Geschlecht und Postmoderne: Zur Auslotung eines komplexen Verhältnisses am Beispiel des niederländischsprachigen Romans 9783737003315, 9783847103318, 9783847003311

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Geschlecht und Postmoderne: Zur Auslotung eines komplexen Verhältnisses am Beispiel des niederländischsprachigen Romans
 9783737003315, 9783847103318, 9783847003311

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Johanna Bundschuh-van Duikeren

Geschlecht und Postmoderne Zur Auslotung eines komplexen Verhältnisses am Beispiel des niederländischsprachigen Romans

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0331-8 ISBN 978-3-8470-0331-1 (E-Book) Diss., Freie Universität Berlin, 2013 Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Theres Cassini, balance akte #94. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Postmoderne und Postmodernismus . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Poststrukturalismus und Dekonstruktion . . . . . . . . . . . 1.3 Feministische Theorie und die Anderen – eine postmoderne Positionsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die niederländische Postmodernismus-Debatte . . . . . . . .

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2 Methodische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Mögliche Welten als Modell der Beziehung zwischen Text und Welt 2.1.1 Die Rolle der Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die Besonderheiten postmoderner Welten . . . . . . . . . . . 2.1.3 Implikationen der Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Feministische Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Erzählstimmen und wahrnehmende Blicke . . . . . . . . . . 2.2.2 Figuren und andere Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Essay, Fiktion und Enzyklopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die dichotomische (Un-)Ordnung der textuellen Welt . . . . . 3.3 Die Auflösung der Dichotomien in figuralen Dopplungen . . . 3.3.1 Doppelgänger en masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Tier und/oder Mensch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Frau und Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Dichotomien im Werkzusammenhang . . . . . . . . . . . 3.4 Die Marginalisierung der weiblichen Stimme . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.4.1 Männliche Imaginationen . . . . . . . . 3.5 Die Figur der Wiederholung . . . . . . . . . 3.6 Die Rolle intertextueller Verweise . . . . . . . 3.6.1 Intertextualität im Werkzusammenhang 3.7 Postmoderne Ironie und Geschlechterparodie 3.8 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . .

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4 Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers 4.1 Diegetische Dopplungen und Identität . . . . . . . . . . . . . 4.2 Dialog, Profilierung und Exklusion . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Asymmetrie der Geschlechter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die weibliche Perversion der Madame Bovary . . . . . . 4.4 Narrative Wende und Emanzipation im Bildungsroman . . . 4.5 Phallus und (symbolische) Kastration . . . . . . . . . . . . . 4.6 Weibliche Subjektentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Die Wahrheit des Körpers und der Hermaphrodit – Peter Verhelst 5.1 Das Geschlecht der Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Lesarten der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Ich ist ein Anderer – multiple Identitäten . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Cross-Dressing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Phantastische Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Doppelgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Aufeinanderfolgende Existenzen und die Kontinuität des Geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Das dritte Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Gegenläufige Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Befreiung aus der heterosexuellen Norm . . . . . . . . . . 5.6 Androgynität und Hermaphroditismus . . . . . . . . . . . . . 5.6.1 Androgynität und notwendiges Scheitern . . . . . . . . . 5.7 Subjekt und Objekt in Kunst, Blick und Begehren . . . . . . . . 5.8 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans 6.1 Narrative männliche Dominanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Appellation und Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Referentielle Praxis und die universale Frau . . . . . . . . . 6.3 Groteske Entgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Die transgressive Realisierung des sterblichen Körpers . . .

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Inhalt

6.4 Doppelgänger und Rivalen . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Maskulinität zwischen Substantialität und Maskerade 6.6 Phantasmen des Weiblichen . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Sexualität und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . .

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7 Aus der Vogelperspektive – Figuren, Körper, Geschlechter . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Ich danke … Jan Konst für die Offenheit, mich mein Thema trotz anderer, naheliegender Möglichkeiten bearbeiten zu lassen, für die große Geduld im Entstehungsprozess und für die ansteckende Begeisterung für die Literaturwissenschaft. Thomas Vaessens für die Bereitschaft, als zweiter Gutachter zu fungieren. Jaap Grave für die wissenschaftliche Initialzündung, ohne die ich mich an vieles nicht herangewagt hätte. Gijsbert Pols für hilfreiche Anmerkungen und die bereichernde gemeinsame Promotionszeit. Katharina Rhode für die Korrektur des Manuskripts und die Rettung aus »lost in translation«. Meinen Eltern für die Vermittlung der Liebe zum Lesen, aber auch für die wunderbare organisatorische Unterstützung während des Schreibens. Meinen Schwiegereltern für sehr geschätzten Rat und viel Tat trotz des geographischen Abstandes. Und vor allem: Bart, dem dieses Buch auch gewidmet ist.

Einleitung

»The closer we are to Postmodernism, the more we may be biased and the more we should suspect the temptation of identifying ourselves with the artistic and nonartistic goals of Postmodernism. A myopic view may make us blind to both the assets and the liabilities of the postmodern world view, to the possibilities as well as the restrictions of its language« (Fokkema 1986a: 2).

Wie steht es um die Geschlechterdifferenz in postmoderner Literatur? Oder, polemischer : Wie emanzipiert ist der Postmodernismus? Fast überflüssig erscheint die Fragestellung, vergleicht man die vielbesprochenen Agenden postmodernen und zeitgenössischen feministischen Denkens. Mit der Destabilisierung kultureller Repräsentationen, der Kritik am Konzept der Subjektivität, der Ablehnung dichotomischer Ordnungssysteme und der Entlarvung von Machtmechanismen teilen Postmodernismus und Feminismus einen Diskurs (Curti 1998: 2), gehen scheinbar Hand in Hand. Dennoch ist die gängige Annahme, Postmoderne und Postmodernismus hätten sich den Feminismus bzw. die Gender Studies oder andere kritische Strömungen bereits begrifflich einverleibt, trügerisch, wie NoÚl Carroll bemerkt: »Conceived of as part of an integrated package of ›good objects‹, postmodernism is thought to have intimate conceptual relations with the poststructuralist and multicultural commitments of the academic intelligentsia in the humanities. Yet surely this package-view of postmodernism is nothing but a wish-fulfillment fantasy« (Carroll 1997: 93).

Vielleicht lohnt es also doch, genauer hinzusehen. Der von Carroll angeprangerte »package-view«, die begriffliche Verstrickung und ihre Konsequenzen, soll im Folgenden unter dem Vergrößerungsglas der niederländischen Literaturwissenschaft betrachtet werden. Die Auswirkungen von Verwandtschaftspostulaten zwischen verschiedenen theoretischen Strängen zeigen sich dort durch eine zeitliche Komprimierung der Entwicklungen nämlich besonders deutlich, wie hier ausgeführt werden soll. Während die Nachlassverwalter des Postmodernismus auf internationaler

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Einleitung

Ebene bereits seit längerer Zeit eifrig am Werk sind, ist die Verkündigung des Endes des Postmodernismus im niederländischen Sprachraum eine Entwicklung der letzten Jahre (Vaessens 2009, van Adrichem et al. 2010, Vaessens 2011, Vaessens/Van Dijk 2011), hat sich dort der Begriff des Postmodernismus doch überhaupt erst mit starker Verzögerung etabliert. Die meisten Kritiker, so schrieb der flämische Literaturwissenschaftler Bart Vervaeck noch in den 1990er Jahren, läsen postmoderne Romane mit einem veralteten, längst nicht mehr adäquaten Referenzrahmen (Vervaeck 1999: 9). Gängige literaturwissenschaftliche Ansätze wie psychologische Interpretationsmodelle, aber auch die strukturalistische Narratologie fungierten in der Konfrontation mit den zeitgenössischen Texten notgedrungen als Negativbeschreibung. Dies bewegte Vervaeck dazu, in der Gestalt von Het postmodernisme in de Nederlandse und Vlaamse roman eine vielbeachtete Untersuchung zur niederländischsprachigen Ausprägung postmodernen Romanschaffens vorzulegen: Postmoderne Texte sollten »zugänglicher«1 werden (Vervaeck 1999: 9), indem die ihnen zugrundeliegende Weltsicht anhand einer umfassenden Typologie dargestellt wurde. Es ist vor allem das Sprachverständnis der Poststrukturalisten, das Vervaeck heranzieht, um die Erwartungshaltung an jene Texte zu modifizieren. Schon acht Jahre nach Erscheinen seines Buches veröffentlichte Vervaeck einen Aufsatz, in dem er schlussfolgerte, »das Unverständnis« für postmoderne Literatur sei »Geschichte« (Vervaeck 2007: 163). Es zeichne sich eine Kanonisierung dieser Texte ab, und auch die einschlägige Vergabe wichtiger Literaturpreise2 sei ein Zeichen für die Toleranz des Literaturbetriebs für »schwierige, nicht-traditionelle und postmoderne Literatur« (Vervaeck 2007: 163). Innerhalb kürzester Zeit hatte sich die Wahrnehmung der Texte gewandelt.3 »Ik moet dus besluiten dat de postmoderne roman nog lang niet dood is. Of beter : dat het nog steeds rendeert om romans te lezen met de bril uit Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman«4 (Vervaeck 2007: 163).

Auch wenn Aktualität und »Lebendigkeit« des Postmodernismus wenige Jahre später dann doch auch im niederländischen Sprachraum bezweifelt wurden, soll 1 Eigene Übersetzung. Für die gesamte Arbeit gilt: Alle Übertragungen ins Deutsche sind, soweit nicht anders angegeben, eigene Übersetzungen. 2 Unter anderem übrigens an alle vier der in der vorliegenden Studie exemplarisch behandelten Autoren. 3 Hier ist sicherlich nicht nur von dem Zeitraum ab der Publikation von Het postmodernisme auszugehen. Wie unter Abschnitt 1.4 dargestellt, setzt die intensive, auch von theoretischen Überlegungen begleitete Rezeption im Rahmen des Postmodernismus – allerdings noch in Form von Einzelstudien – in den späten 1980er Jahren ein. 4 Übers.: »Ich muss daraus schließen, dass der postmoderne Roman noch lange nicht tot ist. Oder besser : dass es sich noch immer lohnt, Romane mit jener Brille aus Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman zu lesen.«

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es im Folgenden um jene im Zitat angesprochene »Brille« gehen, durch welche Romane aus der kurzen Hochphase des niederländischen Postmodernismus um die 1990er und beginnenden 2000er Jahre betrachtet wurden. Literaturgeschichtliche Kategorien seien, so schreibt David Perkins, »heuristic constructions and help us to see some things more clearly by obscuring others« (Perkins 1992: 14), ein Satz, der sich sinnvoll auch auf Vervaecks Abhandlung anwenden lässt.5 Das Verständnis des Postmodernismus, das aus Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman spricht, ist geprägt von einem intellektualisierenden Zugang, der als hermetisch geltende literarische Texte vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theorien betrachtet (Vaessens 2011: 10). Was Jacques Derrida über die Sprache schreibt, indem er ihr jegliche referentielle Funktion, auch bezüglich der fundamentalen Konzepte nach-aufklärerischer Philosophie (Subjekt, Identität, Kern, Anwesenheit usw.) abspricht, wird auf die Literatur umgelegt: Auch sie wird zur »endlosen Weiterverweisung« (Vervaeck 1999: 202). Diese »unaufhörliche Grenzüberschreitung« stelle die »Fiktion« von sowohl Mimesis als auch (hermetischer) Autonomie durch die bewusste und ironische Umkehrung literarischer Prinzipien zur Schau (Vervaeck 1999: 202). Vervaecks passgenaue Postmodernismus-Brille beinhaltet, das wird hier ebenso wie an vielen anderen Stellen seines Buches deutlich, einen großen Respekt vor jenem metafiktionalen Dialog mit dem Leser, der den Konstruktcharakter des Textes hervorhebt und so referentielle Bedeutungszuweisungen erschwert oder gar verhindert, ja dieser wird gar als »zwingende« Leseanweisung verstanden (Vervaeck 1999: 147).6 Diese Hervorhebung der Metaebene entspricht der gängigen, auch interdisziplinären Wahrnehmung des Postmodernismus. Indem er als prozess- und nicht produktorientiert verstanden wird – »postmodern cultural artifacts are constantly calling attention to the ways in which both the work and the viewer are constructing, deconstructing, and reconstructing meaning« (Nealon/Searls Giroux 2012: 141) – werden etwa Warhols Bilder zu »Kunst über Kunst« und postmoderne Architektur zu »Archi-

5 Vervaeck vermeidet eine eindeutige periodische Zuordnung, wenn auch sein Textkorpus zum größten Teil aus in den 1990er erschienenen Romanen besteht, ergänzt nur durch das Œuvre der bereits seit Mitte der 1970er-Jahre publizierenden Schriftsteller Willem Brakman und Louis Ferron. 6 Dies, obwohl Vervaeck in Berufung auf Currie auch die Freiheit der Leser benennt: »The real reader can always further distance him or herself from the critical responses built into the text and from the interpellative processes of narrative technique, remaining free to construct the text from some other critical perspective not appropriated by the text itself« (Currie zitiert nach Vervaeck 2000: 147). Ein bewusstes Ignorieren aber führe im Allgemeinen, so Vervaeck, zu »obskuren und überflüssigen« Lektüren (Vervaeck 2000: 147).

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tektur über Architektur« (Nealon/Searls Giroux 2012: 141).7 Auch bei Vervaeck findet sich explizit die Vorstellung, postmoderne Romane seien zu verstehen als (theoretische) Texte über das Schreiben und Lesen von Romanen (Vervaeck 2001: 290). Der verabsolutierende Gestus dieser im Kern schlüssigen Fokussierung auf die Selbstreflexivität kann als jene von Perkins in einem allgemeinen wissenschaftstheoretischen Rahmen angesprochene verschleierte Kehrseite einer klaren Kategorisierung verstanden werden. Schließlich verhindert er weitgehend die Beschäftigung mit referentiellen oder ideologischen – und damit auch geschlechterkritischen – Aspekten der Romane auf Basis ihrer Ablehnung im Metadiskurs. Zusätzlich speist sich die Ausklammerung dieser Aspekte aus einem zweiten wesentlichen Faktor, nämlich der theoretischen Verschränkung des Postmodernismus mit Poststrukturalismus und Dekonstruktion, wie sie auch in der (universitären) niederländischen Literaturwissenschaft gepflegt wird. Eines der zentralen Postulate der Dekonstruktion formuliert einen besonderen Vertrauensvorschuss gegenüber literarischen Texten, der für die literaturwissenschaftlichen Zugänge nicht folgenlos bleibt. Poststrukturalistische Theoretiker wie Derrida und Barthes räumen insbesondere modernen literarischen Texten ein Primat über Kritik, Literaturwissenschaft und Philosophie ein, indem sie die Dekonstruktion zentraler Denkkonzepte in diesen Texten schon verwirklicht sehen. »Kunst und Literatur gelten allen Vertretern des Poststrukturalismus als exemplarisch für die Möglichkeit eines alternativen, nicht-diskursiven Zugangs zur Welt – eines Zugangs, der die ästhetische Erfahrung des nicht bereits in sinnhafte Kontexte integrierten Anderen, der Differenz, Singularität, des Ereignisses wenn schon nicht garantiert, so doch zumindest andeutet« (Münker/Roesler 2000: 116).

Mit einer solchen Sichtweise fällt die Notwendigkeit gerade von ideologiekritischen Ansätzen endgültig weg. Das, was theoretisch erwünscht ist, wird in den Texten bereits vorausgesetzt, Subjekt und Objekt der Analyse beginnen sich zu spiegeln. Gegen-Lektüren, wie es die feministische oder, (ironischerweise) die dekonstruktive Lektüre älterer Texte sind, wird für zeitgenössische Texte kein Raum zugewiesen, weil die Resultate dieser Lektüren schon in den modernen Texten verarbeitet scheinen; eine Art spezifisch geisteswissenschaftlicher Fortschrittsgläubigkeit. Insbesondere für Feminismus und Gender Studies8 führt dies zur Entstehung 7 Umgekehrt liest sich Patricia Waughs in Metafiction (1984) entworfener Merkmalskatalog selbstreflexiven Schreibens wie eine Typologie postmoderner Literatur. 8 Die Unterscheidung der Begrifflichkeiten bezieht sich hier in erster Linie auf die historische Dimension, also die wesentlich längere und mittlerweile bereits in mehrere »Wellen« der Entwicklung zu unterteilende Geschichte der feministischen Theorie gegenüber der ver-

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einer konkreten Leerstelle, die umso schmerzhafter ist, als es dem Poststrukturalismus doch um die Dekonstruktion jener kulturellen Dichotomien ging, zu denen nicht zuletzt die Geschlechterdifferenz zählt: In Roland Barthes S/Z und Jacques Derridas Eperons dominiert die Auflösung der Binarität von Männlichkeit und Weiblichkeit die Lektüre. Wird die Realisierung der Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz nun jedoch in zeitgenössischen Texten vorausgesetzt und nicht in konkreter Textarbeit aufgezeigt, verliert sich schnell ihre Spur. Übrig bleibt einzig eine Assoziation von Poststrukturalismus und Feminismus, die in ihrer Ausgestaltung einigermaßen diffus ist, auch wenn ihre Entstehung durchaus auf einer sachlichen Basis beruht.9 Die weitgehende Identifizierung der Postmoderne mit diesen poststrukturalistischen Denkfiguren bezeichnet einen weiteren Schritt in der Entwicklung des von Carroll so bezeichneten »package view«. In der niederländischen Postmodernismus-Debatte werden an einigen Stellen die begrifflichen und konzeptuellen Übertragungen sichtbar. So vergleicht Hugo Brems in seiner viel beachteten Literaturgeschichte (2006) – übrigens genau wie Alice Jardine in den 1980ern10 – den Postmodernismus mit der ¦criture f¦minine, und Bart Vervaeck beruft sich auf ein Konzept von Thomas Docherty, nach dem sich der Leser postmoderner Literatur in einer Rolle der »Alterität« wiederfindet, die auch als »feminisiert« begriffen werden kann.11 Der Mechanismus, der einer solchen Argumentation zugrunde liegt, wird auch von Molly Hite beschrieben: »Because feminism has a stake in the undoing of hierarchy and containment, it appears that writing commonly described in terms of its subversive newness, as avant-garde or postmodern, can also be described in terms of its subversive political implications, as »feminine« or feminist writing« (Hite 1989: 16 f). hältnismäßig jungen Disziplin der Gender Studies, die (auch) daraus hervorging. Auf inhaltlicher Ebene speist sich die Differenzierung aus eher graduellen Unterschieden wie der stärkeren Verankerung der Gender Studies im Feld der cultural studies, was u. a. auch eine Ausweitung des Forschunggegenstandes »Weiblichkeit« (etwa auf dem Niveau von Autoren, Figuren oder politischen Akteuren) auf verschiedene Konzepte von Geschlecht (Männlichkeit, queer studies) mit sich bringt. Es muss aber vor allem festgestellt werden, dass insbesondere im Vergleich des Feminismus der sogenannten dritten Welle mit den Gender Studies zunehmend mehr Überschneidungen in Prämissen und Forschungsobjekt festzustellen sind (vgl. Abschnitt 1.3). 9 Zentrale poststrukturalistische (z. B. Foucault, Machtkomponente in Definitionsverfahren) und feministische Konzepte (z. B. Irigaray, die Mann/Frau-Dichotomie als übergeordnete Struktur) sind aus wechselseitigen theoretischen Übernahmen und Weiterentwicklungen entstanden, vgl. Abschnitt 1.3. 10 Wie Hite beschreibt, gehörte Jardine zu einer Gruppe Feministinnen, die damals die definitorische Notwendigkeit der Verknüpfung von literarischer Postmoderne, Poststrukturalismus und ¦criture f¦minine postulierten: alle seien sie schließlich gleichermaßen »manifestations of an alternative critical discourse« (Hite 1989: 16). 11 Für eine differenzierte Auseinandersetzung verweise ich auf Abschnitt 1.4.

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Trotz dieser Betonung des »Femininen« oder – und das trifft wahrscheinlich eher zu – gerade deshalb spielte die kritische Kategorie Geschlecht bis dato keine Rolle in der systematischen Anwendung auf postmoderne Texte. Ziel meiner Arbeit ist die Hinterfragung einer solcherart poststrukturalistisch geprägten und feminisiert begriffenen postmodernen Literatur. Anhand exemplarischer Lektüren der Romane von niederländischen und flämischen Autoren möchte ich feststellen, ob die Kategorie Geschlecht im Kontext des Postmodernismus noch als stabiles Ordnungsmuster fungiert, indem ich mithilfe der feministischen Narratologie die Darstellungsverfahren von Geschlecht analysiere. Dabei plädiere ich dafür, postmoderne Texte strategisch entgegen der über metafiktionale Aussagen in ihnen verfassten Leseanleitungen mit einem klaren – in diesem Falle – ideologiekritischen Fokus zu lesen, als Ergänzung und Korrektiv zu jener gängigen »Brille«, deren tote Winkel hier bereits skizziert wurden. Denn während dem postmodernen Diskurs entsprungene Textzugänge sich vielfach als sehr fruchtbar erwiesen haben, bergen sie in ihrer Anwendung auf ebenso postmoderne Texte die Gefahr mangelnden kritischen Abstandes und der Produktion von Tautologien (vgl. Bundschuh-van Duikeren 2010: 57) und scheinen von einer Angst der Reduktion der Komplexität getrieben (Konst 2009: 273)12. Angestrebt ist mit dem hier vorgeschlagenen Verfahren nicht eine Textinterpretation klassisch-hermeneutischen Zuschnitts, sondern eine präzise Darstellung jener lokalen Verdichtungen und Überschneidungen, die erst sichtbar werden, wenn Offenheit, Aporie und Dekonstruktion nicht zu den erklärten Zielen der Analyse gehören. Auf diese Weise kann der Blick auf den Postmodernismus geschärft und um ideologiekritische Ansätze erweitert werden. Die kritische Relektüre der Romane soll einen Ausweg aus jenem Dilemma aufzeigen, dass Linda Hutcheon in A poetics of postmodernism so treffend formulierte: »What frequently seems to happen is that one half of the paradox gets conveniently ignored: postmodernism becomes either totally complicitous or totally critical, either seriously compromised or polemically oppositional. This is why it has been accused of everything from reactionary nostalgia to radical revolution« (Hutcheon 2000: 201).

Die Arbeit liefert damit erstens einen Beitrag zur Postmodernismus-Forschung, sie entwickelt aber zweitens auch einen neuen Ansatz für die Analyse der Geschlechterverhältnisse in zeitgenössischer Literatur. Nicht zuletzt soll die hier

12 Konst äußert sich in zwei Artikeln kritisch über eine Literaturwissenschaft, die insbesondere postmoderne Texte aus Angst vor einer Reduktion der Komplexität nur auf das Offenhalten und Weiterverweisen der Bedeutung hin liest. Er präsentiert eine der gängigen Lesart entgegengesetzte, referentielle hermeneutische (2009) und gemäßigt intentionalistische (2011) Analyse von Louis Ferrons De keisnijder van Fichtenwald.

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vorgelegte Studie deshalb auch eine Anregung für die Anwendung von Fragestellung und methodischem Ansatz auf andere Philologien darstellen. Terminologisch soll mit Judith Butler davon ausgegangen werden, dass die oft separierten Ebenen von sex und gender nicht zu trennen sind; ich verwende deshalb grundsätzlich den Begriff »Geschlecht«, um alle Dimension geschlechtlicher Identität anzudeuten. Wo dennoch kontextuell eine begriffliche Differenzierung notwendig ist, wird dies durch die Gegenüberstellung der Begriffe deutlich gemacht. Die geschlechterkritische Analyse, die im folgenden entfaltet wird, gilt zentralen Werken von vier Schriftstellern, die allesamt dem Kern des niederländischsprachigen Postmodernismus zugerechnet werden (Vervaeck 1999: 12), nämlich Atte Jongstra (*1956), Charlotte Mutsaers (*1942), Peter Verhelst (*1962) und Stefan Hertmans (*1951). Alle vier haben die Mehrzahl ihrer als postmodern rezipierten Romane in den 1990er Jahren bis einschließlich der frühen Jahre des neuen Jahrtausends veröffentlicht, und drei der vier Romandebüts erfolgten im Zeitraum von 1991 bis 1994,13 und damit in jener Periode, als der Begriff des Postmodernismus sich gerade in der niederländischen Literaturwissenschaft zu etablieren begonnen hatte. Im Unterschied zu einigen Romanen anderer Autoren, die in Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman besprochen werden, haben zudem alle der ausgewählten Autoren ein größeres, mehrere Gattungen umfassendes postmodernes Œuvre vorzuweisen, und sind diesbezüglich bis auf Charlotte Mutsaers selbst jeweils mit mehreren Romanen vertreten.14 Für die exemplarische Analyse im Rahmen der vorliegenden Untersuchung soll jeweils ein Roman detailliert besprochen werden, wobei in allen Fällen eine Einbettung in den Kontext der anderen postmodernen Romane des jeweiligen Autors erfolgt, um werkinterne Muster und Entwicklungen sichtbar machen zu können. Das Korpus sei zur besseren Übersicht hier aufgelistet, der hier zentral behandelte Text wird jeweils zuerst genannt:

13 Die Ausnahme ist Stefan Hertmans’ nicht postmodern rezipierter Roman Ruimte (1981), auf den – nach anderen Gattungen – erst 1994 und damit ebenfalls in dem genannten Zeitraum der Roman Naar Merelbeke folgte, der in Vervaecks Het postmodernisme in den Nederlandse en Vlaamse roman oft herangezogen wird. 14 Aufgrund dieser Auswahlkriterien fällt etwa auch ein Text wie M. Februaris Roman De zonen van het uitzicht (1989) aus dem Rahmen. In Kapitel 7 werden dessen Besonderheiten aufgrund der besonderen Relevanz seines Beitrages zur Auflösung der Geschlechterdifferenz im niederländischsprachigen Postmodernismus kurz dargestellt und in das Resümee miteinbezogen.

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Atte Jongstra:

Het Huis M. (1993) Groente (1991) Disgenoten (1998) De tegenhanger (2003) Charlotte Mutsaers: Rachels rokje (1994) Peter Verhelst: Tongkat (1999) Vloeibaar harnas (1993) Het spierenalfabet (1995) De kleurenvanger (1996) Zwellend fruit (2000) Memoires van een luipaard (2001) Zwerm (2005) Stefan Hertmans: Harder dan sneeuw (2004) Naar Merelbeke (1994) Als op de eerste dag (2001)

Der betrachtete Zeitraum umfasst mit den Jahren zwischen 1991 – 2005 und einem Schwerpunkt auf die 1990er Jahre eine Periode, die sich mehr und mehr als Hoch-Zeit des Postmodernismus im niederländischen Sprachraum abzeichnet, sowohl was das literarische Schaffen (Vervaeck 2007: 158) als auch was die literaturwissenschaftliche Wahrnehmung davon betrifft. Im Laufe des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends wandten sich schließlich einige prominente Vertreter des Postmodernismus von dessen Ästhetik ab und konventionelleren Formen zu, wie Thomas Vaessens in De revanche van de roman beschreibt (Vaessens 2009). Es ist eine besondere methodologische Herausforderung, eine letztlich ideologiekritische Lektüre an Texten zu vollziehen, die sich – das ist der gemeinsame Tenor aller Kompendien zur postmodernen Literatur – traditionellen Konzepten von Referentialität widersetzen, ist doch die Verbindung des Textes zur realen Welt genau der Ansatzpunkt, an dem sich u. a. die feministische Literaturkritik bei anderen Texten einhakt. Die so gelagerte Problematik des methodischen Umgangs mit postmodernen Texten mag ein weiterer Grund sein, warum bis dato so wenige kritische literaturwissenschaftliche Analysen postmoderner Werke erschienen sind. Die vorliegende Studie begegnet dieser Herausforderung mit der literaturtheoretischen Anwendung der Theorie der möglichen Welten, die eine sehr differenzierte Auffassung der Beziehung zwischen Text und Welt vertritt, ohne klassische Repräsentationsmodelle zu bemühen. Die Theorie soll dabei weniger als Methode oder Werkzeug denn als ein Modell zur Charakterisierung dieser komplexen Beziehung vorgestellt werden, wobei dem Leser eine Schlüsselrolle zukommt. Der Blick der möglichen Welten ist ein summarischer, kein universalisierender, weil er nicht gezwungen ist, Kontradiktionen zugunsten der einen oder

Einleitung

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anderen Seite aufzulösen: Ein fiktionales Universum kann mehrere, auch einander widersprechende (textuelle) Welten umfassen, was den meist logisch oder zeitlich inkohärenten postmodernen Texten entgegenkommt. Gleichzeitig ermöglicht er eine Konzentration auf textuelle Verdichtungen und Wiederholungen, die umso deutlicher die (abweichenden) Gesetzmäßigkeiten der fiktionalen Universen hervorheben und auch quantitative Aspekte bestimmter Verfahren ins Licht rücken. In den solcherart verstandenen fiktionalen Universen der Korpustexte lässt sich herausarbeiten, dass zentrale Konzepte (Chronologie, Kausalität, Identität) und Dichotomien (u. a. Realität/Fiktion, Aktivität/Passivität, Subjekt/Objekt, Selbst/Anderes, Natur/Kultur, Tod/Leben, Körper/Geist) logozentrischen Denkens nicht in bekannter Form aufrechterhalten werden können, sondern eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Die Vorstellung von Identität etwa wird in vielen Romanen des hier untersuchten Textkorpus untergraben, indem Figuren eines Geschlechts, aber auch Mensch und Tier miteinander verschmelzen, ohne dass mittels der Metamorphose auch die Grenzen zwischen den Geschlechtern überwunden werden können. Damit wird, wie die Geschlechter-Perspektive mit ihrem spezifischem Erkenntnisinteresse zeigt, trotz und wegen der vielfältigen transgressiven Bewegungen die (körperliche) Verfasstheit von Geschlecht essentialisiert. Die eingangs bereits skizzierte begriffliche Verstrickung von Postmodernismus, Poststrukturalismus und feministischer Theorie insbesondere auch in der Literaturwissenschaft in Flandern und den Niederlanden wird im ersten Kapitel ausgearbeitet. Darauf folgt im zweiten Kapitel eine Einführung in die literaturwissenschaftliche Anwendung der Theorie der möglichen Welten, die als Modell zur Charakterisierung der Text/Welt Beziehung vorgestellt wird. Als notwendige methodologische Ergänzung werden darüber hinaus einige Konzepte der feministischen Narratologie skizziert, die in den exemplarischen Analysen herangezogen werden. Schließlich folgt mit Kapitel drei bis sechs die Anwendung auf die Romane des Textkorpus. Einige Aspekte wie etwa die geschlechtliche Markierung der Figuren und Erzähler und die – soweit möglich – nach Geschlecht aufgeschlüsselte Frage nach der narrativen Dominanz einzelner Erzähleinstanzen, aber auch die Analyse der Problematisierung des Konzepts der Identität, werden in jedem der Anwendungskapitel systematisch, aber je nach Signifikanz mehr oder weniger ausführlich besprochen. Zudem setzt jedes Kapitel unterschiedliche Schwerpunkte, die sich aus den besprochenen Werken ergeben. Bei Jongstra ist dies unter anderem die Vorstellung der Frau als phantasmatischem Anderen, aber auch die Rolle (ironischer) Wiederholung, bei Mutsaers die weibliche Subordination und die Verschränkung von sex und gender, bei Verhelst die Vorstellung von Androgynität und Hermaphroditismus, und bei Stefan Hertmans der groteske, versehrte Körper und die männliche

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Einleitung

Maskerade. Den Kapiteln zu den Einzelautoren folgt schließlich mit dem siebenten Abschnitt eine kurze Zusammenfassung, die gemeinsame Muster in den autorenbezogenen Teilaspekten herausarbeitet. Auch wenn die aufgezeigten gemeinsamen Muster dem gängigen Bild von postmoderner Literatur widersprechen mögen, ist es keinesfalls das Ziel dieser Arbeit, die Etikettierung der besprochenen Werke als postmodern in Frage zu stellen: als viel zu fruchtbar hat sich diese terminologische Zuordnung bereits zu Recht erwiesen. Als Forschungskritik skizziert das Buch aber die Genese blinder Flecken der poststrukturalistisch geprägten Rezeption, und trachtet durch deren Aufdeckung auch neue Forschungsfelder zu erschließen.

1

Theoretische Grundlagen

1.1

Postmoderne und Postmodernismus

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Einführung sind die Begriffe Postmoderne und Postmodernismus, mitunter auch synonym verwendet, noch immer diffus (Van Adrichem et al. 2010: 6).1 Diese Tatsache gründet auf mehreren Faktoren. Erstens ist die Postmoderne kein Programm, zu dem sich eine bestimmte Schule oder Gruppe bekannte. Zweitens birgt schon die begriffliche Abgrenzung zur Moderne die Problematik, dass auch diese jeweils anders verstanden wird als Neuzeit, Zeitalter der Aufklärung oder auch ästhetische Moderne (Milich 1998: 62). Ein Verständnis der Postmoderne als radikalisierte Moderne steht dabei neben dem einer Ablösung der einen durch die andere Form. Drittens gibt es neben historisierenden und zeitdiagnostischen Auffassungen2 der Art Frederic Jamesons’ in Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism auch weniger verbreitete typologische Zugänge, die von einer historischen Ko-existenz beider Strömungen ausgehen (Carroll 1997: 89, Hassan 1993: 149).3 Viertens wurden so viele verschiedene Lebensbereiche und Kunstformen mit dem Terminus der Postmoderne erfasst, dass sich zwangsweise Differenzen zwischen den betroffenen Disziplinen auftun (Carroll 1997: 91).4 Einige Differenzierungen haben sich mittlerweile weitgehend durchgesetzt, vor allem die historisch-periodisierende Auffassung, die sich auf eine Vielzahl 1 Vgl. Beekman/De Vriend 2010, Bertens 1995: 12, Norris 2003: 143, Hudson 1986: 52, Pritsch 2008: 69, Schmidt 1994: 196. 2 Auf literarischem Gebiet vgl. Fokkema 1984: 5. In anderen Ansätzen wird betont, dass die Postmoderne vor allem ein westlich-akademisches Selbstverständnis bezeichnet, das zeitlich in den Dekaden um die Jahrtausendwende einzuordnen ist (Pritsch 2008: 69). 3 Insbesondere für die literarische Postmoderne ist das typologische Verständnis dominant, zur Gleichzeitigkeit von Modernismus und Postmodernismus siehe Bertens (1986: 135). 4 Der architektonische Postmodernismus bezieht sich beispielsweise auf eine anders definierte Moderne als die literarische Variante.

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Theoretische Grundlagen

von charakteristischen, ineinandergreifenden lebensweltlichen Veränderungen wie etwa die Globalisierung oder neue Kommunikationskanäle, bezieht. Daneben wird zwischen postmodernistischer Praxis (Kunstformen in allen denkbaren Disziplinen, allen voran Architektur, Film und Literatur) und postmodernen Theorien (Poststrukturalismus und Dekonstruktion, aber auch feministische Subjektkritik, Postkolonialismus)5 unterschieden (Münker/Roesler 2000: 172, vgl. auch Hutecheon 2002: 25). Diese terminologische Unterscheidung soll für die vorliegende Untersuchung beibehalten werden: Die literarische Ausformung der Postmoderne wird im weiteren Verlauf als Postmodernismus oder literarische Postmoderne bezeichnet. Der Literatur kommt innerhalb der Postmoderne eine herausragende Rolle zu, gilt sie nach einer These von Ortega y Gasset zusammen mit der Architektur doch als deren bevorzugtes Genre (Hutcheon 2000: 8). Wiederholt wurde innerhalb des Feldes der Literatur für die Pluralform Postmodernismen plädiert,6 um der Diffusität des auch innerhalb der Disziplin uneinheitlich verwendeten Begriffes terminologisch Rechnung zu tragen. In der Tat scheint dies angebracht, wenn man die Anwendung des Deutungsmusters in seiner geschichtlichen Gesamtheit betrachtet: Im niederländischen Sprachraum etwa wurde auch die sogenannte Ander Proza und Revisor-Prosa als postmodernistisch bezeichnet, und dies nicht nur in der mittlerweile etwas veralteten Literaturgeschichte von Anbeek (1990: 237), sondern auch in neueren Publikationen wie Bax’ De taak van de schrijver (2007) und, wenn auch deutlich vorsichtiger formuliert, in Brems’ Literaturgeschichte (2006) (Vitse 2009b: 246). Abgesehen von der semantischen wie praktischen Unhandlichkeit dieser begrifflichen Variante spricht aber einiges dafür, dass – gerade was den Postmodernismus niederländischsprachiger Prägung angeht – zwischenzeitlich ein größerer Konsens über eine postmodernistische Typologie entstanden ist, die angesichts einer beachtlichen Anzahl ähnlicher Texte zusätzlich periodisch situiert werden kann, nämlich im Zeitraum von ca. 1985 bis zumindest 2005 (Brems 2006: 520, vgl. Korsten 2002: 60). Es handelt sich also in der Form, die auch in der vorliegenden Arbeit gehandhabt werden soll, nicht vorrangig um ein Periodenkonzept, sondern um einen typologischen Begriff, der aber historisch durchaus situiert ist. Als Eckpfeiler postmodernen Denkens gelten der radikale ontologische Zweifel, das Verschwinden des (Erkenntnis-)Subjekts, die Anfechtung jeglicher metaphysischer Erklärung sowie der Verlust des Selbst (Bertens 1986: 46) und dies alles auf einer sehr sprach- und textorientierten Ebene,7 wobei der Begriff 5 Vgl. u. a. Owens 1992 oder Pritsch 2008. Dazu ausführlicher unter Abschnitt 1.3. 6 Sowohl in der internationalen Debatte als auch im niederländischen Sprachraum, vgl. etwa Brems 2006: 509. 7 Vgl. Abschnitt 1.2 zum Poststrukturalismus.

Postmoderne und Postmodernismus

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des Textes massiv in alle denkbaren kulturellen Zusammenhänge und Traditionen ausgeweitet wird (Pritsch 2008: 52 f). In der Literaturdebatte vermischen sich literaturpraktische, -theoretische und kulturideologische Aspekte (GreinerKemptner 1994: 251). Der Postmodernismus wird – grob vereinfacht dargestellt – vornehmlich charakterisiert durch eine Obsession mit der Rolle der Sprache durch die Betonung der Metafiktion und der damit einhergehenden Infragestellung des Text/Welt- und Fakt/Fiktion-Verhältnisses. Auch zeichnet er sich durch die Vermischung populärer und elitärer Genres und Intertexte, durch die Verschmelzung von Figuren sowie den vermehrten Einsatz von Parodie und Ironie u. a. auch zur Repräsentationskritik etwa über die Ablehnung psychologisch deutbarer Figuren aus. Weiters ersetzt er die Chronologie zugunsten eher räumlicher Vorstellungen und die Kausalität zugunsten assoziativ bis paranoid verknüpfter Bilder oder enzyklopädisch-lemmatisch oktroyierter Anordnungen (Bertens/d’Haen 1988, Hutcheon 1988, Bertens/Fokkema 1997, Vervaeck 1999, Korsten 2002). Die Liste der Merkmale kann fast endlos verlängert werden.8 Die Postmoderne wird, das wurde bereits angedeutet, im Streben, sie definitorisch zu fassen, fast immer gegen eine – durchaus unterschiedlich verstandene – Moderne abgesetzt, dies gilt nicht nur für den übergeordneten Begriff, sondern auch für die Variante der literarischen Postmoderne.9 Aus der Literatur zur literarischen Postmoderne wird deutlich, welch essentielle Rolle der Modernismus für das Verständnis des Postmodernismus spielt (Bertens 1995, Bertens/Fokkema 1997, Hutcheon 2002): Er wurde nicht nur als Hintergrund begriffen, vor dem die neuen Entwicklungen besser verstanden werden konnten, sondern fungierte als Konterpart in einem großteils dualistischen Schema der Charakteristika.10 Gerade für die literarische Postmoderne gilt, dass es kaum andere Herangehensweisen gibt: Die auf den Modernismus fixierte Perspektive hatte einen homogenisierenden Effekt. Ruiter bemerkt: »Het valt eigenlijk niet goed uit te maken of het postmodernisme al dan niet een adequaat begrip was voor al die uiteenlopende verschijnselen. Wel is duidelijk dat het postmodernisme een hoge mate van convergentie heeft geproduceerd in de wijze

8 Ich verweise auf die einschlägigen typologischen Publikationen. 9 Da auch die literarische Postmoderne ihre Wurzeln in Amerika hat, entstand sie in der konkreten Auseinandersetzung mit dem US-amerikanischen Modernismus (Bertens 1995:17), der viel enger definiert ist, als jene relativ breit gefächerte Moderne oder Avantgarde des europäischen Kontinents (Suleiman 1986: 255). 10 Mit Ihab Hassan hat einer der profiliertesten Vordenker des Postmodernismus in The Dismemberment of Orpheus eine Liste mit gegensätzlichen Merkmalen entworfen, die aber, wie Astradur Eysteinsson kritisiert, den Modernismus größtenteils mit der traditionellen realistischen Schreibweise verquickt, gegen die der Modernismus sich ja gerade widersetzte. (Eysteinsson 1999: 129).

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Theoretische Grundlagen

waarop hedendaagse culturele ontwikkelingen worden geinterpreteerd«11 (Ruiter 1992: 103, Hervorh. im Original).

Es gibt durchaus Kritik an dieser dualistischen Sichtweise.12 Ernst van Alphen moniert, dass Modernismus und Postmodernismus einander als statische Perioden gegenübergestellt werden (Van Alphen 1989: 23), Helmuth Lethen sieht in der definitorischen Opposition als Prinzip eines literaturgeschichtlichen Ordnungsverfahrens ein zutiefst modernes Modell und argumentiert: »The paradox of the discourse on Postmodernism is preeminent in the dichotomic schemes critics have drawn up to distinguish between Modernism and Postmodernism« (Lethen 1986: 235). Neben der grundsätzlichen Skepsis gegenüber einem solchen literaturgeschichtlichen Verfahren und der ihm zugrundeliegenden Weltsicht muss auch hervorgehoben werden, dass viele der postmodernistischen Ästhetik zugeschriebenen Charakteristika – allen voran Metafiktionalität und Selbstreflexivität – nicht exklusiv als postmodern zu betrachten sind, wodurch sich eine dualistische Gegenüberstellung im Allgemeinen als sehr reduktionistisch erweist:13 »Die Reduzierung von Moderne, Avantgarde und Postmoderne auf stilistische Phänomene erweist sich insofern als ungenau, als die der Postmoderne zugeschriebenen ästhetischen Innovationen bereits zum experimentellen Stilkanon des Modernismus bzw. der Avantgarden gehörten, wie etwa die Thematisierung der Schreibstrategien, der Grenzen sprachlicher Darstellung und der Autorenfunktion im literarischen Text selbst (self-reflexive literature, metafiction) […] die spielerischen Bezugnahmen auf andere Texte (Intertextualität). Außerdem sind Ekklektizismen und Pastiche weder moderne noch postmoderne Nova« (Milich 1998 S. 56).

Methodische Reflexionen dazu finden sich in fast allen einschlägigen Publikationen (u. a. Bertens 1986: 47). An der Darstellung im Rahmen eines zweipoligen Schemas ändern diese Überlegungen allerdings nicht viel, wie das folgende Zitat von Fokkema zu illustrieren vermag: 11 Übers.: »Es ist nicht feststellbar, ob der Postmodernismus ein adäquater Begriff für die verschiedenen Phänomene war. Hingegen ist klar, dass der Postmodernismus in einem hohen Maß Konvergenz produzierte in der Interpretation heutiger kultureller Entwicklungen.« 12 Inzwischen ist auch eine weitere Publikation erschienen, die eine starke definitorische Kontrastierung von Modernismus und Postmodernismus kritisch betrachtet, nämlich Thomas Vaessens Geschiedenis van den moderne Nederlandse literatuur, Nijmegen: Vantilt, 2013. Vaessens betrachtet den u. a. Postmodernismus nicht periodisierend, sondern als transhistorischen frame, als eine von mehreren möglichen Perspektive auf die Modernität. Da dieses Werk nach Verteidigung meiner Dissertation erschienen ist, findet es in die vorliegende Studie keine Aufnahme. 13 Vgl. etwa im Kontext der Postmodernismus-Definition zur fälschlichen Zuschreibung realistischer Merkmale an modernistische Literatur Eysteinsson 1999: 129 und zu Reduktionen auf beiden Seiten Suleiman 1986.

Postmoderne und Postmodernismus

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»As to the relation between Modernism and Postmodernism, I will try to show in what respects Postmodernism departs from Modernism; I am interested in the difference, but will never be able to prove that the discontinuity is more important than the continuity, or the continuity more important than the discontinuity« (Fokkema 1984: 38, Hervorh. im Original).

Die Darstellung Brian McHales geht über die Aufzählung besonderer Merkmale hinaus, indem er den Postmodernismus im Zeichen der Ontologie und den Modernismus im Zeichen der Epistemologie betrachtet.14 Seine Typologie des Postmodernismus ist insofern nicht dualistisch angelegt, die Gegenüberstellung zum Modernismus wird vielmehr auf die Sphäre des darunterliegenden Paradigmas verschoben, wobei McHale auch hier betont, diese Beschreibung sei konstruiert und diskursiv, nicht essentiell (McHale 1992:1).15 In der niederländischen Debatte verschiebt Thomas Vaessens die Akzente, indem er im Postmodernismus nicht nur eine Reaktion auf die Literatur des Modernismus sieht, »sondern auch auf die akademische und literaturkritische Lesart, die eng mit dieser Tradition verbunden ist (dem New Criticism)« (Vaessens 2002: 53). Ernst van Alphen plädiert für die Übernahme der mcHaleschen Epistemologie/Ontologie-Unterscheidung, und Bart Vervaeck grenzt in seinem PostmodernismeBand die postmodernistische von der modernistischen, aber auch von der »traditionellen realistischen« Lesart ab, wobei er auf den Konstruktcharakter der Unterscheidung hinweist (Vervaeck 1999: 9). Die Definition vornehmlich vor dem Hintergrund des Modernismus lässt fast darüber hinwegsehen, dass der Begriff des Postmodernismus in seiner historischen Ausprägung wesentliche Änderungen erfahren hat, die hier in Anlehnung an Bertens (1986) kurz skizziert werden sollen. Von einer anti-intellektuellen Strömung wird er erst gegen Ende der 1960er Jahre von Richard Wasson zu einer intellektuellen Antwort auf den Modernismus umdefiniert (vgl. Fokkema 1986: 19), wobei er bis in die 1970er Jahre noch als Sammelbecken für diverse antimodernistische und anti-realistische Verschiebungen im literarischen Feld fungiert, die später wieder aus der Gleichung herausgenommen werden sollten (Bertens 1986: 24). Sowohl bei Wasson als auch bei Ihab Hassan erfährt der Postmodernismus dabei eine zunehmende Internationalisierung: Er wird nicht 14 Der radikale ontologische Zweifel als Merkmal des Postmodernismus wurde bereits vor McHale von einigen Theoretikern herausgearbeitet (u. a. Hassan, Bertens). McHale ist aber der Erste, der, wenn auch unter konstruktivistischen Vorzeichen, die explizite Trennung zwischen epistemologischen und ontologischen Fragestellungen vornimmt und über die Unterscheidung Modernismus/Postmodernismus legt. 15 McHales Narrativ über den Postmodernismus sei nicht »wahrer« als andere, aber hoffentlich besser »in terms of such criteria as rightness of fit, validity of inference, internal consistency, appropriateness of scope, and above all productivity« (McHale 1992: 9, Hervorh. im Original).

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Theoretische Grundlagen

mehr nur als US-amerikanisches Phänomen begriffen (Bertens 1986: 21). Dies ist nicht nur der internationalen Rezeption des Begriffes und der dazugehörigen Literatur16 mit den entsprechenden Anregungen für die jeweils heimische Literaturproduktion zu danken, sondern auch den theoretischen Verschränkungen, die vorrangig zwischen US-Amerika und Frankreich entstanden: Der Poststrukturalismus17 schuf eine stabile intellektuelle Basis für postmodernistische Kunstformen und füllte die bis zu diesem Zeitpunkt vorhandenen theoretischen Leerstellen mit Namen wie Derrida, Foucault, Kristeva, Lyotard, Deleuze und Barthes (vgl. Münker/Roesler 2000: 139). In Bertens’ Auffassung geht der Phase eines poststrukturalistisch geprägten Postmodernismus mit einem Fokus auf die Subjektkonstitution und Fragen der Macht die eines dekonstruktivistisch von dem Postulat des Todes des Autors geprägten voraus. Das poststrukturalistische Verständnis des Postmodernismus, das in den 1980er Jahren aktuell wurde, ermöglichte aufgrund der Parallelen in den Themenschwerpunkten erst »the close links with feminism and multiculturalisms that are now generally associated with postmodernism« (Bertens 1995: 8), und dies, obwohl einige dieser Themen ursprünglich als antipostmodern galten (Bertens 1995: 13). Milich sieht in dieser theoretischen Verschränkung von Poststrukturalismus und Postmodernismus den Zeitpunkt, an dem erstmals ein diffuses und lokal unterschiedlich bewertetes Phänomen wie die Postmoderne theoretisch homogener und definierter erschien (Milich 1998: 62). Die endgültige Verzahnung der beiden Post-Ismen erfolgte durch Jean-Francois Lyotard, der als erster Vertreter des Poststrukturalismus den Terminus Postmoderne verwendete: »The translation of Jean-Francois Lyotard’s La condition postmoderne […] in which a prominent poststructuralist adopted the term postmodern, seemed to many to signal a fully-fledged merger between an originally American postmodernism and French poststructuralism. Like poststructuralism, this postmodernism rejects the empirical idea that language can represent reality, that the world is accessible to us through language because its objects are mirrored in the language that we use« (Bertens 1995: 6).

Seitdem ist es Usus, darauf hinzuweisen, dass die Schnittmengen beider Begriffe sehr groß, aber nicht deckungsgleich sind (Schmitz-Emans 2011, Münker/ Roesler 2000: 171), wobei der Poststrukturalismus aufgrund seiner deutlich theoretischen Ausrichtung meist unter der zeitdiagnostisch verstandenen Postmoderne subsumiert wird, wie es auch mit anderen verwandten Diskursen 16 Zu den Unterschieden zwischen amerikanischem und europäischem (Post-)Modernismus siehe Suleiman (1986) und Renner (1994). 17 Zur begrifflichen Ausdifferenzierung des Poststrukturalismus siehe Abschnitt 1.2.

Postmoderne und Postmodernismus

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geschieht.18 Wiewohl das Naheverhältnis zwischen den Ansätzen mittlerweile als wissenschaftlicher Gemeinplatz betrachtet werden kann, gibt es Kritiker dieses Postulats der unhinterfragten konzeptuellen Verwandtschaft: Bereits in der Einleitung habe ich diesbezüglich auf die Kritik des Philosophen und Medientheoretikers NoÚl Carroll am »package-view« von Postmoderne, Postmodernismus, Poststrukturalismus, Feminismus und Multikulturalismus hingewiesen. Carroll bestreitet nicht, dass es große Schnittflächen zwischen den Theorien gibt, er bemerkt aber, dass die Annahme einer notwendigen Verknüpfung illusorisch ist: »I would not wish to deny that one could be a postmodernist, a poststructuralist, and a multiculturalist at the same time. […] But this is a matter of contingent, personal choice on the part of the artist concerned, just as the conjunction between postmodernism and feminism, where it occurs (as it undeniably does), is not part of the logic of postmodernism, but a matter of individual artistic commitments. Theorists who claim to find a deep conceptual link between postmodernism and progressive political movements like multiculturalism, feminism and anticapitalism, and intellectual tendencies like poststructuralisms are allowing their preferences and enthusiasms to obscure their analyses« (Carroll 1997: 93).

Carroll weist hier auf einen wesentlichen Punkt der Postmodernismus-Rezeption hin: die individuelle künstlerische Komponente, die nicht vernachlässigt werden darf. Es ist eben keine implizite postmoderne Gesetzmäßigkeit, dekonstruktive, feministische oder andere ideologiekritische Anliegen zu verwirklichen, auch wenn die in absoluten Termen verkündete Verabschiedung des traditionellen Subjekts dies vermuten ließe und auch wenn die Argumentation von Literaturwissenschaftlern diese Annahme durch verhängnisvolle Übertragungen stärkt und expliziert. Den entsprechenden argumentativen Bewegungen in der Debatte innerhalb des niederländischen Sprachraumes wird in Abschnitt 1.4. nachgegangen. Die heftige Auseinandersetzung der feministischen Theorie in den 1980er und 1990er Jahren um ihr (Selbst-)Verhältnis zu Postmoderne, Postmodernismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktion, die in Abschnitt 1.3 dargestellt wird, zeugt ebenfalls von Friktionen und konzeptuellen Verschiebungen, die den Überbegriff der Postmoderne in Frage stellen. Die geschichtliche Bewegung der Postmoderne ist eine einverleibende: Sukzessive wurden mehr und mehr Ansätze und Theorien unter ihrem begrifflichen Mantel zusammengefasst. Wohl auch aus diesem Grund ist die Kritik an Postmoderne und Postmodernismus so fruchtlos geblieben. Oft beruft sie 18 Ein typisches Beispiel hierfür ist der Titel von Sylvia Pritschs Studie Rhetorik des Subjekts. Zur textuellen Konstruktion des Subjekts in feministischen und anderen postmodernen Diskursen, in der verschiedene subjektkritische, auch poststrukturalistische Theorien des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts unter dem Nenner der Postmoderne zusammengefasst werden.

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Theoretische Grundlagen

sich mit den Schlagworten »Beliebigkeit« und »Anything goes« auf jene bereits überholte Vorstellung der Postmoderne als anti-intellektuelles, spielerisches und theoretisch undefiniertes Phänomen. Die intellektuelle literarische Variante, die im Laufe der Zeit im Zusammenspiel mit verschiedenen theoretischen Einflüssen, insbesondere des Poststrukturalismus entstand, scheint wiederum jeglichen Kritikansatz bereits vorwegzunehmen, eine Problematik, die im folgenden Abschnitt herausgearbeitet werden soll. Es lassen sich abschließend zwei Aspekte skizzieren, die das Verständnis der Postmoderne und ihrer Kunstformen prägten: – Die Versuche, die Postmoderne begrifflich zu fassen, ließen eine Sichtweise entstehen, die sich erstens auf das Verhältnis zur Moderne fokussierte und innerhalb eines solchen reaktiven Verhältnisses auf die Brüche zwischen den beiden Perioden, was eine entsprechende (produktive, aber in mancher Hinsicht auch problematische) Verengung des Blicks mit sich bringt. Wo trotzdem Kontinuitäten oder Ähnlichkeiten mit einem sehr kritischen (weil nicht mit der traditionell realistischen Literatur vermengten) Modernismus festgestellt wurden, wurden sie vor dem Hintergrund eines – wenn auch nur unter pragmatischen Vorzeichen postulierten – Paradigmenwechsels (etwa die Ablösung der epistemologischen durch ontologische Fragestellungen) interpretiert. – Das Phänomen des Postmodernismus hat sich im Laufe der Zeit über metaphysik- und subjektkritische Ansätze mit – durchaus ideologiekritischen – Theorien verschränkt. Die zeitdiagnostisch verstandene Postmoderne fungiert als Sammelbecken für all diese Richtungen und suggeriert Einheitlichkeit, wo es bei genauerer Betrachtung nur lokale strategische oder thematische Allianzen gibt.

1.2

Poststrukturalismus und Dekonstruktion

Der Poststrukturalismus, der – wie im vorigen Abschnitt besprochen – oft als sprachtheoretische und literaturwissenschaftliche Basis der Postmoderne wahrgenommen wird, entstand im Frankreich der 1960er Jahre anfangs als kritische Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus,19 griff aber zu einem guten Teil auch auf die philosophischen Entwicklungen zurück, die vor dem Strukturalismus stattgefunden hatten (Currie 2004: 8). Wie schon der Strukturalismus erstreckt sich die poststrukturalistische Kritik weit über die Grenzen der Sprachphilosophie hinaus auf viele Disziplinen. 19 Eine sehr luzide Studie zum Poststrukturalismus liegt mit Münker/Rösler (2000) vor, das zentrale Konzept der Differenz bzw. diff¦rance (Derrida) wird von Currie (2004) ausführlich erläutert.

Poststrukturalismus und Dekonstruktion

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Die totalisierenden Ansprüche strukturalistischer wie auch anderer Theorien lehnt der Poststrukturalismus aber ebenso ab wie den traditionellen Subjektbegriff, den er von metaphysischen und durch die gesellschaftliche Ordnung auferlegte Inhalte durch die Anwendung sowohl psychoanalytischer20, diskursgeschichtlicher als auch text- bzw. sprachtheoretischer Überlegungen befreit und aufgrund der postulierten Unhintergehbarkeit der Sprache dezentriert. Dem Text wird dabei ein Doppelcharakter aus Bezeichnetem und Ausgeschlossenem zugeschrieben,21 Sprache dient nicht der Repräsentation,22 sondern produziert und verschiebt Sinn prozessual und dezentral. Diese Erkenntnis hat unmittelbare Auswirkungen auf den Stil der Poststrukturalisten: Freies, assoziatives Schreiben soll »performativ nachvollziehbar machen, worum es thematisch geht« (Münker/Rösler 2000: 39), Logozentrismus und Rationalität zurückgewiesen werden. Der performative Zugang, der der Tatsache Rechnung trägt, dass Sprache nicht beschreibt, sondern Realitäten schafft, wurde von Roland Barthes auch dahingehend abgewandelt, dass es seiner Ansicht nach keine Kritiker mehr gäbe, sondern nur Schriftsteller : Sie erfänden in ihren Besprechungen literarische Texte. Dieselbe Bewegung findet auch umgekehrt statt: »On the other side of the boundary, the corollary of aestheticized criticism is literature which is increasingly critical or theoretical, in the sense that it assimilates and incorporates critical and theoretical perspectives into its discourse as self-knowledge« (Currie 2004: 111).

Die Grenzen zwischen theoretischen und literarischen Texten verschwinden damit zunehmend. Während die texttheoretischen und sprachphilosophischen Inhalte ebenso wie die Subjektkritik von Zeitgenossen wie Derrida, Barthes und Foucault vornehmlich vor der Folie strukturalistischer Theorien entwickelt wurden, stützte sich die Verabschiedung der Metaphysik auf philosophische Vordenker wie Nietzsche, Wittgenstein und Heidegger. Innerhalb der akademischen Kreise konnte der Poststrukturalismus mit seiner breiten kritischen Basis bald reüssieren, wie Münker und Rösler bemerken:

20 Die Einheit des Ichs wird als von einer äußeren Ordnung auferlegt verstanden. 21 Die »referentielle Illusion« von Sprache ist eine strukturalistische Erkenntnis. Nur aus der Relation der Zeichen untereinander entsteht Bedeutung, dabei ist die binäre Struktur, die jeweils das vermeintlich Entgegengesetzte ausschließt, ausschlaggebend. Die Strukturen der binären Opposition beherrschen auch die Interpretation der Realität, weil die Ordnungsund damit auch Produktionsmacht der Sprache unhintergehbar ist (Currie 2004: 86). 22 Wohl am radikalsten findet sich der Gedanke bei dem den Denkern der Postmoderne zugerechneten Baudrillard. Hier ist das Reale vollkommen verschwunden, die Zeichen können sich auf nichts beziehen. Konsequenz ist das Zeitalter der Simulation (Münker/Rösler 2000: 105).

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Theoretische Grundlagen

»Längst sind Versatzstücke der philosophischen Ideen der poststrukturalistischen Denker ein fester Bestandteil kultureller, soziologischer und politischer Diskurse. Spätestens seit den Debatten um die Postmoderne zu Beginn der 80er Jahre […] wird das Vokabular des Poststrukturalismus mobilisiert, um Entwicklungen in Kunst, Musik, Theater, Literatur und nicht zuletzt den sogenannten neuen Medien zu beschreiben« (Münker/Rösler 2000: 139).

Die Verflechtung mit der Postmoderne nahm ihren Lauf, als, wie bereits im vorigen Abschnitt skizziert, Lyotard den Begriff der Postmoderne anwandte und als Ende der großen Erzählungen (von Metaphysik, Souveränität usw.) definierte (Bertens 1995: 17, Münker/Rösler 2000: 171 f). Das zentrale Konzept poststrukturalistischen Denkens ist das Denken der Differenz.23 Ein Zeichen wird in seiner wiederholten Anwendung als in sich ident, aber auch different begriffen, da die Kontexte der Verwendung sich unterscheiden. Mit Jacques Derridas einflussreicher Auffassung dieser Differenz als diff¦rance rückt auch die performative Kraft der Sprache in den Vordergrund,24 wie Pritsch feststellt: »Derrida führte seinen Schriftbegriff mit Austins Performanzbegriff so zusammen, dass beide Konzepte modifiziert wurden: Das Zeichen bzw. die Schrift erhielt damit einen grundlegenden performativen Charakter als Akt der Wiederholung, die zum Bruch mit dem jeweiligen Kontext bzw. dem ›Aufpfropfen‹ […] auf andere Kontexte besteht. Damit löste sich Austins konkrete Bezugnahme auf eine bestimmte, konventionalisierte Sprechsituation (wie Taufe, Versprechen etc.) auf, der Handlungscharakter wurde generalisiert und in den Schriftbegriff selbst hineingenommen. […] Der performative Akt wird also von Derrida umformuliert zu einem strukturellen Akt, der die Kommunikation auf grundlegender Ebene bestimmt« (Pritsch 2008: 96).

Durch die Anerkennung der grundlegenden Rolle der Performanz ist auch nicht mehr das Außen der Sprache der Ort einer (intentionalen) Bedeutungs- und Handlungsfestlegung, sondern die Sprache selbst stiftet konventionelle Beziehungen (Pritsch 2008: 97), die in kontinuierlicher Verschiebung und Bewegung begriffen sind. Der Sinn ist im Denken der Differenz immer aufgeschoben, nie präsent. Im Gegensatz zum logozentristischen Denken, das die fehlende Präsenz zu ergänzen sucht, entwickelt der Poststrukturalismus das Verfahren der Dekonstruktion, das das jeweils Ausgeschlossene des Sinns aufzeigen soll. In der Auflösung epistemologisch prägender binärer Begriffsoppositionen (Signifikant/Signifikat, Anwesenheit/Abwesenheit) liegt die kritische Kraft dieser

23 Zentral, aber nicht nur auf den Poststrukturalismus reduziert: Es sei auf die einschlägige Publikation von Currie (2004) verwiesen. 24 In der Gender- und Queer-Theorie wurde der Gedanke der Performanz dann von Judith Butler aufgegriffen und breit rezipiert.

Poststrukturalismus und Dekonstruktion

31

Strategie.25 Im Unterschied zu einer strukturalistischen Analyse zielt die Dekonstruktion auf den individuellen Widerstand des Textes gegen Ordnungen aller Art, das Aufdecken der textimmanenten Aporie wird zum erklärten Ziel der Lektüre. Dabei geht es nicht um jene Mehrdeutigkeiten, die auch hermeneutische Interpretationsverfahren nachgewiesen haben,26 sondern um grundlegende Merkmale literarischer Texte. Dieser Zugang bringt weitreichende Konsequenzen für die Literaturwissenschaft mit sich: »Sobald sich […] erweisen läßt […], daß verschiedene Bedeutungen eines Textes, die aufeinander angewiesen sind, einander wechselseitig ausschließen und daß gerade diese aporetische Semantik der Literatur ihre Literarizität ausmacht, läßt sich das Projekt einer literarischen Hermeneutik, ohne das keine Lektüre auskommt, nur noch um den Preis seiner Blindheit gegen den spezifischen Charakter der Literatur weiterführen« (Hamacher 1988: 9 f).

