Staat durch die Instanzen Politik und Ideologie die Hegemonie einer Klassenfraktion innerhalb des herrschenden Klassenbündnisses ("Machtblock") und die Hegemonie des Machtblocks im sozialen Gesamtgefüge (der herrschenden über die beherrschten Klassen) organisiere. Der Staat fungiere damit als "Einigungsfaktor" (311) der herrschenden Klasse, indem er deren allgemeines Klasseninteresse (das gesamtkapitalistische Interesse) politisch ermittle und durchsetze - und zwar auch und gerade gegen die unmittelbaren Interessen bestimmter Kapitalfraktionen oder konkurrierender Einzelkapitale. ll Er sei somit in mehrfacher Hinsicht kein Instrument der herrschenden Klasse oder gar einer Klassenfraktion: Die Bourgeoisie sei kein homogenes, einheitlich als Gesamtkapital agierendes Klassensubjekt, sondern vielmehr in konkurrierende Einzelkapitale und Fraktionen zersplittert, deren unmittelbares Interesse häufig ihrem langfristigen widerspreche. t2 Den Einzelkapitalen müssten ihre langfristigen Interessen staatlich aufgezwungen werden. Der Staat sei aber auch kein unabhängig von Klassenkämpfen existierendes neutrales Subjekt, sondern Ort der Verdichtung der Kräfteverhältnisse dieser Klassen, in deren Kämpfen auf dem politisch-ideologischen Feld sich erst ein verbindlicher staatlicher Wille konstituiereY Um Hegemonie und soziale Einheit zu organisieren, bedürfe es verschiedenster symbolischer und ökonomischer Kompromisse innerhalb des Blocks an der Macht und zwischen diesem und den subalternen Klassen. 14 Politische Herrschaft mittels Hegemonie stelle damit ein instabiles Kompromissgleichgewicht mit Dominante (l96f.) dar, innerhalb dessen sich die dominierenden Interessen symbolisch als Interessen des gesamten Machtblocks und als Verkörperung der ,Volksinteressen' präsentiertenY Weder bestünden also vorpolitische Klassensubjekte bzw. eine effektive, aktionsfähige Realität langfristiger gesamtkapitalistischer (oder -proletarischer) Interessen, die dann nur noch nachträglich sich des Staates in ihrem Sinne bedienten, noch könne eines der politisch artikulierten Klasseninteressen unmittelbar auf die staatliche Politik durchgreifen, ohne die Hegemonie im Kompromissgleichgewicht zu gefährden.

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prozesses (freie und gleiche Privateigentümer, die Verträge schließen) bis hin zur Konkurrenz der Warenbesitzer als "schiere Ideologie" (Poulantzas 1974, 133) bzw. ideologischjuridische Effekte der ,realen' Produktionsverhältnisse beschrieben werden, die lediglich die "Verschleierung der wahren Strukturen des Ökonomischen" (220) betrieben (v gl. auch 130134, 286). Tatsächlich sind aber diese Bestimmungen der Akteure als Zirkulationsagenten nicht minder ,real' als ihre Position im unmittelbaren Produktionsprozess und gehören, wie Marx betont, konstitutiv zur spezifisch ökonomischen Form der Aneignung von Mehrarbeit im Kapitalismus (v gl. Marx 1988,79). Kritisch dazu auch EIbe 2008. Vgl. Poulantzas 1974, 295ff., 310ff. Poulantzas selbst führt die von Marx in Kapitel 8 des Kapital analysierte Sozialstaatskonstitution als Beispiel an, vgl. Poulantzas 1974, 295ff. Vgl. Poulantzas 1976b, 97. Vgl. Poulantzas 1974, 139ff., 194-198. Vgl. Poulantzas 1974, 228, 316. Poulantzas spricht hier auch von einer doppelten Repräsentationsfunktion (vgl. ebd., 316) oder von den "zwei Prinzipien der Einheit des Staats". (330)

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Auch wenn Poulantzas - wie übrigens bereits Balibar in Das Kapital lesen 16 - sich mehrfach von einer abstrakten "Kombinatorik" (24) distanziert, die Ökonomie, Politik und Ideologie als "im Vorhinein gegebene Wesenheiten" verstehe, welche "erst dann, wenn sie schon bestehen, zueinander in rein äußerliche Beziehungen treten" (15), so behauptet er doch 1968 noch, dass den genannten Instanzen "in anderen Produktionsweisen" als der kapitalistischen ebenfalls eine "relative Autonomie" (28) zukomme, allerdings "nicht dieselbe Autonomie" wie im Kapitalismus. (31Fn.) Bezüglich der Politikwissenschaft bestehe damit das "Problem, den spezifischen Charakter des politischen Teilbereichs je nach den jeweiligen Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen zu erfassen." (23) Poulantzas proklamiert also die Möglichkeit einer allgemeinen Theorie des Politischen (allgemein im Sinne der o.g. Definition von allgemeiner Geschichtstheorie) als Teilbereichstheorie. Dagegen wendet sich nun Ernesto Laclau. Zunächst zur Kritik des Formalismus im Allgemeinen. Es ist hier nicht der Ort, die Verästelungen der sogenannten Poulantzas-Miliband-Debatte nachzuzeichnen, auf die Laclau detailliert eingeht. Es kann lediglich der zentrale methodische Einwand erwähnt werden, den Laclau gegenüber beiden Theoretikern macht und der auch zu gegenseitigen Vorwürfen zwischen den beiden Kontrahenten führte. Poulantzas, so stellt Laclau fest, kritisiere am Ansatz des britischen Politologen zu Recht, dass dieser seine Kritik bürgerlicher Staats theorien lediglich im Stile der empirischen Überprüfung ihrer theoretischen Bestimmungen präsentiere, ohne deren theoretische Problematik in Frage zu stellen. Miliband verbleibe damit auch im Feld des handlungstheoretischen Reduktionismus und einflusstheoretischer PolitikanalyseY Ebenso liege aber auch Miliband richtig, der Poulantzas einen "strukturalistische[n] Abstraktionismus" vorwirft. (Miliband 1976b, 39) Denn Poulantzas, so Laclau, bemühe sich in Politische Macht und gesellschaftliche Klassen weder um die empirische Überprüfung politologischer Theoreme noch um eine immanente Kritik ihrer theoretischen Konzepte, sondern präsentiere lediglich vermittlungslos einen alternativen Theorierahmen. 18 Nun sind Laclaus Ausführungen zu Poulantzas' "Formalismus" selbst alles andere als klar, deutlich wird aber, dass er Poulantzas' erstem Hauptwerk - und zwar völlig zu Recht - eine durchgängige "Vorherrschaft der Form über den Inhalt" (Laclau 1981a, 63) der politikwissenschaftlichen Begriffe vorwirft, da Poulantzas sich nicht um eine Vermittlung des "hohen Abstraktionsniveau[sJ" (63f.) seiner Kategorien mit empirischen Analysen bemühe, was bisweilen zum schlichten Bedeutungsverlust der Kategorien führe. Nun aber zur konkreten "Auswirkung[ ... J" (65) des Formalismus auf der Ebene gesellschafts theoretischer Grundbegriffe: Laclau sieht richtig, dass Poulantzas' Konzeption dieser Grundbegriffe in Politische Macht und gesellschaftliche Klassen noch vollständig auf der Linie von Etienne Balibars Beitrag in Das Kapital lesen liegt. Der zentrale Vorwurf gegen beide lautet denn auch, dass sie "keinen wirklich theoretischen", sondern lediglich einen "deskriptiven und intuitiven" (68) Begriff des 16

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Vgl. Balibar 1972, 302. Vgl. Poulantzas 1976a, 7; Lac1au 1981a, 56. Vgl. Lac1au 1981a, 57.

Ökonomischen entwickeln. Dieser Begriff werde im Rahmen einer abstrakten Kombinatorik von Instanzen verwendet, die genau das praktiziere, was Balibar/Poulantzas leugnen: die Konstruktion der Spezifik einer Produktionsweise durch die nachträgliche Kombination vorab unterschiedener Instanzen. Die Aussagen, dass es die spezifische Kombination der Instanzen Politik, Ökonomie, Ideologie sei, die die Struktur einer Produktionsweise ausmache, dass diese Instanzen dabei stets als relativ autonom gelten und dass die Ökonomie in letzter Instanz determinierend sei, auch wenn die Politik die dominante Instanz darstelle, hält Laclau für Symptome einer theoretischen Anomalie. Zwar erahnten beide, dass die Konstruktion der Ebenen Politik/Ökonomie aus der kapitalistischen Produktionsweise heraus erfolge und ihre Projektion in vorkapitalistische Produktionsweisen einen Anachronismus darstelle. 19 So bemerke Balibar, dass gewaltvermittelte Aneignungen des Mehrprodukts im Feudalismus, ,,[k]eine direkten ökonomischen Formen [darstellen], sondern in unlösbarer Verflechtung politische und ökonomische Formen zugleich", es also Produktionsweisen gebe, die "keine [ ... ] Unterscheidung einer ,ökonomischen', ,juristischen', ,politischen' Ebene [ ... ] zulassen". (Balibar 1972, 298f.) Zugleich werde aber mit Marx behauptet, im Feudalismus werde das Mehrprodukt "durch außerökonomischen Zwang abgepreßt". (Marx 1989, 799) Laclau räumt nun mit den begrifflichen Unklarheiten des strukturalistischen Baukastens und seiner Bauklötze Politik/Ökonomie/Ideologie auf, indem er die Ambiguität des dabei verwendeten Begriffs des Ökonomischen auflöst. Es existieren demnach zwei grundverschiedene Begriffe von Ökonomie im Denken von Balibar/Poulantzas: Der erste Begriff sei auf der Ebene der allgemeinen Geschichtstheorie angesiedelt und bezeichne die Produktionsverhältnisse im Sinne der zentralen Formen der Aneignung von Mehrarbeit ("Ebene der Produktion" (Laclau 1981a, 67)). Der zweite Begriff hingegen "bezieht sich nur auf warenproduzierende Gesellschaften" (68), ist also auf der Ebene der Einzeltheorie einer ganz spezifischen Produktionsweise (des Kapitalismus) angesiedelt, die die Aneignung von Mehrprodukt marktvermittelt und nicht mehr direkt gewaltvermittelt organisiert. Nur hier sei eine relativ autonome Instanz ,Ökonomie' existent. Wenn im Feudalismus daher unmittelbare Gewalt im Rahmen persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse zur Aneignung des Mehrprodukts verwendet werde, so sei das im Sinne des ersten Begriffs keineswegs ,außerökonomischer' Zwang, sondern diese Form der Aneignung sei eben die Gestalt der Produktionsverhältnisse. Diese konstituieren im Feudalismus aber, wie Laclau feststellt, keine relativ autonomen Instanzen Politik/Ökonomie (70), d.h. in der zweiten Bedeutung existiert dort keine Ökonomie. Damit werde aber auch die Unterscheidung von Determinante und Dominante hinfällig, denn im Sinne der "Produktion der materiellen Existenz" (Produktionsverhältnisse) sei die Ökonomie immer "nicht in letzter Instanz, sondern in erster Instanz" determinierend und "dominierend, in welcher Produktionsweise auch immer". (69) D.h. wenn ,das Politische' (ich verwende hier die von Laclau zu Recht abgelehnte anachronistische Metaphorik) in Antike oder Feudalismus dominiere, sei es eben Moment der Produktions-

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Vgl. Laclau 1981a, 70.

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verhältnisse. 20 Es ist also das Produktionsverhältnis, die spezifische Verbindung/Trennung von Produktionsmitteln, Arbeitskräften und Nichtproduzenten, die die gesellschaftliche Struktur determiniert, die dann je nachdem relativ autonome Instanzen haben kann oder auch nicht und vor allem nicht bloß diese drei Instanzen haben muss, die Poulantzas annimmt. 21 Welche Konsequenz hat diese immanente Kritik am strukturalen historischen Materialismus für Laclaus Politikbegriff? Er vertritt an dieser Stelle noch eine historisch klar konturierte "Spezifik des Politischen" (46), die die nur im Kapitalismus existierende relativ autonome Instanz des staatlichen Gewaltmonopols bezeichnet, das einer marktvermittelten, strukturellen Zwängen folgenden ökonomischen Reproduktionsebene gegenübersteht. Es findet sich noch keine Spur seines späteren Konzepts von Politik als einer "Praxis des Erzeugens [... ] sozialer Verhältnisse" (Laclau/Mouffe 2000,193) schlechthin. 22 Die historische Spezifizierung des Politikbegriffs erkennt auch Poulantzas in seiner Antwort auf Miliband und Laclau aus dem Jahr 1976 an. Hier spricht er vom "klassischen Irrtum [... ] historischer Rückprojizierung" (Poulantzas 1976b, 107), der ihm im Falle der Instanzentheorie unterlaufen sei, und deutet bereits seine in der Staatstheorie klarer ausformulierte Schlussfolgerung an, dass es keine invariante politische Instanz gibt und es demnach auch "keine allgemeine Theorie des Staates geben kann, in der die allgemeinen Gesetze seiner Transformation in den verschiedenen Produktionsweisen fixiert sind". (Poulantzas 1978,20 23 ) Es sei "gerade eines der Verdienste des Marxismus, hier [... ] die metaphysischen Höhenflüge der politischen Philosophie vermieden zu haben, die vagen und nebelhaften allgemeinen, abstrakten Theoretisierungen, mit denen die großen Geheimnisse der Geschichte, des Politischen, des Staates und der Macht aufgedeckt werden sollten." (18) Hier wendet sich Poulantzas bereits gegen die poststrukturalistische Tendenz 24 zu "großen und mystifizierenden Ausdrücken", "simpelsten und bombastischen Verallgemeinerungen" (19), mit denen die realen Probleme der politischen Wissenschaft in eine diffuse Philosophie des Politischen aufgelöst würden. 25 Man benötigt nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie Poulantzas Laclaus postmarxistischen Ansatz beurteilt hätte, der sich ebenfalls weg von der politischen Theorie hin zur politischen Ontologie bewegt hat.

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Die Unterscheidung von funktionaler Ebene der materiellen Reproduktion (ökonomische Basis) und Ökonomie als relativ autonomer Teilstruktur findet sich detailliert ausgearbeitet im Werk des strukturalistisch inspirierten Anthropologen Maurice Godelier. Die Unterscheidung Basis-Überbau sei eine funktionale, keine institutionelle, vgl. Godelier 1990, 29f., 39. "Die gesellschaftlichen Verhältnisse spielen eine mehr oder weniger determinierende Rolle, je nach den Funktionen, die sie übernehmen, und die ,in letzter Instanz bestimmenden' Verhältnisse wären diejenigen, die als Produktionsverhältnisse fungieren." (Ebd., 153) Vgl. Laclau 1981a, 66, 69. Zumindest lässt Laclau offen, ob ein transhistorischer Politikbegriff sinnvoll ist. Für einen solchen vgl. Roth 2003, 42. Vgl. auch Poulantzas 1976b, 104. Poulantzas wendet sich explizit gegen so unterschiedliche Autoren wie Deleuze, Foucault, Lefort, Castoriadis, Levy und Glucksmann. Zu seiner Foucault-Rezeption vgl. Lindner 2006a. Vgl. auch Poulantzas 1978,33-38.

1.2. Die ideologischen "Staats "apparate

Im Anschluss an Milibands Kritik an Poulantzas stellt Laclau auch das Konzept der ideologischen Staatsapparate von Althusser/Poulantzas in Frage, allerdings ohne deren Ideologiebegriff selbst zu kritisieren: Althusser bestimmt Ideologie als ,Repräsentation' des "imaginäre[n] Verhältnis[ses] der Individuen zu ihren realen Existenzbedigungen" (Althusser 2012, 256), wobei er diese imaginäre - und das heißt bei ihm: mythische, illusionäre und verzerrte - Wahrnehmung der Realität als "omnihistorisch" unterstellt. 26 Ideologien seien in sozialen Praktiken situiert, deren institutionelle Seite er ,ideologische Staatsapparate' (ISA) nennt. Althusser versucht im Anschluss an Antonio Gramscis Hegemonietheorie die Institutionen und Praktiken der Ideologieproduktion als zentrale Orte der Herstellung von Zustimmung zu Herrschaft und der Reproduktion der Produktions bedingungen durch Identitätsbildung, die er "subjektivierende [ ... ] Unterwerfung" (252) nennt, in den Blick zu nehmen. ,,Anrufung" (268) ist Althusser zufolge der Mechanismus der Subjektkonstitution, der institutionalisierten Hervorbringung und Verinnerlichung von Verhaltenserwartungen, die Individuen zu Rollenträgern werden lassen, die mit relativer personaler Kohärenz (Identität) und Handlungsfähigkeit ausgestattet sind (bzw. das zumindest glauben).27 Die allgemeinen Strukturen des ideologischen Effekts sind die Identitätsillusion (die real fragmentierte Individualität wird imaginär als homogene, einheitliche Identität erlebt); der Anthropomorphismus (die Welt wird als teleologisch zentriert auf das einheitliche Subjekt hin erlebt) und die individualistische Autonomieillusion: ,,[A]ufgrund der Anrufung", so Laclau zustimmend, leben "Individuen ihre Lebensbedingungen [... ], als wären sie selbst deren autonomes Prinzip - als wenn sie, die Determinierten, das Determinierende wären". (Laclau 1981 b, 89) Die Frage, warum sich die Individuen die Verhaltenserwartungen der ISA zu eigen machen, warum sie sich darin wiederkennen,28 wird im Rahmen des 26

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Die "omnihistorische[ ... ]" (Althusser 2012,248) Ursache der Ideologie, die aber keinen einzigen historisch spezifischen ideologischen Gehalt erklären kann, ist, so Althusser im Anschluss an Lacan, die verkennende Anerkennung als Subjekt überhaupt, d.h. die von Lacan als Entfremdung gedeutete Identitätsbildung der Individuen schlechthin. Zu Spinoza und Lacan als Quellen der Althusserschen Ideologietheorie vgl. die klare Darstellung bei Rehmann 2008, 109ff. Althusser lehnt jede Ideologieanalyse im Anschluss an Feuerbach und Marx' Fetischkonzept mit Hilfe strukturmarxistischer Plattitüden ab (v gl. Althusser 2012, 256ff.) und erklärt nonchalant, die "Frage nach der ,Ursache' für die imaginäre Verzerrung der realen Verhältnisse in der Ideologie" sei "hinfällig". (258) Die Althussersche Ideologiekonzeption enthält derart viele Ungereimtheiten und objektivistische Obskuritäten, dass nur ein postmoderner Zeitgeist dieser Konzeption zur Berühmtheit verhelfen konnte. Die gute (wenn auch bisweilen zu unkritische) Übersicht bei Eagleton (2000, 160-180) führt auf: Funktionalismus, ein reines Internalisierungsmodell von Rollenerwartungen, eine "strukturalistische[ ... ] Bewußtseinsfeindlichkeit" (174) der weitgehenden Reduktion von Ideologie auf rituelle Praxis, Übereinstimmungen mit Sorels faschistischem Mythosbegriff sowie blindes Vertrauen auf das aporetische Lacansche Reflexionsmodell von Selbstbewußtsein. Zur Kritik an Letzterem, das vielen prominenten postmodernen Theorien zugrunde liegt, vgl. auch Frank 1991,357364,395-399. Vgl. Althusser 2012, 271ff. V gl. ebd., 266ff.

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funktionalistischen Ansatzes von Althusser, dem Laclau hier noch folgt, nicht beantwortet. Es bleibt für ihn, wie er selbst zugibt, "ein befremdliches Phänomen". (Althusser 2012,269) Miliband stellt nun die Frage, warum z.B. Familien, Schulen, Vereine, Gewerkschaften, Kirchen und Unternehmerverbände, die von Althusser (und im Anschluss an ihn auch von Poulantzas: 1976a, 19ff.) als solche Staatsapparate identifiziert werden, prinzipiell ideologische Staatsapparate sein sollen. Hier, so Miliband, werde eine fatale Konfundierung nicht totalitärer und totalitärer Regime vollzogen, die diese häufig privaten und damit nichtstaatlichen Institutionen in der Tat unter staatliche Kontrolle stellen. 29 Wie begründet Poulantzas aber die Staatlichkeit der Apparate, deren Funktion er in der "ideologischen Indoktrinierung" (Poulantzas 1973, 323) sieht30 ? 1) Alles, was politische Herrschaft (bei Poulantzas gleichbedeutend mit staatsbezogener Herrschaft) reproduziere, sei staatlich. Weil politische Herrschaft nicht allein über das "Mittel der organisierten physischen Repression" funktionieren könne, sondern die "Mitwirkung der Ideologie" erfordere, seien deren Apparate "direkt in das staatliche System eingegliedert". (323) Oder kurz gesagt: Weil politische Herrschaft, die staatlich organisiert ist, der Ideologie bedarf, ist die Ideologie staatlich. 2) Alles, was gesellschaftliche Kohäsion stifte und die Produktionsbedingungen reproduziere, sei staatlich. Der Staat dürfe nicht allein als Instanz begriffen werden, die die "Macht mittel zur physischen Repression" beinhalte, sondern müsse über seine Funktion zur gesellschaftlichen Kohäsion und Reproduktion begriffen werden, über seine "Rolle in der Aufrechterhaltung der Einheit und des Zusammenhangs einer gesellschaftlichen Formation, in der Aufrechterhaltung [... ] und damit der Reproduktion der gesellschaftlichen Produktions bedingungen" . (324) 3) Alles, was von organsierter Zwangsgewalt geschützt werde, sei staatlich. Der repressive Staatsapparat (RSA) garantiere die Funktion der ISA, was so viel heißen könnte wie: erbietet Rechtsgarantien für Verbände, Schulen, Kirchen usw. Dann müssten, so lässt sich folgern, aber auch Arbeitsverträge, weil staatlich über das Recht garantiert, Staatsapparate sein. 4) Der "Staat selbst" treffe die Unterscheidung privat/ öffentlich - und zwar mittels des Rechts. Da diese Unterscheidung also lediglich "eine rein formaljuristische" Unterscheidung des Staates sei, könne sie nicht dazu verwendet werden, den Staat im Unterschied zur Ökonomie zu bestimmen. (327) Mit der Behauptung, es sei für die Frage des Charakters einer Institution als ISA irrelevant, ob diese privat oder öffentlich ist, werde, so lautet Laclaus Kritik, der Staatsbegriff von einem Begriff für eine relativ autonome Instanz zu einem reinen Funktionsbegriff verschoben. 3l Der Begriff des Staates umfasse nun alles, was die Funktion der "Kohäsion" einer widersprüchlichen Gesellschaft ausfüllt. Damit wäre, um Laclaus Überlegung zu ergänzen, auch der Markt staatlich, weil er eine, wenn auch antagonistische, Form der Konstitution von gesellschaftlichem Zusammenhang 29 30

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Vgl. Miliband 1976a, 33. Allerdings schaffen Poulantzas zufolge die ISA die Ideologien nicht, sondern arbeiten die auch ohne sie bestehenden Klassenideologien aus und systematisieren sie (vgl. Poulantzas 1973,328). Vgl. Laclau 1981a,62.

ist. Und auch der Staat wäre zum Teil ,nicht-staatlich', weil er als Rechtssystem die Form des Privateigentums und damit der Konkurrenz und Dissoziation der sozialen Einheit mitkonstituiert,32 wie Poulantzas im Kontext seiner These vom rechtlich vermittelten Vereinzelungseffekt ja selbst proklamiert.)) Es handle sich, so Laclau, dabei um den Fehlschluss von der These, der Staat sei eine "Instanz, die den Zusammenhalt zwischen den Ebenen einer Gesellschaftsformation herstellt, zur Behauptung, alles, was zum Zusammenhalt einer Gesellschaftsformation beiträgt, gehöre per definitionem zum Staat." (Laclau 1981a, 61) Damit werde die Staat/Gesellschaft-Differenz aufgelöst in die Differenz von integrativen/desintegrativen Praktiken. Insbesondere werde damit der spezifische Charakter des bürgerlichen Staates als relativ autonome Sphäre und öffentliche Zwangsgewalt eskamotiert. Allerdings will Poulantzas den "ökonomische[n] Apparat, der [... ] aus ,Produktionseinheiten' besteht" (Poulantzas 1973, 326), nicht zum Staat zählen. Seine Begründungen bleiben - ausgehend von seinen oben dargestellten Argumenten aber opak: 1) Ökonomische Apparate seien keine ökonomischen Staatsapparate (ÖSA), weil die Kohäsionsfunktion, die den Staat definiere, darin bestehe, die "Einheit einer in verschiedene gesellschaftliche Klassen gespaltenen [... ] Formation" und die "politische[ ... ] Klassenherrschaft" (325) zu garantieren. Wenn sich das nun auf die gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit staatlicher Entscheidungen bezieht, so landet man wieder bei der Unterscheidung öffentlich/privat, die Poulantzas oben ja explizit unterlaufen wollte. Wenn es sich auf die bloße faktische Reproduktion bestimmter Formen gesellschaftlicher Einheit bezieht, so sind der kapitalistische Betrieb und Markt zumindest auch reproduktiv, weil sie die Einheit der Formation ebenso wie ihre Gegensätze reproduzieren. Damit wären sie - der unplausiblen Argumentation Poulantzas' zufolge - doch staatlich. 2) Zudem, so Poulantzas, seien sie keine ,ÖSA', weil der ökonomische Apparat die "Rolle der Ausbeutung zu erfüllen hat", "während die Staatsapparate [... ] nicht ausbeuten". (326) Das ist aber eine willkürliche Zusatzbestimmung, die völlig offen lässt, wie es mit verstaatlichten Betrieben aussieht, die innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz stehen. Schließlich müsste auch dann wieder die Zirkulationssphäre zum Staat gehören, weil dort auch nicht ausgebeutet und auch sozialer Zusammenhang gestiftet wird. 34 )2

Von anderen Dissoziationseffekten des Staates wie Bürgerkriegen, politischen Krisen usw. ganz abgesehen. Vgl. Poulantzas 1974, 132f., 220. Das ist sogar letztlich Poulantzas' These, denn er behauptet, der "Vereinzelungseffekt" des Marktes sei eine Überbau funktion (vgl. Poulantzas 1974, 132). Es bleibt dort unklar, wie die Produktionsverhältnisse als Zuordnung von unmittelbaren Produzenten, Nichtproduzenten und Produktionsmitteln überhaupt funktionieren, weil Poulantzas den Funktionszusammenhang der kapitalistischen Ökonomie künstlich mittels der Schubladen Basis/Überbau auftrennt und zudem die ökonomische Dimension auf die ,reine', produktionszentriert verstandene Ausbeutung reduziert, ohne Marktprozesse zu berücksichtigen. Nur so kommt auch die absurde These zustande, die Konkurrenz privat-isolierter Produzenten sei ein ideologischer Effekt, hinter dem die realen, durch die Ausbeutung bestimmten Klassenverhältnisse verborgen lägen. Poulantzas reduziert die Zirkulations bestimmungen, die in der Tat - projiziert auf den kapitalistischen Gesamtreproduktionsprozess - ideologische Effekte zeitigen (Reich der

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Eine weitere Kritik Laclaus an der ISA-Theorie lautet, dass Ideologie hier nur als Unterwerfung in Form der Selbst tätigkeit begriffen werden könne, die zur Reproduktion des "bestehenden Herrschaftssystem [s]" (Laclau 1981 b, 191) beiträgt, denn "subjektivierende Unterwerfung" (Althusser 2012, 278) im Rahmen ideologischer Anrufung bedeutet Althusser zufolge, dass diejenigen, die die großen "SUBJEKTE" Staat, Gott usw. anerkennen, sich darin als kleine Subjekte wiedererkennen und so "die Reproduktion der Produktionsverhältnisse gewiihrleist[enj" (279), indem sie als Akteure "ganz von selber [... ] funktionieren". (278) Laclau betont dagegen, es gebe auch "Ideologien der beherrschten Klassen", in denen der "Mechanismus der Selbst-Unterwerfung des Individuums", der "ethische Zwang" durch Anrufung als Subjekt, revolutionären Interessen dienen könne. Anrufung könne "verschiedensten objektiven Interessen dienen". (Laclau 1981 b, 191) Die Anrufung" 'Arbeiter aller Länder, vereinigt Euch!'" z.B. bedeute die "Schaffung von Bedingungen für die Befreiung der Ausgebeuteten". (191) Auch hier würden Individuen als Subjekte angerufen, was gemäß den von Laclau ja ausdrücklich geteilten Althusserschen Prämissen bedeuten würde, dass hier eine Identifizierung als Verkennung sowie eine Unterwerfung praktiziert würden. Es stellt sich dabei erstens die Frage, in welchem Sinne hier von einer Unterwerfung der Individuen gesprochen werden kann: a) Wenn man den Lacanschen Entfremdungsfatalismus hinzuzieht, ist das banal, weil jede Identität (und damit jede Form von Handlungsfähigkeit) als ,Unterwerfung' des Mannigfaltigen unter die imaginäre Subjekteinheit begriffen wird. Damit entfällt aber auch jeder spezifische politische Informationsgehalt dieses Unterwerfungsbegriffs: Wenn ich als männlicher Jugendlicher, Arbeiter, sprachbegabtes Subjekt, frei assoziierter Produzent und KZ-Insasse gleichermaßen ,unterworfen' bin, dann verfehlt dieser Begriff ganz einfach entscheidende sachliche Differenzen. b) Soll es vielleicht eine Art oppositionellen Kollektivismus meinen, in dem das Individuum sich bedingungslos der Partei oder Bewegung unterwirft? Das würde zumindest dem von Laclau beiläufig verwendeten Begriff des "ethischen Zwangs" einen Sinn geben und zu der besinnungslosen Begeisterung vieler Vertreter (nicht nur) der AlthusserSchule für den totalitären Maoismus in den 60er/70er Jahren passen. Hier wäre die Frage, was daran noch emanzipatorisch sein könnte, wobei aber ganz grundlegend gefragt werden muss, ob der (post-) strukturalistische Ansatz es erlaubt, Emanzipation zu denken. c) Soll es kollektive Handlungsfähigkeit meinen? Dann wäre aber der Begriff der Unterwerfung wieder fragwürdig und es müssten freiwillige, die eigenen Interessen realisierende und Handlungsfähigkeiten erweiternde Praxisformen trennscharf von herrschaftlichen (= Unterwerfung) geschieden werden. 35 Zweitens

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Freiheit, Gleichheit und des Eigentums durch eigene Arbeit), wegen dieser Effekte selbst auf einen ideologischen Effekt. Die Zirkulations bestimmungen sind aber reale ökonomische und rechtliche Bestimmungen. Im Grunde existiert wertvermittelter Austausch, der ja gerade die relative Autonomie der Ökonomie im Kapitalismus ausmacht, im Denken von Poulantzas nicht. Dies wird auch in der Staatstheorie nicht korrigiert, vgl. Fußnote 10. Auch in Hegemonie und radikale Demokratie gelingt Laclau/Mouffe keine sinnvolle Differenzierung zwischen Unterordnung, Unterwerfung und Herrschaft. Ein "Unterordnungsverhältnis" sei die "Unterwerfung eines sozialen Agenten unter die Entscheidungen eines anderen". "Unterdrückungsverhä'ltnis[sej" seien "jene Unterordnungsverhältnisse, die sich zu Or-

stellt sich die Frage, in welchem Sinne dieses revolutionäre Individuum-als-Subjekt eine Verkennung beinhalten soll? Warum wäre bei einem Beitrag zu einer kollektiven, fundamental gesellschaftsverändernden Praxis die kohärente Handlungsfähigkeit imaginär (und warum ist sie überhaupt imaginär, denn nur wirkliche, wenn auch relative, Kohärenz kann wirkliche Erkenntnisse und Handlungen bewirken)? Die spätere Entwicklung Laclaus schwenkt auf eine, auch bei Althusser angelegte, Sorelsche/Mussolinische Position ein: Wichtig sind handlungs motivierende Mythen (was hier ein imaginäres Verhältnis zu realen Existenzbedingungen meint), nicht die theoretische Wahrheit/Falschheit von Denkinhalten. 36 Für eine faschistische Bewegung mag das gut funktionieren, aber für eine sozialistische, die ja den Gedanken kollektiv-rationaler Gestaltung der materiellen Reproduktion 37 und wirklicher Aufhebung bestimmter Herrschaftsverhältnisse notwendig beinhaltet und damit auch wahre Aussagen über die zu verändernde Gesellschaft treffen muss, bleibt solch ein Ansatz in höchstem Maße fragwürdig. Hier aber bleiben diese Fragen offen und zeigen letztlich eine theoretische Anomalie an, die die Verwendung strukturalistischer Kategorien in einem kommunistischen Kontext bewirkt. 2. Faschismus, Populismus, Ideologie

Laclaus Kritik an Nicos Poulantzas' Buch Faschismus und Diktat/Ir (1970) geht weit über die konkrete Frage der Faschismusanalyse hinaus und beinhaltet eine Theorie des ideologischen Kampfes und der diskursiven Verknüpfung von Elementen, die spätestens gegen Ende der 1970er Jahre einen radikalen Paradigmenwechsel Laclaus hin zum ,Postmarxismus' einleitet. 2.1. Poulantzas über den Klassencharakter des Faschismus

Poulantzas begreift den Faschismus als spezifische Herrschaftsform einer Ausnahmegestalt des ,interventionistischen' kapitalistischen Staatstyps. 38 Diese komplexe Bestimmung impliziert, dass Poulantzas den Faschismus weder aus dem Kapitalismus im allgemeinen (Ebene der Produktionsweise) noch aus einem bestimmten ,Stadium' der Entwicklung des Kapitalismus (,Monopolkapitalismus' bzw. ,Staatsinterventionismus(39) ableitet, sondern ihn innerhalb dieser Strukturen aus einer kon-

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ten von Antagonismen transformiert haben". Der faktische Gegensatz von Interessen und Anschauungen entscheidet offenbar über die Bestimmung als Unterdrückung. "Herrschaftsverhältnisse" schließlich seien solche "Unterordnungsverhältnisse, die von der Perspektive oder im Urteil eines sozialen Agenten, der außerhalb ihrer steht, als illegitim betrachtet werden". (Laciau/Mouffe 2000, 194) Sowohl Unterdrückung als auch Herrschaft werden so von den zufälligen und willkürlichen Urteilen von Subjekten abhängig gemacht. Eine völlige 5ubjektivierung des Unterdrückungsbegriffs findet sich auch in der affirmativen Darstellung postmoderner Normativität bei Amlinger 2020,333. Vgl. Eagleton 2000, 174f., Opratko 2012, 148. Auch von diesem Gedanken wird sich Laclau allerdings verabschieden, vgl. kritisch dazu Hirsch 2009. Vgl. Poulantzas 1973,332-336. Poulantzas' Begrifflichkeit weist starke Übereinstimmungen mit dem Marxismus-Leninismus auf, er verwendet die oft gleichlautenden Begriffe aber bisweilen differenzierter als im ML. So