Andererseits aber wurde, wie Currie bemerkt, auch gegenüber diesem antihermeneutischen Verfahren der Vorwurf einer reduktionistischen Verallgemeinerung vorgebracht: »The deconstructive reading, for example, is often focused on the resistance an individual text puts up to a model of analysis that seeks to assimilate it to others, and yet deconstructive readings have also been accused of generating the same object repeatedly : of producing literary text repeatedly as allegories of the elusiveness of meaning« (Currie 2004: 106).27

Große Resonanz zogen Barthes poststrukturale Analyse einer Novelle Balzacs, S/ Z (1970), und Derridas dekonstruktive Nietzsche-Lektüre Eperons. Les styles de Nietzsche (1976) nach sich, die sich beide ausführlich der Geschlechterdifferenz widmeten. Nietzsches so oft zitierte Misogynie ließ sich in Derridas Lesart, ganz gemäß der grundsätzlichen »elusiveness of meaning« nicht bestätigen: Die Geschlechterdifferenz blieb unentscheidbar (Derrida 1976: 87) – nicht etwa, wie Alcoff hervorhebt, weil Nietzsche sich an verschiedenen Stellen widersprochen hätte, sondern weil die Bedeutung derselben Textstelle unentscheidbar ist (Alcoff 2006: 143). Barthes zeigt in seiner Analyse von Sarrasine unterschiedliche Stimmen oder Codes (hermeneutisch, kulturell, aktionell, semantisch, symbolisch) auf, die einander durchkreuzen und – darauf verweist auch der Titel seines Textes – so auch die Sicherheiten der Geschlechtsidentität der Protagonisten Sarrasine und Zambinella auflösen. Dekonstruktive Erkenntnisse dieser Art sind für die ebenfalls sehr vom Poststrukturalismus geprägte feministische 25 In der Dekonstruktion soll die Opposition strategisch übernommen werden, sodann die Hierarchie umgewertet und beide opponierenden Begriffe als wesenlos gewertet werden. 26 Vgl. etwa Christoph Bodes Ästhetik der Ambiguität: Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne (1988). 27 Vgl. auch Lindhoff (2003: 9).

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Theoretische Grundlagen

Theorie eine Herausforderung, bedeuten sie doch letztendlich, dass Texte bezüglich ihrer ideologischen Ausrichtung unterschiedslos nebeneinanderstehen. In besonderem Maße spitzt sich dieses Problem für die moderne Literatur zu, der im Denken der Dekonstruktion eine privilegierte Rolle zukommt, wie im Folgenden herausgearbeitet werden soll. Dem Poststrukturalismus und der Dekonstruktion grundsätzlich Ästhetizismus oder Beliebigkeit vorzuwerfen, wie von Gegnern des Postmodernismus oder der politisch sensibilisierten feministischen Theorie vielfach geschehen, wäre trotz der Fokussierung auf die Aporie falsch. Schließlich war es der Poststrukturalismus, der die hegemoniale Komponente innerhalb der vom Strukturalismus neutral verstandenen binären Oppositionen aufzeigte, indem er die Abhängigkeit des ersten, höhergeordneten Begriffes von dem ihm logisch vorgängigen »anderen«, untergeordneten Begriff herausarbeitete (Norris 2003: 155) und damit die Unterdrückung des »Anderen« durch eine symbolische Ordnung sichtbar machte. Die Dekonstruktion soll den de facto untergeordneten Term durch die Herausstellung der Dependenz strategisch aufwerten, um dann die Opposition mit der so modifizierten und bleibend instabilen Differenz wieder einzuschreiben (Currie 2004: 50), ein durchaus politischer Anspruch. Insofern sich die Dekonstruktion aber zu einer rein literaturwissenschaftlichen Methode entwickelte,28 scheint die Kritik der Skeptiker berechtigter. Erstens wird die dekonstruktive Lektüre dort »entpolitisiert« (Milich 1998: 62)29, weil sie sich auf das dem (historischen) Text gewaltsam abgerungene Feststellen der Unentscheidbarkeit der Bedeutung beschränkt, ihr Resultat also absehbar ist. Zweitens jedoch räumt der Poststrukturalismus der modernen Literatur eine besondere Rolle ein, indem die Dekonstruktion dieser, im Gegensatz zu den historischen Texten, nicht mehr mit einem gewaltsamen Eingriff begegnen müsste. In dieser Zuschreibung erkennt Mark Currie eine typische Denkfigur von Poststrukturalismus und Dekonstruktion (vgl. Hutcheon 2002: 4), nämlich das Primat der Kunst und insbesondere der Literatur vor der Philosophie. Er illustriert dies am Beispiel Gilles Deleuzes, der in Differenz und Wiederholung postuliert, die Identität würde aus der stets beweglichen Differenz vernichtet: »Bekanntlich versucht das moderne Kunstwerk diese Bedingungen zu verwirklichen: Es wird in diesem Sinne ein regelrechtes Theater, bestehend aus Metamorphosen und Permutationen« (Deleuze 1997: 84, Hervorh. im Original). 28 Vgl. eine Vielzahl von methodologischen Einführungen, die die Dekonstruktion als Methode listen, u. a. die aktuellen Publikationen von Klawitter/Ostheimer (2008) und Nünning/ Nünning (2010). 29 Die hier genannte Kritik bezog sich auf die Variante der Yale deconstruction, der amerikanischen und literaturwissenschaftlichen Rezeption des Poststrukturalismus um Paul de Man.

Poststrukturalismus und Dekonstruktion

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»Here, Deleuze does something that can be thought of as a characteristic poststructuralist manoeuvre. He accords to modern art an already established philosophical import. In a move that can be found repeatedly in the work of Derrida and Paul de Man, he locates in art and literature a philosophical potential to distort representation, to convey movement, flux and multiplicity that cannot be found in traditional philosophical writing. According to this view, the purpose of philosophy and criticism would not be to mediate, represent, analyse or explain art and literature but to acknowledge its superiority precisely as a philosophy of movement, a transcendental empiricism, or a science of the sensible. To the literary critic, […] this might seem a rather unpromising direction. […] In the relationship between literature and criticism, criticism would then be understood as a rather foolish attempt to impose stability on the theatre of metamorphoses and permutations that is literature« (Currie 2004: 63, Hervorh. d. Verf.).

Currie thematisiert damit die etwas hilflose Position einer post-poststrukturalistischen Literaturwissenschaft, die in einer der Dekonstruktion eigenen Denkfigur die Bewegungen im Text nur nachvollziehen kann. In der Tat findet sich die Denkfigur auch bei zahlreichen anderen Poststrukturalisten,30 bei Roland Barthes etwa in der Gestalt der in S/Z getroffenen Unterscheidung zwischen lesbaren und schreibbaren Texten, eine Unterscheidung zwischen klassischen und modernen, eindeutig sinnhaften und pluralen Texten.31 Ähnliches ist bei Julia Kristeva nachzulesen: Sie erkennt der Literatur, und insbesondere der Avantgardeliteratur, eine revolutionäre Funktion zu, die, wie Lindhoff zusammenfasst »erstmals den verdrängten, triebbedingten Sinngebungsprozeß selbst sichtbar werden lasse« (Lindhoff 2003: 105). Ein weiteres Beispiel kommt aus dem dekonstruktiven Feminismus: Shoshana Felman spricht in ihrer dekonstruktiven Balzac-Lektüre von einem »paradoxical encounter between literature’s critical irony and the uncritical naivet¦ of its critics« (Felman 1975: 10), indem sie dem literarischen Text eine bereits verwirklichte Dekonstruktion der Geschlechterrollen zuschreibt, die in einem Jahrhundert literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung negiert worden sei. Felman stößt damit ebenso in das Horn jener, die der (modernen) Literatur aufgrund ihrer generellen Verfasstheit auch in kritischer Hinsicht eine der Kritik überlegene Rolle zuschreiben wollen. Über Curries Destillat der Konsequenzen einer solchen Vorstellung für die Literaturwissenschaft hinaus scheinen mir zwei weitere Aspekte bedenkenswert: Erstens kritisiert der Poststrukturalismus am Strukturalismus, dieser würde die Texte, deren Sinn »rausche«, deren Bedeutung »oszilliere«,32 mit von

30 Auch bei Michel Foucault fand sich eine solche Auffassung, indem er die literarische Sprache durch ihre entsubjektivierende Wirkung in der Literatur der Moderne als Außen des Denkens stilisierte. In späteren Werken aber revidierte er diese Annahme (Pritsch 2008: 119 f). 31 Während den lesbaren Texten die Pluralität nur gewaltsam abzuringen ist, präsentiert sich der moderne Text von Anfang an als auch von den Lesern schreibbar und damit plural. 32 Der Metaphern, die die Differenz einkleiden, gibt es viele: Bruissement (Rauschen des Sinns)

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Theoretische Grundlagen

außen auferlegten Begriffs- und Konzeptkorsetten einengen (Currie 2004: 16).33 Hingegen ist es nicht weiter schwierig, in der argumentativen Bewegung Deleuzes – hier stellvertretend für den Poststrukturalismus – eine ähnliche Projektion zu sehen, in der die zu jenem Zeitpunkt sehr produktive Theorie des Poststrukturalismus übertragen wird auf eine – ungeachtet der »beweglichen« Terminologie – relativ stabile »Wahrheit« der Unentscheidbarkeit von Bedeutung. Zweitens verdient die Implikation des als Prämisse fungierenden »philosophischen Imports« literarischer Texte mehr Aufmerksamkeit. Dieser Import muss zumindest minimal intentional gestaltet sein, anders lässt sich die gängige Unterscheidung moderner von nicht-moderner Kunst nicht erklären.34 Schließlich wurde die Dekonstruktion gerade auch auf historische Texte mit Gewinn angewandt, indem sie sie aus jenem geschichtlich-hermeneutischen Verständnis löste, das sehr dominante und oft auch einseitige Bedeutungszuschreibungen generierte. Die Subversion univoquer Bedeutungen durch den Text selbst wurde dabei als Bedingung sprachlicher Äußerung betrachtet, die in ihrer grundsätzlichen Verfasstheit per definitionem keine je nach Periode veränderliche Gestalt annehmen kann.35 Aus Deleuzes, wie auch Barthes’ und Kristevas Auffassung hingegen – und sie zählen zu den einflussreichsten Denkern der Differenz – wird deutlich, dass die kritische Distanz zu den Objekten wissenschaftlicher Betrachtung tendentiell abnimmt, wenn die studierten Objekte vermeintlich dem gleichen (poststrukturalistischen) Diskurs entspringen wie die Überzeugungen der Kritik bzw. der Literaturwissenschaft. Ein weiterer Aspekt dekonstruktiven Denkens ist aus der geschlechterkritischen Perspektive ebenso wichtig, nämlich die typische Metaphorisierung des Weiblichen. Bei Derrida versucht der Phallogozentrismus eine »weiblich« vorgestellte Schrift (im Gegensatz zur männlichen Stimme, die das Sprachverständnis in direkter Kommunikation »phonozentristisch« prägt) zu penetrieren, und frissons (Oszillieren von Bedeutung) sind die Bezeichnungen, die Roland Barthes für die bewegliche Sprache gefunden hat (Renner 1994: 176). 33 Currie beschreibt die Abgrenzung von den strukturalistischen Modellen im Zeichen einer allgemeinen Erkenntnis von der »Unmöglichkeit kritischer Distanz«, die sie etwa auch im Geschichtsverständnis der Poststrukturalisten (weiterentwickelt im New Historicism) äußere. »Here we have a significant shift which characterizes much deconstructive thinking about literature. No longer is structure seen as a straightforwardly objective property of a text under analysis, or indeed of the language system at large. Structure is rather something that is projected on to the object by the analysis itself. Critical analysis is therefore a process of invention rather than a discovery of inherent properties, an act of structuration rather than a science of structure« (Currie 2004: 64). 34 Wie die meisten Poststrukturalisten lehnte Deleuze den Begriff der Postmoderne ab und bezeichnete zeitgenössische Kunst als modern. 35 Die Dekonstruktion der amerikanischen Ausprägung der Yale Critics um de Man wird gar zum »Bestimmungsgrund von Literatur und Sprache überhaupt« (Münker/Roesler 2000: 143 Hervorh. im Original), insofern als sie weniger Lesehaltung ist, als ein in den Texten selbst angelegtes Merkmal der Literarizität.

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indem das Hymen des Textes durchbrochen wird. Das Weibliche ist dabei durchaus positiv konnotiert, steht es doch für jene Elemente, die sich dem Logozentrismus und der Metaphysik entziehen und verweigern (Lindhoff 2003: 94). Dekonstruktiv lesen ist folglich auch »weiblich« lesen. Wie viele andere feministische Theoretikerinnen kritisiert Jane Flax diese Bildsprache in Thinking fragments (1990). »Beyond metaphysics woman turns out to be identical or interchangeable with writing, the other, being, the supplement, the trace« (Flax 1990b: 213). Die positive Bewertung des Weiblichen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Metaphorik der gleichen Zuschreibungen bedient, die schon die philosophischen Theorien der Vergangenheit den Frauen zubedacht hatten. Auch Derrida hantiere damit eine »phallogozentrische Metaphysik« (Flax 1990b: 215). Sein Zugang, so Flax, »[…] seems to replicate woman’s place as the undifferentiated other to man rather than to conceptualize both man and woman as constituted by and existing within historically discrete systems of gender relations. […] Instead woman is confounded with so many other complex categories (writing, style, being, other) that such deconstruction becomes even more difficult« (Flax 1990b: 214).

Derridas Stilisierung des Weiblichen ist dabei durchaus typisch für den Poststrukturalismus: Bei Lyotard, Deleuze und Lacan finden sich ähnliche Abstraktionen von Weiblichkeit, die die Frau metaphorisieren (Gibson 1996: 125). Aus der Position des »Anderen«, in die die Frauen im Verhältnis zu einem männlichen, sich selbst setzenden Subjekt hineingedrängt wurden, kann die dekonstruktive Metaphorik nur begrenzte Befreiung bieten.36 Es bleibt ihre imaginierte »Wesen- und Subjektlosigkeit« (Lindhoff 2003: 96), die – wohlgemerkt in Aneignung durch männliche (dekonstruktive) Philosophen – zum neuen wissenschaftlichen Paradigma erhoben wird. Zusammengefasst ergeben sich zwei Konsequenzen poststrukturalistischer Konzeptionen, die das literaturwissenschaftliche Denken besonders über postmodernistische Texte nachhaltig beeinflusst haben: – Die dekonstruktive Auseinandersetzung mit einzelnen Texten kulminiert notwendigerweise immer im Resultat der Unentscheidbarkeit. – Das konstatierte Schwinden der kritischen Distanz sowie der Grenzen zwischen kritischen, theoretischen und literarischen Genres führt zu einem Rückzug der Literaturwissenschaft auf deskriptive Verfahren, die die Textarbeit nachzeichnen, anstatt sie zu interpretieren oder einer ideologischen Kritik zu unterziehen, weil das kritische Potential bereits in den Texten verwirklicht erscheint. 36 Der dekonstruktive Feminismus versucht trotzdem, das derridasche Bild feministisch nutzbar zu machen (vgl. Abschnitt 1.3).

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Theoretische Grundlagen

1.3

Feministische Theorie und die Anderen – eine postmoderne Positionsbestimmung

»[F]eminist theory more properly belongs in the terrain of postmodern philosophy«, schreibt Jane Flax in einem Aufsatz zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne (Flax 1990a: 42), Sylvia Pritsch betitelt ihre Studie zu zeitgenössischen Subjektkonzeptionen bezeichnenderweise mit Zur textuellen Konstruktion des Subjekts in feministischen und anderen postmodernen Diskursen. Bücher und Artikel mit einer ähnlichen Thematik gibt es viele, sind doch große Schnittflächen – ein »shared discourse« – wie Lidia Curti es bezeichnet (Curti 1998: 2), zwischen der feministischen Theorie, dem Poststrukturalismus und der Postmoderne vorhanden. Oft genannte Übereinstimmungen betreffen die Kritik an Logozentrismus, Essentialismus, Universalismus, Subjektzentrierung und Dualismus sowie die Annahme einer grundlegenden sprachlichen Verfasstheit der Welt, die auch deren hegemoniale Funktionen erkennt (Hekman 1990: 31, vgl. Thronham 1998: 44, Klinger 1998: 25, Curti 1998: 2, für den niederländischen Sprachraum Brouns 1995: 69). Die Rationalitätskritik des Feminismus sei in ihrer Art gar radikaler als andere der Postmoderne zugeordnete Theorien, so Hekman: »But their [the feminists] attack on rationality is more radical than the postmodern critique: it defines causes whereas the postmoderns are only dealing with symptoms. The fact that women are identified with the irrational and men with the rational is a symptom of the underlying problem that all the dualisms of Enlightenment thought are defined by the basic masculine/feminine dualism. Even more significantly, feminist have pointed out that this dualism is not symmetrical […]. Woman is always defined as that which is not man […]« (Hekman 1990: 31, Hervorh. im Original).

Hekman verweist damit auf einen zentralen Beitrag der feministischen Theorie: Luce Irigarays in Speculum de l’autre femme präsentierte Analyse, die vermeintlich neutrale symbolische Ordnung sei eine männliche, die ein hierarchisches System installiere. Innerhalb dieses Systems können, wie Lindhoff zusammenfasst, die unbewussten, ausgeschlossenen und geleugneten Begriffe (Nicht-Identisches, Materie, Sinnlichkeit, Fließendes) mit dem Weiblichen verknüpft werden (Lindhoff 2003: 121). Hekman illustriert gleichzeitig mit ihrer etwas saloppen Argumentation, wie ungenau die feministischen Positionsbestimmungen mitunter sind: Wo Hekman auf die postmoderne Kritik des Dualismus verweist, wäre ein Hinweis auf den Poststrukturalismus präziser. Es ist auffällig, dass in den einschlägigen Artikeln zum Verhältnis der feministischen Theorie zu anderen Konzepten meist keine Unterschiede zwischen Postmoderne, Poststrukturalismus und Dekonstruktion gemacht werden, die Begriffe,

Feministische Theorie und die Anderen – eine postmoderne Positionsbestimmung

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von denen man sich absetzt oder zu denen man sich verhält, also nicht näher definiert werden, dies kritisierte bereits Judith Butler (Butler 1995: 33).37 Wo die Postmoderne vornehmlich als zeitlicher Rahmen verstanden wird, unter den sich verschiedene feministische Theorien fassen lassen, ist dies inhaltlich gesehen nicht ganz unproblematisch: In mancher Hinsicht bleiben die meisten feministischen Ansätze doch dem Modernismus verhaftet (Hekman 1990: 2, vgl. Di Stefano 1990: 64, Lovibond 1993: 408, Alcoff 2006: 71), umgekehrt kann in vielen Theorien der Postmoderne ein systematischer Auschluss feministischer Themen und Kritik konstatiert werden (Flax 1990: 210ff, Owens 1992: 170 f). Die Annäherung zwischen feministischer Theorie und Postmoderne erfolgte, so die gängige Beschreibung, erst in einer relativ späten Phase postmoderner Theorienbildung:38 Mit der Anerkennung der Machtkomponente in kulturellen Definitions- und Ausschlussverfahren im Werk von Michel Foucault einerseits (vgl. Owens 1992: 169), und der feministischen Aneignung der dekonstruktivistischen, stilistisch fließenden Repräsentationskritik39 andererseits gab es zwei Strömungen innerhalb der feministischen Theorie, die sich in die Postmoderne einfügten (Bordo 1990: 136). In den meisten Publikationen zum Verhältnis von Postmodernismus und feministischer Theorie wird eine Entwicklung skizziert, innerhalb derer sich zwei Theoriestränge, die unabhängig voneinander entstanden waren, langsam unter dem Eindruck vieler Parallelen miteinander verbanden, wobei sich die feministische Theorie als quasi externes Moment in die Postmoderne (die bereits als poststrukturalistisch und dekonstruktivistisch unterlegt begriffen wird) einfügte und so deren Theorie um bestimmte Aspekte der feministischen Kritik erweiterte.

37 Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, in denen präziser vorgegangen wird, u. a. Cornell 1992, Modleski 1991, Hutcheon 2000. 38 Dies wird unterstrichen von der Tatsache, dass in den ersten grundlegenden Sammelbänden zur Postmoderne bis weit in die 1990er Jahre die feministische Perspektive völlig ausgeklammert wurde, mit Ausnahme der Kunst- und Literaturwissenschaften, in der seit den 1980er Jahren durch die poststrukturalistische Theorie Übergänge geschaffen wurden (Pritsch 2008: 60). Die zeitliche Bestimmung muss zudem mit national unterschiedlichen Ausprägungen verstanden werden: Während sich Poststrukturalismus und Feminismus in US-Amerika verbanden, orientierte sich die feministische Theorie etwa in Deutschland aus politisch-strategischen Gründen stark an der Kritischen Theorie (Milich 1998: 86 f). Fraser wollte aber auch die 1995 in Der Streit um Differenz ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Judith Butler und Seyla Benhabib, die beide einem US-amerikanischen Kontext entspringen, im Lichte der Konfrontation dieser beiden Theorien sehen (Fraser 1995: 59). 39 Vgl. etwa Drucia Cornells Aufsatz Das feministische Bündnis mit der Dekonstruktion (1992) sowie Lena Lindhoffs Ausführungen zum Einfluss von Psychoanalyse, Poststrukturalismus und Dekonstruktion in der feministischen Literaturwissenschaft (Lindhoff 2003: VIII).

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Theoretische Grundlagen

»Feminist theorists enter into and echo postmodernist discourses as we have begun to deconstruct notions of reason, knowledge, or the self and to reveal the effects of the gender arrangements that lay beneath their neutral and universalizing facades« (Flax 1990a: 42).

Andererseits wurde kritisiert, dass ein solches Verständnis der theoretischen Entwicklungen die Beiträge von Feministinnen zur poststrukturalistischen und postmodernen Theorie fundamental ausklammere und damit bestehende Herrschaftsverhältnisse auch im Bereich der Theorie zementiere. Der Postmodernismus bleibe so eine von Männern dominierte Denkrichtung.40 »In addressing the myth of a postmodernism still waiting for its women we can find an example of a genre, as well as a discourse, which in its untransformed state leaves a women no place from which to speak, or nothing to say« (Morris 1993: 380).

In der Tat hat die feministische Theorie ihrerseits fundamentale theoretische Impulse geliefert. In den 1970er und 1980er Jahren griff sie das strukturalistische Konzept der Differenz auf, verortete so die diskutierte Geschlechterdifferenz auch linguistisch und befreite diese somit von dem ihr zugrundeliegenden Essentialismus (Currie 2004: 89). Zu nennen ist in diesem Zusammenhang etwa Julia Kristevas Unterscheidung des Semiotischen (Sprachkörper, Triebhaftes) vom Symbolischen (kommunikative Sprache, Bedeutung) und die Analyse der dialektischen Abhängigkeit des Symbolischen von dem Verdrängten und Ausgegrenzten. Aufsehen erregte auch der Beitrag von Irigaray, in dem sie aufzeigte, dass der westliche Körper-Geist-Dualismus die Geschlechterdifferenz »funktionalisiert« (Köhler 2006: 14), immer schon in sie eingeschrieben ist, wobei der Frau die Rolle der dem Geist untergeordneten Materie zukommt. Pritsch illustriert die feministisch motivierte Erweiterung poststrukturalistischer Theoreme an einem sehr intelligiblen Beispiel. Waren die 1980er und 1990er Jahre geprägt von der Lehre vom Tod des Subjektes, ergänzte die feministische Kritik die »herkömmliche« Subjektkritik, indem sie die Gegenüberstellung von Subjekt und Sprache, Subjekt und Tod schon in die Geschlechterdifferenz eingeschrieben sieht, wobei die Weiblichkeit auf der Seite des nichtSubjekthaften steht: »Der ›Tod‹ erschien hier nicht als eine mögliche Konsequenz, die ›dem Subjekt‹ bei seiner Dekonstruktion drohte, sondern als Voraussetzung seiner Konstituierung durch Ausschluss« (Pritsch 2008: 21). In einer typisch poststrukturalistischen Bewegung werden Vorgängiges und Nachge40 Siehe hierzu die ausführliche Kritik von Morris (1993). Sie plädiert für die Wahrnehmung von Irigaray, Cixous, Felman, Gallop, Spivak und vielen anderen feministischen Theoretikerinnen als Beiträgerinnen zur Debatte um die Postmoderne. Morris will die Verhältnisse darüber hinaus generell umformulieren und den Feminismus als Rahmen für die Postmodernismus-Debatte sehen (Morris 1993: 381).

Feministische Theorie und die Anderen – eine postmoderne Positionsbestimmung

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reihtes miteinander ausgetauscht und unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz aufgeschlüsselt. Durch den Einfluss der feministischen Theorie trat außerdem, wie Pritsch beschreibt, das »geschlechtliche Leib- und Erfahrungsmodell der Subjekts« an die Stelle des »autonomen Bewusstseinssubjekts« (Pritsch 2008: 456), erfuhr die Leiblichkeit eine Aufwertung. Die gegenseitige Befruchtung von Poststrukturalismus und feministischer Theorie konnte zweifellos blinde Flecken auf beiden Seiten beseitigen, der entstandene Theorienkomplex zeigt sich für beide Seiten großteils nützlich. Trotzdem sind die Abgrenzungsbestrebungen gerade auf der Seite der FeministInnen groß,41 bedeutet die Assoziation mit dem unter dem Mantel der Postmoderne vereinten Poststrukturalismus und der Dekonstruktion doch vor allem auch den Abschied von jenem universellen – hier weiblichen – Subjekt, das die Bedingung politischer Handlungsmacht ist (Alcoff 2006: 71). Die Abgrenzungsdebatte findet also im Wesentlichen vor dem Hintergrund der Ästhetik/ Politik-Unterscheidung statt. Viele feministische Theoretikerinnen sehen in den verschiedenen postmodernistischen Kunstformen rein ästhetische Verfahren, die keine politische Aussage haben können. Sie fordern deshalb eine bewusste Hinwendung zu einer universalistischen Begrifflichkeit mit den entsprechenden politischen Implikationen, die institutionalisierte Ausschlüsse von Frauen bekämpfen können (Bordo 1990: 136, Benhabib 1995: 26, Klinger 1998: 30, Modleski 1991: 22, Lovibond 1993: 408). Dadurch fällt die Kritik der Subjektkonzeption auch weniger radikal aus als im Poststrukturalismus. Der Nutzen einer wechselseitigen Ergänzung der Theorien wird zwar nicht bestritten – »[a] postmodernist reflection on feminist theory reveals disabling vestiges of essentialism while a feminist reflection on postmodernist reveals androcentrism and political naivete« (Fraser/Nicholoson 1990: 20) – ein verzahntes Ineinandergreifen wird aber für schwierig gehalten. Zu den Vorbehalten ob des Ästhetizismus der Postmoderne fügt sich dabei die poststrukturalistische Kritik gegen jeglichen, auch politisch motivierten Universalismus.42 Die solcherart (identitäts-)feministische Theorie sieht sich in der politischen Frage auf Reaktion und Dekonstruktion

41 Die Spaltung innerhalb der feministischen Theorie thematisiert auch Thornham (1998: 45). 42 Claire Colebrook weist darauf hin, dass der Essentialismus, der manchen Theoretikerinnen zum Vorwurf gemacht wird, pur strategisch sei und nicht unbedingt im Widerspruch zum Poststrukturalismus stehe: »However, women can speak as if they form a distinct group precisely because gender ideology has produced them as such. […] On the one hand, then, essences are fictions, imagined identities or imposed categories; this is certainly the case for feminists such as Spivak or Drusilla Cornell who want to use the concept of woman but deny that anything real or pre-linguistic answers to the name« (Colebrook 2004b: 84).

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beschränkt, anstatt die Theorie als Basis für Agitation nutzen zu können (Alcoff 2006: 144).43 »Postmodernism has not theorized agency ; it has no strategies of resistance that would correspond to the feminist ones. Postmodernism manipulates, but does not transform signification; it disperses but does not (re)construct the structures of subjectivity« (Hutcheon 2001: 109).

Auch Linda Hutcheon, die dem Postmodernismus grundsätzlich einen durchaus politischen Charakter zuspricht,44 vertritt die Meinung, eine vollständige Identifikation feministischer Theorie oder ihrer politischen Anliegen mit der Postmoderne oder den Konzepten des Poststrukturalismus sei nicht möglich: »Feminisms are not really either compatible with or even an example of postmodern thought, as a few critics have tried to argue; if anything, together they form the single most powerful force in changing the direction in which (male) postmodernism was heading but, I think, no longer is« (Hutechon 2001: 102).

In dieser politisch orientierten Sichtweise sind die diversen feministischen Zugänge ein historisches Korrektiv für die Postmoderne gewesen, indem sie jene für die Geschlechterdifferenz und die Politik der Repräsentation sensibilisiert hätten. Der Postmodernismus sei aber, so Hutcheon, in sich zu widersprüchlich, um dem Feminismus dienlich sein zu können (Hutechon 2000, S. xii). Andere Vertreter der feministischen Theorie, die der Postmoderne ein nicht nur rein ästhetisches Programm zuschreiben, können die feministische Agenda sehr wohl darin aufgehen lassen. Offen für die Allianz mit der Postmoderne sind – in jeweils unterschiedlichem Ausmaß – u. a. Craig Owens (1992)45, Christine di 43 Umgekehrt wurden vonseiten des »männlichen« Poststrukturalismus ähnliche Vorwürfe laut. Indem der Feminismus sich bewusst dagegen entscheide, die theoretischen Konsequenzen in uneingeschränkter Form anzuerkennen, disqualifiziere er sich als ernstzunehmende eigenständige Theorie. »Es wird eingeräumt, daß der Feminismus zwar praktisch die leidvollen historischen Erfahrungen von Ausgrenzung und Marginalisierung von Frauen – auch und gerade in den in der Aufklärung gründenden Emanzipationsbewegungen – artikuliert hat, daß er aber selbst nicht in der Lage ist, die theoretischen Konsequenzen daraus zu ziehen, jedenfalls nicht mit der gebotenen Strenge. Dies getan zu haben, erscheint demgegenüber als das beinahe ausschließliche Verdienst männlich dominierter Groß-Theorie in der Entwicklungslinie von Nietzsche bis zu Foucault oder Derrida« (Klinger 1998: 27, Hervorh. im Original). 44 Dem Verhältnis von Politik und Postmodernismus widmete Hutcheon ihr Buch The politics of postmodernism, (2002), worin sie postuliert: »Postmodern art cannot but be political« (Hutcheon 2002: 3). Das de-doxifizieren kultureller Repräsentation, wie es im Postmodernismus (als Kunstform) geschehe, sei eine zutiefst politische Haltung, die Poststrukturalismus und Dekonstruktion sehr ähnlich sei (Hutcheon 2002: 4). »The postmodern still operates […] in the realm of representation, not of simulation, even if it constantly questions the rules of that realm« (Hutcheon 2000: 230). 45 Owens postuliert für die 1990er Jahre, dass die feministische Praxis bereits in der Postmoderne angekommen sei, die feministische Theorie sich aber noch nicht hinreichend der

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Stefano (1990), Susan Hekman (1990), David Simpson (1994) und Judith Butler (1995)46, die schließlich auch zu den profiliertesten poststrukturalistischen DenkerInnen zählt und als Galionsfigur der Gender Studies gilt. Daneben wendete sich auch der dekonstruktive Feminismus gegen einige der Grundlagen identitätsfeministischen, politisch-praktischen Denkens. Die feministische Literaturwissenschaft hatte sich in den 1980er Jahren durch den Einfluss der Yale-Dekonstruktivisten sowie der in Frankreich entwickelten ¦criture f¦minine zur dekonstruktiven Literaturwissenschaft entwickelt (Osinski 1998: 78ff).47 Sylvia Pritsch beschreibt, wie Derrida mit seinem dekonstruktivem Verfahren nicht nur, wie bereits in Abschnitt 1.2. dargestellt, etwa in Eperons die Geschlechterdifferenz als unentscheidbar herausarbeitete, sondern darüber hinaus auch eine »strategische Sexualisierung von Sinngebungsprozessen« betrieb (Pritsch 2008: 290), indem er Männlichkeit mit Phallogozentrismus und Subjektivität gleichsetzte, Weiblichkeit hingegen mit Differenz und Schrift. Unter den Anhängerinnen des dekonstruktiven Feminismus, etwa Drucia Cornell, erfährt dieses derridasche Bild eine durchaus positive Bewertung (Pritsch 2008: 243). Dabei rekurriert die binäre Entgegensetzung von Subjekt und Schrift nicht nur auf die Geschlechterdifferenz, sondern reproduziert sie auch. Deshalb, so kritisiert Pritsch, »bedeutete interessanterweise die Dekonstruktion des Subjektes noch nicht automatisch die Dekonstruktion der Geschlechterrepräsentation« (Pritsch 2008: 289). Eine ähnliche metaphorische Bewegung wie bei Derrida findet sich in der ¦criture f¦minine, jener von einer psychoanalytisch verstandenen Dekonstruktion geprägte »mit der psychosexuellen Spezifität der Frau korrespondierenden, genuinen weiblichen Schreibweise« (Schlichter 1998: 10). Luce Irigaray schuf das Bild der weiblichen Schamlippen, die einander ohnehin berührten, im Gegensatz zum männlichen Penis, der nur mit einem Instrument (Diskurs) berührt werden könne. Der weibliche Körper steht somit außerhalb des Diskurses.48 Irigaray und H¦lÀne Cixous entwickelten die poststrukturalistische Ästhetik postmodernen angenähert hätte. In Owens Auffassung ist dies ein Desiderat, da es die Postmoderne für die spezifische Mann/Frau Dichotomie sensibilisierte (Owens 1992: 171). 46 Judith Butler verabschiedete jenes feministische Subjekt, das nach Meinung vieler nötig war, um feministische Interessen auch unter postmodernen Vorzeichen weiter verfolgen zu können. Pritsch bezeichnet Butlers Vorstoß gar als konsequente Umsetzung des vielzitierten Tod des Subjekts: »Mit Judith Butlers Kritik an der einengenden Wirkung des postfeministischen Subjekts in Gestalt der Identitätskategorie ,Frau‹ hielt die postmoderne Rede vom Tod des Subjektes endgültig Einzug in die deutschsprachigen feministischen Debatten« (Pritsch 301). 47 Vgl. die Edition von Barbara Vinken (1992). 48 Auch sie bleibt in ihrer Argumentation der Zweigeschlechtlichkeit verhaftet, argumentiert letztendlich biologistisch, kritisiert Alexandra Busch in Der metaphorische Schleier des ewig Weiblichen (Busch 1989: 143).

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(en)49 der ¦criture f¦minine als Antwort auf die lacansche Auffassung, Weiblichkeit könne sich innerhalb der symbolischen Ordnung nicht äußern. Der Nicht-Ort, der dem Weiblichen so zugeordnet wird, wird von der ¦criture f¦minine offensiv und konstruktiv umgedeutet, indem sie das Andere, das ALogische, Nicht-Idente, das von Derrida und Lacan als Weibliches benannt wurde, ins Symbolische eintreten lässt. »Die beiden Elemente Text (im Sinne von Schrift) und Weiblichkeit konvergierten in eben jenem Begriff der ›Differenz‹, die unter poststrukturalistischen Vorzeichen textuelle wie sexuelle Differenzen umfasste bzw. gleichsetzte (vgl. Moi, Barthes). Ebenso näherten ›Textkörper‹ und ›weiblicher Körper‹ sich an bzw. fielen auf prekäre Weise zusammen (Cixous, Weigel)« (Pritsch 2008: 289).

Die ¦criture f¦minine (bei Irigaray : parler femme) war bald auch innerhalb der feministischen Theorie dem Vorwurf des Essentialismus und Differenzfeminismus50 ausgesetzt, wobei die innere Widersprüchlichkeit des Projektes thematisiert wurde, das eine Renaturalisierung der Weiblichkeit vornehme, die Geschlechterdifferenz durch die Metaphorik wieder einschreibe und damit gegen die eigene politische Agenda handle (Schlichter 1998: 10, Sherzer 1991: 158, Osinski 1998; 164 f). Diese Kritik muss aber, zumindest soweit sie die an das Geschlecht des Autors geknüpfte Naturalisierung betrifft, relativiert werden. Cixous betont, die ¦criture f¦minine sei nicht an das biologische Geschlecht gebunden. Auch James Joyce oder Jean Genet hätten in ihren Werken das weibliche, fließende Schreiben verwirklicht (Allrath/Gymnich 2004: 45). Die grundlegende Kritik der dekonstruktiv geprägten Gleichsetzungen lieferte aber Mary Jacobus in ihrem wegweisenden Artikel Is There a Woman in This Text? (1982), in dem sie den Begriff des Repräsentationalismus einführte. Sie analysierte, nicht der manchmal konstatierte Essentialismus sei das eigentliche Problem, sondern jene Metaphorisierung des Unverständlichen, Unbenennbaren, Unheimlichen im Text, die es als Weibliches repräsentiert (Jacobus 1982: 138). Pritsch benennt die argumentative Umkehrung, die Jacobus in ihrem Text herausgearbeitet hatte: »Repräsentationalismus meint hier ein Begehren nach Darstellung, das nach zwei Seiten zugleich hin erfüllt wird: Indem einem nicht dargestellten Weiblichen eine Repräsentation gegeben wird […] erhalten eben diese ›unheimlichen‹ Textphänomene

49 Es handelt sich nicht um ein gemeinsames Projekt, sondern um ähnliche Denkansätze der beiden Theoretikerinnen. Julia Kristeva wird manchmal auch in diesem Kontext genannt, sie verstand ihre Chora, die Sprache der Lust, allerdings geschlechtsneutral (Osinski 1998: 160). 50 Eine Strömung des Feminismus, die von natürlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern ausgeht, diese aber anders bewertet sehen möchte, als dies im Phallogozentrismus geschieht.

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selbst auch eine Darstellungsform, nämlich als weibliche Allegorie« (Pritsch 2008: 247).

Auffällig ist auch, dass die ¦criture f¦minine einem zweigliedrigen bildlichen Schema verhaftet bleibt, in dem es, so de Lauretis’ Kritik, nebensächlich ist, ob das Geschlecht eine kulturelle Setzung etwa als gender (im Gegensatz zum biologischen sex) oder ob das Weibliche das Imaginäre sei. Eine Konstante bleibt die Abhängigkeit von »man being the measure, standard or term of reference of all legitimated discourse« (De Lauretis 1986: 12). Diese Zweigliedrigkeit wurde auch in der männlich geprägten Dekonstruktion teilweise einer kritischen Revision unterzogen: Derrida hatte in den Jahren nach der Veröffentlichung von Eperons seine Überlegungen radikalisiert und war von der Koppelung der Geschlechterdifferenz an die Zahl Zwei abgekommen, ebenso wie von der Bindung der sexuellen Identität an Körper (Vasterling 1997: 140). Auch Deleuze wandte sich mit einem Denken der Multiplizität gegen das strikte Denken von Binarität, Opposition, Kontradiktion oder Dialektik, offen für das Denken der Multiplizität und Diversität (Currie 2004: 16). In der feministischen und Queer-Theorie war es Judith Butler, die mit Gender trouble (1990) die Abkehr von dem Prinzip der Binarität und der damit verknüpften heterosexuellen Matrix öffentlichkeitswirksam vertrat. Butler unterzog vor allem den Gender-Begriff, also jenen Begriff des sozialen Geschlechts, den die Kulturtheorie so gierig aufgegriffen hatte, der Dualismus-Kritik. »Selbst wenn die anatomischen Geschlechter (sexes) in ihrer Morphologie und biologischen Konstitution unproblematisch als binär erscheinen (was noch die Frage sein wird), gibt es keinen Grund für die Annahme, daß es ebenfalls bei zwei Geschlechtsidentitäten [gender] bleiben muß« (Butler 1991: 23).

Die Anatomie kann nach Butler nicht mehr als Referent des sozialen Geschlechtes gedacht werden, weil auch die Methoden der biologischen Geschlechtsbestimmung geprägt sind von den sozialen Annahmen über die Geschlechter, der Heterosexualität und der Dichotomie der Begriffe (Butler 1991: 163). Diese wirken, das beschreibt Butler in Bodies that matter [dt. Körper von Gewicht], durch »ritualisierte Wiederholung von Normen« (Butler 1997b: 15) auf den Körper ein, indem der Sprache als grundlegendem Kulturfaktor eine performative Wirkung zugeschrieben wird. Die Sprache materialisiert dabei den Körper, »so dass sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen« (Butler 1997b: 32, im Original kursiv). Mit Butlers performativ durch die Sprache entstehenden Körper haben die feministische Theorie, aber auch die Kulturwissenschaften generell, mittlerweile eine Sichtweise kanonisiert, die Vielfalt anstelle von Ein- bzw. Zweiheit setzt und das politisch-feministische Handlungssubjekt poststrukturalistisch verabschiedet. Neben der mittlerweile überholten Debatte innerhalb der feministischen

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Theoretische Grundlagen

Theorie um eine weibliche Schreibweise ist ein zentraler Terminus der Dekonstruktion das »weibliche Lesen«, jene ästhetische Praxis, die Derrida als Dekonstruktion einführte, aber auch das dekonstruktive Lesen mit einem spezifisch feministischen Erkenntnisinteresse, das etwa von Shoshana Felman oder Jonathan Culler geleistet wird (»Reading as a woman«). Die Vorwürfe gegen dekonstruktive Lektüren von Feministinnen gleichen jenen, die bereits in Abschnitt 1.2. zur Dekonstruktion genannt wurden. »Tatsächlich enden Lektüren ganz unterschiedlicher Texte mit dem, womit sie begonnen hatten, und dies ist im feministischen Kontext das Motiv von Weiblichkeit und Differenz« (Pritsch 2008: 243, Hervorh. im Original), eine Feststellung, die den spezifischen literarischen Text in den Hintergrund treten lässt. Ein merklicher Unterschied zur poststrukturalistischen Textpraxis männlicher Prägung ist, wie Pritsch herausarbeitet, eine weniger rigide Trennung von Ideologiekritik und Dekonstruktion.51 Es ist vielleicht auch diese theoretische Unschärfe, die dazu führt, dass in der Praxis der feministisch orientierten Dekonstruktion der unter Abschnitt 1.2. besprochene poststrukturalistische Grundgedanke des Primats der Kunst, aber v. a. der Literatur über die Theorie, abgewandelt erscheint: Insbesondere am Beispiel weiblicher Autoren zeige sich, so bemerkt Lindhoff, dass nicht erst »die dekonstruktive Analyse in den kanonisierten Gedichten männlicher Autoren gegen den vordergründigen Anspruch der Texte erst herausarbeiten muß«, sondern die Texte selbst vorwegnehmen, was eine dekonstruktive Analyse zeigen könnte (Lindhoff 2003: 99).52 Ein Zusammenhang zwischen Geschlecht des Autors und unterstellter Bedeutung ist durchaus gängig. Molly Hite geht in The other side of the story (1989) davon aus, dass weibliche Autoren der Gegenwart radikale narrative Verfahren 51 »In der feministischen Text-Praxis erwies sich die Abgrenzung zwischen ideologiekritischen und dekonstruktiven Ansätzen, zwischen Kritik und Subversion als so trennscharf jedoch nicht« (Pritsch 2008: 216). 52 Auch die feministische Narratologie zeigt dies deutlich, wie Herman und Vervaeck beschreiben: »Vrouwelijke auteurs, vertelstrategieÚn en lezers worden vaak voorgesteld als kritische actoren in de strijd tegen een bestaande mannelijke traditie. In die strijd gebruikt de vrouw vaak de mannelijke wapens en transformeert ze die.« Und weiter : »Heel wat feministische analyses associÚren de mannelijke pool met ondubbelzinnigheid: duidelijk omlijnde tradities, strevingen en identiteiten. De vrouwelijke pool daarentegen staat in het teken van de dubbelzinnigheid: vage tradities, gecamoufleerde (want niet-getolereerde) strevingen, grensoverschrijdende identiteiten« (Herman/Vervaeck 2005: 136 f). Übers.: »Eine beachtliche Anzahl feministischer Analysen assoziieren den männlichen Pol mit Eindeutigkeit: klar umrissene Traditionen, Bestrebungen und Identitäten. Der weibliche Pol dagegen steht im Zeichen von Doppeldeutigkeit: vage Traditionen, verborgene (weil nichttolerierte) Bestrebungen, grenzüberschreitende Identitäten […] Weibliche Autoren, Erzählstrategien und Leser werden oft als kritische Akteure im Kampf gegen die bestehende männliche Tradition gesehen. In diesem Kampf verwendet die Frau die männlichen Waffen und transformiert diese.«

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entwickeln, radikaler gar als die der sogenannten Postmodernisten, und gekennzeichnet durch »pervasive parodies, mimicries, and subversion« (Hite 1989: 167). Die eigentliche Forschungsfrage bestehe dabei nur darin, diese Verfahren auch tatsächlich zu erkennen – und nicht zu bezweifeln, ob es sie überhaupt gebe: »[…] I hope it will be more evident that the key question for feminist narrative is not ›can there be discursive practices that to some extent evade or undermine masculinist presuppositions?‹ but ›Given such discursive practices, under what conditions and using what strategies are we most likely to discern them?‹« (Hite 1989: 3).

Ein weiteres Beispiel ist Elisabeth Bronfens breit rezipiertes Over Her Dead Body (1994), in dem sie die konventionelle literarische Verschränkung von Tod und Weiblichkeit einer Kritik unterzieht. Sie bespricht allerdings gegen Ende des umfangreichen Buches auch die Möglichkeit der »Reliteralisierung«, also der Verkörperung von Klischees, Tropen und Allegorien (in diesem Fall jenes der toten Frau als Bestätigung des männlichen Subjekts) als dekonstruktives und ironisierendes Verfahren der »Hysterikerin«, womit ein poststrukturalistischer Begriff par excellence herangezogen wird (Bronfen 2004: 583).53 Die lange als spezifisch weibliche Krankheit wahrgenommene Hysterie wird im poststrukturalistischen Verständnis von Weiblichkeit unter Umkehrung der Vorzeichen als subversives Konzept vorgestellt, eine Bewegung, die Lindhoff herausstreicht: »Die paradigmatische Erscheinungsform des Weiblichen im poststrukturalistischen Diskurs ist die Hysterie. Die ›Frauenkrankheit‹ der Sprach- und Ichlosigkeit und des psychosomatisierenden Körpers wird zum Vorbild der Dekonstruktion, weil die Frau als Nicht-Subjekt von jeher die subversive Praxis der ›Maskerade‹, der Verweigerung von Identität verkörpere. Insofern die Dekonstruktion sich das so definierte ›weibliche 53 Damit reiht sich Bronfen in eine Kette gängiger poststrukturalistischer und feministischer Denkfiguren zu Wiederholung, Zitat und Differenz ein. Neben den derridaschen Überlegungen zur Wiederholung von Zeichen in jeweils anderem Kontext (siehe Abschnitt 1.2) vertrat Luce Irigaray in Speculum de l’autre femme (1974) einen mimetischen weiblichen Diskurs, der sich nur im einzig bestehenden männlichen Diskurs verorten kann, also auch die patriarchale Terminologie nicht scheut, diese aber »doppelt« erscheinen lassen will (Lindhoff 2003: 120). In den 1980er Jahren fungiert der Mythos von Narciss und Echo vor allem in der Diskussion US-amerikanischer feministischer Literaturkritik als Ausdruck des Verhältnisses von männlicher und weiblicher Subjektivität: Insbesondere mit einem dekonstruktiven und psychoanalytischen Textverständnis wird die Beschränkung von Echos rein reaktiver Sprachfähigkeit auf eine (selektierende) Wiederholung zu einem »Modell subversiven Sprechens« (Pritsch 2008: 205). Mit Judith Butler hat sich die vielleicht einflussreichste Theoretikerin der Gender Studies für »performative Subversionen« ausgesprochen (Butler 1991: 190) und damit eine positive Bewertung der Wiederholung von Geschlechterrollen in der Travestie geliefert: »Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher – wie auch ihre Kontingenz« (Butler 1991: 202).

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Verfahren‹ zu eigen machen will, versteht sie sich als eine Feminisierung des Denkens […]« (Lindhoff 2003: IX, Hervorh. d. Verf.)54.

In einem »optimistischen«, weil die Dekonstruktion von Klischees thematisierenden Abschlusskapitel, widmet sich Bronfen den subversiven Strategien durchgehend weiblicher Autoren, die sich mit den literarischen Konventionen rund um die schöne weibliche Leiche auseinandersetzten. »Es gibt eine Fülle von Beispielen dafür, wie Schriftstellerinnen heute auf ihr Erbe kultureller Bilderrepertoires zurückgreifen, um die doppeldeutige Geste von Nachahmen und Entlarven, von Nachgeben und Widerstehen zu wiederholen, umzukehren und neu zu erfinden« (Bronfen 2004: 582, Hervorh. d. Verf.).

Bronfen weist darauf hin, dass die Strategie der Reliteralisierung durchaus ambig ist, da »die soziale Konstruktion des weiblichen Selbst in seiner Festschreibung durch den männlichen Blick zugleich bestätigt wie auch ironisiert werde« (Bronfen 2004: 583). Interessant ist in diesem Zusammenhang aber weniger diese Ambiguität55 – Doppelcodierungen und Zitate sind ironischen Verfahren eigen –, sondern das abschließend »positive«, weil Subversivität konstatierende Urteil, das angesichts der Textauswahl56 stark an das Geschlecht der Autoren geknüpft scheint. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Kritik an der literarischen Konstituierung des (männlichen) Subjekts anhand der Einverleibung und Tötung jeweils gewisser Aspekte des verdrängten Weiblichen biologistisch-essentialistisch verstanden werden muss: Autoren des weiblichen Geschlechts unterliegen nicht dem Verdacht der affirmierenden Reproduktion dieser und anderer literarischer Konventionen.57 54 Auch hieraus ist ersichtlich, dass Weiblichkeit gerade auch in der Metaphorik der Dekonstruktion als »das Andere« begriffen wird, das nur eine strategische Aufwertung erfährt, aber grundsätzlich in der Differenz verhaftet bleibt. 55 Der ambivalente Zugang zum rollenkritischen Verständnis vor allem weiblichen Schreibens steht bereits in einer Tradition, man denke an die in den frühen 1980er Jahren von der Gynokritik entwickelten Konzepte des »double-voiced discourse« (Elaine Showalter) oder der »Palimpseste« (Sandra Gilbert und Susan Gubar) (Lindhoff 2003: 40). Scheinbar konventionellen Wertmaßstäben verhaftete Texte werden unter der Prämisse, dass weibliches Schreiben immer Ausdruck zweier Traditionen ist, unter ihrer Oberfläche auf ihren (kritischen) Subtext hin gelesen. 56 Erst im Vorwort zur deutschen Neuauflage von 2004 hebt Bronfen auch zwei Werke von Männern als subversiv hervor: Pedro Almodûvars Film Hable con ella verkehrt in den Augen von Bronfen die tödliche Logik, aber auch Shakespeares Wintermärchen, obwohl dessen Romeo and Juliet den konventionellen Darstellungen folgt (Bronfen 2004: XXI). Beide Autoren springen damit »aus der unerbittlichen Todesschlaufe«, leisten ein »Aufgreifen der Bildtradition des schönen weiblichen Todes und einen Ausweg aus dessen scheinbarer Unvermeidbarkeit« – gleichzeitig aber bleibt die Faszination der schönen Leiche in Neuinszenierungen, Filmen und Romanen auch aktueller Zeit erhalten (Bronfen 2004: XXI). 57 Anders bei Kristeva, die gerade den männlichen Autoren der Avantgarde, den »Söhnen« im Widerstand gegen die »Väter«, ein revolutionäres Potential einräumte (Lindhoff 2003: 107),

Feministische Theorie und die Anderen – eine postmoderne Positionsbestimmung

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Der Bias, der sich dabei einschleicht, ist offensichtlich: Das Geschlecht der Autoren bestimmt über das Ausmaß der Subversion mit bzw. fungiert gar als Garant für eine Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz. Das Moment der Intentionalität bzw. schwächer formuliert, einer biologisch-anatomisch verankerten oder zumindest begünstigten Position der (kritischen) Alterität, das mit der Annahme einer dekonstruktiven Schreibpraxis implizit unterstellt wird, widerspricht einerseits im höchsten Maße den grundlegenden poststrukturalistischen Theoremen, ist im Poststrukturalismus andererseits aber in der Sonderstellung moderner Literatur ebenso (und ebenso widersprüchlich) angelegt. Auch abseits jener Studien, in denen das Geschlecht der Autoren eine Rolle spielt, ist – diesmal in einem historisierenden Blickwinkel – festzustellen, dass sich unter dem methodischen Einfluss von Dekonstruktion und Poststrukturalismus das Forschungsinteresse feministischer und Gender-Lektüren auf die Instabilität und Vielfältigkeit von Geschlechtlichkeit richtet und damit, wie unter Abschnitt 1.2 beschrieben, als Vertrauensvorschuss gegenüber der subversiven Kraft der analysierten Texte aufgefasst werden kann. Betrachtet man die Entwicklung der feministischen Theorie, wie es häufig geschieht, nicht nur typologisch, sondern periodisierend als Aufeinanderfolgen dreier konzeptueller Wellen – first, second und third wave feminism – wird dies deutlich sichtbar. Unterscheiden sich die erste und die zweite Welle des Feminismus vornehmlich durch die Frage, ob eine Differenz zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit vorausgesetzt wird, und wie dieser Umstand beurteilt wird, verschiebt sich der Fokus im Feminismus der dritten Welle, der sich in den 1990ern entwickelte, zu grundsätzlicheren Kategorien. Claire Colebrook stellt dies in ihrer Einführung Gender (2004) wie folgt dar : »After the advent of post-structuralism and third-wave feminism, which questioned radical [second wave; Anm. der Verf.] feminism’s affirmation of the intrinsic difference of women, many feminists [….] also affirmed the possibility of thinking beyond identity, gender and distinct kinds. On this picture, feminism would no longer be the affirmation of women, women’s issues or women’s identity, but would, in its criticism of conventional maleness, identity and power, take the criticism of essentialism to include all forms of supposed naturalness, distinct kinds or stable norms« (Colebrook 2004b: 85).

Zu Ende ihres Bandes kontrastiert Colebrook zum besseren Verständnis der verschiedenen Ausprägungen feministischer Theorie vier Lesarten ein und desselben Buches, nämlich Mary Wollstonecraft Shelleys Frankenstein. Die vier Lesarten entsprechen den Zugängen der drei Wellen des Feminismus sowie als damit das biologische Geschlecht aber natürlich ebenfalls – nur unter umgekehrten Vorzeichen – thematisierte.

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Theoretische Grundlagen

zusätzlicher Kategorie der Gender Studies58. Vergleicht man nun die vier von Colebrook präsentierten Zugänge, zeigt sich klar : Je näher der jeweils präsentierte Zugang der Gegenwart (historisierende Betrachtung) und dem Poststrukturalismus (typologische Betrachtung) ist, desto kritischer bzw. subversiver erscheint das Objekt der Lektüre. So werden die in Frankenstein wiederholten Phantasien über ein weibliches Monster in der performativen Lesart des third wave feminism zu einer »critical repetition of the discourse« eines unterworfenen Subjekts (Colebrook 2004: 242). Eine Gender-Lektüre zeigt wiederum auf, das Frankenstein unter anderem positive und die einengenden Grenzen von Geschlechterbinaritäten überschreitende Tendenzen aufweist, anti-patriarchalisch wirkt und Dichotomien dekonstruiert (Colebrook 2004: 246 f): »Far from being a novel that merely criticises constituted genders or the prejudiced norms of male and female, Shelley offers a way of thinking beyond gender to a sexuality, where sexuality is not just the potential to produce already known forms« (Colebrook 2004: 244).

Colebrooks klarer Gegenüberstellung ist es zu danken, dass die Auswirkungen von Forschungsprämissen auf das Objekt der Untersuchungen hier so deutlich in den Vordergrund treten. Eine Fokussierung auf Transgressivität und im weitesten Sinne queere Formen von Geschlecht und Sexualität bringt unbezweifelbare Vorteile mit sich, indem sie sichtbar macht, was gerne der Einfachheit und dem Normierungswillen halber übersehen wird. Sie ergibt sich aber nicht zwingend aus dem Forschungsgegenstand und kann und muss aus Gründen methodischer Überlegungen auch durch andere Zugänge ergänzt oder kontrastiert werden. Aus der Betrachtung der Schnittflächen von Postmoderne und Feminismus ergeben sich für die vorliegende geschlechterkritische Untersuchung folgende Ansatzpunkte: – So ungelöst die Politik/Ästhetik-Debatte um die Postmoderne und den Poststrukturalismus im Kern auch geblieben sein mag, zeigt sie doch, dass es aus verschiedenen Gründen – strategischen, definitorischen, historischen – unangebracht ist, der Postmoderne eine feministische Agenda zu unterstellen, etwa weil der Poststrukturalismus das dualistische Denken verabschiede. Als Ansatzpunkte für eine kritische Betrachtung postmoderner Texte heißt dies: Die durch die feministische Kritik in den Vordergrund gestellte grundlegende Dichotomie von Männlichkeit und Weiblichkeit wird von den Texten, auch wenn sie andere Binaritäten (z. B. innen/außen, Geist/Körper, Realität/Fantasie, Kultur/Natur, Identisches/Nicht-Identisches, Ordnung/ 58 Es sei an dieser Stelle auch bemerkt, dass der Unterschied zwischen third wave feminism und Gender Studies nicht immer trennscharf ist.

Die niederländische Postmodernismus-Debatte

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Chaos) in Frage stellen, nicht notwendigerweise problematisiert. Das postmodernistische Schreiben der Differenz muss im Hinblick auf die Geschlechterdifferenz einer kritischen Relektüre unterzogen werden. – Eine historisierende Betrachtung zeigt, dass auch postmodernes Denken im weitesten Sinn nicht vor Ausgrenzungen gefeit war – die Ergänzung und Richtungskorrektur patriarchaler, phallogozentrischer Prämissen durch die feministische Theorie konnte einige blinde Stellen beseitigen. Einen möglichen blinden Fleck, den Poststrukturalismus, Dekonstruktion und feministische Theorie teilen, ist das Primat der Kunst vor der Theorie. Da zeitgenössische Kunst bzw. Literatur im Denken von Poststrukturalismus und Dekonstruktion die philosophischen Zugänge ästhetisch bereits verwirklicht zu haben scheint und in dieser Hinsicht auch »biased« gelesen wurde (eine Annahme, die der feministischen Theorie– implizit um das ebenfalls problematische Kriterium des Geschlechts des Autors ergänzt wurde), ist es sinnvoll, diesen »Vertrauensvorschuss« anhand von konkreten Textanalysen zu überprüfen, die sich bewusst auch von den poststrukturalistisch geprägten Leseverfahren der dritten Welle des Feminismus sowie der Gender Studies lösen.

1.4

Die niederländische Postmodernismus-Debatte

Unter den Publikationen zum Postmodernismus niederländischer Prägung finden sich nur relativ wenige, die diesen Postmodernismus international, aber auch interdisziplinär ausführlicher situieren. Es waren zwar auch prominente niederländische Anglisten wie Hans Bertens und Theo d’Haen, die den Terminus in den 1980er Jahren international forcierten – dies übrigens mit einem Postmodernismus-Begriff, der stark poststrukturalistisch geprägt war (Ruiter 1992: 115) – die niederländischsprachige Literatur wurde dabei aufgrund des USamerikanischen Blickwinkels aber weitestgehend ausgeklammert. Einen geschichtlichen Überblick über die ersten Jahre der PostmodernismusRezeption in den Niederlanden (und Deutschland) skizzierte Ruiter 1992, indem er die aus den USA herüberschwappende zögerliche Integration des Postmodernismus in den Begriffeapparat der niederländischen (und auch deutschen) Literaturwissenschaftler darstellte. Gegen Ende der 1980er Jahre begann sich der Postmodernismus als literaturhistorische Kategorie langsam auch in den Niederlanden durchzusetzen, auch dank der sehr positiven Rezeption, die v. a. Hugo Bousset dem Phänomen bescherte (Ruiter 1992: 116). Mit den Übersetzungen postmoderner Literatur aus Amerika, etwa mit den Romanen von Thomas Pynchon, war nun auch Vergleichsmaterial in niederländischer Sprache erhältlich. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erschienen, das weist die Bibliografie van de Nederlandse Taal- en Literatuurwetenschap (BNTL) auf, zahlreiche Aufsätze zu bestimmten

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Aspekten des Postmodernismus, vor allem aber begannen Literaturwissenschaftler wie Frans Ruiter, Anne Marie Musschot, Klaus Beekman und später auch Bart Vervaeck und Ernst van Alphen einzelne Texte niederländischer Autoren als postmodern zu charakterisieren.59 In den gleichen Zeitraum fallen auch jene kritisch-polemischen Auseinandersetzungen mit dem Postmodernismus, die Vervaeck dazu bewogen, mit Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman eine positive Lesart postmodernistischer Texte vorzulegen. So z. B. Carel Peeters’ Aussage: »Het postmodernisme is de slordigste manier van denken die zich in tijden heeft voorgedaan« (Peeters 1987: 37). Wie auch Robert Anker kritisiert Peeters vor allem die Verabschiedung des humanistischen Subjekts in einem dekonstruktiv verstandenen Postmodernismus. Andere prominente Figuren aus der universitären Literaturwissenschaft, wie etwa Jaap Goedegebuure, plädieren für den Modernismus als Lesestrategie für Texte in dem großen Zeitraum zwischen 1890 – 2000 (Goedegebuure 2001) und ignorieren weitgehend Textpraktiken, die sich einer solchen Lesart widersetzen. Eine weitere Entwicklungslinie innerhalb der postmodernistischen niederländischsprachigen Prosa zeichnet Bart Vervaeck nach: »Zo wordt ›postmodernisme‹ rond 1995 een populaire en vooral een wazige term. Waar de kritiek het postmodernisme in de tweede fase beschouwde als een ernstig en soms zelfs intellectualistisch fenomeen, ondergaat het concept een metamorfose en wordt het ludiek, zelfs leuk en populair«60 (Vervaeck 2007: 157).