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kreten historischen Klassenkampfkonstellation hervorgehen sieht. Er grenzt sich damit deutlich von den deterministischen Stadientheorien des Faschismus ab, die in der Kommunistischen Internationale (KI) vertreten wurden. Diese betrachteten den Faschismus als unvermeidliche, letzte und die revolutionären Energien der Arbeiterklasse unabsichtlich befördernde Form der ,Diktatur des Großkapitals', als bloßes Werkzeug und "offene, terroristische Diktatur" letztlich nur der "reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" (Dirnitroff 1976, 97), ohne die Massenbasis und ideologische Integrationsfähigkeit faschistischer Bewegungen zu begreifen. 4o Der Ökonomismus, so Poulantzas, sei das zentrale Kennzeichen aller Faschismusanalysen der KI. Er leite den Faschismus in durchaus unterschiedlicher und widersprüchlicher Weise direkt aus ökonomischen Krisenphänomenen ab, sei es die Weltwirtschafts krise, sei es die sog. ,allgemeine Krise' des ,Monopolkapitalismus'.41 Poulantzas zufolge reagiert der Faschismus in spezifischer Weise auf eine Hegemoniekrise des Blocks an der Macht: Weder innerhalb des Bündnisses der herrschenden Klassen noch zwischen diesem und den beherrschten Klassen könne die stabile Führung einer Fraktion oder Klasse etabliert werden. 42 Dies bedeute im Falle Italiens und Deutschlands keineswegs, dass die Revolution vor der Tür gestanden habe und die Bourgeoisie aus Furcht vor der Arbeiterklasse nun zur faschistischen Krisenlösung greifen musste. 43 Vielmehr habe der Hegemonieunfähigkeit des Machtblocks eine in der Defensive befindliche, geschwächte Arbeiterbewegung gegenübergestanden. 44 Poulantzas betont neben der noch zu behandelnden ideologischen Krise besonders die Repräsentationskrise innerhalb des Machtblocks: Es komme zu einem "Bruch des Verhältnisses zwischen den herrschenden Klassen [... ] und ihren politischen Parteien". (Poulantzas 1973, 73) Der Faschismus reorganisiere die Hegemonie unter der Führung des ,Monopolkapitals'45, indem er das Machtzentrum vom Parlament und den Parteien auf parastaatliche Organisationen (z.B. NS-Bewegung mit Kampfbünden sowie "ökonomisch-ständische[ ... ] ,pressure

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stellt er fest, dass der Staat des sog. Konkurrenzkapitalismus keineswegs nicht in die Ökonomie interveniert habe (v gl. Poulantzas 1974, 54f., 156). Allerdings bleiben Poulantzas' Kategorien ökonomietheoretisch vage. Was gen au die Rede vom ,Monopolkapitalismus' legitimieren soll, bleibt weitgehend im Dunkeln. Vgl. Poulantzas 1973,86,157. Vgl. ebd., 52-55. Vgl. ebd., 71f.. Die Furcht vor der Arbeiterklasse, das muss Poulantzas aber zugestehen, war nach der Revolution von 1918 in Deutschland ständiger Begleiter des bourgeoisen Denkens (vgl. ebd., 148). Vgl. ebd., 50, 82f., 144ff. Poulantzas' Begrifflichkeit ist hier undifferenziert. Die von ihm verwendete Unterscheidung von Großkapital und mittlerem Kapital (vgl. ebd., 95) trifft die inneren Spannungen der kapitalistischen Klassenfraktionen am Vorabend des Dritten Reichs nicht wirklich (vgl. Sablowski 2006, 270f.). Zwar entgehen ihm nicht ganz die erheblichen Interessengegensätze zwischen exportorientiertem Kapital einerseits, Schwerindustrie und Großagrariern, die nach der Weltmarktkrise die Oberhand gewinnen, andererseits (vgl. Poulantzas 1973,96, vgl. ausführlich dazu Hoffmann 1996,376-381), er hält dies aber gegenüber dem oben erwähnten Widerspruch innerhalb des Machtblocks für ein untergeordnetes Moment.

groups', die [ ... ] unmittelbar auf die Exekutive einwirkten" (106)) und eine verselbständigte Exekutive (politische Polizei, Verwaltung, Richterschaft, Armee) verlagere. 46 Im Gegensatz auch zu bonapartistischen Regimeformen zeichne sich der Faschismus dabei durch das "Vorhandensein einer Massenpartei" mit starker außerparlamentarischer Orientierung und "durch eine permanente Mobilisierung der Volksrnassen" aus. (355) Zudem stehe diese Bewegung, obwohl systematisch vom repressiven Staatsapparat der vorfaschistischen Phase unterstützt, im Gegensatz zum klassischen Bonapartismus, zunächst außerhalb des Staatsapparats, und forciere, einmal an der Macht, eine antibürokratische Pluralisierung der Machtzentren. 47 Der Faschismus sei keineswegs bloßes Werkzeug einer kleinen Gruppe von Finanzkapitalisten, wie die offizielle KI-Linie behauptete, sondern weise eine spezifische "relative Autonomie sowohl gegenüber dem Block an der Macht als auch gegenüber der Fraktion des monopolistischen Großkapitals" auf (87), einmal, weil er, wie jede Form kapitalistischer Herrschaft, eine spezifische doppelte Kompromiss- und Repräsentationsstruktur zwischen dominanter Klassenfraktion und mitherrschenden Klassen im Machtblock sowie zwischen diesem und den beherrschten Klassen etablieren müsse. 48 Darüber hinaus, weil er sich auf eine bestimmte soziale Bewegung stützen könne - seine vor allem kleinbürgerliche Massenbasis und ihre faschistische Ideologie. Poulantzas zufolge kann der Faschismus ohne eine Analyse von Ideologien und ideologischen Staatsapparaten denn auch nicht begriffen werden. Er spricht von der "entscheidenden Rolle, die in solchen historisch bestimmten Umständen der Ideologie zukommt". (76) Der "Ideologie der herrschenden Klasse" (76) gelinge es, die in einer Gesellschaftsformation vorhandenen "ideologische[nJ Subsysteme", also hier die Ideologien der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums, "zu durchtränken". (77) Eine allgemeine ideologische Krise sei am Vorabend der Machtübernahme des Faschismus zu konstatieren, weil sowohl die Klassen des Machtblocks als auch die Arbeiterklasse in einer ideologischen Krise steckten. Der Begriff der Krise bleibt hier vage. Im Anschluss an Althussers Ideologiekonzeption bestimmt Poulantzas sie lediglich als den Sachverhalt, dass die jeweiligen Klassen "ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen auf die gleiche Art und Weise nicht mehr ,leben' können". (78) Die ideologische Krise des Machtblocks zeige sich daran, dass dessen ,,'Ideologiefunktionäre'" sich von den bisherigen Formen der Parteienvertretung und den etablierten Herrschaftsformen der Bourgeoisie lossagen: Kritik des Parteienstaats und des Parlamentarismus als solchen, Kritik der ,Bürgerlichkeit' bis hin zu pseudoantikapitalistischen Phrasen, Kritik aber auch des bürokratischen Dienst-nachVorschrift-Typs des bloß autoritären Staats USW. 49 Die ideologische Krise der Arbeiterklasse werde organisatorisch am Bruch zwischen Kommunistischer Partei und Arbeitermassen erkennbar und bedeute den Rückzug "der marxistisch46

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Vgl. Poulantzas 1973,74,106,132. Vgl. ebd., 353ff.. Vgl. ebd., 87f. sowie Poulantzas 1974, 139f., 194f., 316. Vgl. ebd., 78,110,137. Als typische Beispiele für solche Intellektuellen können im vorfaschistischen Deutschland z.B. Kar! Jaspers oder earl Schmitt gelten.

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leninistischen Ideologie" aus dem Proletariat und der Partei gleichermaßen sowie das Eindringen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie in den "leer gebliebenen Raum". (150) Welche Effekte dieses Eindringen hat, soll über den Umweg der Bestimmung der kleinbürgerlichen Ideologie gezeigt werden, der Poulantzas wesentlich größere Aufmerksamkeit widmet als der lediglich diffusen Konturierung der bürgerlichen und proletarischen Ideologie. Poulantzas identifiziert zwei Fraktionen des Kleinbürgertums, die ökonomisch unterschiedliche Positionen einnehmen, deren politisch-ideologische "Auswirkungen" aber identisch seien (253): Das alte Kleinbürgertum bestehe aus Händlern und Kleinproduzenten, die Eigentümer ihrer Produktionsmittel seien, aber "selbst nicht unmittelbar Lohnarbeit ausbeuten". (253) Das neue Kleinbürgertum hingegen bestehe aus "unproduktive[n] kleinen Gehaltsempfänger[nJ" (254), die im Staatsdienst oder in Zirkulations funktionen beschäftigt sind. Beiden Gruppen sei ökonomisch lediglich gemeinsam, dass sie "weder der Bourgeoisie noch dem Proletariat angehören." (255)50 Da die unterschiedlichen ökonomischen Positionen und Erfahrungen der beiden Gruppen aber "auf der politischen und ideologischen Ebene [... ] die gleichen Auswirkungen" hätten, könnten sie als "Teile ein und derselben Klasse" bestimmt werden (255): "Das Kleinbürgertum nährt sich buchstä'blich selbst von der Ideologie, die es zusammenkittet." (262) Es fungiere im Faschismus wesentlich als staatsunterstützende Klasse 51 und halte ihm "aus ideologischen Gründen massiv und bis zum Letzten" die Treue. (262) Der Faschismus repräsentiere nicht das Kleinbürgertum im Sinne einer Vertretung seiner ökonomischen Interessen, sondern lediglich im Sinne faktischer organisatorischer und ideologischer Verbindungslinien. Damit etabliere er zugleich ein indirektes Bündnis zwischen ,Monopolkapital' und Kleinbürgertum. 52 Die kleinbürgerliche Ideologie ist Poulantzas zufolge nun ein spezielles Phänomen, da es im Kapitalismus eigentlich "nur die Ideologien der beiden Hauptklassen, Bourgeoisie und Proletariat" gebe, "die politisch absolut gegensätzlich sind". (256) Bereits hier schließt er ökonomische Klassenlage und bestimmte Formen des politischen Bewusstseins kurz, ohne diesen Schritt inhaltlich zu rechtfertigen oder die Transformation von gegensätzlichen ökonomischen Interessen auf der Grundlage des Verhältnisses Lohnarbeit-Kapital in "unversöhnlich [e]" (259) "politische!... ] Klassenstandpunkt!ej" (255) anzugeben. Die Diagnose eines charakteristischen traditionsmarxistischen Kurzschlusses von positionellen und ethischen Interessen ist hier naheliegend. 53 Das kleinbürgerliche ideologische "Subsystem" entstehe durch 50

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Zur Kritik an Poulantzas' Klassenanalyse, insbesondere seiner Bestimmung des Kleinbürgertums, vgl. Koch 2006, 131 H. sowie Lac!au 1981 b, 97ff. Zum Begriff vgl. Poulantzas 1974, 252ff. V gl. Poulantzas 1973, 265f., 267. Ich folge in deren Bestimmung Schuck 2014. Dieser unterscheidet subjektive Interessen von positionellen Interessen und diese wiederum von ethischen Interessen. Während subjektive Interessen individuelle Präferenzen sind, die in der Psyche von Akteuren lokalisiert sind, sind positionelle Interessen insofern objektiv, als sie institutionalisierte Verhaltens erwartungen oder strukturelle Zwänge bezeichnen (Schuck 2014, 308), die sich relativ unabhängig von den Deutungsleistungen der Akteure konstituieren und die sich Akteure bei der Verfolgung sub-

die "Vermischung" der proletarischen und "bürgerlichen Ideologie mit den spezifischen kleinbürgerlichen Wunschvorstellungen". (256) Furcht vor der Proletarisierung und Festhalten am kleinen Eigentum einerseits, Furcht vor der Konkurrenz durch das Großbürgertum und Existenz als unmittelbar Arbeitende andererseits sollen beim alten Kleinbürgertum folgende ideologische Auswirkungen zeitigen: privateigentumszentrierter, am status quo festhaltender Pseudoantikapitalismus (Opposition gegen "Plutokratie" und Monopole); Elitedenken und Mythos des leistungsbasierten individuellen Aufstiegs; "Fetischismus der Macht" (257) als Glaube an den klassenneutralen, starken Staat und ,Mittelstandsideologie'. Die staats nahe und über das Bildungssystem vermittelte Position des neuen Kleinbürgertums habe ähnliche Auswirkungen. Bei ihm stehen die Bildungsreligion, die starke Identifizierung mit den Spitzen des Staates und die Idee der neutralen, allein Sachzwängen folgenden Bürokratie im Vordergrund. Nun soll auch noch die Ideologie des Kleinbürgertums in eine Krise geraten, was dazu führe, dass die spezifisch kleinbürgerlichen Elemente dieser Ideologie deutlicher getrennt von ihren bürgerlichen ,Verwässerungen' auftreten sollen und insbesondere der "systemimmanente[ ... ]" (268) Pseudoantikapitalismus vorherrschend werde. Die zur Ideologie des "rebellierenden Kleinbürgertttms"54 (269) modifizierte Ideologie sei im Faschismus damit prima facie zur

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jektiver Interessen zu eigen machen müssen, ohne dass sie diese (die positionellen Interessen) bejahen müssen. "Positionelle Interessen", so Schuck, "unterwerfen die Möglichkeit eines guten Lebens - und nicht selten auch die des nackten Überlebens - sozio-strukturell bedingten Zwecken." (317) Sie bezeugen die "Existenz eines kausalen Einflusses materieller Verhältnisse auf die Bestrebungen und Handlungspräferenzen" von Akteuren (300) und zeigen, dass Interessen nicht "voraussetzungslos produziert [werden] - als gäbe es keine sozialen Bedingungen, sondern nur ,pure' soziale Praxis, die jederzeit ihre eigenen Motive gleich mitliefert." (314) Es ist also etwa unter kapitalistischen Vergesellschaftungsbedingungen das objektive Interesse eines produktionsmittellosen Menschen, seine Arbeitskraft erfolgreich zu verkaufen, wenn er das Ziel des Überlebens hat. Ethische Interessen hingegen bezeichnen Motive eines guten Lebens, die auch im Falle eines sozialistischen ethischen Interesses lediglich kontingent mit dem positionellen Interesse als Lohnarbeiter verknüpft sind. Man kann zwar behaupten, die Arbeiterklasse als ganze könne sich nur von Ausbeutung emanzipieren, wenn sie den Sozialismus realisiert. Aber dass der einzelne Lohnarbeiter durch seine position ellen Interessen gezwungen wäre, diesen Standpunkt der Arbeiterklasse als ganzer einzunehmen, ist nicht plausibel. Poulantzas' Bestimmung objektiver Interessen bleibt dagegen kryptisch: Er betrachtet die Macht einer Klasse als die "Fähigkeit [... ] [,] ihre objektiven Interessen durchzusetzen". (Poulantzas 1974, 114) Diese "objektiven Interessen" wiederum begreift er als "Grenzen des Umfangs einer spezifischen Klassenpraxis". (114) Es ist zu vermuten, dass hiermit die strukturelle Begrenzung von Handlungs- und Interpretationsspielräumen durch die ökonomische Position gemeint ist. Die objektiven Interessen können sich aber, so Poulantzas weiter, "infolge der Einwirkung der Ideologie" durchaus "unterscheiden [... ] von der Vorstellung, die sich die Agenten oder sogar die Klassen von diesen Interessen machen." (115) Dies bedeute aber keineswegs, dass die ideologischen Interessen bloß subjektiv seien. Was allerdings ,objektive ideologische Interessen' ausmachen soll, bleibt ungeklärt. Auch hier ist nur zu mutmaßen, dass der ideologische Effekt nicht auf einer individuellen, zufälligen Verkennung gründen soll, sondern in ideologischen Apparaten systematisch erzeugt wird. Dieser Begriff des Rebellischen passt ausgezeichnet zu Erich Fromms Kategorie des rebellischen Charakters, der im Namen einer ,wahren', machtvollen Autorität gegen eine als

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herrschenden Ideologie geworden. Diese modifizierte kleinbürgerliche Ideologie weise nun wiederum starke Übereinstimmungen mit der "imperialistischen Ideologie" auf, die damit "in mittelbarer und verschleierter Form" im Faschismus die herrschende Ideologie stelle: "Von der Fetischisierung der Macht der [sic] ,starken Staats' und von aggressivem und zum Selbstzweck gewordenen Nationalismus bis hin zur mythischen Überhöhung des Staats gedankens und zum Führerkult, von Antiparlamentarismus bis hin zum Korporativismus und Autoritarismus erstreckt sich der Bogen der gemeinsamen Züge" von imperialistischer und rebellischkleinbürgerlicher Ideologie (269) .55 Folgen des Eindringens der bürgerlichen Ideologie in die Arbeiterklasse seien "Trade-Unionismus und [... ] Reformismus" (151), Folgen des Eindringens der kleinbürgerlichen Ideologie in das Proletariat 56 hingegen 1) der Anarchismus in seiner arbeiterspezifischen Form als Anarcho-Syndikalismus mit der Ablehnung von Parteiorganisationen und der Betonung des Betriebs als Aktionsort; 2) der Spontaneismus als "Verachtung der Organisation" und "Kultus der spontanen ,direkten Aktion'" (151); 3) der "putschistische Banditismus" mit seiner "Verherrlichung der ,exemplarischen Gewalt' durch ,aktivistische Minderheiten'" (152); 4) der nationalistische Chauvinismus. Insbesondere der Syndikalismus gilt Poulantzas allerdings als "Reaktion des ,Klasseninstinkts' der Arbeiterklasse gegen die politische Linie der revolutionären Organisationen", die aber unter dem Einfluss der kleinbürgerlichen Ideologie "in die Irre" gegangen (152) und "keineswegs ,linksradikal'" gewesen sei. (153) Im Gegenteil sei ein "immer deutlicher werdende[s] Abwandern spontaneistischer und anarcho-syndikalistischer Elemente [ ... ] in die faschistischen Parteien" zu verzeichnen gewesen, "um dann den sogenannten ,linken' Flügel dieser Parteien zu bilden.,,57 (154)

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schwach wahrgenommene aufbegehrt, vgl. Fromm 1989,185. Leider rezipiert Poulantzas sozialpsychologische Faschismustheorien nicht. Poulantzas' Katalog der Elemente der faschistischen Ideologie ist eine Liste der Gemeinsamkeiten der beiden o.g. Ideologien: 1) Etatismus und nationalistischer Kollektivismus; 2) vom Rechts- zum Maßnahmestaat; 3) Elitismus; 3) Rassismus und Antisemitismus; 4) Nationalismus; 5) Militarismus und Gewaltkult. Woher genau diese Ideologien kommen, wie sie entstehen und was genau sie den einzelnen Klassen zuordenbar machen soll, bleibt oft vage. Der Antisemitismus und der Rassismus werden nicht deutlich voneinander geschieden und rein funktionalistisch den Klasseninteressen des Klein-/Großbürgertums zugeordnet (expansionistische Interessen, Ablenkung des kleinbürgerlichen Antikapitalismus usw., vgl. Poulantzas 1973, 272). Poulantzas kritisiert zwar den "Antikapitalismus" des "rebellierenden Kleinbürgertums" als nicht-sozialistisch und chauvinistisch. Er trennt diesen aber künstlich vom Antisemitismus ab, so als handle es sich dabei um zwei vollkommen getrennte ideologische Komplexe - so, wenn er meint, der Hass auf den ,jüdischen Wucherer' "paßte" zum kleinbürgerlichen "Antikapitalismus" (272) und der Antisemitismus wiederum ,,[ .. ]lenkte" "den Antikapitalismus der kleinbürgerlichen Massen auf die ,Juden' ab[ ... ]". (272) Eine genaue Klärung der durch und durch fetischistischen und personalisierenden Gehalte des vermeintlichen ,Antikapitalismus' des Kleinbürgertums unterbleibt ebenfalls. "Der Einfluß der kleinbürgerlichen Ideologie auf die Arbeiterklasse zeigte sich in spezifischen Formen, die [... ] dem unmittelbaren Lebensbereich der Arbeiterklasse angepaßt waren." (Poulantzas 1973, 151) Dies bestätigt die Analyse der Forschergruppe um Zeev Sternhell (1999).

Die "ideologische Integrationsfunktion" des Faschismus "wirkte über das Vehikel des kleinbürgerlichen ,Antikapitalismus"', der zusätzlich "bestimmte authentisch ,proletarische' Themen aufnahm". (174) Poulantzas spricht hier von einer Funktionalisierung der drei genannten Verbindungen von kleinbürgerlicher Ideologie und proletarischer Lebenslage: "Kult der Gewalt" (188), Stilisierung zur ,,'AntiPartei'" (187), syndikalistische Betriebsorientierung und putschistischer Pseudoantikapitalismus. (216) Vom ,Antikapitalismus' in der faschistischen Ideologie spricht Poulantzas stets in Anführungszeichen: Der faschistische "Kampf gegen die liberale Ideologie" beinhalte "einen ,antikapitalistischen' - keineswegs jedoch sozialistischen - Aspekt". (110) Erwähnt werden "Versöhnungsversuche zwischen den nationalistischen Traditionen und Elementen der Ideologie der Arbeiterklasse", die sich "in Angriffen auf die ,Plutokratie"', Ideen einer Nationalisierung von Aktiengesellschaften und der antiimperialistischen These eines kolonisierten Deutschland (deutsche Wirtschaft "in den Händen des internationalen Finanzkapitals" (Strasser) (202)) zeigen sollen. D.h., der Nationalismus ist und bleibt für Poulantzas eine ,nichtproletarische' ideologische Tradition, die als Ideologie des "rebellierende[n] Kleinbürgertum[s]" (202) in die Arbeiterklasse eindringt. Ein wesentliches Moment der ,ideologischen Krise' der Arbeiterklasse sei die "sozialchauvinistische[ ... ] Schwenkung" der KPD vor allem im Zuge der SchlageterKampagne 1923, aber auch gegen Ende der Weimarer Republik, die "die Agitation gegen den Frieden von Versailles in ganz offen nationalistischer Weise für sich zu benutzen versuchte, um die ,nationalistischen Kleinbürger' für sich zu gewinnen". (179) Es wird zwar deutlich, dass Poulantzas diese "Ausnutzung des ,Nationalismus' des Kleinbürgertums" (179) ablehnt - er spricht treffend davon, "in welche Verwirrung die Position der KPD, die sich in mehreren Punkten mit der des Nationalsozialismus deckte, die deutschen Massen stürzte" (197,203) - weitere Analysen der nationalistischen Elemente der KPD-Linie finden sich aber nicht. Allerdings äußert sich Poulantzas zumindest kritisch über die damit verbundenen politökonomischen und staatstheoretischen "Problem [e] der Konzeption der Volksfrontpolitik" der KI, die mit Dimitroffs Faschismusformel auf dem 7. Weltkongress den Endpunkt einer "Eskalation beständiger Verengung" der ökonomischen Interessen, die der faschistische Staat "unmittelbar vertrete" (100), erreicht habe: "Sie propagiert das breitestmögliche antifaschistische Bündnis, das alle Fraktionen des Kapitals mit einbezieht - mit Ausnahme der einen einzigen, als deren ,exklusiver' Repräsentant der Faschismus jeweils angesehen wird". (100) Diese Verengung der "Klassenbasis des Faschismus" (173) verlaufe wie folgt: "Diktatur des Kapitals ,in der Epoche des Niedergangs' (V. Weltkongreß); Diktatur des Großkapitals, des Finanzkapitals (VI. Weltkongreß); Diktatur der ,reaktionärsten, chauvinistischsten, imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals' (VII. Weltkongreß); Diktatur der ,200 Familien"'. (100) Hier trifft Poulantzas einen wesentlichen Punkt des regressiven antiimperialistischen Weltbildes: Dieses geht zunächst von einem personalistisch verstandenen Gegensatz Bourgeoisie-Proletariat aus, um dann sukzessive alle Klassen, auch Kleinbürgertum und bestimmte Kapitalfraktionen, dem ,schaffenden Volk' zu subsumieren, dem zunächst das ,Groß'- oder ,Monopolkapital', dann das ,Finanzkapi-

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tal' und schließlich das ,internationale oder kosmopolitische Finanzkapital' gegenübergestellt wird. 2.2. Ladaus Konzept des popular-demokratischen Klassenkampfs

Poulantzas' Ideologiekonzeption begreift Laclau zufolge die ideologische Krise, die zum Faschismus führt, richtig als "Verdichtung" bestimmter diskursiver Elemente zum "Bruch" mit einer bisher dominierenden Ideologie. (Laclau 1981 b, 82) Er analysiere Ideologien, indem er "sie in ihre konstituierenden Elemente entsprechend ihrer Klassenzugehörigkeit" zerlege. (83) Ideologien wie der Faschismus seien demnach "eine Verschmelzung heterogener Elemente", "wobei [... ] jedes Element seine Klassenzugehörigkeit hat" (84) und behält. Der Nationalismus oder der putschist ische Aktivismus z.B. seien kleinbürgerliche Elemente, die in den proletarischen Diskurs eingespeist werden, ohne ihre Klassenzugehörigkeit zu wechseln, und widersprechen damit den Interessen des Proletariats. Nationalismus sei für Poulantzas damit (klein-)bürgerlicher Chauvinismus und könne "nicht in eine sozialistische Richtung transformiert werden". (86) Poulantzas' Zuordnung dieses Elements zu einer Klassenposition sei aber "ein rein willkürlicher Prozeß". (86) Dagegen postuliert Laclau nun, "daß ideologische ,Elemente', isoliert betrachtet, keine notwendige Klassen-Konnotation haben, und daß diese Konnotation erst das Resultat der Artikulation dieser Elemente in einen konkreten ideologischen Diskurs ist. Die Analyse des Klassencharakters einer Ideologie setzt daher voraus, zu untersuchen, was die spezifische Einheit eines ideologischen Diskurses begründet." (87) Laclau führt an dieser Stelle die ideologischen Elemente Militarismus, Nationalismus und Antisemitismus an. Ich konzentriere mich zunächst auf den letzteren. Antisemitismus könne verschiedenste Klassenkonnotationen annehmen, in der frühen Neuzeit z.B. als "charakteristisches ideologisches Merkmal" des gegen das prozaristische "hebräische Wucherkapital" (87) kämpfenden liberalen polnischen Bürgertums, oder als "Element der Ideologien bestimmter Volksschichten, wegen der Ausbeuterrolle des Wucherkapitals in den Nischen der feudalen Gesellschaft". (87, vgl. auch 190) Zu Recht stellt Laclau fest, dass der Antisemitismus von unterschiedlichen Klassen artikuliert werden kann, was Poulantzas allerdings gar nicht leugnen würde. Die Differenz zwischen beiden besteht in Laclaus Annahme, dass damit kein klassenfremdes Element in den Klassendiskurs eindringt, sondern dieses Element seinen Klassencharakter ändern kann. Zwei strikt zu trennende Fragen tauchen dabei auf, die allerdings bei Poulantzas und Laclau durch ihre unreflektierte Gleichsetzung von ,proletarischen' und ,sozialistischen' Positionen 58 konsequent vermischt 58

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Lac!au beharrt orthodox darauf, der Marxismus-Leninismus sei "ein Element in der Ideologie der Arbeiterklasse". (Laclau 1981 b, 95) Wie dieses Element mit der Arbeiterklasse verbunden ist, bleibt aber unklar. Eine Differenzierung zwischen ökonomischen Interessen und politisch-ethischen Haltungen des Proletariats unterbleibt in seinen frühen Schriften, die genauso wie Poulantzas durchgängig ,proletarisch' mit ,sozialistisch' vermischen. Insofern ist die spätere postmarxistische Ablehnung der ökonomistischen Suche nach einer "Kategorie von Arbeitern [... ], deren ökonomische Interessen sie direkt mit einer sozialistischen Perspektive verbinden" (Laclau/Mouffe 2000, 121), eine implizite Selbstkritik. Dass solche Kritiken aber (von den Beiträgen der Frankfurter Schule in den 1930ern ganz abgesehen) bereits in den

werden: 1) Zunächst muss die Frage gestellt werden, ob und inwiefern ein ideologisches Element durch seine spezifische diskursive Verknüpfung den position ellen ökonomischen Interessen von Klassenindividuen dienen kann. Nur dann ergibt die Rede von einem "charakteristische [n] Merkmal" der jeweiligen Klassenideologie Sinn. Es muss mehr heißen als ,faktisch von bestimmten Individuen vertreten, die zufällig einer bestimmten Klasse angehören'. 2) Strikt davon zu trennen ist die Frage, ob dieses Element darüber hinaus durch seine Verknüpfung auch ,progressive' oder emanzipatorische Funktionen erfüllen kann, weil schlicht nicht davon ausgegangen werden darf, dass die Verfolgung position eller Interessen im Kapitalismus per se emanzipatorisch sein muss - im Gegenteil. Beides - also ökonomisch funktionales und progressives Moment sein zu können - bejaht Laclau im Falle des Antisemitismus in spezifischen historischen Konstellationen (v gl. v.a. 190) und offenbart damit ein hochproblematisches Verständnis von Antisemitismus, das sich im Falle des Nationalismus, auf den ich noch zurückkommen werde, wiederholen wird: Laclau identifiziert nämlich in seinen Ausführungen "Juden" und "Wucherkapital", sonst erschiene es ihm kaum evident, dass sich der Hass gegen die Bankiers der Monarchie oder die Konsumkreditgeber des Feudalismus ausschließlich gegen jüdische Bankiers und Kreditgeber richtete. Laclau argumentiert zumindest korrespondenztheoretisch, wenn er dem Antisemitismus einen ökonomisch oder politisch rationalen Grund unterstellt, der sich am realen wirtschaftlichen Handeln der Juden als abgetrennter Gruppe orientiere. 59 Er kann dabei nicht erklären, warum der Hass sich unterschiedslos gegen alle Juden richtete, warum z.B. von einer Minderheit reicher jüdischer Kreditgeber auf alle - in Feudalismus und früher Neuzeit meist verarmten 60 - Juden geschlossen wurde und warum nicht jüdische Bankiers und ,Wucherer' vom Ressentiment des ,Volkes' verschont blieben. Bereits hier erscheint eine durchweg regressive ideologische Haltung als mehr oder weniger aufgeklärte Interessenartikulation - ein Vorgang, der sich in Laclaus Einschätzung der SchlageterKampagne der KPD in der Weimarer Republik wiederholen wird. Ich komme darauf zurück. Zunächst aber zur abstrakteren theoretischen Fassung der Einheit von ideologischen Diskursen, die deren Klassencharakter definieren soll: Auch Laclau begreift zunächst orthodox althusserianisch Ideologie als in Apparaten konstituiertes imaginäres Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen. Das Einheitsprinzip ideologischer Diskurse besteht demnach im ,Subjekt-Effekt' der Anrufung, also der Hervorbringung eines sich bestimmten Verhaltenserwartungen unterwerfenden und sich mit ihnen identifizierenden Handlungsträgers - z.B.: ,Ich bin ein deutscher Arbeiter'. Die nichtreduktionistische Verbindung (,Artikulation') von ideologischen Elementen wie Antisemitismus, Nationalismus oder Klassenidentität

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1970er Jahren in der Bundesrepublik formuliert wurden (v gl. dazu Eibe 2010, Teil 3) ohne gleich das, wie es bei Stäheli (2001, 194) nonchalant heißt, "Ende der Klassentheorie" zu proklamieren, wird im Diskurs der radikalen Demokratie leider ignoriert. Zur Kritik korrespondenztheoretischer Antisemitismusauffassungen vgl. Holz 2010, 62-77, Weyand 2016,19-22, 194f.. Für Deutschland vgl. Berding 1988, 15-20 sowie Volkov 2000, 110f.

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in konkreten ideologischen Diskursen wie dem Faschismus oder dem MarxismusLeninismus werde dabei nicht durch die logische Konsistenz der Elemente ermöglicht - sie sei sogar "mit einem großen Ausmaß an logischer Inkonsistenz" vereinbar -, sondern durch ihre "Fähigkeit [... ], Verdichtungen mit den anderen Elementen herzustellen". (90) Diese Stelle bleibt kryptisch, denn über die Bestimmung dieser "Fähigkeit", also ,Eigenschaft' der Elemente, schweigt sich Laclau aus. Auch ein Blick auf das Freudsche Konzept der Verdichtung macht den Gedanken kaum klarer. Freud unterscheidet den durch Zensur seitens der Ich-Instanz konstituierten manifesten, erlebten Trauminhalt vom latenten, unbewussten Traumgehalt und konstatiert einen geringeren Inhalt des manifesten im Vergleich zum latenten. Verdichtung in Gestalt von selektiver Berücksichtigung latenter in manifesten Gehalten und Konstitution eines manifesten Gehalts, der als Mischform für mehrere latente steht, ist einer der Mechanismen, die eine solche Gehaltreduzierung bewirken. Im Traum taucht also z.B. eine Person auf, die selektive Züge mehrerer Personen trägt, die sie symbolisiert. 61 Das Prinzip der Assoziation, das dabei waltet, sagt aber nichts über Kriterien bzw. Modi aus, nach denen assoziiert wird, was aber in unserem Zusammenhang von Interesse wäre, da Laclau ja "Fähigkeit[en]" konstatiert, die Elemente für eine Assoziation, also Verknüpfung, tauglich machen. Folgt man David Hume, so "gibt es nur drei Prinzipien der Vorstellungsverknüpfung, nämlich Ähnlichkeit, Berührung in Zeit und Raum und Ursache und Wirkung."62 Solche Verknüpfungen wiederum beruhen Hume zufolge auf unwillkürlichen Vorstellungsintensitäten, Wiederholung bestimmter Vorstellungen und GewohnheitY Allerdings ist an dieser Stelle nicht entscheidbar, welchem Assoziationsbegriff Laclau folgt. In seinem späteren Werk wird er die Assoziation von Elementen als rein diskursive Konstruktion von "Äquivalenzkette [n]" (Laclau 1981d, 181) analysieren. Laclaus postmarxistischer Ansatz impliziert aber eine veränderte Sozialontologie, die in den hier zu behandelnden Texten noch nicht zu erkennen ist. 64 61 62 63 64

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Vgl. Freud 1995, 163. Hume 2005, 25. Vgl. Hume 2005, 63. Hier ist der Rekurs auf Saussure und Derridas Kritik an diesem entscheidend. Zu Saussures Begriff assoziativer Verknüpfung sprachlicher Elemente, die auf der Lautbild- und Bedeutungsebene verortet wird, vgl. Prechtl 1994, 8M. Bei Laclau/Mouffe wird die Einheit verschiedener Akteure und Elemente nicht als Repräsentation bestehender, sich überschneidender Interessen verstanden, sondern als "Resultat politischer Konstruktion" (Laclau/Mouffe 2000,100). Hegemonie bedeute damit die diskursive "Konstruktion der Identität der sozialen Agenten selbst". (92) Es scheint, als könne hier durch eine extrem nominalistische, voluntaristische und okkasionalistische Sozialontologie alles mit allem vereinbart und alles von allem getrennt werden, was die Aufgabe eines jeden Konzepts objektiver Eigenschaften oder strukturell verankerter Interessen bedeutet: Die Äquivalenzketten werden rein symbolisch und absolut arbiträr konstruiert. Die "zeichenhafte[n] ,Gebrauchswerte' auf der Ebene einer Objektsprache" (Laclau 1981d, 182) werden diskursiv zu identischen Bedeutungen verschmolzen, so wie die absolut unterschiedlichen "Gebrauchswerte", wie Laclau glaubt, durch den "Äquivalenzdiskurs [!] des Marktes" (178) diskursiv zu einer Gemeinsamkeit verschmolzen werden, die darin besteht, ,Wert' zu sein ("diskursive Konstruktion des Werts" (179)). Laclau glaubt also, dass Gebrauchswerte, also Gegenstände, die gerade nicht gleich sind, im Tausch

In der Phase relativer Stabilität ideologischer Diskurse gelinge die Neutralisierung von sozialen Widersprüchen durch" Verschiebungen". (Laclau 1981b, 90) Auch dieser Freud entlehnte Begriff bleibt unterbestimmt. Bei Freud bedeutet er die En tstellung latenter Traumgedanken durch manifeste in Folge einer "Akzentverschiebung". (Freud 1995, 134) So werde aus dem latenten Gedanken ,ich habe zu früh geheiratet, es hätte noch viele andere Partner gegeben' der manifeste Gehalt ,ich habe zu früh Theaterkarten gekauft und Vorverkaufs gebühr bezahlt, es sind aber noch viele Plätze frei'. Man kann sich ungefähr vorstellen, dass, auf die gesellschaftliche Ebene übertragen, Verschiebung meinen könnte, ökonomische Interessenkonflikte zwischen den Klassen auf andere Ebenen zu transponieren, z.B. auf einen vermeintlichen Konflikt zwischen den Generationen bei der Frage der Finanzierung des Sozialstaats. In Krisenzeiten, so Laclau, löse sich die Einheit eines ideologischen Diskurses auf, was zugleich eine ,,'Identitätskrise'" der Subjekte bewirke. (Laclau 1981b, 90) Eine Krisenlösung könne durch Umgruppierung der Anrufungen bewerkstelligt werden - eine neue dominante Anrufung strukturiert dann den Zusammenhang. 65 Die ideologische Ebene der Krisenlösung wird Laclau zufolge umso wichtiger, je weniger bedeutsam eine Klasse für die "dominierenden Produktionsverhältnisse [... J" ist, "je diffuser ihre ,objektiven Interessen'" (91) sind und je bedeutsamer sie innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsformation ist. Das verweist schon auf die Rolle des Kleinbürgertums im Faschismus. 66 Laclau geht nun davon aus, dass im Zuge des Klassenkampfes ideologische Diskurse durch die spezifische Artikulation von ideologischen Elementen "transformiert" werden. (91) Er konstatiert eine "doppelte Artikulation des politischen Diskurses" (Laclau 1981c, 171) - als Klassendiskurs (Klasse als angerufenes Subjekt), der die Form des Gesamtdiskurses bestimmt, und als Volksdiskurs, als klassenunspezifisches, in seiner Bedeutung niemals endgültig fixierbares, von Klassendiskursen spezifisch geformtes Material. Zunächst zum Klassenkampf und Klassendiskurs "auf der Ebene der Produktionsweise": Das "Produktionsverhältnis, das seine beiden Pole als Klassen konstituiert", sei hier "ein antagonistisches Verhältnis" (Laclau 1981b, 91), schreibt Laclau. Er schwankt dabei zwischen der rätselhaften Behauptung, der zufolge die "Klassen sich durch den Kampf selbst konstituieren" und der These, es sei ihre - in diesem

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gleichgesetzt werden, und nicht etwa Waren. Insofern stellt sich auch gar nicht mehr die Frage, wie ökonomisch bedingte, auf der Ebene der Produktionsweise verortete und von diskursiv-hegemonialer Konstruktion relativ unabhängige Interessen miteinander identifiziert werden können, denn es gibt solche Interessen beim späteren Laclau einfach nicht mehr und daher kann man die Einheit von Interessen und Subjektpositionen einfach behaupten - so wie man die Gleichheit nicht gleicher Dinge (Gebrauchswerte) behaupte. Laclau führt das Beispiel an, dass religiös-asketische und weltliche Anrufungen zunächst nebeneinander bestehen können, infolge der Umgruppierung aber die asketische Anrufung als "Hauptorganisator" von "familialen, politischen, ökonomischen" (Laclau 1981 b, 90f.) fungiere, sodass sie die Bedeutung des weltlichen Lebens von ihrem ideologischen Element aus strukturiere, bestimmte weltliche Praktiken nun an ihrem Maßstab gemessen und als ,Abfall von einem gottesfürchtigen Lebenswandel' verurteilt würden. Die Begriffe Verdichtung und Verschiebung nimmt auch W.F. Haug (1993, 58-61, 64) in seine Ideologietheorie auf, allerdings ohne direkten Rekurs auf Laclau.

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Fall antagonistische - "Stellung im Produktionsprozeß" (93), die ihren Klassencharakter bestimme. Der Mehrwert, so Laclau, "konstituiert [... ] zugleich das Verhältnis zwischen Kapitalisten und Arbeitern und den Antagonismus zwischen ihnen". (91) Laclau scheint einen polarischen Gegensatz anzuvisieren, also einen, in dem die Pole des Gegensatzes nur durch den und in dem Gegensatz existieren - "wir können den Begriff Arbeiter [meint: Lohnarbeiter] nicht denken, ohne an den komplementären Begriff des Kapitalisten zu denken". (92)6768 Antagonistisch ist diese Beziehung, weil die strukturell bedingten Interessen der Nichteigentümer an Produktionsmitteln an einem möglichst hohen Lohn (v) und der Produktionsmitteleigentümer an einer möglichst hohen Mehrwertrate (rn/v) sich strikt widersprechen und ein Nullsummenspiel zwischen Lohn- und Mehrwertanteil implizieren. 69 Der ideologische Diskurs rufe hier die Individuen als Klassensubjekte an. 70 Vom Klassendiskurs im Rahmen des Klassenkampfs unterscheidet Laclau die "Klassen im Kampf' (93) auf der "Ebene einer konkreten Gesellschaftsformation". (92) Hier sei die Stellung der Klassen im Produktionsprozess ihrem Antagonismus "relativ äußerlich". (93) Es handelt sich damit nicht um einen Klassenantagonismus im Sinne eines polarischen Gegensatzes, da beide Klassen nicht erst im Entgegenstehen zueinander existieren - "die Konfrontation ist ihrem Wesen relativ äußerlich" (93), wie im Falle von Kapitalisten und Kleinbürgern. 7l Die Beherrschten "verstehen" sich hier nicht als Klasse, sondern als ,,'die Anderen"', "als ,Unterdrückte'" im Verhältnis zum "herrschenden Machtblock". (93f.) Ideologie bedeutet hier die Anrufung der Individuen als" Volk", weshalb Laclau auch von der "Sphäre des popular-demokratischen Kampfes" spricht. Dieser Kampf sei nur durch Berücksichtigung der "politischen und ideologischen Herrschaftsverhältnisse" zu begreifen und finde "nur auf der ideologischen und politischen Ebene statt", denn "das Volk existiert auf

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Diesen komplexen Antagonismus-Begriff lässt Laclau in seinen postmarxistischen Texten unter dem Einfluss Lucio Collettis (Antagonismus entweder als irrationaler logischer Widerspruch oder als bloße Realopposition voneinander unabhängiger Entitäten, Colletti 1977, 512) und Carl Schmitts (Antagonismus als Negation der ,eigenen Art Existenz' einer Gruppe, Schmitt 2002, 27) allerdings fallen. Vgl. dazu Opratko 2007,74. Zur Kritik an Collettis Sozialontologie vgl. Kocyba 1979, 21f., Wolf 1985, 221-245, Eibe 2010, 139ff, 151ff. Zur Kritik an Schmitts Freund-Feind-Konzept vgl. Eibe 2015, 239-269. Aber es müssen hier dennoch, zumindest analytisch, zwei Momente auseinandergehalten werden: Der Gegensatz von Produktionsmittel-Besitzern/Nichtbesitzern, der die Klassenstruktur als solche bestimmt und der daraus resultierende Kampf dieser gegensätzlich bestimmten Klassen - das Nullsummenspiel m:v usw. Nullsummenspiel nur bezogen auf die Wert-Dimension, nicht auf die reale Kaufkraft der Lohnarbeiter, vgl. Marx 1974, 420f. Zu den strukturellen Bedingungen dieser Interessengegensätze vgl. Marx 1993, Kap. 8. V gl. Laclau 1981 b, 94. Leider bleibt diese Anrufung bei Laclau unanalysiert. Es bleibt z.B. unklar, ob es sich bei deren Effekt um Identitätsbewusstsein, Konfliktbewusstsein oder gar revolutionäres Klassenbewusstsein handelt. Zur Differenzierung dieser Momente vgl. Giddens 1984, 137. V gl. Laclau 1981 b, 92.

der Ebene der Produktionsverhältnisse [... ] nicht". (94) Es dominiert der Widerspruch zwischen Volk und Machtblock. 72 Das Verhältnis von Klassenkampf und popular-demokratischem Kampf sei nicht klassenreduktionistisch zu fassen. Laclau wehrt sich gegen Deutungen des Volksbegriffs als bloßes Klassenbündnis im Sinne einer Schnittmenge voneinander klar unterscheidbarer Klasseninteressen oder im Sinne bloßer "Rhetorik oder Propaganda" (93): ,,'deutsche', ,italienische', ,englische Arbeiterklasse" seien "nicht reduzierbare Besonderheit[en)". (9SfJ "Das Spezifische des ideologischen Klassenkampfs" bestehe im Kampf um Identifizierung von Klassenprojekt und Volkssubjekt. (Laclau 1981c, 171) "Jede Klasse", meint Laclau, "kämpft auf ideologischem Gebiet gleichzeitig als Klasse und Volk" (94), d.h. sie "sucht ihren ideologischen Diskurs kohärent zu machen, indem sie ihre Klassenziele als Erfüllung popularer Ziele hinstellt". (Laclau 1981b, 94f. Herv. von mir) Ähnliche Formulierungen finden sich immer wieder in diesem Zusammenhang: Der Antikapitalismus soll sich als Höhepunkt nationaler Traditionen und Kämpfe "präsentieren" (101) oder "dar[.. ] stellen". (111) Das klingt stark nach einem ,So tun, als ob', also nach Manipulation der Mehrheit durch eine Minderheit mittels Propaganda. 74 Die proletarische Ideologie müsse jedenfalls "alle [!] nationalen Traditionen [... ] absorbieren" (101), "eine vollständige [!] Identität von popularem und sozialistischem Kampf [... ] erreichen" (104), eine "ideologische Verschmelzung von Nationalismus, Sozialismus und Demokratie" (114) bewirken. Es müsse beispielsweise die Vorstellung erreicht werden, "die Arbeiter seien die authentischen Repräsentanten der historischen Interessen des deutschen Volkes". (105) ,Klassen im Kampf' heißt letztlich "antagonistische Reklamation" (Haug 1993, 77) des nationalen Gemeinwesens. Klassen kämpfen um "Eingliederungen derselben Anrufungen in antagonistische 72 73

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Vgl. ebd., 113. Deutlicher wird das im postmarxistischen Werk hervorgehoben: Durch die Artikulation in popularen Diskursen verändert sich die Identität von Klassensubjekten, vgl. Laclau/Mouffe 2000, 227f.: Die demokratische "Äquivalenz" bilde nicht bloß "eine ,Allianz' zwischen gegebenen Interessen", sondern modifiziere "gerade die Identität der in dieser Allianz engagierten Kräfte". Laclau/Mouffe schwebt hier offenbar eine Art ,unity of oppression' vor, die "Arbeiterinteressen" mit "Frauen-, Immigranten- oder Konsumentenrechten" (228) kompatibel machen soll. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das nicht objektive, d.h. von diskursiver Artikulation relativ unabhängige Gehalte dieser Interessen voraussetzt und ob die Kompatibilität dann stets möglich ist. Fraglich bleibt auch, welches normative Kriterium von Kompatibilität hier angelegt wird - der kategorische Imperativ ist es nicht, er wird als rationalistisch abgelehnt. Betont wird hingegen im Diskurs der radikalen Demokratie lediglich, dass der Streit zwischen Positionen möglich bleiben müsse. Damit ist inhaltlich allerdings nichts über die Kriterien der Äquivalenz, Assoziation oder Kompatibilität ausgesagt - und sind nicht genau das die politisch wirklich interessanten Fragen, über die gestritten wird? Ohne Beanspruchung verbindlicher Kriterien der Interessenabstimmung bleibt jeder Streit belangloses Wortgeklingel oder strategischer, von faktischer Erpressungsmacht abhängiger Kompromiss. Vgl. kritisch zu diesem "Als-ob-Mythos": Priester 2014, 6lf. Solche Elemente finden sich in vielen Diskurstheorien. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, was passiert, wenn ,die Massen' dahinterkommen, dass sie schlicht betrogen wurden, es stellt sich auch die Frage, was mit den vermeintlich sozialistischen Intentionen der Diskursmanipulateure geschieht, wenn sie sich derart nationalistischen Traditionen anbiedern.

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ideologische Diskurse" (Laclau 1981 b, 95), wodurch Ideologien transformiert werden, indem denselben Signifikanten (Nation, Volk, Demokratie) unterschiedliche Signifikate zugeordnet werden. Es geht um die "Identifikation zwischen ,Volk' und Klassen". (99) Bevor ich auf die inhaltliche Problematik dieses Ansatzes bei der Nation zu sprechen komme, der zudem recht beliebig zwischen den Kategorien ,Demokratie', ,Volk' und ,Nation' hin und her wechselt, müssen noch einige begriffliche Differenzierungen in Laclaus Theorie des ideologischen Klassenkampfs erörtert werden. Es dürfe nämlich die popular-demokratische Anrufung nicht mit dem Populismus verwechselt werden. 75 Popular-demokratische Anrufungen der sozialen Klassen als ,Volk' könnten nämlich alle Akteure im politischen Klassenkampf betreiben, auch der Block an der Macht. Dieser errichte seine Hegemonie durch Verwandlung potentieller Antagonismen zwischen Volk und Machtblock in bloße Differenzen: "Die Hegemonie einer Klasse", erläutert Laclau, "beruht nicht so sehr darauf, daß sie fähig ist, der übrigen Gesellschaft eine einheitliche Weitsicht aufzuzwingen, sondern darin, daß sie verschiedene Weltsichten in einer Weise artikulieren kann, die deren potentiellen Antagonismus neutralisiert." (Laclau 1981 c, 141) Die Spezifik des Populismus bestehe dagegen nicht bloß im positiven Bezug auf das Volk, sondern sei dort zu verorten, "wo popular-demokratische Elemente als antagonistische Option gegen die Ideologie des herrschenden Blocks präsentiert werden." (151) Es seien dabei zwei Formen des Populismus zu unterscheiden, der der herrschenden und der der beherrschten Klassen: Im ersten Fall genüge es, "daß eine Klasse oder Klassenfraktion zur Behauptung ihrer Hegemonie eine grundlegende Veränderung im Machtblock braucht, um eine populistische Entwicklung zu ermöglichen." (151) Dies sei im Bonapartismus oder "im Nazismus der Fall" gewesen. (152) Hier hätten die bisherigen Verschiebungs- und N eutralisierungsmechanismen gesellschaftlicher Widersprüche versagt und die Etablierung der ,monopolkapitalistischen Hegemonie' sei nur noch durch Änderung der Staatsform möglich gewesen, in deren Gefolge Fraktionen der herrschenden Klassen populistisch einen Antagonismus Volk/alter Machtblock aufgemacht hätten. Die "Lähmung des herrschenden Blocks" führte zu einer radikalen, aber systemkonformen Bewegung (Laclau 1981 b, 102f.), die die Verbindung Volk-Proletariat des artikulierte, indem sie das Volk als "Rasse" angerufen habe und" [a] lle anti-plutokratischen, nationalistischen und demokratischen Aspekte" (104) um dieses Subjekt herum gruppierte. Der Faschismus schließt durch Artikulation von Klassenverhältnissen als bloßen Differenzen von ,Arbeitern der Stirn' und ,Arbeitern der Faust' sowie ,Betriebsführern und gefolgschaft' den Klassenkampf ideologisch aus und lässt klassenspezifische Interes-

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Laclau ist hier allerdings nicht konsistent. Einerseits konstatiert er, Populismus sei "eine bestimmte Fonn der Artikulation der popular-demokratischen Anrufungen". "Der Populismus fängt dort an, wo popular-demokratische Elemente als antagonistische Option gegen die Ideologie des herrschenden Blocks präsentiert werden." (Laclau 1981c, 151). Andererseits bestimmt er - dem widersprechend - Demokratie generell als "Reihe von Symbolen, Werten, etc. [... l, durch die sich das Volk seiner Identität durch seine Konfrontation mit dem Machtblock bewußt wird". (Laclau 1981b, 192)

sen nur noch in Form des Korporatismus zu/6 "Für die Beherrschten" dagegen bestehe "der ideologische Kampf in einer Ausdehnung des in den demokratischen Anrufungen enthaltenen Antagonismus und in seiner Artikulation mit ihren eigenen Klassendiskursen". (Laclau 1981c, 152) Populistische Diskurse haben demnach Elemente, die keine konkreten Klassenkonnotationen haben, sind aber immer in "Klassendiskurse" eingebaut. (153) Im Gegensatz zum Spätwerk ist festzustellen, dass Laclau den linken Populismus also immer noch an Klassendiskurse rückbindet. Der "Jakobinismus" als "reine[ ... ] Form" der Opposition "System"-"Volk" sei nur als vorübergehende Phase des ideologischen Kampfes möglich, die dann wieder von "ideologischen Klassendiskursen absorbiert" werde. (Laclau 1981b, 100) Die Unterscheidung Volk-Machtblock ist für Laclau daher einerseits irreduzibel, muss aber nichtreduktionistisch mit Klassendiskursen verbunden werden, andernfalls sei sie tatsächlich, wie Poulantzas fälschlicherweise dem Populismus insgesamt unterstelle, kleinbürgerliche Ideologie, in der die Idee vorherrsche, der Kampf gegen den Machtblock "könne als ausschließlich demokratischer Kampf jenseits der Klassen geführt werden". (101) Der Entstehungskontext populistischer Bewegungen und Ideologien ist demnach eine Hegemoniekrise des herrschenden Blocks, die sich in Gestalt eines rechten Populismus (Bruch im Machtblock und Umgruppierung desselben zugunsten der herrschenden Klassen) und/oder eines linken Populismus (als Aufbrechen der Antagonismen zwischen Herrschenden und Beherrschten überhaupt) äußern könne. 77 Dieses "zentrale Feld des ideologischen Klassenkampfes" (Laclau 1981b, 94) wird von Laclau mit dem Kleinbürgertum in Verbindung gebracht: Dessen gemeinsamer ökonomischer Zug bestehe lediglich in der "Trennung von den herrschenden Produktionsverhältnissen". (98) Sein Widerspruch zum Machtblock sei nicht auf dieser "Ebene der dominierenden Produktionsverhältnisse situiert". Weil es nicht im Verhältnis eines polarischen Gegensatzes zur Bourgeoisie stehe, sei sein Antagonismus zum Machtblock nicht ökonomisch bedingt, sondern - als ,Klasse im Kampf' - lediglich "auf der Ebene der politischen und ideologischen Verhältnisse situiert". Es weise "fast ausschließlich eine ,Volks'-Identität" (99) auf, womit der Widerspruch zum Machtblock sehr freischwebend und scheinbar beliebig manipulierbar erscheint und die kleinbürgerlichen "Mittelklassen das natürliche Terrain" (99) des populardemokratischen Kampfes bilden. Auch wenn oben unklar blieb, was das nichtreduzierbare Moment popularer Anrufungen sein soll, und die Reklamation des Volkes seitens einer Klasse damit in die Nähe eines manipulativen ,Als ob' rückte, unterstellt Laclau dann schließlich doch, der Nationalismus habe einen "allgemeine[n] Bedeutungskern[ ... ]" (Laclau 1981c, 140) - den er uns aber leider verschweigt -, dieser könne aber "konnotativ mit verschiedenen ideologisch-artikulatorischen Bereichen verknüpft" sein. (140) Zudem gebe es in jeder nationalen Tradition von Sozialisten reklamierbare semantische Gehalte (Laclau 1981b, 101, 116): Die Anrufung Volk/Nation bleibe "in der Tiefe des popularen Bewußtseins [ ... ] möglicher Ursprung für eine Radikalisie76

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Vgl. Laclau 1981b, 104f. Vgl. Laclau 1981c, 153f., 158.

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rung". (101) Er proklamiert in diesem Zusammenhang eine relative Dauerhaftigkeit von "Volkstraditionen" und deren Bedeutungsüberschuss gegenüber Klassenstrukturen: Hier werde der "Widerspruch ,Volk'/Machtblock im Unterschied zu einem Klassenwiderspruch" ausgedrückt, worin sich "die ideologische Kristallisation von Widerstand gegen Unterdrückung überhaupt, d.h. gegen die Form des Staates als solche" zeige. (Laclau 1981c, 146) Schließlich werden Badiou/Balmes teilweise zustimmend mit ihrer These zitiert, ,,'kommunistische Resonanzen'" - der ,,'Wunsch der Ausgebeuteten, Ausbeutung und Unterdrückung überhaupt abzuschaffen'" (148) seien "eine Konstante bei Volks erhebungen" und ,,'teilweise autonom gegenüber der modernen Arbeiterbewegung"'. (147/ 8 Es soll hier nicht geleugnet werden, dass kommunistische und proletarische Forderungen nicht notwendig verknüpft sind, oder dass in vorkapitalistischen sozialen Bewegungen vereinzelte Momente herrschaftskritischen Denkens auftauchen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die systematische Verknüpfung ,Herrschaftskritik-Volkstradition' korrekt ist oder ob sie nicht eher ein problematisches Verständnis von emanzipatorischer Politik offenbart. 79 Denn Volkstraditionen müssen keineswegs immer im Gegensatz zu einem "Machtblock" artikuliert werden, was Laclau selbst feststellt. Er hält das aber offenbar für eine Neutralisierung ,eigentlich' antagonistischer Elemente in diesen Traditionen, da er diese Traditionen mit einer Bedeutung auflädt, die sie selten hatten und haben - nämlich Signum von Herrschaftskritik schlechthin zu sein. Dabei ist sein Schluss von "Unterdrückung überhaupt" zum "Staat" ein Kurzschluss, auch für Volkstraditionen, weil diese keineswegs prinzipiell staats kritische Positionen artikulieren müssen und die Opposition gegen einen bestimmten "Machtblock" oder selbst gegen den Staat als solchen keineswegs identisch mit Kritik an Unterdrückung überhaupt sein muss. Schließlich werden in der Regel z.B. patriarchale, vorrechtlich,sittliche', feudale, anarchokapitalistische, antisemitische und faschistische Herrschaftsverhältnisse im Rahmen von Volkstraditionen artikuliert. Rackets, völkische Partisanen, besitzindividualistische Steuerverweigerer, faschistische Bewegungen und islamistische Mobs sind aber keine herrschaftskritischen Akteure. 8o Laclau ordnet den Elementen des Populismus also ,essentialistisch' ein "revolutionäres Potential" zu. Ansonsten wäre es unverständlich, dass er die obigen Ausführungen zum herrschaftskritischen Gehalt der Volkstraditionen macht und dass er unterstellt, der NS-Populismus habe das "revolutionäre[ ... J Potential" der popular-demokratischen Anrufungen von seinen "wahren Ziele[nJ" abgelenkt: "Der Nazismus war eine po78

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Später kritisiert Laclau die These, es handle sich bei den bleibenden Gehalten der Volkstradition um Kommunismus - dieser sei eine besondere Form davon, die "alle potentiellen Antagonismen" davon entwickle. (Laclau 1981c, 148) Es fragt sich dann aber, wie das mit seiner vorherigen These zusammenpasst. Zu regressiven Zügen in Badious Philosophie vgl. Machunsky 2007 sowie Wallat 2010, 299f. Wenn Laclau die "Abschaffung des Staates als ,dem Volk' antagonistisch entgegenstehender Kraft" (Laclau 1981c, 173) als "höchste Fonn des ,Populismus'" (173) begreift, so ist das zumindest eine Unterbestimmung von Herrschaftskritik und lässt faschistisch-völkischen Positionen eine offene Flanke. Allgemein bleibt der Kritikmaßstab Laclaus, d.h. auch sein Verständnis von Emanzipation, im Dunkeln. Das wird sich in seiner postmarxistischen Phase nicht bessern.

pulistische Erfahrung, der [sic], wie jeder Populismus der herrschenden Klasse, an eine Reihe von ideologischen Verzerrungen [!] - z.B. den Rassismus - appellieren mußte, um zu verhindern, daß das revolutionäre Potential popularer Anrufungen [!] auf sein wahres Ziel [!] umorientiert wurde." (152)81 Ohne die Prämisse einer ,eigentlich' revolutionären Stoßrichtung popularer Elemente, die nur verzerrt wurde oder auf halbem Wege stehen blieb, könnte Laclau auch nicht behaupten, nur der Sozialismus könne das antagonistische Potential des Gegensatzes Volk/Machtblock voll entfalten,sz Was aber, wenn ein solches Potential fehlt oder fundamental regressiv ist? Dann bricht die gesamte Hegemonietheorie Laclaus - zumindest in dieser Phase seines Werkes - zusammen. Es wird aber noch problematischer. Nicht nur essentialisiert Laclau die vermeintlich antagonistischen Potentiale der Volkstraditionen, er überträgt auch Erfahrungen mit der national-popularen Anrufung in kolonialen Kontexten auf die kapitalistischen Metropolen. Charakteristisch dafür ist seine positive Einschätzung der Politik der KPD in der Weimarer Republik, in der er eine "nationalistische Agitation gegen den Versailler Vertrag" entdeckt. (86) Die nationalistische Linie der KPD taucht vor allem im Jahr 1923 im Zuge der sog. ,Schlageter-Kampagne', des Kampfes gegen die französische Ruhrbesatzung und der teilweisen Zusammenarbeit der KPD mit völkischen Gruppen, und von 1930-1932 im Kontext der Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes auf. Es finden sich hier massive nationalistische und antisemitische Hetzschriften und -reden auf Seiten der KPD. Diese ,Volksfrontpolitik' kann hier nicht einmal ansatzweise ausgeführt werden. 83 Es seien nur einige Tendenzen genannt, die in diesen ,national-popularen' Kampagnen auftreten: 1) Der Volksbegriff wird klassenübergreifend mit allen angeblich ,Schaffenden' identifiziert, während die angeblich ,Raffenden' ("Schmarotzer" und "Parasiten, die am Leibe Deutschlands wuchern", zit. nach Haury 2002, 273 84 ) aus dem Volk ausgeschlossen werden. Suggeriert wird dabei, Arbeiterklasse, mittleres Kapital und Kleinbürgertum hätten übereinstimmende Interessen, während der Kampf ausschließlich gegen "das räuberische Finanzkapital, die Großindustriellen, Großaktionäre und Großgrundbesitzer" (281, Herv. von mir) geführt werden müsse. Hier werden alle klassen theoretischen Bestimmungen der Marxschen Tradition fallen gelassen. 2) "Nichtstuer", "Schieber" (269) und "Spekulanten" (263) werden häufig mit dem Adjektiv "international" versehen, und als "Volksverräter" bezeichnet, deren einziges "Vaterland" und deren "Gott das Portemonnaie" (270) sei, die die "Verteidigungskraft" (263) des deutschen Volkes lähmen, die "Würde der Nation" (267) mit Füßen treten und eine "nationale[ ... ] Schmach" (269) bewirken. Dabei wird Deutschland, ein metropolitanes, hochindustrialisiertes und imperialistisches Land, als "Kolonie des fremden Kapitals" imaginiert, das vor der "Über81

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V gl. Laclau 1981 c, 174: "populare Anrufungen wurden an Inhalte wie Rassismus und Korporatismus gebunden, die ihre Radikalisierung in sozialistischer Richtung verhinderten." Vgl. Laclau 1981c, 149. Ich verweise auf die umfangreichen Studien von Haury 2002 und Kistenmacher 2016a. Dieses, wie alle folgenden Zitate aus dem Kontext dieses Abschnittes sind Äußerungen führender KPD-Funktionäre oder Auszüge aus Tageszeitungen der KPD wie der Roten Fahne.

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fremdung der gesamten Wirtschaft" (267) und der "Vernichtung" (265) bewahrt werden müsse. Die "nationale Befreiung" (270) wird als eigenständiges Ziel proklamiert und dabei an die "gesunden nationalen Empfindungen" (271) der Massen appelliert. 3) Dieses konkrete, gute, schaffende Volk steht zwar vordergründig 85 nicht gegen ein anderes Volk, aber gegen die ,Figur des Dritten'86 - das "internationale Ausbeutergesindel" (286), das als Feind "der Völker" (275) schlechthin betrachtet wird. Diese strukturelle Gemeinsamkeit mit dem Antisemitismus, in dem die Juden (oder später Israel) als ,Feind der Völker' auftauchen, wird mit expliziten antisemitischen Stereotypen angereichert, indem den ,Großkapitalisten' bescheinigt wird, für einen "Judaslohn" "in die Versklavung Deutschlands und die Vernichtung der deutschen Nation einzuwilligen" (270), und den "Nazis" unterstellt wird, "als Helfer des ,jüdischen' Kapitals" (280) zu fungieren - auch vice versa seien die Nazis von Juden finanziert worden. Schließlich wird dem NS vorgeworfen, gar nicht wirklich gegen das "jüdische[ ... ] Warenhaus-Kapital" vorzugehen. (Zit. nach Kistenmacher 2016a, 184) Juden und Deutsche werden in einen Gegensatz gebracht, es wird vom "verjudete[n] Finanzkapital" schwadroniert und unterstellt, mit dem Kampf gegen die "jüdischen Kapitalisten", die sich "durch Ausbeutung des deutschen Volkes" "mästen", sei der erste richtige Schritt auf dem Wege zum konsequenten Antikapitalismus getan. (Zit. nach Haury 2002, 284, 281) Bezeichnenderweise wird auch der Zionismus, also der Nationalismus eines tatsächlich mit totaler Vernichtung bedrohten (und dadurch konstituierten) Volkes, von der KPD von Anfang an leidenschaftlich bekämpft - bis hin zur Verteidigung antisemitischer Pogrome arabischer Massen. 87 Folgende Annahmen veranlassen Laclau dazu, diesen Kurs zu affirmieren: 1) Er glaubt, die "anti-plutokratische" und ,jakobinische' Tradition in der NSDAP "hätten leicht zu einem wirksamen Antikapitalismus werden können". (Laclau 1981b, 105, vgl. auch 111f., Laclau 1981c, 152) Die antisemitische Ideologie des Kampfes gegen das ,jüdische' bzw. ,raffende' Finanzkapital wird von ihm als ein auf halbem Wege stehenbleibender Antikapitalismus, bzw. als "Durchlauferhitzer" (Peharn 2020, 10) zum wirklichen Antikapitalismus begriffen,88 nicht als prinzipiell regressive und herrschaftsaffirmative Ideologie. 2) Wenn die genannten "antiplutokratischen" und nationalistischen Elemente als progressiv besetzbar gelten, 85

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Diese Tendenz wird aber immer wieder konterkariert, wie in der Aussage man müsse "dem französischen Imperialismus eine kampffähige geschlossene Nation entgegenstellen" (zitiert nach Haury 2002,271). Vgl. Holz 2010, 160f., für den marxistisch-leninistischen Antizionismus vgl. ebd., 464, 468471. Vgl. Kistenmacher 2016a, 247-282 sowie Grigat 2014,67-77. Klassisch ist diese Idee von August Bebel vertreten worden: Er begreift den Antisemitismus als "Bewegung, die [ ... ] trotz ihres reaktionären Charakters und wider ihren Willen schließlich revolutionär wirkt, weil die von dem Antisemitismus gegen die jüdischen Kapitalisten aufgehetzten kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten zu der Erkenntniß kommen müssen, daß nicht bloß der jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist". "In seinem Kampfe um die Herrschaft wird der Antisemitismus genöthigt werden, wider Willen über sein eigenes Ziel hinauzuschießen", nämlich sich gegen alle Kapitalisten zu richten. (BebelI974, 58f., 73)

dann sind es weder per se emanzipations feindliche Haltungen der faschistischen Akteure, noch die semantischen Gehalte faschistischer Ideologie und bestimmte Klasseninteressen, die Hitler groß werden ließen, sondern es ist der fehlende "Wille zur Hegemonie" seitens der Arbeiterklasse. (Laclau 1981b, 112) Laclau imaginiert also eine geradezu unbeschränkte Handlungsfähigkeit der Partei, wenn nur die richtigen Diskursstrategien verwendet worden wären. 3) Daher hätte die KPD, so Laclaus Folgerung, die "Schlageter-Linie [... ] vertiefen" und "für eine nationale Renaissance" kämpfen müssen, was den "linke[n] Flügel" der NSDAP (112) und den "plebejischen und antikapitalistischen Zug" der "Mittelklassen"89 (111) in ein kommunistisches Projekt integriert hätte. Worauf läuft die ,national-populare Anrufung' aber tatsächlich hinaus? Der Preis für die Konstruktion der "Äquivalenzkette" (Laclau 1981d, 181) Proletariat = werktätige Massen = antikapitalistisches Kleinbürgertum = mittleres Kapital = ausgebeutete deutsche Nation, ist keineswegs ein die Klassengrenzen transzendierendes herrschaftskritisches Projekt, sondern der zunehmende Bedeutungsverlust der Signifikanten 90 und damit die Abkehr von begrifflich konturierter Kapitalismusund Faschismusanalyse zugunsten der Bedienung diffuser Ressentiments gegen ,Schieber', ,Spekulanten' und ,Parasiten', teils ,jüdischer' Art. Bedient wird lediglich die Identifikation mit einer als klassenübergreifend und homogen imaginierten N ati on - das Nationale wird so zum eigenständigen Wert. Das Problem sind jetzt nur noch die ,antinationalen Groß- und Finanzkapitalisten'. Dass Laclau den Topos der ,Anti-Plutokratie' und auch dessen partiell antisemitische Artikulation als zu einem konsequenten Antikapitalismus hin entwicklungsfähiges Element begreift, zeigt erstens seine Ausblendung der emotionalen Matrix dieser ressentimentbeladenen und prokapitalistischen Haltung. 91 Er bedenkt nicht, dass, wie auch immer konstruktivistisch verstanden, die Volk-als-Nation-Anrufung auf gesellschaftlich produzierte kollektiv narzisstische 92 Bedürfnisstrukturen trifft, die zur projektiv-aggressiven Bekämpfung innerer sozialer und psychischer Konflikte an ausgeschlossenen Dritten neigen und die keineswegs mit der behavioristischen Konzeption des Subjekts als diskursiver Oberflächeneffekt zu erfassen sind. 93 Zweitens erweist diese Annahme vom neutralen Antiplutokratismus Laclaus problematisches Verständnis von ,Kapitalismus kritik'. So zItiert er einen "Gesetzesvorschlag" der "NaziAbgeordneten Strasser, Feder und Frick" von 1930, der "eine Beschränkung des Zuwachses für alle Kapitalanlagen auf 4%, die entschädigungslose Enteignung des 89

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So redet auch die Rote Fahne von den "starken, wenn auch unklaren antikapitalistischen Stimmungen" der Mittelschichten (zitiert nach Haury 2002,271). Zumindest Letzteres räumt Laclau explizit ein, vgl. Laclau 1981d, 179. Vgl. dazu u.a. Fromm 1989, Rensmann 1998, Eibe 2015,412-422. Vgl. zum Begriff Adorno 1979, 114. Erich Fromms Studien zum autoritären Charakter werden von Laclau mit wenigen Zeilen abgefertigt (vgl. Laclau 1981b, 76). Im postmarxistischen Spätwerk ist es dann Chantal Mouffe, die den kollektiven Narzissmus und den autoritär-masochistischen "Trieb", "mit der Masse zu verschmelzen und sich damit selbst in ihr zu verlieren" (Mouffe 2007, 34), zur anthropologischen Konstante adelt. Daher müsse die Linke Propaganda, heute ,Affektpolitik' genannt, betreiben.