Ernst van Alphen suchte 1989 nach einem breiteren Rezeptionsrahmen, der alle Entwicklungslinien zusammenfassen konnte. Er kritisierte an anderen Ansätzen die jeweils »voreingenommene Korpuszusammenstellung« und das je nach Disziplin unterschiedlich gefasste Verhältnis zum Modernismus (Van Alphen 1989: 21) und plädierte für einen Disziplinen übergreifenden Ansatz, nämlich die Übernahme von Brian McHales Unterscheidung des von epistemologischen Fragstellungen dominierten Modernismus gegenüber einem ontologisch verfassten Postmodernismus – ein Plädoyer, das sich nicht vollends durchsetzen konnte. Übernommen wurde dieser Zugang aber etwa von Korsten (2002). Bart Vervaecks Postmodernisme-Abhandlung von 1999 schließlich präsentiert eine Typologie des postmodernistischen niederländischsprachigen Romans auf Basis eines sehr umfassenden Textkorpus. Der Postmodernismus wird 59 Die Autoren jedoch, deren Werk als postmodern betrachtet wurden, konnten sich damit nicht identifizieren: Willem Brakmam, Gerrit Krol und Louis Ferron situieren sich selbst im Modernismus (Vervaeck 2007: 145). 60 Übers.: »So wird der »Postmodernismus« um 1995 ein populärer und vor allem ein diffuser Begriff. Betrachtete die Kritik in einer zweiten Phase den Postmodernismus als ernsthaftes und sogar intellektuell-elitäres Phänomen, erfährt das Konzept eine Metamorphose und wird spielerisch, ja sogar beliebt und populär.«

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bei Vervaeck nicht als Strömungsbegriff gesehen, obwohl gerade in seinem Korpus – im Unterschied zu vielen Artikeln von anderen Literaturwissenschaftlern, die den Begriff des Postmodernismus typologisch und retrospektiv auf Autoren anwandten – deutlich wird, dass es sich um ein zeitlich sehr stark in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fundiertes Phänomen handelt (das auch neben anderen Formen existieren kann). Dies wird noch unterstrichen durch Vervaecks in einem später erschienenen Artikel geäußerten Beobachtung, die produktivste Phase des Postmodernismus seien die frühen 1990er Jahre gewesen (Vervaeck 2007: 158). Auf theoretischem Gebiet präsentiert sich die Studie sehr zurückhaltend. Vervaeck vermeidet in seinem deskriptiv angelegten Werk systematische Rückbezüge auf Theorien und so auch auf Poststrukturalismus und die Dekonstruktion. Konzepte und Namen aus dem Dunstkreis der Postmoderne werden häufig nur beiläufig oder gar in Fußnoten erwähnt.61 Dann ist aber umso deutlicher, wie dem Personenindex gut zu entnehmen ist, dass es sich um die üblichen »Verdächtigen« handelt, allen voran Derrida (16 Verweisstellen), Deleuze (5 Verweisstellen), Kristeva (3 Erwähnungen), Lyotard (3 Verweisstellen) sowie Greenblatt und White (je eine Erwähnung) und als philosophische Basis Heidegger und Wittgenstein (je 5 Erwähnungen).62 Einzig der Bezug auf die Tradition des Grotesken und Karnevalesken nach Bachtin (Vervaeck 1999: 113) zur Verortung der vielzitierten Körperlichkeit postmoderner Prosa als Kampf gegen die konventionelle sprachliche Ordnung fällt etwas aus dem bekannten theoretischen Rahmen. Die namentlich genannten Konzepte, die der Postmodernismus laut Vervaeck abzulösen beansprucht, sind Strukturalismus und Dualismus (Vervaeck 1999: 31, 142), eine Auffassung, die auf jenes vom Poststrukturalismus geprägte Verständnis der Postmoderne hinweist, das Vervaeck in einer späteren Publikation auch unterstreicht (Vervaeck 2007: 147). In Het postmodernisme und anderen Publikationen Vervaecks kann man neben diesen expliziten Nennungen vieles wiedererkennen, was ebenfalls dem Katalog poststrukturalistischer Theoreme entspricht. Eine kleine Auswahl dieser Parallelen soll an dieser Stelle wiedergegeben werden. Besprochen werden die (parodierende, verfälschende, veränderte) Wiederholung als zentrale Figur des Textes (Vervaeck 1999: 29), eine Vorliebe für Klischees, Stereotype und 61 Interessant ist diesbezüglich auch Vervaecks 2010 erschienener Aufsatz zur Philosophischen Familie der Postmodernisten, worin er aufzeigt, dass zwei der bekanntesten niederländischsprachigen Postmodernisten, Gerrit Krol und Willem Brakman, ihre postmoderne Schreibweise nicht etwa postmodernen Philosophen zu verdanken haben, sondern ihre Gedanken selbständig aus den Theorien von Wittgenstein, Nietzsche, Adorno und Benjamin entwickelt haben (Vervaeck 2010: 103). 62 Auch von einigen postmodernistischen Autoren, darunter Charlotte Mutsaers und Stefan Hertmans, ist bekannt, dass sie sich intensiv mit poststrukturalistischen Theorien von Deleuze (Mutsaers), Derrida und Lacan (Hertmans) auseinandergesetzt haben (Vervaeck 2007: 156).

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Skripts (Vervaeck 1999: 25) und die übergeordnete Rolle der Intertextualität (Vervaeck 1999: 201).63 Auffällig ist, wie die Beschreibung der Intertextualität mit normativen Aussagen zum Umgang der Leser damit verbunden wird. Auch sie weist eine poststrukturalistische Prägung auf. »In ongeveer elk fragment van enige omvang kan je citaten ontdekken die ironisch gebruikt ¦n gecombineerd worden. Het zoekwerk is eindeloos en er is geen enkele garantie dat je iets vindt. Meer zelfs: het vinden is de dood van het zoeken, het einde van de verwijzing en dus het einde van de kennis. Intertekstualiteit is een proces, geen product«64 (Vervaeck 1996: 778).

Die Beweglichkeit und Unendlichkeit der Verweisstruktur, das ständige Entgleiten von Begriffen, das Vervaeck auch immer gemäß Derridas Sprachgebrauch (dissemination) als »aussäen« bezeichnet, ist ebenso ein oft angeführtes Thema (Vervaeck 1999: 54): »Wil de taal die beweeglijkheid aan het woord laten, dan moet ze zich bedienen van beelden die zo dicht mogelijk bij de natuur aansluiten. Dat zijn lijvelijke beelden, metaforen die het woord vlees laten worden. Beelden die tegenstellingen met elkaar verbinden. De verbinding schept een onophoudelijke stroom van associaties, die nooit een punt van evenwicht of stilstand bereikt«65 (Vervaeck 2003b: 39).

Auch das Subjekt ohne Sprachmacht (Vervaeck 1999: 101 f), sowie die Dezentrierung des Erzählens (Vervaeck 1999: 125) und der Abschied von der (chronologischen) Geschichte (Vervaeck 1999: 152) spielen eine wichtige Rolle. Im Postmodernismus liegt »de nadruk op de onbepaaldheid en oncontroleerbaarheid van de wereld en de tekst«66 (Vervaeck 1996: 773). »Zo’n visie rekent af met het geloof in een oorsprong, een dieptestructuur waarvan al het bestaande slechts een afspiegeling zou zijn. […] Maar de eindeloze spiegelingen die daardoor ontstaan, hebben geen begin, geen vast centrum. Er is geen oorspronkelijk beeld dat eindeloos weerkaatst wordt. Alles is weerkaatsing, wat betekent dat je geen onderscheid kan maken tussen echt en fictief […]«67 (Vervaeck 1996: 773). 63 Vervaeck nennt diese den »unentbehrlichen Schlussstein« für alle anderen postmodernenistischen Merkmale (Vervaeck 1999: 201). 64 Übers.: »In fast jedem Fragment von größerem Umfang kann man Zitate entdecken, die ironisch verwendet und kombiniert werden. Die Suche ist endlos, es gibt keine Garantie, etwas zu finden. Aber es gilt: Das Finden ist der Tod des Suchens, das Ende des Verweises und das Ende des Wissens. Intertextualität ist ein Prozess, kein Produkt.« 65 Übers.: »Will die Sprache der Beweglichkeit das Wort geben, muss sie sich an Bildern bedienen, die der Natur so nah wie möglich stehen. Das sind körperliche Bilder, Metaphern, die das Wort zu Fleisch werden lassen. Bilder, die Gegensätze miteinander verbinden. Die Verbindung schafft einen unaufhaltsamen Assoziationsstrom, der niemals Ausgewogenheit oder Stillstand erreicht.« 66 Übers.: »den Nachdruck auf die Unbestimmtheit und Unkontrollierbarkeit der Welt und des Textes«. 67 Übers.: »So eine Sichtweise rechnet mit dem Glauben an einen Ursprung ab, eine Tiefen-

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Die Wahrheit oder der (rekonstruierbare) rote Faden einer Geschichte seien zudem nicht relevant, es zähle, so schreibt Vervaeck unter bewusster oder unbewusster Verwendung der Terminologie von Roland Barthes, nur das Gewebe des Textes (Vervaeck 1996: 775). In der Einleitung zu Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman betont Vervaeck, dass die Abgrenzung von modernistischen oder realistischen Literaturmerkmalen ein »heuristisches Mittel« mit Konstruktcharakter sei (Vervaeck 1999: 9). Wie sehr dieses strategisch eingesetzte Konstrukt die Interpretation prägt, wird an Sätzen wie diesen deutlich: »Als postmoderne romanciers zich niet bedienen van heldere taal […] dan is dat meteen een gevecht tegen de macht en de ideologie die vervat liggen in de zogenaamd heldere taal«68 (Vervaeck 1999, S. 98). Das stark von Vervaecks Forschungen geprägte Verständnis des Postmodernismus zeigt sich auch in anderen Textanalysen. Marc Reugebrink muss sich aktiv zurückhalten, bei der Lektüre von Peter Verhelsts Romanen hermeneutische Interpretationen anzuwenden: »En dus probeer ik lezend in zijn werk niets te snappen, en wanhopige bezigheid, want het Grote Begrijpen ligt voortdurend op de loer«69 (Reugebrink 2001: 14) und sieht schon im zerbrochenen Spiegel auf der ersten Seite eines Romans »een intentieverklaring […] een poÚticale uitspraak, een programma misschien zelfs, een breuk met de realistische literatuuropvatting«70 (Reugebrink 2001: 15). Alternativen zu einem solchermaßen poststrukturalistisch geprägten Textzugang werden eher selten präsentiert. Jan Konst spricht sich gegen eine Lesart von Louis Ferrons Roman De keisnijder van Fichtenwald71 – einem ebenfalls als typisch postmodern rezipierten Text – aus, die auf der bereits skizzierten metafiktionalen Ebene die Problematisierung der Referentialität zum Dreh- und Angelpunkt des Textverständnisses macht (Konst 2011: 19). Er arbeitet anhand einer hermeneutischen und einer gemäßigt intentionalistischen72 Interpretation

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struktur, als deren Abbild alles Existierende verstanden wird. […] Aber die endlosen Spiegelungen, die dadurch entstehen, haben keinen Anfang, keinen festen Kern. Es gibt kein ursprüngliches Bild, das endlos widergespiegelt wird. Alles ist Spiegelung, das heißt, dass man keinen Unterschied zwischen echt und fiktiv ausmachen kann.« Übers.: »Wenn postmoderne Schriftsteller sich keiner klaren Sprache bedienen, […] dann ist das auch gleich ein Kampf gegen die Macht und Ideologie, die in der sogenannt klaren Sprache verfasst sind.« Übers.: »Und so probiere ich lesend in seinem Werk nichts zu verstehen, eine verzweifelte Tätigkeit, denn das große Verstehen liegt andauernd auf der Lauer.« Übers.: »eine Willenserklärung, eine poetologische Aussage, vielleicht sogar ein Programm, den Bruch mit der realistischen Literaturauffassung.« Die Romane Ferrons zählen ebenfalls zu dem Textkorpus, den Bart Vervaeck in Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman bespricht. Nach dem Modest Actual Intentionalism (Konst 2011: 21 f).

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einen referentiellen Bedeutungskern heraus.73 Auf dem Gebiet der Intertextualität habe ich an anderer Stelle für eine präzisere stoffgeschichtliche Einordnung von in postmodernen Romanen zitierten Prätexten plädiert (Bundschuhvan Duikeren 2010). Die intellektuelle Unterbauung des Postmodernismus durch Poststrukturalismus und Dekonstruktion spielt auch in Hugo Brems’ Geschichte der niederländischen Literatur nach 1945, Altijd weer vogels die nesten beginnen, eine wichtige Rolle. Er beschreibt darin den vor allem im akademischen Bereich74 schwierigen und gegenüber anderen Literaturen verspäteten Start der Rezeption des Postmodernismus. Erst mit der intellektuellen und theoretischen Unterfütterung durch den Poststrukturalismus und die Dekonstruktion sei die Akzeptanz des Begriffes in der Anwendung in Literaturwissenschaft und -kritik gestiegen: »Toen de term ›postmodernisme‹ in de Nederlandse literatuur – meer bepaald in de academische literatuurkritiek – binnenkwam, was het vooral in deze poststructuralistische betekenis«75 (Brems 2006: 510). In Brems’ Literaturgeschichte präsentiert sich der Postmodernismus in erster Linie gekennzeichnet durch sprachtheoretische Überlegungen, die sich vor allem auf der Ebene der Repräsentation bemerkbar machen (Brems 2006: 510), durch Metafiktion und die Ablehnung von Hierarchien und anderen rationalen Ordnungen zugunsten von Assoziationsketten. Die Dezentrierung des Subjekts oder die Metaphysikkritik, andere Eckpfeiler poststrukturalistischen Denkens (Münker/Rösler 2000: XIII), sind in Brems’ Darstellung von untergeordneter Bedeutung – obwohl er mit Foucault und Lacan zwei Namen anführt, bei denen die Sprachkritik hinter die Subjektkritik zurücktrat (Brems 2006: 510). Nur an einer Stelle ist die Rede von »[…] der austauschbaren, fließenden Identität der Figuren« (Brems 2006: 520). Dies ist interessant, weil Brems seiner Betrachtung postmodernistischer Prosa und Poesie einen eigenen Abschnitt folgen lässt, indem er den Postmodernismus strukturell mit dem äußerst subjektkritischen feministischen Projekt der ¦criture f¦minine vergleicht. Die Anregung zu diesem Vergleich zieht Brems aus der Beobachtung, dass viele niederländischsprachige weibliche Autoren – er nennt hier u. a. auch Charlotte Mutsaers – »im Umfeld des Postmodernismus anzusiedeln sind« (Brems 2006: 536). Brems nimmt dies zum Anlass, Parallelen zwischen dem postmodernen und dem »weiblichen« Schreiben der ¦criture

73 Vgl. Konst 2009: 271 f. 74 Die Medien hätten den Terminus wesentlich früher und vor allem positiver aufgegriffen (Brems 2006: 509). 75 Übers.: »Als der Begriff ,Postmodernismus‹ in die niederländische Literatur einging, insbesondere in die akademische Literaturkritik, war es vor allem in dieser poststrukturalistischen Bedeutung.«

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f¦minine aufzuzeigen,76 die in der Ablehnung von binären Begriffspolen mit asymmetrischen Machtverhältnissen und universalistischen Deutungsmustern lägen. Zwar könne man Postmodernismus und ¦criture f¦minine nicht miteinander identifizieren, so Brems, zumindest aber böten die Schnittmengen eine Erklärung für die große Anzahl an weiblichen Autoren im Postmodernismus (Brems 2005, S. 537). »In de literatuur van deze vrouwen wordt, binnen de daarvoor gunstige context van het postmodernisme, een ideaal gerealiseerd dat al bij het begin van de feministische bewustwording in de literaire theorieÚn was geformuleerd, ook in Nederland: de utopie van een niet-hiÚrarchische, vloeiende, horizontale, lichamelijke, erotische schrijfwijze. Het zou anderzijds een ideologische vertekening van de werkelijkheid zijn om die wijze van schrijven te identificeren met het werk van vrouwelijke auteurs. Sporen ervat zijn net zo goed te vinden in het werk van mannen: Peter Verhelst, Tonnus Oosterhoff of Leon Gommers«77 (Brems 2006: 538).

Suggeriert Brems anfänglich mit der Verknüpfung des Geschlechts der Autorinnen und einer bestimmten Schreibweise noch, es ginge um eine Resexualisierung poststrukturalistischer Theoreme, weicht er diese Vermutung zuletzt auf mit dem Hinweis auf ähnlich verfahrende männliche Autoren, die den rationalen und ausgrenzenden Diskursen der Moderne ebenfalls eine offensiv verstandene Alterität entgegensetzten, die sich selbst schreiben möchte. Auffällig ist, dass Brems zwar an die Ästhetik der ¦criture f¦minine referiert, ihr kritisches und politisches Potential dabei aber weder in negativer noch positiver Hinsicht berücksichtigt; die Gründe dafür liegen allerdings im Dunkeln. Der diesbezüglich etwas unpräzise Vergleich mit der Ästhetik in der Rolle des tertium comparationis birgt damit die Gefahr, dem dekonstruktiv geprägten Postmodernismus ein feministisches Engagement zu unterstellen, ohne die Texte konkret darauf untersucht zu haben. Dass eine solche Ungenauigkeit in Bezug auf geschlechterkritische Aspekte durchaus typisch für die Postmodernismus-Rezeption ist und insofern wahr-

76 Während Brems die Körperlichkeit postmodernen Schreibens mit der sinnlichen weiblichen Ästhetik vergleicht, zieht Vervaeck, wie oben bereits dargestellt, diesbezüglich Bakhtins Darstellung des Grotesken heran. Beiden geht es um die positive Bewertung der Materialität, die in traditionellen Denkmustern als untergeordneter Teil der Geist/Körper-Dichotomie ausgeschlossen wird. 77 –»In der Literatur dieser Frauen wird, innerhalb des dafür günstigen Kontextes des Postmodernismus, ein Ideal realisiert, das bereits am Anfang der Entwicklung des feministischen Bewusstseins in der Literaturtheorie formuliert worden ist: die Utopie einer nicht-hierarchischen, fließenden, horizontalen, körperlichen, erotischen Schreibweise. Es wäre andererseits eine ideologische Verzerrung der Wirklichkeit, diese Art zu schreiben ausschließlich mit dem Werk weiblicher Autoren zu identifizieren. Spuren davon sind genauso im Werk von Männern zu finden: Peter Verhelst, Tonnus Oosterhoff oder Leon Gommers.«

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scheinlich nicht nur Zufällen geschuldet ist,78 vermag das folgende Beispiel zu illustrieren: Ebenso wie Hugo Brems (Brems 2006: 520) thematisiert Bart Vervaeck die grundlegende postmoderne Präferenz für »het onzuivere en het hybridische«, den grenzenlosen Körper (Vervaeck 1999: 83), das Verschwinden der Grenzen des Ichs (Vervaeck 1999: 69ff) und bezieht sich dabei ganz explizit auf Thomas Dochertys Aufsatz Ethics of Alterity (Vervaeck 1999: 70). Darin postuliert Docherty, durch postmoderne Proc¦d¦s v. a. im Zusammenhang mit der Figurenbeschreibung würde die erkennbare Identität der Figuren aufgelöst – Figuren werden als Prozess, nicht als Produkt begriffen (Docherty 1991: 173) – und damit auch die Position der Leser als Erkenntnissubjekte in Frage gestellt. Die Leser befänden sich so in einer Disposition der Alterität, die Docherty unter Bezugnahme auf die Patriarchatskritik Kristevas79 sogar explizit als »feminisiert« bezeichnet (Docherty 1991: 188). Damit erhalte das Lesen postmoderner Texte gar eine politische Dimension (Docherty 1991: 187). Es geht Docherty nota bene um die automatische Bewegung, die die Leser seiner Ansicht nach von postmodernen Texten zu vollziehen gezwungen werden, und nicht etwa um eine ethische oder ideologiekritische Methode, die auf den Text angewandt wird – auch dies ist ein weiteres Beispiel für jenen »Vertrauensvorschuss«, der Texten qua Zugehörigkeit zur Postmoderne und nicht etwa aufgrund individueller Merkmale entgegengebracht wird. Vervaeck wendet Dochertys Begrifflichkeiten auch an, wie sich in einer Analyse eines Textes von Cees Nooteboom zeigt. Dort schlussfolgert Vervaeck: »In zoverre het onderscheid tussen ander en zelf, verandering en identiteit opgeheven wordt, neigt dat naar de postmoderne alteriteit«80 (Vervaeck 1999: 71). Aus dieser Schlussfolgerung kann abgeleitet werden, dass Vervaecks Vorstellung von postmoderner Alterität einem Verwischen zwischen Selbst und Anderem entspricht. Der grundlegende Gedanke ist plausibel, die Begrifflichkeit, die von Docherty übernommen wurde, jedoch problematisch: Die konstatierte Alterität bleibt eine vage Metapher. Wird sie mit einer Feminisierung gleichgesetzt, wie dies in der Argumentation von Docherty geschieht, handelt es sich gar um einen mittlerweile doch fragwürdigen Umkehrschluss. Es wird dann nämlich die feministische Erkenntnis,81 dass sämtliche binären Begriffspaare unter der Ge78 Eine Ausnahme, zumindest im Hinblick auf die Lyrik, ist Odile Heynders, die gerade die postmoderne niederländischsprachige Poesie im Zeichen der Politik lesen will und eine Trennung zwischen Ethik und Ästhetik in diesem Kontext für hinfällig erklärt (Heynders 2007: 183). 79 Kristeva situiert die Frau außerhalb der männlich geprägten symbolischen Ordnung. 80 – »Insofern der Unterschied zwischen Anderem und Selbst, Veränderung und Identität aufgehoben wird, tendiert das zur postmodernen Alterität.« 81 Docherty bezieht sich explizit auf Kristeva und nicht auf jene Metaphorisierung der Weiblichkeit, die innerhalb des Theoriegebildes der Dekonstruktion Usus ist, wenn etwa Derrida das dekonstruktive Lesen als »weibliches Lesen« bezeichnet, derselben Denkfigur, mittels

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schlechterdichotomie subsumiert werden können, wobei jeweils das innerhalb der aufgeklärten, westlichen Welt verdrängte Andere auf der weiblichen Seite anzusiedeln ist,82 kontextunabhängig einfach verkehrt. Jegliche Form des Anderen wird zum pars pro toto für die Weiblichkeit, anstatt von jenen pluralen (interkulturellen, geschlechtsspezifischen usw.) Alteritäten auszugehen, die die Kulturhermeneutik mittlerweile vertritt,83 von den allgemeinen Bedenken gegen eine solche Setzung ganz abgesehen.84 Sowohl in Brems Verweis auf die ¦criture f¦minine als auch in dem von Vervaeck herangezogenen Konzept der feminisierten Alterität Dochertys schwingen stark jene Kurskorrekturen mit, die die feministische Theorie mit ihrem spezifischen ideologischen Erkenntnisinteresse an anderen postmodernen Theorien angebracht hat, ein Eindruck, der durch die ohnehin gängige saloppe Subsumierung aller, auch feministischer Ansätze, unter dem Begriff der Postmoderne noch verstärkt wird. Dies kontrastiert jedoch mit der Tatsache, dass eine geschlechterkritische Analyse postmodernistischer Texte in der Niederlandistik bis dato nicht stattgefunden hat. Abgesehen von den Aussagen zur typisch postmodernen »hybriden« Körperlichkeit bei Vervaeck finden sich weder bei ihm noch bei Brems generelle Aussagen dazu, inwieweit der vergeschlechtlichte Körper durch die postmodernistischen Praktiken in der niederländischsprachigen Prosa auch in Auflösung begriffen ist.85 Dies, obwohl die Stellung, die beide der postmodernistischen Kritik bzw. Subversion von Dualität zuweisen, durchaus diesbezügliche Aussagen erwarten lassen könnte. Docherty selbst nennt übrigens unter den verschiedenen literarischen Praktiken, die die Figuren in ihrer Entität aufspalten, auch ganz explizit die Verschleierung bzw.

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derer sich etwa auch Lacan als »weiblicher Denker« versteht (Lindhoff 2003: IX), vgl. die Ausführungen in Abschnitt 1.2. »Die Lektüregeschichte des weiblichen Subjekts der 1970/80er Jahre […] zeigt sich in großen Teilen als eine komplementäre Erzählung zum traditionell nicht markierten, aber männlich gedachten Subjekt […]: Die Entwicklungsgeschichte des modernen Subjekts mit seiner Ambivalenz einer zwischen Körper und Geist, Ich und Welt gespaltenen Verfasstheit und dem Wunsch nach Ganzheit […] bot die Voraussetzung und den Ansatzpunkt für feministische Bestimmungen des Weiblichen. Als das Andere sollte es in phantasmatischer Weise dieses Begehren nach Vollkommenheit befriedigen – sei es in der Repräsentation von Natur, in idealisierter Ganzheit oder Mangelhaftigkeit« (Pritsch 2008: 285, Hervorh. im Original). Etwa mit Daniel Bells »cross cutting identities« (Kuch 2002: 8). Vgl. etwa die Übersicht zum Verhältnis postkolonialer und Gender-Theorien bei Dietze (2005). Hierzu Pritsch: »[B]ereits zu Beginn der 1980er Jahre wurde bezweifelt, dass das Symbolische unter Beibehaltung der strikten Geschlechterdifferenz, durch die es strukturiert ist, tatsächlich verändert werden könne […]. So erschien das weibliche Imaginäre als eine pure Setzung, welche die Geschlechterdifferenz, statt sie aufzulösen, nur verstärke« (Pritsch 2008: 287). Das trifft auch auf andere einschlägige Texte zu. Die einzige mir bekannte Ausnahme ist ein Artikel von Sven Vitse über die Prosa Atte Jongstras (Vitse 2004). Dort äußert sich Vitse kritisch über die Position der Frau als »Anderem«, ein Zugang, der unter Abschnitt 3.4.1 genauer besprochen wird.

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Vertauschung (»confusion«) des Geschlechtes der Figuren (Docherty 1991: 183),86 die einer solchen Subversion natürlich mehr als zuträglich ist. Insbesondere in der niederländischen Postmodernismus-Debatte entpuppt sich der Geschlechter-Aspekt als blinder Fleck, der durch die oben genannten theoretischen Übertragungen sowie das in Abschnitt 1.2. behandelte dekonstruktivistische Primat der Literatur vor der Theorie zudem weitgehend kaschiert ist. Zusammenfassend lässt sich feststellen: – Die Rezeption des Postmodernismus im niederländischen Sprachraum ist geprägt von einem stark poststrukturalistisch unterlegten Verständnis postmodernen Schreibens. Die Auflösung binärer Ordnungen wird in den einschlägigen Texten als Eigenschaft und Ziel postmodernistischen Schreibens festgehalten. – Es zeigt sich, dass das postmodernistische Schreiben auf der »anderen« Seite des rationalen und hegemonialen Diskurses verortet wird. Der Automatismus, mit dem dieses Andere terminologisch mit einer weiblichen Perspektive gleichgesetzt wird, ist – sosehr er darin begründet ist, dass die feministische Theorie in der Vergangenheit alles »Andere« unter der Kategorie des Geschlechtes subsumiert hat – als Umkehrschluss sehr problematisch, da er dazu führt, dass das Geschlecht als Analysekategorie verdeckt wird.

86 Vervaeck erkennt der »Verschmelzung von Figuren« generell zwar eine sehr wichtige Rolle zu (Vervaeck 1999: 69), ob dies auch auf die verschiedenen Geschlechter zutrifft, thematisiert er aber nicht.

2

Methodische Grundlagen

2.1

Mögliche Welten als Modell der Beziehung zwischen Text und Welt

Abgesehen von der viel diskutierten Fragestellung, ob der postmodernen Ästhetik auch ein politischer Aspekt abzugewinnen ist, stellt die Ablehnung der Vorstellung der Repräsentation1, die Problematisierung der Referentialität von Sprache sowie die postmodernen Texten oft inhärente kontradiktorische Logik eine methodische Herausforderung für die Literaturwissenschaft dar, insbesondere, wenn diese in einer ideologiekritischen Lektüre einen letztlich klaren Text/Welt-Bezug herstellt. Im Folgenden soll die literarische Adaption der Theorie der möglichen Welten als Modell vorgestellt werden, das die postmodernen Texte abseits von Negativbeschreibungen konzeptionell zugänglich machen kann. Der Begriff der »möglichen Welten«, ursprünglich von Leibniz als transzendentalphilosophischer Terminus eingeführt, wurde im Rahmen der Genese der Modallogik in der analytischen Philosophie, insbesondere durch Rudolf Carnap und Saul Kripke, von seinen metaphysischen Inhalten befreit und fand schließlich auch Eingang in die Literaturtheorie. Einige wenige Namen dominieren dort dieses Feld: Lubomir Dolezel, Umberto Eco, Thomas Pavel und Marie-Laure Ryan haben in den 1980er und 1990er Jahren die Bereiche einer sinnvollen Anwendung skizziert sowie die Theorie für die Literaturanalyse nutzbar gemacht. Auch im niederländischen Sprachraum ist das Konzept angekommen: Widmeten Luc Herman und Bart Vervaeck der Theorie in ihrem erzähltextanalystischen Handbuch Vertelduivels. Handboek verhaalanalyse (2001) lediglich einen kürzeren Abschnitt, nimmt das Konzept in der überarbeiteten Fassung von 2005 bereits bedeutend mehr Raum ein. Die mögliche Welt der analytischen Philosophie ist ein Modell, anhand des1 Gedacht als die Darstellung einer Ebene in einer anderen, einschließlich der damit verbundenen Vorstellung einer Hierarchie von Original und Kopie, echt und fiktiv.

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Methodische Grundlagen

sen der modale Status von Propositionen (notwendig, wahrscheinlich, kontingent) entschieden werden kann. Neben der aktualen, tatsächlichen Welt2 können andere Zusammenhänge vorgestellt werden,3 innerhalb derer ein Satz wahr sein kann. Dabei ist logisch notwendig, was in allen möglichen Welten wahr ist (dies umfasst etwa die analytischen Aussagen a priori im Sinne Kants), möglich, was in mindestens einer möglichen Welt wahr ist, und kontingent, was in manchen Welten wahr, in anderen falsch ist. Das Konzept der möglichen Welten beschränkt sich nicht auf die logische4 und analytische5 Modalität, sondern auf kontrafaktische Zustände im Allgemeinen: Die Philosophie kennt etliche Modalitäten. Der Mögliche-WeltenTheoretiker John Divers listet in seinem ausführlichen Standardwerk Possible Worlds (2002) unter anderem die nomologische Modalität (Naturgesetze) auf, des weiteren die deontische (normative Aussagen), die epistemische (Wissensbedingungen) und die doxastische Modalität (Glaubensbedingungen) (Divers 2002: 4). Von der Umlegung der Theorie auf die Literaturwissenschaften versprach man sich einen Zugang, der dem speziellen Charakter fiktionaler Erzählungen gerecht wird. Diesen kann so der Status alternativer Welten zugesprochen werden, die dennoch in einer definierbaren Beziehung zur aktualen (Tatsachen-) Welt stehen.6 In der Tat lässt das literaturwissenschaftliche Modell einige seit dem Strukturalismus verpönte Fragestellungen methodisch wieder greifbar werden, darunter die Frage nach der Referentialität literarischer Texte (Ronen 1994: 5, Ryan 2005: 448, Dolezel 1988: 484, Martin 2004: 149, Pavel 1986: vii, Herman/Vervaeck 2005: 154).

2 Die aktuale Welt ist, wie alle anderen Welten innerhalb einer Mögliche-Welten-Theorie, ein abgeschlossenes System, das aber – und dies zur Unterscheidung von den anderen Welten – eben nur Tatsachen und keine Potentialitäten erfasst. 3 Über den ontologischen Status der möglichen Welten wird in der Philosophie gestritten. Die modallogische Diskussion setzt damit die Tradition der Realismus/Antirealismus- bzw. Realismus/Nominalismus-Debatten (Willaschek 1996: 436 f.) der Philosophie fort. Während Saul Kripke, einer der Väter der Theorie, in den möglichen Welten rein formale Annahmen sieht, betrachten andere Theoretiker, allen voran David Lewis in On the Plurality of Worlds (1986), mögliche Welten als real existierend. Insofern Lewis’ Konzept allen möglichen Welten den gleichen ontologischen Status verleiht, kann die aktuale Welt sich nur relativ von den anderen unterscheiden, indem sie als indexikalischer oder deiktischer Begriff fungiert. 4 Hierunter fällt etwa die Regel des Tertium non datur. 5 In der Wortbedeutung enthaltene Definitionen: Ein Junggeselle ist unverheiratet. 6 Kritik an der Anwendung der Mögliche-Welten-Theorie auf die Literatur blieb nicht aus. Den wichtigsten skeptischen Beitrag liefert Ruth Ronen mit Possible Worlds in Literary Fiction (1994), einem umfassenden Überblickswerk zu den Zugängen und Hintergründen der Theorie der möglichen Welten. Sie bezeichnet den Charakter der Anwendung des philosophischen Konzepts auf die Literaturtheorie als »diffuse metaphor« (Ronen 1994: 7).

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»Modern literary theory regards the mimetic view […] as obsolete. In a nonmimetic framework fiction is granted a direct position in relation to which the real world has no privileged position, a framework within which the subtleties of literary representation can be fully appreciated. Adopting parts of the possible world framework […] does not result either in a mimetic or an anti-mimetic stand: it combines structural concerns with referential considerations« (Ronen 1994: 106).

Es ist eine sehr differenzierte Auffassung der Beziehung zwischen Text und Welt, die die Theorie der möglichen Welten vertritt. Literatur wird als nicht-referentiell aufgefasst. Sie aktualisiert, d. h. realisiert innerhalb des Kontexts der Fiktionalität eigene Welten, mit den literarischen Figuren, die diese Welt bevölkern. Die Beziehung zur aktualen Welt der Leser (ihrer Lebenswirklichkeit) entsteht über deren kognitive Leistung, indem sie ihre Welt – wo nötig – auf das jeweilige textuelle Universum beziehen müssen: Fiktionale Universen sind per definitionem unvollständig. Darüber kann erklärt werden, wie textuelle Leerstellen mit wissenschaftlich oder kulturell vorgegebenem Wissen gefüllt werden, ohne klassische Repräsentationsmodelle zu bemühen. Indem davon ausgegangen wird, dass Literatur ihre eigentlichen Referenten im Sinne der verschiedenen fiktionalen Welten erst schafft, wird außerdem dem performativen Charakter von Sprache Rechnung getragen. Auch abseits der Referentialitätsthematik birgt das Modell Vorteile, gerade auch im Hinblick auf postmoderne Texte.7 Brian McHale kritisiert jenen inadäquaten Umgang mit postmodernen Texten, der einige Jahre später auch für Vervaeck den Auslöser lieferte, sich für ein anderes Verständnis des Postmodernismus einzusetzen: die Analyse mit strukturalistisch-formalistischen oder hermeneutischen Modellen. Diese strebten, so McHale, eine interpretatorische Sicherheit an, die in Werken wie jenen von Thomas Pynchon zum »simple misreading« führt, »the common denominator being their oversimplification of the complex and problematical ontology of objects and beings in Pynchon’s world« (McHale 1992: 88). Eine solche inadäquate Strategie wäre beispielsweise das Verständnis vom postmodernen Klassiker Gravity’s rainbow, indem die kontradiktorischen Aussagen im Roman als Bewusstseinsinhalte einer oder mehrerer im Text auftretender Figuren interpretiert wurden, und damit die

7 Ralf Grüttemeier beschreibt in seiner Niederländischen Literaturgeschichte (2006) die postmoderne niederländischsprachige Prosa – und explizit auch Werke von Verhelst, Mutsaers, Jongstra und Hertmans – als Spiel mit möglichen Weltentwürfen ohne Wahrheitsanspruch (Grüttemeier 2006: 308). Hier drängt sich die Theorie der möglichen Welten als Herangehensweise geradezu auf. Auch Frans-Willem Korsten zieht mit Gilles Deleuzes Konzept der Virtualität eine Variante des Denkens über mögliche Welten heran, um postmoderne Körperkonzeptionen zu fassen (Korsten 2002: 273).

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Verschiebung der ontologischen Problematik auf eine epistemologische oder psychologische Ebene.8 »It eliminates ontological instability by substituting an epistemological and psychological problem, thus ›de-realizing‹ everything and removing the sting from the question, real or unreal? But the price is exorbitant: the possibility of entertaining several alternative worlds at once, the need to gauge the evidential value of any given passage, the whole rich hesitations between competing hypotheses – all these are lost« (McHale 1992: 89, Hervorh. d. Verf.)

Die bewusst ontologische Perspektive, die so typisch ist für McHales Postmodernismus-Verständnis, lenkt hingegen die Aufmerksamkeit auf die ko-existierenden alternativen Welten,9 die nicht nur im Bewusstsein eines souveränen Subjektes situiert sind. Indem man den Text mit Eco als »machine for producing PW’s [Possible Worlds]« (Eco zitiert nach Ryan 2005: 448) begreift, können solche textinternen Strukturen ebenfalls erfasst werden. Meist ergibt sich ein hierarchisches System, innerhalb dessen zwischen der zentralen fiktionalen Welt und den ihr untergeordneten Satelliten unterschieden werden kann, etwa Träume oder widersprüchliche Schilderungen (vgl. auch Herman/Vervaeck 2005: 154). Ryan prägte dafür den Begriff des »textuellen Universums« (Ronen 1994: 8 f.), der Gesamtheit der aus einem literarischen Text hervorgehenden Welten. Diese Welten werden aber nicht in erster Linie von der aktualen Welt der klassischen modallogischen Prägung aus erschlossen, sondern aus dem textuellen Universum selbst. »Recentering« nennt Ryan den Vorgang, währenddessen die Leser eine fiktionale Welt in dem von Kendall Walton so bezeichneten make-believe für die Dauer der Lektüre zur aktualen Welt (oder präziser : textuell aktualen Welt) machen. Von ihr ausgehend erschließen sie die Satelliten der (fiktional) möglichen Welten (Ryan 1991: 21 ff.) so, wie auch im streng modallogischen Zugang die aktuale Welt der Tatsachen von Welten in alternativen Zuständen umgeben ist. Daraus ergibt sich folgendes System: »[…] nonfictional texts describe a system of reality whose center is occupied by the actually actual world; fictional ones refer to a system whose actual world is from an absolute point of view an APW [alternative possible World]« (Ryan 1991: 24).

Die Verbindung zwischen dem textuellen Universum mit seiner jeweils aktualen Welt und dem nicht-fiktionalen System der aktualen Welt wird über Zugänglichkeitsrelationen definiert. Pavel (1986) oder Ryan (1991) gehen von jeweils 8 Diese Kritik funktioniert natürlich vor allem vor dem Hintergrund des unter Abschnitt 1.1. behandelten »ontological dominant«, das wiederum aufgrund seiner Produktivität ein bewusst eingenommener – aber deshalb auch immer relativierbarer – Blickwinkel ist. 9 McHales methodologische Kritik umfasst allerdings ihrerseits keine alternativen methodischen Ansätze.

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unterschiedlichen Zugänglichkeitsrelationen zu den textuellen Universen und somit auch von verschiedenen Ausprägungen von Fiktionalität aus; Ryan legte dazu 1991 eine detaillierte Studie vor. Die aktuale Welt unserer Realität bleibt dabei von Ryan als stabile Ontologie unhinterfragt, ein Manko dieses Zugangs, wie Ronen kritisiert, das allerdings auch auf die Modelltheorie in der Logik zutrifft (Ronen 1994: 69 – 70).10 Ryan listet die folgenden Variablen der Zugänglichkeit auf, die hier der besseren Verständlichkeit halber mit den jeweiligen Entsprechungen – so vorhanden – aus der eingangs vorgestellten Terminologie Divers angeführt werden: Chronologisch

Die Gegenwart der textuell aktualen Welt muss vor oder in der Gegenwart der aktualen Welt liegen, nicht danach. Die textuell aktuale Welt soll, insofern sie von in der aktualen Historisch kohärent Welt bekannten Personen als Figuren Gebrauch macht, keine anachronistischen Züge aufweisen. Logisch Logische Modalität bei Divers Analytisch Analytische Modalität bei Divers Linguistisch Die Sprache, in der die textuell aktuale Welt beschrieben wird, muss in der aktualen Welt verständlich sein. Physisch Nomologische Modalität bei Divers Taxonomisch (Biologie) Die textuell aktuale Welt muss von denselben Spezies bevölkert sein wie die aktuale Welt (als zusätzliches Kriterium, bei Divers in dieser Form nicht vorhanden). (nach Ryan 1991: 33, 45)

Für verschiedene Genres, wie etwa Science-Fiction, realistische Erzählungen, Lautgedichte usw. ergeben sich so unterschiedliche Zugänglichkeitsrelationen, wobei bis auf Lautgedichte alle von Ryan aufgelisteten Textformen in irgendeiner Form aus der aktualen Welt zugänglich sind (Ryan 1991: 34 ff.) und damit auch in den jeweiligen Bereichen offen stehen für die Ergänzung der Leser der textuellen Leerstellen.

10 Umberto Eco entwickelt als Zugeständnis an den Poststrukturalismus ein alternatives Modell der aktualen Welt, indem er eine Referenzwelt zwischen die aktuale und die textuelle Welt schiebt, die ein diskursives Konstrukt der epistemologisch unerreichbaren aktualen Welt ist (Ronen 1994: 70). Grundsätzlich muss darüber hinaus davon ausgegangen werden, dass die aktuale Welt sich ebenfalls für alle Leser anders darstellt, da sich je nach kulturellem oder sozialem Hintergrund auch der Referenzrahmen verschiebt.

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2.1.1 Die Rolle der Leser Bezieht sich die Feststellung der Zugänglichkeit auf die bekannten Aspekte des jeweiligen textuellen Universums, orientiert sich die Rolle der Leser bei der Konstruktion der fiktionalen Welt an den unbekannten Faktoren, denen sie sich über das von Ryan so bezeichnete »Prinzip der geringsten Abweichung«11 nähern (Ryan 1991: 51). Die Genese dieses Prinzips ist nicht in erster Linie kognitiven oder rezeptionsästhetischen Überlegungen zu verdanken, sondern lässt sich, wie die meisten Entwicklungen in der neueren Mögliche-Welten-Theorie, auf David Lewis Modallogik zurückführen. In seinem maßgeblichen Band Counterfactuals (1973) führt er den Begriff der »nähest möglichen Welt« ein (Lewis 1097: 19 f), zu verstehen als eine modelltheoretische Abwandlung von Ockhams Skalpell, um unter allen möglichen Welten und somit unter den Wahrheitsbedingungen jene kontrafaktische Welt auswählen zu können, die der aktualen Welt relativ am ähnlichsten ist. Angewandt auf die Literaturwissenschaft bedeutet dies, dass auch die Leser eines Romans von der größtmöglichen Nähe der textuell aktualen zu ihrer aktualen Welt ausgehen, ein Umstand, der sich in ihrer Rekonstruktion dieser textuell aktualen Welt niederschlägt: »From the preceding analysis, we can derive a law of primary importance for the phenomenology of reading. This law – to which I shall refer as the principle of minimal departure – states that we reconstrue the central world of a textual universe in the same way we reconstrue the alternate possible worlds of nonfactual statements: as conforming as far as possible to our representation of AW [the actual world]« (Ryan 1991: 51).

Der unter Abschnitt 2.1. beschriebene nicht-referentielle Charakter der fiktionalen Welt wird somit pragmatisch aufgeweicht. Über die kognitiven Prozesse, die beim Lesen stattfinden, wird auch das Verhältnis zwischen aktualer und textueller Welt wieder auf referentielle Säulen gestellt. Der Text produziert seine eigene Referenzwelt und verweist nicht auf ein »Außen«, sondern betont die Rolle der Leser bei der Herstellung dieser Welt. Ausschließlich in den Fällen, in denen der Text über eine eingeschränkte Zugänglichkeit explizit von den Normen unserer aktualen Welt abweicht, vergrößern die Leser in ihrer Vorstellung die Distanz zwischen den Welten. Geht es um reine Leerstellen im Text, werden diese gemäß des Prinzips der geringsten 11 Andere im literaturwissenschaftlichen Diskurs gebräuchliche Begriffe für dieses Phänomen sind Kendall Waltons »principle of mutual belief« oder auch »reality principle« (Ryan 2005: 447). Pavel beschreibt ähnliche Phänomene, allerdings ohne diese einer systematischen Erfassung zu unterwerfen (siehe hierzu Pavel 1986: 105 f).

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Abweichung mit Elementen aus der vertrauten aktualen Welt ergänzt,12 ein theoretischer Ansatz, den schon Roman Ingarden mit Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (1968) und, in etwas veränderter Form, Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik verfolgt. Konsequenterweise hängen auch die Wahrheitswerte interpretativer Aussagen von den so konstruierten Wahrheitsbedingungen ab. Wie »minimal« die postulierten Differenzen zwischen den Welten dabei in der Vorstellung der Leser gestaltet sind, kann anhand zweier von Ryan genannter Beispiele demonstriert werden.13 Wenn auch in Madame Bovary an keiner Stelle erwähnt wird, wie viele Beine Charles Bovary hat, wird die Aussage, »Charles Bovary hat nur ein Bein« doch in der textuell aktualen Welt als falsch beurteilt. Dies geschieht auf Basis der Zuschreibung des Prädikats »Mensch« auf die Figur und der ans »Menschsein« verbundenen Definitionen in der aktualen Welt. Noch deutlicher tritt die Leistung der Leser bei leicht von der aktualen Welt abweichenden Beschreibungen hervor : Ein blaues Reh, das in einem fiktionalen 12 Kritiker von Thesen in der Nachfolge von Lewis’ »nearest possible world«, wie Lubomir Dolezel und Felix Martinez-Bonati, weisen wie auch Wolfgang Iser darauf hin, dass Fiktion sich gerade durch ihre Leerstellen auszeichnet (Dolezel 1995: 201, Iser 1994: 279) und plädieren für eine Unentscheidbarkeit von solchen Propositionen. Zwar ist diese Forderung als akademischer Standpunkt in der Literaturtheorie sehr verständlich; allzu konsequent gedacht kann in derartigen Ansätzen jedoch übersehen werden, dass dann auch eine problematische Grenzziehung zwischen der Anwendung des intuitiven Prinzips während des Lesevorganges einerseits und der Interpretation eines Textes auf Basis von Zugänglichkeitsrelationen andererseits erfolgen muss. Es ist letztendlich illusorisch zu meinen, die Leser kämen bei ihrer Rekonstruktion einer textuellen Welt gänzlich ohne eine solche Maxime aus. So interpretieren die Leser eines fiktionalen Textes den Satz »Barbar, der Elefantenkönig, besuchte ein Restaurant« nicht nur als raum-zeitliche Situierung einer Handlung, sondern übertragen das anthropomorphe Schema, das von der Bezeichnung eines Elefanten mit einem Eigennamen und darüber hinaus als »König« ausgeht, auf die Motive (Hunger) der Figur (Ryan 1991: 52). Dies schließt nicht aus, dass für ein Verständnis des Textes kaum relevante textuelle Leerstellen auch während des Lesevorgangs unbesetzt bleiben (können) (Iser 1994: 279). Ein Lesevorgang, der völlig ohne solche Implikationen auskommt, ist hingegen undenkbar : »Without the principle, interpretation of verbal messages referring to APW’s [alternative possible worlds, fictional worlds] would be limited to the extraction of strict semantic entailments« (Ryan 1991: 52). Eine solch strenge Sicht der Dinge würde unserem Begriff von Literatur vollkommen widersprechen. Und auch Dolezel erkennt die Notwendigkeit solcher Implikationen von Seiten der Leser an: »[…] a logical procedure has a cognitive base« (Dolezel 1995: 205). Dolezels Bedenken in Bezug auf ein »Zukleistern« der textuellen Struktur mit referenzweltlichen Sinninhalten sind deshalb auch gemäßigt formuliert: »The fictional text does not hinder the imagination of its readers. But it asks them to respect the fictional world’s otherness, to reconstruct it in its uniqueness, and thus to readjust, rather than reconfirm, their experience« (Dolezel 1995: 210). Die Unterschiede zu Ryans Zugang sind faktisch also nicht so groß, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Und auch Ryan räumt – wie übrigens auch Pavel (1986: 95) – ein, dass dem Prinzip der geringsten Abweichung in fiktionalen Texten Grenzen gesetzt werden müssten, weil es sonst zu absurden Annahmen kommen könnte, in denen der Leser den Figuren des Märchens Rotkäppchen unterstellen kann, Thomas von Aquin gelesen zu haben (Ryan 1991: 53). 13 In Anlehnung an Dominique Ch–teaux.

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Text eine Rolle spielt, entspricht in jeder Hinsicht unser aller Vorstellungen von einem Reh, bis auf die Farbe seines Felles. Wiederum hat diese Bezugnahme auf die aktuale Welt Auswirkungen auf die Wahrheitswerte in der textuell aktualen Welt: Die Proposition, Rehe hätten ein einziges Horn auf der Stirn, gilt deshalb auch als falsch, es sei denn, der Text etabliere diesbezüglich eine weitere Abweichung. Für den kritischen Fokus auf Geschlechter- und Körperkonzeptionen bedeutet dies, dass alles, was nicht explizit als abweichend vorgestellt wird, sogar innerhalb von fantastischen Welten konventionell wahrgenommen wird; eine Feststellung, die aufgrund stark veränderlicher Referenzrahmen weniger für die sozialen Geschlechterrollen von Belang ist, als für jene biologisch-anatomischen Unterschiede innerhalb eines zweigeschlechtlichen Schemas, die als Grundlage für diese Rollen meist vorausgesetzt werden. Schon kleine, manchmal aufgrund der sprachlichen Bedingungen kaum zu umgehenden Hinweise im Text wie etwa Personalpronomen können so die Rezeption der Leser entscheidend steuern. Das Prinzip der geringsten Abweichung präsentiert sich folglich als fließender Übergang von einer intuitiven Lesehaltung zu einer bewusst reflektierten interpretativen Entscheidung auf Basis eines »lewisschen Skalpells«. Fiktionale Texte werden als nicht hermetisch begriffen, sondern unterhalten über das Lesen ein Band mit der aktualen Welt.14 Inwieweit diese allgemeine Feststellung auch auf postmoderne Texte zutreffen kann, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.

2.1.2 Die Besonderheiten postmoderner Welten Als unmögliche Welten in einem klassischen Mögliche-Welten-Universum gelten jene, die mit den Gesetzen der Logik brechen. Ihre Zugänglichkeit ist nicht gegeben, eine Feststellung, die auch viele textuelle Universen des Postmodernismus unzugänglich erscheinen lässt. Doch die breite Palette an Zugänglichkeitsrelationen, die unter Abschnitt 2. diskutiert wurde, eröffnet auch hier noch 14 Neben dem leservermittelten Einbruch der aktualen Welt in das textuelle Universum spielt auch Intertextualität in Ryans Zugang eine Rolle – schließlich formt auch sie einen referentiellen Rahmen, der sowohl die Erwartungen an ein Genre prägt als auch verschiedenartige Texte miteinander verknüpft. Die beiden referentiellen Sphären können dabei scheinbar kollidieren, etwa wenn die Unbestimmtheit mancher Aussagen typisch für ein Genre ist. Der Unterschied zwischen den genregebundenen Erwartungen und den realitätsbezogenen Suggestionen liegt in ihrem Anwendungsbereich: »Minimal departure […] operates on the individuated characters of particular texts, not on the abstract classes of generic landscapes« (Ryan 1991: 56). Insofern tragen beide Bereiche zur Konstruktion der Leser des textuellen Universums bei.

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Wege zum Text, wenn auch selbst die Mögliche-Welten-Theoretiker im Umgang mit postmodernistischen Texten bisher eher zögerlich waren. Unentscheidbare Zugänglichkeitsrelationen ergeben sich, wenn sich kein textuelles Universum rekonstruieren lässt, weil entweder der Referenzpunkt dieses Universums (die textuell aktuale Welt) leer bleibt (indem nur Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten besprochen werden, keine textuellen Fakten), wenn die Welten innerhalb des Universums bis zur Unkenntlichkeit verwischt werden (indem nicht klar ist, wer spricht) oder die Erzählinstanzen keinerlei Autorität haben (sich selbst der Lüge bezichtigen usw.) (Ryan 2005: 40, vgl. auch Dolezel 1988: 491 f.). Da dies in postmodernistischen Texten durchaus übliche Verfahrensweisen sind, betrachten einige Theoretiker den Nutzen der Mögliche-Welten-Theorie in Bezug auf den Postmodernismus als sehr beschränkt. Andere haben weniger Berührungsängste. May Charles argumentiert, mit der Entwicklung eines Erkennungswertes postmoderner Texte, das heißt einer spezifischen Erwartungshaltung der Leser an diese Texte – also genau jene angepasste Erwartungshaltung, die Vervaeck mit dem Schreiben von Het postmodernisme erzielen wollte – könnten auch im Leseprozess wieder (andersgeartete) Referenzwelten des Textes entstehen (Charles 1995: 159). Marie-Laure Ryan liefert konkrete Ansatzpunkte, indem sie die Theorie auf zwei zwar nicht postmoderne, aber doch in ihrer Zugänglichkeit ähnlich problematische Texte anwendet. Angeregt durch Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte El jard†n de senderos que se bifurcan (1941) [Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (1944)], zeigt sie, wie mit den fehlenden Hierarchien innerhalb eines textuellen Universums umgegangen werden kann. In Borges’ Erzählung ist die Rede von einem Buch eines chinesischen Autors, in dem alle Möglichkeiten, die sich für den Protagonisten ergeben, und die von ihnen wiederum ausgehenden Verzweigungen beschrieben werden. Dabei lässt sich keine Präferenz für eine dieser möglichen Welten ausmachen, es kann also – wohlgemerkt nicht in Borges’ Text, sondern in der Binnenerzählung – keine textuell aktuale Welt ausgemacht werden. Dies bringt zwei Konsequenzen mit sich: Einerseits widersprechen die möglichen Welten des textuellen Universums einander und somit im Ganzen auch den Gesetzen der Logik, andererseits hat jede Welt unterschiedliche Zugänglichkeitsrelationen zur aktualen Welt: »Under a narrow conception of accessibility, the forking paths of this thinkable but unwriteable fiction lead into all the futures allowed by logical and physical laws. All the worlds respecting […] natural laws, […] taxonomy, and […] logic will then be combined in TAW [Textual Actual World], but since these worlds may be mutually contradictory, [logic] will not hold for TAW as a whole. Under the diversified notion of accessibility proposed in this chapter, the forking paths may lead into worlds of any

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semantic type, and by simultaneously actualizing them all, TAW is linked to AW [Actual World] through all existing subsets of relations« (Ryan 1991: 42).

Ryan schlägt vor, die logische Unzugänglichkeit der übergeordneten fiktionalen Welt (TAW) nicht absolut zu verstehen. Auch wenn sich das textuelle Universum in seiner Gesamtheit in allen für Wahrheitswerte relevanten Bereichen einer Zugänglichkeit aus unserer aktualen Welt entzieht, schließt das nicht aus, dass die einzelnen textuell möglichen Welten (etwa Metalepsen, Träume, aber auch verschiedene Varianten eines Geschehens usw.) sehr wohl von der aktualen Welt aus zugänglich sind. In weniger selbstreflexiver Literatur fungieren diese Welten nur als Satelliten, die ihrerseits um das Zentrum der textuell aktualen Welt kreisen und deren Wahrheitswerte und Zugänglichkeiten von dort aus bestimmt werden. Postmoderne Texte verhindern oft, dass die Leser eine solche hierarchisch übergeordnete Welt aus dem Universum ableiten können. Damit machen sie aber auch den Weg frei für eine direkte Zugänglichkeit der textuellen Satelliten aus der aktualen Welt. Anhand eines anderen Beispiels illustriert Ryan, wie stark die Zugänglichkeitsrelationen durch die kognitiven Leistungen der Leser zugunsten des Prinzips der geringsten Abweichung abgeschwächt werden. Ryan zitiert einen französischen Vers, dessen Wirkung vor allem auf dem Stilmittel des Paradoxon beruht: »Un jeune vieillard, assis sur une pierre en bois / Lisait son journal pli¦ dans sa poche / A la lueur d’un r¦verbÀre ¦teint«15 (Ryan 1991: 38). Der Text geht über einen rein metaphorischen Gebrauch paradoxaler Begriffe hinaus. Folgerichtig analysiert Ryan diese Zeilen als Unzugänglichkeit im analytischen Sinne: »This text cancels the property ›old‹ from vieillard, the property ›mineral‹ from pierre, and the property ›dark‹ from r¦verbÀre ¦teint. Each of these canceled properties belongs to the definition of the world. But other definitional properties are left untouched: under vieillard we still understand a human being, rather than a machine, under pierre a solid object rather than a fluid (Ryan 1991: 38).«

Die konstatierte analytische Unzugänglichkeit hindert Ryan – wie wahrscheinlich alle Leser – nicht daran, die mit den Aussagen zu vereinbarenden synthetischen Definitionen weiterhin zu handhaben. Wo eine Identifikation von Modalitäten der textuellen Welt mit jenen der aktualen Welt möglich ist, sei dies auch nur minimal, geschieht dies auch. Darüber hinaus lassen sich noch weitere Überlegungen an Borges’ Gedankenexperiment der sich verzweigenden Pfade knüpfen. Da das Niederschreiben aller Möglichkeiten aufgrund seiner notwendigen unendlichen Ausdehnung nie verwirklicht werden kann, wird die Aufmerksamkeit der Leser auf die Auswahl 15 Übers.: »Ein junger Greis, sitzend auf einem hölzernen Stein / Las seine Zeitung, gefaltet in seiner Tasche / Im Licht einer erloschenen Laterne«

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der beschriebenen Möglichkeiten gelenkt. Es ist dann beispielsweise möglich – durchaus von der realen Welt abweichende – Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen, die in allen aktualisierten Welten eines textuellen Universiums vorherrschen.

2.1.3 Implikationen der Anwendung Das Modell der möglichen Welten soll für die vorliegende Arbeit als bewusst eingenommener Blickwinkel fungieren, der wesentliche Aspekte der kritischen Lektüre bestimmt. Konkret bedeutet dies erstens: Die einzelnen postmodernen Texte werden als textuelle Universen begriffen, innerhalb derer sich eine oder mehrere, auch kontradiktorische Welten zueinander verhalten. Terninologisch soll dieser Auffassung Rechnung getragen werden, indem die Texte als Ganzes als textuelle Universen bezeichnet werden.16 Wo der Text keine erkennbaren Hierarchien zwischen den einzelnen Welten, etwa den Figurenperspektiven, einrichtet, werden sie als gleichrangige Alternativen aufgefasst. In Atte Jongstras Roman Het Huis M. etwa, einer Parodie des Kriminalromans, ist unter verschiedenen Mordszenarien nicht auszumachen, wer den Mord tatsächlich begangen hat. Sehr wohl lässt sich vor dem Hintergrund der möglichen Welten und aus der Perspektive der Geschlechterkritik eine alle textuellen Welten des fiktionalen Universums bestimmende Gesetzmäßigkeit herausarbeiten, die Frauen zu Opfern und Männer zu Tätern macht. Zweitens führt die Prämisse, der fiktionale Text konstruiere seine eigene Welt mit eigenen Referenten, zu einer vornehmlich wörtlichen Lektüre, die aus kognitiven Überlegungen die Wirkung ironischer Verfahren nur peripher berücksichtigt.17 Drittens soll mithilfe des Prinzips der geringsten Abweichung vermieden werden, Texten, die groteske oder fantastische Formen der Körperlichkeit konstruieren, generell jede Ähnlichkeit zu realen, auch geschlechtlich determinierten Körpern abzusprechen, wie es in typologischen Forschungsschriften durchaus geschieht, indem der Postmodernismus etwa als Ort des Hybriden stilisiert wird. Vielmehr soll fokussiert untersucht werden, ob sich die Texte auch bezüglich der Geschlechterdifferenz unzugänglich zeigen oder es den Lesern ermöglichen oder gar nahelegen, auf vertraute Strukturen zurückfallen. Mit dieser Lektürestrategie soll der unter Abschnitt 1.2 und 1.3 besprochene dekonstruktive und geschlechterkritische Vertrauensvorschuss, der postmodernen Romanen entgegengebracht wird, einer kritischen Überprüfung unter16 Lässt sich aber etwa aufgrund unwidersprochener Überschneidungen eine textuell aktuale Welt konstruieren, so wird diese im Text auch so bezeichnet. Ebenso werden z. B. verschiedene Figurenperspektiven oder Träume als einzelne textuelle Welten mit teils unterschiedlichem Status aufgefasst. 17 Dies deckt sich mit dem Anspruch, der gängigen Lesart eine andere entgegenzusetzen.

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Methodische Grundlagen

zogen werden. Überdies wird der allgemeine Rahmen der Auffassung der Texte als mögliche Welten durch Ansätze aus der feministischen Narratologie ergänzt.

2.2

Feministische Narratologie

Für die Beantwortung der Frage, inwieweit die Kategorie Geschlecht als Ordnungsprinzip postmoderner niederländischsprachiger Romane fungiert, sollen die von der feministischen Narratologie entwickelten Leitfragen angewandt werden. Die für den deutschsprachigen Raum ausführlichste und umfassendste Beschreibung der Materie liefert der von Vera und Ansgar Nünning herausgegebene Band Erzähltextanalyse und Gender Studies (2004), der für die folgende Darstellung maßgeblich herangezogen wurde. Die feministische Narratologie – bei Vera und Ansgar Nünning als Genderorientierte Narratologie bezeichnet18 – wurde in den 1980er Jahren von Susan Sniader Lanser und Robyn Warhol vor dem Hintergrund einer feministischen Literaturwissenschaft, die sich vornehmlich als Frauenbildforschung19 verstand (Gymnich 2010: 256 – 257) entwickelt. Sie beschäftigt sich mit dem semantischen Gehalt von Erzählstrukturen, insbesondere der Repräsentation, Inszenierung und Konstruktion von Geschlechterverhältnissen. »Sexing Narratology« nennt Lanser den Weg, der dafür eingeschlagen werden muss (Lanser 1999). Die bekannten Ansätze der strukturalistischen Erzähltextanalyse wurden dafür systematisch auf die Ausblendung von diesen Aspekten hin untersucht und um das Geschlecht als Analysekategorie erweitert. Denn, wie Lanser ar18 Diese Begriffswahl soll die Abgrenzung von der feministischen Literaturwissenschaft ausdrücken. Die Gender-orientierte Narratologie entstand aus der feministischen Narratologie und übernahm viele ihrer Ansätze, dennoch kann dieser Auffassung nach keine vollständige Begriffsdeckung unterstellt werden, fußen die Prämissen mancher feministischer Zugänge doch ihrerseits auf essentialistischen Konzepten von Geschlecht. Während jedoch die Gender- und Queer-Studies die feministische Literaturwissenschaft terminologisch wie inhaltlich fast gänzlich abgelöst haben, bleibt festzustellen, dass, vielleicht ob der terminologischen Griffigkeit, an dem Begriff der feministischen Narratologie auch in Publikationen aktuelleren Datums oft noch festgehalten wird, so etwa im diesbezüglichen Beitrag von Marion Gymnich in Vera und Ansgar Nünnings Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse (2010), ein Ansatz, der auch hier gehandhabt wird. 19 Siehe hierzu Stephan 1983. Sie erstellte ein vierteiliges System innerhalb dessen die üblichen Ansätze der Frauenbildforschung situiert werden können. Am verbreitetsten sind die ideologiekritische Frauenbildforschung mit Silvia Bovenschen als hervorragender Vertreterin, die in der Produktion von Frauenbildern eine Ideologieproduktion sieht, und der psychologische und psychoanalytische Ansatz etwa von Klaus Theweleit, der weniger Ideologie als Wunsch und Befriedigung von (individuellen und kollektiven) Fantasien als treibende Kraft hinter den Vorstellungen von Weiblichkeit postuliert (Stephan 1983).