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Aktienbesitzes der ,Bank- und Finanzmagnaten' und die Nationalisierung der großen Banken" vorsah und der "wortwörtlich" auch von KPD-Abgeordneten eingebracht worden sei. (Laclau 1981b, 105) Statt dies als Indiz für die Verkürzung des vermeintlichen Antikapitalismus der KPD auf ein Ressentiment gegen Zins und (unverstandenes) Finanzkapital zu begreifen, gilt es Laclau als Beleg für die nicht nur Klassen-, sondern auch politische Neutralität und sozialistische Entwickclbarkeit des NS-"Jakobinismus". Laclau ignoriert, dass die faschistische antikapitalistische Rhetorik auf systematisch falschen Verständnissen ,kapitalistischer' Ausbeutung als "Zinsknechtschaft", der Trennung des zusammengehörenden Finanz- und industriellen Kapitals 94 und der grundsätzlichen Affirmation des Privateigentums an Produktionsmitteln beruht. 95 Werden dem Kapitalverhältnis völlig äußerliche Kriterien ,guter', ,schaffender' Produktion unterlegt und die Abweichung davon als Verschwörung und Herrschaft der Reichen (Plutokratie) getadelt, die das gute Ziel mit dem Zweck der Vermehrung ihrer Vermögen (und damit der Befriedigung ihrer Luxusbedürfnisse) korrumpieren, so kann von einem Verständnis kapitalistischer Produktionsverhältnisse keine Rede sein. Als Lösung empfiehlt sich dann auch letztlich das Pogrom, wie es das führende KPD-Mitglied Ruth Fischer 1923 auf einer gemeinsamen Veranstaltung von Kommunisten und völkischen Rechten propagiert hat: "Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner [... ]?" (Zit. nach Haury 2002,283) Die Ignoranz gegenüber einem sozialpsychologisch informierten Begriff regressiver Ideologien und Bewegungen, die Abwesenheit einer ökonomiekritisch informierten Konzeption mystifizierter Wahrnehmung kapitalistischer Reproduktion, das Fehlen einer kontextsensiblen Einschätzung der völkischen Tradition des deutschen Nationalismus und überhaupt ein problematisches Verständnis von Gesellschaftskritik zeichnen also Laclaus Beiträge zu Faschismus und Populismus in Auseinandersetzung mit Poulantzas aus. Laclaus Kunstgriff, der Nationalismus habe "isoliert betrachtet" keine Klassenkonnotation (Laclau 1981 b, 87), krankt nicht nur an der unplausibIen Verknüpfung von ,proletarischem Klasseninteresse' und ,Sozialismus'. Es ist gerade das Problem des Nation-Begriffs, dass er als Signifikant - isoliert betrachtet und linguistisch abstrakt gefasst - arbiträr mit Bedeutungen versehen ist, es aber mehr als fraglich ist, ob irgendeine historisch gegebene Bedeutung von ,Nation', die sich in Institutionen, Diskursen und Bedürfnisstrukturen verfestigt hat, mit dem Projekt sozialistischer Emanzipation in Marxscher Perspektive vereinbar war. 9697 Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Laclau sich positiv auf die natio94

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Vgl. zur Kritik an diesem Pseudoantikapitalismus v.a. Postone 2005, Heinrich 2005,186-192 sowie Sternhell 1999, 311, der die ,Anti-Plutokratie' als "eine[n] der großen Wanderwege der Linken zum Faschismus" beschreibt. Vgl. Barkai 1998,29, 94ff., 230 sowie Sternhell 1999. Stuart Hall kritisiert an Laclau, dass der abstrakt korrekte linguistische Gedanke der Arbitrarität der Zeichensynthesis (der Signifikant ,Volk' und sein jeweiliges Signifikat sind nicht notwendig verknüpft) nicht berücksichtigt, dass der Volksbegriff sich historisch relativ stabil mit den Ideologien und Praktiken der herrschenden Klassen verbinden kann und dann nicht mehr willkürlich umbesetzen lässt (v gl. Hall 1986, 97). Außerdem ist zu betonen, dass die

nalistische Politik der KPD bezieht, die faktisch zum Legitimationsbeschaffer faschistischer Ressentiments wurde, denn Laclaus Hegemoniekonzeption in den hier untersuchten Beiträgen entbehrt jedes kategorialen Mittels, um sich gegen eine diskurstheoretisch aufgemotzte Querfrontstrategie abzugrenzen. 98

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Gründe für die sozialistische Revolution keinerlei nationale Spezifizierung zulassen: Kapitalistische - und nicht deutsche, englische oder italienische - Ausbeutung, Krisenhaftigkeit und Entfremdung sind hier zu überwinden. üb sich die Leute dann noch verschiedener Sprachen und Kulturen erfreuen und bedienen, bleibt ihnen überlassen, nationalstaatliche Zwangsidentitäten sind damit aber nicht verbunden. Zum, bei allen Ambivalenzen, prinzipiell antiemanzipatorischen Charakter aller Nationalismen vgl. ausführlich Mense 2016, v.a. 27, 65, 185-192. Das bedeutet nicht, dass es undenkbar ist, dass der Appell an die ,Nation' in antikolonialen oder der antisemitischen Vernichtungswut entgegentretenden Praktiken eine sinnvolle defensive Rolle spielen kann, die die weitere Möglichkeit emanzipatorischer Praktiken bewahren helfen könnte. In der antiimperialistischen Ideologie geht dieser rein situative und jeweils eingehend zu begründende Aspekt der nationalen Anrufung aber in eine besinnungslose Affirmation des Volkes-als-Nation über, die sich zum nützlichen Idioten noch metropolitaner herrschender Klassen machen lässt und rechten Ressentiments Legitimität verleiht, statt sie zu bekämpfen - wie geschehen nicht nur im Falle der KPD in der Weimarer Republik. So lobt Laclau Poulantzas' vermeintlich "entwickeltere Position" (Laclau 1981 b, 189) aus späteren Schriften, in der dieser einen progressiven Aspekt europäischer metropolitaner Nationalismen (z.B. des Gaullismus) erkennt, weil diese gegen die Vorherrschaft des ,USImperialismus' gerichtet seien. Als wären de Gaulles Ziele um einen Deut besser gewesen als die der US-Bourgeoisie, nur weil er weniger erfolgreich in der internationalen Konkurrenz war. Ich gebe Olaf Kistenmacher allerdings Recht, dass eine offizielle und formale Querfront zwischen linken und rechten Kräften in solchen linksnationalistischen Strategien wie derjenigen Laclaus nicht unbedingt angestrebt werden muss. Entscheidend ist, so Kistenmacher zu Recht am Beispiel der KPD der Weimarer Republik, dass diese linke Strategie der nationalpopularen Anrufung einen eigenen und spezifisch codierten antimarxistischen und antiemanzipatorischen Nationalismus und Antisemitismus hervorbringt (v gl. Kistenmacher 2016b, 9).

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Die postmoderne Querfront Anmerkungen zu Chantal Mouffes Theorie des Politischen Chan tal Mouffes gemeinsam mit Ernesto Laclau erarbeitete ,postmarxistische' Theorie des Politischen ist derzeit der wohl meistdiskutierte Beitrag zum Thema Populismus. Mouffes und Laclaus Theorie stellt ein sowohl für den akademischen als auch den politischen und feuilletonistischen Diskurs attraktives Angebot dar: Sie gibt dem stets nach ,Paradigmenwechscln' und Neologismen hungernden akademischen Betrieb eine neue ,Beschreibung' der gesellschaftlichen Wirklichkeit; sie gibt der politischen Verunsicherung angesichts des vermeintlichen Scheiterns bürgerlicher wie kommunistischer Emanzipations- und Fortschrittsideen sowie des Untergangs ihrer Träger (des rationalen Individuums bzw. der proletarischen ,Klasse für sich') einen ,kontingenztheoretischen' Ausdruck; sie bietet aber zugleich das Versprechen neuer politischer Handlungsfähigkeit, indem sie die mit Ohnmacht assoziierbare Kontingenz und ,Intransparenz des Sozialen' sowie das Fehlen des einen adressierbaren, politisch gestaltenden Subjekts als Möglichkeit neuer ,hegemonialer Projekte' und sozialer Bündnisse begreift. Dieses Versprechen politischer Handlungsfähigkeit ist besonders für eine Linke attraktiv, die sich von der pluralen Version einer neoliberalen Einheitspartei in den Metropolen abwenden und sich zugleich das Erstarken nationalistischer, autoritärer und faschistischer Kräfte erklären will, das unter dem Label des ,Aufstiegs des Rechtspopulismus' gerade in aller Munde ist. Beide Tendenzen - die ,There is no Alternative-Politik' von Sozialdemokratie und klassischen Neokonservativen und das Erstarken der populistischen Rechten - werden insbesondere von Mouffe in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht. Als Heilmittel empfiehlt sie eine ,antiessentialistische' linkspopulistische Strategie, die gegen ,die neoliberalen Eliten' und die völkische Rechte zugleich gerichtet sein soll. Im Folgenden werde ich diesen postmarxistischen Zugang zum Phänomen des Populismus darstellen und einige seiner Grundannahmen einer Kritik unterziehen. Die Grundthese lautet, dass der postmarxistische Ansatz eine irrationalistische Sozialontologie und ,essentialistische' Massenpsychologie impliziert, die es nicht gestatten, den gegenwärtigen Populismus zu begreifen. Stattdessen bewegt sich Mouffe reflexionslos in populistischen Denkformen und Carl-Schmitt'schen Ideologemen, deren rationale Erklärung einer analytischen Sozialpsychologie in der Tradition der Kritischen Theorie obliegt. Es handelt sich dabei um eine Querfront von linken Theoretikern und Rechtsradikalen auf der Ebene der grundlegenden Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse, die mit einer Ablehnung von Vernunft und moralischem Universalismus einhergeht und auf der politischen Ebene im Ressentiment gegen den Westen im allgemeinen, gegen die USA im Besonderen, besteht.

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1. Sozial theoretischer Antiliberalismus und Irrationalismus

Der zentrale Gegner Mouffes auf sozial theoretischem wie auf politischem Gebiet ist "die Hegemonie des Liberalismus". (Mouffe 2007, 17) Sozial theoretisch wird Liberalismus, ganz im Stile der Analysen Carl Schmitts, an denen Mouffe sich in beinahe jeder Hinsicht orientiert, als verschiedenste politische Ansätze übergreifende Konzeption verstanden, die sich durch folgende Komponenten auszeichne: Der Liberalismus sei "ein rationalistischer und individualistischer Ansatz", der "kollektive Identitäten" nicht anerkenne (17) und davon ausgehe, dass Pluralismus rational koordinierbar sei, dass es "viele Sichtweisen und Werte gibt, die wir uns aufgrund empirischer Beschränkungen niemals in ihrer Gesamtheit zu eigen machen können, obwohl sie ein harmonisches und konfliktfreies Ensemble bilden". (18) Konflikt sei dabei sowohl auf ökonomischer als auch auf politischer Ebene ein Mittel, um durch Konkurrenz Wohlstand und durch Deliberation Konsens herzustellen. Der Liberalismus habe sich seit je "zwischen Ökonomie und Ethik bewegt": Das ökonomische Modell konzeptualisiere Gesellschaft "aggregativ" von den instrumentell-rationalen, nutzenmaximierenden Handlungen der Individuen her, das ethische Modell begreife "politische Diskussion als ein spezielles Gebiet der Anwendung von Moral" (21), die als kommunikative Rationalität "deliberativ" Handlungskoordination und soziale Integration bewirke.! Damit zeichne sich der Liberalismus wesentlich durch das "Negieren der Untilgbarkeit des Antagonismus" und die "Unfähigkeit [... J, die Probleme unserer Gesellschaften auf politische Art und Weise zu bestimmen", aus. (17) Damit sind schon wesentliche Punkte der politischen Anthropologie Mouffes angesprochen. a) Das Politische steht darin für die Verweigerung der Mediatisierung von kollektiven Konflikten in Konzepten letztendlich er Versöhnung, Konsensbildung oder allgemeinen Wohlstands - es bezeichnet "die primäre Realität des Streits im gesellschaftlichen Leben" (43) oder, wie Zygmunt Bauman sich zustimmend ausdrückt, die Tatsache, "daß der Streit ebenso unvermeidlich wie am Ende ergebnislos und irrelevant war". (Bauman 1995, 173) (Ewigkeit der Streit-Gründe) Dieses Dogma oszilliert, wie schon Carl Schmitts Politontologie ewiger Feindschaft, zwischen deskriptivem und normativem Anspruch 2: Einerseits sei der Konflikt der Kollektive für das menschliche Leben konstitutiv, andererseits fürchten und bekiimpfen sowohl Schmitt als auch Mouffe jeden Versuch einer endgültigen Normierung oder gar Lösung von Konflikten in Gestalt liberaler ,Neutralisierungen' und ,Entpolitisierungen'. Damit einher geht ein Votum für das Offenhalten von Möglichkeiten gegen Institutionalisierung, für die Ausnahme gegen die Regel sowie eine Erhebung des Konflikts zum Selbstzweck. 3 b) Das Politische steht aber auch für die Verweigerung einer Auskunft über den spezifischen Inhalt oder das Sachgebiet der Konflikte: es ist der ebenso ewige wie bedeutungsoffene, unbestimmte und unbestimmbare Mouffes Liberalismus-Begriff reproduziert damit schlicht den Schmitts, vgl. Schmitt 2002, 68-78. Vgl. Strauss 2001a, 229, 236. Vgl. mit affirmativem Bezug auf Sore!: Laclau 2013, 194. Vgl. dazu kritisch: Hirsch 2009, 208 sowie Priester 2014,240,245,254, affirmativ: Amlinger 2020,334.

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Konflikt, der zugleich das kontingente, niemals fixierbare, instituierende Geschehen der Einrichtung von Gesellschaft (und politischen Identitäten) darstellt (Nichtfixierbarkeit der Streit-Gründe). c) Und schließlich steht das Politische für die Absage an alle ,liberalen' Annahmen von ökonomisch oder moralisch vernünftigen Individuen: Die Konflikte zwischen Gruppen sind affektbasiert und gehören zur Menschennatur (Irrationalität der Streit-Gründe). Das Politische beinhaltet also "Macht, Konflikt und Antagonismus", die "für menschliche Gesellschaften konstitutiv" sind. (Mouffe 2007, 16) Diesem Politischen steht die Politik gegenüber, als "empirische[s] Gebiet" (15) der Sozialwissenschaften und "Gesamtheit der Verfahrensweisen und Institutionen [ ... ], durch die eine Ordnung geschaffen wird, die das Miteinander der Menschen im Kontext seiner ihm vom Politischen auferlegten Konflikthaftigkei t organisiert." (16) Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich Mouffe die Bildung politischer Kollektive vorstellt: Das Politische besteht für sie in einer nicht rational entstandenen und ebenso wenig rational entscheidbaren Wir/Sie-Unterscheidung. Diese beinhalte immer eine konflikthafte, aber nicht immer eine bis zur Negation der jeweiligen Identitäten (der eigenen Art Existenz) gehende Relation zweier nur mit Bezug aufeinander bestimmbarer Pole (Wir, die nicht Sie sind). Die konflikthafte Wir/SieUnterscheidung, die von einem gemeinsamen Band zusammengehalten wird, nennt Mouffe Agonismus; stellen die Pole ihre jeweilige "Identität in Frage und bedrohe [n] [... ] [ihre] Existenz" (24), so handle es sich um einen Antagonismus. Mouffes Programm ist es, den Antagonismus zu ,zähmen' (29) und den weiterhin nicht rational entscheidbaren, leidenschaftlichen, als ewig und unlösbar begriffenen Konflikt in einen agonalen Zustand zu überführen. Unterhalb der Schwelle der Feindschaft, die den Konflikt auf die Ebene des Tötens und Getötetwerdens heben würde, soll demokratische Politik eine bestimmte Form der "Etablierung" (22) der Wir-Sie-Unterscheidung darstellen, die durch das symbolische ,gemeinsame Band' der Zustimmung zu dem Satz "Freiheit und Gleichheit für alle" zusammengehalten wird. Allerdings könne nie endgültig festgelegt werden, was diese Begriffe bedeuten, es werde "immer Meinungsverschiedenheiten über deren Bedeutung und die Art und Weise ihrer Verwirklichung geben". (43) Der Agonismus bezeichnet einen Konflikt von "hegemonialen Projekten, die niemals rational miteinander versöhnt werden können" (31), er stellt weder einen Machtkampf innerhalb eines hegemonialen Projekts dar, noch eine radikale Infragestellung der Grundlagen der "politischen Gemeinschaft" - es geht also beispielsweise um einen Konflikt zwischen einer neo liberalen und einer linkskeynesianischen Strategie innerhalb der kapitalistischen und parlamentarischen Ordnung. Das Umschlagen von Agonismus in Antagonismus ist Mouffe zufolge "so lange unwahrscheinlich, wie für widerstreitende Stimmen legitime agoni~tsche Artikulationsmöglichkeiten existieren." (30) Auf die Dompteurmetaphorik des Zähmens und das hier angesprochene Modell der Konfliktentschärfung durch agonistische Alternativen komme ich noch zurück. Es tauchen bereits hier zwei Probleme auf: Erstens hat Mouffes Konzept der agonalen Demokratie ein ähnliches Problem wie Schmitts Idee des Politischen in

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Form des gehegten Krieges. 4 Bei Schmitt gerät die Hegung des militärischen Konflikts durch das Kriegsrecht in einen unauflösbaren Gegensatz zu seinem Intensitätsbegriff des Politischen: Hegung und "äußerste[r] [!] Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung" von Menschengruppen, die jeweils die "eigene Art Existenz" (Schmitt 2002, 27) der anderen negieren, sollen zugleich realisiert werden. Analog dazu bleibt es bei Mouffe schleierhaft, wie sich Gegner mit "unversöhnlich[en]" "Standpunkten" dauerhaft "erbittert" "bekämpfen" können und sich zugleich "an einen gemeinsamen Regelkanon" halten sowie diese unversöhnlichen Perspektiven "als legitime [ ... ] akzeptier[en]" können. (Mouffe 2007,70) Es bleibt zudem rätselhaft, wie ohne rationale Argumente eine gegenseitige Tolerierung und symbolische Form des Kampfes möglich sein soll. Zweitens reproduziert die zum agonistischen Konzept gehörende "Trennlinie [ ... ] zwischen denen, die diese Werte [Freiheit und Gleichheit für alle] offen ablehnen und denen, die sie akzeptieren, aber für widerstreitende Interpretationen kämpfen" (158), den Antagonismus nur auf einer anderen Ebene. Der Agonismus ist also letztlich eine etwas mehr Raum für innere Konflikte lassende Konzeption politischer Einheit, die, wie bei Schmitt, den Antagonismus zwischen politischen Einheiten oder Projekten propagieren muss und keineswegs eine Alternative zum antagonistischen Politikmodell darstellt, wie Mouffe suggeriert. Aber zurück zur Wir/Sie-Unterscheidung mit ihrem affektiven, assoziativen, relationalen und kontingenten Charakter. Hier verknüpft Mouffe in äußerlicher Weise eine triebnaturalistische Konzeption (1) der Bildung politischer Kollektive mit einer diskurstheoretischen (2): (1) Agonismus ist für Mouffe ein vor allem über parlamentarische Verfahren geregelter symbolischer Kampf, eine ,Sublimierung' (31) der feindseligen Aggression und "affektiven Kräfte, die am Ursprung der kollektiven Formen von Identifikation stehen". (34f.) Mit Verweis auf Elias Canetti betont sie, dass Parlamentarismus nicht bedeute, dass "die Menschen imstande wären, nunmehr rational zu handeln" (33), sondern dass sie letztlich nur ihren irrationalen Affekten eine andere Form geben. Ein vernünftiger Gehalt von Aussagen, die in diesem Kampf getätigt werden, wird nicht in Betracht gezogen. Der Gegner, so wird Canetti zitiert, "gibt sich einfach geschl~n", ist nicht von der Vernünftigkeit des Gegenarguments überzeugt, oder aber er wechselt die politische Identität, wobei es sich Mouffe zufolge dann "mehr um eine Konversion als um einen Prozess rationaler Überzeugung" handelt. (Mouffe 2013, 104) Vernunft existiert für Mouffe ohnehin im Anschluss an Foucault lediglich als "Schleier" (106) vor der eigentlich partikularen, irrationalen, gewaltbegründeten Wirklichkeit. Sie betrachtet jede Form der Erkenntnis und jeden allgemeinen Wahrheitsanspruch als gewaltkonstituiert, als bloßen Ausschlussakt und Machteffekt 5 und formuliert damit letztlich einen Diskurssozialdarwinismus,6 eine Vgl. Schmitt 2002, I1f., Schmitt 2006, 91ff. Vgl. Mouffe 2013, 73, 101, 125f., ebenso Mouffe 2007, 25ff. Zur Kritik dieses diffusen, an Foucault anschließenden Machtkonzepts vgl. Honneth 1994, Kap. 5, Lindner 2006b, Schuck 2012, Sayer 2014. Vgl. auch Priester 2014, 201.

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"politische Ontologie" oder ,,allgemeine" Macht-, Gewalt- und Konflikttheorie "der Bedeutungsproduktion" (Marchart 2011, 213), die alle menschlichen Praktiken als politisch begreift und alle Begriffe als polemisch, das heißt von einem agonistischen Machtgeschehen epistemisch unbegründbarer Ausschließungseffekte und grundloser Entscheidungen abhängig: "das einzige Gültigkeitskriterium wäre Erfolg oder Niederlage." (Ferry/Renaut 1987, 183/ Die parlamentarische Wahl ist für Mouffe jedenfalls nicht der Ausdruck rationaler Interessenvertretung, sondern emotionaler Zugehörigkeitsbedürfnisse. Mehr noch, die das Politische konstituierenden Kollektive werden als irrational konstituierte nach dem Muster der Massenpsychologie begriffen: durch einen autoritärmasochistischen "Trieb, der den Wunsch der Menschen erweckt, mit der Masse zu verschmelzen und sich dabei selbst in ihr zu verlieren". (Mouffe 2007, 34) Dieses Aufgehen in der Masse biete den Individuen emotionale Gratifikationen in Gestalt eines kollektiven Narzissmus 8: "Um politisch zu handeln, müssen Menschen sich mit einer kollektiven Identität identifizieren können, die ihnen eine aufwertende Vorstellung ihrer selbst anbietet." (36) Dies müssen wir Mouffe zufolge als "Teil der psychologischen Ausstattung des Menschen" akzeptieren 9 (34) und daraus eine alternative Affektpolitik, die "politische Mobilisierung von Leidenschaften innerhalb des Spektrums des demokratischen Prozesses" (35), herleiten. Es gehe um die Frage, "wie dieser Instinkt mobilisiert werden kann, ohne die demokratischen Insti"Alles ist politisch", so auch der postmoderne ,Affekttheoretiker' Jan Slaby (2017, 162). Hier nähert Mouffe sich erneut earl Schmitt an: Dessen These, "nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen" (Schmitt 2002, 27) sei die Beurteilung von Freund und Feind möglich, wird 1933 erneut aufgegriffen und radikalisiert, indem er behauptet, die "Volks- und Rassenzugehörigkeit" determiniere die Möglichkeit der Individuen zur Bewertung und Einschätzung jedweden Sachverhalts (Schmitt 1934, 45). Mit einem Machtbegriff, der sich auf die Realisierung der einen und den Ausschluss der anderen Möglichkeiten in einem Diskurs beschränkt (vgl. Mouffe 2007, 27), geht sowohl eine sinnvolle Unterscheidung von Macht und Herrschaft als auch ein Abgrenzungskriterium von rationalen und irrationalen Begrenzungen von Möglichkeiten verloren. Es gibt dann bestenfalls noch pragmatische, aber keine epistemischen Gründe mehr, einer Aussage zuzustimmen (vgl. kritisch dazu: Boghossian 2013, 21). Dieser relativistische Diskurs, der die Partikularität aller Diskurse feststellt, will aber offenbar keineswegs partikular sein, er erhebt gerade den Anspruch auf sprachspielübergreifende Erkenntnis, den er selbst leugnet. Das ist der Selbstwiderspruch einer totalisierten Vernunftkritik bzw. eines relativistischen Sozialkonstruktivismus (vgl. ebd., 58-62). Die Formulierungen ,autoritär-masochistisch' und ,kollektiv narzisstisch' stammen nicht von Mouffe selbst. Laclau/Mouffe betonen bereits mit ihrer Sorel-Rezeption in den 80er Jahren - und im Spätwerk in zunehmend radikalisierter Form - die irrationale Basis der Bildung politischer Kollektive durch "Emotionalisierung der Akteure, Entfachung von Affekten und Leidenschaften, intuitive Effekte visueller oder sprachlicher Bilder und deren [... ] begrifflich nicht vermittelbare Einwirkung auf die kollektive Psyche." (Priester 2014, 90) Auch bei Laclau steht im Spätwerk das Bedürfnis nach (unerreichbarer) kollektiv-narzisstischer Retotalisierung ("Fülle") des prinzipiell als entfremdet aufgefassten Individuums im Vordergrund (v gl. u.a. Laclau 2013, 137), vgl. auch Priester 2014, 22f., 42ff., 117. Mit Fromm muss betont werden, dass Laclau/Mouffe dabei, ebenso wie der frühe Sartre, existenzielle mit historischgesellschaftlichen Dichotomien und Entfremdungsformen konfundieren. Vgl. zu dieser Differenzierung: Fromm 2014,40-51.

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tut ionen zu bedrohen." (34) 10 Mit den affektiv-kollektiven Kräften könnten weder das Aggregationsmodell (Kollektivität als Kooperation auf der Basis konvergenter Interessen) noch das Deliberationsmodell (Kollektivität als Resultat eines rationalen moralischen Konsenses) etwas anfangen. Zwar gibt es Mouffe zufolge auch einen "Trieb zu Individualität und Verschiedenheit" (34), doch wird dieser dem Kollektivitätstrieb abstrakt entgegengestellt - eine Form der Vergesellschaftung ohne Verschmelzung und Verlust des Ichs scheint grundbegrifflich ausgeschlossen. (2) Diese als neutral und anthropologisch unvermeidlich betrachteten politischen Affekte werden Laclau/Mouffe zufolge durch die Bildung von "Äquivalenzkette [n J" (Laclau 1981 d, 181) zu politischen Kollektiven verdichtet: Der Affektteig wird in Form gebracht, wobei die Formen aus Signifikantenketten bestehen. Die dabei gebildeten Äquivalenzketten sind diskursive Gleichsetzungen von wiederum nur diskursiv konstruierten 11 Subjektpositionen und ,Anrufungen', also institutionalisierten Rollenmustern, die von den Akteuren verinnerlicht werden (z.B.: ,Ich bin ein deutscher Arbeiter'). Sie bewirken eine Kanalisierung der politischmasochistischen Libido zu vorübergehend stabilen Identitäten, die ihren spezifischen Charakter nur im Entgegenstehen zu anderen, ausgeschlossenen Identitäten erhalten. Hinter diesen relationalen Identitätskonstruktionen (,Wir, die nicht Sie sind') stehe nicht noch einmal ein begründendes Prinzip (die ,materiellen Interessen' oder ,Blut und Boden' etwa), sie seien letztlich kontingent und einer ständigen Neuverhandlung ihrer Bedeutung ausgesetzt. Die Affektpolitik, die Laclau/Mouffe dabei vorschwebt, ist ein ,antiessentialistischer' Populismus und linker Nationalismus (oder auch partikularistischer Europäismus): Es soll "anerkannt" werden, "dass die Einheit des ,Volkes' das Resultat einer politischen Konstruktion ist" (Mouffe 2013, 66) und zugleich sollen "nationale Bindungen" und ihre "Affekte" "für demokratische Ziele" mobilisiert werden. (Mouffe 2007, 149) Diese dürften nicht "den 10

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Dass Mouffe einmal den Begriff Instinkt, dann wieder den des Triebes verwendet, zeigt, dass es ihr um wissenschaftliche Genauigkeit nicht geht und dass auch der Rekurs auf psychologische Theorien ausschließlich instrumentell erfolgt, um ihr Dogma des Politischen zu illustrieren. V gl. bereits Laclau 1981 d, 177 demzufolge "die spezifischen Produktionsbedingungen jedes Diskurses [... ] selbst als anderen Diskursen entstammend aufgefaßt werden müssen." Wenn Laclau/Mouffe dann noch betonen, dass "Artikulation nicht lediglich als die Verkettung von ungleichen und vollständig konstituierten Elementen begriffen werden kann" (Laclau/Mouffe 2000, 126, ebenso 178), dann wird deutlich, dass die ,Elemente' ebenfalls in ihrer Bedeutung diskursiv generiert werden. Warum unterscheiden dann Laclau/Mouffe ,Elemente' (z.B. Proletariat und Kleinbürgertum) von ,Momenten' (z.B. Proletariat und Kleinbürgertum als Momente des linkspopulistisch konstruierten ,Volkes')? "Der Status der ,Elemente"', so schreiben sie, "ist der von flottierenden Signifikanten, die nicht gänzlich zu einer diskursiven Kette artikuliert werden können." (151) Es handelt sich hier also nicht um objektive Interessen, Strukturen oder Anforderungen materieller Reproduktion, die teilweise identitätsbildend wirken und nachträglich hegemonial durch assoziative Verbindungen modifiziert werden. Es scheint hier ganz formal um Bedeutungsträger zu gehen, deren Bedeutung nicht endgültig bestimmbar ist und sich immer verändern kann. Diesen Bedeutungsüberschuss, diese "Nichtfixierbarkeit von Bedeutungen" sozialer Identitäten nennt Urs Stäheli daher auch den für Laclaus/Mouffes Denken konstitutiven "Spielraum des Politischen", der ständige Konflikte und hegemoniale Verschiebungen verbürgt. (Stäheli 2007, 124)

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rechtsgerichteten Demagogen überlassen" (150) werden, was erneut die Diagnose bestätigt, Mouffe halte diese nationalistischen Affekte für neutral und beliebig von links besetzbar. 12 Die ,Äquivalenzkette' bzw. ,Aufzählung' von Elementen (z.B. "die Arbeiterklasse, die Bauernschaft, das Kleinbürgertum, fortschrittliche Fraktionen der nationalen Bourgeoisie"= das Volk) hat dabei "performativen Charakter", weil ihre beanspruchte Einheit "nichts Gegebenes [ist]: sie ist ein Projekt, das politisch aufgebaut werden muß." (Laclau/Mouffe 2000,97,99) Das Prinzip, das dabei waltet, die "Artikulation" dieser Elemente in einem Diskurs, bedeutet Laclau/Mouffe zufolge, dass ,,[d]ie Einheit zwischen diesen Akteuren [einer Äquivalenzkette] [... ] nicht der Ausdruck eines gemeinsam zugrundeliegenden Wesens [ist], sondern das Resultat politischer Konstruktion und politischen Kampfes." (100) Dieser Kampf ruft "ein ,allgemeines Äquivalent' hervor [... ], in dem das Verhältnis sich als solches symbolisch kristallisiert." Dieses allgemeine Äquivalent besteht aus "national-populare [n] oder popular-demokratische [n] Symbole [n] [... ], Subjektpositionen, die von denen der Klasse verschieden sind" (99) - eben ,Volk' oder ,Nation', es kann aber "auch ein bloßer Name sein - häufig der eines Führers", wie Laclau ausführt. (Laclau 2014) Nehmen wir die oben von Laclau/Mouffe angeführte Kette von Gleichsetzungen, so ist ,das Volk' oder ,die Nation' das ,allgemeine Äquivalent' für "die Arbeiterklasse, die Bauernschaft, das Kleinbürgertum, fortschrittliche Fraktionen der nationalen Bourgeoisie" (Laclau/Mouffe 2000, 97), die im Populismus den ,Volksfeinden' oder den ,Eliten' entgegengesetzt werden, die wiederum aus der Äquivalenzkette "transnationales Kapital und die Banken" (Mouffe 2014), die ,korrupte politische Klasse' etc. zusammengesetzt sein kann. Das Konzept des antiessentialistischen Populismus ist sowohl in sozialtheoretischer als auch politisch-psychologischer Hinsicht hochgradig fragwürdig: Sozialtheoretisch ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder gibt es Grenzen der Konstruktion dieses Gemeinsamen, die in strukturell bedingten (durchaus historisch wandelbaren) objektiven materiellen (oder ethischen) Interessen und sozialen Identitäten liegen. 13 Das heißt, es muss vor der Gleichsetzung bestimmbare Inte12

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Schon in den 1970er Jahren behauptet Laclau (1981b, 87), dass ideologische Elemente und Ansprüche "keine notwendige Klassen-Konnotation haben". Während z.B. Nicos Poulantzas, an dem Laclau sich damals abarbeitet, meint, Sozialismus sei eine proletarische, Nation eine unverrückbar bürgerliche Forderung, unterstellt Laclau, dass Begriffe wie Nation oder Volk ,progressiv' oder ,reaktionär' besetzbar sind. Ausgangspunkt ist die linguistische Erkenntnis de Saussures, dass Signifikant (Bedeutungsträger/Lautbild) und Signifikat (Sinn gehalt/Bezeichnetes) in keinem notwendigen Zusammenhang stehen. So kann Lac1au zufolge ,Volk' eben ausgehend von einer völkischen oder einer nichtethnisch-proletarischen Konzeption definiert werden. Die Subjektposition ,Ich bin ein deutscher Arbeiter' bedeutet von daher jeweils etwas völlig anderes - so meint jedenfalls Laclau. Nebenbei ist zu erwähnen, dass für Laclau nicht nur Volk/Nation, sondern auch Antisemitismus progressiv besetzbar ist (vgl. ebd., 87, 190). Spätestens hier wird deutlich, wie fragwürdig die unmittelbare Anwendung linguistischer Erkenntnisse auf historisch-gesellschaftliche Phänomene ist. Vgl. Schuck 2014. Schuck unterscheidet subjektive Interessen von positionellen Interessen und diese wiederum von ethischen. Während subjektive Interessen individuelle Präferenzen sind,

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ressenstrukturen geben, die sich einerseits unterscheiden (sonst wäre die Rede von der Verschiedenheit der zu artikulierenden Elemente unsinnig), die andererseits aber ein Minimum an Gemeinsamkeit aufweisen (sonst könnte alles mit allem gleichgesetzt werden und die Äquivalenzkette wäre unendlich und ohne Antagonismus).14 Dann aber ist wieder so etwas wie ein ,gemeinsames Wesen' vorhanden. Oder die handlungsleitenden Interessen der hegemonialen Konstellation werden ausschließlich ,politisch konstruiert'. Dann bewegen wir uns auf dem Feld weitgehender Beliebigkeit der diskursiven Formung des politiscl)fn Affekt-Teigs. Das Motiv, das zunächst hinter diesen Annahmen steht, ist eine Zurückweisung ökonomistischer Politikauffassungen, die politisches Handeln lediglich als Ausdruck ,objektiver Interessen' (des Proletariats oder der Bourgeoisie) verstehen, bzw. eines vorpolitischen Volksbegriffs, der einen homogenen ,wahren Volkswillen' vor allen parlamentarischen, demokratischen Willensbildungsprozessen unterstellt. Diese in vielen Punkten durchaus berechtigte Kritik führt Laclau/Mouffe aber letztlich dazu, den Begriff objektiver, das heißt sozialstruktureIl bedingter Interessen überhaupt zu verabschieden und an deren Stelle die magische Praxis politischer Mythenproduktion und Affektregulation im Anschluss an Georges Sorel zu setzen. Sorel bricht mit dem ökonomistischen Fortschrittsdeterminismus der Zweiten Internationale und setzt an dessen Stelle eine dekadenztheoretische und heroischvoluntaristische Geschichtsauffassung: Die Ebene der Konstitution kollektiver Akteure ist ihm zufolge nicht die Ökonomie, sondern die kulturell-moralische Ebene, der Mythos. Dieser ist eine in Gestalt von "Schlachtbildern" zum bedingungslosen Kampf motivierende, irrationale ,Wollung'.15 Die Einheit der Arbeiterklasse im Soreischen Sinn konstituiert sich dabei nur im unversöhnlichen Engegenstehen zum Bürgertum. Die Klasse, so radikalisieren Laclau/Mouffe den Gedanken Sorels nun

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die in der Psyche von Akteuren lokalisiert sind, sind positionelle Interessen insofern objektiv, als sie institutionalisierte Verhaltens erwartungen oder strukturelle Zwänge bezeichnen (ebd., 308), die sich relativ unabhängig von den Deutungsleistungen der Akteure konstituieren und die sich Akteure bei der Verfolgung subjektiver Interessen zu eigen machen müssen, ohne dass sie diese (die positionellen Interessen) bejahen müssen. "Positionelle Interessen", so Schuck, "unterwerfen die Möglichkeit eines guten Lebens - und nicht selten auch die des nackten Überlebens - sozio-strukturell bedingten Zwecken." (317) Sie bezeugen die "Existenz eines kausalen Einflusses materieller Verhältnisse auf die Bestrebungen und Handlungspräferenzen" von Akteuren (300) und zeigen, dass Interessen nicht "voraussetzungslos produziert [werden] - als gäbe es keine sozialen Bedingungen, sondern nur ,pure' soziale Praxis, die jederzeit ihre eigenen Motive gleich mitliefert." (314) Es ist also etwa unter kapitalistischen Vergesellschaftungs bedingungen das objektive Interesse eines produktionsmittellosen Menschen, seine Arbeitskraft erfolgreich zu verkaufen (positionelles Interesse aufgrund sozialer Formen), wenn er das Ziel des Überlebens hat (transhistorischer Inhalt des Interesses). Es ist aber im Vergleich dazu subjektiv, ob er seinen Lohn für Laclau-Bücher oder für Bier ausgibt, auch wenn diese Präferenzen selbstredend nicht unabhängig von gesellschaftlichen Faktoren gebildet werden. Vgl. Priester 2014, 114, 127. VgL Sorel 1981,30,35,41. Auch diese, wie er es selbst nennt, " [i]rrationalistische Theorie unmittelbarer Gewaltanwendung" SoreIs hat Schmitt zuerst in die Debatte eingeführt, vgL Schmitt 1996a, 80ff. Zur Sorel-Rezeption bei Laclau/Mouffe vgl. die kritische Darstellung von Priester 2014, 75-92.