Feministische Narratologie

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gumentiert, »[…] sex is a common if not constant element of narrative«, allerdings mit der notwendigen Einschränkung »so long as we include its absence as a narratological variable« (Lanser 1995: 87, Hervorh. im Original). Neben der Frage nach der Markierung und quantitativen Verteilung von Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen kann auch die Raum- und Zeitdarstellung für die Perspektive von Feminismus und Gender Studies fruchtbar gemacht werden. Die feministische Erzähltextanalyse beruht allerdings nicht allein auf strukturalistisch-narratologischen Ansätzen. Vielmehr werden in neueren Konzepten der feministischen Narratologie auch rezeptionsorientierte und kognitive Zugänge in ein narratologisches Grundgerüst eingegliedert. So können etwa auch die gängigen psychologischen Lesarten von Figuren eingegliedert werden, die voraussetzen, dass Figuren mehr sind als »die Summe sprachlicher Informationen« (Gymnich 2004: 128). Dies erscheint sinnvoll, weil, wie Gymnich in Berufung auf Chatman und Margolin beschreibt, Figuren über eine »relative Autonomie« verfügen (Gymnich 2004: 129). Das heißt, dass bekannte literarische Figuren wie Emma Bovary oder Don Quixote auch außerhalb des konkreten Textgefüges, dem sie entstammen, Teil des kulturellen Gedächtnisses werden können. Der Vorteil eines solchermaßen geweiteten Blickes ist es, textuelle Informationen mit Konventionen und Weltwissen der Rezipienten verschränkt zu verstehen und darüber hinaus als prozessual veränderlich zu betrachten. Die Untersuchung der Semantisierung von Erzählstrukturen postmoderner Romane scheint insbesondere sinnvoll, weil grundlegende Annahmen über postmodernes Schreiben, etwa die bereits umgesetzte Dekonstruktion von Dichotomien und die Verabschiedung subjektzentrierten Denkens, mittels des spezifischen Erkenntnisinteresses der feministischen Narratologie auf den Prüfstand gestellt werden können und so zu einem umfassenderen Bild des Postmodernismus führen können. Im Folgenden sollen einige Ansätze der der feministischen Narratologie präsentiert werden, die auf die Korpustexte angewandt werden können.

2.2.1 Erzählstimmen und wahrnehmende Blicke Wer spricht, wer schweigt? Wer hat Autorität, wer nicht? Die Antworten auf diese Fragen lassen sich mit einer narratologischen Analyse meist klar aus dem Text destillieren. Im Kontext von Feminismus und Gender Studies bekommen sie ein besonderes Gewicht: Erzählinstanzen sind keine ungeschlechtlichen Neutra, sondern oft geschlechtlich markiert. Diese Tatsache, das zeigt die feministische Narratologie, verdient mehr Aufmerksamkeit: Insbesondere Susan Lanser hat sich um eine feministisch motivierte Modifikation bestehender narratologischer Konzepte verdient gemacht.

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Eine geschlechtliche Markierung von Erzähler und oder Figuren kann auf verschiedene Arten und in verschiedenen Graden der Eindeutigkeit vorgenommen werden. In einer narratologischen Umdefinition der bekannten Unterscheidung von sex (als biologischem Geschlecht) und gender (als sozialem Geschlecht) unterscheidet Lanser die formale Identifikation eines Erzählers oder einer Figur als weiblich oder männlich mit expliziten Erklärungen (z. B. »sie war eine schöne Frau«) oder durch entsprechende weibliche und männliche Pronomen als sex von dem durch konventionelle kulturelle Codierung wie Eigennamen oder die Beschreibung von Kleidern (z. B. »nachdem ich Gehstock und Zylinder abgelegt hatte«) zugeschriebenen gender (Lanser 1999: 170). Während nicht markierte heterodiegetische Erzählinstanzen in der Literatur häufig vorkommen,20 ist das Vermeiden der geschlechtlichen Markierung eines Ich-Erzählers seltener, was wohl auch auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass dies in vielen indogermanischen Sprachen fast unmöglich scheint: »[…] a considerable degree of information might have to be omitted from an autodiegetic narrative in order for sex to remain unmarked« (Lanser 1995: 88). In mehreren Aufsätzen (1995, 1999) beschäftigt sich Susan Lanser mit der Bedeutung textuellen Schweigens über das Geschlecht des homodiegetischen Erzählers: Die narratologische Unentscheidbarkeit über das Geschlecht der Erzählinstanz könne festgefahrene Wahrnehmungsstrukturen aufbrechen und etwa auch die heterosexuelle Norm des Begehrens zwischen Mann und Frau aufweichen. Die homo- oder autodiegetische Erzählhaltung gilt als typisch für den postmodernen Roman (Vervaeck 1999: 117), doch auch das multiperspektivische Erzählen, das verschiedene, möglicherweise divergierende Stimmen das Geschehen in der fiktionalen Welt entwerfen lässt, wird in postmodernen Romanen oft genutzt (Bertens/d’Haen 1988: 159). Dies wird üblicherweise im Rahmen der Kritik an grundlegenden abendländischen Denkkonzepten betrachtet: Bart Vervaeck postuliert, der postmoderne Roman verabschiede auf diese Weise jene Subjektkonzeptionen, die Subjekte als klar abgrenzbare Entitäten ansehen. Dies hätte auch Konsequenzen für die Erzählinstanzen, weil sie nicht mehr klar als »Erzähler« abgegrenzt werden können. Wiederum zeigt sich, wie sehr die poststrukturalistischen Auffassungen von der sprachlich-textuellen Beschaffenheit der Wirklichkeit die Sichtweise auf den Postmodernismus prägen: »Daarom is het erg misleidend te spreken van een postmoderne verteller. De term verteller sugereert immers dat het gaat om een subject en een vast centrum. Daar blijft niets van over in de postmoderne roman. De verteller is geen vast centrum, hij wordt 20 Auch diesen wird im Rezeptionsprozess oft ein Geschlecht zugeschrieben, meist in Abhängigkeit vom Geschlecht des realen Autors. Dies kann die weitere Wahrnehmung des Erzählten im Hinblick auf Autorität beeinflussen.

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›uitgezaaid‹, verspreid over de talloze verhalen die hij vertelt. Hij is geen ik, maar een encyclopedische verzameling van teksten«21 (Vervaeck 1999: 125).

Aus dieser radikalen Auffassung könne auch nicht mehr von Multiperspektivität gesprochen werden, da dies ebenso feste Kerne impliziere, die Vervaeck lieber durch »bewegliche Schnittpunkte« ersetzt sieht (Vervaeck 1999: 134).22 Vervaeck empfiehlt deshalb im Umgang mit solchen postmodernen narrativen Strategien die Abwendung von der strukturalistischen Narratologie, weil diese zu sehr von antropomorphistischem Denken durchsetzt ist. Diese Empfehlung widerspricht klar dem spezifischen Erkenntnisinteresse der feministischen Narratologie, die deshalb die klassischen Begrifflichkeiten präferiert. Dies heißt aber nicht, dass die feministische Narratologie ihren Blick vor tendentiell dezentrierenden Verfahren verschließt.23 Die Geschlossenheit oder Offenheit der Perspektivenstruktur kann beispielsweise auch innerhalb einer Figur – etwa Ingeborg Bachmanns Malina – situiert werden, durch die verschiedene Diskurse sprechen (Allrath und Surkamp 2004: 168), auch poststrukturalistische Konzepte wie Dialogizität und Polyphonie (Bachtin) werden angewendet (Allrath und Surkamp 2004: 169). Bei dialogischem, multiperspektivischem oder »ausgesätem« Erzählen ergeben sich immer wieder Situationen, in denen dieselben Ereignisse aus unterschiedlicher Sicht geschildert werden, wie etwa in Peter Verhelsts Tongkat. Hier setzt die feministische Narratologie an. Ihr Interesse richtet sich dann auf die »bedeutungskonstituierenden Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Perspektiven« (Allrath und Surkamp 2004: 160), also auf die Frage, ob und in welchem Maße die Perspektiven differieren und sich überschneiden, bis hin zu der Möglichkeit der Heranbildung von »Gruppenidentitäten« über mehrfach geteilte Perspektiven (Allrath und Surkamp 2004: 166). Der Begriff der Perspektive wird unter Verweis auf neuere erzähltheoretische Studien für die Gender Studies geschärft, indem er nicht nur verschiedene Erzählstimmen bezeichnet, sondern eine spezifische Sicht auf die Wirklichkeit, die von Faktoren wie Geschlecht, ethnischer Identität, Alter usw. geprägt ist (Allrath und Surkamp 21 Übers.: »Darum ist es ein Fehlschluss, von einem postmodernen Erzähler zu sprechen. Der Begriff des Erzählers suggeriert ja, dass es um ein Subjekt mit einem festen Zentrum geht. Davon ist im postmodernen Roman nichts mehr übriggeblieben. Der Erzähler ist kein festes Zentrum, er wird ,ausgesät‹, zerstreut über die zahllosen Geschichten, die er erzählt. Er ist kein Ich, sondern eine enzyklopädische Sammlung von Texten.« 22 Mit der postklassischen Narratologie gibt es bereits verschiedene Ansätze, die strengen strukturalistischen Termini aufzusprengen und durch beweglichere Begriffskonstruktionen zu ersetzen (vgl. Gibson 1996). In der akademischen Praxis breit durchgesetzt haben sich diese Theorien jedoch noch nicht. 23 Herman und Vervaecks Darstellung, die feministische Narratologie »umarme« Referentialismus und Antropomorphismus und suche im Text Verweise auf die »subjektive Erfahrung des Autors« (Herman/Vervaeck 2005: 59), muss so auch verworfen werden.

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2004: 161). Dabei fallen auch quantitative Faktoren ins Gewicht: So können bestimmte Perspektiven aufgrund ihres wiederholten Auftretens, aber auch aufgrund der Reihung innerhalb des Textes oder der hierarchischen Struktur der Erzählebenen gegenüber anderen privilegiert sein (Allrath und Surkamp 2004: 162). Nicht nur die Erzählstimmen prägen die Wahrnehmung innerhalb der fiktionalen Welt. Auch die Frage nach geschlechtlich konnotierten Objekt- und Subjektrollen lässt sich erzähltheoretisch »über das Phänomen der Fokalisierung operationalisieren« (Gymnich 2010: 258, vgl. Allrath und Gymnich 2004: 36), indem das Blickverhalten der Fokalisatoren einer Analyse unterzogen wird. Der von Laura Mulvey für die Filmtheorie entwickelte Begriff des »male gaze«, der jenen Effekt beschreibt, in dem die Blicke der männlichen Figuren mit jenen des Publikums verschmelzen und Frauen zu Objekten machen, kann dabei auch auf die Literatur angewandt werden.

2.2.2 Figuren und andere Ansätze Wie bereits eingangs thematisiert, sah sich die feministische Erzähltextanalyse mit der Tradition der Frauenbildforschung konfrontiert, die ein rein realistischmimetisches Figurenkonzept hantiert. Dies ermöglicht es einerseits, psychologische Erkenntnisse direkt aus dem lebensweltlichen Bereich auf die fiktionale Welt zu übertragen, kappt damit aber andererseits die Bezüge zur theoretischen Entwicklung in der Literaturwissenschaft, die literarischen Texten aufgrund ihrer Fiktionalität meist einen besonderen Status einräumt. Die feministische Narratologie sucht im Rahmen der lange vernachlässigten Methodendiskussion innerhalb der feministischen Literaturwissenschaft (Gymnich 2010: 267)24 bewusst den Anschluss an die neueren theoretischen Ansätze. Dabei räumt sie insbesondere kognitiven Zugängen eine besondere Stellung ein, gilt es doch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass unter anderem auch zentrale als feministisch rezipierte Texte ihr Wirkungspotential gerade dadurch entfalten, dass sie eben keine lebensechten, mit realistisch-mimetischen Modellen fassbaren Figuren 24 Es liegt nicht ausschließlich an der nicht erfolgten Methodendiskussion generell, dass von der feministischen Literaturwissenschaft lange Zeit keine methodisch untermauerten Figurenkonzepte angewandt wurden. Ein weiterer Grund liegt in der in Kapitel 1.3. bereits ausführlich beschriebenen Verquickung von Poststrukturalismus und feministischer Theorie. Die Subjektkritik von einigen prominenten Vertreterinnen des französischen Feminismus wie Kristeva, Irigaray und Cixous hat auch Konsequenzen für die Konzeptionen literarischer Figuren: Insbesondere Cixous bezeichnete literarische Figuren als »Mythos«, der die Komplexität dieser nicht als Entität zu betrachtenden textuellen Subjekte reduziere und eine patriarchale Sinngebungsstruktur reproduziere (Gymnich 2004: 133 f).

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zeigen (Gymnich 2004: 127). Das Lesen wird dann als dynamischer Prozess verstanden, währenddessen die rezeptive Erwartungshaltung (Weltwissen, explizit auch Persönlichkeitstheorien) stets Anpassungen unterworfen ist, die durch die jeweiligen textuellen Informationen eingegeben sind. Dadurch lässt sich auch die von den Strukturalisten einst als autonom begriffene und aus dem Kontext gelöste Textanalyse als stark von allgemeinen Denk- und Ordnungskategorien wie dem Geschlecht geprägt verstehen. Ein Beispiel für das Wirken solcher Erwartungen in Form von sogenannten Frames – in etwa vergleichbar mit dem Prinzip der geringsten Abweichung aus der Theorie der möglichen Welten – ist die Frage nach der Geschlechtszuschreibung an geschlechtlich nicht definierte fiktionale Erzählinstanzen. Sie orientiert sich v. a. am Geschlecht des Autors, wie Ina Schabert argumentiert. Ein vergleichbarer Mechanismus wird von Monika Fludernik aufgedeckt, die von einer »heterosexual default structure« bei unmarkierten Liebespaaren spricht (Allrath und Surkamp 2004: 151), also der Neigung, davon auszugehen, dass das Begehren zwischen Figuren innerhalb einer heterosexuellen Matrix angesiedelt ist. »In Analogie zur Interpretation lebensweltlicher Situationen schreiben LeserInnen demnach einem Text Sinn zu, indem sie Ambiguitäten unter Rückgriff auf bereits vorhandene kognitive Schemata [frames] auflösen. Ähnlich verfahren LeserInnen bei Leerstellen […]. Eine Verbindung von Gender-orientierter und kognitiver Narratologie geht von der Grundannahme aus, dass die bei der Verarbeitung textueller Informationen herangezogenen Schemata keineswegs geschlechtsneutral sind, sondern dass Gender bei solchen frames eine zentrale Rolle zukommt […]« (Allrath und Gymnich 2004: 41, Hervorh. im Original).

Ein Konzept, das vor diesem Hintergrund konkret zum Einsatz kommen kann, ist Ralf Schneiders Beschreibung des Rezeptionsprozesses von Figuren. Schneider unterscheidet vier Modelle, die die Figurenkonstruktion im laufenden Rezeptionsprozess prägen: Erstens eine Kategorisierung, die darin besteht, dass schon aus Gründen der Effizienz Wissen über soziale (z. B. Berufe) und/oder literarische (z. B. die Femme Fatale) Typen auf Figuren angewandt werden. Zweitens die Individualisierung, im Laufe derer die bekannten Kategorisierungsvariablen, bereichert durch die textuellen Informationen zu der Figur, erweitert oder modifiziert werden. Drittens nennt Schneider die Entkategorisierung, worin sich die angewandte und bereits individualisierte Kategorie aufgrund weiterer textlicher Hinweise als inadäquat erweisen kann, woraufhin sie verworfen werden muss. Mit der als viertem Modell genannten Personalisierung bricht Schneider aus der Möglichkeit einer konsekutiven Reihenfolge aller Modelle innerhalb des Leseprozesses aus: Fehlen von Anfang an jene textuellen Aussagen, die eine Kategorisierung hervorrufen können, begegnen die

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Methodische Grundlagen

Leser der Figur im Weiteren großteils ohne vorgefestigte Erwartungen (Gymnich 2004: 130 f, Jannidis 2004: 181ff). Wenn auch, wie Jannidis bemerkt, Schneiders Modell »keine neuen Kategorien für die Analyse der Darstellungsseite enthält« (Jannidis 2004: 182), wirft es gerade für die Lektüre postmoderner Texte wichtige Fragen auf. Denn betrachtet man die Aussagen zu Figurenkonzeptionen in postmodernen Texten, wird klar, dass diese sich in vieler Hinsicht einer realistischen Lesehaltung verweigern.25 Postmoderne Figuren »entziehen sich dem Prinzip der logischen Kausalität« (Bertens/d’Haen 1988: 136), haben im Gegensatz zu den Charakteren realistischer Romane keine »feste Identität« (Bertens/d’Haen 1988: 136, Vervaeck 1999: 70) und wollten »nicht einmal den Anschein wecken«, sie wären »Menschen aus Fleisch und Blut«, sondern präsentierten sich offensiv als »eine Ansammlung von Worten und Texten« (Vervaeck 1999: 64):26 »De personages worden ›echter‹, ronder en voller naarmate ze meer ficties belichamen, dat wil zeggen: naarmate ze ›valser‹, platter en leger worden. Het zogenaamde ›round character‹ […] dat traditioneel als een echte mens beschouwd werd, wordt te kijk gezet als een snijpunt van talrijke fictieve scenario’s. Een onbelangrijk personage voert slechts een of twee scenario’s op, een belangrijk personage belichaamt soms tientallen van die scripts en wordt daardoor steeds onvatbaarder en onechter«27 (Vervaeck 1999: 68).

Das Bild, das bei der Auswertung solcher Typisierungen entsteht, ist durchaus ambivalent: Einerseits scheitert ein klassischer realistischer Ansatz der Figurencharakterisierung, da es wenig sinnvoll ist, »flat characters« psychologisch ergründbare Handlungsmotive zuzuschreiben.28 Andererseits bietet auch eine personalisierte Figurenrezeption keine Lösung, da Stereotype und Konventio25 Hiermit soll nicht suggeriert werden, dass der Postmodernismus die erste Strömung ist, die mit den üblichen Figurenkonzeptionen bricht. Auch bei vielen modernistischen Werken ist die Tendenz bereits sichtbar, wie Fokkema feststellt: »There is, in other words, no consensus that postmodernism presents a radical break with earlier conventions of characterization« (Fokkema 1991: 58). 26 In solch typischen Formulierungen wird die Verschränkung von literarischer Postmoderne und Poststrukturalismus im selben zeitgenössischen Diskurs erneut sichtbar. Bereits 1991 kritisierte Fokkema Linda Hutcheons ähnliche Befunde aus A Poetics of Postmodernism: »Poststructuralist concepts are applied to the postmodern novel, and as a result the idea of a subject which is the product of discourse is the only one which seems pertinent to an analysis of postmodern fiction« (Fokkema 1991: 13). 27 Übers.: »Die Figuren werden ›echter‹, runder und voller, je mehr Fiktionen sie verkörpern, das heißt: je ›falscher‹, platter und leerer sie werden. Der sogenannte ›round charakter‹ […] der traditionell als echter Mensch betrachtet wird, wird am Schnittpunkt zahlreicher fiktiver Szenarien bloßgestellt. Eine unwichtige Figur führt nur ein oder zwei Szenarien auf, eine wichtige verkörpert manchmal Dutzende dieser Skripts und wird dadurch immer unfassbarer und unechter.« 28 Vgl. hierzu auch Gymnich 2004: 131.

Feministische Narratologie

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nen, wie das Zitat von Bart Vervaeck zeigt, in postmodernen Texten gerade bewusst eingesetzt werden und somit eher eine Kategorisierung seitens der Leser provozieren. Diese allgemeinen Schlüsse gilt es anhand der konkreten Texte zu untersuchen. Neben der kognitiven Beschreibung von Rezeptionsmustern können auch klassisch narratologische Elemente für die geschlechterkritische Analyse nützlich sein, insbesondere die (Abweichungen zwischen) figuraler Selbst- und Fremdcharakterisierung, die auszumachen ist, wenn Bewusstseinsinhalte von Figuren wiedergegeben werden, und qualitative Korrespondenz- und Kontrastrelationen zwischen den einzelnen Figuren nach Manfred Pfister, so sie aus der geschlechterkritischen Perspektive betrachtet werden. Wenn etwa mehrere Figuren eines biologisch zuordenbaren Geschlechts ähnlich beschrieben werden oder gar Merkmalsoppositionen zwischen Figuren verschiedener Geschlechter auftreten, lässt dies auf eine textuell angelegte überindividuelle Gültigkeit schließen (Gymnich 2004: 137). Weitere Ansatzpunkte für die geschlechterkritische Narratologie birgt die Umsetzung der Raum- und Zeitdarstellung innerhalb des fiktionalen Rahmens, da auch dieser aus der geschlechterkritischen Perspektive ein semantischer Gehalt zugeschrieben werden kann. So können räumliche Oppositionen mit der Geschlechterdichotomie korrelieren oder kann sich etwa die Darstellung von Bewegungen im Raum oder die Zeiterfahrung der männlichen und weiblichen Figuren oder Erzähler unterscheiden (Gymnich 2010: 256 f). Auch intertextuelle Verweise können aufschlussreich sein, soweit man ihnen, wie Gymnich, ein funktionales Verständnis von Intertextualität zugrunde legt: »Intertextuelle Referenzen sind häufig so angelegt, dass sie die LeserInnen dazu auffordern, eine oder mehrere Figuren des Textes mit Figuren oder auch mit dem Werteund Normensystem eines oder mehrerer früher veröffentlichter Texte zu vergleichen« (Gymnich 2004: 138).

Aus den Differenzen oder Parallelen zwischen den Figuren aus Text und Prätext können Neuinterpretationen bekannter Figuren entstehen, die auch bezüglich des Geschlechter-Aspektes ein kritisches Potential zu entfalten vermögen.

3

Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

»Ein typisch postmoderner Fall«, betitelt Atte Jongstra ein Kapitel aus dem spielerisch autobiographischen Band Klinkende ikken über das ihm zugeschriebene Verhältnis zum Postmodernismus. Er unternimmt darin eine quantitative Auswertung jener Autoren, die Bart Vervaeck in seinem Het postmodernisme zu Illustrationszwecken zitiert. Der wichtigste niederländische Postmodernist ist demnach Willem Brakman, Jongstra selbst stehe diesbezüglich an zweiter Stelle, er stecke »bis zum Hals darin« (Jongstra 1998: 147). In der Tat wird Atte Jongstra aufgrund seiner in den 1990er Jahren erschienenen Texte gemeinhin zum harten Kern der niederländischsprachigen Postmodernisten gezählt (Vervaeck 1999: 12, vgl. Brems 2006: 514). Dies betrifft vor allem die Romane Groente (1991) und Het Huis M. (1993), aber auch seinen Erzählband Cicerone (1992) und die Romane Disgenoten (1998) und De tegenhanger (2003).1 Wiewohl die literaturhistorische Einordnung Jongstras sich damit sehr eindeutig präsentiert, steht sie in einem gewissen Kontrast zu den literarischen Vorbildern, an denen sich der Schriftsteller nach eigenen Angaben orientiert. Diese sind größtenteils im 19. Jahrhundert zu finden, es handelt sich um kanonisierte Autoren wie Flaubert, Montaigne, Sterne und Multatuli (Jongstra 1996: 10 f), wie sich in der essayistischen Selbstverortung Familieportret (1996) nachlesen lässt. Auch in zahlreichen intertextuellen Verweisen auf das Werk dieser Autoren in Jongstras Romanen drückt sich diese Präferenz aus; Bart Vervaeck bespricht dies in seinem Aufsatz Reizen met Jongstra (2004). Gänzlich widersetzt sich Jongstra der Zuordnung zum Postmodernismus allerdings nicht, allein präsentiert er das eigene postmoderne Schreiben nicht als

1 Ein wenig aus der postmodernen Reihe fällt der Roman Hudigers hooglied (1999) (vgl. Vervaeck 2007: 158), eine Parodie auf das Hohelied der Liebe, die sich strukturell weniger experimentierfreudig präsentiert als Jongstras restliche Prosa der 1990er Jahre. Hudigers hooglied soll in der vorliegenden Untersuchung deshalb ausgeklammert bleiben, auch wenn der Protagonist dieses Romans, Hudiger, in dem einige Jahre später erschienenen und wieder stärker an die Verwirrspiele von Het Huis M. anknüpfenden Roman De tegenhanger auftritt.

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in der Theorie verankerte Ästhetik, sondern eher als Ausdruck von etwas, das im Entstehungszeitraum seiner Romane »in der Luft hing« (Jongstra 1998: 147). Die literaturkritische und -wissenschaftliche Rezeption Jongstras als Postmodernisten setzte nach Erscheinen seines Romans Groente (1991) ein, war und ist aber auf einen sehr kleinen Kreis von Literaturwissenschaftlern beschränkt, aus dem Bart Vervaeck mit einer Vielzahl von Publikationen und Rezensionen über Jongstra deutlich heraustritt. In den gängigen Argumentationslinien werden dabei immer wieder poststrukturalistische Konzepte sichtbar, die angewandt werden, um Jongstras postmodernes Schaffen theoretisch in einen breiteren Kontext einzubetten. Die folgende geschlechterkritische Analyse von Jongstras Romanwerken der 1990er Jahre erfolgt deshalb in direkter Auseinandersetzung mit der Darstellung ihrer Rezeption. Zentral stehen dabei das bereits unter Abschnitt 1.4. im Allgemeinen diskutierte enge Verhältnis von Essay und Fiktion, die ständige Weiterverweisung bzw. das sogenannte enzyklopädische Schreiben als Realisierung von poststrukturalistischen Sprach- und Intertextualitätstheorien, die Aufhebung dichotomischen Denkens, die Problematisierung des Konzeptes der Identität, die Rolle der Intertextualität sowie die Funktion (ironischer) Wiederholung. Vorrangig und exemplarisch erfolgt die Untersuchung am Roman Het Huis M., wobei zur Erzielung eines systematischen Verständnisses im Werkzusammenhang auf Ähnlichkeiten und Abweichungen der angewendeten textuellen Verfahren zu den anderen Romanen hingewiesen wird. Deutlicher als sein Vorgängerroman Groente operiert Het Huis M. auf jener Ebene der Inter- bzw. Transtextualität, die Genette als Transformation bezeichnet. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass die Gattung des Kriminalromans parodiert wird. Das Vorwort zu den titelgebenden Memoiren des Tatverdächtigen Murk stammt von dem den Fall untersuchenden, Pfeife rauchenden Ermittler, dem Adjutanten Mark, der über seine Arbeitsweise reflektiert. Doch schon nach wenigen Sätzen verstrickt sich dieser Adjutant bei der Schilderung des Mordfalls in Widersprüche, was er zwar selbst feststellt, sofort aber auch relativiert: »Maar ik verzeker u: politiemensen raken soms in zaken verzeild waar bijna niets lijkt te kloppen«2 (Jongstra 1993: 9). Der Mordfall, der sich im weiteren Verlauf entspinnt, trägt absurde Züge. Eine Frau, deren Handlungen einer Tätigkeit als Prostituierte ähneln, die »Freule van M.«, wird im sogenannten »Haus M.«, das in seiner äußeren Form tatsächlich dem Buchstaben nachempfunden ist, auf verschiedene Arten gleichzeitig ermordet, die Leiche jedoch ist unauffindbar. Ist es anfangs nur der Hausbesitzer und Memoirenautor Murk, der des Mordes verdächtigt wird, entpuppen sich nach 2 Übers.: »Aber ich versichere Ihnen – als Polizist wird man manchmal in Dinge verstrickt, an denen nichts zu stimmen scheint.«

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und nach fast alle auftretenden Figuren inklusive des Adjutanten Mark als Mörder der Frau, darunter der frühere Hausbesitzer Muralto und der Rechtsanwalt Murks. In dem Roman treten also viele Mörder, aber nur ein Opfer auf, eine Tatsache, die Bart Vervaeck trefflich als Ablösung des Serienmörders durch das Serienopfer beschrieb (Vervaeck 2004b: 818). Die Frauenleiche ist gleichzeitig an- und abwesend: Durch spiritistische Praktiken kehrt die Freule immer wieder an ihre Wirkungsstätte zurück, nur um aufs Neue ermordet zu werden. Eine Lösung des Falles bleibt aus, der mutmaßliche Täter Murk verschwindet und Mark veröffentlicht schließlich die von jenem zurückgelassenen, das Versagen der eigenen Erinnerung betonenden Aufzeichnungen zu den Geschehnissen, seinerseits »aangevuld en bijgeschaafd op die plaatsen waar aanvulling en bijschaving noodzakelijk was«3 (Jongstra 1993: 13). So entsteht eine gedoppelte Struktur erzählerischer Unzuverlässigkeit, den Lesern wird jede Illusion genommen, an irgendeiner Stelle unmanipulierten Einblick in die Perspektive einzelner Figuren zu erhalten. Darüber hinaus spielt der Roman mit einer Vielzahl an logischen Inkongruenzen und kreist um ein Verwirrspiel mit Identitäten, was die Rekonstruktion einer histoire im klassisch narratologischen Sinne unmöglich macht. Hermeneutische Ansätze müssen angesichts einer solchen Ausgangslage scheitern. Dies kann am Beispiel einer Interpretation von Arnold Heumakers illustriert werden: »Alle aandacht in deze roman (waarvan de plot is geleend van het detective-verhaal) gaat uit naar de letter M, van memoria, memoires, Mnemosyne (de moeder van de Muzen en de patrones van de herinnering). Het zou me dan ook niet verbazen, al is het niet eenvoudig daarover uitsluitsel te krijgen, als zij (Mnemosyne) in werkelijkheid het vrouwenlijk is, dat verteller Murk van M. aantreft in de ›rode kamer‹ van het – uiteraard M-vormige – huis. In elk geval zou dat verklaren waarom dit lijk nu eens verdwijnt en dan weer levend opduikt: ook het geheugen heeft zijn ups en downs, zijn hiaten en zijn fiasco’s, zonder dat we in staat zijn het volledig te beheersen«4 (Heumakers 2004: 29).

Die von der Hermeneutik geprägte Literaturauffassung, die dieser Interpretation zugrunde liegt, kann sehr deutlich aus dem Aufsatz destilliert werden, wenn man 3 Übers.: »[…] erweitert und angepasst an den Stellen, an denen Erweiterung und Anpassung notwendig war.« 4 Übers.: »Die ganze Aufmerksamkeit in diesem Roman (dessen Plot von einer Detektivgeschichte übernommen wurde) richtet sich auf den Buchstaben M, von Memoria, Memoires, Mnemosyne (die Mutter der Musen und die Patronin der Erinnerung). Wenn es auch nicht einfach ist, darüber Aufschluss zu erhalten, würde es mich nicht überraschen, wenn wenn sie (Mnemosyne) in Wirklichkeit die Frauenleiche wäre, die der Erzähler Murk von M. im ›roten Zimmer‹ des – natürlich M-förmigen – Hauses antrifft. Auf jeden Fall würde dies erklären, warum diese Leiche einmal verschwindet und dann wieder lebendig auftaucht: Auch das Gedächtnis hat seine Hochs und Tiefs, seine Lücken und Fiaskos, ohne dass wir imstande sind, es vollständig zu beherrschen.«

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die Aufmerksamkeit auf Formulierungen wie »in Wirklichkeit« (s. o.) und etwa, an anderer Stelle »unter die Oberfläche blicken« (Heumakers 2004: 32) lenkt. Wiewohl es sinnvoll erscheinen kann, den Mord an der Freule symbolisch als Aussage über (die Fähigkeit zum) Erinnern zu verstehen, greift ein solcher Erklärungsansatz gezwungenermaßen zu kurz, fungiert doch innerhalb des Romans das M-förmige Haus, das einen stabilen örtlichen Rahmen für die Handlung bietet, ebenfalls als wahrgewordene Metapher für das Gedächtnis.5 In einem für den Postmodernismus typischen Verfahren wird ein Begriff oder ein Bild so obsessiv und auch in wechselnden Kontexten eingesetzt, dass dies zur Dechiffrierung führt. Der Begriff ist dann keine stabile Chiffre mehr, die sich für den gesamten Text schlüssig deuten lässt (Vervaeck 1999: 203). Während Heumakers Zugang einen Textbereich symbolisch bzw. allegorisch versteht und diesen eine andere, durch Interpretation erschlossene Ebene übersetzen möchte, strebt jene Sichtweise, die sich nicht nur in der niederländischsprachigen Postmodernismus-Debatte etabliert hat, keinerlei Transposition in besser verständliche Bereiche an. Sie ordnet die werkspezifischen textuellen Welten und deren Thematik (im Fall von Het Huis M. das Gedächtnis und mit ihm die Identität) einer metafiktionalen Lesart unter. Die allgemeinen Züge dieses Verfahrens werden bereits unter Abschnitt 1.4. erläutert, an dieser Stelle sollen sie am Beispiel Jongstras konkretisiert werden.

3.1

Essay, Fiktion und Enzyklopädie

Bezeichnend für den Umgang mit Jongstras Texten ist die weitgehende Verabschiedung der Trennung von Reflexion in Essays einerseits und ästhetischer Umsetzung in der Prosa andererseits. Dies liegt vor allem an einer Lesart der fiktionalen Texte, die deren metafiktionalen Gehalt so betont, dass sie sonstige fiktionale Inhalte ausblenden kann.6 Ein solches Überblenden sonstiger textli5 Siehe etwa die Formulierung »sommige kamers van je geheugen bevatten niet veel« (Jongstra 1993: 51), die das Gedächtnis als Haus oder Hotel beschreibt. Sie tritt in leicht abgewandelter Form auch an anderen Stellen auf (Jongstra 1993: 301). Am deutlichsten wird die Verbindung aber an folgender Stelle, an der der Erzähler Murk sich explizit auf den Kauf des Hauses M bezieht: »Dat gebouw is de behuizing van mijn geheugen, daar woon ik, daar is alles gebeurd« (Jongstra 1993: 134). 6 Vervaeck nennt auch die Spiegelung zentraler Bilder und Themen zwischen Essay und Prosa als Zeichen für das postmoderne Naheverhältnis der beiden Formen: »Geen wonder dat je in de essays en de romans van postmoderne auteurs dezelfde beelden ziet opduiken, en, in hun zog, dezelfde preoccupaties, thema’s en aandachtspunten. Het beeld van de lege kern, de idee van de onvermijdelijke herschrijving en de al even onvermijdelijke metafictie, de voorkeur voor het onvatbare – je vindt ze moeiteloos terug in alle essays van postmoderne auteurs« (Vervaeck 2001: 299). Dieses Kriterium trifft jedoch zweifellos auf ein breiteres Spektrum

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cher Eigenschaften durch metafiktionale Strategien dominiert auch Patricia Waughs einflussreiche Studie zur Metafiction (1984): »Metafiction not only exposes the inauthenticity of the realist assumption of a simple extension of the fictive into the real world; it also fails deliberately to provide its readers with sufficient or sufficiently consistent components for him or her to be able to construct a satisfactory alternative world. Frames are set up only to be continually broken. Contexts are ostentatiously constructed, only to be subsequently deconstructed« (Waugh 1984: 101, Hervorh. im Original).

Metafiktion bewirkt also, dass es den Lesern versagt bleibt, durch die Lektüre Schritt für Schritt eine alternative, textuell aktuale und widerspruchsfreie Welt zu entwerfen, nach deren eigenen Gesetzmäßigkeiten sich der Lauf der Dinge entwickelt. Bart Vervaeck radikalisiert diese Auffassung noch, wenn er in einem Aufsatz zum Verhältnis von Essay nicht nur die Leseerfahrung selbst, sondern auch die Gattungsgrenzen überschritten sieht: »[…] de postmoderne fictie heeft het voortdurend over fictie. Ze praat heel nadrukkelijk over productie, constructie en consumptie van de literaire tekst.[…] In die zin kun je elke postmoderne roman lezen als een essay over het schrijven en lezen van teksten«7 (Vervaeck 2001: 290).

Diese hier formulierte bewusste Austauschbarkeit von Theorie und künstlerischer Praxis erinnert auffällig an das Naheverhältnis von Theorie und Textpraxis in Poststrukturalismus und Dekonstruktion und so überrascht es nicht, dass Vervaeck in seinem Aufsatz das Verhältnis von Essay und Erzählung in postmodernen niederländischsprachigen Texten explizit im Umkreis poststrukturalistischer Denker wie Derrida und Deleuze verortet (Vervaeck 2001: 303).8 Insbesondere in einem textuellen Verfahren findet, das postuliert Vervaeck, die Vermischung von Essay und Fiktion ihren Ausdruck, nämlich im enzyklopädischen Schreiben (vgl. auch Korsten 2002: 275). Sieht man es als Ziel einer Enzyklopädie an, die Welt erschöpfend in einen Text zu fassen, indem endlose literarischen und essayistischen Schaffens zu, eine spezifisch postmoderne Komponente ist hier nur beschränkt auszumachen. 7 Übers.: »[…] die postmoderne Fiktion dreht sich immer um Fiktion. Sie spricht explizit über die Produktion, Konstruktion und Konsumption des literarischen Textes. […] In diesem Sinne kann jeder postmoderne Roman als Essay über das Schreiben und Lesen von Texten gelesen werden«. 8 Die Konsequenzen einer solchen Verschmelzung der Gattungen sind weitreichend, analysiert Vervaeck: »Traditioneel wordt ervan uitgegaan dat het essay een realiteit weergeeft die vooraf bestaat, terwijl de fictie een nieuwe pseudeo-realiteit creÚert. De postmoderne verweving van beide laat zien dat het essay ¦n de vertelling de realiteit creÚren« (Vervaeck 2001: 304). Anhand dieses Zitates wird auch ersichtlich, dass hier nicht nur der strukturalistischen Erkenntnis Ausdruck verliehen wird, die referentielle Funktion von Sprache sei ein hinfälliges Konzept: Die performativen Aspekte, das Sprachschaffen postmoderner Texte rückt hier in den Vordergrund.

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Verweisstrukturen aufgebaut werden, so parodiert das enzyklopädische Schreiben der Postmoderne dieses Verfahren in seiner exponierten Oberflächlichkeit (Vervaeck 2001: 296). Atte Jongstra gilt als herausragender Vertreter einer solchen Schreibweise. Ursprünglich verfolgte Jongstra das enzyklopädische Schreiben auf der Ebene seines gesamten Œuvres, als Teil eines inzwischen verworfenen Projektes, mit den einzelnen Bänden seines Œuvres eine Enzyklopädie zu schaffen. In dem von Gunther Martens herausgegebenen Band De experimentele encyclopedische roman (2009) ist Jongstra gar ein ganzes Kapitel gewidmet. Seine in den 1990er Jahren entstandenen Texte verfolgen offensiv eine nicht-lineare Schreibweise,9 deren Überspitzung die auch formal an eine Enzyklopädie angelehnte Präsentation darstellt, indem der Text in Lemmata gegliedert ist, die untereinander verweisen. Dies ist etwa in Jongstras »christlichem Lexikon« De hele santenkraam (1997) der Fall sowie im alphabetisch geordneten »Appendix« zu Het Huis M., einem Lexikon, das der Mordgeschichte »breitere, historische Implikationen« verleihe (Jongstra 1996: 71), aber auch in dem mit »Hengelen naar de kern« betitelten Text aus Cicerone, der ausschließlich aus Fußnoten zu einem selbst nicht dargestellten Buch besteht. Die besondere Form enzyklopädischer Texte bringe auch Konsequenzen für die Leser mit sich, legt Vervaeck dar : »De lezer van een lexicon is vrijer dan die van een traditionele, lineaire narrative tekst: hij kan het lexicon alfabetisch lezen, hij kan de doorverwijzingen volgen, of hij kan willekeurig en kriskras hier en daar een lemma opslaan. Hoe dunner de verhaallijn, hoe vrijer het leesparcours«10 (Vervaeck 2009: 13).

Die Zickzack-Struktur des Verweises kann in poststrukturalistische und dekonstruktivistische Denkmuster eingebunden verstanden werden, die mit der Idee der Linearität eines Textes abrechnen: Theorien zu Intertextualität (Vervaeck 1999: 176) und Hypertextualität (Allen 2003: 303) beschreiben eine Form des Lesens, die die Leser von passiven Rezipienten zu aktiven Leser-Autoren macht und stützen sich auf eine Auffassung von Sprache, die mit Derrida als ständige supplementäre Bewegung begriffen werden kann. In der Rezeption von Jongstras Texten wurden solche theoretischen Einbettungen bereitwillig vorgenommen: Hugo Bousset verortet postmoderne Texte mit der labyrinthischen Struktur eines enzyklopädischen Romans wie Groente 9 Von Bart Vervaeck wurde dies wiederholt mit dem Flanieren Walter Benjamins verglichen (Vervaeck 1992: 70, Vervaeck 1999: 103), Jongstra bezeichnet dieses Schreiben in Klinkende ikken als »Klick-Ebene«, als digital vorzustellenden Hypertext, der von Verweis zu Verweis führe (Jongstra 1996: 70 f). 10 Übers.: »Der Leser des Lexikons ist freier als der eines traditionellen, narrativen Textes: Er kann das Lexikon alphabetisch lesen, er kann den Verweisen folgen oder er kann willkürlich und zickzack hier und dort ein Lemma nachschlagen. Je dünner der Erzählfaden, desto freier die Leseerfahrung.«

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im Denken der Dekonstruktion (Bousset 1996: 145). Der enzyklopädische Charakter eines Werkes ist dabei nicht an die äußere Form gebunden, die etwa einen Text in einzelne Lemmata untergliedert, sondern kann, wie Groente oder der Hauptteil von Het Huis M. auf den ersten Blick konventionell in Kapitel gegliedert sein. Immer wiederkehrende Bilder schaffen jedoch assoziative Verknüpfungen von Textteilen, die der lineare Lesefluss getrennt erscheinen lässt.11 Was in Het Huis M. der Buchstabe M ist, der Thema (Memoria), Handlung (Mord) und handelnde Personen (fast durchgehend Eigennamen, die mit M. beginnen) eint,12 leistet in Groente das titelgebende Gemüse, sei es über gelehrte Einschübe zu den manieristischen Gemüseporträts von Guiseppe Arcimboldo oder Metaphern wie dem Gehirn als Blumenkohl. Wie Bousset greift auch Vervaeck explizit auf dekonstruktivistische Grundlagen zurück, um die Wirkung der Gemüsemetaphern in diesem Roman zu erklären: »De verteller ervaart de leegte van de kern in zijn liefde voor Clara. Zij is de vrouw rond wie zijn hele wereld draait en door haar te beschrijven in termen van groenten, hoopt hij haar tastbaar en bereikbaar te maken. […] Maar het is ijdele hoop. Clara wordt even ongrijpbaar als de bloemkool. Ze wordt, in Derrida’s termen, uitgezaaid over de tekst«13 (Vervaeck 1996: 770).

Hier verweist Vervaeck eindeutig auf den von Derrida geprägten Begriff der diss¦mination, jene Auffassung, textlich verfasste Bedeutung widersetze sich jeder Festlegung, sei Spiel in alle Richtungen. Eine ähnliche Argumentation findet sich in allen seinen Aufsätzen zu Jongstra, wie auch jene Äußerung zu Groente zeigt: »Hoe eindelozer de doorverwijzing, hoe groter de wijsheid. Elk woord roept andere woorden op, die op hun beurt weer iets anders oproepen, en precies in die resonantie ligt de wijsheid. Dus niet in de afgrenzing, de definitie, het kadertje, dat we rond een bepaald thema zouden willen trekken. Wel in de eindeloze omspeling van dat thema«14 (Vervaeck 2003a: 273).

11 Korsten sieht darüber hinaus auch in der Abkehr von der Chronologie einen Hinweis auf enzyklopädisches Schreiben (Korsten 2002: 275 f). 12 Eine Vorliebe für die Oberfläche, die formale und vermeintliche Ordnung abseits vom Inhalt tritt hier in den Vordergrund (Heumakers 2004: 28). 13 Übers.: »Der Erzähler erfährt die Leere des Kerns in seiner Liebe zu Clara. Sie ist die Frau, um die sich seine Welt dreht und indem er sie in die Begrifflichkeit von Gemüse fasst, hofft er sie tast- und erreichbar zu machen. […] Aber es ist eine eitle Hoffnung. Clara wird so unfassbar wie der Blumenkohl. Sie wird, in Derridas Terminologie, ausgesät über den Text.« 14 –»Je endloser die Verweisstruktur, desto größer die Weisheit. Jedes Wort beschwört andere Worte herauf, die ihrerseits wieder etwas anderes aufrufen, und genau ihn dieser Resonanz liegt die Weisheit. Eben nicht in den Abgrenzungen, Definitionen, Rahmen, die wir um ein bestimmtes Thema ziehen wollen. Wohl aber in der endlosen Umspielung dieses Themas.«

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In verschiedenen Aufsätzen äußert sich Vervaeck zur poststrukturalistischen Verfasstheit der Romane des niederländischen Autors. Jongstra drücke die Abkehr von der »strukturalistischen Sprache« (Vervaeck 1992: 70) aus,15 ja er wird explizit zum Vollstrecker poststrukturalistischer Sprachphilosophie erklärt: »In de theorie is dat proces [differeren] bestudeerd door mensen als Ferdinand de Saussure en Jacques Derrida. Jongstra hanteert het in de praktijk«16 (Vervaeck 2003b: 40). Zwei theoretische Aspekte bestimmen das nicht-lineare, postmoderne Schreiben. Neben der soeben thematisierten Verankerung in den Konzepten der Bedeutungszuweisung an sprachliche Zeichen generell wird es vor dem Hintergrund der damit verknüpften Idee der axiomatisch vorausgesetzten intertextuellen Beschaffenheit aller textlichen Gewebe verstanden. Das überdeutliche Verweisen auf andere Textzusammenhänge, das Jongstra betreibt, lässt parallel zu den von Derrida attestierten Vorgängen auf der Ebene der Wortbedeutung auch auf der Ebene des Textes die Realität als Ziel referentieller Verweise ausscheiden. Ersatz bietet, wie Brackmann und Vaessens feststellen, nur die Bibliothek (Brackmann/Vaessens 1990: 14, vgl. Vervaeck 1996: 774).17 Der enzyklopädische Schreibstil Jongstras öffnet Tür und Tor für textuelle Überlagerungen aller Art. Vervaeck macht dabei unterschiedliche Phasen im literarischen Schaffen des Autors aus. Vor allem in den früheren Prosawerken wie Groente, Het Huis M. und Cicerone hebe Atte Jongstra die intertextuellen Bezüge so stark hervor, dass sie eine konventionelle, auf hermeneutische Auflösung gerichtete Lesart fast unmöglich machten. Diese radikale Interpretation der textuellen Beschaffenheit wich mit Romanen wie Disgenoten, De tegen15 Das Differieren von Zeichen, die ständige (Weiter-)Verschiebung löst im Denken Derridas die (relative) definitorische Stabilität der Beziehung von Zeichen und Bedeutung ab. War die Entwicklung der strukturalistischen Sprachwissenschaft, die Ferdinand de Saussure eingeleitet hat, auch radikal im Ausschluss der außersprachlichen Welt aus der Bedeutungszukennung, indem sie diese nur in der Differenz zwischen den Zeichen ansiedelte, stand die relationale Identität des Zeichens, die an ihrer Statt ausschlaggebend wurde, doch auch weiterhin für relativ stabile Beziehungen der Zeichen untereinander. Auch der strukturalistischen Auffassung über die Bedeutung von Zeichen liegt also die Idee zugrunde, dass, wenn auch die Differenz zwischen Zeichen erst deren Bedeutung ermögliche, das Zeichen an sich jedoch selbst-ident ist, »surrounded by difference but not contaminated by difference« (Currie 2004: 56). Dies ändert sich bei Derrida, der das Zeichen als in sich differierendes versteht, indem er dessen temporale und somit veränderliche Dimension in seine Überlegungen miteinbezieht. 16 Übers.: »In der Theorie ist dieser Prozess [das Differieren] von Menschen wie Ferdinand de Saussure und Jacques Derrida erforscht worden. Jongstra setzt es in die Praxis um.« 17 An dieser Stelle muss bemerkt werden, dass sich Vervaeck auch im Umgang mit dem intertextuellen Charakter von u. a. Jongstras Werk in erster Linie auf Derridas Sprachphilosophie stützt und weniger auf Barthes oder Kristeva, die sich mit dem Text als Ganzem auseinandersetzen. Auf Kristevas bekanntes Bild des Texts als »Mosaik« anderer Texte wird in Het postmodernisme etwa nur einmal verwiesen (Vervaeck 1999: 193).

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hanger und Hudigers hooglied der Konstatierung einer eher »synthetischen« Form von Intertextualität, die, weil sie eine integrierende Lesart nicht ausschließe, diese Texte notfalls auch konventionell lesbar ließe (Vervaeck 2004: 16). Jongstras eigene Äußerungen zum hypertextuellen Charakter von Het Huis M. divergieren etwas von dieser Einschätzung Vervaecks, suggeriert Jongstra doch, die enzyklopädisch oder hypertextuell eingebundenen Verweise verschleierten gewissermaßen nur eine konventionelle Erzählung: »Er [in Het Huis M.] zit een groot aantal uitweidingen, analogieÚn en parallelverhalen in, die je in een aankliklaag zou kunnen onderbrengen. Bovendien besluit dit boek met een lexicon waar een muis wel pap van lust, korte levenslemma’s over grote figuren en verschijselen die de moordgeschiedenis in Het Huis M. wijdere, historische implicaties verlenen […]. In die zin zou een hyperversie van buitel- en caprioolproza voor stroomlijning kunnen zorgen. Een ordelijke, lineaire eerste laag, conventioneel verteld als Dickens, Walter Scott of Balzac, voorzien van een onderstroom waarin men de muis kan laten zwemmen«18 (Jongstra 1996: 71).

Es ist, wie dieses Zitat zeigt, paradoxerweise gerade die traditionelle Form des im Druck erschienenen Romans mit ihrer scheinbar zwingenden Anordnung aller Begebenheiten, die eine lineare Lesart verhindert. Wären nämlich alle Exkurse, Parallelen und Details nur hinter weiterführenden Begriffen verlinkt, wie eine digitale Präsentation dies ermöglichen würde, ergäbe sich ein andersartiger, vielleicht konventionell lesbarer Haupttext. Eine andere Präsentation könnte also deutlicher jenen »roten Faden« freilegen, den die Leser sich bei ihrer Lektüre erwarten und den Jongstra nach eigener Aussage beim Schreiben berücksichtigt hat (Jongstra 1996: 71). Nicht nur angesichts dieser Aussage kann es sinnvoll sein, in der Lektüre von Jongstras Texten bewusst auch für die konventionellen Aspekte offenzustehen, wenn auch die Form des enzyklopädischen Schreibens die Prinzipien poststrukturalistischer Sprach- und Textphilosophie aufgreifen mag.

18 Übers.: »Es [Het Huis M. ] enthält eine große Anzahl von Exkursen, Analogien und Parallelerzählungen, die man in einer Klick-Ebene unterbringen könnte. Darüber hinaus steht am Ende des Buches ein Lexikon, womit man einiges anfangen kann, [es enthält] kurze Lebenslemmata über große Figuren und Erscheinungen, die der Mordgeschichte in Het Huis M. breitere, historische Implikationen verleihen […]. In diesem Sinne könnte eine Hyperversion dieser Purzel- und Kapriolprosa für Stromlinienförmigkeit sorgen. Eine ordentliche, lineare erste Schicht, konventionell erzählt wie bei Dickens, Walter Scott oder Balzac, versehen mit einer Unterströmung, in der man die Maus schwimmen lassen kann.«

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Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

3.2

Die dichotomische (Un-)Ordnung der textuellen Welt

Das strukturalistische Denken in Dichotomien, gegensätzlichen Begriffspaaren, deren Definition in wechselseitiger Abhängigkeit erfolgt,19 lieferte die größte Angriffsfläche für die Theoretiker des Poststrukturalismus. Mit der Dekonstruktion sollten die den dualistischen Auffassungen inhärenten Hierarchiegefälle aufgezeigt und umgewertet werden, insbesondere auch die in der Moderne erfolgte Codierung der Geschlechter entlang der binär-oppositionellen Strukturen von Natur und Kultur, Gefühl und Ratio, Passivität und Aktivität. In Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman wird dieser Gedanke aufgegriffen: Die »postmoderne Dekonstruktion von Gegensätzen« wird dort als gegeben vorausgesetzt (Vervaeck 1999: 181). An dieser Stelle gilt es zu überprüfen, ob dichotomische Ordnungsmodelle in Het Huis M. eine Rolle spielen und wenn ja, ob diese »erwartungsgemäß« dekonstruiert werden. Betrachtet man die Sekundärliteratur zu Jongstra, scheinen sich die Erwartungen durchaus zu bestätigen. Bart Vervaeck bezeichnet Jongstra als »Relativisten« der »Gegensätze umarmt« (Vervaeck 2003a: 276). In einer Art Neudefinition der Mimesis in Zeiten der Postmoderne strebe Jongstra mit seiner Literatur der in sich paradoxalen Natur unter Affirmation ihres widersprüchlichen und beweglichen Charakters nach: »Wil de taal die beweeglijkheid aan het woord laten, dan moet ze zich bedienen van beelden die zo dicht mogelijk bij de natuur aansluiten. Dat zijn lijfelijke beelden, metaforen die het woord vlees laten worden. Beelden die tegenstellingen met elkaar verbinden. De verbinding schept een onophoudelijke stroom van associaties, die nooit een punt van evenwicht of stilstand bereikt«20 (Vervaeck 2003b: 39, Hervorh. d. Verf., vgl. auch Vervaeck 2004b: 6).

Anstelle einer stabilen dichotomischen Relation, die nur entweder/oder kennt, tritt eine Beweglichkeit, die sich den konventionellen definitorischen Grenzen 19 Waniek definiert binäre Beschreibungsterme wie folgt : »Die Opposition der beiden Einheiten gründet sich auf ein einziges Merkmal, das bei der einen vorhanden (hier als Plus-Merkmal) und bei der anderen abwesend (dort als Minus-Merkmal) ist. Binaristisch-dichotom wird jenes Verfahren genannt, das in seiner Beschreibung auf zwei oppositive Werte zurückgreift, die analog dem klassischen Prinzip einer aussagenlogischen Funktion als anwesend/abwesend im Sinne von Sein/Nicht-Sein verteilt sind. Dieses Schema läßt sich auch in einem steten Ausschluß einer dritten Verteilungsmöglichkeit beschreiben« (Waniek 1993: 99). Zudem ist dem Schema eine Hierarchie inhärent, die einen Teil der Dichotomie über den anderen stellt. 20 Übers.: »Will die Sprache die Beweglichkeit ans Wort lassen, dann muss sie sich dabei selbst an Bildern bedienen, die der Natur so nahe wie möglich stehen. Das sind körperliche Bilder, Metaphern, die das Wort Fleisch werden lassen. Bilder, die Gegensätze miteinander verbinden. Die Verbindung schafft einen unaufhaltsamen Strom von Assoziationen, der niemals einen Punkt des Gleichgewichts oder Stillstandes erreicht.«

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verschließt. In der Tat liefern Jongstras Texte einige Anhaltspunkte dafür, dualistische Auffassungen zugunsten eines weiten und letztlich unentscheidbaren Bereichs zu verabschieden. Eine nicht unerhebliche Rolle dabei spielen Textabschnitte, die diesbezüglich gar programmatisch wirken. Für Het Huis M. sei auf das kurze Kapitel »Iets over paradoxen« verwiesen, worin Murk den paradoxalen Charakter seiner Memoiren betont. »Een apocrief woord van Messias: ›Wanneer gij niet het rechtse maakt als het linkse, en het linkse als het rechtse, en het bovenste als het onderste, en het achterste als het voorste, dan zult gij het hemelrijk niet kennen‹«21 (Jongstra 1993: 255).

Es sind Aussagen wie diese, die, um die Terminologie Vervaecks zu bemühen, als Leseanleitungen fungieren. Weil sie die Aufhebung von Gegensätzen grundsätzlich thematisieren, sind die Leser geneigt, sie auf den gesamten Text zu übertragen. In der Sekundärliteratur zu Het Huis M. wird regelmäßig die Ablehnung dichotomischer Ordnungsmodelle dargestellt. Diossi verweist auf die Subversion des Unterschieds von erinnern/vergessen (Diossi 2009: 114) und außen/innen (Diossi 2009: 114), Vervaeck nennt die »endlose Kombination« von »Fall und Erhebung« (Vervaeck 2004b: 820), mehrere Literaturwissenschaftler thematisieren die Aufhebung des Unterschieds von Befrager und Befragtem, Verdächtigem und Ermittler (Vervaeck 2004b: 828, Vitse 2004: 684, Diossi 2009: 112). Dieser Katalog kann noch um viele Aspekte erweitert werden, etwa um die Verabschiedung der Differenz zwischen Möglichkeit und Tatsache, Wachen und Schlafen,22 Leben und Tod,23 oder für andere Romane Jongstras um die Verschmelzung von Aktivität und Passivität in Groente, (Vervaeck 1996: 773) oder von Arzt und Patient in De tegenhanger.24 Anhand von Het Huis M. stellt Vervaeck dar, dass die Dekonstruktion der Ordnungsstrukturen eine Abkehr von jeglicher Logik bedeute: 21 Übers.: »Ein apokryphes Wort des Messias: ›Wenn du nicht das Rechte zum Linken machst und das Linke zum Rechten und das Oberste zum Untersten und das Hinterste zum Vordersten, wirst du das Himmelreich nicht kennen.« 22 Viele der männlichen Figuren in Het Huis M. leiden an Epilepsie, die durchgängig als »Fallsucht« bezeichnet wird. Die dadurch hervorgerufenen Zustände verschleiern den Unterschied zwischen Wachen und Schlafen, Träumen und Realität, wie eine der Figuren, der Kaplan, berichtet: »Als je zo gauw valt als ik de laatste tijd, raak je de grens tussen waken en slapen een beetje kwijt« (Jongstra 1993: 136). Was sich als Einzelaussage noch durchaus konventionell präsentiert, wird an anderen, zentralen Stellen des Romans durch verschiedene narrative Strategien unterstrichen (vgl. etwa die Ausführungen in Abschnitt 3.3.2 zu den wortgleichen Formulierungen im Traum des Ich-Erzählers Murk, dem Traum des Maulesels und der Erzählung des Maulesels). 23 Die Freule überlebt stets wieder ihre totale Vernichtung, wenn auch mit »Näh- und Klammerarbeit am Haarstrich« die Spuren des Verbrechens auf ihrem Körper lesbar bleiben (Jongstra 1993: 319, vgl. auch 259). Sie ist gleichzeitig Leiche und lebendige Verlockung. 24 Es ist der Psychiater Jongstra, dessen therapeutische Lebenserzählung den Inhalt von De tegenhanger ausmacht.

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»Dat betekent dat de logische benadering van het geweld [in de roman; Anm. d. Verf.] zelf een vorm van geweld is. […] De traditionele logica oefent geweld uit in zoverre hij dat alles vervormt. Hij wil alles wat verandert reduceren tot onveranderlijke categorieen zoals misdadiger en slachtoffer, terwijl die twee voortdurend in elkaar overgaan«25 (Vervaeck 2004b: 824).

Die oben erwähnten dekonstruierten binären Begriffspaare sind Teil des jeweils zentralen Themenfeldes. Doch auch für die Dekonstruktion thematisch untergeordneter binärer Begriffe finden sich viele Belegstellen in Jongstras Romanen. Sie können verstanden werden als Umsetzung der metafiktionalen Strategie des Paradoxalen.26 Anhand der terminologischen Opposition von hoch/niedrig und der damit verknüpften Thematik der Grenzüberschreitung in Het Huis M. soll hier skizziert werden, wie der Text dabei konkret verfährt. Die Problematik stabiler Begriffspaare wird dort explizit angesprochen. »Begrippen als hoog en laag, dat is trouwens ook vreemd nu ik erover nadenk, worden door zowel volk boven als beneden – het lijkt wel angstvallig – in stand gehouden. Zo maakt men de wereld overzichtelijk: door verschillen te koesteren, in plaats van overeenkomsten«27 (Jongstra 1993: 18).

Die Beschreibung des Mordopfers, jener Frau, der alle männlichen Figuren in Het Huis M. verfallen, nur um sie danach zwingend töten zu müssen, erfolgt ausdrücklich innerhalb des Feldes zwischen den Oppositionen:

25 Übers.: »Das bedeutet, dass der logische Zugang zur Gewalt selbst eine Form von Gewalt ist. […] Die traditionelle Logik übt insofern Gewalt aus, als sie alles verformt. Sie will alles, was veränderlich ist, auf unveränderliche Kategorien wie Täter und Opfer reduzieren, obwohl die beiden kontinuierlich ineinander übergehen.« 26 Ebenfalls bewusst kommentiert wird der Vergleich der Architektonik des Hauses M. mit dem Unterkörper einer Frau, wobei die symmetrischen Flügel des Hauses als »weiche Schenkel« beschrieben werden. »En dan ga je bijna je mataforen te grabbel gooien. […] Ik sprak over de zachte dijdelen, maar uitgerekend daar was een vertrek zo ingericht dat ik als vanzelf terechtkom op ›keienkamer‹. We bevinden ons nu in haar linkerbeen« (Jongstra 1993: 149). Die Widersprüchlichkeit von Metapher und fiktionaler Realität wird festgestellt, trotzdem wird die unzulängliche Charakterisierung nicht angepasst, sondern beibehalten. Auch die Beschreibung des Ich-Erzählers, er würde der Zukunft den Rücken zukehren, dies bedeute aber nicht, nur in die Vergangenheit zu blicken, stützt sich auf ein paradoxales Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft: »Ik ben in beweging voorwaars, al loop ik achteruit« (Jongstra 1993: 38). Er führt den Gedanken noch fort: »Nee, er is geen betere manier om vooruit te kijken dan door het venster van de herinnering, van jezelf, of dat van hen die ons voorafgingen« (Jongstra 1993: 39). 27 Übers.: »Begriffe wie hoch und niedrig, das ist übrigens komisch, wenn ich jetzt darüber nachdenke, werden sowohl von Menschen von oben als auch von unten – es scheint gar aus Angst – instand gehalten. So macht man die Welt übersichtlich: indem man Unterschiede anstatt Gemeinsamkeiten schätzt.«

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»›Een grensfiguur?‹ vroeg de adjudant, duidelijk onzeker. ›Iemand die beslist hoog en laag in zich verenigt, een vrouw die deuren opent om ze vervolgens snel weer dicht te doen‹«28 (Jongstra 1993: 129).

Die begehrte Frau wird nicht nur (wörtlich) als »Grenzfigur« bezeichnet, sondern erscheint zusätzlich durch die Funktionalisierung dichotomischer Begriffspaare in ihrer Darstellung als hybride Figur. In konsequenter Anwendung dieses Prinzips werden im Verlauf des Romans begehrenswerte Frauen mittels der Vereinigung sozial distinktiver Merkmale als von »lagere adel« [niederem Adel] beschrieben, eine Deskription, die sich durch sieben Fundstellen im Roman belegen lässt.29 Eine weitere Grenzfigur findet sich in dem Maulesel, dem im Roman eine Nebenrolle zubedacht ist: Als Hybride von Pferd und Esel gehört er keiner der Arten an und ist auch nicht fortpflanzungsfähig. »Het muildier heeft de kunst van het ontlenen goed begrepen en ontwikkelde zich in de smeltkroes der genen«30 (Jongstra 1993: 254). Begriffe, die Grenzbereiche andeuten, spielen in Het Huis M. eine zentrale Rolle. Nach der Fensterbank, explizit »halb drinnen, halb draußen« (Jongstra 1993: 36)31, ist sogar ein eigenes Kapitel benannt. Sie markiert den Weg, über den die Verehrer/Freier/Mörder der Frau zu ihrem Opfer gelangen,32 und findet in diesem Kontext 31 Mal im gesamten Roman ausdrückliche Erwähnung.33 Zudem wird sie assoziativ mit dem Begriff der ebenfalls oft verwendeten Schwelle34 verknüpft, indem Murk sich an das Buches eines Architekturhistorikers erinnert, welches die Schwelle zum Gegenstand hatte und das zu diesem Zwecke auch die Fensterbank unter den Schwellenbegriff subsumierte (Jongstra 1993: 73). Das Übertreten der Grenzen von Fensterbank und Schwelle ist programmatisch für den Roman und so überrascht es nicht, dass auch anderen Übergängen die

28 Übers.: »›Eine Grenzfigur?‹, fragte der Adjutant, deutlich unsicher. ›Jemand, der entschieden hoch und niedrig in sich vereinigt, eine Frau, die die Türen öffnet, um sie anschließend schnell wieder zu schließen.‹« 29 Jongstra 1993: 93, 100, 122, 142, 168, 248, 352. 30 Übers.: »Das Maultier hat die Kunst der Anleihe gut begriffen und entwickelte sich im Schmelztiegel der Gene.« 31 Auch das von Murk später umgebaute Portal von Haus M., das überdacht ist, sich aber zur Landschaft hin öffnet, bezeichnet er mit der gleichen Formulierung: »Half binnen, half buiten, nota bene ook nog eens op de rand van berg en dal« (Jongstra 1993: 26). 32 Türen spielen in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. Nur in Abwesenheit von Frauen wird das Zimmer, an dessen Fensterbank sich die beschriebenen Bewegungen abspielen, durch die Tür betreten. 33 Jongstra 1993: 30, 42, 44, 63, 84, 85, 90, 93, 119, 120, 122, 123, 167, 171, 182, 194, 195, 197, 205, 207, 209, 220, 239, 259, 264, 270, 272, 277, 337, 338, 339. Stellen, an denen die Fensterbank nur beschreibend, als Teil des Interieurs erwähnt wird, sind hier nicht aufgelistet. 34 Nennung des Begriffes im räumlich-deskriptiven, aber auch im symbolischen Kontext (Jongstra 1993: 75 f, 80, 138, 162, 168, 209, 219, 278).