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aber nochmals,16 existiert nur im Kampf, da "sich ihre Identität nicht mehr auf einen Prozeß der basalen Einheit gründen läßt." (Laclau/Mouffe 2000, 74f.) Die richtige Einsicht, dass kollektive politische Handlungsfähigkeit nicht schon mit geteilten ökonomischen Positionen garantiert ist, wird hier zu einer bellizistisch,antiessentialistischen' Ontologie, die von objektiven materiellen Interessen vollkommen absieht und an deren Stelle soziale Identitäten, Gruppen- und Klassenzugehörigkeiten um ein mythisches ,Als ob' herum organisiert. 17 Nicht nur "die Möglichkeit einer dichotomen Teilung der Gesellschaft" ist nämlich Laclau/Mouffe zufolge bei Sorel "nicht als ein Datum der sozialen Struktur vorausgesetzt" (77), sondern voluntaristisch-dezisionistisch und affektiv konstruiert. Es ist vielmehr eine heroische Fiktion, nicht eine gemeinsame ökonomische Position, welche die Identität der Klassensubjekte ganz grundlegend konstituiert: "Der entscheidende Punkt ist - und dies macht Sorel zum tiefschürfendsten und originellsten Denker der Zweiten Internationale, - daß die Identität der sozialen Akteure selbst unbestimmt wird und daß jegliche ,mythische' Fixierung derselben von einem Kampf abhängt." (78) ,,[S]oziale Identitäten", so Laclau, "erfordern Konflikt zu ihrer Konstitution". (Laclau 2013, 193) ,,Artikulation" von Elementen zu Momenten einer Totalität (z.B. Proletariat und Kleinbürgertum zum Volk) wird demnach bestimmt als die subjektlose Organisation von Verknüpfung und Einheit, die "kontingent" ist und damit "den Fragmenten selber äußerlich" - im Gegensatz zu "Vermittlung", bei der "sowohl die Fragmente als auch die Organisation [... ] notwendige Momente einer sie transzendierenden Totalität" sind. (Laclau/Mouffe 2000, 129)18 Es gibt Laclau/Mouffe zufolge aber keine Vermittlung, kein ,Passen' von Phänomenen, Identitäten, Substanzen zueinander und keine Verbindung derselben zu einer Struktur oder gar einem System (also einer sich reproduzierenden Struktur). Es gibt nur das äußerliche Zusammenzwingen von Nichtzusammenpassendem. Dass die soziale Wirklichkeit "hegemonial" ist (Mouffe 2007, 25), heißt dann machtreduktionistisch, dass sie Ausdruck eines numinosen, ubiquitären Bemächtigungsstrebens ist, antirealistisch, dass die hegemoniale Artikulation der Realität immer Gewalt antut oder mit ihr identisch ist und irrationalistisch, dass die hegemoniale Ordnung der Wirklichkeit ein "Spiel" ist, "das sich dem Begriff entzieht". (Laclau/Mouffe 2000, 238) Es ist wie bei einem Puzzle: Der Hegelianer spielt Puzzle wie ein Erwachsener - er setzt Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen, dessen vermittelte, ineinander passende und ein Ganzes ergebende Teile die Puzzles tücke sind. Der Postmoderne spielt wie ein Zweijähriger, indem er die Teile gewaltsam ineinander drückt, bis sie ,passen'Y Anschließend vergisst er, dass das Ganze ein sinnloser Klumpatsch ist und hält es für ein sinnvolles Ganzes, bis er es wieder zerbricht. Allerdings sind die Puzzleteile nach dem gleichen Modell zustande gekommen. Letztlich gibt es Laclau/Mouffe zu folge überhaupt 16

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Vgl. Priester 2014, 85ff. die zeigt, dass Laclau/Mouffe Sorels protofaschistische Produzentenethik dezisionistisch zuspitzen. Vgl. Priester 2014, 6lf., 114f. Gegen diese hypostasierende Auffassung von Totalität vgl. Ritsert 1973, 55f. Vgl. Priester 2014, SM., 102.

keine entscheidungsunabhängigen, objektiven Entitäten, Strukturen, Kausalzusammenhänge oder Normordnungen. Jede Ordnung besteht nur durch das ordnungsstiftende Subjekt, das die Elemente äußerlich zusammenfügt, und das hier, anders als im klassischen theologischen Okkasionalismus, nicht mehr "Gott" genannt wird, sondern "Diskurs".20 Dessen Status als Verknüpfung von Elementen zu Momenten einer Totalität 21 bleibt letztlich diffus, da Laclau/Mouffe erklärtermaßen alle ,philosophischen Dualismen' wie Subjekt/Objekt, Ursache/Wirkung, Determinismus/Willensfreiheit, Struktur/Handlung diskurstheoretisch unterlaufen möchten 22 Laclau spricht von der "Explosion der Dichotomien". (Laclau 2013, 176) Dem liegt unter anderem der epistemische Fehlschluss von der sprachlichen Vermittlung der Erkenntnis der Welt auf den ontologischen Status der zu erkennenden Welt zugrunde, der Glaube, dass "statements about being can be reduced to or analysed in terms of statements about knowledge". (Bhaskar 1975, 36) Von Denken oder Sprache unabhängige ,Wirklichkeit als solche', wird daraufhin erklärt, existiere nicht (oder habe kein ,Sein')23, sondern sei stets diskursiv vermittelt. Letztlich wollen Denkerinnen wie Mouffe oder auch Judith Butler zwar nicht leugnen, dass es Ziegelsteine oder geschlechtliche Körper gibt, aber welchen ontologischen Status diese haben, bleibt meist ungeklärt und diffus. Die antirealistischen Konsequenzen werden in der Regel mit möglichst unklaren oder paradoxen Äußerungen kaschiert, zugleich formuliert und dann wieder zurückgenommen, um dann die Rücknahme wieder zurückzunehmen. 24 Nicht immer wird die antirealistische Konsequenz des 20

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Zum Okkasionalismus insgesamt vgl. Hume 2005, 85: ,,[V]iele Philosophen [... ] machen Geist und Intelligenz nicht zur letzten und ursprünglichen Ursache aller Dinge, sondern zur unmittelbaren und alleinigen Ursache jedes Ereignisses, das in der Natur erscheint. Sie behaupten, daß die gewöhnlich Ursachen benannten Dinge in Wirklichkeit lediglich Gelegenheiten sind und daß das wahre und unmittelbare Prinzip jeder Wirkung nicht irgendeine Macht oder Kraft in der Natur, sondern ein Willensakt des höchsten Wesens ist, welches bestimmt, daß solche besonderen Gegenstände [... ] miteinander zusammenhängen sollen." Vgl. auch Haag 1983, 53ff. zum subjektivierten Okkasionalismus im Nominalismus und Disse 2011, 17lff., 180f. Auch dieser Komplex wurde früh von Schmitt in die politische Theorie eingeführt, vgl. Schmitt 1998, 91ff. "Die aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität nennen wir Diskurs. Die differentiellen Positionen, insofern sie innerhalb eines Diskurses artikuliert erscheinen, nennen wir Momente. Demgegenüber bezeichnen wir jede Differenz, die nicht diskursiv artikuliert ist, als Element." (Laclau/Mouffe 2000,141) "Der Status der ,Elemente' ist der von flottierenden Signifikanten, die nicht gänzlich zu einer diskursiven Kette artikuliert werden können." (151) Vgl. Laclau/Mouffe 2000, 45 sowie Butler 1997, 31f. Es gibt keine Struktur, die ein Subjekt hervorbringt, sagt Butler, keine Macht, die die Stelle des Subjekts besetzt, sondern nur einen "Prozeß ständigen Wiederholens" (32), in dem alles eines ist und doch nicht eines. Vgl. zur - völlig inkonsistenten - Unterscheidung von ,Existenz' und ,Sein' bei Laclau/Mouffe: Marchart 2011, 214f. sowie kritisch: Opratko 2012, 142 Fn. 3. Bob Jessop spricht hier von einem "empty realism". (Zit. nach ebd.) Ein Musterbeispiel dafür sind die Passagen der Feministin Andrea Maihofer zu Judith Butlers Körperkonzept, die beständig zwischen Radikalkonstruktivismus und Residualrealismus schwanken, vgl. Maihofer 1995, 86-91: Einerseits materialisiere sich die "Norm des biologischen Geschlechts" keineswegs "in etwas vorgängig Vorhandenem", einem Körper, der schon

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Fehlschlusses so deutlich formuliert wie in der folgenden Passage Butlers: "Der als dem Zeichen vorgängig gesetzte Körper ist stets als vorgängig gesetzt oder bezeichnet. Diese Bezeichnung vollzieht sich dadurch, daß sie einen Effekt ihres eigenen Verfahrens hervorbringt, nämlich den Körper, und dennoch zugleich behauptet, diesen Körper als das zu entdecken, was jeder Bezeichnung vorhergeht." Die vermeintliche Tatsache, dass "der Körper, der als der Bezeichnung vorhergehend bezeichnet ist, einen Effekt der Bezeichnung bildet", destruiere den Glauben an den "repräsentativen Status der Sprache" und erweise sie als "produktiv, konstitutiv [ ... ] [,] performativ, weil dieser Bezeichnungsakt den Körper produziert, selbst wenn er ihn angeblich als aller und jeder Bezeichnung vorgängig vorfindet." (Butler 1995, 52) Weil also die These von diskursunabhängigen Entitäten (wie menschlichen Körpern)25 nur innerhalb des Diskurses auftauchen kann, sind, so die absurde Schlussfolgerung Butlers, diese Entitäten durch diskursive Bezeichnungsakte produziert, ist der "traditionelle[ ... ] ontologische[ ... ] Referent[ ... ] dieses Begriffs suspendiert" (53) und z.B. das" 'biologische Geschlecht' eine Fiktion". (Butler 1997, 27) Man solle den ,patriarchalen Gedanken' einer Differenz zwischen Natur und Kultur fallenlassen und den Begriff des Körpers den eigenen queeren Bedürfnissen gemäß anders verwenden. Es gebe also zwar die Materialität von Körpern, diese sei aber eine, wenn auch praktisch wirksame, "Konstruktion der Konstruktion" (26) bzw. ein "Prozeß der Materialisierung" (32) ,der Macht' ohne vorgängige Materialität, eine Relation ohne vorgängige Relata. Und so postuliert auch Laclau, dass "die spezifischen Produktionsbedingungen jedes Diskurses [ ... ] selbst als anderen Diskursen entstammend aufgefaßt werden müssen." (Laclau 1981d, 177) Es gebe "keinen extradiskursiven Grund [... ], an dem Ideologiekritik ansetzen könnte" (Laclau 2013, 176).26 "Unsere Analyse", so Laclau/Mouffe, "verwirft die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen" (Laclau/Mouffe 2000, 143) und lässt die "Kategorie des Außerdiskursiven" (253) fallen. Der Diskurs beschreibe

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existiert habe. "Ziel" sei es vielmehr, "sich die Materialität des Geschlechtskörpers als etwas vorzustellen, was von der Macht oder der Norm des biologischen Geschlechts hervorgebracht wird, also als etwas, was vorher nicht existiert hat". Das bedeute andererseits aber nicht, zu behaupten, "der Geschlechtskörper und seine sexuellen Unterschiede würden von der Norm des biologischen Geschlechts erzeugt, existierten also vorher nicht". (89) Um die Konfusion perfekt zu machen, wird dann wiederum gesagt, man solle sich die "Annahme eines [auf Sprache] irreduziblen Rests sowie die Opposition zwischen Natur und Kultur" (90) (oder "Norm und Körper" (89)) als für den Feminismus "kontraproduktiv" (91) aus dem Kopf schlagen. Den Körper als diskursunabhängig zu denken, bedeutet nicht, zu leugnen, dass er gesellschaftlich geformt oder interpretiert werden kann. Es ist unzutreffend, dass Ideologiekritik einen nichtdiskursiven Zugang zur Welt verlangt, wie Laclau (2013, 176) behauptet. Nur wenn man diskursive Vermittlung mit Verzerrung und Sprache mit Performativität vollends identifiziert, kann man auf diese Idee kommen. Tatsächlich müssen 1) Theorie und Empirie einen Zugang zur Welt ermöglichen und nicht nur verstellen und 2) muss gesellschaftliches Sein mehr enthalten als Deutungsmuster, z.B. spezifisch ökonomische Gegenständlichkeit, die nicht auf Normen und Bewusstsein reduzierbar ist, physische Gewaltverhältnisse, dispositionale Eigenschaften und kausale Mechanismen von Gehirnen, Artefakten und Ressourcen. Nur dann können auch kollektive Deutungsmuster, auch wenn sie z.T. zur Produktion des Sozialen beitragen, dieses Sein falsch darstellen.

eben nicht ein "objektive[s] Feld, das außerhalb jeder diskursiven Intervention konstituiert ist", sondern habe "performativen Charakter" (145), bringe also das, wovon gesprochen wird, im Akt des Sprechens hervorY Dieser Signifikantenimperialismus, den Michel Foucault dahingehend zusammenfasst, "dass es nur Interpretationen gibt" (Foucault 2005, 737), führt zu einem Modell der Identitätsbildung als infinitem Regress diskursiver Konstruktion: In der größeren Schachtel stecken immer wieder kleinere Schachteln, die nichts als weitere Schachteln diskursiver Konstruktion ohne ,Wesen' enthalten - "Nichts mit was drumrum", wie sich die Band Blumfeld einst, berauscht von diesem Denken, ausdrückte. 28 Die erwähnte Vagheit der Ausdrucksweise sowie das Zurücknehmen einer Aussage und die Zurücknahme der Zurücknahme scheinen bei Laclau/Mouffe in folgender Passage auf: Nachdem die Unterscheidung in diskursive und nichtdiskursive Praktiken und die Kategorie des Außerdiskursiven verworfen wurden, heißt es plötzlich: "Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, daß sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren können." (Laclau/Mouffe 2000, 144f.) Der Begriff des ,Gegenstands' schillert, ebenso wie der der ,Konstruktion' im nächsten Satz: Es soll zwar den "Fall eines Ziegelsteines" und ein "Erdbeben" "unabhängig von meinem Willen" geben, ob diese aber als Gottes Werk oder Naturphänomen "konstruiert werden", hänge "von der Strukturierung des diskursiven Feldes ab." (144)29 Dass man es hier trotz aller pseudorealistischen Beteuerungen und vage verwendeten Begriffe wie "konstruiert", "konstituiert", "Gegenstand" usw. mit einem radikalen Konstruktivismus zu tun hat, der letztlich die Struktur aller Entitäten nur als sprachliche verstehen kann, wird aber im Werk dennoch deutlich. Erhellend ist hier auch eine kurze Diskussion zwischen dem kritischen Realisten Roy Bhaskar und Laclau. Bhaskar macht auf eine Konfusion (a) und einen fundamentalen Widerspruch (b) bei Laclau aufmerksam: (a) Laclau verwische die Differenz zwischen ,transitiven' (subjektvermittelten) und ,intransitiven' (nichtsubjektvermittelten) Dimensionen der Wissenschaft. Transitiv bedeutet, dass Wissenschaft sich innerhalb eines Diskurses (theoriegeleitet) oder eines Experiments auf die Realität bezieht und insofern einen Gegenstand ,konstruiert': "I accept of course that all extra-discursive realities are constituted within discursive practice, 27

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Ein performativer Akt bezeichnet nichts von ihm Unabhängiges, sondern ist der "Vollzug einer Handlung" (Austin 1968, 140), er bringt das, was er bezeichnet, in dem und durch den Akt der Bezeichnung hervor, z.B.: "Ich bitte um Entschuldigung". (ebd.) Es soll nicht geleugnet werden, dass es Entitäten gibt, die nur durch solche Sprechakte hervorgebracht werden - die Entschuldigung ist ein treffendes Beispiel. Allerdings verallgemeinern ja sowohl Butler als auch Laclau/Mouffe diesen performativen Charakter der Sprache zu einem radikalen Konstruktivismus der diskursiv ,konstituierten Gegenstände'. Eine ontologische Unterscheidung zwischen Erdbeben, Körpern, Ziegelsteinen, Geld, Geschlechterrollen und Deutungsmustern wird damit letztlich unmöglich. Im Lied "Eine eigene Geschichte" vom Album "L'etat et moi". Auf den Selbstwiderspruch dieses "Förmchenkonstruktivismus" weist Paul Boghossian hin (vgl. Boghossian 2013, 41f.). Und diese "Strukturierung" wiederum erscheint als völlig gegenstands unabhängiger Diskursdeterminismus. Zum idealistischen und relativistischen Charakter dieser Passage vgl. auch Kistner 2018,231.

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from the point of view of their intelligibility", sagt Bhaskar. Das, worauf sich Wissenschaft in diesem konstruktiven Akt beziehe, sei aber nicht das Produkt dieses Bezuges (und, je nach Gegenstand, manchmal auch in keiner Weise das Produkt irgendeines menschlichen Bezuges), sondern die an sich bestimmte, objektiv strukturierte Wirklichkeit: "But that's not to say that they [extra-discursive realities] [a] re constituted in discursive practice from the point of view of their causal impact." (Bhaskar in Bhaskar/Laclau 1998, 13)30 (b) Laclau behauptet nun explizit gegen den Realismus Bhaskars gewendet, "the very distinction between intransitivity and transitivity is itself transitive" (Laclau in ebd., 13), was nichts anderes heißt, als dass die Unterscheidung zwischen beschreibungsunabhängig gegebener Wirklichkeit und ihrer Beschreibung nur innerhalb einer theoretischen Beschreibung existiert, die wir akzeptieren oder bestreiten können. 3 ! Zugleich behauptet er32 , Krankheiten oder globale Klimaphänomene existierten auch als außerdiskursive Phänomene, bevor sie als diskursive Gegenstände konstruiert würden. Bhaskar sieht darin den Widerspruch, "[that] you admit it [disease, climate] is intransitive with respect to discourse, but you then want to take it back to the level of the signifier or signified and say that this object only exists in my discursive constructions. In other words, you are contradicting yourself to say, 'Here, that thing has a reference independently of human beings', but at the same time you are not having a rigorous enough concept of reference, you are pulling the referent back to the level of the transitive, to its constitution in discourse" (Bhaskar in Bhaskar/Laclau 1998, 14) - erst recht gelte dies im Falle kausaler Mechanismen und dispositionaler Eigenschaften, die ein konstruktivistischer Nominalismus ohnehin in den flatus vocis auflöse. Interessen und politische Identitäten sind jetzt also nichts anderes mehr als Produkte diskursiver Konstruktionen und eines politischen Willens, die zum kollektiven Handeln motivieren sollen. Die politische Repräsentation von Interessen bedeutet nun nichts anderes mehr als ihre Hervorbringung durch die Anmaßung ihrer Repräsentation, also einen performativen Akt. So führt die richtige Erkenntnis, dass zwischen ökonomischen Interessen und politischem Handeln kein notwendiger, erst recht kein notwendig revolutionärer Zusammenhang besteht, in einen haltlosen Dezisionismus und Voluntarismus, der meint, dass "es überhaupt keine logische Verbindung zwischen den Positionen in den Produktionsverhäl tnissen und der

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Es ist Bhaskar klar, dass es auch verschiedene Grade der Subjektvermitteltheit der wissenschaftlich erkannten Wirklichkeit gibt, je nachdem ob man sich einen eigenen Gedanken, ein kollektives Deutungsmuster, institutionelle Tatsachen wie Geld oder Geschlechterrollen, ob man sich Ziegelsteine oder Geschlechtskärper, chemische Prozesse oder kosmische Mechanismen anschaut. Zur Differenz zwischen Transitivität und Intransitivität und ihren verschiedenen Graden bei Bhaskar vgl. auch Lindner/Mader/Pühretmayer 2017, 1lf. sowie Opratko 2012, 157ff. Natürlich machen auch wir diese Unterscheidung diskursiv, wenn wir sie erkennen, aber Laclau wendet diese Banalität relativistisch und konstruktivistisch gegen die realistische Ontologie einer an sich strukturierten Wirklichkeit und konfundiert damit genau die Dimension wissenschaftlicher Transitivität und Intransitivität, von der Bhaskar oben spricht. Vgl. zu diesem relativistischen Konstruktivismus kritisch: Boghossian 2013, 57-63. Im Gegensatz zu Bruno Latour z.B. (vgl. Boghossian 2013, 33).

Mentalität der Produzenten gibt". (Laclau/Mouffe 2000, 123) Die berechtigte Kritik am ,ökonomistischen Essentialismus', also an der These, Klassen hätten ein Wesen (eine Identität und Interessenstruktur), das völlig unabhängig davon sei, was die Mitglieder dieser Klassen denken oder tun,33 kippt um in die falsche Alternative, eine Klasse sei nichts anderes als das, was ihre Mitglieder aktuell denken oder tun. Strukturen, die als begrenzende und motivierende Faktoren eine klassenkonstituierende Rolle spielen, werden dabei wegdefiniert. 34 Insofern müssen sie zu der absurden Folgerung kommen, Klassen (und zwar nicht lediglich Klassen für sich, sondern an sich) bildeten sich erst im Klassenkampf: Und so zeigen Laclau/Mouffe Urs Stäheli zufolge tatsächlich, "wie in einem antagonistischen Konflikt diese Identitäten hergestellt und die jeweiligen Interessen der Konfliktparteien konstruiert werden." (Stäheli 2001,203) Auch Andreas Hetzel und Richard Heil meinen, "der politische Antagonismus bringt für Laclau die am Konflikt beteiligten Instanzen allererst hervor." (HetzeI/Heil2007, 8) Schließlich stellt Carolin Amlinger fest, dass bei Mouffe "eine Entität erst im performativen Akt der Abgrenzung von einer anderen konstituiert wird, die agonale Grundstruktur des Politischen für sie also nur in actu besteht". (Amlinger 2020, 327) Relata, so ist dagegen festzuhalten, können zwar durch eine Relation neue, eben relationale, Eigenschaften erhalten, aber nicht vollständig durch die Relation bestimmt sein (es muss etwas geben, das in eine Relation tritt). Zudem können Klassen nicht durch den Klassenkampf hervorgebracht werden, weil die Tatsache, dass es sich um Klassenkampf handelt, eine Bestimmtheit des Kampfes durch strukturell vorgegebene klassenspezifische Gegensätze voraussetzt: 35 Das Klassenverhältnis ist ein Strukturbegriff, der Klassenkampf ein strukturbestimmter Handlungsbegriff. Diese Differenz wird in der konflationistischen These, der Gegensatz existiere nur "in actu", eingezogen. Schließlich wird so getan, als behaupte heute noch jemand, das ,Wesen' der Klassen sei eine unwandelbare oder geschichtsphilosophisch verbürgte bestimmende Eigenschaft. Mit der unwandelbaren bestimmenden Eigenschaft tilgen Laclau/Mouffe aber jede identitätsbestimmende Eigenschaft (=Wesen): "Die Gesellschaft und die sozialen Agenten haben kein Wesen". (Laclau/Mouffe 2000, 133) Die Rede vom "Fehlen eines letzten Grundes" (Mouffe 2007, 25) führt dann letztlich zur Leugnung jeder Motivation menschlichen Verhaltens durch inhaltlich

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Wie Marx und Engels an einigen Stellen behaupten: Vgl. u.a. Marx/Engels 1990, 38. Allerdings ist Laclaus/Mouffes Ökonomismuskritik, die die "Logik des Kapitals" postoperaistisch in eine freischwebende Politik des Kampfes zwischen Kapital und Arbeit auflösen will (vgl. Laclau/Mouffe 2000, 115ff.) unzutreffend. Vgl. dazu Kistner 2018, 222ff. Diese theoretische Position, die keine Unterscheidung zwischen Handlung und Struktur macht und alles in einer aktualistischen Ereignisontologie aufgehen lässt, kritisiert der Critical Realism als "Konflationismus", vgl. Lindner/Mader/Pühretmayer 2017, 24ff. Das Klassenverhältnis impliziert die Relation von Produktionsmittelbesitz/Nichtbesitz, die Nullsummenrelation von variablem Kapital und Mehrwert, die Unbestimmtheit der Länge des Arbeitstages durch die Tauschrelation Arbeitskraft-Lohn. Klassenkampf als strukturdeterminierter Handlungsbegriff resultiert aus der Warenförmigkeit der Produktionsbeziehungen im Kapitalismus und den gegensätzlichen ökonomischen Interessen von Kapital und Lohnarbeit.

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bestimmbare Bedürfnisse und zur Ignorierung der Existenz objektiv gegebener materieller Reproduktionserfordernisse. Hinter dieser Theorie steckt eine dezisionistische Auffassung der Entstehung von Interessen oder "Ansprüchen" (Laclau 2014), die diese - genau wie Jean Paul Sartre 36 - als Resultate einer grundlosen Wahl, bzw. einer "ungegründete[n] Entscheidung" (Laclau 2013, 196) begreifen. Der Laclau/Mouffe-Interpret Andreas Hetzel bringt dies ebenso treffend wie absurd auf den Punkt: "Das Politische gründet [... ] in seinem je konkreten Vollzug; es kennt darüber hinaus keine transzendentalen Bedingungen seiner Möglichkeit, keine ihm selbst vorgängigen Vernunft- oder Rechtsgründe. [... ] Das Politische ruht buchstäblich auf nichts". (Hetzel 2009, 236) Die Implikationen einer dezisionistischen Freiheitstheorie, die weder angebbare sinnliche Bestimmungsgründe menschlichen Verhaltens noch einen kategorischen Imperativ als Grund eines (damit vernunft geleiteten) Willens akzeptiert, hat Terry Eagleton kritisch auf den Punkt gebracht: Sie unterstelle ein "postmoderne[s] Subjekt, dessen ,Freiheit' darin besteht, daß es so tut, als gäbe es keine Begründungen mehr, und das deshalb [ ... ] in einem Universum treiben kann, das selbst willkürlich, kontingent und aleatorisch ist [ ... ] Dieses Subjekt ist frei, [ ... ] weil es bestimmt wird durch einen Prozeß der Unbestimmtheit." Dies aber sei die "Eliminierung des freien Subjekts selbst. Denn es läßt sich hier kaum von Freiheit sprechen, sowenig wie man etwa bei einem im Sonnenlicht tanzenden Staubpartikel von Freiheit sprechen kann." (Eagleton 1997b, 56)37 Michael Hirsch betont ebenfalls das Umschlagen von sozialtheoretischem Indeterminismus in Schicksalsergebenheit: "Was epistemologisch wie ein avancierter Indeterminismus aussieht, ist politisch womöglich ein ganz einfacher, konservativer Determinismus oder Evolutionismus. Er bestünde im Axiom der Unmöglichkeit von Freiheit: der Unmöglichkeit einer bewussten und autonomen Bestimmung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Unterwerfung unter eine unbekannte und politisch ungestaltbare Zukunft." (Hirsch 2009,196) Dadurch, dass in dieser Konfliktontologie selten konkrete Konflikte analysiert werden, entsteht beim Leser zudem eine Art Desorientierungseffekt, der die Bereitschaft verstärkt, den anthropologisierenden Globalthesen von der rationalen Nicht-Entscheidbarkeit und NichtBegründbarkeit von Konflikten sowie der "primäre[n] Realität des Streits" und des 36

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Vgl. Same 1994b, 753-756. Zur Kritik vgl. Eibe 2015, 433-445. Die impliziten Rekurse auf eine dezisionistische Handlungstheorie im Stile Sartres liegen bereits in Laclau/Mouffe 2000 auf der Hand, vgl. ebd., 193ff. Diese "Auflösung des Ich qua autonomen Willen" in eine "hyperbolische" Idee unbegreiflicher ,Einzigkeit' kritisieren auch Ferry/Renaut als Kernidee der französischen "Meisterphilosophen" der Postmoderne. (Ferry/Renaut 1987, 77) Zur Kritik am Dezisionismus vgl. Klar 2007, 70-80 und Taylor 1999,34,38. Dabei ist Laclaus/Mouffes Abgrenzung von Positionen, die angeblich behaupten, einen ,notwendigen' oder ,letzten Grund' von Konflikten aufgefunden zu haben (manchmal wird gar der Begriff ,apriorisch' verwendet), ein weiteres Mittel, um die ,Kontingenz' des Grundes geltend zu machen. Vgl. auch Priester (2014, 133f.), die zu Recht feststellt, dass Laclau "einen logisch ableitbaren Verhaltens automatismus" konstruiert, um "daraus im Umkehrschluss die radikale Indetermination des Sozialen" zu folgern. Die Frage ist allerdings, ob Mouffe mit der Unterstellung eines Unterwerfungstriebes nicht letztlich - und dazu noch auf eine besonders krude naturalistische Weise - selbst wieder die Angabe eines ,letzten Grundes' betreibt.

Antagonismus in allen menschlichen Praktiken Glauben zu schenken. Denn wenn niemals versucht wird, die Ursachen und Gründe konkreter Konflikte zu analysieren, so entsteht auch allmählich der Eindruck, Konflikte und Antagonismen seien eben einfach ,grund-los' vorhanden (genauso wie das beständige Beharren darauf, ein Sachverhalt sei ,komplex', den Sachverhalt buchstäblich als identifizierbaren Sachverhalt auflösen und jeden Menschen zum demütigen Schweigen angesichts der hyperkomplexen welt verdammen kann). Das Konzept des ,antiessentialistischen Volks begriffs' hat zudem fatale politisch-psychologische Konsequenzen: a) Es verharmlost tatsächlich regressive autoritär-masochistische und kollektiv-narzisstische Bedürfnisstrukturen, die als Pseudokompensat gesellschaftlicher Ohnmacht dienen, zu neutralen ,politischen Affekten'. Die autoritär-masochistische emotionale Matrix ist dagegen mit Erich Fromm als eine irrationale Reaktionsweise auf gesellschaftlich produzierte Ohnmacht zu dechiffrieren. Statt die ohnmachtsgenerierenden Mechanismen durch politische Praxis zu verändern, passt sich das Individuum diesen Mechanismen an, wenn sie in Gestalt einer Stärke, Schutz und Teilhabe an kollektiver Macht versprechenden Autorität auftreten. Die inneren Konflikte dieses Kollektivs werden abgespalten und projektiv an Dritten bekämpft. Solch ein Affekt-Teig ist also keineswegs in beliebige DiskursFörmchen zu bringen. 38 b) Mouffe glaubt, die giftigen nationalistischen und projektiven Feinderklärungen, die in diesen Formen der Identifizierung stecken - von denen sie aufgrund ihrer politischen Anthropologie allerdings keinen klaren Begriff entwickeln kann -, durch den Hinweis auf die Konstruiertheit des Volksbegriffs aushebeln oder ,zähmen' zu können, will aber zugleich in der Gegenüberstellung von ,Volk' und ,Elite' starke Affekte mobilisieren - es bleibt also unklar, wie agonistisch-antiessentialistische Entschärfung und populistische Verschärfung überhaupt vereinbar sein sollen. Dasselbe Problem ereilt Laclaus Idee einer Symbolisierung des populistischen Projekts im Führer (Peronismus, Hitlerismus), der sowohl die Affekte der Massen bündeln, aber dennoch ein ,bloßer Name' sein sol1.39 Wie Zygmunt Baumans "postmoderne Stämme" sind die Kollektive Mouffes und Laclaus mit einer hohen "Intensität emotionalen Verhaltens" und einer "symbolisch demonstrierten Feindseligkeit" ausgestattete "vorgestellte Gemeinschaften" (Bauman 1995, 234), die keine Substanz besitzen, "ihr Dasein einem falschen Versprechen" von Einmütigkeit verdanken, ohne die angeblich "der Einzelne keine Entscheidungen treffen" kann. (172) c) Schließlich beinhaltet das Konzept keine Gesellschaftstheorie, die fetischistisch mystifizierte von rationalen Formen der Kapitalismusanalyse unterscheiden könnte und weist damit gleich mehrere offene Flanken zu rechtspopulistischen Ideologien und Strategien auf - bezeichnend ist hier insbesondere die Verwechslung von Kapitalismuskritik mit ,Antiplutokratismus'. Kapitalistische Herrschaft wird damit auf eine Verschwörung der Reichen heruntergebrochen, die unmoralisch mit dem an sich guten Privateigentum umgehen. Dem steht manichäisch die homogene Masse der ,,99%" gegenüber, eine Gruppe reiner Opfer, die keinen Beitrag zur ver38

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Vgl. dazu Fromm 1989, 178ff. sowie Löwenthal1990. Vgl. dazu auch Rensmann 1998, Kap. 2.1/2.2, Weyand 2001, Teil 3, Eibe 2015, 403-425. Vgl. dazu kritisch Priester 2014, 61,131.

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urteilten Herrschaft liefern, außer deren Opfer zu sein, die "Allianz aller ,Produzierenden' gegen die ,Schmarotzer"'. (Sternhell 1999, 311) 40 So kommt Laclau bereits in den 1970er Jahren auf die Idee, das Ressentiment der Nazis gegen die ideologischen Konstrukte des ,jüdischen Finanzkapitals' und der ,Plutokratie' sei ein halber Antikapitalismus, den man nur noch ausweiten müsse. 4\ So wettert nicht nur, wie gezeigt, Mouffe gegen "transnationales Kapital und die Banken", im Linksschmittianismus, aber auch im Linkspopulismus generell grassiert heutzutage die Rede vom Gegensatz der ,,99 percent" des "rest of us" zu "the rich", für deren "financial enjoyment" ,wir' ausgebeutet würden. (Jodi Dean zit. nach Bargu 2014, 718) Dieser Populismus ist, wie Felix Breuning (2017) treffend feststellt, keineswegs "eine bloße Form". Nicht zufällig seien "die Mobilisierungsbegriffe des Front National [... ] dieselben [... ] wie die von Podemos: Das Volk (le peuple) gegen die Kaste (la caste), die Heimat gegen die internationalen Finanzen." Diese willkürliche, politischer Mythenproduktion a la Georges Sorel folgende Konstruktion von Äquivalenzketten und die mit ihr einhergehende populistische ,Gegner'erklärung führen letztlich mindestens zur Verwischung sozialwissenschaftlicher Begriffe und zur Verschleifung ökonomisch -gesellschaftlich bedingter Interessengegensätze, im schlimmsten Fall aber zur Verabschiedung emanzipatorischer Positionen zugunsten kollektivistisch-repressiver Politik. 2. Liberalismus, Rechtspopulismus und Terror - Dampfkessel und Ventil Wie erklärt Mouffe sich ausgehend von diesem sozialontologischen Modell das Entstehen des Rechtspopulismus? Populismus besteht für Mouffe nicht bloß in dem Appell an das Volk, sondern in einer spezifischen Art und Weise dieses Appells, nämlich einer Etablierung der Wir-Sie-Unterscheidung in Form einer "Opposition zwischen ,dem Volk' und den ,Konsens-Eliten"'. (Mouffe 2007,89)42 Die individua'0

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Dass der Antiplutokratismus ein generelles Kennzeichen des Links- wie Rechtspopulismus ist, zeigt Karin Priester (2012, S. 183,211, 223ff.) Ein Beispiel für solche offenen Flanken ist in Deutschland die Position Sahra Wagenknechts, deren fetischistischer Antikapitalismus mit einer moralisierenden Unterscheidung von schaffendem und raffendem Kapital (,Unternehmer' vs. ,Kapitalist'), einer Reduktion kapitalistischer Profitlogik auf ,Zinsknechtschaft' und kleinbürgerlich-liberalistischen Ideologemen vom selbsterarbeiteten Eigentum arbeitet, der zudem mit fragwürdigen Appellen an die Gefühle der einfachen Leute verbunden wird. Vgl. Wagenknecht 2016. Hier trifft zu, was Zeev Sternhell (1999,311) über den Antiplutokratismus des QuerfrontIers Hendrik de Man sagt: "Das ist [... ] eine Variante der Allianz aller ,Produzierenden' gegen die ,Schmarotzer' [... ] so verlief seit Jahrhundertbeginn einer der großen Wanderwege von der Linken zum Faschismus." Vgl. Laclau 1981b, 105, Illf.; zur Kritik vgl. den Beitrag zu Laclau in diesem Band sowie EIbe 2017. Diese Unterscheidung wird in früheren Schriften als die von "populare[rj" und "demokratische[rJ Subjektposition" (Laclau/Mouffe 2002, 172) formuliert: Während es bei demokratischen Subjektpositionen "eine Verminderung der dem Antagonismus anhaftenden negativen Ladung" (ebd.) gebe, kämen "populare Kämpfe nur im Fall von Relationen extremer Äußerlichkeit zwischen den herrschenden Gruppen einerseits und dem Rest der Gemeinschaft andererseits vor". (174) Auch hier bleibt es rätselhaft, wie in solchen Fällen "extremer Äußerlichkeit" zugleich noch eine agonal-integrative Perspektive durch ein gemeinsames Band

listisch-rationalistische und konsensorientierte Politik des Liberalismus verhindere die Entstehung starker Wir-Sie-Konstellationen, die alternative hegemoniale Projekte zur Auswahl stellen. Die von Mouffe als naturgegeben unterstellten politischmasochistischen Selbstunterwerfungsaffekte könnten deshalb nicht entweichen, stauten sich auf und suchten sich das erstbeste Ventil in Gestalt des rechtspopulistischen Angebots eines Wir-Sie-Gegensatzes. Mouffes Erklärungsansatz besteht also in einem schlichten Dampfkessel-und-Ventil-Modell, das zudem weniger aus empirischer Analyse als unmittelbar aus ihren politanthropologischen Prämissen abgeleitet ist. Schauen wir uns das näher an: Mouffe sieht die Ursache des Aufstiegs des "Rechtspopulismus" in den "Defizite[n] der arrivierten politischen Parteien". "Die Rechtsparteien", behauptet sie, "hatten immer dann Zulauf, wenn zwischen den traditionellen demokratischen Parteien keine deutlichen Unterschiede mehr erkennbar waren." (87) Daher "konnten rechtsextreme Demagogen [... ] dem Wunsch nach einer Alternative zum stickigen Konsens Ausdruck geben." So habe Jörg Haiders FPÖ Erfolg gehabt, weil sie gegen die gut 50jährige Alleinherrschaft der großen Koalition aus ÖVP und SPÖ "die Themen der Volkssouveränität mobilisieren" (88) konnte, die inhaltlich "alle[nJ-guten Österreicher[n]" zukommen sollte - den "hart arbeitende [n] Menschen und Verteidigern der nationalen Werte" -, im Gegensatz zu den "an der Macht befindlichen Parteien, den Gewerkschaften, Bürokraten, Ausländern, Linksintellektuellen und Künstlern, die alle als Hindernisse für eine wirkliche demokratische Diskussion dargestellt wurden". Durch diese Repräsentation des ,wahren' Volkes in Gestalt der oben genannten Äquivalenzkette habe Haider einen "mächtigen Pol kollektiver Identifikation" (89f.) In Form eines ,,'AntiEstablishment' -Pol [s]" geschaffen. Empirisch stellt sich angesichts von Mouffes Erklärungsansatz die Frage, warum die bloße Tatsache der Dauerherrschaft einer Partei oder großen Koalition erst nach 50 Jahren diesen Protest hervorrufen soll? Es müsste zumindest die inhaltliche politische Ausrichtung, also das, was von der Koalition als alternativlos hingestellt wird, berücksichtigt werden. Es müsste auf die spezifischen Interessen und Bedürfnisse der Klassen und Akteure bezuggenommen werden. Dann wäre allerdings nicht mehr der politanthropologische Formalismus des bloßen Fehlens von Alternativen und Streitmöglichkeiten zwischen ihnen überhaupt der Grund für "Frustration". (93) Für Mouffe muss es schlicht unerklärlich bleiben, dass Menschen mit einer Konsens-Politik zufrieden sein können, weil diese ihre materiellen Bedürfnisse befriedigt. 43

möglich sein soll. Anders gesagt: Wenn Mouffe ihren Agonismus will, muss sie den Populismus aufgeben, wenn sie Populismus will, muss sie den Agonismus verabschieden. Es kann hier nicht die Aufgabe sein, eine Erklärung der komplexen Ursachen des Aufwallens des Populismus zu geben. Vgl. dazu Priester 2012, 237ff. Zur Kritik verbreiteter politikwissenschaftlicher Erklärungsversuche, insbesondere solcher, die mit dem "Postdemokratie"Theorem arbeiten, das dem von Mouffe verwendeten Ansatz nahekommt, vgl. Müller 2016, 98-110.

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Es ist bezeichnend, dass Mouffe im Rahmen ihrer Analyse des Rechtspopulismus dessen inhaltliche Komponenten weitgehend ignoriert und hinter dem formalistischen Populismus-Mechanismus der Wir/Sie-Konstruktion gegen die ,,'Konsens-Eliten'" verbirgt. Dass rechte Akteure stets mit magischem Führerkult, personalisierender und Herrschaftsverhältnisse in keiner Weise in Frage stellender ,Korruptionskritik' sowie kollektiv-narzisstischen nationalistischen Identifikationsangeboten Punkten, bleibt außen vor oder wird, wie im Falle des letzten Motivs, schlicht als unvermeidlich und selbstverständlich für ,das Politische' unterstellt. So behau ptet Mouffe apodiktisch, dass die oben beschriebene autoritär-masochistische "kollektive Dimension aus der Politik nicht eliminiert werden kann". "Im Unterschied zu denen", schreibt sie, "die glauben, Politik könne auf individuelle Motivationen reduziert werden, wissen die neuen Populisten ganz genau, daß Politik immer in der Schaffung eines von einem ,Sie' unterschiedenen ,Wir' besteht, also die Schaffung kollektiver Identitäten erfordert. Daher die starke Anziehungskraft ihres Diskurses, der kollektive Formen der Identifikation mit ,dem Volk' anbietet." (92) Es gibt Mouffe zufolge also eine neutrale kollektive Affektstruktur, die, wenn ihr die Möglichkeit der Identifikation mit einem gegen ein "Sie" gerichtetes "Wir" entzogen wird, sich ein neues Ventil sucht, das beliebig entweder vom rechten oder linken Populismus definiert werden kann, je nachdem wie geschickt Diskurs- und Affektpolitik betrieben wird. Eine Emanzipation von diesen regressiven Affektstrukturen wird nicht mehr in Betracht gezogen. Es bleibt die Propaganda für eine Wahrheit, die keine mehr sein kann, sondern lediglich ein alternatives Unterwerfungsangebot. 44 So ist es auch kein Zufall, dass Mouffe sich häufig einer Dompteursund Schöpfungsmetaphorik bedient, wenn es darum geht, wie die Diskursregisseure und -ingenieure der Marke Laclau/Mouffe mit dem Volk umgehen sollen: So ist vom ,,[EJntschärfen", ,Zähmen'45 und ,Erzeugen'46 die Rede, das affekt geleitete Volk erscheint also wahlweise als Bombe, Tier oder Kreatur. Die liberalistische Reaktion auf den Rechtspopulismus verurteilt Mouffe mit scharfen und für das Verständnis ihres Weltbildes durchaus aufschlussreichen Worten, denn sie erweist sich auch hier als gelehrige Schülerin, ja blinde Apologetin des faschistischen Politontologen earl Schmitt: Die Reaktion der ,postpolitischen Konsenskräfte' auf den Rechtspopulismus beschreibt Mouffe als "typisch liberale Taschenspielerei" einer moralischen Gegnerschaft gegen "böse Rechtsextremisten", die

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Bereits in Laclaus Adaption von Althussers Theorie der Subjektkonstitution durch ,Anrufung' wird Emanzipation als verkennende Unterwerfung, damals noch unter ein kommunistisches Kollektiv, gedacht: Laclau betont, es gebe auch "Ideologien der beherrschten Klassen", in denen der "Mechanismus der Selbst-Unterwerfung des Individuums", der "ethische Zwang" durch Anrufung als Subjekt, revolutionären Interessen dienen könne. (Laclau 1981 b, 191) Auch hier würden Individuen als Subjekte angerufen, was gemäß den von Laclau ja ausdrücklich geteilten Althusserschen Prämissen bedeuten würde, dass hier eine Identifizierung als Verkennung sowie eine Unterwerfung praktiziert würden. "Was könnte für eine ,gezähmte' antagonistische Beziehung konstitutiv sein ... ?"; "den potentiellen Antagonismus in den gesellschaftlichen Beziehungen entschärfen" (Mouffe 2007, 29). "Notwendigkeit über demokratische Kanäle Leidenschaften zu erzeugen" (ebd., 92).

ihren politischen Charakter leugne. Nun könnte man zwar die "moralistische Reaktion auf den Aufstieg des Rechtspopulismus" (96f.) durchaus sinnvoll kritisieren, z.B. indem man darauf hinwiese, dass es inhaltliche Überschneidungen zwischen den ,guten nationalen Demokraten' und den ,bösen Rechtsextremisten' gibt oder indem man statt ausschließlich moralischer wissenschaftliche Argumente vorbrächte, die die Konsequenzen der politischen Programme der Rechtspopulisten aufzeigen. Allerdings kritisiert Mouffe den moralistischen Diskurs nicht bloß als heuchlerisch (also nicht wirklich moralisch), sondern sie verteufelt schlicht jede Form moralischer Kritik im Stile des ,Gutmenschen-Bashings' ("perverse[rJ Mechanismus", "militante Presse", "unglaubliche Dämonisierungskampagne" (97)) und der zynischen ,jeder hat doch Dreck am Stecken'-Volksweisheit: "Man versichert sich des eigenen Gut-seins, indem man das Böse bei den anderen brandmarkt. Andere zu denunzieren ist immer eine machtvolle und einfache Möglichkeit gewesen, sich eine großartige Vorstellung vom eigenen moralischen Wert zu verschaffen." (97f.) Konsequenz der Moralisierung der Politik, also des Wir-Sie-Gegensatzes im Vokabular der moralischen Verurteilung, sei die Konstruktion von Antagonismen, "die keine agonistische Gestalt annehmen" (99) können, die Konstruktion eines "absoluten Feindes" (100), mit dem "keine agonistische Diskussion möglich" ist und der "beseitigt werden" müsse. (99)47 Mouffe kann sich die Zuschreibung des Bösen zu menschlichen Handlungen oder Absichten offenbar ausschließlich als ,essentialistische' Dämonisierung vorstellen, die den böse Handelnden ein unverfügbares böses Wesen unterstellt. Es verwundert nicht, dass Mouffe, wie ihr Vorbild Schmitt, nicht nur jede moralische Kritik delegitimiert, sondern dass sie auch noch behauptet, die moralisierende Kritik wolle den Gegner "beseitig[ en J" und sie unterstelle, dieser leide an "einer Art ,moralischer Krankheit"'. (100)48 Doch es sind gerade populistische Bewegungen, die zu manichäischen und moralisierenden Konstruktionen greifen, in denen die ,Eliten' als "korrupt, käuflich, gierig, skrupellos oder heuchlerisch" (Priester 2014, 179) denunziert werden und es sind meist die Rechtspopulisten, die ihre Gegner rassistisch und völkisch als degenerierte Elemente bezeichnen, die als ,Volksfeinde' aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen, wenn nicht gar ausgemerzt werden müssten. Allerdings gerieren sich die jede Dis47

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Amlinger behauptet, die neurechte Kritik an der Moralisierung politischer Gegensätze unterscheide sich von der Mouffes. Die Neue Rechte unterstelle, Moralisierung der Politik führe "gerade zu einer Entfesselung politischer Gegensätze", während der "von Mouffe beobachtete Moralismus [... ] ja gerade den politischen Konflikt durch die normative Abwertung antagonistischer Positionen verhindert." (Amlinger 2020, 328) Aber auch dieser Moralismus besteht Mouffe zufolge in der Dämonisierung des Gegners, die zum Umschlagen von Agonismus in Antagonismus führe und beide sind ihr zufolge Gestalten des Politischen. Hier folgt sie vollständig Schmitts Behauptung, gerade universalistische, konsensorientierte Ansätze führten zu einer absoluten Feinderklärung: "Wenn Politik im Register der Moral ausgetragen wird, können Antagonismen keine agonistische Gestalt annehmen. Opponenten, die nicht in politischen, sondern in moralischen Begriffen definiert werden, können nicht als ,Gegner', sondern nur als ,Feinde' behandelt werden. [... ] sie müssen beseitigt werden." (Mouffe 2007, 99) Eine Differenz zur Neuen Rechten ist hier also nicht vorhanden. Bezeichnenderweise ist es Mouffe selbst, die dem antipopulistischen Moralismus "perverse" Mechanismen (ebd., 97) unterstellt.

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kussion verweigernden Rechtspopulisten genau im Stile von Mouffes Moralismus49 kritik als Opfer moralischer Denunziation und Verweigerung der Meinungsfreiheit _ auch daher ist es wohl kein Wunder, wenn Mouffe von dieser Seite mit einigem Wohlwollen rezipiert wird. 50 Worin sich die moralische von der politischen Gegnerschaft unterscheidet, bleibt an dieser Stelle offen, ja es entsteht der Verdacht, dass Mouffes Politikbegriff ähnlich leer ist, wie der von Schmitt. Dies bestätigt jedenfalls Mouffes Hinweis, Schmitt habe betont, "die Freund-Feind-Unterscheidung" müsse "in politischer Weise vorgenommen werden [... ], nicht auf der Grundlage von Ökonomie oder Ethik." Nun ist aber doch "die Freund-Feind-Unterscheidung [ ... ] ,differentia specifica' des Politischen" (101) und daher dreht sich der Hinweis im Kreise: Die politische Unterscheidung soll in politischer Weise vorgenommen werden. Bei Schmitt geht es dann um die Möglichkeit des Tötens und Getötetwerdens (Antagonismus), die nicht ethisch oder ökonomisch begründet werden dürfe, bei Mouffe um Konflikte (Agonismus), die jeden Inhalts beraubt zu sein scheinen. Der schmittianische Furor von Mouffes Moralismuskritik wird noch deutlicher, wenn man ihre Erörterungen zum (vornehmlich islamistischen) Terrorismus berücksichtigt. In gleicher Manier wie den Liberalismus im Innern kritisiert Mouffe nämlich die ,Moralisierung' der Außenpolitik seitens der USA nach dem 11. September: 51 Schmitt behauptet, die Kriegsfeindschaft oder die universalistische Idee eines gerechten Krieges im Namen der Menschheit sei wörtlich betrachtet unmöglich und normativ betrachtet lediglich eine Verschleierung partikularer imperialistischer Ziele, führe zur Entmenschlichung des Feindes und zu einem totalen Vernichtungskrieg bis zur "äußersten Unmenschlichkeit". Kriege im Namen der Menschheit hätten daher einen "besonders intensiven politischen Sinn". (Schmitt 2002, 55) Diese Behauptungen, die von Mouffe umstandslos geteilt und propagiert werden,52 sind aber auf mehreren Ebenen unhaltbar: a) Schmitt nimmt damit gerade den universalistischen Begriff von Menschheit in Anspruch, dessen Gültigkeit er leugnet. Welchen Sinn soll sonst der Begriff der Unmenschlichkeit haben? b) Schmitt zieht suggestiv zweierlei Menschheitsbegriffe zusammen - einen empirischen und einen intelligiblen oder normativen. Tatsächlich ist es im Schmittschen Sinne nicht möglich, dass die empirische Menschheit ,auf Erden' Krieg (gegen sich selbst) führt. Nichtsdestotrotz können aber ,Feinde der Menschheit' (oder ,Verbrechen gegen die Menschheit') bekämpft werden, die den normativ universellen Charakter der Gattungseinheit (verstanden als allen Menschen gleichermaßen zukommende Ansprüche auf Achtung ihrer Würde) durch partikulare, z.B. rassistische oder antisemitische, Ideologien aufsprengen wollen. 53 Es ist nicht einsichtig, dass die Bekämpfung 49

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Vgl. Bednarz o.J. Vgl. Menze! 2015 sowie - in Reaktion auf den auf diesem Text basierenden Vortrag: Kaiser 2017. Vgl. den folgenden Absatz auch in Eibe 2015. Vgl. Mouffe 2007, 101-105 sowie Hetze! 2009, 177, 182 und Hetze12010, 240f. Daher ist auch der Hinweis Mouffes mehr als opak, Schmitt kritisiere den "Anspruch des Liberalismus auf umfassende Inklusivität" und zeige, dass es "keine Inklusion ohne Exklusion" gebe. (Mouffe 2007,103)

von Verbrechen gegen die ,Menschheit' den Anspruch auch der in dieser Weise als ,Feinde der Menschheit' Definierten auf menschliche Würde leugnet. Gefordert wird von ihnen vielmehr die Aufgabe der exklusiven Beanspruchung bestimmter Rechte, zur totalen Vernichtung freigegeben sind sie jedenfalls dadurch keineswegs. c) Schmitt ignoriert, dass universalistische Kriegslegitimationen zumindest die Möglichkeit immanenter Kritik menschenrechtsfeindlicher Praktiken bieten und auch eine "gewaltlimitierende Funktion" (Münkler 2002, 208) aufweisen können, die Totaldenunziation und abstrakte Negation universeller Normen dagegen regelmäßig zu einer Gewaltenthemmung geführt hat, wie sie z.B. im Zweiten Weltkrieg seitens der Deutschen vollzogen wurde. Schließlich war es eine Ideologie des selbstbewussten Partikularismus, für den Schmitt plädiert, mit dem die deutsche Seite den Krieg als Vernichtungs krieg geplant und durchgeführt hat. 54 Das Ventil- und Dampfkesselmodell, das Mouffe schon zur Erklärung des Aufkommens des Rechtspopulismus diente, wird jetzt auf die internationalen Beziehungen übertragen und gegen die "Illusionen der universalistischen Menschenfreunde" (Mouffe 2007, 108) ins Feld geführt. Der Terror wird hier im Wesentlichen als Reaktion auf die "Hegemonie einer einzigen Hypermacht", der USA, und ihrer moralischen Delegitimierung aller gegen ihr Konzept der "westlichen" Lebensweise gerichteten "gesellschafts politischen Modelle" zurückgeführt: "U nbestreitbar", meint Mouffe, "floriert der Terror oft dann, wenn es keine legitimen politischen Kanäle für den Ausdruck von Unzufriedenheit gibt." (106) Islamistischer Terror wird als bloße Reaktion auf die Zerstörung nichtwestlicher "Kulturen und Lebensformen" durch die Ausweitung des "westlichen Modells" präsentiert: "Es ist höchste Zeit, aus dem Traum von der Verwestlichung aufzuwachen und die forcierte Universalisierung des westlichen Modells als Irrweg zu Frieden und Wohlstand zu enttarnen, der zu immer blutigeren Reaktionen jener führt, deren Kulturen und Lebensformen mit diesem Prozeß zerstört werden." (113f.)55 Ungeachtet der vagen Formulierung vom ,westlichen Modell' fragt man sich, wie man sich das vorstellen soll: Die Taliban, unzufrieden damit, dass Frauen, Atheisten, Musikfans und Schwule sich von ihren repressiven, lebensfeindlichen und gewaltsam durchgesetzten Regeln befreien wollen, haben keine ,legitimen politischen Kanäle' mehr, um diese Unzufriedenheit zu artikulieren, weil die USA ihre Lebensweise als islamistische Barba54

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Vgl. Finkielkraut 1989a, 49f., Priester 1997, 4lf. sowie Aron 1980, s2sf.: "Ludendorff-Hitler [... ] allein geben dem eine genaue Bedeutung, was Carl Schmitt ,absolute Feindseligkeit' nennt - was weder die Verfasser des Versailler Vertrags gemacht haben noch die MarxistenLeninisten oder die Sieger des Zweiten Weltkriegs im Westen. Ludendorff und Hitler erheben die Rassengemeinschaft zum Gegenstand der Geschichte und sehen die Feinde dieser Rassengemeinschaft als überhistorische Feinde des deutschen Volkes, ja sogar aller Völker. Ich sage, daß diese Feindschaft und nur sie allein das WOrt absolut verdient, weil sie logischerweise zum Massaker oder Völkermord führt." Konsequenterweise kritisiert sie· nicht nur Habermas, sondern auch Rortys nichtrationalistischen liberalen Universalismus (vgl. Mouffe 2007, 11Sf.), der durch ökonomischen Wohlstand und Erziehung zum Mitgefühl die Überredung zum westlichen Modell bewerkstelligt sieht. Auch Laclau wendet sich gegen die Verallgemeinerung des westlichen liberaldemokratischen Modells, was bei ihm zur Apologie autoritärer, sozialpaternaIistischer Präsidialsysteme nach dem Muster eines Hugo Chavez führt (v gl. Laclau 2014).

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rei bekämpft? Dass der dschihadistische Terror etwas mit der "narzisstischen Krise" (Diner 2007, 17) in der islamischen Welt nach dem Niedergang des islamischen Imperialismus zu tun haben könnte und damit durch eine spezifische Variante autoritärer Charakterstrukturen und deren kollektiv-narzisstischer Kränkung aufgrund der verhinderten Einlösung des Versprechens eigener Überlegenheit vermittelt wäre, das kommt Mouffe nicht in den Sinn. 56 Der Westen, speziell die USA, sind wie immer an allem schuld. Positiv gewendet bedeutet Mouffes Kritik an der "Schaffung einer einheitlichen Welt nach westlichem Modell" (Mouffe 2007, 108) und am "liberalen Universalismus [... ], der sich im Namen der Menschenrechte das Recht und die Pflicht anmaßt, der Welt seine Ordnung zu oktroyieren" (103), ein kulturrelativistisches Plädoyer für "echte[n] Pluralismus" (107) und "einheimische Demokratiemodelle" (169).57 Wie ihre Zauberformel- "Fehlt ein echter Pluralismus, können Antagonismen nicht agonistisch, d.h.legitim, zum Ausdruck kommen" (107) - auf internationaler Ebene positiv gewendet werden soll, also z.B. eine auf Weltherrschaft ausgerichtete islamistische Bewegung in ,agonale', nicht antagonistische Beziehungen zum ,Westen' treten könnte, bleibt unerfindlich. Mouffes Problem ist es, als glückliche Bewohnerin des von ihr ob seines universalistischen Anspruchs so verachteten Westens, jedenfalls nicht, von Glaubensfanatikern in eine Geschlechterapartheid gedrängt, bei Ehebruch gesteinigt oder aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen zu werden. Schließlich gilt auch hier, wie im Falle des auf den Rechtspopulismus angewendeten Dampfkessel-Modells, dass keineswegs die unipolare Weltordnung per se die Ursache für den Terror ist, was schon an der bipolaren Weltordnung des kalten Krieges und ihrer ausgedehnten ,Kultur' terroristischer Gewaltakte zu ersehen ist. Dass die gesellschaftlichen und ideologischen Entstehungsgründe für Rechtsradikalismus und islamistischen Terror zugunsten des formalistischen Dampfkesselmodells völlig ignoriert werden, wiegt allerdings am schwersten. Wenn man sich die weitgehend auf der Sozialontologie eines Carl Schmitt basierenden Ausführungen Mouffes vergegenwärtigt, dann wird klar, warum sie die Erfolge des Rechtspopulismus (wenigstens unter anderem) nicht aus einer regressiven, gesellschaftlich entstandenen autoritären Charakterstruktur erklären mag: Sie teilt offenbar wesentliche Bestandteile eines aus dieser Charakterstruktur entstandenen Menschen- und Weltbildes und naturalisiert sie daher. Damit wird auch klar, 56

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Das "Überlegenheitsgefühl des Islam", der auch irdische Vorherrschaft "als Kriterium und entscheidende[n] Beweis für die Überlegenheit des islamischen Glaubens" verheißt, wird durch den endogen verursachten Niedergang des eigenen Imperiums, den darauf folgenden westlichen Kolonialismus und durch die jüdische Unabhängigkeit im Gestalt des Staates Israel irritiert: Es ist nicht die ,Unterdrückung' als solche, sondern das durch ein kollektivnarzisstisches Deutungs- und Bedürfnismuster hindurch wahrgenommene historische Geschehen (das nicht nur im Kolonialismus und Rassismus, sondern auch in der Möglichkeit der Befreiung des Individuums aus der repressiven umma besteht), das antiwestliche und antisemitische Ressentiments verstärkt: "Denn daß es einem Dhimmi-Volk gelang, im Herzen der arabischen Welt einen souveränen Staat zu errichten, mußten die Moslems als unerträgliche Kränkung ihres Stolzes empfinden." (Wistrich 1987, 3Ilf.). Vgl. auch Landes 2018 sowie N agel 2014, 59f., 63ff. Vgl. auch Mouffe 2007, 108f., wo der "Pluralismus" an die Stelle "weltweiter Durchsetzung" der "westlichen Demokratien" tritt.

dass die Strategie einer linkspopulistischen ,Affektpolitik' auf einer theoretischen Basis ruht, die Links- wie Rechtspopulismus gemeinsam ist - die Verheißung regressiver, autoritär-masochistischer Triebbefriedigung und der Hass auf den Westen, d.h. hier: den individualistischen Rationalismus und Universalismus. 58 Es ist übrigens keineswegs so, dass diese Gemeinsamkeiten im heutigen Linksschmittianismus verschwiegen würden - so proklamiert dessen Vertreterin Banu Bargu in einem apologetischen Artikel über den "Left-Schmittianism" eine "productive convergence of the far Right and the far Left". (Bargu 2014,726) 3. Schluss: Eine Sozialphilosophie des autoritären Charakters Es sollte klar geworden sein, dass ich den Genitiv in der Überschrift ,Sozialphilosophie des autoritären Charakters' auch als Genitivus subjektivus verstehe. Mouffe trifft mit ihrem Verweis auf die Affektbasis kollektiver Identifikationen und Feinderklärungen zwar etwas, durch ihre Naturalisierung dieser Basis, durch die Abwesenheit einer historischen Sozialpsychologie und einer ökonomiekritischen Gesellschaftstheorie mutiert diese Diagnose aber selbst zur regressiven Ideologie und manipulativen politischen Programmatik 59 - zu einem Versuch, "eine instrumentelle Einstellung gegenüber den unaufgeklärten Bewußtseinspotenzialen beizubehalten und sie lediglich in den Dienst der ,richtigen Sache' zu stellen." (Dubiel1986, 10) Was bei Mouffe vermittlungs los gesetzt und affirmiert ist, wird bei Erich Fromm, Theodor W. Adorno und Leo Löwenthai zum Gegenstand historischspezifischer Erklärungen. Diese Theorien und empirischen Untersuchungen wurden in den 1930er/40er Jahren formuliert, um die Entstehung autoritärer Haltungen in der Bevölkerung zu ermitteln und eine Erklärung für das Ausbleiben rationaler Reformen oder einer sozialistischen Revolution in den entwickelten kapitalistischen Staaten zu finden. Ich schließe mich allerdings der Position einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern an, die die Untersuchungen der Kritischen Theorie als weit über diesen speziellen historischen Anlass hinaus relevant erachten. 60 Denn egal wie man die Konjunkturen des Populismus in modernen Gesellschaften erklärt, mit einer "konstante[n] Nachfrage nach Populismus" muss man offenbar rechnen, das betonen sogar der Sozialpsychologie fernstehende Politologen. (Müller 2016, 98) 61 Die beste Erklärung dieses systemisch erzeugten Nährbodens populistischer Konjunkturen bietet immer noch die Theorie des autoritären Charakters. Laclau und Mouffe hingegen erklären nicht nur nichts, ihr Ansatz ist auch Teil des autoritären Problems, nicht seiner Lösung.

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Auf politikwissenschaftlicher Ebene stellt Albrecht von Lucke (2016) daher zu Recht starke Gemeinsamkeiten von Links- und Rechtspopulismus fest. Vgl. auch Priester zu LaclaulMouffe als "ideologische Taschenspieler [... l, die trickreich die Massen auf ihre Seite zu ziehen versuchen" (Priester 2014, 237) und immer schon wissen, dass sie ihnen - notwendig - falsche Versprechen machen. Vgl. zuletzt: Henkelmann/läcke1!Stah1!Wünsch/Zopes 2020. Vgl. auch Priester 2012,95,236.

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"Anständig geblieben" - Die Moral der NS-Täter Zu Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral Am 4. Oktober 1943 hält Heinrich Himmler vor den Gruppenführern der SS in Posen eine berüchtigte Rede. In dieser lobt er seine Mannschaften dafür, bei der "Ausrottung des jüdischen Volkes [... ] anständig geblieben zu sein". "Wir hatten", so Himmler weiter, "das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder mit einer Zigarette oder mit sonst etwas zu bereichern." (Zit. nach Gross 2010, 144) Der Frage nach der inneren Logik dieser Moral geht das aktuelle Buch des Historikers Raphael Gross nach. Wie bereits Daniel Goldhagen in Hit/ers willige Vollstrecker oder Harald Welzer in seiner Untersuchung Täter geht Gross davon aus, dass ohne diese moralische Sinngebung die Judenvernichtung nicht möglich gewesen wäre. (235) Er wendet sich gegen die von Hannah Arendt vertretene, im Nachkriegs deutschland dankbar aufgenommene (181) und noch heute von Philosophinnen wie Susan Neimann (178) oder Philosophen wie Gerhard Gamm 1 kolportierte These, die NS-Täter zeichneten sich durch "Realitätsferne", "Gedankenlosigkeit", "mangelndes Vorstellungsvermögen" und "motivationslose Beflissenheit" aus. (173ff.)2 Gegen jede falsche Rationalisierung der Shoah betont er, dass ungeachtet von Selbsterhaltungs- oder ökonomischen Interessen "eine große Zahl der Deutschen bereitwillig den Imperativen von Mord und Krieg" gefolgt sei. (210) Gross' Ansatz verweigert sich nicht nur dem widerlegten Bild der Täter als ideologisch desinteressierten Technokraten, er stellt auch die Annahme eines blindwütigen Hasses infrage. Nicht blindwütiger, sondern gezielter Hass, der von den Tätern als moralisches Gefühl erfahren worden sei, müsse als deren zentrale Motivation angenommen werden. Gross verwendet einen deskriptiven Moralbegriff, der mit Sanktionen versehene, internalisierte Verhaltensstandards bezeichnet, die in Gefühlen von "Schuld, Scham, Groll und Empörung" (39) "eingelassen sind". (219) Aufgrund der emotionalen Komponente von Normvorstellungen, "greifen sie schon in die Bildung der Absichten ein". (219)3 Solche Standards werden von den einzelnen für gut begründet gehalten und können ihren unmittelbaren Neigungen und Interessen durchaus widersprechen. (12, 205f.) Betont wird die freiwillige Befolgung dieser affektiv geladenen Verhaltensnormen (205), wobei der Begriff der Freiwilligkeit sehr allgemein Vgl. Gamm 2005, 959. Gamm meint, die Verbrechen der Shoah resultierten "mit aus der Gedankenlosigkeit der Beteiligten" (2005, 959), während Neiman den Tätern das "offensichtliche Fehlen von Bösartigkeit oder Vorsatz" attestiert. (Neiman 2011,396) Zur Kritik an solchen Deutungen vgl. u.a. Jäger 1982, Lozowick 2000, Wildt 2008. Diesem klassischen Topos der Normkonformität und Abwehr nonkonformer Vorstellungen aufgrund innerer Zwänge (Verdrängung aufgrund von Gewissens-/Über-Ich-Angst) geht Gross aber nicht weiter nach. Dieser Aspekt scheint zudem seinem sehr diffus bleibenden Begriff der Freiwilligkeit nicht zu widersprechen.

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gehalten und leider nicht weiter philosophisch reflektiert wird: Dass nach moralischen Kriterien handelnde Menschen "aus eigenem Antrieb heraus" (205) handeln und bisweilen auch ihren Freiheitsspielraum einschränken, bedeutet hier lediglich, dass sie es nicht aus unmittelbarer Furcht vor äußeren Sanktionen tun und nicht von außen dazu bewegt werden. 4 Neben der Freiwilligkeit wird die "Bindungskraft moralischer Gefühle" hervorgehoben, "ohne die er [der NSJ nicht [hätte] existieren können". (209) In diesem Zusammenhang wird auch Jean-Paul Sartres Bestimmung des Antisemitismus als Leidenschaft und Weltanschauung herangezogen (39), Sartre aber zu Unrecht unterstellt, er habe den moralischen Charakter dieser Leidenschaften nicht erkannt. Das normative System des NS beschreibt Gross nun als rational nicht begründbare partikulare MoraP mit gleitendem Übergang zu Alltagssitten mit ihrem "apodiktischen ,Wir machen es so'''. (14) Rationale Begründung wird dabei im Vorbeigehen definiert als Normlegitimation "im Interesse eines jeden" (207), wobei die Problematik interessefundierter Begründungsstrategien universalistischer Normen übergangen wird. 6 Die Geltung bestimmter Unterlassungs-, Erlaubnis- und Gebotsregeln werde in der partikularen Moral auf eine bestimmte Gruppe von Menschen, namentlich die ,deutsche Volksgemeinschaft' bzw. die ,arische Rasse', begrenzt, wobei auch nach innen, gegenüber den Zugehörigen, eine antiegalitäre Zuweisung von Rechten und Pflichten zu verzeichnen sei. (207) Erstaunlicherweise fehlt hier ein Hinweis auf die Selbsteinordnung des NS in die Tradition philosophischer Gerechtigkeitskonzepte, die in der Inschrift "Jedem das Seine" auf dem Lagertor des KZ Buchenwald kenntlich wird. Dieses Konzept distributiver Gerechtigkeit fordert ja ,Gleiche gleich' und ,Ungleiche ungleich' zu behandeln, wobei das materiale Kriterium der Definition von Un-/Gleichheit offen bleibt und beliebig gefüllt werden kann. 7 Die NS-Moral setzt Gross zufolge die partikulare Gemeinschaft und ihre ,Ehre' selbst als höchstes Prinzip ein. Die Juden können sich dabei nicht einmal in eine subalterne Rolle der nichtegalitären Volksgemeinschaft integrieren, ihnen gegenüber ist radikale Ausgrenzung und Gewalt das einzig vorgesehene Mittel. (208f.) MoraliZum Unterschied zwischen einer "Optionstheorie" und einer "Wahltheorie der Freiwilligkeit" vgl. Schefczyk 2012,88. Ernst Tugendhat (2009, 73) hat drei Eigenschaften der NS-Moral herausgearbeitet, die sie als spezifisch modernen Partikularismus vom traditionellen moralischen Partikularismus voraufklärerischer Zeiten unterscheiden: 1) Die "religiöse Begründung von Moral" sei für den modernen Partikularismus nicht mehr überzeugend; 2) er sei nicht bloß "nicht egalitär, sondern anti-egalitär", wende sich also offensiv gegen die bereits verbreitete Idee moralischrechtlicher Gleichheit aller Menschen; 3) er sei "von Emotionen gespeist", die als ressentimentgeladene Reaktion auf die Zumutungen der individualistischen und rechte-egalitären Moderne zu verstehen seien. Mit Schefczyk (2012, 33) kann im Falle des modernen Partikularismus von einer "moralisch verdorben[enj" Kultur gesprochen werden, während der traditionelle Partikularismus als "moralisch inkompetent" zu betrachten ist. Im Hintergrund steht die Theorie einer interessenbasierten Ethik bei Ernst Tugendhat, vgl. Tugendhat 2009, 2010. Zur Problematik der interessebasierten Ethik und möglichen Auswegen vgl. Olbrich 2017, Kap. 11. Vgl. Hart 1973, 220f., 27M.