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nötige Aufmerksamkeit zuteilwird. So zitiert Protagonist Murk aus einem – nota bene auf der Fensterbank aufgefundenen – Buch, unter anderem jenen Satz: »In de geologische wereld worden omzettingsgesteenten ook wel metamorfieten genoemd, naar de gedaanteverandering die zonder scherpe afgrenzingen van achtereenvolgende stadia verloopt«35 (Jongstra 1993: 150, Hervorh. im Original).

An anderer Stelle heißt es: »De natuur schept in niets m¦¦r behagen dan om alle dingen te veranderen en ze in een nieuwe gedaante te vertonen«36 (Jongstra 1993: 262). Am deutlichsten wird die Vorliebe für fließende Übergänge jedoch an den Romanfiguren durchexerziert. »De postmoderne voorkeur voor het onzuivere en het hybridische heeft ook met het grenzeloze lichaam te maken«37, analysiert Bart Vervaeck (1999: 83). Und so gehen in Het Huis M., wie auch in Groente und De tegenhanger Personen ineinander über, sowohl im geistigen als auch im physischen Bereich. Die Hybridität wird auf diese Weise zum Vehikel für die Problematisierung des auch mit körperlicher Integrität verbundenen Konzepts von Identität.

3.3

Die Auflösung der Dichotomien in figuralen Dopplungen

Sind im klassischen Kriminalroman Ermittler und Tatverdächtiger Kontrahenten, verschwimmen die Rollen des mutmaßlichen Mörders Murk und des mit dem Fall beauftragten Adjutanten Mark im Verlauf der Erzählung zunehmend. Dies ist insbesondere interessant, da die konventionelle Gegenüberstellung von Kriminalist und Tatverdächtigem durch eine metafiktionale Komponente angereichert wird, nämlich die in der akademischen Diskussion angenommene Konfrontation von an modernistischer Literatur und strukturalistischen Analysen geschulten Lesern mit einem postmodernen Text bzw. Leser.38 Während Murk seine im Verhör demonstrierten Erinnerungslücken ironisiert und akzeptiert, strebt der Adjutant Mark ganz gemäß seiner Rolle als ermittelnder Polizist nach einer Lösung, die wieder kausale Zusammenhänge 35 Übers.: »In der Welt der Geologie werden Umwandlungsgesteine auch Metamorphiten genannt, nach der Gestaltveränderung, die ohne scharfe Abgrenzungen von aufeinanderfolgenden Stadien verläuft.« 36 Übers.: »Die Natur findet an nichts mehr Gefallen, als in der Veränderung aller Dinge und daraus, sie in einer neuen Gestalt zu zeigen.« 37 Übers.: »Die postmoderne Präferenz für das Unsaubere und Hybridische hat auch mit dem grenzenlosen Körper zu tun«. 38 Die Diskussion um von postmodernen Texten bewusst verstörte Erwartungen der Leser dominiert die Wahrnehmung des Postmodernismus, wie unter Abschnitt 1.4 bereits gezeigt wurde.

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herstellt. Er ist es auch, der angesichts unglaubwürdiger Schilderungen Zweifel äußert. Ausdrücklich verlangt er nach Strukturen: »Misschien is het zaak huis en erf in genummerde ruitjes op te delen, voor de systematiek«39 (Jongstra 1993: 76 f). Der Verdächtige Murk entgegnet darauf: »Dat laat ik aan u over. Ik vertel wat er in me opkomt«40 (Jongstra 1993: 77). Wenn Mark die Idee des Rasters wenig später weiter ausführt, wird die Gleichsetzung der polizeilichen Ermittlungsmethoden mit den Methoden des strukturalistisch-hermeneutischen Literaturzuganges ersichtlich: »Diepteanalyse. De bodem in ruitjes verdelen en dan systematisch de gronden naspeuren, de motieven, het hele verhaal …«41 (Jongstra 1993: 78). Die topographischen Raster zum Aufspüren realer Spuren gehen in diesem Textbeispiel über die Ebene des Homonyms »gronden« [Gründe] nahtlos in die Ebene der Narrativität über, gekennzeichnet durch das Wort »verhaal« [Geschichte]. »Gronden« verweist gleichermaßen auf den (gerasterten) Boden wie auf die für die polizeilichen Ermittlungen ebenfalls relevanten psychologischen Tatmotive, die wiederum eben auch wiederkehrende Textfiguren sein können. Ein ähnlicher Übergang erfolgt an anderer Stelle, wenn Murk den von ihm aus strategischen Gründen als »Alter Ego« internalisierten Polizisten als »Erzählinstanz« bezeichnet (Jongstra 1993: 62). In dem Verhör führen die Gegensätze schon bald dazu, dass die Kontrahenten sich in die Lage des jeweils anderen versetzen, um strategisch handeln zu können. Doch schon im zweiten Teil des Buches gestaltet sich das Verhältnis freundschaftlicher. Der Adjutant wird, nachdem sein eigenes problematisches Verhältnis zu Frauen offenbar wurde, mehr und mehr zum Vertrauten Murks – »Gek dat wij vanuit zulke diametrale posities toch tot een vergelijk weten te komen«42 (Jongstra 1993: 71) – und stellt, wohl auch bedingt durch den Aufenthalt im Haus M., wo besondere Gesetze herrschen, nur noch wenige kritische und strukturierende Fragen. »Er botsten daar op die politiepost twee werelden: die van het waarneembare en die van het mogelijke. Mijn verhoorder [Mark] ging zich hoe langer hoe meer in die laatste wereld verplaatsen […]. Een enkele keer viel hij terug in oude gewoonten, dit was het algemene beeld«43 (Jongstra 1993: 206).

39 Übers.: »Vielleicht müssen Haus und Grund in nummerierte Raster aufgeteilt werden, für die Systematik.« 40 Übers.: »Das überlasse ich Ihnen. Ich erzähle, was mir gerade einfällt.« 41 Übers.: »Tiefenanalyse. Den Boden in Raster aufteilen und dann systematisch die Gründe aufspüren, die Motive, die ganze Geschichte ….« 42 Übers.: »Komisch, dass wir aus so diametralen Positionen doch zu einer Einigung kommen können.« 43 Übers.: »Es trafen da auf der Wache zwei Welten aufeinander. Die des Wahrnehmbaren und die des Möglichen. Mein Verhörer versetzte sich, je länger es dauerte, stets mehr in die zweite Welt […]. Ein einziges Mal fiel er in alte Gewohnheiten zurück, das war das allgemeine Bild.«

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Die Kontrahenten-Rollen werden jedoch nicht nur zugunsten einer konventionell aufgefassten empathischen Annäherung oder Freundschaft aufgegeben, sondern weichen anderen auffälligen, freundschaftsunabhängigen Parallelen zwischen den beiden Figuren. Der Adjutant – »mit meiner Rolle als Polizist hat es sich jetzt ausgespielt« (Jongstra 1993: 113) – zeigt sich in ähnlicher Weise wie Murk verstrickt in den Mord an der Freule, die überdies mit ihren roten Haaren und fülligem Körper seinem Idealbild einer Frau genauso entspricht wie Murks. Schließlich wird Mark gar zum Komplizen Murks bei einer erneuten Exekution des Verbrechens an der Frau (Jongstra 1993: 246ff). Verstoßen von den anderen Polizisten wird Mark von Murk im Haus M. aufgenommen, muss also fortan auch noch in der gleichen räumlichen Umgebung funktionieren wie dieser. Es findet eine regelrechte Umkehrung der Rollen statt, bei gleichzeitiger Verbrüderung der beiden Figuren. Während ihrer gemeinsamen Zeit im Haus M. ist es der ursprünglich verdächtigte Murk, der immer wieder auf Aufklärung der Vorfälle drängt, was den Adjutanten zunehmend befremdet: »›Je wilt duidelijkheid. Gek eigenlijk, ik had nooit zo de indruk dat je, uitgerekend jij, de geschiedenis terug wilde brengen tot een dor en droog rijtje tijdstippen met bijbehorende. Dat stelt me teleur‹«44 (Jongstra 1993: 210).

Ist die binäre Verteilung der Rollen als solche nun ins Wanken geraten, so wird nun auch graduell die körperliche Integrität der beiden Individuen angetastet. Beide Männer bewohnen je einen der symmetrisch aufgestellten Flügel des Hauses M. und beobachten einander, wobei Murk den Polizisten stets mehr als Spiegelung seiner selbst betrachtet. Dies tut er trotz eingestandener Unterschiedlichkeit der Physis: »Ik moet daarbij vermelden dat de adjudant en ik in werkelijkheid helemaal niet op elkaar leken. […] Maar wat is werkelijkheid als je herinneringen ophaalt?«45 (Jongstra 1993: 62). »Nu het woord ›vakbroeders‹ is gevallen, we gingen ons ernaar gedragen. Zozeer dat je zelfs van tweelingbroers kun spreken. Het was alsof ik in de spiegel keek. Als ik in de ene vleugel een raam passeerde en naar de andere kant keek, stond daar altijd iemand. Ik zag een beeld van mezelf: de wenkbrauwen een tikje gefronst, een hand over een kin wrijvend waarop de eerste schaduw van een baard zichtbaar was, de ogen zeer onderzoekend. De verrekijker stond voor het raam in de bibliotheek, maar als ik hem hier had gehad? Ik maak me sterk dat ik hetzelfde had gezien«46 (Jongstra 1993: 114). 44 Übers.: »›Du willst Deutlichkeit. Komisch eigentlich, ich hatte nie den Eindruck, dass du, ausgerechnet du, die Geschichte auf eine langweilige und trockene Aneinanderreihung von Daten zurückbringen möchtest. Das enttäuscht mich.‹« 45 Übers.: »Ich muss dazu sagen, dass der Adjutant und ich einander in Wirklichkeit überhaupt nicht ähnlich sahen. […] Aber was ist die Wirklichkeit, wenn man in Erinnerungen schwelgt?« 46 Übers.: »Nun, da das Wort ,Fachkollegen‹ gefallen ist, benahmen wir uns als solche. Sosehr, dass man sogar von Zwillingsbrüdern sprechen kann. Es war, als ob ich in den Spiegel

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In den Gesprächen der beiden Männer stellt sich heraus, dass beide am Tatort die gleichen Entdeckungen machen, und mithilfe der gleichen, für Außenstehende kaum nachvollziehbaren Assoziationsketten die gleichen Schlüsse ziehen.47 Eine wörtlich verstandene Integration Marks in den Körper Murks lässt schließlich auch die physischen Grenzen verschwinden, wobei suggeriert wird, dass einzelne Bewusstseinsinhalte und auch Handlungen situativ unterschiedlich dem anderen jeweils verborgen bleiben. Beispiele dafür sind Murks »ernste Zweifel […] über die Kommunikation zwischen meinen Körperteilen« (Jongstra 1993: 184), nachdem Mark gestanden hatte, ebenfalls ein Freier zu sein, der die Freule frequentiert. Die Aktivitäten des körperlich integrierten Freundes haben sich hier offensichtlich der Kontrolle des Ich-Erzählers entzogen, während unterschiedliche Interessen in anderen Fällen zu einem offenen Konflikt führen: »[…] het hoeft geen vreemde beeldspraak meer te zijn als ik zeg dat het er alles van had dat de adjudant en ik vliegende onenigheid kregen over de besturing der extremiteiten«48 (Jongstra 1993: 186).

Hier wird, eine solche Vorgangsweise beschreibt Bart Vervaeck in Het postmodernisme, die metaphorische Verbindung durch eine metonymische ersetzt (Vervaeck 1999: 134). Das Als-ob der Metapher wird explizit zurückgewiesen zugunsten einer physischen Integration in das Gegenüber, die zwei Menschen zum Teil voneinander werden lässt. Auch in banalen Situationen präsentiert sich die körperliche Verschmelzung der beiden ursprünglich dualistisch angelegten Hauptfiguren als zwingend. Dies zeigt sich etwa, wenn Mark, der von Murk aufgefordert wird, das Zimmer zu verlassen, entgegnet: »Dat lukt niet zo goed… We zijn immers bijna Siamezen«49(Jongstra 1993: 204)50. Murks Versuche, die Einheit aufzubrechen, sind zum Scheitern verurteilt: Sein Alter Ego Mark wird im wörtlichen Sinne zu

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schaute. […] Ich sah ein Bild von mir : die Augenbrauen ein klein wenig gerunzelt, eine Hand über das Kinn reibend, auf dem sich der erste Schatten eines Bartes bemerkbar machte, die Augen sehr untersuchend. Das Fernglas stand vor dem Fenster in der Bibliothek, aber wenn ich es hier gehabt hätte? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dasselbe gesehen hätte.« So schließen sowohl Murk als auch Mark unabhängig voneinander aufgrund eines dunklen Fleckes auf der Tapete darauf, dass an dieser Stelle einst ein Spiegel gehangen haben müsste, obwohl es genausogut ein Bild hätte sein können, eine Möglichkeit, die von keinem von beiden in Betracht gezogen wird. Aus der Beobachtung des fehlenden Spiegels entwickeln sich weitere Schlussfolgerungen, die ebenso für beide Figuren parallel verlaufen (Jongstra 1993: 114 f). »[…] es braucht keine seltsame Metapher mehr zu sein, wenn ich sage, dass es darauf hindeutete, dass der Adjutant und ich uns über das Steuern der Extremitäten nicht einig wurden.« »Das geht nicht so gut … Wir sind ja beinahe siamesische Zwillinge« Die Relativierung, sie seien nur »beinahe« siamesische Zwillinge, ist dabei typisch für alle Szenen, die die Verbundenheit der beiden ehemaligen Kontrahenten beschreiben, vgl. auch Jongstra 1993: 129.

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jemandem, »von dem ich mich nicht mehr lösen kann« (Jongstra 1993: 204). Es ist dem Ich-Erzähler gar unmöglich, Äußerungen sich selbst oder Mark zuzuordnen. »Dit alles vertelde ik de adjudant. Hij reageerde nauwelijks. Uit wat hij prevelde […] meende ik iets […] te verstaan. Of mompelde ik het zelf ?«51 (Jongstra 1993: 256). Der höchste Grad an Vereinigung ist erreicht, als Mark/ Murk den Leichnam der Freule gemeinsam zerstückeln. Gedanken und Taten werden in dieser Sequenz oft in Wir-Form wiedergegeben – »Wir warfen einen Blick auf das Marienbild […]« (Jongstra 1993: 246) – der Körper erscheint als Einheit: Der Gallenstein, der Mark quälte (Jongstra 1993: 140), befindet sich nun als »onze gekoesterde steen« [unser geschätzter Stein] unter »dem Zwerchfell«, wohlgemerkt im Singular (Jongstra 1993: 247).52 Im weiteren Verlauf des Textes stellt sich die groteske Situation jedoch als veränderlich dar. So ertappt Murk den Adjutanten beim Lesen seiner Memoiren, die dieser trotz weitgehender körperlicher aber auch geistiger Verschmelzung offensichtlich nicht vollinhaltlich kannte: »›Je hebt een geheim geschonden,‹ zei ik. ›Ik geef toe dat je er al veel van had gezien, je was erbij, sommige passages heb je als het ware zelf geschreven […]‹«53 (Jongstra 1993: 286).

Mark beschuldigt Murk daraufhin manipulativer Strategien beim Verfassen seiner Memoiren: »[…] langsam sah ich mich in eine spiegelbildliche Persönlichkeit verzaubert« (Jongstra 1993: 286). Auf der Ebene des r¦cit erfolgt nach der Schilderung dieses Konfliktes keine Beschreibung körperlicher Einheit der beiden Figuren mehr, auch auf geistiger Ebene bleiben transgressive Tendenzen aus. Wiewohl eine Integration aller narrativen Elemente in eine textuell aktuale Welt und damit eine valide Rekonstruktion einer chronologisch verstandenen histoire nicht möglich ist, ist doch feststellbar, dass das den Memoiren vorangestellte Herausgebervorwort des Adjutanten Mark zeitlich auf die in den Memoiren beschriebenen Ereignisse folgt und ihnen auch hierarchisch übergeordnet ist. In diesem Vorwort wird eine Situation geschildert, die sich ebenfalls im Rahmen der (situativ variablen) körperlichen Verschmelzung lesen lässt: In 51 Übers.: »Dies alles erzählte ich dem Adjutanten. Er reagierte kaum. Aus dem, was er murmelte, […] meinte ich […] etwas zu verstehen. Oder murmelte ich es selbst?« Vergleichbares äußert Murk an anderer Stelle, als er sich an ein Gespräch erinnert: »Doch habe ich so ein Gespräch nie geführt. Der Adjutant vielleicht?« (Jongstra 1993: 187). 52 Auch zwei andere Figuren, der nicht näher bezeichnete M. aus dem 54. Kapitel des Romans sowie der Mann aus dem Mirakelbuch leiden unter einem Gallenstein (Jongstra 1993: 181, 255). 53 Übers.: »›Du hast ein Geheimnis verletzt‹, sagte ich. ›Ich gebe zu, dass du vielleicht schon viel davon gesehen hattest, du warst ja dabei, manche Passagen hast du geradezu selbst geschrieben […].‹«

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der schneebedeckten Umgebung des Hauses, worin der Adjutant verweilt, sind Fußspuren zu erkennen, die in Antizipation der vom Adjutanten geplanten Handlung54 von dem Hauseingang wegführen, ohne dass er als Hausherr sich dies erklären kann. Dennoch vermutet er : »In de afdrukken op mijn besneeuwde tuinpad herkende ik M. Hij was het, ten voeten uit«55 (Jongstra 1993: 12). Vor dem Hintergrund der in den Memoiren beschriebenen erfolgten und wieder aufgehobenen körperlichen Einheit von Ermittler und Tatverdächtigem können die Leser eine in der textuellen Welt gültige Gesetzmäßigkeit ableiten, die es zulässt, dass das Alter Ego sich zu gegebenem Zeitpunkt aus dem physischen Rahmen des Adjutanten gelöst hätte und seiner eigenen Wege gegangen wäre. Die Grenzen des Subjekts erscheinen deshalb in Het Huis M. als durchlässig, die Feststellung von Identität nicht möglich: »Identiteit blijkt een autobiografische fictie, waarin het ik uitsluitend als een ander bestaat«56 (Vervaeck 1996: 773). Jongstra kombiniert mit dieser Darstellung verschiedene Varianten des Doppelgängermotivs,57 von lustspielhaften Verwechslungsszenarios aufgrund physischer Ähnlichkeit (es gibt wiederholt intertextuelle Verweise auf Plautus’ Doppelgängerkomödie Menaechmi und Shakespeares Comedy of Errors, aber auch auf die apokryphen Bibeltexte, die im Apostel Thomas einen Doppelgänger Jesu sehen58) über die nur für das Ich wirksame fiktive Dopplung, um unerwünschte Seelenanteile auszulagern,59 bis hin zur mystischen und dämonisierten Ich-Spaltung, wie sie vor allem die Romantik hervorbrachte.60 Bemerkenswert ist dabei, dass damit gleichzeitig die Bewegung der inneren Spaltung des Ichs – als psychologischer Mechanismus oder rhetorische Entlastungsstrategie – dargestellt wird, wie auch die von außen herangeführte Spiegelung des Selbst 54 Dies wird noch betont durch die Formulierung des Adjutanten, jemand wäre ihm »zuvor gekommen« (Jongstra 1993: 9). 55 Übers.: »In den Abdrücken auf meinem verschneiten Fußweg erkannte ich M. Er war es, ganz typisch.« 56 Übers.: »Identität erweist sich als autobiographische Fiktion, worin das Ich ausschließlich als ein Anderer existiert.« 57 Ich verweise für eine ausführliche Darstellung der verschiedenen literaturgeschichtlichen Ausformungen des Doppelgängermotivs auf Elisabeth Frenzel (1999). 58 In der Neueinschreibung durch Jongstra ist Murk in der Rolle des Messias, während Mark als Stellvertreter Thomas fungiert (Jongstra 1993: 130). 59 Die Figur des verdächtigen Polizisten Mark wird dann zum Resultat von Murks Verdrängungsmechanismus, der den von ihm begangenen Mord jemand anderem in die Schuhe schieben will. 60 Die im Herausgebervorwort beschriebenen Vorgänge um die Spuren im Schnee werden als unheimliches Ereignis geschildert: Dem Adjutanten wird trotz heißen Sommers »so kalt, dass ich zittern muss«(Jongstra 1993: 12), wenn er an den Mordverdächtigen zurückdenkt, und er bezeichnet die Vorfälle als »unheimlich« (Jongstra 1993: 13). Ein anderes Beispiel ist die im Roman oftmals herbeizitierte Fallsucht. Sie stellt ihrerseits einen unkontrollierbaren Zustand dar, der unerklärliche Ereignisse einzuleiten vermag. Auch Murks »Mordlust« gegenüber Mark (Jongstra 1993: 204) lässt sich am besten in diesem Rahmen verstehen.

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Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

durch eine ähnliche Person. Die Dichotomie von innen und außen wird dadurch neben der Betonung der Grenzbereiche auch auf psychologischer Ebene dekonstruiert.

3.3.1 Doppelgänger en masse Die Kritik an der Idee der Identität wird im Huis M. keineswegs nur am dichotomisch angelegten Doppelgängermotiv um die beiden männlichen Hauptfiguren festgemacht. Sie zeigt sich erstens unterlegt mit zahlreichen Bemerkungen, die die Entfremdung der eigenen Erinnerung thematisieren. Über die Gattung der Memoiren schreibt der Ich-Erzähler etwa: »Daarin heeft de tijd weinig te vertellen. Als me een mooi ridderverhaal te binnen schiet waarin ik zou hebben kunnen figureren… Zodra het in je hoofd rondtolt, maakt het deel uit van je geschiedenis«61 (Jongstra 1993: 24).

Zweitens verbindet alle handelnden Figuren ein Kreislauf zwingender Abläufe, denen sie, ungeachtet ihrer individuellen Hintergründe, gleichermaßen ausgeliefert sind. Auch die Lektüre oder das Erinnern verschiedenster Texte, die im fiktionalen Universum kursieren, bringt immer wieder Parallelen hervor. Die Verunsicherung ob dieser Gesetzmäßigkeit wird von Murk wiederholt zum Ausdruck gebracht, wenn er seine eigene Geschichte in der anderer erkennt: »Zulke overeenkomsten vind ik verontrustend. Je hebt toch het idee dat als je maar gewoon opschrijft wat je zoal kan zijn overkomen, er vanzelf iets eigens ontstaat: het ene mensenleven is het andere niet. Dus ga je verschillen zoeken, en die vond ik ook. Er is bijvoorbeeld sprake van een strijd, zo ongeveer op leven en dood, tussen de hoofdpersoon en de dorpspastoor. Zo’n tweestrijd ben ik in mijn aantekeningen nog niet tegengekomen, en ik vraag me af of die ooit zal opduiken«62 (Jongstra 1993: 23 f).

Selbstverständlich stellt sich heraus, dass sich auch der im Zitat angesprochene vermeintlich individuelle Zwist zwischen Hauptfigur und Pastor auf der Ebene des Verhältnisses von Murk zu Mark wiederholt, wovon das Kapitel »De twee61 Übers.: »Darin hat die Zeit wenig zu suchen. Wenn mir eine schöne Rittergeschichte einfällt, in der ich eine Rolle gespielt haben könnte …Wenn es in deinem Kopf umgeht, macht es einen Teil deiner Geschichte aus.« 62 Übers.: »Solche Gemeinsamkeiten finde ich beunruhigend. Man hat doch die Idee, dass, wenn man einfach aufschreibt, was einem selbst passiert sein kann, auch von selbst etwas Eigenes entsteht: Das eine Menschenleben ist das andere nicht. Also sucht man nach Unterschieden und die fand ich auch. Es ist zum Beispiel die Rede von einer Auseinandersetzung, so ungefähr auf Leben und Tod, zwischen der Hauptperson und dem Dorfpastor. So eine Auseinandersetzung habe ich in meinen Notizen noch nicht gefunden und ich frage mich, ob sie jemals dort auftauchen wird.«

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strijd« zeugt.63 Weiters kristallisiert sich heraus, dass fast alle männlichen Figuren – darunter auch Statisten, deren Existenz sich nur aus wenigen Worten erschließt – sich von der Freule angezogen fühlen und diese über den Weg über die Fensterbank aufsuchen. Jene Figuren, die im Text mehr Raum einnehmen – Murk, Mark, Archangias aus Emile Zolas Rougon-Macquart-Zyklus, der Esel, Murks Rechtsanwalt, ein junger Polizeikollege von Mark und möglicherweise auch der Voreigentümer des Hauses Muralto – sind darüber hinaus Täter im Mordfall an der Freule. Manche Vorgänge, in die einzelne Figuren verstrickt sind, ähneln sich so, dass ebenfalls von einer (zeitlich begrenzten) Verschmelzung der Personen ausgegangen werden könnte. Doch ist diese graduell anders gestaltet als das Verhältnis von Murk zu Mark. Letzterer Vereinigung geht ein genrebedingtes und durch metafiktionale Aspekte angereichertes dualistisches Verhältnis voraus, das durch gegenseitige Annäherung in einer (zeitweisen) Transformation der physischen Verfasstheit mündet. Darüber hinaus zeigen sich die Handlungen beider Figuren an ein festes Muster gebunden, das sie wiederholt aufzuführen gezwungen sind, und werden Gedanken und Äußerungen als synchronisiert und nicht zuordenbar beschrieben. Im Fall der anderen männlichen Figuren – mit Ausnahme des Maulesels, der in einem gesonderten Abschnitt behandelt wird – wird auf die antagonistische Ausgangssituation meist ebenso verzichtet wie auf die explizit beschriebene Transgression körperlicher Grenzen. Die Betrachtung der sprachlich-geistigen Dimension jedoch zeigt, dass auch hier die Demarkationslinie zwischen verschiedenen Subjekten nicht aufrechterhalten werden kann. Dies beginnt bei spezifischen, nicht alltäglichen Formulierungen, die verschiedenen Figuren unabhängig voneinander zugeschrieben werden: Sowohl der Vorbesitzer Muralto als auch Murk bezeichnen den Unterleib der Freule mit der Metapher »laagland« [Tiefland], was auch den »lage« [niederen] Adel evoziert (Jongstra 1993: 120, 129),64 sowohl Murk als Muralto sinnieren über den Prozess, den es verlangt, um ein Haus wirklich »in Besitz zu nehmen« (Jongstra 1993: 27, 197). Die Freule mit ihrer fülligen Figur und wallendem roten Haar wird von vielen Männern als »mein Typ« bezeichnet, Murk und Muralto werden 63 Die Hoffnung auf einen individuellen Ablauf der Ereignisse wird auch an zwei anderen Stellen im Roman geäußert, aber nicht wahr gemacht. Was sein problematisches Verhältnis zu Frauen angeht, wird Murk vom Adjutanten befragt, ob er das bekannte, auch von der nächsten Frau an den Tag gelegte Verhaltensmuster nicht bereits vorausahnen hätte können. Doch Murk entgegnet, jeder Mensch sei doch anders, worauf der Polizist antwortet, dass die polizeiliche Tätigkeit ihn etwas anderes gelehrt hätte (Jongstra 1993: 69). Auch der Anwalt unterwirft sich den Gesetzen des Hauses M., obwohl ihm die Vorgeschichte des Serienopfers bekannt ist: »›Ik had mijn buurvrouw uit de geschriften heel goed leren kennen, en ik ging desondanks kijken wie ze was. Ik wist wat ze met me ging doen en onderging het met de verbazing van ee kind. En toen, en toen… O Murk, ze bloedde zû!‹« (Jongstra 1993: 312). 64 Vgl. auch die Ausführungen zum Begriff »niederen Adel« unter Abschnitt 3.2.

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diesbezüglich noch spezifischer : Ihr »Typ« ist eine ideale Zusammenstellung verschiedener, jeweils geschmacksabhängiger attraktiver »onderdelen« [Einzelteile] (Jongstra 1993: 90, 196). Weiter ausgearbeitet werden die Ähnlichkeiten, indem ausdrücklich auf äußerliche und innerliche Parallelen hingewiesen wird: Der vorige Eigentümer des Hauses M., Muralto, mit dem der Adjutant ebenfalls eine Zeit lang zusammenwohnte, sei Murk nicht nur äußerlich ähnlich gewesen (Jongstra 1993: 192). Auch der Pastor einer eingeschobenen Parallelerzählung, bzw. einer anderen textuellen Welt, dem Prätext La faute de l’Abb¦ Mouret von Emile Zola, wird explizit mit dem Adjutanten in Verbindung gesetzt. »Ik herinner me de adjudant als een verschoten lap stof op de vloer in de gang en meteen schuift die pastoor ervoor«65 (Jongstra 1993: 98). Der Kaplan aus der gleichen Parallelerzählung hingegen wird mit einem Arbeitskollegen des Adjutanten verglichen: »Hij laat de pastoor in de kraag grijpen door een kapelaan, die alles weg heeft van een wachtmeester«66 (Jongstra 1993: 97), wobei die reine Assoziation aufgrund von zufälliger Ähnlichkeit schon bald einer konkreteren Parallelität weicht. Wie Mark erleidet der Kaplan einen epileptischen Anfall und wie Murk bettet sich der Pastor zu ihm, um ihm beizustehen: »Hier komen we op het punt waar we eerder zijn geweest: de plaats waar kapelaan en pastoor, rechercheur en verdachte van buitenkerkelijke praktijken, als ¦¦n man voor ons op de stretcher liggen«67 (Jongstra 1993: 171).

Der Vergleich Marks und Murks mit den Figuren aus der Parallelerzählung betont die symbolische Auflösung ihres dualistischen Verhältnisses. Die mit der Formulierung »als ¦¦n man« [wie ein Mann] angedeutete Verschmelzung wird auch auf der Ebene der Beziehung von Kaplan und Pastor noch weiter ausgearbeitet. Der Pastor »erkennt etwas in [dem Kaplan]« (Jongstra 1993: 170), der Kaplan »hat die Wahrnehmung, im Kopf des Pastors herumspazieren zu können« (Jongstra 1993: 171), und als eine Stimme, kontextuell am ehesten die des Pastors, ihn anspricht, klingt es »wie seine eigene Stimme« (Jongstra 1993: 171). Eine zusätzliche zeitliche Dimension erhält die Doppelgängerthematik noch auf der Ebene des Verhältnisses von Murk mit seinem Vorbesitzer Muralto. In den von diesem hinterlassenen Schriften bezeichnet dieser sich als »getuige« [Zeuge] der Ereignisse im Haus M. und berichtet, auch als »voyeur« [Voyeur] 65 Übers.: »Ich erinnere mich an den Adjutanten als einen erblassten Stofflappen auf dem Boden im Gang und sogleich schiebt sich der Pastor davor.« 66 Übers.: »Er lässt den Kaplan, der dem Wachtmeister sehr ähnelt, den Pastor am Kragen packen.« 67 Übers.: »Hier kommen wir zu dem Punkt, an dem wir bereits eher gewesen sind: der Stelle, an der Kaplan und Pastor, Ermittler und Tatverdächtigter außerkirchlicher Praktiken, wie ein Mann vor uns auf der Liege liegen.«

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beschimpft und als »ziener« [Seher] verehrt zu werden (Jongstra 1993: 86). Vergangenes (retrospektiv Bezeugtes), Gegenwärtiges (die Befriedigung des Voyeurs speist sich aus der Aktualität des Geschehens) und auf Basis der Gesetzmäßigkeit der ewigen Wiederholung Antizipiertes gehen hier nahtlos ineinander über. Die zeitliche Dimension wird schließlich auch noch in die Ebene der Subjektivität übersetzt, indem das observierende Ich sich in Beobachter und Beobachteten aufspaltet, eine erneute Thematisierung und Subversion dichotomischer Auffassungen. »Je vraagt je af of je wel goed hebt gekeken, tuurt nog eens ingespannen door het instrument, knijpt vervolgens de ogen dicht om terug te halen wat je net hebt gezien en constateert ontzet dat het om een situatie gaat waarin je vroeger zelf hebt verkeerd. Als je dan opnieuw kijkt, zie je zelfs een manspersoon in beeld, die verdacht veel trekken vertoont van de man die je vroeger zelf was«68 (Jongstra 1993: 86, Hervorh. d. Verf.).

In weiterer Folge wird der von Muralto beobachtete Mann als Träger einer Adjutantenuniform beschrieben, was die Frage nach der Identität oder Differenz zwischen dem Adjutanten und Muralto aufwirft (Jongstra 1993: 90), die sich zu der bereits erfolgten Verwischung der Grenzen zwischen Muralto und Murk und der inneren Spaltung Muraltos hinzugesellt. Raum für Interpretationen lässt auch ein Kapitel, in dem das Leben eines Mannes Revue passiert, dessen Name wenig überraschend nur mit »M.« angegeben wird und der des grausamen Mordes an einer Frau bezichtigt wird. Dessen Geschichte bricht als eine von mehreren Parallelerzählungen in die Schilderung der Geschehnisse im Haus M. ein, wird aber von Murk mit den Worten vermittelt: »Ik moet me erin schrijven« [Ich muss mich hineinschreiben] (Jongstra 1993: 178). Eine Formulierung, die doppeldeutig ist, weil sie einerseits bedeuten kann, der Verfasser der Zeilen müsse erst in den Schreibprozess hineinfinden und andererseits, er müsse sich selbst noch in die Geschichte einschreiben. Dies wiederum suggeriert, Murk und M. wären dieselbe Person, ohne über die Angabe eines vollständigen Eigennamens (vermeintliche) Sicherheit über diese Vermutung zu bieten. Die Verwirrung ist komplett, wenn schließlich der Mauleselerzähler auftritt. Er erzählt seine Sicht der Dinge und berichtet nicht etwa von den Individuen Mark oder Murk, sondern ebenfalls nur von M. (Jongstra 1993: 266ff), wodurch die Verweisstruktur scheinbar komplett auseinanderbricht. Vielsagend ist in diesem Zusammenhang aber, dass in der Erzählung des Mauleselerzählers nur mit männlichen Personalpronomen auf »M.« 68 Übers.: »Du fragst dich, ob du gut geschaut hast, spähst noch einmal konzentriert durch das Instrument, kneifst deine Augen zu, um zu realisieren was du gerade gesehen hast, und konstatierst entsetzt, dass es um eine Situation geht, in der du dich früher einmal selbst befunden hast. Wenn du dann noch einmal schaust, siehst du sogar eine Mannsperson im Bild, die verdächtig viele Züge trägt von jenem Mann, der du früher selbst warst.«

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verwiesen wird, wodurch die weiblichen Figuren, die schließlich auch mit M beginnende Namen tragen, als Signifikate ausscheiden. Es sind keine unumkehrbaren Metamorphosen, die in Het Huis M. dargestellt werden. Die Unmöglichkeit, die Ereignisse im Haus M. im Rahmen einer textuell aktualen Welt vollständig zu rekonstruieren, führt auch zu unterschiedlichen Optionen die verschiedenen Ereignisse und Chinese-Box-Strukturen innerhalb des textuellen Universums zu gliedern. Der Aspekt der Chronologie tritt dabei in den Hintergrund: Die (sprachlich-geistige) Transgression und Transformation der Figuren präsentiert sich in Folge als beweglich, von der relativen, über den Vergleich vermittelten Instabilität von Identitäten bis hin zur totalen Auflösung der Vorstellung individuierter Subjektivität. Das Ich ist potentiell immer ein Anderer. Trotzdem ist es nicht ausschließlich die Ebene der Subjektivität, die damit angegriffen wird: Die wechselnde Rollenverteilung der Figuren funktionalisiert die Verschmelzung darüber hinaus für die Dekonstruktion dichotomischer Strukturen generell, wie insbesondere anhand des zentralen Verhältnisses von Murk und Mark gezeigt wurde. Dieser Eindruck wird von den textuellen Strategien um das Verhältnis von Mensch und Tier noch untermauert, wie im folgenden Abschnitt dargestellt werden soll.

3.3.2 Tier und/oder Mensch? Het Huis M. treibt den Gedanken der Verschmelzung von Figuren bis an die äußersten Grenzen des anthropologischen Selbstverständnisses. Nicht nur die handelnden menschlichen Figuren mit ursprünglich gegensätzlichen Rollen gehen ineinander über, auch die Grenzen zwischen Mensch und Tier werden über die Figur des Maulesels zunehmend vermischt. Zunächst zeigt sich das textuelle Universum taxonomisch zugänglich; die Spezies, die es bevölkern, können als klar voneinander unterschiedene Menschen und Tiere ausgemacht werden. So tritt zu Beginn des Romans das hybride Wesen aus Pferd und Esel als Transportmittel auf, das die Menschen über unwegsames Gelände zum Haus M. trägt. Die Transformation nimmt ihren Anfang, als Murk, erschöpft neben dem Adjutanten Mark eingeschlafen, zu träumen beginnt. Aus den veränderten Sinneseindrücken der Traumwahrnehmung wird schnell deutlich, dass Murk in Gestalt eines aus der Ich-Perspektive erzählenden Esels auftritt, ein Zustand, der ihn ob der veränderten Physis anfänglich befremdet, aber schon bald zur zweiten Natur wird. So erwähnt er, dass die auf ihn einprasselnden Sinneseindrücke nicht von einem durchschnittlichen menschlichen Körper wahrgenommen werden könnten (Jongstra 1993: 207), und dass er die »breiten, stumpfen Zähne eines Vegetariers« hätte (Jongstra 1993: 207). »,H¦,‹ riep ik. Het klonk alsof ik hoestte en zo voelde het ook. Ik nam een hap uit

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de vloerbedekking en kauwde erop […]«69 (Jongstra 1993: 207). Als der Esel die verführerische Freule aus dem Haus M. sieht, charakterisiert er sie mit den Worten »vrouwmens« – wörtlich Fraumensch, in der Bedeutung als »Frauenzimmer« zu verstehen – (Jongstra 1993: 207), was die Differenz zwischen der humanen und animalischen Sphäre hervorhebt. Dennoch ist die Transformation vom Menschen zum Tier nicht vollendet, im Gegenteil: Sie bleibt vorerst beweglich und bietet mal der einen, mal der anderen Seite Raum. Das Changieren zum Menschen zeigt sich, wenn die Ich-Erzählung des Mensch/Esels mit einer sehr unkonventionellen Fokalisierung durch den Wind, der in der Szenerie mit dem weidenden Tier aufgekommen ist, durchbrochen wird. Aus der Perspektive des Windes präsentiert sich der Mensch/Esel tatsächlich eher als Mensch: »[…] en daar vlaagde de wind opgelucht doorheen, vond er een gazon vlak achter en zag een gestalte op zich af komen rennen. Een borstelig behaarde vent, op handen en voeten, gek genoeg«70 (Jongstra 1993: 208).

Wenige Sätze später jedoch ist bereits die Rede von einem »borstelige viervoeter […] die weliswaar een galopje had ingezet maar nu de pas inhield, luid snoof met zijn grote snuit en […] afboog naar het venster waar hij was geroepen«71 (Jongstra 1993: 208), was wiederum eher auf eine Zugehörigkeit zum Tierreich hindeutet. Die Menschenfrau an der Fensterbank ruft das Wesen mit den Worten »Kom bij me, lief grauwtje, dan zal ik zwachtels om je hoeven winden […]«72 (Jongstra 1993: 209) und verfestigt mit der expliziten Nennung der Hufe den tierischen Eindruck. Die Traumsequenz endet mit dem Sprung des Esels über die Fensterbank73, hin zur Frau. Der Sprung artet dabei in einen missglückten Flug aus, dessen Landung so unsanft erfolgt, dass die Freule dabei ums Leben kommt.74 »Ik schopte met alle poten en trapte door een oppervlak dat kraakte als dun ijs. Haar licht doofde meteen«75 (Jongstra 1993: 209). 69 Übers.: »,He‹, rief ich. Es klang, als ob ich hustete und so fühlte es sich auch an. Ich nahm einen Bissen aus dem Teppich und kaute darauf […].« 70 Übers.: »[…] und da wehte der Wind erleichtert durch, fand eine Wiese gleich dahinter und sah eine Gestalt auf ihn zu rennen. Ein borstig behaarter Kerl, auf Händen und Füßen, komisch genug.« 71 Übers.: »borstiger Vierfüßer […] der zwar einen Galopp eingeschlagen hatte, der aber nun den Schritt einhielt, laut mit seiner großen Schnauze schnaubte und […] abbog zu dem Fenster, aus dem er gerufen wurde.« 72 Übers.: »Komm zu mir, lieber Grauer, dann wickele ich dir einen Verband um deine Hufe […].« 73 Wie die anderen männlichen Figuren springt der Esel über die Fensterbank (Jongstra 1993: 209, 338, 339). 74 Der Traumflug des Esels wird mit komischen Mitteln geschildert, indem der hybride Erzähler auch noch die Metaphorik des motorisierten Fluges bemüht, um das Missglücken der Landung zu verbildlichen. Dabei wird deutlich, dass im Unterschied zur körperlich empfundenen Verwandlung in einen Esel die Flugzeug-Metapher ein Stilmittel bleibt, fallen die »Motoren« doch auch nur »sozusagen« aus (Jongstra 1993: 209).

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Mit dem Ende des Traumes ist von einer tierischen Gestalt Murks auch keine Rede mehr. Trotzdem ist es nicht möglich, Murks Erfahrung als Esel auf die Traumgestalt und damit auf eine der textuell aktualen Welt untergeordnete Ebene zu reduzieren. In zwei weiteren Kapiteln tritt der Esel als Erzähler auf, diesmal aber ohne eine deutliche Trennung zwischen Traum und Wirklichkeit vorzunehmen. Explizit wird auch auf den Goldenen Esel von Apuleius verwiesen und auf die in diesem Text berichtete Fähigkeit des Esels, sich in einen Menschen zu verwandeln. Im Abschnitt »Erinnerungen des Maulesels« präsentiert das Lastentier, auf eine humane Art reflektierend, seine eigene Version der Memoiren und in der Beschreibung der Situationen gibt es diverse Anklänge zu den Formulierungen in Murks Eseltraum (u. a. »ein Frauenzimmer halb über der Fensterbank«, Jongstra 1993: 264). Darüber hinausgehend präsentiert sich der Esel als Zeuge der seltsamen Vorgänge im Haus M. und berichtet von seinen eigenen Untersuchungen zum Mordfall, in deren Rahmen er als »Kunstgriff« bewusst eine menschliche Gestalt, nämlich die des Adjutanten Mark, annimmt (Jongstra 1993: 270). »Bij mij ging het zo. Ik verdween eerst. Ik voelde iets aan mijn staart, keek om en zag dat die er dus niet meer was. Kriebel aan mijn rug, en ik bestond alleen nog uit een kop en twee voorpoten. Jeuk in mijn neus, en ik vond helemaal niets meer terug. […] De nieuwe gedaante verscheen aan de andere kant heel snel. Plop! Daar stond tweelingbroeder Huilebalk«76 (Jongstra 1993: 270 f).

Nach der Metamorphose ist eine gewisse Übung nötig, um den aufrechten Gang zu beherrschen (Jongstra 1993: 271) und das eigene Spiegelbild anzunehmen (Jongstra 1993: 270); vor allem aber die bleibend eselsgleiche Stimme macht dem verwandelten Wesen zu schaffen (Jongstra 1993: 271, 274). Da die Verwandlung in die Menschengestalt eine strategische Option ist, die der Zeugenschaft an den Geschehnissen im Haus dient, nimmt der Maulesel sie wiederholt vor und nutzt dabei auch die Phasen vollkommener Unsichtbarkeit aus, um sich im Haus M. zu bewegen. Obwohl der Maulesel in Gestalt von Mark erscheint, verschmilzt er nicht mit diesem, sondern verdoppelt dessen Auftreten. Dies zeigt sich deutlich in einer verwirrenden Szene, in der beide Marks dem Hausherren Murk gegenüberstehen (Jongstra 1993: 275). Auch zwischen dem Kaplan und dem Maulesel wird eine Verbindung angedeutet, wenn die Freule den Kaplan mit 75 »Ich trat mit allen Beinen um mich und traf auf eine Oberfläche, die wie dünnes Eis zerbarst. Ihr Licht erlosch sofort.« 76 »Bei mir ging es so. Ich verschwand zuerst. Ich fühlte etwas an meinem Schwanz, sah mich um und sah, dass er nicht mehr da war. Mein Rücken kribbelte, und ich bestand nur noch aus einem Kopf und zwei Vorderbeinen. Juckreiz an meiner Nase, und ich konnte gar nichts mehr finden. […] Die neue Gestalt erschien andererseits sehr schnell. Plopp! Da stand Zwillingsbruder Jammerlappen.«

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»Grauer« anspricht, ihn gar mit den Worten verführt, »Galopp machen, dann ist Frauchen wieder zufrieden« und ihn schließlich »bereitet« (Jongstra 1993: 235). Mensch- und Tiergestalt treten in diesen Textpassagen als austauschbare Formen der Existenz auf, das Selbst jedoch erscheint weitgehend als ein Kontinuum, das sich ungeachtet der äußeren Form fortsetzen kann. Geist und Physis werden getrennt begriffen, ein Eindruck, der von der letzten Passage aus der Sicht des Maulesels, dem Kapitel »De epiloog van de muilezel«, allerdings noch untergräbt wird. Dies geschieht, indem der Maulesel die gleichen Formulierungen verwendet, die auch in der Traumsequenz eine Rolle gespielt haben,77 ein Phänomen, das Bart Vervaeck als Dezentrierung und Destabilisierung des Erzählens beschreibt (Vervaeck 1999: 129). Damit wird genau wie in der Verschmelzung der männlichen Protagonisten auch der geistigen Ebene zwischen vermeintlich getrennten Entitäten ein fließender Übergang zugeschrieben. So kann der Eselserzähler zusammenfassen: »Mijn gastheer hield er ruime opvattingen op na waar het de vereniging van mens en dier betreft. Ik weet niet of hij het in de gaten had, maar het is zo: waar in menig mens een beest huist, is een dier niets menselijks vreemd« (Jongstra 1993: 337)78.

Unterstützt wird diese Sichtweise zusätzlich durch eine narratologisch unentscheidbare Aussage, die den »Erinnerungen« des Maulesels entspringen. In einer Beschreibung der von ihm observierten Tätigkeiten Murks und Marks bemerkt der Eselerzähler : »In het begin zaten ze dagenlang te kletsen in de bibliotheek: de poten strekken, even draven op het gazon, een hap gras als intermezzo was er niet bij«79 (Jongstra 1993: 269). Hier ist nicht klar, wem keine eselsgerechte Pause gegönnt wird: dem beobachtenden Tier oder den Menschen Murk und Mark. Letztere erhalten durch dieses Verfahren jedenfalls animalische Züge. Auch die spätere Formulierung Murks, er hätte in der Vergangenheit »Reden in Maul77 Wurde Murk/Esel in der Traumpassage über die Fensterbank gelockt mit dem Satz »[…] dann wickle ich dir einen Verband um deine Hufe« (Jongstra 1993: 209). Auch im Epilog berichtet der Maulesel von einer Einladung der Freule, die Fensterbank zu überwinden, um sich »Verbände um [seine] Hufe zu wickeln« (Jongstra 1993: 338). Ebenso wird die »berstende Oberfläche« (Jongstra 1993: 83) aus dem Traum auch im Epilog herbeizitiert (Jongstra 1993: 338). Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass die mit den o.g. Formulierungen beschriebene Situation der Verführung durch die Freule aus dem Haus M. in beiden Versionen, Traum und Erzählung, Parallelen aufweist, aber nicht ident ist. In der Traumsequenz überfliegt der Esel die Fensterbank und tötet die Freule im Zuge seiner unsanften Landung, in der Erinnerung des Esels wird er mit Unterstützung der Freule über eine Hebevorrichtung in ihr Zimmer bugsiert, wo sich während des suggerierten Geschlechtsaktes die Stricke lösen und bewirken, dass der Esel mit tödlicher Folge auf die Frau stürzt. 78 Übers.: »Mein Gastgeber hatte tolerante Ansichten, was die Vereinigung von Mensch und Tier betrifft. Ich weiß nicht, ob er es bemerkte, aber es ist so: Wo in manchem Mensch ein Tier haust, ist dem Tier nichts Menschliches fremd.« 79 Übers.: »Anfangs verbrachten sie ganze Tage damit, in der Bilbliothek zu plaudern: die Beine strecken, eben mal auf dem Gras traben, ein Happen Gras als Intermezzo war nicht drin. »

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eselverkleidung« gehalten (Jongstra 1993: 346), kann keine definitive Klärung des Sachverhalts herbeiführen. Die Formulierung hält die Möglichkeit offen, die Verwandlung in einen Maulesel aus strategischen Gründen zu wählen, wie umgekehrt der Maulesel behauptet, das Gleiche mit der menschlichen Gestalt getan zu haben. Außerdem erwähnt Murk, seien diese Reden in Verkleidung als »deuterokanonisch« abgetan worden (Jongstra 1993: 86). Deuterokanonische Schriften aber sind trotz aller kirchengeschichtlichen Zweifel letztendlich kanonisiert und Bestandteil der Heiligen Schrift geworden, der Verweis auf die Deuterokanonik kann also auch als eine Vorwegnahme des Prozesses der Wahrheitszuschreibung an die Mauleselepisoden verstanden werden. Die Frage, wer spricht, kann damit nicht mehr eindeutig beantwortet werden: Murk und der Maulesel, Reiter und Berittener gehen ineinander über. Die Dichotomie Mensch/Tier lässt sich in Het Huis M. nicht aufrechterhalten. Die textuellen Welten, die am Anfang der Lektüre taxonomisch zugänglich erschienen, stellen sich in dieser Hinsicht als unzugänglich heraus. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich die Geschlechterdifferenz gemäß dem Prinzip der geringsten Abweichung als gültig erweist, wie der folgende Abschnitt zeigen soll.

3.3.3 Frau und Mann Die Verschmelzung unterschiedlicher Figuren bis zur (intertextuell motivierten) Verschmelzung zweier Spezies ist in Het Huis M. gang und gäbe. Doch ist sie auf die Vereinigung eindeutig männlich markierter Figuren beschränkt, während die weiblichen Figuren erstens in einem deutlich geringeren Maße ineinander übergehen und zweitens keine wesentlichen Transgressionen zwischen Männern und Frauen beschrieben werden. Die Markierung der Geschlechter ist in Het Huis M., aber auch in allen anderen hier besprochenen Romanen Jongstras unproblematisch: Sie erfolgt vor allem über Personalpronomina, Bezeichnungen wie »Mann« oder »Frau« und kulturell vergeschlechtlichte Eigennamen, aber auch über Beschreibungen der Physis, in der auch die sekundären Geschlechtsmerkmale nicht ausgespart werden. Im Fall von Het Huis M. werden wiederholt die Brüste der Freule und der an ihr gespiegelten Frauenfiguren beschrieben, aber auch der Penis angedeutet (z. B. Jongstra 1993: 61). Damit wird die körperlich und sprachlich verankerte Geschlechterdifferenz aus dem Erwartungshorizont der Leser in der Literatur affirmiert, das textuelle Universum diesbezüglich als ähnlich erkannt. Die zentrale weibliche Figur der Freule wird, ähnlich wie bei den männlichen Protagonisten Mark und Murk, in Parallelerzählungen gespiegelt. Beziehen sich die ersten Analogien bei den männlichen Figuren explizit auf andere als

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äußerliche Merkmale (Jongstra 1993: 62), wird Ähnlichkeit bei den weiblichen Figuren just über das Aussehen hergestellt. Dies betont der Ich-Erzähler auch: »Als ik alle liefdes in mijn leven de revue laats passeren, dan ist het steeds dezelfde vrouw die opduikt. In belangrijke details hemelsbreed verschillend maar overal en in alles vrijwel identiek. Waarin dan? Ik zie meestal eerst een fysiek verschijnen. Zo gaat dat in de werkelijkheid ook«80 (Jongstra 1993: 43 f).

Die (von den verschiedenen Männerfiguren) begehrten Frauen, von der Freule über die Haushälterin im Pastorenhaushalt und in diversen Porträts bis hin zur Mariendarstellung, haben allesamt rotes, lockiges Haar81 und volle Arme.82 Auch in ihrem Verhalten gibt es, wie auch bei den männlichen Figuren, Konstanten. Diese entsprechen misogynen Klischees über Frauen: Frauen haben demnach einen Nestdrang und wollen Männer bleibend an sich binden,83 wobei sie die Männer in ihrem Freiheits- und Intellektualitätsdrang einengen. Genau wie bei den männlichen Figuren gleichen sich einige Verhaltensweisen oder Redewendungen der verschiedenen Frauen auffällig. Physische Übergänge jener Art, wie sie zwischen Mark und Murk beschrieben wurden, werden zwischen den Frauenfiguren allerdings nicht geschildert. Zwar ist ein Kapitel betitelt »Die Verwandlung der Haushälterin«, die Veränderung selbst aber beschränkt sich auf deren veränderte Präsentation ihrer körperlichen Reize. Statt zu einem Knoten gebunden trägt die Haushälterin ihr rotes Haar nun offen, und statt ihren Pflichten im Haushalt streng nachzugehen, lehnt sie, der Freule gleich, lockend über der Fensterbank. Het Huis M. entwirft eine fiktionale Welt, die in vieler Hinsicht von der realen abweicht. Die Leser müssen ihre Erwartungshaltung an die veränderten Gesetzmäßigkeiten anpassen und lernen so rasch, dass das Verschmelzen von Personen als möglich erachtet wird. Ebenso müssen sie aber auch realisieren, dass diese Möglichkeit wesentlich von der klassischen Mann/Frau Dichotomie

80 Übers.: »Wenn ich alle Lieben meines Lebens Revue passieren lasse, dann ist es stets dieselbe Frau, die auftaucht. In wichtigen Details himmelweit anders, aber überall und in allem fast identisch. Worin? Ich sehe meistens erst das Äußere vor mir. So funktioniert das in Wirklichkeit auch.« 81 Nicht zufällig die am stärksten sexualisierte Haarfarbe. Die drohende männliche Gewalt ist ebenfalls bereits in die Haarfarbe eingeschrieben: Die erste Nennung des roten Haares durch Murk erfolgt im Kontext der Beschreibung des aus Blut gemalten Porträts der Freule (Jongstra 1993: 34). Mit Blut gemalt kann das Kunstwerk das Haar der Freule – und somit auch aller anderen Frauen in Het Huis M. – nicht anders als rot abbilden und dergestalt auch in die Erinnerung der Betrachter einschreiben. Zugleich hebt das auf diese Weise als rot identifizierte Haar auch erneut den artifiziellen, phantasmatischen Charakter der Freule hervor (siehe die Diskussion unter Abschnitt 3.4.1). 82 Jongstra 1993: 41, 80, 158, 160, 167, 181 u.v.m. 83 Siehe Jongstra 1993: 56, 70, 141, 176.

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mitgestaltet wird. Anhand eines mit unterschiedlichen Geschlechtern besetzten Szenarios kann dies herausgearbeitet werden. Ein Ausgangspunkt für die bei den männlichen Figuren beschriebene Verschmelzung der Identitäten ist die Tatsache, dass in Het Huis M. regelmäßig Szenen mit teilweise leicht veränderten Parametern wiederholt werden. Eine dieser wiederkehrenden Situationen ist das Schlafen in einem Bett »wie ein Mann«, nachdem eine der Figuren einen Anfall hatte. Während diese Situation zweimal in der Konstellation mit zwei Männern auftritt (Jongstra 1993: 171, 207), findet sich auch einmal eine gemischtgeschlechtliche Besetzung. Nach einem Schwächeanfall sackt der Bischof/Kaplan aus der Parallelerzählung zu Boden und findet sich, als er aus der Bewusstlosigkeit erwacht, im Bett mit seiner Haushälterin wieder. Während das Wiedererwachen in einer solch ungewöhnlichen und intimen Situation in den anderen, gleichgeschlechtlichen Inszenierungen des gemeinsamen Ruhens nicht thematisiert wird, geschieht dies umso deutlicher, wenn die weibliche Figur Teil der beschriebenen Situation ist: »Hij bedacht dat hij nu geschrokken hoorde te reageren. Hij lag met een huishoudster in bed, nota bene de huishoudster van een ander. Afdeling doodzonden […]. […] Zijn linkerhand sloeg op de rug van zijn rechter, die zich onwillekeurig had uitgestrekt in de richting van haar. Toen nog wel«84 (Jongstra 1993: 162).

Wenig später wird dann noch einmal festgestellt, der Kaplan ließe »nachts die eine Hand nicht mehr die andere […] schlagen« (Jongstra 1993: 163). Das Zwillings- oder Doppelgängermotiv, das an dieser Stelle sonst variiert wird, wird hier zugunsten heterosexuellen Begehrens aufgebrochen, das wie selbstverständlich jedes Zusammentreffen von männlichen und weiblichen Figuren im Huis M. bestimmt. Mit der abgewandelten sprichwörtlichen Formulierung, die linke Hand müsse die rechte in Zaum halten, wird zudem auf eine Textpassage aus dem für die Doppelgängermotive zentralen Kapitel »Der Zwiestreit« verwiesen, in der das Verhältnis von rechter und linker Körperhälfte auf die Relation von Murk und Mark umgelegt wird: »Hoe luidde het woord van Messias ook alweer: ›Houdt uw rechter hand op de hoogte van wat de linker doet‹? Gezien de nauwe banden die langzamerhand tussen mij en de adjudant waren ontstaan, begon ik ernstige twijfels te koesteren over de communicatie tussen mijn lichaamsdelen onderling en de connectie tot mijn bovenkamer«85 (Jongstra 1993: 184).

84 Übers.: »Er dachte, dass er nun eigentlich erschrocken reagieren sollte. Er lag mit einer Haushälterin im Bett, nota bene der Haushälterin eines anderen. Abteilung Todsünden […]. […] Seine linke Hand schlug auf den Handrücken der rechten Hand, die sich unwillkürlich in ihre Richtung ausgestreckt hatte. Damals zumindest noch.« 85 Übers.: »Wie lautete das Wort des Messias gleich wieder : ,Lasset die rechte Hand wissen, was die linke tut?‹ Angesichts der engen Bande, die mit der Zeit zwischen mir und dem Adju-

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Es ist also die innere Spaltung des Kaplans, die in der gemischtgeschlechtlichen Konstellation die Verschmelzung der beiden nebeneinander gebetteten Personen ersetzt. Die Problematisierung der Identität erfolgt nur auf der Oberfläche männlicher Körperlichkeit, die Abweichung des textuellen Umganges mit Männern und Frauen wird aus dem Vergleich mit parallel gestalteten Situationen sichtbar. Die textuell festgelegte Unmöglichkeit der körperlichen Verschmelzung von Mann und Frau abseits der sexuellen Vereinigung kann auch an einem anderen Beispiel demonstriert werden. Der Maulesel beobachtet eine Situation, in der M. an seinem Schreibtisch über einem Folioband – an anderer Stelle als seine Memoiren identifiziert (Jongstra 1993: 255) – sitzt und gleichzeitig verschiedene Tätigkeiten – Schreiben, Sprechen, Lesen – ausführt. Da Murk als Memoirenschreiber auftritt, liegt es nahe, in der beobachteten Figur auch Murk zu erkennen. Problematisiert man jedoch diese Ergänzung durch die Leser zu einer bewusst offen gehaltenen Referenz, lässt sich aus der Geschlechter-Perspektive auch Bemerkenswertes festhalten. Die Bezeichnung »M.«, die der Maulesel für seinen Bericht konsequent beibehält, verfügt über das Potential, grundsätzlich fast alle, männliche wie weibliche Figuren zu bezeichnen, über die verweisenden Personalpronomen ist sie aber ausschließlich männlich konnotiert. Bei genauerem Hinsehen stellt der Maulesel fest, dass es nicht M. selbst ist, der schreibt, da seine Schreibhand sich nicht einmal bewegt. Wie in einer spiritistischen Sitzung scheint eine übernatürliche Macht den Bleistift zu bewegen: »Toen verhief zich dat potlood eventjes op de punt, maar viel weer neer. Moeizaam zette het zich opnieuw overeind, na een wilde kras op het papier zeeg het andermaal op het papier neer. Toen richtte zich die liniaal op, steeg enkele centimeters boven het schrift en steunde het potlood. In een minuut of wat werden in snel tempo enkele bladzijden gevuld, toen vielen potlood en liniaal neer […]«86 (Jongstra 1993: 267).

Der wie von Geisterhand aufgezeichnete Text präsentiert sich nun in Ich-Form verfasst, wobei sich die Freule als Verfasserin ausgibt. Sie versucht, aus ihrem gepeinigten Zustand der besonders brutalen Ermordung heraus ihren Mörder zu benennen, was jedoch nicht gelingt, da die Aufzeichnung vorher abbricht. Auffällig ist an dieser Szene, dass M.s (männlicher) Körper aus der Aufzeichnung klar »herausgeschrieben« wird. Das kurze geisterhafte Auftreten der Freule tanten entstanden waren, begann ich ernste Zweifel an der Kommunikation zwischen meinen Körperteilen untereinander zu entwickeln, aber auch an deren Verbindung zu meinem Oberstübchen.« 86 Übers.: »Dann erhob sich der Bleistift für einen Moment auf seine Spitze, fiel aber wieder hin. Mühsam richtete er sich wieder auf, nach einem wilden Gekrakel auf dem Papier sackte er abermals auf das Papier nieder. Dann richtete sich das Lineal auf, stieg einige Zentimeter über der Schrift auf und stützte den Bleistift. In einer Minute oder so wurden in schnellem Tempo einige Seiten gefüllt, dann fielen Bleistift und Lineal nieder […].«

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deckt sich mit den spiritistischen Praktiken, die Murk und Mark an anderer Stelle anwenden, um ihre Leiche wieder an den Platz ihres ursprünglichen Schaffens als Prostituierte zurückzubringen, und folgt damit den Gesetzmäßigkeiten der fiktionalen Welt. Eine körperliche Verschmelzung von männlichen und weiblichen Figuren, das wird deutlich, findet in Het Huis M. nicht statt. Was Übergänge auf sprachlich-geistiger Ebene betrifft, muss nuanciert werden. Auf dieser Ebene ist eine Einheit des männlichen Memoirenschreibers und mutmaßlichen Täters mit seinem weiblichen Opfer möglich. Dies suggeriert der Maulesel, der das spiritistisch erstellte Schriftstück zum Anlass nimmt, im Anschluss allgemeine Gedanken zum Schreibprozess kundzutun: »Ik ken de theorieÚn wel dat schrijverij alleen weergeeft wat er in een mensenhoofd omgaat en geloof trouwens dat iedereen die theorieÚn wel kent«87 (Jongstra 1993: 267). Dies kann die Möglichkeit andeuten, trotz der unkörperlichen Art des Niederschreibens entspringe auch dieses Fragment wie alles andere nur einem Geist. Im Unterschied zu den suggerierten sprachlich-geistigen Übergängen zwischen den männlichen Figuren wird diese Option jedoch nicht von anderen textlichen Strategien, etwa expliziten Vergleichen oder körperlichen Übergängen, verfestigt oder an mehreren Textstellen repetitiv inszeniert. Auch der pikareske Ich-Erzähler, der in vergleichbaren Situationen Zweifel an den Grenzen seiner eigenen Identität äußert (»Oder murmelte ich es selbst?« Jongstra 1993: 256), nimmt hier nur die Rolle des passiven Beobachters ein. Die Möglichkeit der Verschmelzung zwischen den Geschlechtern zeigt sich damit nur auf der Ebene metafiktionaler Aussagen über den Schreibprozess gegeben (alles entspringt einem Geist), nicht aber auf der taxonomischen Ebene der Verwirklichung in der textuellen Welt. Die für den Dekonstruktivismus maßgebliche dichotomische Figur, die Unterscheidung von Mann und Frau, wird damit in Het Huis M. essentialistisch verfestigt. Dazu kommt noch, dass das binäre Schema durch eine weitere, entlang der Geschlechtergrenzen verlaufende Dichotomie vertieft wird, nämlich die Opposition von Aktivität und Passivität. Die Fensterbank markiert, wie bereits dargestellt wurde, einen wichtigen liminalen Bereich innerhalb der fiktionalen Welt von Het Huis M. und hypostasiert damit den Raum zwischen draußen und drinnen. Damit ist allerdings noch nicht festgelegt, wie sich die Figuren in diesem transgressiven Bereich bewegen. Feministisch-narratologisch betrachtet zeigt sich nämlich, dass sich die weiblichen Figuren durchgehend über die Fensterbank lehnen,88 eine eher

87 Übers.: »Ich kenne die Theorien schon, dass Schreiberei nur wiedergibt, was in einem Menschenkopf umgeht und glaube übrigens, dass jeder die Theorien kennt.« 88 Jongstra 1993: 42, 119, 120, 167, 171, 194, 205, 207, 264, 272, 337.

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passive Haltung, die die Frauen im liminalen Bereich belässt,89 während die männlichen Figuren die Fensterbank vielfältiger nutzen: Während sie nur selten über der Brüstung lehnen, überwinden sie sie hauptsächlich aktiv, indem sie über sie hinwegklettern oder -springen,90 wodurch auch gleich die Möglichkeit impliziert wird, dass sie beide Räume, außen und innen, einnehmen können. Die weiblichen Figuren hingegen werden fast nur innerhalb des Hauses situiert.91 Die Tatsache, dass die Fensterbank als liminaler Raum entworfen wird, der die Trennung zweier Sphären aufhebt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die feministisch-narratologische Analyse der figuralen Bewegungsmuster gleichzeitig die (Neu-)Konstituierung einer Dichotomie gerade auf der Folie des liminalen Bereiches offenlegen kann. Die Begriffsopposition aktiv/passiv wird auch in der textuellen Welt auf traditionellem Wege in die Geschlechterdichotomie eingeschrieben. Müssen die Leser also einerseits ihre Vorstellung des textuellen Universums laufend anpassen, weil anfänglich eingeführte Dichotomien wie der genretypische Gegensatz von Kriminalkommissar und Tatverdächtigem im Laufe des Romans ihrer Auflösung zugeführt werden, aber auch das Konzept der Identität stark erodiert, so geschieht dies andererseits nur vor der Folie einer strikten Trennung der Geschlechter, die die textuellen Welten als stabiles Gefüge prägt. Je veränderlicher sich aber die Körpergrenzen im Zusammenhang mit der Doppelgängermotivik erweisen, desto essentialistischer erscheint im Verhältnis dazu die Aufrechterhaltung der Geschlechterdifferenz.

3.3.4 Dichotomien im Werkzusammenhang Die verkörperlichten Transgressionen zwischen den Figuren, die auch der Dekonstruktion von Dichotomien dienen, sind ein Spezifikum von Het Huis M. und De tegenhanger. Zwar findet sich auch in Groente sowie in den Erzählungen in Cicerone eine ähnliche Problematisierung des Konzepts der Identität, die Umsetzung erfolgt aber nicht explizit auf physischer, sonder eher auf einer abstraktintertextuellen Ebene. Das folgende Zitat aus Groente kann dies illustrieren. Der Ich-Erzähler reist dabei auf den Spuren eines anderen Mannes mit dem sprechenden Namen »Libri« und bemerkt dabei: 89 In zwei anderen Fällen wird die gleiche Haltung – das Lehnen über der Fensterbank – tendentiell aktiver eingekleidet, indem die Frau einen der Männer bzw. den Esel nach drinnen zieht (Jongstra 1993: 197, 338), wobei die Frau den liminalen Raum aber nicht verlässt. 90 Jongstra 1993: 30, 44, 63, 84, 85, 90, 93, 122, 123, 182, 195, 220, 239, 259, 270, 277. 91 Die wohl auffälligste Abweichung hiervon ist der Auftritt der Freule im Wasser während der Ertrinkungsszene von Murk, den sie ins Unheil hinabzieht (Jongstra 1993: 345).

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»Flarden van een lange tocht. Hoe werkt het geheugen? Wat ik niet bij anderen las, bedacht ik zelf wel en dat brengt me in de postkoets van Kiel naar Kopenhagen«92 (Jongstra 1991: 99).

In Groente und der Erzählung Cicerone ist das erzählende Ich in verschiedenen Jahrhunderten unterwegs. Die Szenarien weisen einen anachronistischen Verlauf auf, gleichwohl erscheint das Ich als Kontinuum, das die Zeitsprünge als unproblematisch erfährt.93 In jedem Zeitabschnitt taucht eine verehrte weibliche Figur, die jeweils ähnliche Namen trägt, auf. Nahtlos wird die Clara von Assisi des ersten Szenarios von weiteren Klaras oder Clares abgelöst. Die weiblichen Figuren verschmelzen zum Idealbild einer Frau, deren Individualität auf diese Weise in den Hintergrund tritt. Während es in Het Huis M. aufgrund des Doppelgängermotivs vor allem die Gleichzeitigkeit ist, die neben der sprachlichgeistigen Ebene für körperlich spürbare Übergänge zwischen den Figuren sorgt, spielen sich die figuralen Transgressionen in Groente und Cicerone vornehmlich auf der Schnittfläche unterschiedlicher zeitlicher Ebenen ab. Dies hat zwar, vor allem was das suggerierte zeitliche Kontinuum des Ich-Erzählers betrifft, durchaus eine physische Komponente, diese ist aber nur implizit angelegt und wird im Text nicht weiter problematisiert. In der Aufeinanderfolge der historischen Szenarien in Groente wird die Geschlechterdifferenz allerdings ebenso wenig angetastet wie mit dem Doppelgängermotiv in Het Huis M.: Modernere Frauenfiguren ersetzen historische Frauenfiguren, ein moderneres (männliches) Ich ein historisches. Das Doppelgängermotiv inklusive der körperlichen Verschmelzung aus Het Huis M. findet sich auch stark in De tegenhanger – diesbezüglich findet sich eine ausführliche Darstellung bei Bart Vervaeck (2006), der das Bild des Gegenspielers als Auseinandersetzung mit der Idee von Alterität präsentiert – allerdings ist es dort weniger variantenreich. Der psychiatrische Patient Hudiger (nota bene namensgleich mit dem Protagonisten aus Atte Jongstras Roman Hudigers Hooglied), in Behandlung bei Therapeut Jongstra (namensgleich mit dem Autor), stalkt diesen aus Interesse an dessen Frau Mary. Die äußerliche Ähnlichkeit zwischen beiden Figuren ermöglicht es dem Patienten, eine Reihe von Intrigen zu entwickeln, die Jongstra in Situationen manövrieren, in der die Außenwelt in ihm den anderen zu erkennen glaubt. Jongstra sieht Hudiger als sein »Gegenstück« und lässt sich schließlich auf einen Kampf mit ihm ein, worauf Hudiger ihn fragt, ob er sich »damit nicht auch selbst ein bisschen 92 Übers.: »Erinnerungsfetzen an eine lange Reise. Wie funktioniert das Gedächtnis? Was ich nicht bei anderen las, dachte ich mir selbst aus und das bringt mich in die Postkutsche nach Kopenhagen.« 93 Wie selbstverständlich weiß etwa das Ich, das ein Zeitgenosse von Franz von Assisi ist, aus der Überlieferung, wann dieser sterben wird (Jongstra 1991: 16).

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geschadet hat« (Jongstra 2003: 267). Diese Formulierung kann wörtlich genommen werden: Wenig später verschmelzen die beiden Doppelgänger zu einer Person. »[…] langzaam naderden beide mannen elkaar die zo diametraal van elkaar verschilden, als dag en nacht. Maar hun verbazing duurde niet lang, want hoe vanzelfsprekend de manier waarop ze elkaar aan de borst drukten, waarop ze ¦¦n werden, niet uit liefde maar gewoon omdat het zo hoorde. […] ¦¦n werden, niet met het omringende of met God, maar met hun andere helft, beter, slechter, het verschil was algauw niet meer uit te maken«94 (Jongstra 2003: 279, vgl. 312).

Hudiger gilt der Figur Jongstra fortan als »die zweite Seele in meiner Brust« (Jongstra 2003: 329), die sich mit einer fremden Stimme bemerkbar macht (Jongstra 2003: 328), und ist der schlechte Teil von Jongstras Persönlichkeit, der Jongstra als innere Stimme zu verbrecherischen Taten aufruft (Jongstra 2003: 291 f). Anders als in Het Huis M. ist in De tegenhanger aber eine psychologisierende Interpretation dieser Vorgänge naheliegend und aufgrund der konventionelleren Erzählweise auch möglich (Vitse 2004: 687).95 Gleich der Logik von Het Huis M. verschmelzen auch in diesem späteren Roman Jongstras nur eindeutig männlich markierte Figuren.96 Das Spiel mit Identitäten wird dabei vor allem und in seiner körperlichen Ausprägung gar ausschließlich auf der Oberfläche von Jongstra und Hudiger ausgetragen (und über die Namen der Protagonisten mit einer zusätzlichen metafiktionalen und intertextuellen Dimension versehen)97. Spiegelungen und auffällige Parallelen finden sich jedoch auch zwischen Jongstra und seinem Psychiaterkollegen Lemnik sowie zwischen Jongstras Doppelgänger und »schaduw« [Schatten] Hudiger (Jongstra 2003: 257) und der Nebenfigur Jan-Willem, die ebenso als »Schatten« bezeichnet wird (Jongstra 2003: 244). Auch auf dieser konventionelleren Ebene des fließenden Übergangs zwischen einzelnen Figuren muss festgestellt werden, dass es wie94 »[…] langsam näherten sich die beiden Männer, die sich so diametral voneinander unterschieden wie Tag und Nacht, einander. Aber ihr Erstaunen dauerte nicht lang, denn die Art, wie sie einander an die Brust drückten, wie sie eins wurden, nicht aus Liebe, sondern einfach, weil es so sein sollte. […] eins werden, nicht mit der Umgebung oder mit Gott, sondern mit ihrer anderen Hälfte, besser, schlechter, der Unterschied war schon bald nicht mehr festzustellen.« 95 Eine gewisse Nuancierung ist trotzalledem nötig, ich verweise an dieser Stelle auf die ausführliche Darstellung insbesondere der retrospektiven Relativierung des psychologischen Realismus in De tegenhanger und die Einschreibung der Figuren in literarische Traditionen durch den selbstreflexiven letzten Abschnitt des Romans bei Vervaeck (2006). 96 Ähnlich wie in Het Huis M. ist diese Verschmelzung aber kein unumkehrbarer Prozess, sondern bleibt beweglich, vgl. das Kapitel zu De tegenhanger in Vervaeck 2006. 97 Dies wird noch verstärkt, als Jongstra in einer Szene auf einen Mann namens Arno Breekveld trifft, dem Pseudonym, unter dem der Schriftsteller Atte Jongstra in früheren Jahren veröffentlichte.

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derum nur um eindeutig männlich markierte Figuren geht, was die Geschlechterdifferenz in der textuellen Welt naturalisiert. Abgesehen von der über die Geschlechterdifferenz strukturierten Identitätsproblematik werden in allen Romanen von Jongstra begriffliche Gegensätze aufgelöst. Ähnlich wie in Het Huis M. handelt es sich neben der metafiktional vermittelten Dekonstruktion von Realität und Fiktion bei den offensichtlichsten Begriffspaaren oft um soziale oder berufliche Rollen, wie das Verhältnis von Arzt und Patient in De tegenhanger oder von Beichtvater und Sünder in Groente. So wird der Psychiater Jongstra aus dem Tegenhanger selbst zum Patienten, der zu therapeutischen Zwecken seine Lebensgeschichte verfasst, die wiederum den Text des Romans ausmacht. In Groente will ein Bischof – noch dazu ein evangelisch-lutherischer – der Ich-Figur eine Beichte abnehmen, doch letztendlich ist es der Ich-Erzähler, der den Bischof befragt und mit kirchlichen Formeln verabschiedet, als wäre er selbst der Beichtvater. Betrachtet man eine weitere grundlegende Dichotomie, nämlich Aktivität und Passivität, kann für Groente eine ähnliche Tendenz aufgezeigt werden, wie sie bereits für Het Huis M. herausgearbeitet wurde: Zwar wird, wie Vervaeck bemerkt, die Dichotomie von Aktivität und Passivität über die Gemüse-Metapher dekonstruiert, indem der Mensch sowohl als (passiv gepflegtes) Gemüse als auch als (aktiv schaffender) Gärtner auftritt (Vervaeck 1999: 87), betrachtet man die gleichen textlichen Verfahren aber geschlechterkritisch, muss diese Aussage nuanciert werden. Es sind die männlichen Protagonisten – der Ich-Erzähler, Antonius, Franciscus von Assisi, Herr Wijk – die sich auf beiden bzw. auf der aktiven Seite der Metapher wiederfinden. Von den weiblichen Hauptfiguren wird keine als Gärtnerin dargestellt, nur von zwei anonymen Nonnen wird einmal erwähnt, sie würden im Garten arbeiten (Jongstra 1991: 191), allerdings ohne die Tätigkeit genauer zu benennen oder sie wie die männlichen Figuren explizit als »Gärtner« zu bezeichnen. Als literalisiertes, passives Gemüse allerdings fungieren die weiblichen Hauptfiguren schon, wie unter anderem aus dieser an eine weibliche Figur gerichteten Ansprache des Ich-Erzählers ersichtlich wird: »[I]k had je graag tussen prei en andijvie willen neerschrijven. Laten wortelen in mijn tuin«98 (Jongstra 1993: 118, vgl. auch 113). Auch hier scheint die Geschlechterdifferenz als Spur für die Einschreibung traditionell mit Männlichkeit und Weiblichkeit assoziierter dualistischer Begriffe zu fungieren.

98 Übers.: »[I]ch hätte dich gerne zwischen Lauch und Endivie niedergeschrieben. Dich in meinem Garten wurzeln lassen.«

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Die Marginalisierung der weiblichen Stimme

Jongstras Romane weisen eine große Anzahl an gleichbleibenden Merkmalen auf, die vor allem in Bezug auf den Geschlechter-Aspekt durchaus von Belang sind. Dies betrifft auch die Erzählsituation. Die Schilderung der Ereignisse ist in Het Huis M., De tegenhanger99, Groente, Disgenoten und Cicerone durchgehend in der Hand eines unzuverlässigen, explizit als Mann beschriebenen und meist autodiegetischen Erzählers. Den weiblichen Figuren, ebenso eindeutig markiert, werden hingegen keine oder kaum narrative Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt. Mit zwei eindeutig als männlich identifizierbaren Ich-Erzählern präsentiert sich Het Huis M. hinsichtlich der Erzählsituation nur auf den ersten Blick als unkompliziert.100 Als Erzähler treten der Adjutant als Verfasser der Einleitung und Murk als Autor seiner eigenen Memoiren auf. Wenn auch die vom Adjutanten Mark geschriebene Einleitung nur einen Bruchteil des gesamten Textes ausmacht, ist sie doch den im weiteren Verlauf präsentierten Memoiren Murks übergeordnet, weil sie explizit auf die nachträgliche Bearbeitung der Memoiren hinweist. »Wij geloven met de publikatie van deze memoires het publiek van dienst te zijn, en geven ze zoals wij ze op zijn schrijftafel hebben aangetroffen, aangevuld en bijgeschaafd op die plaatsen waar aanvulling en bijschaving noodzakelijk was«101 (Jongstra 1993: 13).

Diese Aussage aber stammt nicht vom Ich-Erzähler Mark, sondern wird ihm von seinem Vorgesetzten diktiert, wodurch ein Regress an Erzählstimmen entsteht. All diese Stimmen haben das Potential, in das textliche Geschehen einzugreifen, ohne dass festgelegt werden kann, in welchem Umfang dies tatsächlich geschieht bzw. geschehen ist. Doch auch die Hierarchie der Erzählebenen ist nicht eindeutig, wird sie doch auf inhaltlicher Ebene von der vom Doppelgängermotiv ausgehenden, stets diffuser werdenden Verschmelzung der Figuren, die sowohl von Mark als auch von Murk angedeutet wird (vgl. Abschnitt 3.3), konterkariert. 99 Die Erzählsituation in De tegenhanger wechselt von Kapitel zu Kapitel, auch auktoriale Erzähler tauchen neben dem Ich-Erzähler auf. Dennoch können die verschiedenen Erzählweisen in eine Sichtweise integriert werden, die den Ich-Erzähler als übergeordnete Instanz betrachtet. Dies ist möglich, da die Figur Jongstra ihre Lebensgeschichte aufschreibt und damit vorgeblich das vorliegende Textdokument erschafft (vgl. Vitse 2004: 690). 100 Die folgenden Ausführungen bezüglich Het Huis M. beruhen auf der Überarbeitung von an anderer Stelle präsentierten Überlegungen (Bundschuh-van Duikeren 2007: 143 f). 101 Übers.: »Wir glauben, mit der Publikation der Memoiren der Öffentlichkeit zu dienen, und geben sie so heraus, wie wir sie auf dem Schreibtisch vorgefunden haben, erweitert und angepasst, wo Erweiterung und Anpassung notwendig waren.«

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Nicht nur gehen ja Mark und Murk ineinander über, auch die Grenzen zu anderen (männlichen) Figuren verschwinden teilweise gänzlich. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die erzählerische Vermittlung: Wenn mehrere Figuren mit Mark bzw. Murk eins sind bzw. sein könnten, kommen sie auch theoretisch als Erzähler in Frage. Das multiple »Ich« der Erzählung erweist sich zugleich als überund unterdeterminiert. In Het Huis M. wird damit jenes typisch postmoderne Prozedere exerziert, das, wie Bart Vervaeck beschreibt, »geen rekening houdt met de psychologica van individuen of de stabiliteit van zoiets als een vertellend, waarnemend of luisterend centrum«102 (Vervaeck 1999: 129). Das lässt die strukturalistische Narratologie mit ihren hierarchischen Strukturen auflaufen. Auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung findet die Verschmelzung der Figuren ihre Entsprechung in Schriftstücken oder Textpassagen unterschiedlichen Ursprungs, die in die Ich-Erzählung aufgenommen werden: Briefe oder Schriften von anderen Figuren103 oder längere Zitate aus anderen Texten. Der Eindruck der Autodiegesis wird außerdem abgeschwächt, indem die in der Erinnerungssituation heraufbeschworenen Parallelerzählungen auch abschnittsweise fokalisiert über die Protagonisten dieser Erzählungen wiedergegeben werden.104 Dies deckt sich mit dem erklärten Anspruch der Memoiren, auch 102 Übers.: »[…] keine Rücksicht nimmt auf die Psychologie von Individuen oder die Stabilität eines erzählenden, wahrnehmenden oder zuhörenden Zentrums.« 103 Beispiele dafür sind das 84. Kapitel (Jongstra 1993: 263) und das 110. Kapitel (Jongstra 1993: 336). Auch das 60. Kapitel kann in diesem Licht betrachtet werden. Zwar tritt dort der Verfasser der Memoiren als vermittelndes und kommentierendes Ich auf, beim überwiegenden Teil des Kapitels handelt es sich jedoch um die in direkter Rede wiedergegebenen Ausführungen des Adjutanten. Da dieser seinerseits viele Geschehnisse in direkter Rede zitiert, wird die Zuordnung der verschiedenen auftretenden Ichs vor dem Hintergrund der auch inhaltlich angedeuteten Verschmelzung für die Leser zunehmend mühsam, allerdings nicht unmöglich. Die einfachen und doppelten Anführungszeichen ermöglichen in diesem Fall noch eine Separierung der unterschiedlichen Stimmen. Auch im 80. Kapitel kann durch die komplexe Chinese-Box-Struktur nicht eindeutig festgestellt werden, wer das Ich ist, der in jenem Buch auftretende Murk oder der namensgleiche Protagonist aus dem Haus M. 104 Formal ist dies etwa in den Kapiteln 47 – 52 der Fall, in denen eine Parallelerzählung über einen Pastor dargestellt wird. Kaplan, Pastor und Haushälterin fungieren streckenweise als Fokalisatoren. Die Binnenerzählung wird allerdings an einigen Stellen von Einwürfen des Verfassers der Memoiren durchbrochen, die deutlich machen, dass es seine subjektiven Vorstellungen sind, die diese Fokalisierungen möglich machen. Dies kann anhand des folgenden Zitates deutlich gezeigt werden, worin ein fließender Übergang von der Vermutung des übergeordneten Erzählers zur fokalisierten, innerhalb der möglichen Welt der Binnenerzählung gültigen, Wahrnehmung der Figur dieser Binnenerzählung stattfindet : »Ik weet niet wat er in de pastoor omging daar in die kerk […] . Ik stel me voor dat hij blij was dat tijdens zijn werkzaamheden de algemene aandacht was uitgegaan naar zijn huishoudster voor wie hij op deze manier iets van de warmte terugvond die hij had gevoeld tijdens het eerste sollicitatiegesprek. Hij had zich in die dagen verbaasd over het geringe gewicht van wat op zijn advertentie had gereageerd […] . Tot een zekere Marthe verscheen, een ronde boerendochter […] . Zij was het voor hem. En wat ze nog niet was, dat wist je maar nooit, wilde ze misschien nog wel

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Erinnerungen von anderen darin aufzunehmen, solange sie passend erscheinen – »Wat anderen hebben onthouden, is eveneens onmisbaar«105 (Jongstra 1993: 109, vgl. 24) – lässt den autodiegetischen Erzähler aber so immer wieder auch als auktorialen Erzähler auftreten. Exemplarisch lässt sich hier die MauleselTraumsequenz nennen, in der der Wind anthropomorphisiert erscheint: Er muss »sich hinlegen« um »kein Fallwind« zu werden, »blickt besorgt« (Jongstra 1993: 208) und penetriert gleichsam das Haus M.: »Vervolgens liet de wind [de stad] N. liggen waar het lag, stak na korte tijd de rivier over en werd een stijgwind, toen hij een steile hoek maakte en aan de klim van de hellingen begon, een beetje zorgelijk naar het weerbarstige steen van M. blikte, maar daar gelukkig een ruime middenpoort in ontdekte…«106 (Jongstra 1993: 208).

Auch gibt der Ich-Erzähler immer wieder Gesprächsabschnitte in direkter Rede wieder, wodurch neben dem Erzähler/Protagonisten auch andere Stimmen zu Wort kommen, darunter auch in einigen wenigen Fällen weibliche.107 Diese Zitate in direkter Rede sind bis auf eine Ausnahme in einen Kontext eingebettet, in dem sie von männlichen Erzählinstanzen, Briefeschreibern oder Rednern selektiert, kommentiert, eingeordnet und potentiell auch manipuliert werden. Das 81. Kapitel mit dem Titel »Gelijkenis van een moordenaar« nimmt in Het Huis M. eine Sonderstellung ein, da es, anders als ähnliche Einschübe, ohne die Vermittlung eines sich erinnernden, assoziierenden oder zitierenden Ich-Erzählers verfasst ist. Die Asymmetrie im Umgang mit weiblichen und männlichen Stimmen kann jedoch gerade auch anhand dieses Kapitels aufgezeigt werden. Das Kapitel wird auktorial erzählt und schildert das bekannte Kernszenario des Romans, den Mord an einer Frau. Dabei wird unter anderem auch die Aussage des wieder ins Leben gerufenen Mordopfers in direkter Rede zitiert, wobei die Frau ihr Leid und ihre Ängste nur kurz schildern kann, bevor ihr das Wort wieder von einer männlichen Figur abgeschnitten wird, der auch das letzte Wort des Gleichnisses überlassen wird. worden« (Jongstra 1993 : 158, Hervorh. der Verf.). Übers. : »Ich weiß nicht, was den Pastor da in der Kirche umtrieb […] . Ich stelle mir vor, dass er froh war, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit während seiner Tätigkeiten auf seine Haushälterin gerichtet hatte, für die er auf diese Weise etwas von der Wärme wiederfand, die er während des ersten Vorstellungsgespräches gefühlt hatte. Er hatte sich in diesen Tagen gewundert über die, die auf seine Anzeige reagiert hatten […] . Bis eine gewisse Marthe erschien, eine runde Bauerntochter […] . Sie war für ihn bestimmt. Und was sie noch nicht war, das wusste man ja nie, wollte sie vielleicht noch werden.« Der Übergang in die Fokalisierung ist kursiv markiert. 105 Übers.: »Woran sich andere erinnern, ist ebenfalls unentbehrlich.« 106 Übers.: »Danach ließ der Wind [die Stadt] N. liegen, wo sie lag, überquerte nach kurzer Zeit den Fluss und wurde zum Aufwind, bis er eine steile Kurve machte und begann, die Hügel zu erklimmen, ein bisschen besorgt auf den widerspenstigen Stein von M. blickte, aber darin glücklicherweise ein breites Mitteltor entdeckte.« 107 Es handelt sich hierbei überwiegend um die »Lockrufe« der Freule.

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Es gibt im ganzen Roman nur ein Szenario, das eine Frau als Verfasserin einer Schrift auftreten lässt. Dieses Dokument, die spiritistisch übermittelte Anklage des Mordopfers, der Freule von M., scheitert aber daran, eine eigene Perspektive in die Narration einzubringen. In dem kurzen Schriftstück werden nur bereits bekannte »Fakten« aus der textuellen Welt affirmiert, nämlich die Todesart und die Tatsache, dass der Tod die weitere Anwesenheit der Freule im Haus M. nicht verhindern kann (Jongstra 1993: 268). Das Eigene dieser Botschaft bleibt ausgespart, die Stimme kann nicht für sich sprechen. In formal vergleichbaren Schriftstücken, wie etwa dem Brief von Muralto, dem Vorbesitzer des Hauses, verhält sich dies anders: Der Brief liefert neue Informationen zu den Abläufen im Haus, identifiziert Freier der Freule (Jongstra 1993: 123) und gibt Details aus seiner Biographie preis (Jongstra 1993: 87). Selbst wenn dieser Brief aufgrund der Verschmelzung von Muralto, Murk und Mark keiner Instanz mehr eindeutig zugeordnet werden kann, kann doch auf Basis einer synthetischen Ableitung nach dem Vorbild von Marie-Laure Ryans Zugang zu einem paradoxalen Gedicht (vgl. Abschnitt 2.1.2) davon ausgegangen werden, dass es eine männliche Stimme ist, die hier zu Wort kommt und eine neue Variation auf das Hauptthema darstellen darf. Die narrative männliche Dominanz muss auch unter dem Aspekt der erzählerischen Unzuverlässigkeit betrachtet werden, da diese das Erzählte zu relativieren vermag: Es könnte schließlich ein geisteskranker, misogyner Erzähler wild vor sich hin phantasieren. In Het Huis M. heißt es etwa: »Neem dit hoofdstuk. Daar klopt beslist iets niet aan. De eerste regels zijn meteen in strijd met de wetten van het chronologisch vertellen […]«108 (Jongstra 1993: 54). Das Ich erweist sich damit als typisch postmoderner Erzähler, der keinen Hehl daraus macht, dass seine Berichte fehlerhaft, trügerisch und kontradiktorisch sind. In der Rezeption von Het Huis M. spielte die Möglichkeit eines wahnsinnigen Erzählers bisher keine Rolle, was wiederum an dem veränderten Referenzrahmen liegt, der für postmoderne Texte angewandt wird; ein Referenzrahmen, dessen Historizität, wie im Folgenden ausgeführt werden soll, hervorgehoben werden muss, der aber, wie hier dargestellt werden soll, nichtsdesotrotz sinnvoll ist. Die postmoderne Erzählinstanz ist, wie Vervaeck postuliert, nämlich nicht in klassischer Form unzuverlässig (Vervaeck 1999: 121). Der traditionelle unzuverlässige Erzähler wird gerade durch Inkongruenzen und Inkonsistenzen schließlich von den Lesern im Rahmen einer Naturalisierungsstrategie vor dem Hintergrund einer anderen als der erzählten »Wahrheit« entlarvt. Dieses Prozedere muss bei postmodernen Texten scheitern, da diese die Idee der Wahrheit

108 Übers.: »Schau dir dieses Kapitel an. Davon stimmt gar nichts. Die ersten Zeilen widersprechen schon den Gesetzen chronologischen Erzählens.«

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oder eines gültigen Referenzrahmens längst dem Denken in hierarchisch gleichgestellten Möglichkeiten geopfert haben. Deutlich zeigt diese Sichtweise, wie dem Phänomen des unzuverlässigen Erzählers im postmodernen Kontext eine neue Funktion zugeschrieben wird. Es steht nicht die »Wahrheitssuche« über einen Vorfall im textuellen Universum im Vordergrund, die Frage also, was der Erzähler willentlich oder unwillentlich verschleiert, sondern eine Aussage über die postmoderne Kondition im Allgemeinen, die die konkreten Fragen nach Wahrheit oder Falschheit vollkommen in den Hintergrund treten lässt, wie Vervaeck argumentiert: »Ik wil benadrukken dat de onbetrouwbare verteller in de postmoderne roman v¦¦l meer toont dan zijn eigenaardigheden. Hij toont dat zijn zogenaamde afwijking ook de onze is en algemener: dat het zogenaamd vaste systeem labiel en afwijkend is. De norm en het systeem verdwijnen daardoor niet, maar ze kunnen niet langer gescheiden worden van de afwijking en het ongesystematiseerde. Macht en onmacht, alwetendheit en onwetendheid, betrouwbaarheid en onbetrouwbaarheid, al deze begrippen liggen zeer dicht bij elkaar […]«109 (Vervaeck 1999: 123).

Damit werden die Inkonsistenzen in der Geschichte des Erzählers anders erfasst, als dies bei traditionellen Interpretationen unzuverlässigen Erzählens der Fall ist. Die Abweichung kann am besten anhand des von Tamar Yacobi (1981) entwickelten Ansatzes erläutert werden. Yacobi unterscheidet in einem viel beachteten kognitiven Zugang fünf Organisationsprinzipien im Umgang von Lesern mit jenen Inkongruenzen, die gemäß der herrschenden literaturwissenschaftlichen Sicht die Deutung als Unzuverlässigkeit auslösen. Das genetische Prinzip bezieht sich auf die spezifischen historischen oder biographischen Umstände der Textproduktion, das generische Prinzip löst Unstimmigkeit auf, indem es auf gattungsspezifische Normen rekurriert, die bestimmte Reduktionen oder Simplifizierungen vorschreiben. Diese beiden ersten Prinzipien beruhen auf extratextuellen Faktoren. Das existentielle Prinzip hingegen lässt eine Integration in die fiktionale Welt zu, indem dem unglaubwürdigen Vorfall – etwa Gregor Samsas Verwandlung in einen Käfer – durch einen referentiellen Interpretationsprozess eine symbolische Bedeutung beigemessen wird. Das funktionale Prinzip schließlich betrachtet die abweichenden Elemente im Text in Bezug auf die ästhetischen oder thematischen Ziele des literarischen Werkes. Die Widersprüche brauchen dabei, 109 Übers.: »Ich will betonen, dass der unzuverlässige Erzähler im postmodernen Roman viel mehr zeigt als nur seine Eigenarten. Er zeigt, dass die sogenannte Abweichung auch die unsere ist und allgemeiner : dass das sogenannte feste System labil und abweichend ist. Die Norm und das System verschwinden deshalb nicht, aber sie können nicht mehr länger von der Abweichung und dem Unsystematisierten getrennt gedacht werden. Macht und Ohnmacht, Allwissenheit und Unwissenheit, Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit, all diese Begriffe liegen sehr dicht beieinander […].«

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im Unterschied zum existentiellen Prinzip, nicht in die textuelle Welt integriert zu werden. All jene Prinzipien haben gemein, dass die wahrgenommenen Inkongruenzen eine für die Leser befriedigende Auflösung erfahren, ohne als unzuverlässiges Erzählen begriffen werden zu müssen. Erst das letzte Prinzip, das Yacobi beschreibt und das sie das perspektivische nennt, schreibt die Widersprüche der begrenzten Weltsicht einer Figur oder eines Erzählers zu (Yacobi 1981: 118). Während das perspektivische Prinzip also den klassischen Zugang zum unzuverlässigen Erzählen darstellt, vermag das funktionale Prinzip einiges über die Mechanismen der spezifischen Rezeption des Phänomens in postmodernen Texten auszusagen, eine Tatsache, die über den Ansatz von Yacobi hinaus einem geschichtlich kontextualisierenden Zugang zur Narratologie geschuldet ist.110 Bruno Zerweck (2001) forderte einen solchen Paradigmenwechsel hin zur historischen Kontextualisierung des unzuverlässigen Erzählens und liefert selbst auch einen ersten Ansatz. Die von Yacobi beschriebenen fünf Prinzipien können dann tendentiell auch geschichtlich situiert werden: Insbesondere die Anwendung des perspektivischen Prinzips ist abhängig von historischen und kulturspezifischen Bedingungen wie (psychologischen) Persönlichkeitstheorien und vor allem dem realistischen Paradigma, das sich mit dem Durchbruch des Romans als neuer literarischer Form durchsetzte.111 Ein erneuter Umbruch wird nach Zerweck mit in der postmodernen Gesellschaft sichtbar : »Indeed, in contemporary Western culture there is a growing awareness of a lack of an ideologically and socially accepted counterpart of an unreliable teller, a ›reliable‹ reporter of events. It could be concluded, therefore, that the premises helping to constitute the unreliable narrator have collapsed altogether« (Zerweck 2001: 163).

Der in literarischen Texten realisierte unzuverlässige Erzähler werde so zum Ausdruck des postmodernen Diskurses: »[…] contemporary unreliable narrators represent normal features of human cognition and knowledge within our contemporary (Western) cognitive and epistemological discourses« (Zerweck 110 Wie essentiell es ist, auch das unzuverlässige Erzählen historisch zu begreifen, zeigte Vera Nünning (1998). In ihrer Untersuchung zur Rezeptionsgeschichte von The Vicar of Wakefield aus dem 18. Jahrhundert legt sie dar, dass zeitgenössische Leser diesen Text, der in den 1960er und 1970er Jahren als unzuverlässige Narration begriffen wurde, als zuverlässig aufnahmen: Jene Elemente, die im 20. Jahrhundert übertrieben und unglaubwürdig erschienen, waren im Kontext der Empfindsamkeit vollkommen anders bewertet worden. 111 Für eine der Frühformen des Romans, den Picaro-Roman, scheint demnach eher das generische Prinzip angewandt worden zu sein: »Direct predecessors of the novel, such as the romance, or earlier forms of the novel, such as the picaresque novel, were usually naturalized with recourse to different frames and did not foreground, and rely on, the realist presentation of psychologically coherent accounts. The development of a realist paradigm, therefore, is fundamental to the concept of unreliable narration as a major literary phenomenon in the novel« (Zerweck 2001: 159).

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2001: 170). Mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen spricht Zerweck die komplementären Aspekte jener Argumentation an, die Bart Vervaeck aus den postmodernen Romanen herausliest: Die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit gilt, ganz gemäß Brian McHales konstatiertem Shift zu einem ontologischen Dominanten, in allen Bereichen des Lebens als hinfällig. Stattdessen gewinnt das funktionale Prinzip an Bedeutung: »Instead, the aesthetic, thematic, of persuasive goals of the work in question are foregrounded. They allow for a resolution of the textual ambiguities on the level of the effect of the text as a whole, and not on the level of the mediation of the fictional story as is the case in unreliable narratives« (Zerweck 2001: 164).

Die Möglichkeit der Naturalisierung postmoderner Texte innerhalb eines perspektivischen Rahmens bleibt zwar erhalten,112 notwendig oder gar passend erscheint dies, jeweils abhängig von der individuellen literarischen Kompetenz der einzelnen Leser, aber nicht mehr (Zerweck 2001: 164).113 Dies hat in diesem Zusammenhang einen guten Grund, wie Brian McHale anhand des postmodernen Klassikers Gravity’s Rainbow von Thomas Pynchon darstellt (vgl. Abschnitt 2.1). In diesem Roman gibt es, wie auch in Het Huis M., die Möglichkeit, den gesamten Text als Phantasie einer Figur aufzufassen. Dies ließe in Folge aber die Komplexität der entworfenen möglichen Welten verblassen; ein, wie McHale formuliert, »exorbitanter Preis«, der bezahlt werden müsse (McHale 1992: 88 f, Übers. d. Verf.). Auch die in Het Huis M. beschriebenen Geschehnisse könnten vor dem Hintergrund des realistischen Paradigmas vollinhaltlich als Phantasie des verwirrten, misogynen Erzählers gelesen werden. Als exklusive Lesart empfiehlt sich dies jedoch nicht, das Resultat wäre außerordentlich reduktionistisch: Der Text würde damit beliebig und verlöre jegliche Aussagekraft. Kontradiktorische Aussagen sollen in der vorliegenden Untersuchung also nicht nur vor dem Hintergrund der Mögliche-Welten-Theorie, sondern auch vor dem Hintergrund eines funktionalen Verständnisses unzuverlässigen Erzählens gelesen werden und bewusst als unterschiedliche Welten eines textuellen Universums aufgefasst werden. Das bedeutet konkret, dass Het Huis M. die Idee eines stabilen erzäh112 Dies gilt, so führt Zerweck aus, mit Einschränkungen. Für radikal metafiktionale Texte ohne personalisierte Erzählinstanzen steht die Möglichkeit nicht mehr offen (Zerweck 2001: 167). Da diese weder Teil des für die vorliegende Untersuchung herangezogenen Korpus sind noch typisch sind für den Postmodernismus in der niederländischsprachigen Literatur (vgl. Vervaeck 1999: 117), wird dieser Einschränkung hier keine weitere Beachtung geschenkt. 113 Zerweck sieht überdies nur einen graduellen, nicht aber prinzipiellen Unterschied zwischen realistischen und modernistischen Texten einerseits und postmodernistischen Texten andererseits (Zerweck 2001: 169).

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lenden Zentrums in viele einander leicht variierende Erzählungen aufbricht. Aus dem quantitativen Vergleich der entstandenen, einander auch überlappenden textuellen Welten wird deutlich, dass männliche Wahrnehmungen, Urteile und Projektionen die einzigen verfügbaren Informationen liefern, während die weibliche Stimme marginalisiert wird. Der Erzähler mag noch so »uitgezaaid« [ausgesät] sein (Vervaeck 1999: 125), er ist männlich, Frauen hingegen erzählen nicht, sie werden erzählt.

3.4.1 Männliche Imaginationen Wie im vorigen Abschnitt dargelegt, liegt die Definitionsmacht über Frauen in Het Huis M. bei männlichen Figuren und Stimmen und ist der Blick auf die Frau ein männlicher. Der so entstandene phantasmatische Charakter der Weiblichkeit wird durchaus im Text selbst unterstrichen. Dies geschieht insbesondere durch die Figur der Freule von M., die selbst innerhalb der Logik des in vieler Hinsicht unzugänglichen textuellen Universums des Romans als besonders unecht dargestellt wird. Nicht nur gilt sie den männlichen Figuren als »ideale Frau« (Jongstra 1993: 49), sie wird beschrieben als zusammengesetzt aus lauter begehrlichen »Einzelteilen« (Jongstra 1993: 90, 196), sowie als »das prototypische weibliche Geschlecht« (Jongstra 1993: 198). Diese Beschreibungen zeigen, dass mit ihr eine überindividuelle Projektionsoberfläche geschaffen wird anstatt eines individuellen Charakters. Psychologisch-realistische Erklärungsmuster wie die unterschiedlichen Register, die die Freule als Prostituierte für jeden Mann zieht (für Murk gibt sie die Mutterfigur, für Mark die Madonna usw.), geraten da bald an ihre Grenzen. Denn im Rahmen jenes typisch postmodernen Verfahrens, in dem Metaphern wörtlich begriffen werden, ist die Freule nicht nur sprichwörtlich aus »Einzelteilen« zusammengesetzt, sondern tatsächlich. Es ist der Zustand, in den die männlichen Figuren sie versetzen, indem sie alle auf gleiche Art ihre Leiche zerstückeln. Trotzdem erscheint sie danach immer wieder aufs Neue in einer zusammenhängenden Gestalt, allerdings hat die Gewalt sichtbare Spuren auf ihrem Körper hinterlassen. »Muralto zei dat hoe verscheurd ze zich soms ook mocht voelen, ze zich elke keer als er een nieuwe klant voor haar stond, wist te hernemen tot het glanzende geheel waar men voor kwam«114 (Jongstra 1993: 213, vgl. auch 259).

114 Übers.: »Muralto sagte, dass sie sich, so zerrissen sie sich auch manchmal fühlen mochte, immer, wenn ein neuer Kunde vor ihr stand, wieder zu jenem glänzenden Ganzen zusammenreißen konnte, wofür man gekommen war.«

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»Als ob sie aus Gummi ist!« (Jongstra 1993: 237), rufen die Männer stets aus, wenn die Freule nach dem Mord mühsam zusammengeflickt wieder aufersteht. Dabei erfüllt der Gummi als comparant eine doppelte Funktion: Er steht einerseits für das Vermögen, seine alte äußerliche Form zurückzuerlangen und andererseits für das Potential, Dinge zu verbinden. Letzteres wird wie aus der Sicht des Kaplans hervorgehoben, der die Freule, auch »Strikken-Mie« [Stricken-Mie] genannt, wie folgt charakterisiert: »Lichamelijk en moreel verval, bijeengehouden door kabeltouwen en elastiek«115 (Jongstra 1993: 221, vgl. 319). So viele verschiedene klischeebeladene Rollen die Freule auch einnehmen kann, Mysteriosität vermag sie aufgrund der offenherzigen Darbietung ihres Körpers nicht auszustrahlen. Indes erfährt sie in Marthe, der Haushälterin des Pastors, ihre komplementäre Dopplung, da jene das gleiche Äußere ganz anders kleidet. »De een gekleed in het kabelwerk van elastiek en banden van textiel. Bloot, blank, samengesteld uit alle delen die verspreid en afzonderlijk alleen al de adem in de keel doen stokken, nog eens extra geaccentueerd door het fraai naai- en hechtwerk in de haarlijntjes. De ander in een nauwsluitend, zwart deux-piÀces dat tot aan haar keel was dichtgeknoopt. Ze zaten naast elkaar als raadsel en oplossing. De een gevaarlijk mysterieus, de ander gevaarlijk openbaar, beiden even breed, even gevuld in de bovenarmen«116 (Jongstra 1993: 319).

Die doppelt benannte Gefahr, die aus Sicht des Erzählers von beiden Figuren ausgeht, liegt klar in der Anziehung, die sie auf die Männer ausüben; dies obwohl sich immer wieder erweist, dass es die Frauen sind, die eigentlich gefährdet sind. Die Freule und Marthe entsprechen damit der Vorstellung einer Femme fatale, eines misogynen Weiblichkeitstypus, der dem allgemeinen Krisenbewusstsein von Ästhetizismus und Dekadenz entsprungen ist.117 Dieser Typus ist gemäß Carola Hilmes Studie Die Femme fatale (1990) definiert als Frau mit sinnlicher, rätselhafter Aura, deren Gefährlichkeit als schicksalshaft wahrgenommen wird (Hilmes 1990: 3), eine Beschreibung, die vollkommen auf die solchermaßen gedoppelte Freule von M. passt.118 Sie wird meist von einem schwachen, orien115 »Körperlicher und moralischer Verfall, zusammengehalten von Drahtseilen und Gummi.« 116 Übers.: »Die eine gekleidet in Kabelsalat von Gummi und Bändern aus Stoff. Nackt, weiß, aus allen Teilen zusammengeflickt, die verstreut und einzeln allein schon den Atem stocken ließen, zusätzlich noch betont durch die schöne Näh- und Klammerarbeit der Haarlinien. Die andere in einem eng anliegenden, schwarzen, hochgeschlossenen Zweiteiler. Sie saßen nebeneinander wie Rätsel und Lösung. Die eine gefährlich mysteriös, die andere gefährlich sichtbar, beide gleich breit, mit genauso fülligen Oberarmen.« 117 Hilmes schlägt ausdrücklich eine Brücke von dieser Zeit in die Postmoderne, in der ähnliche Ausgangsbedingungen gegeben seien (Hilmes 1990: XIV). 118 Dies ist insbesondere interessant, weil die Freule durch ihre Benennung als Freule von M. Vorstellungen aus der höfischen Frauenverehrung evoziert. Diese erfahren aber im Vergleich zur Vorstellung der Femme fatale keine weitere Ausarbeitung oder Verdichtung.

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tierungslosen männlichen Gegenspieler begleitet, den sie bedroht, wenn es auch meist die fatale Frau ist, die letztendlich sterben muss. Aus der in Het Huis M. dargestellten Überwindung des Todes wird klar, dass die Freule nicht den biologischen Gesetzen unterliegt, die in der realen Referenzwelt gelten. Diese Feststellung ist nicht überraschend, da auch für die anderen Figuren Vorgänge beschrieben werden (Verschmelzungen zwischen Menschen untereinander, aber auch zwischen Mensch und Tier), die auf eine taxonomische Unzugänglichkeit der textuellen Welten hindeuten. Allerdings muss betont werden, dass es nicht so sehr das Vermögen der Freule ist, sich nach ihrer Vernichtung stets wieder zu erholen, das im Text dargestellt wird, sondern die Tatsache, dass sie jeweils durch die Aktivität der Männer erneut ins Leben gerufen wird. Dies erfolgt auf unterschiedliche Art und Weise: Mark und Murk »vermissen« die Freule und beschwören ihre Anwesenheit mithilfe einer spiritistischen Apparatur herauf. In der ähnlich angelegten Parallelerzählung des 81. Kapitels »De gelijkenis van de moordenaar« holt der Mörder auf Geheiß eines Pfarrers die Tote ins Leben zurück, indem er es der Leiche schlichtweg gebietet: »Ik heb u met mijn handen door middel van ijzer gedood, met diezelfde handen wek ik u op tot het leven«119 (Jongstra 1993: 259). Demnach ist es nicht so, dass die authentische Wahrnehmung der Freule durch die männlichen Projektionen verstellt wird, sondern dass die Projektion das Wesen der Freule ausmacht, sie ganz und gar bestimmt. Ihre Unechtheit wird gerade auch in der Differenz zu den männlichen Figuren thematisiert, denen deutlich mehr Natürlichkeit und Unverstelltheit zukommt:120 Murk bezeichnet sich als »Een mens, omkleed met vlees« (Jongstra 1993: 215). Auch die Freule nennt ihn einen »lekkere vlees- en bloedkerel« [leckerer Fleisch- und Blutkerl], lässt aber ihrerseits die Frage, was sie eigentlich sei, unbeantwortet (Jongstra 1993: 348). Es bleibt nicht dabei, dass die Freule als männliches Phantasma vorgeführt wird. Das kulturelle Skript, das in Het Huis M. wiederaufgeführt wird, kann am besten mit der von Gilbert und Gubar geprägten Formulierung »killing women into art« beschrieben werden, der Tötung der Frau als Voraussetzung für das Entstehen von Kunst (Bronfen 2004: 15). Was auf der Metaebene geschieht – ohne Frauenleiche kein Roman Het Huis M. – wird auch innerhalb des textuellen Universums gespiegelt. Mark und Murk sehen in ihrer gemeinsamen Zerstückelung der Frauenleiche »die wahre Schöpfung« (Jongstra 1993: 250), woraufhin »sie« als Gesamtheit der Einzelteile wieder »neu begann« (Jongstra 1993: 119 Übers.: »Ich habe Sie mit meinen Händen unter der Verwendung von Eisen getötet, mit denselben Händen erwecke ich Sie zum Leben.« 120 Gleichwohl ist die »Unechtheit« relativ zu verstehen: In der Beschreibung der vom jungen Polizisten programmierten virtual reality, in der das Äußerliche der Freule täuschend echt wiedergegeben wird, klingt ihre Stimme »blechern«, und die olfaktorischen Anklänge aus den vergleichbaren Szenen bleiben ebenfalls aus (Jongstra 1993: 305).

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250). Der Wiedererweckung der Frauenleiche im »Gelijkenis van een moordenaar« geht das Malen ihres Porträts aus ihrem Blut voraus, »weil schlechte Menschen sehr gute Künstler sein können« (Jongstra 1993: 259). Auch für Mark und Murk deutet sich die Wiederkehr des Ewig-Weiblichen bereits in dem blutigen Porträt an, das die Leichenteile zu ihrer Gesamtheit zusammenfügt: »[…] een fraaie reconstructie van het slachtoffer, op de plankenvloer in bloed geschilderd. Een schitterend portret, en dan nog uit het hoofd gemaakt: chapeau!«121 (Jongstra 1993: 33). Das Porträt auf dem Boden zeigt als Verquickung eines Gemäldes mit jenem Kreideumriss, der den Auffindungsort einer (entfernten) Leiche bezeichnet, auch die fatale, von Elisabeth Bronfen beschriebene Verschränkung von Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, der schönen Frauenleiche. Aus all diesen Beispielen kann abgeleitet werden, dass das männliche Vermögen, die tote Frau in ihrer Vorstellung und durch künstlerische Äußerungen immer wieder aufzurufen, die Voraussetzung für das elastische Fortbestehen der Freule ist. Die Macht über Leben und Tod liegt in Het Huis M. vollends in Händen der Männer. Die weibliche (Objekt-)Vorlage muss weichen, damit das männliche (Subjekt-)Genie sich verwirklichen und kulturelle Normen bestätigen kann. Wie Bronfen in ihrer monumentalen Habilitationsschrift Nur über ihre Leiche darstellt, handelt es sich dabei um »einen besonders hervorspringenden Aspekt der Selbst-Repräsentation unserer Kultur«, die die »Artikulation als Tilgung des unfaßbaren Körpers von Materialität-Maternität-Mortalität« versteht (Bronfen 2004: 625). Diese geschlechterkritische Lektüre kontrastiert stark mit der metafiktionalen Lektüre der Gewalt, die Vervaeck vorschlägt, wenn er die Hervorbringung von Kunst generell als gewaltsamen Akt bezeichnet, aber die literarischen Konventionen in der Opferrolle sieht: »Wie dat op de literaire traditie wil toepassen, komt tot de constatering dat literatuur slechts literatuur wordt als ze afrekent met de conventies en de tradities. Worden die geen geweld aangedaan, dan gaat het niet om literatuur maar om pulp of entertainment«122 (Vervaeck 2004: 827).

Zudem lege der Text den Zusammenhang von »Rekonstruktion und Destruktion« im Allgemeinen offen (Vervaeck 2004: 826), der der Kunst und der Literatur inhärent sei. Zwar kann man zu Recht einwenden, mit der Freule würde auf einem abstrakteren Niveau der Interpretation gerade jene verhängnisvolle 121 Übers.: »[…] eine schöne Rekonstruktion des Opfers, auf dem Dielenboden in Blut gemalt. Ein großartiges Porträt und dann auch noch auswendig gefertigt: Chapeau!« 122 Übers.: »Wer das auf die literarische Tradition anwenden möchte, kommt zu dem Schluss, dass die Literatur nur Literatur wird, wenn sie mit den Konventionen und Traditionen abrechnet. Wird mit diesen nicht gewaltsam gebrochen, geht es nicht mehr um Literatur, sondern um Schund und Entertainment.«

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Projektion der Weiblichkeit umgebracht, die reale Frauen in ein enges Korsett zwängt. Dieses kritische Potential gerät aber schnell an seine Grenzen, wenn man die anderen, vergleichsweise »realen« Frauenfiguren in Het Huis M. beachtet. Die Ermordung des personifizierten Phantasmas bringt für sie keine Befreiung mit sich. Zum einen, weil der Mord in einer zirkelförmigen Figur der ewigen Wiederholung stecken bleibt, zum anderen, weil der Text im Verlauf des r¦cit immer mehr textuelles Schweigen über die anderen Frauenfiguren legt, und zum Dritten, weil auch vergleichsweise »gewöhnliche« Frauenfiguren wie etwa das Mordopfer aus dem »Gleichnis eines Mörders« in ihrem Schicksal (Ermordung, Erweckung) mit der Freule verschmelzen. Die Freule ist damit eine Stellvertreterfigur, die die Spirale der Gewalt gegen Frauen nicht durchbrechen kann, aber dafür den Künstler im Mann weckt. Zusätzlich hypostasiert der phantasmatische Charakter der Freule die Wahrnehmung der Frau als »das Andere« des Mannes, ein Eindruck, der durch exzessiv angewandte Transgressionen zwischen den männlichen Figuren noch verstärkt wird. In diesem Zusammenhang ist Sven Vitses Lektüre von Het Huis M. zu betrachten, die das Verhältnis von Selbst und Anderem thematisiert. Sie setzt, und dies ist besonders interessant, gemäß der üblichen Verstrickung von poststrukturalistischem Wissenschaftsdiskurs und unterstellter Umsetzung in postmoderner Literatur gar mit einem »Vertrauensvorschuss« gegenüber Jongstras Text ein, der jedoch im Zuge der Argumentation stark relativiert wird. Im Verhältnis von Mark und Murk erkennt Vitse zunächst eine konkave Spiegelung des Ichs nach dem Modell von Luce Irigaray. Entgegen der männlichimperialistischen, selbstbestätigenden Verdopplung, die Widersprüche auf den anderen auslagert, erscheint Irigarays weibliche, konkave Spiegelung als Pendelbewegung und mise-en-abyme. Was jedoch in der Anwendung auf die Doppelgänger-Logik zwischen den Männern noch zu funktionieren scheint, wird von der Funktion der Frau in Het Huis M. wieder aufgehoben, wie Vitse bemerkt:123

123 Vitse geht noch weiter, er erläutert, »[e]n toch verdwijnt in Het Huis M. na verloop van tijd die›ander‹ weer uit beeld als puur formeel ›effect‹ van het detectiveverhaal, als een louter taaleffect (Vitse 2004: 685). » Übers.: »[…] und doch verschwindet in Het Huis M. im Laufe der Zeit dieser ›Andere‹ wieder als rein formaler ›Effekt‹ der Kriminalgeschichte, als purer Spracheffekt«. Er tut dies, indem er sich auf ein Zitat aus dem Roman beruft, das aussagt, ein Mörder komme nun mal nicht ohne Opfer aus (Jongstra 1993: 340). Hier gerät Vitses Argumentation etwas in Schieflage: Als »Spracheffekte« kann man alle Figuren in Het Huis M. bezeichnen, ihre Funktionen innerhalb der fiktionalen Welt muss man ihnen deshalb aber nicht absprechen. Aus der Geschlechter-Perspektive ist deutlich, dass das Andere des sprechenden männlichen Subjekts auf einen weiblichen Körper bzw. eine als weiblich begriffene Projektion ausgelagert wird. Dieser Erkenntnis tut die sprachliche Verfasstheit der Figuren keinen Abbruch.

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»Aanklager en aangeklaagde, beschuldiging en bekentenis raken onontwarbaar verstrikt. […] Hoewel dit een interessante doorbreking van het identiteitsprincipe lijkt, herstelt het optreden van Jongstra’s archetypische vrouw (la Femme) gedeeltelijk het onderscheid tussen ik en ander in ere. Het koppig afwezig blijvende wezen fungeert in negativo als sluitstuk op Murk en Marks schijnbaar versplinterde universum«124 (Vitse 2004: 684).

Erweist sich die Funktion von Ich und Anderem in ihrer Verteilung auf zwei einander spiegelnde Männer, Mark und Murk, nicht als langfristig haltbar, ermöglicht die Einführung der weiblichen Figur als »Anderes« des verdoppeltvereinten Mannes über die neuinstallierte Geschlechterdifferenz eine Rückkehr in eine definitorische Logik, die eine relative Stabilisierung erlaubt. Ähnlich verhält es sich, so Vitse, in Groente (Vitse 2004: 684)125 und De tegenhanger, wenn auch in letzterem Text für eine begrenzte Zeit die Illusion geschaffen wird126, das »Andere« des Protagonisten Jongstra sei sein (männlicher) Patient Hudiger. »In De tegenhanger construeert Jongstra een complexer en dynamischer spiegelpaleis. Vanuit Hudigers perspectief neemt Jongstra’s vrouw Mary de plaats van de prototypische onbereikbare ›ander‹ in. Vanuit Jongstras perspectief is die ›ander‹ aanvankelijk veleer Hudiger, als het supplement van zijn identiteit. Naarmate Hudiger als afzonderlijk personage verdwijnt en in Jongstra ›opgaat‹, gaat Jongstra dan weer Mary als zijn onvindbare vrouw achterna. Jongstra ironiseert en passant de logica van de projectie: Mary is de Lacaniaanse vrouw, het scherm of de betekenaar waarop fantasmen worden geprojecteerd«127 (Vitse 2004: 685, Hervorh. im Original). 124 Übers.: »Ankläger und Angeklagte, Anklage und Schuldbekenntnis verstricken sich unauflösbar. […] Wiewohl dies eine interessante Durchbrechung des Identitätsprinzips scheint, stellt der Auftritt von Jongstras archetypischer Frau (la Femme) teilweise den Unterschied zwischen Ich und Anderem wieder her. Das hartnäckig abwesend bleibende Wesen fungiert ex negativo als Passstück von Murks und Marks scheinbar fragmentiertem Universum.« 125 »Ook in Groente kan het complexe, rhizomatische wereldbeeld niet zonder het au del— van de wijkende Clare / Klara. Dit neemt uiteraard niet weg dat Jongstra deze ›hoofse‹ clich¦s over de vrouw kent en zeer zelfbewust hanteert« (Vitse 2004: 684). Übers.: »Auch in Groente funktioniert das komplexe, rhizomatische Weltbild nicht ohne das au del— der weichenden Clare / Klara. Das heißt aber nicht, dass Jongstra diese ›höfischen‹ Klischees über die Frau nicht kennt und sehr selbstbewußt einsetzt.« 126 Die Illusion entsteht durch eine Fehlinterpretation Jongstras von der im Roman vertretenen »Dualtheorie«, worin die Vereinigung der Gegensätze zu einem harmonischen Ineinanderaufgehen führt. Erst als Jongstra Hudigers amouröses Interesse an Mary klar wird, versteht er, dass Hudiger sich ihm nicht um seinetwillen annähert, sonder um ihretwillen (Jongstra 2003: 101). Eine ausführliche Übersicht der wechselnden Dynamik der Figuren in ihrer Auffassung von der Dualtheorie liefert Bart Vervaeck in Literaire hellevaarten (2006). 127 Übers.: »In De tegenhanger konstruiert Jongstra einen komplexeren und dynamischeren Spiegelpalast. Aus Hudigers Perspektive nimmt Jongstras Frau Mary den Platz des prototypisch unerreichbaren ›Anderen‹ ein. Aus Jongstras Perspektive ist der ›Andere‹ anfänglich vielmehr Hudiger, als Supplement seiner Identität. Je mehr Hudiger als eigene Figur

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Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

Wie auch in Het Huis M. löst hier schließlich die weibliche Figur den Doppelgänger als Projektionsoberfläche für jene anderen Persönlichkeitsanteile ab, die nicht wie Hudigers Charakterzüge als »Schattenseite« (vgl. Abschnitt 3.3.4) letztendlich in das Erzähler-Ich integriert werden können. »De structuur van het verlangen naar de Duaal is hiermee aangegeven. Het gaat om een eindeloos uitstel, een reis die nooit haar doel kan bereiken. Dat is een van de vele verschijningsvormen van de logica van de tegenhanger of de alteriteit: het begeerde object wordt nooit als zichzelf gevat, maar steeds in andere gedaanten, in telkens nieuwe verschuivingen die tegelijkertijd benaderingen en verwijderingen zijn«128 (Vervaeck 2006: 470).

Die Projektion idealer, aber auch bedrohlicher Eigenschaften auf die Frau ist ein Motiv, das sich durch alle Romane Jongstras zieht. Unterschiede finden sich jedoch in der Radikalität der Umsetzung. Ist die Freule aus dem Haus M. eine nicht-menschliche Projektionsoberfläche, werden in den anderen Texten die männlichen Phantasien auf eine innerhalb der textuellen Welt reale Frau eingeschrieben. Relativ konventionell, weil psychologisch erklärbar, ist die Darstellung in De tegenhanger, wo die zentrale Frauenfigur Mary für den Ich-Erzähler Jongstra einen unantastbaren, vergeistigten Heiligenstatus hat – in einer Szene betet er sie mit einer Formel für die Gottesmutter an – während sie für seinen Rivalen Lemnik gleichzeitig die »begehrenswerte Frau, ganz und gar Körper« ist (Vervaeck 2006: 468). In Groente hingegen wird der phantasmatische Charakter auch auf die Physis der begehrten Frau übertragen und damit psychologisch-realistischen Deutungsmustern entzogen. Dies zeigt sich deutlich in einer Szene, in der eine Reisegesellschaft aus einer Kutsche kurz eine attraktive Frau erspäht, die in weiterer Folge von allen männlichen Mitgliedern dieser Gruppe anders, aber entsprechend ihrer jeweiligen Vorlieben beschrieben wird (Jongstra 1991: 199). Ähnlich wird an einer anderen Stelle verfahren, an der der Ich-Erzähler eine junge Frau als korpulent und schwarzhaarig beschreibt, während deren Vater auf ihre schöne Gestalt und die aschblonden Haare verweist (Jongstra 1991: 108). Die Frau erscheint damit als das »Andere« des Mannes, das als Objekt im Dienste von dessen Subjektstiftung steht und das den Kapriolen des männlichen Geistes unterliegt. Überhaupt ist die Identifikation von Männlichkeit mit Geist verschwindet und in Jongstra ›aufgeht‹, folgt Jongstra Mary als seiner unauffindbaren Frau. Jongstra ironisiert en passant die Logik der Projektion: Mary ist die Lacansche Frau, der Schirm oder das Signifikat, worauf die Phantasmen projiziert werden.« 128 Übers.: »Die Struktur des Verlangens nach dem Dual ist damit angezeigt. Es geht um endloses Verschieben, eine Reise, die ihr Ziel nie erreichen kann. Das ist eine der vielen Erscheinungsformen der Logik des Gegenspielers oder der Alterität: Das begehrte Objekt wird nie als es selbst gefasst, sondern immer in anderen Gestalten, in jeweils neuen Erscheinungen, die gleichzeitig Annäherungen und Entfremdungen sind.«

Die Marginalisierung der weiblichen Stimme

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und damit eine weitere traditionelle dichotomische Codierung im Werk Jongstras hervorzuheben. Dies zeigt sich nicht nur an der Darstellung der Frau als Phantasma und der Genese von Kunst aus der Tötung des Weiblichen. Die (männliche) Subjektkonstituierung erfolgt in Jongstras Romanen immer explizit über eine intertextuell vereinnahmende Bewegung, in der Texte von anderen (meist Männern) in den Dienst der Identität gestellt werden. »Hoeveel verrassend nieuw materiaal mijn eigen hoofd ook te bieden heeft, het is natuurlijk nooit genoeg. Wat anderen hebben onthouden is eveneens onmisbaar. Wat in boeken staat, de dingen die een groep, een volk, een encyclopedie, een complete bibliotheek of welke vorm van collectie of collectief dan ook heeft over te leveren«129 (Jongstra 1993: 109).