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sche Tugenden werden im partikularen Modell als Eigentum der Volksgemeinschaft angesehen und den Juden schlichtweg abgesprochen: "Nach der NS-Ideologie geben die Juden vor, eine bestimmte Moral zu besitzen - nämlich eine universalistische -, während sie in Wahrheit ausschließlich ihre eigenen partikularen Interessen verfolgen". (138) Universelle Normen gelten NS-Ideologen dabei schlichtweg als Verschleierung partikularer Prinzipien - Gross erinnert an das Diktum Carl Schmitts: ,,'Wer Menschheit sagt, will betrügen"'. (227) Nicht der Partikularismus wird den Juden also vorgeworfen, den hält der Nazi ja für unausweichlich, sondern die unmoralische, rein aufs Eigeninteresse fokussierte Gestalt des, zudem ,betrügerisch verschi eierten', Partikularismus. 8 Die NS-Ideologie ist Gross zufolge also nur zu verstehen, wenn in ihr das "Element einer pervertierten moralischen Leidenschaft" erkannt wird, "das in Rassismusanalysen so oft ignoriert wird". (52f.) Über die Naturalisierung des Sozialen hinaus praktiziere der NS eine Moralisierung des scheinbar Natürlichen, da "die Biologie [...] von sich aus keine Werturteile" fälle (19) und vor allem ,der Jude' als boshaft, nicht nur als gefährlich dargestellt werde. Dieser Gedanke wird nun aber gerade von Sartre in seinen Überlegungen zur Judenfrage ausführlich entwickelt, weshalb Gross' Behauptung, Sartre habe den moralischen Charakter der antisemitischen Leidenschaft nicht erkannt, nur verblüffen kann. Wie kein Zweiter hat Sartre begriffen, dass die ,dem Juden' angedichteten unverlierbaren Eigenschaften im antisemitischen Weltbild als Ausdruck einer "metaphysische[n] Kraft" erscheinen. Der rassistische Antisemitismus, so Sartre, "kam[ ... ] später" und ist nichts als ein "dünnes wissenschaftliches Mäntelchen für diese primitive Überzeugung". (Sartre 1994a, 26) Das "metaphysische[...] Prinzip" bestehe darin, "unter allen Umständen das Böse zu tun, und müsste er [der Jude] sich dabei selbst zerstören". (27) Dieses Prinzip sei paradox, weil ,der Jude' einerseits diese Eigenschaft als unverlierbare, substantielle, nicht modifizierbare besitzen soll, er andererseits, weil er gehasst werden soll ("und man ein Erdbeben oder die Reblaus nicht haßt" (27)), die Verantwortung dafür tragen, d.h. dieses Böse aus Freiheit tun soll. Diese Überlegung deckt sich vollständig mit Gross' These, ,der Jude' müsse im NS-Denken "eine gewisse Freiheit und Leidensfähigkeit" besitzen, ,,[u]m [... ] moralische Empörung hervorzurufen". (Gross 2010, 36)9 Auch der in Himmlers Rede zum Ausdruck kommende Rechtfertigungsmodus einer verfolgenden Unschuld 10 wird von Sartre als wichtiger Aspekt des Antisemitismus erkannt: Der Antisemit ist "Verbrecher aus guter Absicht". (Sartre 1994a, 33) Er imaginiert sich als bedroht, als Verteidiger seines Volkes gegen die vernichtenden Angriffe der ,jüdischen Parasiten'. Seine Taten gelten ihm als ,er-

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Dass Juden nicht in der Lage seien, gemeinwohlorientiert zu arbeiten, ist denn auch ein wesentlicher Topos von Hitlers Antisemitismus, vgl. Hitler 1980, 188f. Dieser Gedanke könnte auch einige scheinbare Ambivalenzen von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" erhellen. ,Der Jude' ist leidensfähig, menschlich ("Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?") und raffgierig, grausam. Vgl. zum Begriff Kar! Kraus (1989, 18M.): "man bezichtigt den, der die Wahrheit sagt, der Lüge, auf der man ertappt wurde. Man findet, was man tut, tadelnswert, sobald der andere es tut. Man kann den 'Feuerüberfall aus sicherem Versteck feigen, gemeinen Meuchelmord' nennen und ihn ausführen. Was Du nicht willst, das man Dir tu, er!üg und füg dem andern zu".

forderlich', sinnvolle Arbeit, "Pflicht" (34), Böses nur zur Verhinderung des Bösen, also als Gutes. Er hat damit "das Mittel gefunden, sie [seine Mordgelüste] zu befriedigen, ohne sie sich einzugestehen". (33) Dass die Nationalsozialisten ,den Juden' auch mithilfe eines Systems religiöser Kriterien definieren, ist für Gross ein weiteres Indiz für die "letztlich moralische [... ] Natur" (Gross 2010, 67) des antisemitischen Ressentiments. Einerseits hätten die Nazis für ihre antisemitische Rechtsprechung keine anderen als religiöse Kriterien gefunden - es finde sich "kein einziges Gesetz, das letztlich auf einer biologischc:;n und nicht auf einer religiösen Definition des Judentums und des Jüdischen basieren würde" (66) -, und integrierte insbesondere Hitler mit seinem Begriff eines "positiven Christentums" auch den traditionellen religiösen Judenhass. Andererseits spreche Hitler den Juden gerade die Religiosität ab, definiere sie als das Antireligiöse schlechthin - als eigennützige, zu Transzendenzglauben, Opferbereitschaft und Idealismus unfähige Rasse, deren Geist ,,'nur von dieser Welt'" (Hitler) (66) sei. ll Die "Rasse" werde also "ex negativo" von einem "unbestimmte[n] Begriff von Religion" (67) her konstruiert. In neun Einzelstudien untersucht Gross das ideologische Feld der NS-Moral und seine Nachwirkung im postnazistischen Deutschland. Im Zentrum stehen die Konzepte der Volks ehre, Rassenschande, Treue zur Volksgemeinschaft, Scham und Anständigkeit. Gross wertet dazu unterschiedlichste Quellen aus, z.B. Gerichtsurteile, Anwaltsgutachten, Filme, Liedgut, Täteraussagen und -memoiren, philosophische und theologische Abhandlungen, politische Reden. So zeigt er, wie in dem Veit-Harlan-Film Jud Süß der zentrale Bezugspunkt der Verurteilung von Joseph Süß Oppenheimer der Vorwurf der Rassenschande ist. Der Schaden, den das deutsche Volk aufgrund der Vergewaltigung einer deutschen Frau durch einen Juden erlitten habe, die "Schande", sei eine nationalsozialistische Wertkategorie, die mit einer spezifischen moralischen Empörung einhergehe. (33) Schande stelle eine Verletzung des Volkskörpers dar, genauer seiner Ehre. Nicht die konkrete, an einem Individuum verübte Tat der Vergewaltigung, sondern dessen unsichtbare Verbindung mit dem nationalen oder rassischen Kollektiv werde hier zur Grundlage moralischer Urteile. Diese Moralisierung eines phantasmagorisch Biologischen wird, so Gross, bereits im Titel eines der zentralen antisemitischen Gesetze, dem "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" aus dem Jahr 1935 erkennbar. (35) Diesem Topos der Ehre und Ehrverletzung des mystischen Volks körpers begegne man im (und auch vor dem) NS allenthalben: In populären Liedern, die das "Ehrenschild Germanias" gegen ,jüdische Befleckung' an deutschen Stränden hochhalten (Borkum-Lied) (44) oder in Gerichtsurteilen, wie dem gegen Werner Holländer, der 1943 zum Tode verurteilt wird, weil er Beziehungen zu nicht jüdischen Frauen hatte. Die Richter Hassencamp und Kessler verkünden ein Todesurteil, obwohl eine solche Strafe nicht einmal in den "Rassegesetzen" vorgesehen ist, mit der aus ,,'deutschem Rechtsempfinden'" stammenden Begründung, der "Täter" habe 11

Über die Kontinuitäten dieses bereits ansatzweise im Christentum zu findenden judenfeindlichen Topos vgl. Nirenberg 2015, u.a. 70f. 110, 114, 126.

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,,'die deutsche Rassenehre in den Schmutz'" gezogen. (Zitiert nach 47f.) Hier, so Grass, zeige sich nicht nur die eigenverantwortliche antisemitische Tatkraft deutscher Juristen, es werde vielmehr deutlich, dass die Kategorie der Schande als Verletzung nationalsozialistischen Naturrechts über das positive NS-Recht hinaus herangezogen werde. Dass die deutsche Nachkriegsjurisprudenz dann auch noch den Rechtspositivismus für die vermeintliche "Wehrlosigkeit" deutscher Richter gegenüber dem NS-Recht verantwortlich machte, zeigt Grass zufolge die Kontinuität nationalsozialistischer Argumentationsmuster und eine Täter-Opfer-Verkehrung an: "Die ehemals positivistisch eingestellten Juristen, größtenteils Republikaner und oft Juden, wurden nun für den Untergang der Weimarer Republik" (132) und die rassistisch begründeten Justizmorde im NS verantwortlich gemacht. Die konservativ bis nazistisch gesinnten Juristen hingegen, die naturrechtlich mit dem überpositiven Kriterium des deutschen Rechtsempfindens argumentiertenIl, werden zu Warnern vor dem ,inhaltsleeren Formalismus' der Gesetzestreue stilisiert. Das Naturrecht, das deutsche Richter zu selbst das NS-Recht übertreffenden Todesurteilen heranzogen, wird nun, mit leicht abgewandeltem Inhalt, als Ausweg gegen den ethischen Relativismus des Rechtspositivismus gepriesen. 13 Mit dem Ehrbegriff untrennbar verbunden ist Grass zufolge der deutsche Begriff der Treue: Die Treue zum Volk, auch ,Nibelungentreue' genannt, sei die zentrale NS-Tugend, was anhand der SS-Parole "Meine Ehre heißt Treue", der Populärkultur - z.B. dem antisemitischen Volkslied "Üb' immer Treu' und Redlichkeit", das als Pausenzeichen des Reichsrundfunks verwendet wurde (77) - und der Rechtstheorie und -praxis nachzuweisen sei. Die ,,'Treue bis zur Aufopferung des eigenen Selbst'" (79) werde dabei der Habgier und dem Eigennutz des ,,'jüdischen Bösewicht [s ]'" (so das Volkslied) gegenübergestellt. Deutscher-Ehre-Treue-Opfer stehen als Wertkonnex gegen Jude-Schändung-Betrug-Eigennutz. Auch hier diagnostiziert Grass erstaunliche ideologische Kontinuitäten zur Nachkriegszeit, ja selbst bis in unsere Tage, was er anhand des Films "Der Untergang" aus dem Jahr 2004 eindrucksvoll nachweist. Noch hier, so Grass, diene die Norm der Treue zum deutschen Volk als Maßstab zur Kritik an Hitler. (88) Dieses Fortwirken nationalsozialistischer Normen und Urteils formen im Nachkriegsdiskurs und seiner - vermeintlichen - Kritik am NS kann Grass noch an vielen anderen Beispielen belegen. Wer wissen will, wie sich Himmlers Begriff der Anständigkeit in den deutschen Spruchkammern der Nachkriegszeit wiederfindet oder wie Martin Wals er in seiner Paulskirchenrede das nationalistische Schande- und Authentizitätsmotiv fortschreibt, wird in den Detailstudien von Gross fündig werden. Hier wäre einer Kontinuität des Volksgemeinschaftsdenkens, eines nationalen

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Vgl. dazu Fraenkel 1974, 16M., Müller 1989, Pauer-Studer 2014. Man betrachte nur die naturrechtliche Begründung des sog. Kuppeleiparagraphen im Nachkriegsdeutschland. Auch hier findet sich die "gesunde Volksanschauung" als Begründungsmuster. Noch im Bundesgerichtshofurteil aus dem Jahr 1954 (vgl. Bundesgerichtshof 2005, 103-109) wird das überpositive Kriterium "geschlechtlicher Zucht" (ebd., 107) als durch außerehelichen Sex verletzt angesehen und gegen "inhaltlosen Relativismus" geltend gemacht.

kollektiven Narzissmus auf den Grund zu gehen, der sich sowohl in Täterstolz 14 (,Unser Holocaust' (222)) als auch in sekundärem Antisemitismus zeigen kann. Anständig geblieben trägt einiges zum Verständnis der Kontinuitäten deutscher Ideologie resp. Moral bei. Leider setzt Gross aber eine Tradition fort, die bereits andere Täterforscher begonnen haben, nämlich Vorläufer ihrer eigenen Thesen zu ignorieren, also zentrale Ideengeber bei der Erklärung des Selbstverständnisses der Täter zu verschweigen. Wie Harald Welzer sich die Frankfurter Schule vom Hals schafft, indem er deren Theorie des autoritären Charakters eine individualpsychopathologische Perspektive unterstellt,15 nur um im Schluss kapitel seines Täter-Buches ohne jeden Hinweis auf Fromm oder Adorno deren Theorie der Flucht vor der Freiheit zu paraphrasieren,16 so übersieht Gross die seinen Ansatz vorwegnehmenden Thesen Jean-Paul Sartres weitgehend. Neben dieser ideen geschichtlichen Problematik hat ein solches Vorgehen aber auch inhaltliche Konsequenzen. Denn nach einer auch nur ansatzweisen Erklärung der Entstehung des nazistischen Moralsystems sucht man bei Gross vergeblich. Hier bieten Sartre und Fromm/ Adorno wenigstens Hypothesen an, die aber keines Kommentares gewürdigt werden. Merkwürdig bleibt in diesem Zusammenhang auch die vollständige Ausblendung der psychoanalytischen Antisemitismusforschung. 17 Wer auf moralische Gefühle und affektiv geladene Normen eingeht, ohne die Frage nach ihrer Genese zu stellen, kann freilich auch psychoanalytische Erklärungsansätze solcherart heteronomer 18 Moraltypen beiseitelassen. Nur wird dann auch buchstäblich nichts mehr erklärt. Die Moral des NS bleibt so Explanans der Mordtaten, wird aber nicht zum Explanandum einer sozialpsychologischen Forschung gemacht.

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Vgl. dazu Rupnow 2006. Vgl. Welzer 200S, 9, 43, 269. Vgl. ebd., 267. Man vergleiche Welzers Ausführungen an dieser Stelle mit Erich Fromms Aufsatz über Autorität und Familie aus dem Jahr 1936 (Fromm 1989, v.a. 174, 177ff.). Vgl. zu dieser Salzborn 2010a. Ich unterscheide hier im Kantschen Sinne in autonome und heteronome Moral. Jede aus empirischen Bestimmungsgründen des Willens (Gefühlen, verinnerlichten Drohungen etc.) gespeiste Moral gründet in der "Heteronomie der Willkür" (Kant 1998b, 144) und taugt deshalb auch nicht zu universellen praktischen Regeln, während eine autonome Moral nur der reinen apriorischen Form des Willens folgt. Dass die NS-Moral nicht der praktischen Vernunft folgt, bedarf keiner weiteren Erwähnung. Sie setzt vielmehr ein kollektiv narzisstisches, also pervertiertes "Prinzip der Selbstliebe" (Kant) als obersten Bestimmungsgrund des Willens ein Prinzip, welches sich Kant kaum vorzustellen gewagt haben dürfte.

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Die "Verschwörung der Asche von Zion" Zur Vorgeschichte der gegenwärtigen Holocaustrelativierung Mit Die vergebliche Erinnerung von Alain Finkielkraut und Gegenläufige Gediichtnisse von Dan Diner wurden im Abstand von beinahe zwanzig Jahren zwei Essays publiziert, die eine neue Qualität der Verdeckung der Präzedenzlosigkeit des Holocaust diagnostizierten - eine Verdeckung, an der heute ganze Abteilungen des akademischen Betriebs und viele zivilgesellschaftliche Institutionen arbeiten, stets mit der politischen Konsequenz der Delegitimierung des jüdischen Staates.! Im Rückblick auf diese beiden Essays soll die Vorgeschichte einiger zentraler Motive skizziert werden, die für die heutige Holocaustrelativierung vor allem antirassistischer und postkolonialer Provenienz von Bedeutung sind. Schließlich wird mit Michael Rothbergs Multidirectional Memory im dritten Teil ein derzeit breit diskutierter post kolonialer Ansatz zum Thema Holocausterinnerung analysiert.

1. Präzedenzlosigkeit und die Gefahren der Mystifizierung Diner stellt in seinem Essay Gegenläufige Gedächtnisse zu Recht die Präzedenzlosigkeit oder Singularität der Judenvernichtung ins Zentrum seiner Überlegungen. Der von ihm verwendete und oft missverstandene Begriff des "Zivilisationsbruch[sJ" (Diner 2007a, 16) soll zunächst darauf hinweisen, dass die Juden einer präzedenzlosen "Vernichtung ausgesetzt waren, die jenseits all dessen lag, was nach den Maß gaben utilitaristischer Rationalität und Selbsterhaltung der Handelnden sonsthin seine Schranken findet." (37)2 So wenig wie ,Zivilisationsbruch', wie von postkolonialen Theoretikern gerne unterstellt 3, impliziert, vor der Shoah sei es in der Menschheitsgeschichte oder auch nur der Moderne stets ,zivilisiert' und gewaltlos zugegangen, so wenig soll ,Singularität' die banale Tatsache bezeichnen, dass ein historisches Ereignis im strengen Sinne nicht zweimal geschehen kann. Der Begriff soll auch nicht Vgl. u.a. Gavriel und Alvin Rosenfelds ausgezeichnete Überblicke über solche Tendenzen in den USA (Rosenfeld 1999, Rosenfeld 2015), sowie die wichtige Arbeit von Klävers 2019. Ein Überblick über ähnliche Tendenzen in Deutschland, die sich bei Migrationswissenschaftlern, Antisemitismus- und Rassismusforschern oder Afrikawissenschaftlern finden, steht noch aus. Wenn Uli Krug gegen Diner und im Anschluss an Wolfgang Pohrts Theorie des Gebrauchswerts meint, bereits mit der reellen Subsumtion des Arbeitsprozesses unter das Kapital bestehe "zwischen Naturbeherrschung und Selbsterhaltung kein notwendiger Zusammenhang mehr" (Krug 1998), weil die Arbeiter dadurch tendenziell "überflüssig" gemacht würden, so resultiert diese Behauptung zum einen aus einer Idealisierung der frühbürgerlichen Produktionsweise und zum anderen aus einer teleologisch-verfallstheoretischen Deutung des ,Spät'kapitalismus. Dass das Paradigma der "Überflüssigkeit" irgendwie mit Auschwitz in Verbindung stünde, ist zudem mehr als fragwürdig und geht den Aussagen Arendts u.a. auf den Leim. Zur Kritik an Arendts Überflüssigkeits-These vgl. Postone 2000, 280f. So meint beispielsweise Aram Ziai (2016, 16) gegen Diner und Samuel Salzborn gerichtet, die Rede vom Zivilisationsbruch Auschwitz "setzt unweigerlich das Vorhandensein einer ungebrochenen, intakten Zivilisation vor Auschwitz oder zumindest vor der Naziherrschaft seit 1933 voraus."

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unterstellen, der Holocaust 4 könne sich nicht in dieser oder jener Form wiederholen oder es sei (im Unterschied zur Gleichsetzung) unmöglich, ihn mit anderen Massenmorden zu vergleichen. 5 Genau in diesem Kontext tauchen allerdings in Diners Essay begriffliche Probleme auf, die für die Auseinandersetzung mit der neuen Holocaustrclativierung von zentraler Bedeutung sind. Denn nur, wenn die Singularität des Holocaust richtig bestimmt wird, kann gegen solche Tendenzen argumentativ vorgegangen werden. Diner tendiert zur Mystifizierung der Singularität und unterscheidet sich damit, bei all seinen inhaltlich treffenden Feststellungen über das, was der Holocaust nicht war, fundamental von Autoren wie Yehuda Bauer, Steven T. Katz oder Saul Friedländer, die einen rationalen Begriff der Präzedenzlosigkeit entwickelt haben. 6 Diners Mystifizierung ist nicht zufällig mit einem Lob der Diagnose Hannah Arendts verbunden. Diese, so Diner, habe in ihren Texten vom Ende der 1940er Jahre die "spezifische[nJ Merkmale" der Shoah richtig in der "Durchbrechung der Selbsterhaltung und der Annullierung von Fundamenten der utilitaristisch verfassten Rationalität" erkannt. (Diner 2007a, 35) Für diese Intuition, dass der Holocaust ein Verbrechen war, das man "weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag" (Arendt 1998, 941), hat Arendt den Begriff des "radikal Bösen" (ebd.) geprägt, eines Bösen, das nicht durch sinnliche Bestimmungsgründe krimineller, psychopathologischer oder politischer Natur zu erklären ist. 7 Arendt will damit keineswegs nur darauf hinaus, dass es andere, gesellschaftlich und sozialpsychologisch rekonstruierbare Motive gebe, die das Handeln der Täter anleiteten. Da ihr existentialistisches und konservativ kulturkritisches Denken ökonomische, soziologische oder psychologische Ansätze unter Uneigentlichkeitsverdacht stellt 8, fehlt ihr das begriffliche Instrumentarium, um die richtige Feststellung der Irrelevanz ökonomisch, politisch oder kriminell rationaler Motive wiederum gesellschaftstheoretisch und sozialpsychologisch zu erklären. Es bleiben schlicht keine Motive mehr übrig oder allenfalls ein Böses um des Bösen willen, was, wie Arendt freimütig zugesteht, eine numinose "übernatürliche Schlechtigkeit" (Arendt 1989a, 50) anzeige, die sich prinzipiell dem Begriff entziehe: sie spreche davon, "ohne doch recht zu wissen, was das ist". (Arendt 2007, 307) Diner unterlässt es leider, den Begriff des radikal Bösen näher zu untersuchen oder gar dessen problematischen Gehalt zu kritisieren. Seine Überlegungen über das "Warum" von Auschwitz führen daher zu einer Verwechslung von irrationalen Gründen für die Vernichtung mit "einer grundlosen Vernichtung", die angeblich "den Sinn gehalt von Sprache und Be-

Mir ist bewusst, dass Holocaust, aber auch Shoah und Auschwitz als Bezeichnungen für die Judenvernichtung jeweils problematische theologische oder historische Konnotationen haben. Zu sinnvollen und unsinnigen Begriffen von Singularität in der Debatte vgl. Klävers 2019,16, 37,161, 163, 222f. Vgl. Katz 1981, Bauer 2001, Friedländer 2008. Zu Gemeinsamkeiten und Differenzen von Arendts und Kants Begriff des radikal Bösen vgl. Eibe 2015, 480ff. VgL Arendt 2007, 20, 53ff., 57, 223ff.

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griff" "kontaminier[eJ". (Diner 2007a, 25)9 Der "Vernichtungstod ist ein im Kern grundloser Tod" (81) aber nur dann, wenn man irrationale Gründe nicht als Gründe gelten lässt und den Holocaust auch vom Antisemitismus entkoppelt, wie das bei Diner tendenziell geschieht.!O Mit dieser Bestimmung verortet Diner den Holocaust tatsächlich in einem gewissen Sinn in einem Jenseits von Geschichte und Gesellschaft,!! was schließlich in die Behauptung mündet, die Shoah nehme "jene Stelle ein, die vormals Gott vorbehalten war". (106) Die enigmatisch anmutenden Überlegungen Diners scheinen nahezulegen, dass in einem theozentrischen Weltbild Auschwitz immer auf Gott und seine (wie auch immer) sinnvollen Taten bezogen bleibt - und sei es als Strafe Gottes.!2 Die Aufklärung, die nun die Vernunft an die Stelle Gottes gesetzt habe, könne allerdings ebenfalls nur eine falsche Rationalisierung der Shoah zustande bringen. Da Auschwitz die Idee des vernunftgeleiteten (und sei es bloß instrumentell rationalen) Menschen aber negiere, trete es an die Stelle der Aufklärung, die zuvor an die Stelle Gottes getreten sei. Holocaustrelativierer können solche Passagen dankbar aufnehmen und mittels der Abstoßung von diesem ,sakralisierten' Holocaustbegriff, den sie freilich diffus allen Vertretern der Singularitätsthese unterstellen, zum Generalangriff zunächst auf die Singularitäts!hese und anschließend auf den Zionismus übergehen. 13 Diners vernunftdefätistische These, dass "die Aufklärung [... J durch den Holocaust widerlegt wird" (Diner 2007a, 106), unterstellt ein reduktionistisches Aufklärungsverständnis, das die Marxsche Ideologiekritik ebenso wenig berücksichtigt wie die Freudsche Psychoanalyse. So wie Marx' Ökonomiekritik keineswegs leugnet, dass die moderne kapitalistische Gesellschaft "prosaisch reelle Mystifikation[en]" hervorbringt (Marx 1990,35), aber versucht, die Bedingungen für diese rational zu erkennen, so leugnet die Psychoanalyse irrational motiviertes Handeln nicht, versucht es aber rational zu verstehen. Wenn Diner, ganz d'accord mit Arendt, meint, nicht nur das Streben nach materiellem Vorteil, sondern auch Motive

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Eine ähnliche Deutung der Shoah findet sich u.a. bei Hogh 2008. Vgl. Diner 1991, 192. Er betrachtet den Antisemitismus zwar als "nötig [... J für die Schoah", dass der Holocaust die logische Konsequenz des modernen Antisemitismus war, bestreitet er aber und hält dies offenbar für eine weitere Form der Sinnstiftung - nun in Gestalt der Erzählung eines "nationalen Martyrium[sJ" der Juden. Dies führt ihn letztlich zur Deutung des Zionismus als bloßem Versuch, traditionellem Judenhass durch räumliche und kulturelle Separation zu entgehen (vgl. ebd., 193f.). Dagegen ist zu betonen, dass die totale und globale Vernichtung der Juden sehr wohl die letzte und logische Konsequenz des modernen Antisemitismus ist (vgl. dazu Holz 2010, Hf., 108,246, 272f., 340, 398, 413-424), ohne dass jeder Antisemit subjektiv diese Konsequenz ziehen müsste, ohne, dass sich diese Konsequenz zwangsläufig realisieren müsste oder damit der gesamte historische Prozess der Shoah linear erklärt wäre. Zudem wäre daher der Zionismus, vor allem nach 1945, nicht bloß der naive Versuch, sich zu separieren, sondern auf die Erfahrung völliger Ohnmacht im Zustand der totalen und globalen Bedrohung mit der Möglichkeit der Selbstverteidigung zu reagieren. Das "Wer" der Vernichtung sei zwar nur aus der Geschichte zu erklären (vgl. Diner 2007a, 16), das "Warum" bleibt aber damit immer noch unbeantwortet. Vgl. dazu für die jüdische Rezeption kritisch: Bauer 2001, Kap. 9. Vgl. Rothberg/Cheyette 2019, 31. Eine Kritik an Rothbergs Geschichtspolitik- und Erinnerungskonzept hat Steffen Klävers vorgelegt vgl. Klävers 2019, Kap. 4 sowie S. 180f.

der "Triebbefriedigung" (27) schieden zur Erklärung des Täterhandelns aus, zeigt sich schlicht ein um alle Erkenntnisse einer analytischen Sozialpsychologie verkürzter Begriff von "Triebbefriedigung". Hier werden die auch von Arendt evozierten Motive des individualpathologischen, sadistischen Triebtäters bemüht und die von Fromm und Adorno analysierte autoritär-masochistische Bedürfnisstruktur von Massen als emotionale Matrix nationaler oder rassischer Homogenitätsphantasmen und projektiv abwehrender Feindkonstruktionen ignoriert. 14 Damit zusammenhängend wird auch Diners richtige Kritik am begrifflichen Fassungsvermögen eines ökonomische Motive für die Shoah unmittelbar geltend machenden Materialismus schief. Er glaubt nämlich offenbar, die Erklärungskraft materialistischer Analysen damit generell negieren zu können, womit ihm die Prekarität und Ohnmacht generierenden gesellschaftlichen Bedingungen aus dem Blick geraten, die die Individuen mit bestimmten psychischen Verarbeitungsformen zu bewältigen versuchen und die zur Genese irrationaler Motive wie dem Antisemitismus beitragen. In diesen Bewältigungsversuchen gesellschaftlich produzierter Ohnmacht werden also, um es zu wiederholen, genuin irrationale Interessen und Motive generiert,15 die aber eine gewisse Binnenrationalität aufweisen. Beides, die gesellschaftlichen Bedingungen und ihre sozialpsychologische Komponente, entgeht Diner, hier ganz im Banne Arendts stehend. Insofern ist auch die häufig in bester Absicht formulierte These, der Holocaust sei ,selbstzweckhaft' gewesen, "Vernichtung um der Vernichtung willen" (postone 2005, 177), zu revidieren. Im Folgenden soll daher das Ineinander von Rationalität und Irrationalität der Shoah thesenhaft umrissen werden, um anschließend auf die Konstellation der von Diner und Finkielkraut treffend diagnostizierten Verdeckung dieser präzedenzlosen Tat einzugehen. 1. Die Shoah ist ohne den Antisemitismus nicht zu erklären. Der moderne "Erlösungsantisemitismus" (Friedländer 2008, 87) baut auf christlichen Motiven auf, die im Rahmen eines völkischen oder rassistischen Bezugssystems modifiziert werden. Eine systematische, dämonisierende Judenfeindschaft entsteht "in Regionen, in denen eine vom Judentum abgeleitete Religion vorherrscht" (Maccoby 2019, 50), die mit Hilfe der "Methode der Usurpation" (48) eine "Theologie der Verdrängung" (49) betreibt. Diese besteht im Fall des Christentums in der Anknüpfung an die jü14

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Zu diesem Ansatz vgl. Rensmann 1998 sowie EIbe 2015, 403-424. Doch selbst die psychologiefeindliche Hannah Arendt näherte sich kurzzeitig und widersprüchlich mit ihrem, von Diner ebenfalls angeführten, Begriff der "Selbstlosigkeit" des totalitären Charakters (Arendt 1998, 469f., 738f., 800) dieser Diagnose der gesellschaftlichen Hervorbringung autoritärmasochistischer, pathisch-projektiver Massenhaltungen an, vgl. EIbe 2015, 465f. Nobert Hoerster nennt prinzipielle Realisierbarkeit der Interessen, Urteilsvermögen und Informiertheit des die Interessen artikulierenden Akteurs sowie Konsistenz verschiedener zugleich verfolgter Interessen als Kriterien für die Rationalität von Interessen bzw. Zwecken, vgl. Hoerster 2003, 21-26, 39. Irrational ist der Antisemitismus in diesem Zusammenhang, folgt man Hoersters Kriterien, weil das Ziel der ,Reinigung der Völker' von Egoismus, Ausbeutung und Konflikt auf der Basis unhinterfragter antagonistischer Vergesellschaftungs bedingungen unrealisierbar ist, erst recht nicht mit der praktischen Umsetzung des Antisemitismus erreicht werden kann und der Antisemitismus auf unwahren und ungerechtfertigten Annahmen über die Juden und die Welt beruht. Zum Begriff der rationalen Meinung und der (un-)wahren und (un-)gerechtfertigten Annahmen vgl. Boghossian 2013, 20ff.