Schon allein bedingt durch die Erzählsituation sind es nie die weiblichen Figuren, die sich eine textuelle Welt und Identität über einen intertextuell einverleibenden Gestus schaffen (können). Darüber hinaus wird die Bibliothek, die wie am Anfang des Kapitels beschrieben, im übertragenen Sinn im Postmodernismus die Wirklichkeit ersetzt (Brackmann/Vaessens 1990: 14), in Het Huis M. in einer zentralen Metapher als feminisiert begriffen und zeigt sich in diesem Kontext beherrscht vom männlichen Subjekt (vgl. Bundschuh-van Duikeren 2007: 145).130 Das Haus M. ist in Jongstras Roman Ort der Erinnerung, fungiert aber auch als Metapher für einen weiblichen Unterleib; eine bildliche Vorstellung, die vor allem dann funktioniert, wenn man sich eine Frau mit weit gespreizten Beinen vorstellt, wie es auf pornographischen Abbildungen üblich ist (Bassant/Turnhout 2000: 153). »Laat ik dit beeld dan eens gebruiken om de locatie van die beide eetkamers aan te duiden: ze waren gelegen in de bovenste, zachtste gebieden in de dijen van de M., aan de weerszijden van waar boven de poort het dak een lichte welving vertoonde. […] ik stel me daar graag een vrouwenlichaam bij voor«131 (Jongstra 1993:149).

Nicht nur formt das Torgebäude inmitten der »Schenkel« des Hauses als Entsprechung der Vagina den »running gag« der Metapher, indem alle männlichen Figuren, sogar der anthropomorphisierte Wind, sich davon angezogen fühlen 129 Übers.: »Soviel überraschend neues Material mein eigener Kopf auch zu bieten hat, es ist natürlich niemals genug. Woran sich andere erinnern, ist ebenso unentbehrlich. Was in Büchern steht, die Dinge, die eine Gruppe, ein Volk, eine Enzyklopädie, eine komplette Bibliothek oder jede Form von Sammlung oder Kollektiv zu überliefern hat.« 130 Der im Folgenden präsentierte Gedanke ist eine nur leicht überarbeitete Version eines Aspektes aus einer früheren Publikation (Bundschuh-van Duikeren 2007). 131 Übers.: »Ich möchte dieses Bild verwenden, um die Lage beider Esszimmer anzuzeigen: Sie befanden sich in den obersten, weichsten Gebieten der Schenkel von M., beidseitig der leichten Wölbung, die das Dach über dem Tor aufwies. […] ich stelle mir darunter gerne einen Frauenkörper vor.«

130

Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

(Jongstra 1993: 208), es beinhaltet auch die Bibliothek. Der Ich-Erzähler, der wie alle anderen das Gebäude durch diesen Eingang betritt, erobert nach seinem Einzug von dort aus auch sehr langsam die Seitenflügel des Hauses, entdeckt Zimmer für Zimmer. Genauso eignet er sich die Inhalte der Bücher in der Bibliothek an, macht sie zum Teil seiner eigenen Erinnerung. Die gesamte Überlieferung, individuell und kollektiv, das gesamte Wissen wird über den spezifischen Ort der Bibliothek also vom Subjekt im Dienste seiner Selbstkonstituierung penetriert, eine Metapher, die durch die Doppelcodierung des Gebäudes eingegeben ist. Der Ich-Erzähler führt das auf diese Weise erlangte Wissen in eine symbolische Ordnung ein, indem er es für die Präsentation in der Form klassischer Rhetorik strukturiert (daher die Einteilung des Buches in inventio, ordo, memoria, elocutio, actio) und, ausgehend von der zentral gelegenen Bibliothek, die Zimmer des Hauses langsam erkundet und benennt (etwa als »rotes« oder »grünes« Zimmer). Nicht nur ist es der männliche Geist, der hier die aktive Rolle übernimmt: Zu allem Überfluss präsentiert sich das weibliche Gebäude als chaotischer Ort, an dem die Bücher wild verstreut herumliegen (Jongstra 1993: 53). Wiewohl Het Huis M. den phantasmatischen Charakter der Frau hervorhebt und den inszenierten Gender-Klischees damit die Natürlichkeit explizit abspricht, betont es auf der anderen Seite dieser Projektion auch die Rolle des Schöpfer-Geists, der trotz der nicht-linearen postmodernen Logik, die er vertritt, ein männlicher ist und bleibt.

3.5

Die Figur der Wiederholung

Das auffälligste Strukturprinzip des Romans Het Huis M. ist die zwanghafte Wiederholung dessen, was in einer linearen Erzählung die histoire ausmacht: Männer werden von einer rothaarigen Frau angezogen, was zu Aggressionen führt, denen mit verschiedenen Mordwaffen Ausdruck verliehen wird. Die Leiche zeigt in weiterer Folge das Vermögen zu verschwinden und »lebendig«, wenn auch mit offensichtlichen Gewaltspuren versehen, wieder aufzutauchen. Nicht nur dieses Szenario, sondern auch die Zeitstruktur und viele Metaphern sind repetitiv angelegt. Wiewohl es diese ewige Wiederkehr ist, die dem Text eine gewisse Ordnung verleiht, lenkt gerade die Wiederholung den Blick auf die Differenzen zwischen den ähnlichen Szenarios. Diese Bewegung gilt als typisch für postmoderne Romane (Vervaeck 1999: 157)132 und ist in jener poststruk-

132 Die Obsession mit der Wiederholung mag der Tatsache geschuldet sein, dass durch den Abschied von der Mimesis als zentralem Prinzip von Literatur ein performativer Ersatz für

Die Figur der Wiederholung

131

turalistischen Denkfigur verankert, die auch die wörtliche Wiederholung eines scheinbar identischen Inhaltes grundsätzlich als different betrachtet,133 da neben dem veränderten Kontext auch der kumulative Charakter zweier oder mehrerer Repetitionen entscheidend zu einer Bedeutungsverschiebung beiträgt (Rimmon-Kenan 1979: 152 f). Auch in Het Huis M. entspinnt die Wiederholung des Kernszenarios ein Netz an Differenzen, wobei vor allem die unterschiedlichen biographischen Hintergründe der männlichen Figuren und ihre Mordmotive als Unterschiede ins Auge stechen. Fühlt sich Murk von der Freule unangenehm an seine Ex-Freundinnen erinnert, die ihn einengten, möchte Archangias der Prostituierten den Teufel austreiben und Mark erkennt in ihr die Gottesmutter, die er stark verehrt. Für die vorliegende Untersuchung soll jedoch der Blick bewusst auf jene Regelmäßigkeiten in den verschiedenen textuellen Welten gelenkt werden, die alle Variationen der Handlung bestimmen. Zwar ist es in der Lektüre von Het Huis M. unmöglich, aus den vielen erinnerten und gestandenen Morden einen »echten« herauszufiltern, genauso wenig wie festgestellt werden kann, ob und wie viele Morde überhaupt stattgefunden haben, eine Frage, die letztendlich auch nicht relevant scheint. In einem Artikel zu Groente schreibt Bart Vervaeck über den Postmodernismus, dieser würde Unbestimmtheit und Unkontrollierbarkeit vertreten: »Zo’n visie rekent af met het geloof in een oorsprong, een dieptestructuur waarvan al het bestaande slechts een afspiegeling zou zijn. […] Maar de eindeloze spiegelingen die daardoor ontstaan, hebben geen begin, geen vast centrum. Er is geen oorspronkelijk beeld dat eindeloos weerkaatst wordt. Alles is weerkaatsing, wat betekent dat je geen onderscheid kan maken tussen echt en fictief […]«134 (Vervaeck 1996: 773).

Die Unmöglichkeit der Erschließung einer textuell aktualen Welt, die damit schließlich auch angesprochen wird, soll im Folgenden, wie unter Abschnitt 2.1.3 vorgeschlagen, aber nicht als hinreichender Grund betrachtet werden, keine Aussagen über das textuelle Universum zu treffen. Lässt man sich auf die repetitive Ordnung des Textes ein, können die vom Text eröffneten vielfältigen Möglichkeiten unter dem Gesichtspunkt der Selektion (der allumfassende Text ist eine Unmöglichkeit, also muss eine Auswahl getroffen worden die mimetische Wiederholung geschaffen wird (Literatur als Wiederholung der Natur oder Realität, vgl. Rimmon-Kenan 1979: 157). 133 »L’¦tranger se loge dans la r¦p¦tition«, schreibt Derrida in La Diss¦mination (zitiert nach Sherzer 1980: 105). 134 Übers.: »So eine Ansicht rechnet mit dem Glauben an einen Ursprung ab, an eine Tiefenstruktur, als deren Spiegelung alles Existierende begriffen wird. […] Aber die endlosen Spiegelungen, die dadurch entstehen, haben keinen Beginn, kein festes Zentrum. Es gibt kein ursprüngliches Bild, das endlos wiedergegeben wird. Alles ist Wiedergabe, das bedeutet, dass man keinen Unterschied mehr zwischen echt und fiktiv ausmachen kann […].«

132

Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

sein) und der Quantität (welches Szenario beherrscht die Narration) analysiert werden. Betrachtet man also die einzelnen Welten von Het Huis M. rund um das Ausgangsszenario, also jene Ausfächerungen der Möglichkeiten, von denen es nicht relevant ist, ob sie aus der Potentialität in die Aktualität überführt werden, muss eine Gesetzmäßigkeit zwingend abgeleitet werden: Eine Frau wird getötet, wenn sie ihre sexuelle Macht ausspielt.135 Besonders deutlich tritt dies in jenen Abschnitten des Textes hervor, in denen ein junger Polizist auftritt, der eine virtual reality-Umgebung – »eine Vorstellung von Möglichkeiten« (Jongstra 1993: 303) – programmiert hat. Diese soll kapitale Straftaten verhindern, indem die potentiellen Täter ihre Mordgelüste virtuell befriedigen können. So wäre, das ist die Hoffnung, »die Polizei jede Straftat von Bedeutung schnell los« (Jongstra 1993: 323). Die Anwendung des Programms zur Gewaltprävention wird im Roman ganz konkret beschrieben. Bezeichnenderweise ist es aber nicht irgendein Gewaltszenario aus der virtuellen Realität, das beschrieben wird, sondern auch hier eine »blecherne« Version der Freule, die auch den jungen Polizisten zu sich in die Virtualität hineinlockt. Auch er mordet in weiterer Folge, wenn das Ganze auch nur »ein Spiel« bzw. »ein kleines Programm« ist (Jongstra 1993: 304). Der selektive Aspekt der Darstellung verschiedener Welten tritt hier klar hervor und wurde in der einschlägigen Sekundärliteratur auch benannt. Bart Vervaeck weist darauf hin, dass die Tatsache, dass Freule von mehreren Figuren auf dieselbe »universale«, weil alle Arten stumpfer Gewalt umfassende Weise getötet wird, keine Spielerei sei, sondern geschichtliche Gesetzmäßigkeit. Er schreibt: »Wat de roodharige vrouw als individu meemaakt, is wat de mens als soort meemaakt«136 (Vervaeck 2004: 819), weshalb sie auch immer wieder als »Typ« (»sie ist ganz mein Typ«) bezeichnet werde. Die Darstellung der Frau als Mensch im Allgemeinen steht allerdings im krassen Gegensatz zu den beschriebenen Mordmotiven, die zwar ebenfalls sehr allgemein formuliert, aber stark gegendert sind, wie etwa im Fall des Mörders mit dem nicht näher bezeichneten Namen M.: »Dat het slachtoffer hem had vastgegrepen, kan hij alleen afleiden uit het angstgevoel, dat overeenkomt met het droombeeld van de vrouw dat hij zijn leven lang voor zich zag als hij sliep, maar dat naar zijn overtuiging sinds mensenheugenis door iedere man gedroomd wordt«137 (Jongstra 1993: 181 f). 135 Damit wird klar auf das Motiv der Femme fatale verwiesen. 136 Übers.: »Was die rothaarige Frau als Individuum erleidet, ist das, was der Mensch als Art erleidet.« 137 Übers.: »Dass das Opfer ihn festgehalten hatte, kann er nur aus dem Angstgefühl ableiten, das mit dem Traumbild der Frau übereinstimmte, das er sein Leben lang vor sich sah, wenn er schlief, das seiner Überzeugung nach aber seit Menschengedenken von jedem Mann geträumt wurde.«

Die Figur der Wiederholung

133

Diese Motive wiederum betrachtet Vervaeck allein im Kontext der Ironisierung des Klischees des Verbrechens aus Leidenschaft. »De spot ligt in de verteltoon, die er een is van ›zo hoort het nu eenmal in moordverhalen‹«138 (Vervaeck 2004: 821). Die Diskrepanz zwischen dieser Interpretation der Asymmetrie der Geschlechter als Parodie und der völlig unironischen Ernsthaftigkeit, womit das Schicksal der Frau zum Schicksal der Menschheit erklärt wird, ist groß. Die Geschlechterverhältnisse werden ironisch belächelt, der diesbezüglich neutralisierte Rest wird einer übergeordneten und weitreichenden Bedeutung zugeführt. Aus einer geschlechterkritischen Perspektive wird hier deutlich sichtbar, wie blind die Rezeption sich für die Geschlechterdifferenz zeigt, der die Gewaltverhältnisse eingeschrieben wurden.139 Neben dem quasi-normativ inszenierten, in mehreren textuellen Welten wiederholten Mord bietet es sich an, den gegenderten Blick auf eine andere, wenn auch quantitativ weniger oft angeführte Gemeinsamkeit der textuellen Welten zu lenken, nämlich die Verbindung von Mordlust und tatsächlicher Ausführung eines Verbrechens. Die Mordlust wird in Het Huis M. zwei Mal angesprochen, wobei das Gefühl jeweils anhand eines kahlen Hinterkopfs aufkommt, der seine eigene Zerstörung geradezu heraufzuberufen scheint:140 »Het was de kwetsbaarheid van [mijn vaders] schedel, die me eerst aan ¦¦n nacht ijs deed denken, hoe gemakkelijk een steen daardoorheen gaat […]. Dan werd het gevaarlijk. Ik voelde moordzucht in me opkomen, zonder aanzien des persoons«141 (Jongstra 1993: 239).

Das gleiche Bild, inklusive der Metapher der gebrochenen Eisschicht, taucht noch einmal auf, wenn das Computerprogramm des jungen Polizisten als Gewaltprävention angepriesen wird (Jongstra 1993: 322). Auslöser der Mord138 Übers.: »Der Spott liegt im erzählerischen Ton, der suggeriert ›so muss es in Mordgeschichten nun einmal sein‹.« 139 Im Falle Vervaecks muss außerdem darauf hingewiesen werden, dass er andernorts die Verschmelzung von Täter und Opfer postuliert (Vervaeck 2004b: 824), leider ohne dafür konkrete Textstellen anzuführen. Es ist allerdings vielsagend, dass der Dualismus, den Vervaeck in diesem Zusammenhang nennt, sich auf die Rollen Täter und Opfer beschränkt, ohne diese in den vergeschlechtlichten Kontext zu stellen, in dem sie im Roman auftreten. Gründe dafür werden nicht angeführt, mögen aber in der Ironisierung der Geschlechterklischees liegen (vgl. Abschnitt 3.7), die großzügig als erfolgte Untergrabung sexistischer Auffassungen betrachtet wird. 140 Die Phantasie anlässlich des kahlen väterlichen Kopfes entsteht durch eine Assoziation mit einem Kindheitstraum Murks: »Als kind droomde ik van de vondst van een klein wit ventje […]. Dat ventje heb ik honderd keer de hersenpan gekraakt met mijn speel goed [sic] hamertje« (Jongstra 1993: 239). Auch das »Kerlchen« der Traumwelt ist eindeutig männlich markiert. 141 Übers.: »Es war die Zerbrechlichkeit des Schädels [meines Vaters], die mich zuerst an eine Nacht auf dem Eis denken ließ, und wie leicht da ein Stein durchging […]. Dann wurde es gefährlich. Ich fühlte Mordlust in mir aufkommen, ohne Ansehen der Person.«

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Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

phantasien sind in beiden Fällen kahle Männerschädel, ausgeführt werden die Phantasien nicht: Als tatsächliches Opfer muss eine Frau herhalten. Es ist nicht nur die Auffächerung der Szenarien in verschiedene getrennte mögliche Welten, die abseits der Feststellung von changierender Bedeutung feministische Zugänge ermöglicht. Aus Sicht der Kognitionswissenschaften spricht einiges dafür, dass die oben beschriebene Gesetzmäßigkeit auch aus der (beweglicheren) Kombination der möglichen Welten abgeleitet wird. Das zeigen die Forschungen von Gilles Fauconnier und Mark Turner zum conceptual blending. Konzeptuelles Blending ist eine fundamentale und alltägliche Strategie mentaler Verarbeitung von verschiedenartigen Inputs.142 Im Alltag zeigt sich die Fähigkeit zum konzeptuellen Blending etwa an der Möglichkeit Phantasien zu entwickeln, die sich zu den in diesen Momenten ausgeführten realen Handlungsgeschichte143 völlig konträr verhalten. Fauconnier und Turner beschäftigen sich aber auch eingehend mit komplexeren mentalen Operationen, wie sie für das Verständnis von Literatur nötig sind (Fauconnier 2001, Turner 2003). Dafür ist ausschlaggebend, dass das menschliche Gehirn noch einen Schritt weitergehen kann, als dies bei der gleichzeitigen Verarbeitung unterschiedlicher Vorgänge der Fall ist: Es kann in sogenannten Double-scope-stories aus Elementen zweier konträrer Geschichten – seien es Motive aus kanonisierter Literatur, kulturelle Praktiken, religiöse Lehren – eine dritte herleiten. Die biblische Geschichte der Kreuzigung ist so ein Fall. In ihr vermischt sich die historische und biographische Narration des Zimmermanns Jesus mit der Narration der sündhaften Menschheit: Es ist Jesus, der für die Sünden büßt, weshalb den Menschen die Strafe erspart bleibt (Turner 2003: 140). Besonders interessant ist die Ableitung von Gesetzmäßigkeiten über Doublescope-stories. Turner analysiert das im US-amerikanischen Raum bekannte Kinderbuch The Runaway Bunny (1942) unter diesem Gesichtspunkt. In diesem Buch möchte ein kleiner Hase von seiner Mutter weglaufen, doch sie kündigt an, ihn wieder einzufangen. Der kleine Hase entgegnet, er würde sich in einen Fisch verwandeln und davonschwimmen, doch die Mutter erklärt, sie würde ihn als Fischer wieder aus dem Wasser angeln. Immer neue Emanzipationsszenarios denkt sich der kleine Hase aus, bis hin zur Verwandlung des Tieres zum Menschen, zum Wind, zum Felsen, doch die Mutter steigt in jedes dieser Szenarios in der Rolle der Mächtigeren ein. Turner schlussfolgert:

142 Auf das Verständnis von Metaphern und kontrafaktischen Aussagen wurde die Theorie des konzeptuellen Denkens ebenfalls angewandt. 143 Typisch für Fauconniers und Turners Definition von conceptual blending ist die von dem narrative turn geprägte Auffassung, auch alltägliche Handlungen, etwa der Kauf einer Flasche Wein und die Fahrt damit nach Hause, könne als »mental story, with roles, actions, goals, agents, and objects« begriffen werden (Turner 2003: 1)

Die Rolle intertextueller Verweise

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»The little bunny at last realizes it is hopeless: the mother has the general trick of coming into any story, no matter how ingeniously blended, and catching him. Therefore, none of the blended stories removes him from his mother. ›Shucks,‹ says the little bunny. ›I might just as well stay where I am and be your little bunny.‹ And so he does« (Turner 2003: 135).

Die im Kinderbuch herbeizitierte Stabilität des Verhältnisses von Mutter und Kind hat die gleiche Unausweichlichkeit, die das Verhältnis von Männern und Frauen in Het Huis M. kennzeichnet. Wenn also Vervaeck u. a. über Het Huis M. schreibt, »[h]et geweld is een permanente metamorfose die zweeft tussen herhaling en variatie«144 (Vervaeck 2004b: 820), so liegt die Variation zumindest nicht im Aufbrechen diskriminierender Geschlechterverhältnisse. In welcher Gestalt das Männliche auch immer auftritt, ob als Esel oder als Mensch, es erliegt weiblichen Reizen, nur um sie dann zu vernichten. Insofern ist es interessant, dass Bart Vervaeck der repetitiven Struktur der Gewalt in Het Huis M. »Systemlosigkeit« attestiert: »Terreur is angst voor het geweld dat k‚n plaatsvinden. En die angst is pas gewelddadig als hij constant aanwezig is. Hij moet voortduren opnieuw worden opgewekt – net als de vrouw die telkens opnieuw verrijst [in Atte Jongstras Het Huis M.] en net als de revolutie [in Peter Verhelsts Tongkat] die zichzelf voortdurend herhaalt. Dat kan pas als er geen systeem zit in het geweld, geen logica die zou toelaten te voorspellen welke mogelijkheden realiteiten worden. Daarom is het zaak het geweld zo systeemloos mogelijk te houden«145 (Vervaeck 2004b: 823).

Zwar ist der Wiederholung die konstante Angst eingeschrieben und erscheint die Gewalt in ihrer Motivik auch vollkommen willkürlich, ihr Objekt bleibt jederzeit problemlos ermittelbar : Es ist die Frau, die in jeder Figurenkonstellation das Opfer der männlichen Projektionen und Ängste wird.

3.6

Die Rolle intertextueller Verweise

Sehr nachdrücklich positionieren sich postmoderne Texte innerhalb der Literaturtradition, indem sie zahlreiche Strategien anwenden, bestehende Texte zu 144 Übers.: »[d]ie Gewalt ist eine permanente Metamorphose, die zwischen Wiederholung und Variation schwebt.« 145 Übers.: »Terror ist die Angst vor der Gewalt, die stattfinden könnte. Und diese Angst ist nur dann bedrohlich, wenn sie konstant anwesend ist. Sie muss immer wieder aufs Neue hervorgerufen werden – so wie die Frau [in Het Huis M.], die immer wieder aufersteht – und so wie die Revolution [in Peter Verhelsts Tongkat], die sich stets wiederholt. Das geht nur, wenn hinter der Gewalt kein System steht, keine Logik, die es zulassen würde vorauszuzagen, welche Möglichkeiten Realitäten werden. Deshalb geht es darum, die Gewalt so systemlos wie möglich zu belassen.«

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Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

transformieren, parodieren oder adaptieren. Generell wird davon ausgegangen, dass diese Strategien alles andere als affirmativ wirken, Broich spricht gar von einer »dekonstruktiven Intention« (1997: 253): Es gehe nicht um das Nachahmen bewunderter literarischer Vorbilder als vielmehr um eine bewusste Auseinandersetzung mit und die Distanzierung von den Konventionen in Literatur (vgl. Vervaeck 1999: 174). Auch triviale Genres fungieren auf einmal als Prätexte und mehr noch als von Intertextualität kann von Intermedialität die Rede sein, werden doch Kunstformen wie Filme und Musikvideos herangezogen, um Texte zu gestalten. Damit wird nicht nur die (elitäre) Erwartung der Leser enttäuscht, sondern der Autor verzichtet auf eine Bedeutungsstabilisierung durch das Einschreiben seines Textes in eine akzeptierte literarische Gattung (Broich 1997: 253), ein Effekt, auf den auch Het Huis M. mit seinem rewriting des Genres Kriminalroman abzielt. Neben dem Spiel mit genrespezifischen Merkmalen (hypertextualit¦ im Sinne Genettes) wird in postmodernen Texten auch konkret über Zitate oder Allusionen verwiesen (intertextualit¦ im Sinne Genettes). Die Besonderheit im Verhältnis zu trans- und intertextuellen Verfahren in nicht postmoderner Literatur besteht darin, dass davon ausgegangen wird, die typisch postmoderne Form stünde nicht im Dienste homogener Bedeutungsproduktion, sondern treibe die Fragmentierung eines Textes gerade voran (Broich 1997: 252), ja lösche in einer noch radikaleren Auffassung sogar den Ursprungstext aus (Vervaeck 1999: 189). Eine solche Einschätzung ist typisch für die postmoderne Auffassung von Intertextualität. So sehr die Vorstellung einer oben beschriebenen »kryptischen« Intertextualität als »poetologisches Grundprinzip« (Holthuis 1993: 25) sich zu Recht auf die poststrukturalistische Sprach- und Textauffassung beruft, die ja gerade mit Kristeva den Begriff der Intertextualität hervorgebracht hat, läuft sie Gefahr, gerade deshalb affirmative Relationen zwischen den Texten aus dem Auge zu verlieren, wie Susanne Holthuis bemerkt. Dies kann durchaus kritisch gesehen werden (vgl. Bundschuh-van Duikeren 2010: 57). Paul Claes schlug bereits 1988 in Echo’s Echo’s (1988) vor, den intertextuellen Charakter von Texten durchaus gegen die vermeintliche Textintention zu untersuchen: »Misschien is het te verdedigen die teksten die op zichzelf weinig samenhang lijken te vertonen aan de hand van structurele allusies een betekenis af te dwingen, terwijl men aan de andere kant de ›klassieke‹, zogenaamd vanzelfsprekende teksten beschouwt als betekeniswoekeringen«146 (Claes 1988: 133). 146 Übers.: »Vielleicht ist es vertretbar, jenen Texten, die wenig zusammenhängend erscheinen, anhand struktureller Allusionen eine Bedeutung abzuringen, während man andererseits die ›klassischen‹, sozusagen selbstverständlichen Texte als [wilde] Auswucherungen von Bedeutung betrachtet.«

Die Rolle intertextueller Verweise

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Doch es ist nicht nur die hier angesprochene Gegen-Lektüre, die in diesem Zusammenhang fruchtbar erscheint.147 Auch die kognitiven Aspekte der Intertextualität verdienen mehr Aufmerksamkeit. Wie unter Abschnitt 3.5 erläutert, kann konzeptuelles Blending das menschliche Vermögen erklären, unterschiedliche Geschichten parallel zu verarbeiten und sogar zu einer dritten, daraus hervortretenden Geschichte zu verbinden, indem in den Ausgangsszenarien stabile Elemente identifiziert werden, die als Korsett dieser Geschichte fungieren. Im Folgenden soll also untersucht werden, inwieweit intertextuelle Verweise die im Roman etablierte naturalisierte Geschlechterdifferenz (vgl. Abschnitt 3.3.3) affirmieren oder subvertieren. Angesichts der Vielzahl intertextueller Verweise in Het Huis M. ist es allerdings nötig, Kriterien für eine Auswahl der behandelten Prätexte zu entwickeln. Die in der vorliegenden Untersuchung gehandhabte wörtliche Lesart verlangt über Assoziationen und Wahrscheinlichkeiten hinaus nach einer Beschränkung auf Prätexte, deren Figuren oder Titel bei Jongstra ausdrücklich erwähnt werden.148 Für die Geschlechter-Perspektive sollen darunter insbesondere jene intertextuellen Verweise herangezogen werden, die sich unmittelbar auf die Figurendarstellung auswirken und strukturell über weite Strecken in Het Huis M. integriert sind.149 147 Es ist auch die Frage, ob der poststrukturalistische Zugang sich diesem Verfahren komplett verschließt. Wenn Bart Vervaeck (im Zusammenhang mit Groente) die Frage stellt, was in einem postmodernen Text mit all seinen dekonstruktiven Verfahren noch an Identität für den Ich-Erzähler übrigbleibt, kommt er zu dem Schluss, diese liege in der Auswahl der herangeholten Texte: »Wat is er dan nog eigen aan de identiteit? Het individuele ligt vooral in de selectie en de combinatie die het ik maakt binnen de aangeboden teksten« (Vervaeck 1996: 774). Übers.: »Was ist dann noch das Eigene an Identität? Das Individuelle liegt vor allem in der Selektion und Kombination, die das Ich innerhalb der angebotenen Texte vornimmt.« Basis für die Selektion seien dabei keine Kriterien wie Originalität oder Schöpfungskraft, sondern vielmehr der Geschmack: Was gefällt, wird wiederverwendet (Vervaeck 1996: 774). Die Nennung des persönlichen Geschmacks der Erzähler als Auswahlkriterium für die Zusammensetzung des Textgewebes lässt schließlich auch den Schluss zu, dass verstärkende, affirmative Relationen zwischen den Texten oft nicht nur gewaltsame Interpretationen strukturalistischer Leser sind. 148 Auch abseits der wörtlichen Lektüre lassen sich natürlich, jeweils abhängig von der individuellen Textkenntnis der Rezipienten, Bezüge zu anderen Werken oder Stoffen herstellen. So gibt es strukturelle Parallelen zu Willem Brakmans Roman De vadermoorders (1988), wo der vielleicht gewaltsame Tod des fiktiven Papst Innocentius von Scotland-Yard Ermittler Duck untersucht wird. Dabei bleibt die Frage, ob auch wirklich ein Mord stattgefunden hat, in der Schwebe. Auch die Beschreibung der Verehrung einer attraktiven Nonne als möglichen Grund für das Dahinscheiden des Papstes und die »lebendige« Wirkung der päpstlichen Leiche ließen sich gut in den Rahmen von Het Huis M. einfügen. 149 Einmalige, aber explizite Erwähnungen anderer Texte gibt es selbstverständlich auch. Viele davon beziehen sich auf das Doppelgängermotiv (siehe die Besprechung unter Abschnitt 3.3.1). Aus der Geschlechter-Perspektive interessant ist in diesem Zusammenhang

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Ein beliebtes postmodernes Verfahren besteht darin, Figuren eine TransWelt-Identität zuzusprechen. Dabei werden die Sphären verschiedener literarischer Texte gemischt und Figuren aus einem anderen, prätextuellen fiktionalen Universum dringen in die Welt des Textes ein (Broich 1997: 254), wodurch die Verwobenheit aller Texte nachdrücklich sichtbar gemacht wird. Dies ist auch in Het Huis M. der Fall, wo der Prozess des Eindringens besonders sichtbar gemacht wird: Anfänglich ist es lediglich ein Buch in der Bibliothek, dessen sich Murk entsinnt: »Ergens in mijn bibliotheek moet het nog staan, een Franse roman over een misstap van een pastoor die Mouret heette […]«150 (Jongstra 1993: 97), ein klarer Verweis auf La faute de l’Abb¦ Mouret (1875) von Emile Zola. Dann werden Ähnlichkeiten zwischen Zolas Pastor und Jongstras Adjutanten festgestellt: »Ik herinner me de adjudant als een verschoten lap stof op de ein längeres direktes Zitat aus den Schriften von Helena Blavatsky über die symbolische Bedeutung des Buchstaben »M«. Es fällt schon dadurch aus der Reihe, dass es aus der Feder einer weiblichen Autorin stammt: Die sonstigen intertextuellen Verweise in Het Huis M. speisen sich aus Texten männlicher Autoren. In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass Jongstra Blavatsky auch in seinem Band Familiportret ein Kapitel widmet, neben anderen, die sich durchwegs mit männlichen literarischen Vorbildern befassen. Im Falle Blavatskys sieht er Parallelen in ihrer beider assoziativen Schreibstil, fasst die wahrgenommene Nähe – und das ist wichtig – aber nicht in Bilder von Verwandtschaft oder Einfluss, sondern von Begehren. »Over de liefde voor Madame Blavatsky« betitelt er den Essay und beschreibt ausführlich ihre äußere Erscheinung. In dem wörtlich von Blavatsky übernommenen Abschnitt aus Het Huis M. wird der Buchstabe M unter anderem als »androgyn«, »weiblich und männlich zugleich« bezeichnet (Jongstra 1993: 342). Legt man diese Aussage auf den Kontext des gesamten Textes von Jongstra um, bestätigt sich diese Aussage insofern, als seine enzyklopädische Schreibweise die meisten der handelnden Personen, sowohl Männer (Mark, Murk, Muralto usw.), als auch Frauen (Marthe) mit Namen versieht, die mit M. beginnen und im lexikalischen Schlussteil Einträge zu weiteren männlichen wie weiblichen Personen aufnimmt. Dies mag als einzelnes Zeichen für das Ineinanderübergehen der Geschlechter gewertet werden können. Eine andere Interpretation liegt allerdings aufgrund einer Vielzahl an textlichen Informationen näher. Der Buchstabe M. hat in Het Huis M. vornehmlich die Funktion einer raum-zeitlichen Ordnung. Dies wird ersichtlich aus der Tatsache, dass die Ex-Freundinnen des Ich-Erzählers, die das Haus M. nie betreten habe, alle Namen tragen, die mit »L« beginnen (Lena, Lotte, Lily). Der junge Polizist, der nach Ablauf der wiederholten Morde im Haus M. die Leitung der Polizeistation übernimmt, heißt wiederum »Noordervliet« und wird mehrere Male mit der Zukunft in Verbindung gebracht (Jongstra 1993: 320ff). Als im Alphabet vor dem M. gereihter Buchstabe übernehmen das »L« und das »N« hier die Markierung der Vergangenheit und der Zukunft, aber auch die des in Bezug auf das titelgebende Haus räumlichen »Außen«. Besonders deutlich wird diese Logik auch, wenn der Notar seinen Namen mit »Lichtenauer« angibt, obwohl sich im Laufe der Zeit herausstellt, dass er nicht nur, ebenso wie alle anderen Männer, den Verlockungen der Freule erlegen ist, sondern außerdem anders heißt: »Mauchamps«. Der Buchstabe M. hat eine ganz offensichtliche Ordnungsfunktion, eine Subversion der Geschlechterdifferenz ist aus seinem Gebrauch in Het Huis M. aber letztendlich kaum ersichtlich. 150 Übers.: »Irgendwo in meiner Bibliothek muss er noch stehen, ein französischer Roman über den Fehltritt eines Pastors, der Mouret hieß.«

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vloer in de gang en meteen schuift die pastoor ervoor«151 (Jongstra 1993: 98), und schließlich schält sich eine Figur, Archangias152, aus dem angewiesenen Prätext und tritt als handelnde Person in die Welt von Murk ein (Jongstra 1993: 219). Behutsam wird dabei nicht mit dem Prätext umgegangen, eine Tatsache, die angesichts der metafiktionalen Bemerkungen des Ich-Erzählers an anderer Stelle nicht überrascht: »Mijn voorganger – hij was het ongetwijfeld – bleek niet de slaafse kopizst te hebben willen spelen, maar leek bewust te hebben geselecteerd. Toen ik een trefwoord uit boek en schrift naast elkaar legde, viel me op dat behalve de lemma-keuze ook de inhoud naar eigen behoefte en schoonheidszin was aangepast«153 (Jongstra 1993: 148).

Murk verfährt ähnlich und schreibt den französischen Intertext in einer aneignenden Bewegung um: Den Namen der Mutter des sündigen Pastors in Zolas Roman, Marthe, trägt nun die rothaarige Haushälterin der Parallelerzählung vom Pastorenhaushalt in Het Huis M. Der Zola’sche Intertext wird außerdem mit der Legende um den Pfarrer B¦renger SauniÀre verquickt, der den Heiligen Gral entdeckt haben soll. SauniÀre bekommt in Het Huis M. einen anderen, aber ähnlichen Namen verpasst, der sich in den enzyklopädischen Text besser einfügt, und wird zu Antoine MeuniÀre. Dieser MeuniÀre, das wird über die Zuschreibung »der Pastor« suggeriert, die in Het Huis M. oft ohne weitere Namensnennung erfolgt, verschmilzt wiederum mit Pastor Serge Mouret aus Zolas Text. Wenn auch die Komplexität und Beweglichkeit des Umgangs mit Prätexten hier nur angedeutet werden kann, zeigt sich doch eines deutlich: So flexibel auf inhaltliche oder charakterliche Überlappungen der verschiedenen Intertexte reagiert wird, indem sie zu einer Narration oder einer Figur verdichtet werden, so unangetastet bleibt die Geschlechterdifferenz. Der intertextuelle Vergleich findet nur innerhalb der geschlechtlich vorgegebenen Bahnen statt, eine

151 Übers.: »Ich erinnere mich an den Adjutanten als einen erblassten Stofflappen am Boden im Gang und gleich schiebt sich der Pastor davor.« Die Assoziation kommt nicht von ungefähr : Beide Figuren leiden an der Fallsucht, die immer dann auftritt, wenn die Protagonisten heftige Emotionen durchleben. Darüber hinaus sind beide glühende Verehrer der Madonna, wobei die Marienverehrung im Laufe des Romans dem Verlangen nach einer »echten« Frau Raum gibt (vgl. Bundschuh-van Duikeren 2007: 147). 152 Archangias ist bei Zola ein Anhänger des Exorzismus, er ist Zeuge des Sündenfalls von Serge Mouret. Auch in Het Huis M. präsentiert er sich als christlich-moralische Instanz, die der Freule den Teufel austreiben will, aber daran kläglich scheitert: Auch er begeht den Mord an ihr (Jongstra 1993: 236). 153 Übers.: »Mein Vorgänger – er war es zweifellos – wollte offensichtlich nicht den sklavischen Kopisten spielen, sondern schien bewusst selektiert zu haben. Als ich ein Stichwort aus Buch und Manuskript nebeneinander legte, fiel mir auf, dass außer der Lemma-Wahl auch der Inhalt nach eigenen Bedürfnissen und Ästhetik angepasst worden war.«

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männliche Figur wird nur von einer oder mehrere Figuren des gleichen Geschlechts überlagert. Aus der Perspektive der feministischen Narratologie kann zusätzlich die Frage gestellt werden, wie sich eine breitere Kontextualisierung des Wissens um Zolas Archangias als Figur der Weltliteratur auf das Bild der Geschlechter in Het Huis M. auswirkt.154 Auffällig ist, dass mit Zolas Roman ein Text herangezogen wird, der junge weibliche Figuren in einen Motivkomplex von Natürlichkeit, Gesundheit, aber auch animalischen Zügen einbettet, während Männern Selbstdisziplin, Intellektualität und Bildung zugeschrieben werden. Es ist die ausdrückliche Gegensätzlichkeit der Geschlechter, auf der in Zolas Roman das wechselseitige Begehren beruht: Nur sie verspricht eine paradiesische Vereinigung in der Liebesbeziehung. Das Skript der Sehnsucht nach dem Aufgehen in einem gänzlich Anderen wird auch durch einen anderen Intertext, der ebenfalls über Figurenmigration in Het Huis M. eingebunden ist, bestätigt. Es handelt sich um Frederik van Eedens Roman De Nachtbruid (1909), dessen Protagonist Muralto in Jongstras Roman als früherer Eigentümer des Hauses M. und Alter Ego von Murk auftritt. Dass es sich um mehr als reine Namensgleichheit mit van Eedens Figur handelt, wird schnell deutlich. In einer seiner Schriften bezeichnet Jongstras Muralto die Freule von M. als »nachtbruid« [Nachtbraut] (Jongstra 1993: 195) und stellt damit direkte Zusammenhänge zwischen den Vorgängen im Haus M. und jenem Verhältnis, das bei Frederik van Eeden beschrieben wird. Dort gestaltet sich die Liebe Muraltos zu einer bereits verstorbenen Frau notwendigerweise als hoffnungslos.155 Damit steht in beiden Prätexten, aus denen Figuren in Het Huis M. »übersiedeln«, das Verlangen nach der Frau als fundamental Anderem zentral. Bart Vervaeck beschreibt seinerseits die Sehnsucht nach dem Anderen als Hauptthema von Jongstras Romanen (Vervaeck 2004a: 16). Es ist anzunehmen, dass es diese Thematik ist, die die Aufrechterhaltung der Geschlechterdifferenz bei Jongstra notwendig macht. »[Jongstra’s] hoofdfiguren willen oplossen in een bemind alter ego. Het andere is dus nog steeds aanwezig, maar de liefde zou het zelf en de ander moeten versmelten«156 (Vervaeck 2004a: 16). Der Wunsch, das betont Vervaeck, lasse sich aber nie ganz verwirklichen 154 Vgl. Bundschuh-van Duikeren 2007: 146 f. 155 Bei van Eeden kann sich Muraltos Geist von seinem Körper trennen und sich so der Frau erinnern. Es sind nicht nur die fließenden Übergänge zwischen Traum und Wirklichkeit sowie die zentrale Rolle der Erinnerung, wodurch sich van Eedens Roman gut in Het Huis M. einfügen lässt. Auch das Ende der Protagonisten stimmt überein. Sowohl van Eedens Muralto als auch Jongstras Muralto und Murk müssen den Tod im Wasser finden (Jongstra 1993: 336, 348). 156 »[Jongstra’s] Hauptfiguren wollen sich in einem geliebten Alter Ego auflösen. Das Andere ist also immer noch anwesend, aber die Liebe soll das Selbst und den Anderen verschmelzen lassen.«

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(Vervaeck 2004a: 16). Aus diesem Zitat lässt sich, wiewohl es die Geschlechterdifferenz nicht explizit benennt, jene Spur ablesen, die eine geschlechterkritische Lektüre offenlegt : Da das Begehren bei Jongstra immer einer heterosexuellen Matrix mit deutlich markierten männlichen und weiblichen Elementen entspringt, zudem die Ich-Perspektive durchgängig von männlichen Erzählern eingenommen wird, fungieren Frauenfiguren ganz gemäß der abendländischen philosophischen Tradition als das dichotomisch verstandene Andere, das das (männliche) Subjekt zur Aufrechterhaltung seines Selbstbildes benötigt. Het Huis M. schreibt so über die intertextuellen Verbindungen das Verhältnis der Geschlechter fort, wie es in den Romanen um die Wende zum 20. Jahrhundert dargestellt wurde, und durch ihre Integration in Jongstras Text – so adaptiert, dass sie sich nahtlos einfügen – schreiben diese Romane ihrerseits die Geschlechterdifferenz in Het Huis M. ein.

3.6.1 Intertextualität im Werkzusammenhang Auch in Groente wird die Identitätsproblematik mit ähnlichen textuellen Strategien unterlegt wie in Het Huis M. Dort tritt die begehrte Frauenfigur Clara »unter zig Namen und Gestalten« auf (Vervaeck 1996: 771), von denen viele auf reale historische Vorbilder zurückgehen: Clara von Assisi, Clare Butler, Geliebte von Castelvetro, »Klara« (eigentliche Hilde) Wijk, Geliebte von Potgieter und Clara Wieck (Schumann) (Vervaeck 1996: 771)157. Die Stabilität der Geschlechterdifferenz erhält auf dieser Ebene allerdings einen Riss, wenn der IchErzähler beschreibt, wie die geliebte Klara von Assisi als letzten Ausweg gegen die Belagerung des Klosters in der Not den Sprung von dem Klosterturm wählt und sie dabei ex negativo mit Jan van Schaffelaar vergleicht. »Toen sprong ze. Licht als een overlevering zweefde ze naar beneden, Clara, warrig als herinneringen kunnen zijn. Ze was bijna dwarrelende toen ze door de wind werd opgetild als een nog net niet dood, bijna doorzichtig blaadje en in de moestuin werd neergelaten tussen de kropjes malse sla […]. Niks Jan van Schaffelaar. Ze daalde 157 Auch bei den männlichen Figuren sind Überlagerungen durch intertextuelle Verweise sichtbar. Bart Vervaeck beschreibt, wie die Figur des »Mönchleins« auf Pinocchio verweist, der gemäß der Logik der italienischen Erzählung auf eine behaarte, vermummte Figur namens Vossembrini (den betrügerischen Fuchs aus dem Prätext) trifft, die ebenfalls böse Absichten hat. Doch der Name Vossembrini weckt auch Assoziationen mit dem philosophierenden Settembrini aus Thomas Manns Der Zauberberg, ebenso wie der kleine Mönch auch auf Franz von Assisi verweist und Petkov, der zweite rumänische Betrüger mit dem Spitznamen Capuzinescu, auf den Diktator Ceausescu (Vervaeck 1999: 81). Das Geschlecht derer, die zum Vergleich mit den männlich markierten Figuren aus Het Huis M. herangezogen werden, ist jeweils unzweifelhaft männlich.

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gracieus neer van het klooster dat haar levenswerk was geworden […]«158 (Jongstra 1991: 191).

Der Legende nach wehrte sich die historische Klara von Assisi mit einer Monstranz gegen die Belagerer, während Jan van Schaffelaar in einer ähnlichen Situation sein Leben opferte, indem er in einer hoffnungslosen Lage vom Barnevelder Kirchturm sprang. Jongstras Roman präsentiert sich hier ambivalent: Gerade durch die Nennung Jan van Schaffelaars werden die Parallelen in der Handlung hervorgehoben, andererseits wird der direkte Vergleich mit der männlichen Figur explizit verneint. Ein reibungsloses Blending der zwei Szenarien ist nicht möglich, die Identifikation einer weiblichen mit einer männlichen Person bleibt aber zumindest als Alternative erhalten. Ebenfalls ambivalent ist der Blick des Ich-Erzählers auf Clare, die in einer Szene vermeintlich tot senkrecht auf einer Bahre an einen Baum gelehnt wird: »Ihr Herz, sichtbar auf Hüfthöhe« (Jongstra 1991: 177). Zwar verweist das Bild in groben Zügen (Kreuzigung/aufrechte Bahre) auf die Herz-Jesu Verehrung, die sich aus der Interpretation des Johannesevangeliums entwickelt hat, ikonographisch gilt es allerdings eine auffällige Abweichung festzustellen. Während die Herz-Jesu-Darstellungen das Herz anatomisch korrekt vor der Brust Jesu zeigen, ist das Herz Clares »auf Hüfthöhe«. Wo an anderen Stellen Figuren geräuschlos ineinander übergehen, ist bei jenen über den Intertext vermittelten Transgressionen eine gewisse Reibung vorhanden, was ausgerechnet bei gemischtgeschlechtlichen Paaren einen Bruch in der Identifikation sichtbar macht. Der Roman De tegenhanger enthält viele Anklänge an Dante (Vervaeck 2004a: 16, Vitse 2004: 677),159 dessen verklärte Figur der Beatrice sich gut in Jongstras präferierte Thematik des Verlangens nach einem Anderen einfügen lässt. Darüber hinaus ist der Roman szenenweise dicht an de Sades Erzählungen angelehnt. Sven Vitse veröffentlichte diesbezüglich bereits eine kritische Betrachtung der Funktion der Prätexte in Jongstras Roman, auf die an dieser Stelle auch verwiesen sei.160 Anders als die eingangs dargestellte Auffassung, postmoderne 158 Übers.: »Dann sprang sie. Leicht wie eine Überlieferung schwebte sie nach unten, Clara, verwirrend, wie Erinnerungen sein können. Sie taumelte beinahe, als sie vom Wind aufgenommen wurde und wie ein noch nicht totes, fast durchsichtiges Blatt in den Gemüsegarten hinabgelassen wurde zwischen die zarten Salatköpfe. […] Nix Jan van Schaffelaar. Sie sank langsam nieder von dem Kloster, das ihr Lebenswerk geworden war […].« 159 Es finden sich auch Verweise auf Homer, Augustinus und Willem-Jan Otten (Vervaeck 2006: 492) sowie zahlreiche psychologische Texte (Vervaeck 2006: 502). 160 Interessant ist auch eine Beobachtung Vitses zur Selektion der übernommenen Elemente aus de Sades Beschreibungen: So wird die dort figurierende Kinderdomina bei Jongstra außen vor gelassen. Vitse suggeriert, dies geschehe nicht zufällig, sondern weil dies im heutigen Kontext problematisch wäre (Vitse 2004: 692). Auch wenn intentionale Aussagen dieser Art hypothetisch bleiben, ist der Ansatz aufschlussreich, weil er die Auswahl bzw. die Präsentation des Prätextes durch den Autor als bedeutungsvoll betrachtet.

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Formen von Intertextualität »löschten« die Ursprungstexte aus und stünden der Homogenität von Texten entgegen, argumentiert Vitse, die radikal umgesetzte Einbettung der eigenen Textproduktion in die benannten literarischen Traditionen verhindere die Ablösung von dem dominanten Diskurs der herangezogenen Texte: »[Jongstra’s] vrijheid om traditionele genres en stijlen te manipuleren en te beheersen belet hem bij momenten om meer dan marginaal af te wijken van het dominante discours en de bijbehorende premissen (of hij dat zo wilde of niet)«161 (Vitse 2004: 692).

Wenn auch Vitse die Geschlechterdifferenz in diesem Kontext nicht anspricht, soll sein Gedanke diesbezüglich fortgeführt werden. Bei den strukturell am stärksten eingeflochtenen Texten handelt es sich überwiegend um Texte männlicher Autoren, die im Allgemeinen auch vor Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen sind. Kritik an den Geschlechterverhältnissen oder der Stabilität der Geschlechterdifferenz ist aus solchen Quellen eher selten zu erwarten und auf diese Weise können bereits überholte Vorstellungen in Jongstras Werk nachwirken. Weil Jongstras Stil in allen Büchern von Ironie getragen ist, bestimmt die Einschätzung der Funktion dieser Ironie bei der Tradierung intertextueller Skripts auch die Positionierung von Jongstras Romanen innerhalb dieses Feldes. Sven Vitses Einschätzung von De tegenhanger ist kritisch. Er sieht in der Ironie bzw. der Parodie stellenweise ein Vehikel für inhaltliche Aspekte von Jongstras Romanen, die ohne die Berufung auf eine Literaturtradition nicht auf Akzeptanz stießen. Der Verweis auf den intertextuellen Charakter des Werkes durch »nachdrücklich parodierende Dialoge und minimale Stilzitate« fungiere dann als Legitimation des pornographischen Inhaltes (Vitse 2004: 690). Aus Vitses Kritik lässt sich ableiten, dass er Jongstras intertextuelles Verfahren nicht nur, wie sonst in der Rezeption des Postmodernismus üblich, metafiktional versteht, sondern umgekehrt vermutet, Jongstra schütze Intertextualität und Ironie vor, um Inhalte darstellen zu können, die dem Literaturstatus seines Textes abträglich sein könnten. Im folgenden Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, wie der Umgang mit offensichtlich ironischen Texten gestaltet werden kann.

161 Übers.: »[Jongstras] Freiheit, traditionelle Genres und Stile zu manipulieren und zu beherrschen, hält ihn manchmal davon ab, mehr als nur marginal vom dominanten Diskurs und den dazugehörigen Prämissen abzuweichen (ob er das so wollte oder nicht).«

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3.7

Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

Postmoderne Ironie und Geschlechterparodie

Die Auffassung, dass Ironie und/oder Parodie konstitutive Elemente postmoderner Literaturproduktion sind, wird von vielen Literaturwissenschaftlern geteilt. Auch Bart Vervaeck vertritt diese Ansicht für die niederländischsprachige Prosa, wenn er postuliert, die postmodernen Merkmale seien »geen verwerping van de literatuur maar een doorgevoerde en ironische toepassing van literaire principes die als het ware binnestebuiten gekeerd worden«162 (Vervaeck 1999: 202). Dabei berührt er mit seiner Lektüre wieder vornehmlich die Ebene der Metafiktion. Was also den traditionellen, von einem realistischen bis modernistischen Rahmen geprägten Erwartungen der Leser widerspricht, ist nach Auffassung Vervaecks programmatisch und ironisch zu verstehen. Mit dieser typischen, aber durchaus elitären163 Auffassung von Ironie als einem postmodernen Texten systeminhärenten Merkmal, stellt sich gerade im Hinblick auf die Geschlechter-Komponente die Frage, ob die Ironie auf der Bedeutungsebene des individuellen/gesonderten Textes dann noch eine (tropische) Funktion hat, also auf eine Bedeutungsebene verweist, die hinter dem eigentlich Gesagten liegt. »An important question arises from here. If one can speak of the irony of a genre, of a series of texts, does the passage from trope to structure or form completely eliminate the function of tropal irony as a common denominator for the most varied textual structures and for their interpretation in an ironic sense?«164 (Krysinski 1985: 1).

Thematisiert Krysinski vor allem das verbleibende lokale kritische Potential der Ironie, stellt Claire Colebrook die Frage noch prinzipieller, indem sie die Agenda des Postmodernismus ernst nimmt. Mit seiner Kunst der Oberfläche, die die Metaphysik der Tiefe und der Bedeutung angreift, erledige sich, so folgert Colebrook, auch das klassische Verständnis von Ironie. »How can there be an other or ironical meaning if all we have are texts? For does not the very notion of ›meaning‹ demand that there is a sense or depth to a text, that there is more to a text than its surface? And if there is this other meaning, and we only know this meaning through what is said explicitly, just what is the nature and location of this meaning? If language is nothing more than a set of conventions and recognised uses, how do we recognise the difference between an ironic and a sincere use? Does the very 162 Übers.: »keine Absage an die Literatur, sondern eine durchgeführte und ironische Anwendung literarischer Prinzipien, die auf den Kopf gestellt werden.« 163 Nur wer über das nötige (Fach-)wissen über Ästhetik oder Thematik postmoderner Literatur verfügt, kann die Ironie als mögliche Auflösung für abweichende Momente eines Textes heranziehen. 164 Auch für den Modernismus wurden ähnliche Zuschreibungen vorgenommen, Krysinskis Frage bezieht sich dann auch auf diesen modernistischen Kontext, der eine vergleichbare methodische Problemstellung umfasst.

Postmoderne Ironie und Geschlechterparodie

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thought of irony commit us to some linguistic stability and meaning, or does irony problematise and disrupt meaning?« (Colebrook 2004a: 21, Hervorh. im Original)

Es kann festgestellt werden, dass eine so grundlegende Rolle, wie sie der Ironie im Postmodernismus zukommt, ihrem Potential zu wirksamer Gesellschaftsoder Ideologiekritik jedenfalls stark abträglich ist.165 Dies mag der Grund sein, warum Alan Wilde in seinem vielzitierten Aufsatz Irony in the Postmodern Age die Akzeptanz und Toleranz des Postmodernismus gegenüber einer ordnungslosen Welt hervorheben kann: »in short, a world in need of mending is superseded by one beyond repair« (Wilde 1980: 9). Was also tun mit Humor und Ironie, die in der Rezeption von Jongstras Texten spätestens mit der Publikation von Groente immer wieder hervorgehoben wurden (Leferink 1996: 14, Vervaeck 1996: 780, Kempen 2004: 59, Vervaeck 2004a: 8, vgl. auch Neefjes 1994: 492)? (Ironische) Aussagen zu den Geschlechterverhältnissen finden sich in den meisten von Jongstras Romanen zuhauf, hier seien nur einige wenige Beispiele genannt. Der Ich-Erzähler in Disgenoten bemerkt im Gespräch, es sei kein Wunder, dass sein Psychiater nicht mit seiner Geschäftspartnerin verheiratet wäre, denn man solle sich die Frau nur in einem Bikini vorstellen (Jongstra 1998: 25). Der Psychiater seinerseits beschreibt eine Putzfrau als »illegaal Russisch wijfje, maar de duivel moge me halen als ze niet lekker is« (Jongstra 1998: 24), und beschreibt, wie sich ihm beim Schrubben des Bodens ihr Hinterteil präsentiert. Es ist durchaus nicht nur die figurale Ebene, in die solchermaßen sexistische Witze Eingang finden. Eine Textpassage aus De tegenhanger etwa gibt die Gedankengänge der Figur Mary wieder, wobei der Erzähler ihre genaue Motivation schließlich nicht verstehen kann und deshalb beschließt: »De vrouw echter is een raadsel en laat dat alsjeblieft zo blijven, tot in de eeuwigheid«166 (Jongstra 2003: 395). Ebenfalls typisch für die Romane Jongstras ist der übermäßige Gebrauch konventioneller Weiblichkeitstropen, die einander teilweise auch überlappen. Die Figur der Freule in Het Huis M. zeigt etwa neben dem allgemeinen Skript der verlockenden und gefährlichen Femme fatale den konkreten Medusastoff (Jongstra 1993: 182) und jener der Melusine (Jongstra 1993: 247). Daneben spielen (bei anderen) Frauenfiguren auch die Klischees der »Heiligen« (Maria), der »Hure« (Freule, Murks Ex-Freundinnen) und der »Mutter« (Murks Mutter) eine Rolle. Dies fand in der einschlägigen Forschungsliteratur bis dato keine Beachtung, wiewohl es zweifellos bemerkt wurde; der Grund dafür liegt wohl auch in der spezifischen Rezeption figuraler Darstellungen im Postmodernismus. Für Bart Vervaeck steht fest, dass postmoderne Figuren im Dienste des nar165 Die so erfolgte Abkopplung der Literatur vom gesellschaftlichen Diskurs dient durchaus auch konservativen Interessen, beschreibt Colebrook (Colebrook 2004a: 19). 166 Übers.: »Die Frau aber ist ein Rätsel und lass sie das bitte bleiben bis in alle Ewigkeit.«

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rativen und theatralischen Charakters des menschlichen Lebens so viele Skripts aufführen wie nur möglich,167 um die Idee der Echtheit jeglicher Identität zu untergraben (Vervaeck 1999: 65), er erkennt in ihnen generell also eine subversive Tendenz. Vervaecks Argumentation bezüglich der Funktion der aufgeführten Skripts ist Judith Butlers Überlegungen zur Geschlechter-Parodie, der kritischen Inszenierung von herrschenden Normen etwa in der Form des drag, im Aufbau der Argumentation sehr verwandt.168 Die Idee der Geschlechterparodie darf allerdings, wie Butler betont, nicht als prinzipielle Anerkennung der kritischen Kraft von Parodie verstanden werden.169 Denn das Aufgreifen von Elementen eines hegemonialen Diskurses in einem marginalisierten Diskurs könne auch herrschende Normen und Bedeutungen erneut einschreiben: Das »parodistische Gelächter« ist letztendlich stark kontext- und rezeptionsabhängig (Butler 1991: 204). Eine vergleichbare Relativierung und Anerkennung der normativen Funktion figuraler Darstellungsverfahren im Postmodernismus fehlt bei Vervaeck. Die Vorwegnahme des parodistischen Gelächters durch eine Rezeption von Jongstras Romanwerk, die den Fokus auf Subversion und Dekonstruktion qua Zuordnung zum Postmodernismus beschreibt, führt zu einem recht einseitigen Blick auf dessen Texte. In der vorliegenden Untersuchung wurde bewusst die andere Seite der widersprüchlichen ironischen Agenda betont, indem die Texte einer wörtlichen, auf die Konstruktion fiktionaler Welten gerichteten Lektüre unterzogen wurden. Damit wird dem kognitiven Aspekt Rechnung getragen, der in der Verarbeitung von Ironie wirksam wird: Eine wörtliche Botschaft muss, selbst wenn sie letztendlich verworfen wird, als solche wahrgenommen werden. Schließlich soll nicht zuletzt einer über die Strömungszuschreibung erfolgten 167 Vgl. auch das konzeptuelle Blending oder das Cross-mapping nach Elisabeth Bronfen. 168 An Butlers Verständnis von Geschlechterparodie wurde einige Kritik geübt – sie laufe Gefahr, die Strukturen zu erhalten, die angeblich destabilisiert werden sollten (Modleski 1991: 158, Großmaß/Schmerl 1996: 282), und bleibe in Ermangelung neuer, hybrider Formen der Geschlechtlichkeit eben jener heterosexuellen Matrix verhaftet, die Butler so präzise herausarbeitete (Großmaß/Schmerl 1996: 283). Ein grundlegendes Problem an Butlers und hier auch Vervaecks Argumentation bleibt auch, dass sie beide davon ausgehen, dass der Wiederholungs- und Zitatcharakter der Sprache dem Subjekt die repetitive Struktur aufzwingt, da es kein souveränes Subjekt gibt, dass die Sprache intentional zu parodistischen Zwecken anwenden kann: »Autonomy in speech, to the extent that it exists, is conditioned by a radical and originary dependency on a language whose historicity exceeds in all directions the history of the speaking subject« (Butler 1997a: 28). 169 Auch Linda Hutcheon, die in der Parodie als doppelbödiges Zitat eine grundlegende Erscheinungsform der Postmoderne sieht, nennt deren Agenda widersprüchlich: »[…] one that uses and abuses, installs and then subverts, the very concepts it challenges« (Hutcheon 2000: 3). In der Analyse der parodierenden Bewegung bzw. der postmodernen Agenda nimmt Hutcheon die Kritik daran bereits vorweg: Das kritisch-ideologische Potential geht immer auch einher mit der reaktionär anmutenden Zitation bestehender kultureller Ordnungsmuster.

Abschließende Bemerkungen

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Annahme einer angenommenen Intentionalität vorgebeugt werden, die in der Lektüre von Jongstras Texten eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. Der Erfolg der Ironisierung in Jongstras Texten, so Sven Vitse in seiner Analyse von der Ironie in Jongstras Roman De tegenhanger, beruhe auf der Tautologie bzw. Zirkularität der ironischen Bemerkung: »[…] het geciteerde wordt succesvol geroniseerd omdat de lezer van Jongstra dat als bij voorbaat bespottelijk vindt – Jongstra hoeft als het ware maar met zijn hoed rond te gaan«170 (Vitse 2004: 682). Damit spricht Vitse jenes Phänomen an, das Linda Hutcheon in Irony’s Edge behandelt, wenn sie Ironie mehr auf der Leserseite situiert denn als intrinsisches Merkmal des Textes, das es mit einer bestimmten Kompetenz zu enthüllen gelte. Wie situative Ironie könne auch textuelle Ironie durchaus nur bei den Empfängern der Botschaft entstehen (Hutcheon 1994: 122). Die kulturelle und zeitliche Nähe von der Entstehung des Textes und seiner Rezeption und ist dabei besonders geeignet, ironische Lektüren hervorzurufen: »if [knowledge, values, background information] are indeed shared, then irony might not so much create communities as come into being because the communal values and beliefs already exist« (Hutcheon 1994: 95). Nicht der Text ironisiert also eine Botschaft, die Leser naturalisieren die selbst empfundene Irritation, interpretieren die Ironie in den Text hinein, weil es ihnen in dem geteilten diskursiven und kulturellen Raum, dem auch der Text entspringt, anders nicht möglich erscheint. Dabei kann auch die sogenannte »inferred intention«, die angenommene Intention eine Rolle spielen. Diese Dynamik könne auch bei einem Schriftsteller, der wie Jongstra als gebildet gilt, nicht vernachlässigt werden, so Vitse: »De lezer van Jongstra durft simpelweg niet vermoeden dat een intellectueel schrijver [een triviale tekst] ernstig neemt« (Vitse 2004: 687). Ähnlich verhält es sich sicherlich mit den vielfältigen misogynen Aussagen der männlichen Erzähler, die Het Huis M., De tegenhanger und Disgenoten prägen. Vor dem Hintergrund des diffusen und nicht tropischen Charakters postmoderner Ironie muss dies durchaus kritisch betrachtet werden.