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dische Überlieferung, ihrer Umdeutung als immer schon auf das Christentum hinweisende, dem Vorwurf an die Juden, diese Umdeutung nicht als letzte Wahrheit zu akzeptieren sowie eigentlich als Volk schon in der Vergangenheit gegenüber ihrer eigenen ,protochristlichen' Überlieferung böswillig ungläubig gewesen zu sein - bis hin zur Tötung ihrer Propheten. Letztlich sollen die Juden als ,Beweis' ihrer sündhaften Verstocktheit auf Erden eine gedemütigte Existenz fristen. 16 Der ErlösungsAntijudaismus des Christentums hat dabei "atavistische Wurzeln in der Schuldverschiebung [... ], die mit einem bestimmten Stadium des Menschenopfers verbunden ist." (Maccoby 2019, 169) Die christliche "Lehre des stellvertretenden Sühneopfers" durch den Kreuzestod (126) Gesus als "das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt" Goh. 1,29)) führt zur projektiven Verarbeitung des Schuldgcfühls in der Gemeinschaft der Christen: In der Idee des "menschlich-göttlichen Opfers [... ] liegt die moralische Schwierigkeit [... ], dass der Initiierte eigentlich froh ist, dass der heilbringende Tod stattfindet, da er ohne ihn auf die Erlösung verzichten würde. Diese Freude muss freilich um jeden Preis verborgen werden, denn es kann nicht eingestanden werden, dass der Initiierte und die Gemeinschaft, zu der er gehört, durch ihren starken Wunsch und ihre Dankbarkeit darüber mitverantwortlich sind für den grausamen Tod. Folglich muss irgend eine dunkle Gestalt eines Verräters gefunden werden, auf den die Bluttat geschoben werden kann." (Maccoby 2019, 102).17 Diese Verräter und im vorliegenden Fall letztlich sogar ,Gottesmörder' sind im christlichen Denken Judas Ischariot (103f.), die als "furchterregende Überväter" (116) gezeichneten Pharisäer und schließlich das jüdische Volk insgesamt. Der vorherrschende Umgang mit den Juden war - neben immer wieder zu verzeichnenden Pogromen - die theologisch begründete irdische Demütigung als Zeichen der Strafe für ihre Verstocktheit sowie die Abdrängung in den Pariastatus einer Gruppe, die zugleich gesellschaftlich geächtete, aber notwendige Tätigkeiten vollzieht. Die Juden sind, folgt man Maccoby, theologisch, soziologisch und emotional zen trale "Sündenträger"(201) für das Gründungs- und Erlösungsopfer im Christentum, sie sind Paria, die zugleich die Rolle des "Heiligen Henkers" einnehmen. (205) Die für den einzelnen Juden gegebene Möglichkeit der Konversion zum Christentum ist damit für das Judentum als Ganzes nicht gegeben (201), weil "die Juden ein notwendiges Element in der christlichen" Schuld- und "Religionsökonomie" darstellen. (211 ) Der Antisemitismus hat allerdings genuin moderne Wurzeln, die mit den christlichen Mythen und dem dämonisierten Bild der Juden verbunden werden. Der Jude wird hier vom ,Teufels kind' (Joh. 8,40-44) zum "Teufel der säkularen Welt". (Goldhagen 1998, 91) Im Antisemitismus werden die als Zumutungen erlebten Wi-

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Zu dieser Methode der Usurpation vgl. auch Nirenberg 2015, Kap. 2 und 3. Die mittelalterlichen Ritualmord-, bzw. Kindermord- und Hostienschändungsvorwürfe gegen die Juden bauen auf dieser grundlegenden Struktur des christlichen Mythenhaushalts auf und sind eng mit der sich im 12. Jahrhundert durchsetzenden wörtlichen Auffassung der Transsubstantiationslehre verbunden: "Jetzt weckte die kannibalistische Fantasie, die das Verzehren während der Messe begleitete, Gefühle unbewusster Schuld, [... ] sodass auch diese Opferung den Juden zugeschrieben werden musste." (Maccoby 2019, 180)

dersprüche und Freiheitsdynamiken der Moderne sowie die Ursachen des Herausfallens aus der als Gemeinschaft gedeuteten bürgerlichen Gesellschaft fetischisiert, wahnhaft und projektiv dingfest gemacht und im Juden - als der vermeintlichen Inkarnation der Bedrohung durch die abstrakten gesellschaftlichen Verhältnisse und Mechanismen - personifiziert. Zugleich wird die den Juden unterstellte Macht begehrt - gelegentlich ist gar die Rede von den "unendlich überlegen [en]" Juden. (H. Naudh 2016,195) Das Ziel ist Erlösung durch Vernichtung der Juden als "Figur des Dritten" (Holz 2010): die Schwarzen oder Araber "will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden", "von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen." (Horkheimerl Adorno 1997, 197) Der Antisemitismus ,erklärt' apersonale Herrschaft als Gestalt personaler (einer Gruppe von ,minderwertigen Übermenschen') und will die vermeintlich personal Herrschenden vernichten, nicht beherrschen. 18 Anders als die fremden feindliche oder rassistische Dichotomie zwischen ,uns' und ,den anderen' (z.B. Nation vs. Nation, Rasse vs. Rasse) ist die antisemitische eine asymmetrische Dichotomie, die die Juden als Feind der (also aller!) Völker begreift. Diese Dichotomie beinhaltet weitere Bestimmungen. 19 Gemeinschaft vs. Gesellschaft: Die strukturellen, internen Konflikte moderner Gesellschaften, die sich aber als nationale Gemeinschaften (emotional, territorial, historisch, ethnisch verbundenes, sich selbst bestimmendes Kollektiv) deuten, der Konflikt zwischen institutionalisiertem Individualismus (modernes Rechtssubjekt) und Gemeinschaftsgeist sowie zwischen antagonistischen Interessenorientierungen innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz (und der Verpflichtung aufs Gemeinwohl), werden als Konflikt zwischen dem Volk und den Juden gedeutet: "Die sociale Frage ist", wie die ,Friedensfrage', "die Judenfrage". (Otto Glagau, zit. nach Volkov 2000, 29) Die Juden gelten als Inkarnation der inneren Zerrissenheit moderner Gesellschaften, einer Zerrissenheit, die es laut der modern-vormodernen Einheits-Semantik des Nationalismus nicht geben soll, und die die Juden angeblich mittels Egoismus, ,Zinsknechtschaft', ,Mammonisierung' der Kultur, Klassenkampf, Individualismus, demokratischem ,Parteien gezänk', ,intellektuellem Kritikastertum', U rbanisierung und Presse heraufbeschwören. Arbeit vs. Nicht-Arbeit: Juden haben demnach an der gemeinschaftsförderlichen Arbeit für die Nation keinen Anteil, leben von der Arbeit anderer. Die "gemüthli18

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Vgl. Bruhn 1994,82,90, 97f., 104; Postone 2005. Zu den sozialpsychologischen Mechanismen des modernen Antisemitismus vgl. v.a. Rensmann 1998. Vgl. zum Folgenden v.a. Holz 2010, Weyand 2016. Allerdings ist gegen die stark auf Nation und Volk fokussierten Thesen von Holz mit Samuel Salzborn festzuhalten: Dass "die (realen oder fiktiven) Juden [00'] außerhalb des als homogen fantasierten Kollektivs gestellt werden und dabei nicht nur als anders, sondern als das Andere und damit als die Negation der jeweiligen homogen phantasierten Ordnung gelten, ist unabhängig davon, ob dieser Ordnungsvorstellung eine nationale Vorstellung zugrunde liegt. Entscheidend ist vielmehr der autoritäre, homogenisierende und missionarische Exklusivitätsanspruch des antisemitischen Weltbildes, in dem eine Amalgamierung mit nationalen Ideologien genauso möglich ist, wie mit pränationalen wie der katholischen Kirche, mit nichtnationalen wie der islamischen tlmma oder auch mit postnationalen wie der Antiglobalisierungsbewegung." (Salzborn 2010b, 405)

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che Arbeitsfreudigkeit unseres Volkes" steht gegen jüdischen "Lug und Trug" (Treitschke 2016, 11), "redliche Arbeit" und "nationale Industrien" stehen gegen "Geldvermehrung ohne Arbeit" im jüdischen "internationalen Leih- und Börsenkapital". (Hitler 1980, 193ff.) Konkretes vs. als Konkretes vorgestelltes Abstraktes: Das real Abstrakte wird als Konkretes phantasiert: der Antisemit weigert sich, eine Welt subjektloser sozialer Mechanismen und struktureller Zwänge zu begreifen und fragt notorisch: ,Geld regiert die Welt, doch wer regiert das Geld?' Opfer vs. Täter/Wir vs. die da oben: Der Antisemit imaginiert sich als Opfer jüdischer Weltherrschafts pläne und bekämpft im Gestus eines konformistischen Rebellen und hinter die Kulissen blickenden (pseudo-)aufgeklärten Subjekts diese vermeintliche Herrschaft im Modus der Ausnahme- und Notwehrgewalt. Der moderne Antisemitismus lässt nur eine konsequente ,Lösungs'perspektive zu 20, was nicht bedeutet, dass jeder Antisemit diese Konsequenz auch subjektiv zieht oder Antisemitismus nur im Falle eines Massenverbrechens an Juden vorliegt. 21 Da die Juden im Denken des Antisemiten das Unglück schlechthin für jedes Volk sind, unfähig zu gemeinschaftsförderlicher Arbeit und damit "Parasiten am Körper anderer Völker" (Hitler 1980, 189), ist die Judenfrage "eine V ölkerfrage [... ]; sie will aus der internationalen Perspective beantwortet sein." (Dühring 1994, 49) Da den Juden unterstellt wird, nicht gemeinwohlförderlich arbeiten zu können, sondern eine Gruppe reiner Egoisten zu sein, können sie auch keinen eigenen Staat schaffen. 22 Die Möglichkeit einer abgetrennten nationalen Existenz außerhalb der Völker besteht also nicht. Die letzte Konsequenz kann dann nur die "Entfernung der Juden überhaupt" (Hitler, zit. nach Wistrich 1987, 62) bzw. die "Vernichtung der jüdischen Rasse" (Hitler, zit. nach Friedländer 2007,333) sein. ,,[F]ür Deutschland", so eine Denkschrift des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 1938, "wird die J uden frage nicht ihre Erledigung gefunden haben, wenn der letzte Jude deutschen Boden verlassen hat." Ziel soll "eine in der Zukunft liegende internationale Lösung der Judenfrage sein", "die nicht von falschem Mitleid mit der ,vertriebenen religiösen jüdischen Minderheit', sondern von der gereiften Erkenntnis aller Völker diktiert ist, welche Gefahr das Judentum für den völkischen Bestand der Nationen bedeutet." (Zit. nach Wistrich 1987, 186) 2. In der Shoah verfolgten die Täter im Wesentlichen keine politischgeostrategisch, bevölkerungspolitisch, militärisch oder ökonomisch rationalen Zwecke 2J , wiewohl sie ihre Vernichtungspraxis nicht selten mit "utilitaristisch verbräm20 21

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Vgl. Holz 2010,44,108, 245f., 272, 339, 364, 418f. Unsinn wie die Aussage "Antisemitismus ist Massenmord und muss dem Massenmord vorbehalten bleiben"(Dieter Dehm, zit. nach Koester 2017) verbreiten tatsächlich Akteure, die eine Bagatellisierung von aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus betreiben. Kritisch dazu auch Lelle/Uhlig 2020. Vgl. Hitler 1980,189. Vgl. u.a. Herbert 1991,34: Im Falle des Massenmords an Sowjetbürgern räumte ,,[dJas rassistische Denken [... ] Bedenken beiseite, die einer Verwirklichung wirtschaftlicher Ziele durch die Ermordung von Millionen Menschen im Wege standen. Ein genuines Ziel war der Massenmord an ,Russen' hingegen in der nationalsozialistischen [... ] Weltanschauung nicht, son-

ten Legitimationsstrategien " versahen (Herbert 1991 31) 24 oder als rationale ,Lösung' von (durch ihren Antisemitismus selbstgeschaffenen) ,Problemen' präsentierten. 25 Die Judenvernichtung war also nicht vorrangig Mittel der Bereicherung, der militärischen Brechung des Willens eines Feindes, der territorialen Expansion usw., sie war durch ihren apokalyptisch-erlösungsantisemitischen 26 "ideologischen, globalen und totalen Charakter" (Bauer 2001, 75) gekennzeichnet 27 - mit den Juden in einer ganz bestimmten weltanschaulichen Rolle und Stufe in der Opferhierarchie. Für sie bestand keine wie auch immer geartete Möglichkeit der Konversion oder einer unterwerfenden Geste, die das Überleben auch nur einer Minderheit gesichert hätte. In ihrer Zuschreibung als gebürtige ,Feinde der Völker' waren sie ebenso alternativlos wie ausweglos als Opfer bestimmt und sollten total und global ausgerottet werden. Diner betont hierbei zu Recht, dass der Holocaust "als eine bloße Vernichtung jenseits von Krieg, Konflikt und Gegnerschaft" (Diner 2007a, 81) im bisher bekannten Sinne, aber auch jenseits einer territorialen Verdrängungs- oder ökonomischen Ausbeutungsabsicht stand, was ihn von kolonialer Gewalt und Kolonialgenoziden unterscheidet. Keineswegs sollte zudem an den Juden experimentell die 28 totale Beherrschbarkeit des Menschen erwiesen werden, wie Arendt behauptet. Das Ziel war Vernichtung. Der Holocaust war schließlich auch im strengen Sinne kein "Terror", mit dem eine Bevölkerungsgruppe in Angst und Schrecken versetzt und zu einem bestimmten Handeln gezwungen werden sollte und kein bloßes "Kriegsverbrechen" .29 3. Die Realisierung der Shoah und ihre institutionellen Bedingungen weisen einen weitgehenden Bruch mit bürokratischer und bürgerlich-rechtsstaatlicher Verfahrcns-Rationalität auf: Die "kämpfende Verwaltung" (Wildt 2008, 203), persönliche Gefolgschaft und charismatische Herrschaft, "führerunmittelbare Stabsorganisationen" (Bach 2010, 222), polykratische Tendenzen, Ablehnung formaler Gesetzesbindung und der Drang auf unmittelbare Wertverwirklichung traten an deren Stelle oder zumindest neben sie. 30

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dern ein rassistisch legitimierbares Mittel zur Durchsetzung kontinentalimperialistischer Ziele." Das Verhältnis von ökonomisch-territorialen Zielen und Vernichtungsideologie ist im Falle der ,,'Endlösung' [... ) genau umgekehrt. Denn hier lag [... ) das vornehmliche Interesse des NS-Regimes in der ,Beseitigung' der Juden [... ), letztlich in ihrer Ermordung". Wenn von ökonomischer oder militärischer Rationalität der Mittel und Zwecke gesprochen wird, bedeutet das an dieser Stelle also keineswegs eine moralische Bewertung dieser Mittel und Zwecke. Solche Rationalisierungen sind dann z.B. ,,'Säuberung des Hinterlandes' der Ostfront [... ) oder die ,Aushebung von Partisanennestern '" (Herbert 1998, 59) oder ,den Juden das Arbeiten lehren' (v gl. dazu Herbert 1987, Goldhagen 1998, Teil IV). Vgl. u.a. Browning 1991, Herbert 1987, 209, 217, Herbert 1998, 58ff. Vgl. Wistrich 1987,21, Friedländer 2008,101. Vgl. auch Katz 1981. Vgl. Arendt 1998,907. Vgl. zum Vernichtungsziel: Friedländer 2008, 877ff. sowie für die Aktion Reinhardt als "Kern des Holocaust": Lehnstaedt 2017. Vgl. dazu bereits detailliert: Jäger 1982, Kap. IV. Vgl. Fraenkel 1974, Müller 1989, Neumann 1993, Schäfer 1994, Broszat 1995, Seibel 1998, Lozowick 2000, Wildt 2008, Bach 2010.

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4. Das Ziel der Vernichtung der Juden war auch in dem Sinne irrational, als mit ihm schon zu dieser Zeit belegbar ungerechtfertigte und unwahre Auffassungen über die Welt und insbesondere die Juden verbunden waren, z.B. die Vorstellung der Juden als verschwörerische Parasiten und aktiver Faktor der ,,'Dekomposition' von Völkern und Rassen" (Hitler 1943, 498) oder die Idee einer biologisch bestimmbaren arischen Rasse, deren Reinheit und Entfaltung es vor dem ,jüdischen Völkergift' zu bewahren gälte. Trotz des ungerechtfertigten und unwahren Charakters der antisemitischen Weltanschauung hielten die Täter an dieser fest, weil sie Ausdruck hasserfüllter, pathischer, "falscher Projektion" (Horkheimer/ Adorno 1997, 217, 219) war. 5. Insofern war die Vernichtung auch nicht ,selbstzweckhaft' im strengen Sinne, denn die Vernichtung der Juden war im Denken der Antisemiten wiederum Mittel zur Erreichung des von ihnen imaginierten Zwecks der Realisierung unbedingter völkischer oder rassischer Einheit, der Reinigung der (modernen/kapitalistischen) Volksgemeinschaft von ihren abstrakten und konflikthaften Momenten, die in den Juden inkarniert wurden. Dieser Zweck ist im strengen Sinne irrational, weil er prinzipiell nicht, erst recht nicht mit dem Mittel der Judenvernichtung, erreichbar ist und auf unwahren und ungerechtfertigten Annahmen beruht. 6. Die Vernichtung wurde häufig ohne Rücksicht auf die Folgen, sogar auf die Frage der akuten Selbsterhaltung des Regimes und des Volkes, als unbedingte Pflicht verfolgt und nicht nochmals mit anderen Zwecken abgewogen. Diner betont in diesem Zusammenhang zu Recht das Phänomen des noch "die eigene Selbererhaltung dementierenden Handeins der Nazis". (Diner 2007a, 28) 7. Die einzig ,rationalen' Momente waren das der planmäßigen Vernichtung, die, um es zu wiederholen, nicht mit bürokratischer Verfahrens rationalität verwechselt werden darf, und die triebökonomische Binnenrationalität auf der Basis irrationaler Vorstellungen und Zwecke. Denn die Vernichtung diente einer triebökonomischen Ersatzbefriedigung in der imaginären Kompensation gesellschaftlich produzierter Ohnmacht durch bedingungslose Identifikation mit der Volksgemeinschaft und durch projektive Abwehr innerer Konflikte mittels der Feinderklärung gegenüber den Juden. Diese Befriedigung wurde in symbolischen und manifest gewalttätigen Praktiken volksgemeinschaftlicher Inszenierung real erlebt und war insofern zumindest eine psychische Realität. 3l 2. Überlagerung der Erinnerung, Verstellung des Blicks, Holocaustrebtivierung Der Blick auf die Spezifik des Holocaust wurde schon unmittelbar nach der Vernichtungstat verstellt: "Zwar herrschte schon mit Ausgang des Krieges die Überzeugung vor, etwas Ungeheuerliches habe sich zugetragen. Doch solch eher ahnendes Erkennen sollte sich im Übergang von den ausgehenden 1940er Jahren in die anbrechenden 50er hinein verflüchtigen." (Diner 2007a, 7) In den Staaten des Westens und des Ostblocks wurden, so auch Jan Gerber im Anschluss an Diner, die 31

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Vgl. Steil 1984,21, Wildt 2007 sowie Reichardt 2009, 112-115, 562f., 592. Zum Begriff der psychischen Realität vgl. Laplanche/Pontalis 1994, 425ff.

atomare Drohung und der Kalte Krieg zusammen mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der metropolitanen Staaten und einem damit einhergehenden Geschichtsoptimismus an die Stelle von Auschwitz gesetzt. 32 Hiroshima und Auschwitz,33 oder, wenn auf den Holocaust überhaupt genauer eingegangen wurde: Buchenwald und Auschwitz 34 wurden auch und gerade in kritischeren Zeitdiagnosen in einem Atemzug genannt, Diagnosen, die meist die Moderne schlechthin oder gar die Zivilisation für die Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg verantwortlich machten. Hinzu trat der Antifaschismus des staats- und parteioffiziellen Marxismus, der den Nationalsozialismus lediglich als faschistischen Kampf der bürgerlichen Eliten gegen die Arbeiterbewegung und als antiparlamentarische kapitalistische KrisenIäsung betrachtete und dem jeder Begriff von Antisemitismus abging. Selbst für nichtkommunistische Staaten wie Frankreich, in dessen Resistance aber der kommunistische Widerstand eine bedeutende Rolle spielte, diagnostizieren Finkielkraut und Diner eine Ersetzung des Gedenkens an die Opfer als Opfer durch einen nationalen Helden- und Widerstands diskurs: "Der "Glanz der Helden" "überdeckt" hier "das Desaster der Unschuldigen". (Finkielkraut 1989b, 32) Was in den westlichen Staaten eine Verdeckung und in Deutschland ein aus den Motiven der Täternation heraus erklärbarer Prozess der beredten Verdrängung war,35 wird nun im Kontext der Konstellationen des Kalten Krieges und der strukturell antisemitischen marxistisch-leninistischen Ideologie 36 zu einer Fortführung des

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Vgl. Diner 2007a, 10f., Gerber 2009, 41ff., Gerber 2017, 265f. Es ist zu betonen, dass bereits die Konzentration auf Auschwitz einige historische Verdeckungseffekte haben kann, sowohl aufgrund der Differenz des Lagers zu denen der Aktion Reinhardt (vgl. Gerber 2017, 267ff., Lehnstaedt 2017, 9) als auch wegen der Tatsache, dass ein hoher Prozentsatz der Juden "in sehr traditionellen, nachgerade archaischen Formen" hinter der Front ermordet wurde. (Herbert 1998,57) Vgl. Anders 1993, 94f., Adorno 2014,14. Vgl. dazu auch Diner 2007a, 79. Arendt ist ein Paradebeispiel für diese Tendenz, vgl. Fußnote 48. Zu den historiographischen Verdrängungs- und Verdeckungsstrategien in Deutschland vgl. detailliert: Berg 2004 sowie zur politischen Erinnerungskultur insgesamt: Salzborn 2020 . Das antiimperialistische Weltbild des Marxismus-Leninismus geht zunächst von einem personalistisch verstandenen Gegensatz Bourgeoisie-Proletariat aus, um dann sukzessive alle Klassen, auch Kleinbürgertum und bestimmte Kapitalfraktionen, dem ,schaffenden Volk' zu subsumieren, dem dann zunächst das ,Groß'- oder ,Monopolkapital', das ,Finanzkapital' und schließlich das ,internationale oder kosmopolitische Finanzkapital' als ,Feind der Völker' gegenübergestellt wird. Diese personalisierende, verschwörungs theoretische, manichäische und ideologisch homogenisierte, meist nationale, Kollektive unterstellende Theoriestruktur haben vor allem herausgearbeitet: Wistrich 1987,344-412, Haury 1992,138-155, Haury 2002, Kap. 4-6, Rensmann 2005, Kap. 6.3, Holz 2010, Kap. VII, Kistenmacher 2016a. Obwohl der ML strukturell antisemitisch ist, haben Marxisten-Leninisten, wie Lenin selbst, sich vor allem in der Frühphase der Sowjetunion gegen den Antisemitismus ausgesprochen und ihn offensiv bekämpft, vgl. Poliakov 1992, 40-47, Haury 2002,211-223. Auch der Antizionismus des ML vor 1933 hatte häufig keine antisemitischen Intentionen, auch wenn es bereits in den 20er und 30er Jahren antisemitischen Antizionismus in der Kommunistischen Internationale und der KPD gab, vgl. Kistenmacher 2016a, Kap. 5, Grigat 2014, 67-77. Dabei scheuten Kommunisten auch nicht vor der Unterstützung islamistischer Akteure zurück, vgl. ebd.

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Kampfes gegen die Juden - unter dem Deckmantel eines pervertierten Antifaschismus und Antiimperialismus. 37 Der Kampf von Antisemiten gegen Juden war also 1945 nicht zu Ende. Er ging weiter, zunächst vor allem mit panarabischen Nationalisten als Hauptakteuren - im ideologischen und ab Mitte der 50er Jahre zum Teil im offiziellen politischen Bündnis mit der realsozialistischen Welt -, später übernehmen Islamisten die Führungsrolle. Die UdSSR, die DDR und andere Staaten des Ostblocks führten nicht nur seit Ende der 40er/ Anfang der 50er Jahre antisemitische Schau- bzw. Geheimprozesse oder ,Antikosmopolitismus'- bzw. ,Antizionismuskampagnen' durch und vertrieben, wie Polen, mit ihnen viele Juden/ 8 sie versorgten später auch Länder wie Ägypten oder Syrien und Terrorbanden wie die PLO massiv mit Waffen, militärischen Ausbildern und sonstiger Hilfe. Dabei unterstützten sie sie mit Israel dämonisierender Lügenpropaganda in der UNO oder in ihrer heimischen Presse, ob Neues Deutschland oder Iswestija geheißen. 3? Es war dabei die perfide Strategie des Ostblocks, Israels existentielle Bedrohung durchgängig zu leugnen, es als imperialistisch-rassistischen Aggressor, gar als Gefahr für den Weltfrieden zu dämonisieren und zugleich die schlimmsten Feinde des jüdischen Staates zu unterstützen. 40 Die arabischen Länder und Terrorbanden wollten erklärtermaßen die Vernichtung Israels, die Ermordung oder zumindest Vertreibung der israelischen Juden. 41 Bereits 1948, als der Ostblock Israel noch unterstützte, drohte der Generalsekretär der Arabischen Liga Abdel Rahman Azzam angesichts des bevorstehenden arabischen Angriffskriegs gegen Israel: "We will sweep them into the sea!" "This will be a war of extermination and momentous massacre which will be spoken of like the Mongolian massacre and the Crusades"j "if apart, even though only a small part, of the Arab body were infected, that part must be cut away to allow the whole to recover." (Zit. nach Karsh 2011, 209, 214) Solche Drohungen wurden in den folgenden Jahren zum Standardrepertoire vieler arabischer Staatsführer, Medien und islamischer Autoritäten. 42 Dabei spielten bereits früh Vorstellungen von der "Existenz einer internationalen, im dunkeln operierenden Verschwörung, die ihr politisches Zentrum in Israel und ihr Hinterland in der Diaspora hat" (Wistrich 1987, 25) eine Rolle. 43 Auch westliche linksradikale Organisationen und Ter37

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V gl. Wistrich 1987, 24ff., Herf 2019. Vgl. Poliakov 1992,49-92, 113-123, Herf 1998, 130-193, Haury 2002, Kap. 6, Holz 2010, Kap. VII, Gerber 2016, Lorenz/Dahl2019, 545-558. Vgl. ausführlich Herf 2019. Vgl. Herf 2019,22,59, 25M., 317, 332f., 342, 483. Zur ethnischen Säuberungs konzeption arabischer Kräfte und zur Vertreibung der Juden aus der arabischen Welt vgl. Morris 2008, 407-416, Karsh 2011, 192f., 227f. Weinstock 2019, Grigat 2020b. Vgl. Segev 2007, 345f., Karsh 2011, 17ff., 32, 192f., 209, 227; Herf 2019, 55f., 75f., 111-114, 192,271,331,346, 389f., 408ff., 439, Weinstock 2019, 366-376. Zum eliminatorischen Charakter weiter Teile des panarabischen und vor allem des islamischen Antisemitismus im 20. Jahrhundert vgl. Wistrich 1987,303-343, Mallmann/Cüppers 2011, 45, 10M., 114-118, 22lff., 237,251, Wistrich 2012, Rosenfeld 2015, 243-250, Bauer 2018,35,38, 44ff., 54ff., 75f., Weinstock 2019, 379, Grigat 2020a. Neben den einschlägigen antisemitischen Äußerungen Amin el-Husseinis sind u.v.a. auch die Hitler-Bcgcisterung von Sadat oder die positiven Bezugnahmen Nassers auf die Protokolle der

roristen beteiligten sich an antisemitischer Propaganda und Terrorakten. H War es also im Westen in der Regel ein Verleugnen, Ignorieren, Verdecken bis hin zur völligen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des neuen jüdischen Staates, so etablierte sich im staats offiziellen Marxismus-Leninismus des Ostblocks und in Teilen der westlichen radikalen Linken ein wegweisendes ideologisches Bündnis, das noch große Teile der heutigen Linken prägt: das antizionistische Bündnis mit antisemitischen ,antikolonialen' Diktaturen und Bewegungen. 45 Hier entgeht Diner die Tatsache, dass die sozialistische und kommunistische Linke "die der kolonialen Situation eigene Verkehrung jener Begriffe und Kategorien, mit deren Hilfe sie ihre eigene Welt zu deuten und zu erklären gewohnt war", nämlich die Verkehrung bzw. Vertauschung von ,Klasse' und ,Volk'46, keineswegs "übersah" (Diner 2007a, 77), sondern diese Verkehrung in Gestalt des Antiimperialismus seit Beginn des 20. Jahr47 hunderts selbst vorbereitete und sogar auf die metropolitanen Staaten übertrug. Die Wendung von Klasse zu Volk/Nation war hier längst vollzogen. In dieses personalisierende, verschwörungs theoretische, homogene Gemeinschaften konstruierende und manichäische Deutungsmuster des vor allem marxistisch-leninistischen Antiimperialismus musste dann die postmodern-antirassistische Linke später nur noch die Konzepte von "Rasse"/"race" mit ihrer ganz eigenen Farbenlehre eintragen. Aber zurück zum gedächtnispolitischen Laboratorium Frankreich, das in den Beiträgen von Finkiclkraut und Diner im Mittelpunkt steht: Die Heldengeschichten der Resistance beschworen die Gattungseinheit gegen den rassistischen Partikularismus der Nazis. Es sei, so "der ehemalige Buchenwald-Häftling Roben Antelme [... ] den Deutschen nicht gelungen [ ... ], die ,Einheit der Menschen' zu zerstören." (Gerber 2019, 2) Dieses "Pathos des Trotzes" hatte aber, worauf Gerber treffend hinweist, mit der Wirklichkeit der Opferhierarchien im Holocaust nicht das Geringste zu tun, ja es wurde zur Lüge, wenn mit der "Einheit der Gattung [... ] auch [die] des Leidens" (2) unterstellt wurde. 48 Die Beschwörung der Gattungseinheit

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Weisen von Zion zu nennen (vgl. die vorhergehende Fußnote). Exemplarisch auch folgende Äußerung Muhammad Nimr al-Khatibs, palästinensischer Islamist, aus dem Jahr 1951: "We are fighting an organized, educated, cunning, devious, and evil people that has concentrated the world's wealth and power in its hands [... ] We are fighting the powers that have prevailed over the entire world, we are fighting the power that buried Hitler and defeated Japan, we are fighting World Zionism that has Truman in its pay, enslaves Churchill and Attlee, and colonizes London, New York, and Washington." (Zit. nach Karsh 2011, 3) Vgl. Kloke 1990, Haury 1992, Gerber 2007, Herf 2019. Auch der Westen unterstützte freilich im Kampf gegen den Ostblock teilweise in Gestalt von Islamisten judenfeindliche Kräfte. Diese Unterstützung hatte aber keinen offensiv antizionistischen Charakter. Hier geht Diner allerdings den Legitimationserzählungen der Kolonisierten auf den Leim, wenn er behauptet, die koloniale Situation lasse "keine Differenzierung jenseits der bloßen Herkunft zu" (Diner 2007a, 75). Vgl. dazu Haury 2002 sowie den Beitrag zu bclau im vorliegenden Band. Hannah Arendt knüpft in ihrer Verwischung der Differenz der bgertypen des NS denn auch direkt an die Erinnerungen derjenigen ehemaligen Häftlinge an, die sorgsam darauf achteten, dass den Juden kein spezifischer Opferstatus zuerkannt wurde, z.B. David Rousset oder

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durch Linke wird so zur - bereits 1946 von Jean-Paul Sartre hellsichtig beschriebenen 49 - Falle für die Juden, denn nicht nur beansprucht die Resistance gegen alle historischen Fakten denselben Opferstatus, sie verweigert mit der Beschwörung der Menschheit den Juden im nächsten Schritt auch jeden Anspruch auf Selbstschutz in Gestalt des zionistischen ,Partikularismus'. Der Jude soll sich, weil er als Opfer ja angeblich nichts anderes war als man selbst als Liberaler oder Kommunist, wieder als bloßer Mensch in gen au die Gesellschaften einfügen, die ihn als Menschen nicht anerkannt haben, mit genau den Linken und Liberalen als Bündnispartnern, die höchstens "leidenschaftslose Verteidiger" waren (Sartre 1994a, 46), wenn nicht einfach Gleichgültige oder Schlimmeres. Die eigene Unfähigkeit, einen Begriff von Antisemitismus oder der Spezifik des Holocaust zu entwickeln, führt dazu, den Juden ihre bittere historische Erkenntnis, dass es nur Juden sind, die sich im Falle existentieller Gefahr um das Schicksal der Juden bekümmern werden, als unverzeihlichen Partikularismus, als unerklärliche Verstocktheit anzulasten. "Obwohl die Juden erst in einer Zwangssituation, wie sie in der Neuzeit keinem anderen Volk widerfahren ist, zu Nationalisten wurden, ,,50 schreibt Robert Wistrich, "zeigen sich selbst ,aufgeklärte' Antizionisten häufig erstaunt darüber, daß die Juden nicht bereit sind, sich zu assimilieren und als Volk zu verschwinden." (Wistrich 1987,409) Umso begeisterter nimmt der ,toxische' antizionistische Universalismus die Stimme derjenigen wahr, die, wie heutzutage Judith Butler oder Moshe Zuckermann, aus ,jüdischer Perspektive' ein Hoch auf die Diaspora aussprechen, die antisemitische Bedrohung im Nahen Osten ignorieren und die jüdische Selbstverteidigung im Namen hehrer Menschheitsideale bekämpfen. 51 Im Kontext des Prozesses gegen den Nazi-Täter Klaus Barbie im Jahr 1987 erhält dieser falsche Universalismus eine neue erinnerungspolitische Qualität. Zunächst steigert sich der oben beschriebene Pseudouniversalismus der Linken zur "paradox[enJ" Rückübersetzung von Helden des Widerstands in Opfer, "wenn die Resistance-Verbände für die Ausweitung des Begriffes Verbrechen gegen die Menschheit kämpfen und heute den Status fordern, den sie damals von sich wiesen." Bruno Bettelheim. Vgl. zu Rousset: Gerber 2019,2, zu Bettelheim: Robinson 1970 und Kettner 2011 sowie zu Arendts Quellen: Aharony 2013. Vgl. Sartre 1994a, 36ff., 81f. Der falsche Universalismus habe "ihn dazu gebracht, in einer Welt, die ihn verstößt, dem unerfüllbaren Traum allgemeiner Brüderlichkeit nachzujagen." so

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(81f.) Vgl. bereits die klassische Reflexion Theodor Herzls im Judenstaat: "Wir sind ein Volk, Ein Volk. Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man läßt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwengliche Patrioten [... ] In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrien [... ] Wenn man uns in Ruhe ließe ... Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen. [... ] Nur der Druck presst uns wieder an den alten Stamm, nur der Haß unserer Umgebung macht uns wieder zu Fremden. So sind und bleiben wir denn, ob wir es wollen oder nicht, eine historische Gruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit. Wir sind ein Volk - der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu [... ] In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft." (Herzl 1996, 16, 33) Vgl. Zuckermann 2004, Butler 2013, 277.

(Finkielkraut 1989b, 34)52 Der ermordete oder gefolterte politische Kämpfer wird mit dem vergasten Juden auf eine Stufe gestellt, ja, die "Emblematik der Tortur verdeckt" nun sogar "die der Extermination". (Diner 2007a, 79) Damit wird endgültig die Differenz zwischen Kriegsverbrechen und Holocaust eingeebnet - der radikale Unterschied zwischen Feindschaft in einer "Welt der Taten" und Opferschaft in einer Welt der "Untaten" (Finkielkraut 1989b, 37), "zwischen der Opferschaft aus Gründen einer politischen Entscheidung einerseits und der Vernichtung allein aus Gründen der Herkunft" andererseits. (Diner 2007a, 79) Der kommunistische "Feind", schreibt Finkielkraut, bleibt nämlich "Herr seiner eigenen Entscheidungen" (Finkielkraut 1989b, 37), er hat den Widerstand gewählt. Der Jude "sühnt nicht seine Taten, sondern seine Geburt. Man wählt nicht zwischen Überleben und Risiko, ruhiger Kugel oder Auflehnung". (38) Im Barbie-Prozess verbindet sich diese linke Opfererzählung in einem zweiten Schritt mit der postkolonialen Auschwitzrelativierung, die unmittelbar nach 1945 von Autoren wie Aime Cesaire oder W.E.B. Du Bois formuliert wurde. Ccsaire ging es bereits 1950 darum, dem "ach so humanistischen, ach so christlichen Bourgeois des 20. Jahrhunderts begreiflich zu machen, dass er selbst einen Hitler in sich trägt, ohne es zu wissen, dass Hitler ihn bewohnt, dass Hitler sein innerer Dilmon ist, dass sein Wettern gegen ihn Mangel an Logik ist und dass im Grunde das, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen ist, nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen und dass er, Hitler, kolonialistische Methoden auf Europa angewendet hat, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Neger Afrikas ausgesetzt waren." (Cesaire 2017, 28f.) Nun wird die Perspektive der ehemals Kolonisierten bzw. der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen der Dritten Welt in den metropolitanen Diskurs integriert, was endgültig zum Verlust des "historischen Urteilsvermögens" führt, an dessen Stelle "ein universell drapierter moralisierender Diskurs über unterschiedslose Opferschaft" tritt. (Diner 2007a, 9)53 Während man den Verstellungen des Blicks auf die Judenvernichtung in der unmittelbaren Nachkriegszeit trotz des auch damals schon erreichten Kenntnisstands noch zugestehen konnte, dass man in den 50er Jahren von einer systematischen historiographischen Aufarbeitung des Holocaust noch weit entfernt war, vollzieht sich der heutige postkoloniale Diskurs vor dem Hintergrund einer nahezu umfassenden geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis der Fakten und Zusammenhänge der Judenvernichtung. Das macht diese Verstellung zu einem buchstäblich reaktionären Phänomen. Es ist nun genau diese Konstellation, die Finkielkraut in seinem Essay Die vergebliche Erinnerung aus dem Jahr 1989 anhand des Barbie-Prozesses herausarbeitet. Er beschreibt ihn als Eröffnung eines "Raum[es] für allseitige, beharrliche Manöver [... ], einem verfälschten Sieg der Erinnerung eine trügerische Ausweitung des Begriffs Verbrechen gegen die Menschheit zur Seite zu stellen". Der Prozess leite ein 52

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Zum Streit über die Ausweitung des Begriffs ,Verbrechen gegen die Menschheit' im Vorfeld des Prozesses vgl. Finkielkraut 1989b, 33f. V gl. auch Finkielkraut 1989b, 69, 72f.

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Erinnern ein, im Vergleich zu dem ein Vergessen des Holocaust noch "die geringere Gefahr" sei. (Finkielkraut 1989b, 26) Barbies Verteidigung wird finanziert vom "Schweizer Millionär Fran