3.8

Abschließende Bemerkungen

Der Umgang mit der Geschlechterdifferenz offenbart sich bei Atte Jongstra in erster Linie in der Darstellung physisch verstandener Transgressionen. In jenen Romanen, in den der Körper keine abgeschlossene Entität ist, sondern variabel zwischen Einheit und Vielheit pendelt, spielen sich die Übergänge nur zwischen 170 Übers.: »[…] das Zitierte wird erfolgreich ironisiert, weil der Leser von Jongstra es schon im Vornherein lächerlich findet – Jongstra braucht sozusagen nur mehr seinen Hut herumzureichen.«

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Heterosexuelles Begehren und das phantasmatische Andere – Atte Jongstra

eindeutig markierten, gleichgeschlechtlichen Figuren ab. Das Geschlecht erscheint dabei als Faktor, der über die Möglichkeit zur Transgression entscheidet, während die Zugehörigkeit zu einer Spezies (Mensch/Tier) diesbezüglich nicht aussagekräftig ist. Im Prozess der Konstruktion einer textuellen Welt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten wird die Kategorie Geschlecht somit essentialisiert. Die Darstellung von Frauenfiguren ist bestimmt durch eine Dominanz männlicher Erzählstimmen, die die Weiblichkeit in zahlreiche Klischees fassen. Eine intertextuelle Einbindung in die textuellen Welten vornehmlich männlicher Autoren des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verstärkt diese Wirkung. Die Frauen erhalten den Charakter von Phantasmen, wobei dies teilweise durch besondere Strategien der Literarisierung von Metaphern hervorgehoben wird: Wörtlich tritt die Frau dann als künstliches Traumbild, Flickstück männlicher Vorlieben und beliebige Projektionsoberfläche auf. Zwar birgt die so herausgestellte Künstlichkeit von Weiblichkeitskonzeptionen ein durchaus kritisches Potential, mangels weiblicher Erzählstimmen hinterlässt sie letztendlich nur eine Leerstelle. Die Frau kann damit nur als Anderes oder Außen der erzählerischen Subjektivität gedacht werden. Mit diesen Verfahren, aber auch etwa räumlichen und repetitiv-handlungsbezogenen Strukturen, wird eine klassische Dichotomie mit dem Mann in der Subjekt- und der Frau in der Objektrolle installiert, eine Tatsache, die angesichts einer Vielzahl von aufgelösten Binaritäten im Werk von Jongstra umso bemerkenswerter erscheint.

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

Als Provokateurin gegen den gesellschaftlichen Konsens beschreibt sich Charlotte Mutsaers in einem Interview (van Heerden 1995: 49) und spielt damit nicht zuletzt auf ihren Einsatz für Tiere an, der ihr Werk motivisch durchzieht. Ihr Engagement wird anhand des Romans Koetsier herfst auch in Thomas Vaessens’ De revanche van de roman als Rückbesinnung auf die Relevanz von Gesellschaftskritik dargestellt. Mutsaers ist bildende Künstlerin und Schriftstellerin und veröffentlichte neben dem Emblemband Het circus van de geest (1983) und der Bildergeschichte Meneer Donselaar zoekt een vrouw (1986), unter anderem auch einige Essaybände1 – Hazepeper (1985), Kersebloed (1990), Paardejam (1996) und Zeepijn (1999) – sowie die zusammenhängenden Prosaminiaturen De markiezin (1988) und zwei Romane, Rachels rokje (1994) und Koetsier herfst (2008). Gilt Koetsier herfst auch aufgrund seiner wesentlich konventionelleren Form bereits als Exponent spätpostmodernen, der Welt wieder zugewandten Schreibens (Vaessens 2009: 186), nimmt insbesondere das Romandebüt Rachels rokje eine besondere Stellung im sich herauskristallisierenden Kanon postmoderner Literatur ein.2 Brems spricht von einem Roman ohne Geschichte: »De roman is veleer een aaneenschakeling van beelden, verhaaltjes, herinneringen, reflecties, opsommingen«3 (Brems 2006: 516). Ähnlich gestaltet sich die Rezeption in Deutschland, wo der Text 1997 in der Übersetzung von Marlene Müller-Haas als Rachels Röckchen erschien. In Michaela Kopp-Marks Studie Zwischen Petrarca und Madonna (2005) zum Roman der Postmoderne heißt es:

1 Eine eindeutige Genrezuordnung dieser Bände ist nicht möglich (Vervaeck 2004: 296). Mutsaers’ Essays zieht Vervaeck heran, um die Verflechtung essayistischen und fiktionalen Schreibens und die Verwischung der Genregrenzen im Postmodernismus zu illustrieren. 2 Zur Einordnung des Textes als postmodern siehe Vervaeck 1999, Sereni 2005: 375, Brems 2006: 516 ff. 3 Übers.: »Der Roman ist vielmehr eine Aneinanderreihung von Bildern, Geschichten, Erinnerungen, Reflexionen, Aufzählungen.«

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»Ob Jean Paulsche Digressionen oder postmoderner Dekonstruktivismus, vor keiner phonetischen Kombinatorik zurückschreckend – das Gesetz, das Charlotte Mutsaers’ Roman beherrscht, ist die Simultaneität der Optionen und die Absage an die Linearität des Erzählens« (Kopp-Mark 2005: 96).

Vielbeachtet vor allem in der universitären Literaturwissenschaft und Thema von knapp dreißig in der Bibliografie van de Nederlandse taal- en literatuurwetenschap (BNTL) gelisteten Aufsätzen, soll der Roman auch in diesem Kapitel fokussiert betrachtet werden. Das textuelle Universum, das in Rachels rokje geschaffen wird, ist in vieler Hinsicht zugänglich: linguistisch, taxonomisch, chronologisch, aber auch im Hinblick auf historische Kohärenz. Der Titel Rachels rokje ist gleichzeitig Strukturprinzip des Romans: Nicht Kapitel werden vorgestellt, sondern 37 »Rockfalten«, die die verschiedenen Facetten der Romanhandlung bis hin zu eingeschobenen Parallelerzählungen umfassen. Beschrieben wird die romantisch übersteigerte Liebe der Erzählerin Rachel Stottermaus zu ihrem ehemaligen Lehrer Douglas Distelvink, die bereits in der Schulzeit einsetzt und dreißig Jahre im Leben der Protagonistin überdauert. Auf die so beschaffenen Kapitelfalten folgt ein kurzer mit Skatschok (dem Übergang von einer Dur- in eine Molltonart) überschriebener Abschnitt, der den zweiten Teil des Romans, »Rachels rokje revisited« über die Zeit nach Douglas’ Tod einleitet. In diesem Teil des Buches wird die Erzählerin durch nicht weiter definierte Richter verhört, die sich an einer kafkaesk anmutenden Schuldfrage abarbeiten. Der Roman ist zirkulär und repetitiv angelegt: In einer Konzentration auf wenige Handlungsorte und -zeiten werden immer wieder die gleichen Elemente fokussiert betrachtet, sodass Dinge, die der jungen Rachel wiederfahren, fast nahtlos in die Geschehnisse rund um die erwachsene Protagonistin übergehen. So werden immer wieder einige wenige gegenseitige Besuche von Rachel und Douglas geschildert, die stets nach dem gleichen Muster ablaufen. Die devote Liebe der überzeugten Rockträgerin Rachels zu dem älteren Mann, der als »Ingenieur Rockgürtel« bezeichnet werden will, bleibt unerfüllt. Scheitert sie für die junge Rachel an der Lehrer-Schüler-Distanz, die ein Liebesgeständnis ihrerseits verhindert, bricht auch der gealterte Douglas trotz Annäherungen an Rachel nicht aus seinen festen Alltagsstrukturen aus und fordert Rachel auf, ihn »in ihr selbst zu töten«. Diesen Rat scheint die Erzählinstanz, die mit dem erwachsenen Ich von Rachel ident ist (vgl. Abschnitt 4.1), umzusetzen, indem die Figur Douglas eines plötzlichen Todes stirbt. Dreh- und Angelpunkt der Darstellung von Rachel ist ihr Röckchen, das sich stets in Bewegung befindet. »De mens is onbeschrijfelijk onbeschrijfbaar. Evenals het dier. Evenals het romanpersonage. Evenals het naakte bestaan. Maar gelukkig draagt hij een rokje.

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Hoe de textuur van dat rokje waarvan hij zelf het middelpunt is, in levende plooien om hem heen hangt, cirkelt, zwiert, golft, laait, wappert, opkruipt, straalt, rimpelt, ruist, danst, krult, ademt, ritselt, stroomt, scharniert, siddert, zwaait, knipoogt, steigert of valt, hoe als die plooien zich voortdurend vertakken, verspringen of in elkaar opgaan en hoe je af en toe een glimp opvangt van wat zich eenzaam en verstolen afspeelt daartussen of zelfs daaronder, dat is het enige wat telt. En bijvoorbeeld niet of die plooien GOED zijn of FOUT, laat dat maar aan de stomerij over. Of het waarheidsgehalte: luister slechts naar het frou-frou»4 (Mutsaers 1994: 15).

Die weitreichende Rock-Metapher wurde von der Literaturkritik dankbar aufgegriffen und ihrerseits verwendet, vornehmlich um die Lektüre von Mutsaers’ Roman zu beschreiben: »Soms is het moeilijk uit te maken of wat in de plooien van de rok te vinden is de lezer, dan wel de schrijfster toe behoort« schreibt Mertens (1995: 25),5 der Roman, so Sereni, führe gar »einen Faltenrock auf« (Sereni 2005: 366, vgl. de Jong 2006: 393). Im Leseprozess scheint darüber hinaus der Leser wörtlich zum »rokkenjager« [Schürzenjäger] mutiert (Vervaeck 1994: 72, Mertens 1995: 24). Als nachgerade idealer Schürzenjäger, so ist es auch in Rachels rokje nachzulesen, gilt Roland Barthes, weil er sich mit seinen Thesen zum Text als Gewebe als »Texturliebhaber« erweist (Mutsaers 1994: 126);6 eine Aussage, die eine metafiktionale Lesart wie jene von Mertens geradezu herausfordert:7 »Maar waneer je het woord ›rok‹ […] vervangt door ›tekst‹ komt er als vanzelf een ware poÚtica te voorschijn die sterk verwant is met de ideeÚn van Roland Barthes«8 (Mertens 1995: 25). Ähnlich positioniert sich Sereni, die Mutsaers’ Roman als Plädoyer für eine offene und schließlich auch »erotische« Schreibweise liest 4 Übers.: »Der Mensch ist unbeschreiblich unbeschreibbar. Genau wie das Tier. Wie die Romanfigur. Wie die nackte Existenz. Aber zum Glück trägt er ein Röckchen. Wie die Textur dieses Röckchens, dessen Mittelpunkt er selbst ist, in lebendigen Falten um ihn herum hängt, kreiselt, schwänzelt, wogt, lodert, flattert, hochkriecht, glitzert, sich kräuselt, rauscht, tänzelt, sich kringelt, raunt, raschelt, fließt, schwankt, flirrt, schwingt, zwinkert, sich aufbauscht oder zusammenfällt, wie sich alle Falten ständig verästeln, verwerfen oder ineinander übergehen, und wie man dann und wann einen Schimmer von dem erhascht, was sich einsam und verstohlen dazwischen oder gar darunter abspielt, das ist das einzige, was zählt. Und nicht, zum Beispiel, ob die Falten GUT sind oder BÖSE, überlaß das ruhig der Reinigung. Oder der Wahrheitsgehalt: Hör nur auf das Froufrou« (Mutsaers 1997: 14). 5 Übers.: »Manchmal ist es schwierig auszumachen, ob das, was sich in den Rockfalten findet, dem Leser oder der Autorin gehört.« 6 Konkret geht es um Barthes Ausführungen zu den erotischen textes de jouissance, die er in Le plaisier du texte den textes de plaisier gegenüberstellt (Sereni 2006: 90). Die Erotik der textes de jouissance ergibt sich aus dem Spiel zwischen Ver- und Enthüllung, das nie zugunsten einer vollkommenen Nacktheit oder Bestätigung aufgelöst werden kann. 7 Mertens bezieht sich mit dem Zitat konkret auf das 26. Kapitel, das einen »Katechismus« des Rocks präsentiert. 8 Übers.: »Aber wenn man das Wort ›Rock‹ […] mit ›Text‹ ersetzt, kommt von selbst eine wahre Poetologie zum Vorschein, die stark mit den Ideen von Roland Barthes verwandt ist.«

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(Sereni 2005: 372) und damit das von Bart Vervaeck propagierte Verständnis postmoderner Romane als (theoretische) »Essays über das Lesen und Schreiben von Texten« (Vervaeck 2001: 29, vgl. Brems 2006: 522) bestätigt. »Ik hoop dat inmiddels is gebleken hoe Mutsaers door poÚticale metaforen en meerduidige poÚticale uitspraken commentaar levert op Rachels rokje en tegelijkertijd een pleidooi houdt voor een bepaalde schriftuur«9 (Sereni 2005: 374).

Dieser Auffassung des Romans ist inhärent, dass der Inhalt hinter die Metafiktion zurücktritt. Nicht die referentielle, sondern die poetische oder intertextuelle Funktion des Buches stehe zentral, so Sereni (Sereni 2005: 370), ähnlich auch Mertens: »We weten niet eens of de gebeurtenissen, waarover wordt verhaald, wel hebben plaatsgevonden of bij elkaar zijn gefantaseerd. En misschien gaat het niet eens om die gebeurtenissen, maar om de manier waarop ze door woorden zijn ingekleed«10 (Mertens 1995: 24).

Neben der Ablehnung von Referentialität wird auch Mutsaers’ Auflösung fundamentaler Begriffsoppositionen thematisiert (Reugebrink 1995: 72), wobei auch der Begriff der Dekonstruktion herangezogen wird (Sereni 2006: 134, van Uffelen 2007: 117). Bart Vervaeck sieht im Dichotomien dekonstruierenden Röckchen ein Symbol für »die flatternde Qualität der Sprache« (Vervaeck 1999: 102) und stellt so die poststrukturalistische Sprachphilosophie als treibende Kraft hinter dem Text heraus. Als zentrales Beispiel fungiert das postmodern »wuchernde« Schlüsselsymbol des Rockes (Sereni 2006: 88 f), dessen Bedeutung als »ausgesät« begriffen wird, also mit verschiedenen Bedeutungen so überfrachtet, dass kein eindeutig Bezeichnetes mehr anzuweisen ist. Es gibt allerdings auch Widerstand gegen die Annahme, Rachels rokje ginge es ausschließlich um die Dekonstruktion bestehender Ideen. Herbert van Uffelen plädiert dafür, neben den dekonstruktiven Aspekten einer so beschaffenen Derrida’schen diss¦mination auch die Freiräume zu beachten, die durch solche textliche Verfahren entstehen, wobei er den Vorgang der Dekonstruktion an sich nicht in Frage stellt. »Het gaat niet alleen om deconstructie maar ook om schepping. De tegenstellingen worden gedeconstrueerd, de hiÚrarchieÚn en het logocentrische perspectief opgeheven, om een tijd-ruimte te creÚren voor zelfbewustzijn. Begrippen als verglijden en ver9 Übers.: »Ich hoffe, dass in der Zwischenzeit deutlich geworden ist, wie Mutsaers mittels poetologisch zu verstehenden Metaphern und mehrdeutigen ebenso zu verstehenden Aussagen einen Kommentar zu Rachels rokje liefert und gleichzeitig ein Plädoyer für eine bestimmte Art zu Schreiben hält.« 10 Übers.: »Wir wissen nicht einmal, ob die Ereignisse, die erzählt werden, überhaupt stattgefunden haben oder erfunden wurden. Und vielleicht geht es nicht einmal um die Geschehnisse, sondern um die Art, wie sie in Worte gekleidet wurden.«

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schuiven maken onvoldoende duidelijk dat het doel niet de vernietiging van een structuur is, maar het scheppen van ruimte voor de zelfbewustwording […]«11 (Van Uffelen 2007: 117).

Auch andere Ansätze, dem Text abseits der metafiktionalen Ebene Aspekte abzuringen, können hier genannt werden, etwa die ethischen Lektüren von DaniÚl Rovers (2003) oder Arnold Heumakers (2003). Letzterer will die Thematik des aufgrund seiner NS-Ideologie »schuldigen« Vaters als wesentlich verstanden wissen, eine Schuld, von der sich Rachel dank der »transformierenden Kraft« und des »Vermögens zur Metamorphose« des Röckchens befreien kann (Heumakers 2003: 101). Eine detaillierte geschlechterkritische Analyse des Romans erfolgte bis dato nicht, obwohl sie schon durch die Rezeption des Textes angestoßen wurde, indem postuliert wurde, dass Rachels rokje einer spezifisch weiblichen Körperlichkeit Ausdruck verleihe. Die Abkehr von Plot, Hierarchie und Homogenität deutete Hugo Brems im Kontext der ¦criture f¦minine (vgl. Abschnitt 1.4). Auch in Deutschland wurde Mutsaers’ Roman in der FAZ ähnlich beschrieben, wenn auch die breitere theoretische Verortung nach der Art von Brems ausbleibt: »Dann ist es ein Buch, das in der Art des Beobachtens, des Beschreibens, des Empfindens Frauenliteratur im besten Sinne darstellt, denn es öffnet Männeraugen« (Schulz 1997: B5). Andererseits – oder auch komplementär zur Vorstellung weiblichen Schreibens – betont Jaap Goedegebuure in HP/De Tijd – weniger vehement auch Piet Piryns in Knack – die als »Naturgesetz« präsentierte Vorstellung weiblicher Unterwerfung, die sich durch den Roman zieht (Goedegebuure 1994). Im Folgenden soll ideologiekritisch herausgearbeitet werden, wie Rachels rokje sich im Geschlechter-Diskurs positioniert. Dies geschieht erstens anhand einer Analyse der diegetischen Niveaus, innerhalb derer die Erzählerin sowie die Figuren beiderlei Geschlechts funktionieren, um geschlechtergebundene Hierarchien feststellen zu können. Das dialogische Prinzip des Erzählens in Mutsaers’ Roman, das stellenweise auch misogyne und feministische Positionen zitiert, formt den zweiten Ausgangspunkt der Betrachtung. Drittens wird dargestellt, wie sich die weibliche Unterwerfung unter den männlichen Geliebten motiviert zeigt und auf welche bestehenden Konventionen sie rekurriert. Viertens erfolgt eine Lektüre des Romans, die sich mit dem Postulat der im zweiten Teil des Buches verorteten narrativen Wende auseinandersetzt, das von vielen 11 Übers.: »Es geht nicht nur um Dekonstruktion, sondern auch um Schöpfung. Die Gegensätze werden dekonstruiert, die Hierarchien und die logozentrische Perspektive aufgehoben, um einen Zeit-Raum für Selbstbewusstsein zu schaffen. Begriffe wie entgleiten und verschieben können nur unzureichend deutlich machen, dass das Ziel nicht die Vernichtung einer Struktur ist, sondern das Schaffen eines Raumes für die Selbstbewusstwerdung […].«

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

Forschern aufrechterhalten wird. Dies ist insbesondere in Bezug auf eine unterstellte (emanzipierende) Entwicklung der weiblichen Hauptfigur von Belang. Schließlich werden die zentralen Metaphern des aus dem Rock hervorlugenden Affenschwänzchens als phallisches Symbol sowie des Röckchens einer genauen Betrachtung unterzogen.

4.1

Diegetische Dopplungen und Identität

Erzählt wird Rachels rokje auf den ersten Blick von einer personalen Erzählinstanz, die Rachel als einzigen Fokalisator einsetzt. Die Trennung von Erzählinstanz und Fokalisator ist jedoch langfristig unhaltbar. Rachel und die Erzählstimme gehen ineinander über, die scheinbar heterodiegetische Instanz stellt sich schließlich als homodiegetisch in das Geschehen verstrickt heraus, das erzählende Ich wird zudem von anderen als Rachel Stottermaus bezeichnet (Mutsaers 1994: 296). Teilweise kann die Verstrickung naturalisiert werden, indem mit der Unterscheidung eines erlebenden und eines erzählenden Ichs eine zeitliche Dimension eingeführt wird. Dies vermag sowohl die Identifikation von als auch die Distanz zwischen den Instanzen zu erklären (vgl. Jansen 2001: 7). Dennoch weist die Offensivität des narrativen Verfahrens, etwa im raschen Wechsel der Perspektive oder der Literalisierung des emphatischen Hineinversetzens auf eine grundsätzliche Infragestellung der Identität hin: »Toen ik dit gelezen hat, voelde ik me slap en ellendig en ben ik op een holletje teruggekeerd naar het bos van haar jeugd. Daar heb ik ik weet niet hoe lang met haar hoofd in mijn handen gezeten«12 (Mutsaers 19994: 51).

Während die solchermaßen gedoppelte Stimme der Erzählinstanz und Protagonistin Rachel bereits vielfach beschrieben wurde (vgl. Jansen 2001, Sereni 2003, Rovers 2003, de Jong 2006), fand die Verschränkung anderer Figuren und Instanzen bisher kaum Beachtung. Auffällig ist dabei in erster Linie das Zusammenfallen verschiedener Instanzen im Verfahren der direkten Leseransprache, die neben der typisch postmodernen Suggestion eines »mündlichen Pakts« zwischen (den impliziten Formen von) Autor und Leser (Vervaeck 1999: 119) auch verschiedene Figuren dialogisch einbindet, ohne sie eindeutig zu benennen. »Und du, Pontia Pilata, behältst saubere Hände« (Mutsaers 1994: 22), heißt es etwa an die – kontextuell ermittelte – Adresse der Mutter nach der erfolgten Kastration der Tochter von ihrem Affenschwänzchen. Eine Umkeh12 Übers.: »Als ich das gelesen hatte, fühlte ich mich matt und elend und bin im Laufschritt zum Wald ihrer Jugend zurückgekehrt. Dort saß ich dann, keine Ahnung wie lange, ihren Kopf in meinen Händen« (Mutsaers 1997: 50).

Diegetische Dopplungen und Identität

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rung der Perspektive, in der die Tochter anstelle der Mutter mit diesem »Du« angesprochen wird, ist etwa an folgender Textstelle zu finden: »Rachels moeder laat derhalve geen gelegenheid onbenut om haar dochter in te peperen dat eigenlijk alles wat jij in je onbesuisde dartelheid onderneemt ›niet zo bie‹ is«13 (Mutsaers 1994: 69).

Mutter und Tochter, Täter und Opfer der Kastrationsszene, fallen in der kommunikativen Situation des Textes im angesprochenen Du, also extratextuell, zusammen und problematisieren damit auch auf dieser Ebene der Diegese das Konzept der Identität. Die oben beschriebene Aufspaltung der Erzählinstanz in ein älteres, erzählendes Ich einerseits und die erlebende Figur der jungen Rachel andererseits wird überdies auch gespiegelt in der Dopplung, die sich zwischen Douglas Distelvink und Ingenieur Rockgürtel zeigt. Auch sie oszilliert zwischen Einheit und Trennung. Die Entscheidung für den Namen Rockgürtel, der in wunderbarlich-ironischer Koinzidenz14 Rachels Präferenz für Röcke aufgreift, wird Douglas selbst in den Mund gelegt. Während des ersten Wiedersehens mit der erwachsenen Rachel meint er : »Maar noem mij Rokriem, ingenieur Rokriem, want ik ben veranderd sinds die tijd. Kijk maar naar mijn haar«15 (Mutsaers 1994: 55). Die Verknüpfung des Namens mit dem gealterten Äußeren wird an anderen Stellen wiederholt:16 »Hoe langer haar blik blijft hangen, hoe meer Rokriems gezicht naar de achtergrond verdwijnt om plaats te maken voor dat van Distelvink. Heel vreemd, net of grijs haar, verscherpte gelaatstrekken, en minder snelle oogopslag er niets toe doen«17 (Mutsaers 1994: 114).

Die chronologisch gebundene Namensdifferenzierung macht hier aber letztendlich der Gleichzeitigkeit Platz und lässt, wie das folgende Beispiel zeigt, die Namen je nach Situationskontext veränderlich erscheinen. Während Douglas’

13 Übers.: »Rachels Mutter läßt daher keine Gelegenheit aus, ihrer Tochter einzubleuen, daß eigentlich alles, was sie in ihrem unbesonnenen Übermut unternimmt, ›nichts Besonderes‹ ist« (Mutsaers 1997: 72). 14 Dies folgt der intertextuell angelegten Logik von Andr¦ Bretons Nadja (1928), dessen Hauptfigur für Rachel eine »Schwester« ist (Mutsaers 1994: 83). Bretons Erzählung enthält unzählige, scheinbar zufällige Zusammenhänge, die sich zwischen Breton und seiner Bekanntschaft Nadja ergeben. 15 Übers.: »Aber nenn mich Rockgürtel, Ingenieur Rockgürtel, denn ich habe mich verändert seit dieser Zeit. Schau mal meine Haare an« (Mutsaers 1997: 54). 16 Vgl. Mutsaers 2004: 106. 17 Übers.: »Je länger ihr Blick haften bleibt, desto stärker verschwindet Rockgürtels Gesicht in den Hintergrund, um Distelfinks Gesicht Platz zu machen. Seltsam, als machten graue Haare, schärfere Gesichtszüge, ein weniger schneller Lidschlag nichts aus« (Mutsaers 1997: 120).

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

Vorname für seine Lebenspartnerin reserviert ist, darf Rachel ihn nur als Rockgürtel bezeichnen: »Wanneer hij zes dagen later voor haar neus staat kann ze niet veel anders uitbrengen dan de waarheid: ›Ik heb zo naar je verlangd, Rokriem, ik heb zû naar je verlangd. Of mag ik dat niet zeggen?‹ ›Liever niet,‹ zegt hij, ›maar je doet maar. Ik ben in ieder geval content dat je me bij mijn achternaam blijft noemen. Anders kwam ik met mezelf in conflict. En als zij dat in de gaten krijgt…‹«18 (Mutsaers 1994: 186).

Die suggerierte semantische Einheit, die sowohl von Rokriem [Rockgürtel] als auch von Douglas Distelvink bezeichnet wird, erscheint allerdings an anderen Passagen ebenfalls aufgelöst: Sinnierend über den Tod, erwähnt die Erzählerin, jeder müsse sterben »so wie wir, wie Rockgürtel, wie Rachel, wie Distelvink« (Mutsaers 1994: 111) und behandelt dabei Rockgürtel und Distelvink als separate Entitäten. Als der Tod tatsächlich in das textuelle Universum eintritt, betrifft er aber beide gleichermaßen: »Van het ene op het andere moment viel Distelvink dood. Weg Rokriem«19 (Mutsaers 1994: 203). Schließlich wird der projektive Charakter von Rockgürtel betont: »Had Rokriem niet †n Rachels hoofd vorm gekregen? En als Douglas daar niet tegen kon, lag het dan niet voor de hand dat †k zou maken dat hij daar weer uit verdween?«20 (Mutsaers 1994: 283). Hier wiederum ist Douglas die (substantielle) Projektionsoberfläche für eine Wunschvorstellung (»Rockgürtel«) Rachels. Zu der Pendelbewegung zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung des Namens, Trennung zeitlicher Ebenen und Gleichzeitigkeit einer oder zwei Entitäten tritt noch die Vermengung der diegetischen Niveaus, auf denen die Figur Douglas operiert. Dieser wird nämlich im Verlauf des Berichts der Erzählerin immer wieder angesprochen. Im Unterschied zu den sonstigen Leser- oder nur aus dem Kontext abzuleitenden Figurenansprachen ist das Du hier aber durchwegs namentlich benannt. So heißt es etwa auf der Metaebene der Erzählung: »Weißt du es, Rockgürtel?« (Mutsaers 1994: 40, vgl. 107, 108), als ob er als Dialogpartner zur Verfügung stünde. Dieses Verfahren gipfelt in der ebenfalls auf dem diegetischen Niveau der Erzählerin explizit an Rockgürtel gestellten Frage, ob er sich noch erinnern könne, wie er Rachel traf, nachdem sie sich dreißig Jahre lang danach gesehnt hatte: »Komt het je weer helder voor de geest 18 Übers.: »Als er sechs Tage später vor ihrer Nase steht, bringt sie nicht viel mehr heraus als die Wahrheit: ›Ich hab mich so nach dir gesehnt. Oder darf ich das nicht sagen?‹ ›Lieber nicht‹, sagt er, ›aber bitte, wenn du’s nicht lassen kannst. Ich bin nur froh, daß du mich weiterhin beim Nachnamen nennst. Sonst käme ich mit mir selbst in Konflikt. Und wenn sie dahinterkommt …« (Mutsaers 1997: 194). 19 Übers.: »Von einer Sekunde zur nächsten fiel Distelfink tot um« (Mutsaers 1997: 211). 20 Übers.: »Hatte Rockgürtel nicht erst in Rachels Kopf Form angenommen? Und wenn Douglas das nicht ertragen konnte, war es dann nicht völlig logisch, daß ich ihn daraus auch wieder verschwinden ließe?« (Mutsaers 1997: 297).

Dialog, Profilierung und Exklusion

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of moet ik voor de zoveelste maal proberen om alles in extenso…«21 (Mutsaers 1994: 52). Wie bei allen anderen im Rahmen dieser Untersuchung behandelten postmodernen Romanen ist auch für Rachels rokje festzuhalten, dass die Subversion gängiger Identitätskonzeptionen einen wesentlichen Aspekt des Textes darstellt. Dies stellt aber die sexuierte Einbettung von Identität nicht in Frage. In Mutsaers’ Roman sind alle handelnden Personen eindeutig markiert und lassen keine Zweifel über die Geschlechtszugehörigkeit entstehen.

4.2

Dialog, Profilierung und Exklusion

Die Erzählung ist fest in weiblicher Hand und lässt explizit keine Eingriffe durch andere Figuren zu, selbst nicht seitens des idealisierten Liebesobjekts Douglas: Die Erzählerin möchte sich dessen »Heiligenstatue ein für alle Mal vornehmen […] sorgfältig abstauben […] und polieren« (Mutsaers 1994: 53), Douglas wird deshalb zum Schweigen aufgefordert: »Aber fass mir die Figur nicht an, verstanden?« (Mutsaers 1994: 53). Trotzdem ist der Roman, wie Sereni unter Rückgriff auf Bachtin argumentiert, dialogisch: Die Erzählinstanz funktionalisiere indirekt vermittelte opponierende Stimmen, um sich zu profilieren. So würde die »communis opinio« über die implizierten Durchschnittsleser, den politisch Korrekten, aber etwa auch die »emanzipierte Feministin« angesprochen, woraus sich ein »karnevalesker Diskurs« (Sereni 2006: 142) entwickle. Als Beispiel dafür führt Sereni u. a. folgende Textpassage aus Rachels rokje an: »Trouwens, zoals zij daar naast hem staat, je zou zweren dat ze hem bewaakt. Wat nu, hondentrouw? Natuurlijk! Met alles wat daarbij hoort: toewijding, adoratie, apporteerlust, afhankelijheid, onstuimigheid, onderworpenheid, achternaloperij, redeloosheid, en verlatingsangst, kortom het hele liefdesgamma dat door de vrije vrouwvan-nu met gebrek aan trots wordt aangeduid«22 (Mutsaers 1994: 54, Hervorh. im Original).

Dient die Nennung der opponierenden Position, in diesem Falle die Verachtung der modernen Frau für die romantischen und devoten Phantasien von Rachel 21 Übers.: »Steht es dir wieder klar vor Augen oder muß ich zum x-tenmal versuchen, alles in extenso …« (Mutsaers 1997: 51). 22 Übers.: »Übrigens, wie sie da so neben ihm steht, könnte man schwören, dass sie ihn bewacht. Was hör ich da, Hundetreue? Na klar! Mit allem, was dazu gehört: Hingabe, Anbetung, Apportierlust, Abhängigkeit, Ungestüm, Unterwürfigkeit, Nachlauferei, Unvernunft und Trennungsangst, kurzum die ganze Liebesskala rauf und runter, die freie Frauenvon-heute als fehlenden Stolz bezeichnen. Aber wer so redet, hat nie in der Ferne das Pfeifen des Herrchens vernommen« (Mutsaers 1997: 53, Hervorh. im Original).

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

Stottermaus, hier dem strategischen Ziel der Selbstexplikation,23 wird in einem vergleichbaren Abschnitt der allgemeine Charakter der Überlegungen unterstrichen. Die junge, aus Liebeskummer weinende Rachel wird dabei von einem Kellner bedient, der ihr schmeichelnd versichert, sie wäre zu hübsch, um so zu weinen: »Dat noem ik nog eens op je wenken bedient worden. Tegenwoordig heet zoiets seksuele intimidatie maar zij werd erdoor opgetild. Het is tragisch dat het zo is, maar als vrouw wordt je nu eenmaal liever benaderd als een Sophia Loren dan als een George Sand met een dikke sigaar in het hoofd«24 (Mutsaers 1994: 91, Hervorh. im Original).

Der Zitat- und Fremdcharakter der angeführten Meinung wird wie im obigen Beispiel von der Kursivierung unterstrichen, im Unterschied zu der ersten Textstelle relativiert die Erzählinstanz Rachels Gefühle hier allerdings teilweise selbst. Das Primat der Äußerlichkeit wird bedauert, aber dem Selbstverständnis der Frau im Allgemeinen zugeschrieben. Ähnlich wird in einer Textpassage verfahren, in der die jugendliche Rachel ihre Freundin Karin für deren Verhalten lobt, das von dem üblichen Verhalten anderer Frauen abweicht: »omdat Karin op geen enkele manier probeerde uit te vissen wat haar dreef, wat vrouwen toch meestal doen«25 (Mutsaers 1994: 177). Dies ähnelt Douglas’ Argumentation, er schätze seinen Jugendfreund Wim besonders, weil dieser eine Enttäuschung gut wegsteckte: »Maar geen kik heeft hij gegeven. Een vrouw zou drie jaar lang gesnotterd hebben«26 (Mutsaers 1994: 191). Diese auffällige Parallelität ihrer Ansichten lässt die Profilierung der Erzählerin und die Lust an der Provokation vor allem innerhalb jenes Abhängigkeitsverhältnisses funktionieren, in dem sie sich gegenüber ihrem Lehrer Douglas befindet. In ihren stereotypisierenden Ansichten spiegelt Rachel Douglas’ misogyne Einstellung. Neben seinen homophilen Tendenzen, die ihm weibliche Körper unattraktiv erscheinen lassen – er hegt etwa eine »Abneigung gegen Frauengerüche« (Mutsaers 1994: 274) – zeigt sich dieser auch nicht überzeugt von den geistigen Qualitäten von Frauen. »Unsinnige Frauenargumentationen« (Mutsa23 Auch eine andere Textpassage kann in diesem Licht gelesen werden. Als der Lehrer der jugendlichen Rachel in die Jacke helfen will, wehrt sie dies ab. »-Een geÚmancipeerd meisje. -Daarom zeg ik het niet. -Staat u me dan toe uw knopen vast te maken? -Natuurlijk« (Mutsaers 1994: 146). Schnellstmöglich versucht Rachel hier den Anschein der Emanzipation zu tilgen, geht es ihr doch einzig um die Vermeidung kindlichen Verhaltens. 24 Übers.: »Das nenne ich gut bedient werden. Heutzutage nennt man so was sexuelle Belästigung, aber sie wurde dadurch wieder aufgerichtet. Es ist tragisch, daß es so ist, aber als Frau läßt man sich nun mal lieber wie eine Sophia Loren behandeln als wie eine George Sand mit dicker Zigarre im Gesicht« (Mutsaers 1997: 94, Hervorh. im Original). 25 Übers.: »[…] weil Karin überhaupt nicht versuchte herauszufinden, was sie dazu trieb, was Frauen sonst doch meist tun« (Mutsaers 1997: 185). 26 Übers.: »Aber er hat keinen Ton gesagt. Eine Frau hätte drei Jahre lang geflennt« (Mutsaers 1997: 198).

Dialog, Profilierung und Exklusion

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ers 1994: 148), tut er eine Frage von Rachel ab, und in einem Streit mit seiner Lebensgefährtin Teddy äußert er ironisch: »›De Koninklijke Akademie van Wetenschappen verkeert al jaren in een crisis doordat ik mijn vrouw aan de wetenschap onthouden heb en de Emancipatieraad heeft ook al op de stoep gestaan.‹ Toen begon het aardig te spannen.«27 (Mutsaers 1994: 240).

Douglas wird als Mann dargestellt, der mit der Eigenständigkeit moderner Frauen seine Schwierigkeiten hat: »Maar ook dat is modern, dat vrouwen hopla de benen nemen, schijnt erbij te horen« (Mutsaers 1994: 180).28 Die gemeinsame Ablehnung dessen, was als weiblich verstanden wird, eint schließlich die beiden Protagonisten. In Telefongesprächen, die Rachel als Jugendliche mit ihrem Lehrer führt,29 geht es neben anderen Themen um »de verwerpelijkheid van vrouwelijke emoties en over de verwerpelijkheid van de vrouw in het algemeen«30 (Mutsaers 1994: 183). Da im Gestus der Exklusion auch sein Gegenteil enthalten ist, muss der Fokus an dieser Stelle auf die Tatsache gelegt werden, dass die Zitation misogyner Stereotypen offensichtlich neben der von Sereni genannten Profilierung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft auch dem Schaffen einer verschworenen Gemeinschaft zwischen Rachel und Douglas dient. Karnevalesk im Sinne gleichwertig nebeneinander gereihter Stimmen stellt sich der Diskurs mit den opponierenden Meinungen jedoch nicht dar, da die eigenwillige Haltung Rachels die Narration und damit die fiktionale Welt dominiert. Es wird aber auch deutlich gemacht, dass dies nicht die realen Kräfteverhältnisse abbildet. Rachels eigenwillige Haltung widerspricht klar nicht nur den Überzeugungen vernachlässigbarer Interessensgruppen, sondern weicht von der gesellschaftlich vorherrschenden Meinung ab. Insbesondere die intertextuelle Beziehung zu Gustave Flauberts Madame Bovary kann in diesem Licht besehen werden.31 Ein besonders wichtiger Faktor in der Parallelität zwischen den beiden Protagonistinnen ist die gesellschaftliche Haltung gegenüber ihren romantischen Überzeugungen, die auch in Rachels rokje Eingang findet. Nur die »grotesken« Aspekte von Flauberts Roman werden bei Vortragenden und Publikum eines Flaubert-Abends wahrgenommen, mit Emma als »bespottenswertem Mittelpunkt« (Mutsaers 1994: 284), berichtet Rachel: 27 Übers.: »›Die königliche Akademie der Wissenschaften steckt seit Jahren in der Krise, weil ich meine Frau der Wissenschaft vorenthalten habe, und der Gleichstellungsrat ist mir auch schon auf die Bude gerückt.‹ Da wurde die Luft ganz schön dick« (Mutsaers 1997: 252). 28 Übers.: »Aber auch das ist modern, daß Frauen sich hopplahopp aus dem Staub machen, scheint dazuzugehören« (Mutsaers 1997: 187). 29 Der Status dieser Telefongespräche innerhalb des textuellen Universums ist nicht eindeutig, es kann sich um reine Phantasien handeln. Sie seien hier als Satellitenwelten analysiert. 30 Übers.: »die Verwerflichkeit weiblicher Emotionen. Über die Verwerflichkeit der Frau im allgemeinen« (Mutsaers 1997: 190). 31 Zur intertextuellen Beziehung der beiden Texte ausführlich Sereni 2003.

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

»Praktisch het hele forum zat Emma af te kammen. Alsof het de onnozelste vrouw was die ooit op aarde had rondgelopen. Totaal mislukt: als moeder, als minnares, als doktersvrouw en als vrouw in het algemeen. Zelfs haar kleding moest het ontgelden«32 (Mutsaers 1994: 285).

Damit spricht Rachel neben der Verachtung für die trivialen Romane als Quelle von Emmas Überzeugungen vor allem deren Verhaltensverstöße gegen die bürgerliche Ordnung an. Ihrerseits reproduziert und inszeniert sie diese Verstöße, indem sie die von ihr abgelehnten allgemeinen Auffassungen immer wieder herbeizitiert, auch wenn sie nicht den realen Widerständen entsprechen sollten. Rachels eigene Handlungen, auch die bewusste Unterwerfung unter den geliebten Lehrer und Freund, erscheinen so als Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen, schreiben sich gleichzeitig aber in das Muster der tradierten Geschlechterassymmetrie ein.

4.3

Asymmetrie der Geschlechter

Die im vorigen Abschnitt bereits skizzierte Abhängigkeit Rachels von Douglas gestaltet sich nicht ausschließlich als »unumkehrbar« hierarchische Beziehung zwischen »Schüler und Lehrer«(Mutsaers 2004: 106), sondern präsentiert sich darüber hinaus in der Terminologie des Verhältnisses von »Herr und Hündin« (Mutsaers 1994: 54). Das Abhängigkeitsverhältnis steht im Zeichen des Glaubens an die romantische Liebe und Treue, geht aber in seiner Geschlechterimplikation deutlich darüber hinaus. Eingeführt wird der Hundevergleich nur in Bezug auf die erwachsene Rachel. Rachel, die Douglas immer wieder unbeabsichtigt siezt, hört in ihm »His Master’s Voice« (Mutsaers 1994: 54). Dies ist ein Zitat aus jener Grammophon-Werbung vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, die mit der gleichlautenden Bildunterschrift einen andächtig lauschenden Hund vor einem Phonographen zeigt, wodurch Rachel in einer intertextuellen Transponierung des Bildes die Hunderolle zukommt. Erscheint der Hund in dem herangezogenen Prätext durch das Personalpronomen »his« noch männlich beziehungsweise geschlechtsneutral, wird die Relation von Hund und Herr bei Mutsaers eindeutig in eine traditionell heterosexuelle Beziehung eingeschrieben, in der nur dem Mann die Rolle des Herrn zukommt. Zur Illustration sei das betreffende Zitat, das an anderer Stelle bereits auszugsweise behandelt wurde, hier in voller Länge angeführt. 32 Übers.: »Praktisch das ganze Forum fiel über Emma her. Als wäre sie die einfältigste Person, die man auf Erden je gesehen hat. Total gescheitert: als Mutter, als Geliebte, als Arztgattin und ganz allgemein als Frau. Sogar ihre Kleidung wurde durchgehechelt. Ihr ganzes romantisches Lebensgefühl sei eine Imitation billiger Groschenromane« (Mutsaers 1997: 299).

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»Trouwens, zoals zij daar naast hem staat, je zou zweren dat ze hem bewaakt. Wat nu, hondentrouw? Natuurlijk! Met alles wat daarbij hoort: toewijding, adoratie, apporteerlust, afhankelijheid, onstuimigheid, onderworpenheid, achternaloperij, redeloosheid, en verlatingsangst, kortom het hele liefdesgamma dat door de vrije vrouwvan-nu met gebrek aan trots wordt aangeduid. Maar wie zo praat heeft nooit het verre fluitje van de baas vernomen. De wet van de hartstocht zegt: Baas en Teef. Trots heeft daar niets mee te maken. Verstand ook niet. Verruking alles«33 (Mutsaers 1994: 54, Hervorh. im Original).

Der Kontrast zwischen Verstand und Gefühl,34 der im letzten Satz aufgerufen wird und innerhalb dessen das Herr/Hündin Verhältnis situiert wird, suggeriert zwar, es ginge um die Romantik an sich, unabhängig vom Geschlecht des Romantikers. Schon die Konkretisierung des Herr/Hund Verhältnisses als Beziehung zwischen Besitzer und Hundeweibchen allerdings lenkt den Fokus wiederum auf das Geschlechterverhältnis und demonstriert eine Kontinuität der geschlechtlichen Markierung selbst in der nur angedeuteten, nicht literalisierten Transformation zum Tier. Eine weitere Realisierung der Metapher in Rachels rokje verbindet aufs Neue die Unterwerfung mit Weiblichkeit und die Beherrschung mit Männlichkeit und bildet damit bekannte hegemoniale Formationen ab. Die Erzählerin zitiert aus den Liebesbriefen Apollinaires an Louise de Coligny : »Du musst mir untertan sein«, lautet seine Forderung, der das Angebot gegenübersteht: »ik geef me helemaal aan je, maar als je meester die je aanbidt, je moet van mij zijn«35 (Mutsaers 1994: 54). Die totale Hingabe auf Seiten des Mannes lässt keine Unterwerfung zu, sondern verlangt sie nur von der Geliebten. Die devote Geste der Geliebten wiederum wird von der Erzählerin in Mutsaers’ Roman als legitimes Mittel zum Zweck umgedeutet: »Deze adorabele wolvin, het absolute tegendeel van een juffershondje,36 bood hem vrijwillig het weekste van haar keel en liet zich aanlijnen. In plaats van het imperatieve 33 Übers.: »Übrigens, wie sie da so neben ihm steht, könnte man schwören, daß sie ihn bewacht. Was höre ich da, Hundetreue? Na klar! Mit allem, was dazu gehört: Hingabe, Anbetung, Apportierlust, Abhängigkeit, Ungestüm, Unterwürfigkeit, Nachlauferei, Unvernunft und Trennungsangst, kurzum, die ganze Liebesskala rauf und runter, die freie Frauen-von-heute als fehlenden Stolz bezeichnen. Aber wer so redet, hat nie in der Ferne das Pfeifen des Herrchens vernommen. Das Gesetz der Leidenschaft lautet: Herr und Hündin. Mit Stolz hat das nichts zu tun. Mit Verstand auch nicht. Nur mit Verzückung. Wer wäre denn sonst schon bereit, dafür mit dem Leben zu bezahlen« (Mutsaers 1997: 54, Hervorh. im Original). 34 Vgl. auch eine nüchterne Überlegung Rachels, die wie folgt kommentiert wird: »Maar haar hart lachte haar verstand zo hard uit dat het van schaamte ineenkromp« (Mutsaers 1994: 62). Übers.: »Aber ihr Herz lachte ihren Verstand so laut aus, dass er vor Scham schrumpelte.« 35 Übers.: »Ich gebe mich dir ganz hin, aber als dein Herr, der dich anbetet, du mußt mir gehören« (Mutsaers 1997: 54). 36 Dieser Begriff verweist auf Douglas abschätzige Bemerkungen über »das durchschnittliche Schoßhündchen« (Mutsaers 1994: 39).

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

wees de mijne het slaafse ik ben de uwe. Maar zo werd ze wel zijn maitresse archich¦rie. Zo kreeg ze wel een zachte vacht. Daar is niets slaafs aan«37 (Mutsaers 1994: 55, Hervorh. im Original).

Die Unterordnung wird hier zur bewussten Strategie umdefiniert, die Asymmetrie zwischen den Geschlechtern wird von der Erreichung des Ziels verdeckt. Der Erfolg von Louise de Coligny steht dabei im krassen Kontrast zu Rachel, deren Verhalten der gleichen Logik folgt. Ihr Scheitern als Besitzobjekt im Allgemeinen und Hund im Besonderen ist ihr aber durchaus bewusst: »Als je me niet uitlaat waarom heb je me dan in godsnaam aangelijnd«38 (Mutsaers 1994: 117), will, aber kann sie Douglas nicht vorwerfen. Dieser sehnt sich wie Apollinaire nach Herrschaft über eine Frau, wobei die Unterwerfung einen explizit sexuellen Charakter hat, wie sich aus seinen Äußerungen über seine frühere Frau erweist: »Aan de ene kant wou ik namelijk een moeder, dat klopte want zij was acht jaar ouder dan ik, maar aan de andere kant wou ik juist dat zij de wolf was en dat ik de enige op de hele wereld zou zijn die haar kon onderwerpen. Op zijn hondjes!«39 (Mutsaers 1994: 135).

Neben dem Verlangen nach hündischer Unterwerfung strebt Rachel ebenso danach, für Douglas eine Mutterfigur zu sein, worin sie schon aufgrund ihres kantigen Körpers scheitert (Mutsaers 1994: 164). »Ja, jij houdt van huisvrouwen, ik weet het, je bent er dol op. Je loopt er warm voor als een zoontje voor de bezems van zijn moeder. Maar vergis je niet, ik kan er ook wat van«40 (Mutsaers 1994: 52).

Der von Douglas herangezogene Hundevergleich (»op z’n hondjes«) erscheint überdies als motiviert durch die sexuellen Praktiken homosexueller Männer. Vielfach werden textuelle Signale ausgesendet, die Douglas als latent homosexuell darstellen: Als Lehrer berührt er zärtlich die Wangen ausschließlich der Jungen (Mutsaers 1994: 38), er empfindet eine »Abneigung gegen weibliche 37 Übers.: »Diese anbetungswürdige Wölfin, das totale Gegenteil eines Schoßhündchens, bot ihm aus freien Stücken die weichste Stelle ihrer Kehle dar und ließ sich anleinen. Statt des befehlenden Sei die Meine das sklavische Ich bin die Ihre. Aber so wurde sie eine ma„tresse achich¦rie. So bekam sie ein weiches Fell. Daran ist nichts Sklavisches« (Mutsaers 1997: 54, Hervorh. im Original). 38 Übers.: »Wenn du mich nicht ausführst, warum, in Gottes Namen, hast du mich dann angeleint« (Mutsaers 1997: 123). 39 Übers.: »Einerseits suchte ich ja eine Mutter, das paßte, sie war nämlich acht Jahre älter als ich, aber andererseits wollte ich gerade, daß sie der Wolf war und ich der einzige auf der ganzen Welt, der sie unterwerfen konnte« (Mutsaers 1997: 140). 40 Übers.: »Ja, du magst Hausfrauen, ich weiß, du bist verrückt nach ihnen. Kannst dich dafür begeistern wie ein Sohn für die Besen seiner Mutter. Aber täusch dich nicht, ich kenn mich da aus« (Mutsaers 1997: 52).

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Gerüche« (Mutsaers 1994: 274), betrachtet Frauen lieber von hinten als von vorne, »als wäre der Rücken die Vorderseite« (Mutsaers 1994: 264), erzählt von seinem Kindheitsfreund Wim, den er »liebte« (Mutsaers 1994: 189) und gibt Rachel männliche (Kose-)Namen wie Kareltje. Sein geliebtes Auto benennt er zwar nach einer Tänzerin, formt den Namen aber männlich um, was die Erzählerin wie folgt begründet: »Laat ik zeggen dat hij iets meer met mannen ophand dan met vrouwen. Toen ik hem ernaar vroeg werd hij ziedend en zei: ›Jij rijdt toch ook liever op een hengst dan op een merrie, Kareltje?‹«41 (Mutsaers 1994: 270).

Angesichts dieser Präferenz von Douglas versucht Rachel konsequenterweise, ebenso Junge zu sein, wie sie für ihn Hund ist. Im 10. Abschnitt von Rachels rokje wird das Gleichnis eines Pferdes erzählt, das sich danach sehnt, trotz seiner Größe auf dem Schoß seines Reiters zu sitzen. Im 36. Abschnitt wiederholt sich dies Szene teilweise wortgleich, als Rachel auf Douglas’ Schoß sitzen will und ebenfalls nur den Kopf auf seine Beine legt: »Het liefst zou ze bij hem op schoot willen klimmen, maar ze is een vrouw. ›Al die overgave,‹ zegt hij, ›wat ben je nog een kind. Je doet me denken aan Wim, Wim met een rokje aan.‹ Het kind drijft roerloos in zijn armen weg«42 (Mutsaers 1994: 191).

Ihr So-Sein als erwachsene Frau hindert sie daran, die kindliche Rolle einzunehmen, die sie ihrer Ansicht nach spielen müsste, um Douglas’ Begehren zu wecken: »Ik zag mezelf glashelder weerspiegeld in zijn donkere ogen, met alles erop en eraan maar dan in het klein en met een paardenstaart erbij«43 (Mutsaers 2004: 242). Hier zitiert Rachel ihre eigene jugendliche Erscheinung herbei: »Ein Mädchen, obenrum völlig platt, mit einem roten Pferdeschwanz […]«44 (Mutsaers 1994: 91). Konkret will Rachel die Rolle des geliebten Freundes Wim einnehmen: »der 41 Übers.: »Ich will’s mal so ausdrücken, für Männer hatte er mehr übrig als für Frauen. Als ich ihn danach fragte, wurde er fuchsteufelswild und sagte: ›Du reitest doch auch lieber auf einem Hengst als auf einer Stute, Kareltje?‹« (Mutsaers 1997: 284). 42 Übers.: »Am liebsten würde sie ihm auf den Schoß klettern, aber sie ist eine Frau. ›Soviel Hingabe‹, sagte er, ›was für ein Kind du noch bist. Du erinnerst mich an Wim, Wim mit einem Röckchen.‹« (Mutsaers 1997: 199). 43 Übers.: »Ich sah mich selbst glasklar in seinen dunklen Augen gespiegelt, so wie ich war, nur im Miniformat und mit Pferdeschwanz« (Mutsaers 1997: 255). 44 Mehrmals wird Rachel als Mädchen mit dünnen Beinen und flachem Oberkörper beschrieben. Selbst als die Menstruation einsetzt und die Mutter sie als »Frau« tituliert, stellt sich der damenhafte Zustand nicht ein, da die Monatsbinde und die dünnen langen Beine ein anderes Bild aufrufen: »Met wijdbeense passen verlaat je de slaapkamer : een zieke cowboy met een rokje aan, lamstraliger kan bijna niet« (Mutsaers 1994: 130). Übers.: »Breitbeinig schreitest du aus dem Schlafzimmer : ein kranker Cowboy mit einem Röckchen, widerlicher geht es fast nicht mehr« (Mutsaers 1997: 136).

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

Junge mit der Mäusetreppe war ich«45 (Mutsaers 1994: 193), beschwört sie Douglas, und nimmt diese Identifikation so ernst, dass sie seinen Einwänden mit einem Gespräch »von Mann zu Mann« (Mutsaers 1994: 193) begegnet. Dieser jedoch möchte Rachel in ihrer Hunderolle halten: »›Hoe kan dat nou,‹, zei hij, ›daarnet was je nog een hondje met een vacht‹«46 (Mutsaers 1994: 193). So sehr die erwachsene Rachel Hund und begehrenswerter (junger) Mann sein möchte, um Douglas’ Begehren auf sich zu ziehen, so sehr trachtet die jugendliche Rachel, die von seinen Vorlieben nichts ahnt,47 für den gealterten Lehrer Frau zu sein. Sie fühlt sich zu Unrecht »reduziert« zu einem »Kleinkind« (Mutsaers 1994: 132). Dafür verleiht das spaßeshalbere Siezen des Lehrers »haar meisjesbenen nylons, haar voeten pumps, haar handen gelakte nagels en haar wangen een blos«48 (Mutsaers 1994: 132). Der eigene Körper ist Rachel dabei im Weg, ihr Neid richtet sich auf Douglas’ Partnerin, deren Leibesfülle sie in epischer Breite beschreibt: »Als ik eerlijk ben moet ik zeggen dat ik de dikte van de vriendin wat overdreven heb. […] Het was meer dat Rachel zelf een jongenslichaam bezat […]«49 (Mutsaers 1994: 164). Auf die Hunderolle für (die erwachsene) Rachel können sich Douglas und Rachel schließlich einigen, auch, weil sie Rachel gegenüber der rundlichen Lebenspartnerin Teddy ein Distinktionsmerkmal verleiht. Jene betont nämlich: »Ik was geen hondje, ik ben geen hondje en ik zal er nooit een zijn«50 (Mutsaers 1994: 242), während Rachel offensteht für : »Het aanlijnen, het vastpakken, het a tergo, alles wat het hondenhart dicteert«51 (Mutsaers 1994: 242). Dabei handelt 45 In vieler Hinsicht spiegelt sich hier Rachels Verhältnis zu ihrem Vater, für den sie ebenfalls »ein Sohn mit einem Röckchen« ist (Mutsaers 1994: 211). Vgl. auch Rachels Phantasie über das Dasein als Junge (Mutsaers 1994: 80). 46 Übers.: »›Das mußt du mir erst erklären‹, sagte er, ›gerade warst du noch ein Hund mit einem Fell.‹« (Mutsaers 1997: 201). 47 Wahrscheinlich geht es um Verdrängung. Douglas’ Plädoyer für das Sammeln sexueller Erfahrungen, um zu verstehen, dass Männer unterschiedliche Vorlieben hätten, und seinen Wunsch, seine Exfrau a tergo als Wölfin zu unterwerfen, quittiert die Erzählerin so: »In het verhaal van de wolf had misschien ook wel een opening gezeten maar daar wou ze voorlopig niet aan terugdenken, het had haar van alle kanten beangstigd, ingesloten en zelfs pijn gedaan« (Mutsaers 1994: 138). Übers.: »Im Märchen vom Wolf hätte sich vielleicht auch ein Anknüpfungspunkt finden lassen, aber daran wollte sie vorläufig nicht zurückdenken, das hatte ihr in jeder Hinsicht angst gemacht, sie eingeschnürt und sogar verletzt« (Mutsaers 1997: 143) 48 Übers.: »das verlieh ihren Mädchenbeinen Nylons, den Füßen Pumps, den Händen lackierte Nägel und den Wangen einen rosa Schimmer« (Mutsaers 1997: 138). 49 Übers.: »Wenn ich ehrlich bin, muß ich zugeben, daß ich die Korpulenz der Freundin ein bißchen übertrieben habe. […] Es lag eher daran, daß Rachel einen Knabenkörper hatte […]« (Mutsaers 1997: 170). 50 Übers.: »Ich war kein Hund, ich bin kein Hund und ich werde nie einer sein« (Mutsaers 1997: 254). 51 Übers.: »Das Anleinen, das Drücken, das A-tergo, alles, was das Hundeherz diktiert« (Mutsaers 1997: 255).

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es sich keineswegs nur um die freiwillige Unterwerfung Rachels an einen imaginierten Herrscher, sondern um Forderungen von Douglas, der Rachel bei Abweichung von dem gewünschten Skript in die untergeordnete Rolle zurückzitiert: »Toetsie macht das auch nicht« (Mutsaers 1994: 115), weist er sie unter Bezugnahme auf ihren eigenen Hund zurück, und auch ihren Widerstand gegen eine seiner Aufforderungen quittiert er mit einer Erinnerung an ihre hündische Ergebenheit. »Ik zeg: ›Commandeer je hond en blaf zelf.‹ Hij zegt: ›Je was mijn hond toch, ben je dat vergeten?‹ met zo’n hele zachte stem.«52 (Mutsaers 1994: 224).

Auffällig ist hier, dass das von Rachel zitierte Sprichwort, das die Verweigerung eines Befehls ausdrückt, in seiner sprachlichen Präsentation in einem Kontext, in dem der Befehlsverweigerer selbst »Hund« ist, ambivalent ist, wird doch der Befehlsträger damit aufgefordert, seine Kommandos auf seinen Hund zu beschränken. Damit funktioniert Rachels Widerstand nur als Scheinereignis, das die dahinterliegende Übereinkunft über das Herr und Hund bzw. Knecht-Verhältnis desto deutlicher hervortreten lässt.53

4.3.1 Die weibliche Perversion der Madame Bovary Aus zwei Textpassagen wird schließlich ersichtlich, dass die Position Rachels als Unterworfene einer Strategie der Unterdrückung ihrer eigenen Wünsche folgt. Als sie, noch jugendlich, ihren Lehrer begehrt, muss sie die Subjektposition austauschen, um sich seiner sicher sein zu können: »Ze kijkt omhoog, Hij is het kostbaarste dat ze bezit en ze bezit hem niet eens. Dat kan ze niet verwerken. Ooit zal hij h‚‚r echter bezitten, zeker is zeker«54 (Mutaers 1994: 43).

Ähnlich verhält es sich nach einem Telefongespräch mit Douglas, als Rachel sich zwar automatisch mit der Formel »zu Ihren Diensten« meldet, danach aber »durcheinander von dem untertänigen Gestammel« ist und sich auf einer Bank ausruhen muss, wo sich ihre Erregung Bahn bricht. 52 Übers.: »›Kommandier deinen Hund!‹ Er sagt: ›Du warst doch mein Hund, hast du das vergessen?‹, mit so einer samtweichen Stimme«(Mutsaers 1997: 235 f). 53 Die Dialektik von Herr und Knecht mit der ihr inhärenten Abhängigkeit ist es auch, die Douglas in der Begegnung mit der erwachsenen Rachel als »Ingenieur Rockgürtel« auftreten lässt, als eine Figur, die ihren Rock zusammenhalten muss. Sie sorgt außerdem dafür, dass Rachel und Rockgürtel »zo verweven als wat« sind (Mutsaers 1994: 283, vgl. Abschnitt 4.4). 54 Übers.: »Sie schaut hoch. Er ist das Kostbarste, was sie besitzt, und sie besitzt ihn nicht mal. Das kann sie nicht verkraften. Eines Tages wird er sie jedoch besitzen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche« (Mutsaers 1997: 41).

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

»Hier maakt de ontzetting algauw plaats voor genot. Maar nu ben je dusdanig op gang dat je vergeet dat het om zijn verruking gaat en niet om de jouwe. Als je dan toch oefenen wilt, doe het dan andersom«55 (Mutsaers 1994: 184).

Eine psychoanalytische Lesart kann hinter dieser einer Selbstdisziplinierung entsprungenen Unterwerfung eine (unbewusste) Maskerade entziffern, wie sie etwa in Louise Kaplans Weibliche Perversionen beschrieben wird. Das Stereotyp der Weiblichkeit fungiert für Kaplan als »perverse« Strategie,56 um die verbotenen männlichen Aspekte – im Falle von Rachel die Lust sowie der Wunsch, Douglas zu besitzen – zu verbergen. Dabei verwendet Kaplan Emma Bovary als Modell für die weibliche Perversion. »Emma maskiert sich als hörige femme ¦vapor¦e, um vor der Welt und vor sich selbst ihre aktiven sexuellen Wünsche und ihre intellektuellen Ambitionen zu verbergen, die in ihrer Welt Privileg der Männer waren« (Kaplan 1991: 259).

Ausgerechnet Flauberts Romanfigur Emma fungiert auch als konkretes und ausdrücklich benanntes Vorbild für Mutsaers’ Protagonistin. Sereni liest Rachels rokje gar als »kreative Fortsetzung« von Flauberts Roman.57 Rachel bewundert an Emma die Erotik, die sie mittels des Einsatzes ihrer Kleidung – Rock und Stiefel – auszuspielen vermag.58 Generell sind es, wie Sereni in ihrem Aufsatz zur Verbindung zwischen Flaubert und Mutsaers zeigt, die romantischen Auffassungen über Liebe, die Rachel übernimmt: Eine geistige Verwandtschaft ist etwa spürbar, wenn die Liebe auf beide Figuren wie ein Blitz einschlägt (Sereni 2003: 143).59 Mit Rachels von Emma übernommener Unterwerfung unter den Mann 55 Übers.: »Hier weicht das Entsetzen bald dem Genuß. Aber jetzt bist du derart auf Touren, daß du vergißt, daß es um seine Verzückung geht und nicht um deine. Wenn du unbedingt üben willst, dann dreh den Spieß um« (Mutsaers 1997: 192). 56 In Kaplans Definition von Perversität wirken Geschlechterstereotypen und infantile Idealisierungen zusammen (Kaplan 1991: 26). 57 Als Jules de Gaultier mit Le Bovarisme. La psychologie dans l’oeuvre de Flaubert (1882) den Terminus des Bovarismus prägte, war es eine negativ verstandene Realitätsflucht, die ihn definierte. Jene Ausformung des Madame Bovary-Syndroms, die Bart Vervaeck in Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman als typisch für den Postmodernismus beschreibt, ist frei von dieser negativen Konnotation. Es ist der Wunsch – in Übereinstimmung mit der generellen postmodernen Überzeugung, dass Echtheit und Wahrheit keine validen Kategorien sind – das Leben nach einem Roman zu gestalten (Vervaeck 1999: 65). In Rachels rokje tritt mit der konkreten Emma als Modell für Rachel dieser so verstandene Bovarismus quasi in Reinform auf. 58 Eine intertextuelle Lektüre insbesondere der Bovary-Stiefel in Rachels rokje liefert Sereni 2003. 59 Die intertextuelle Beziehung zwischen den beiden Figuren ist, wie Verstraten argumentiert, für die Ich-Erzählerin eine Lösungsstrategie für die Unmöglichkeit, die Leidenschaft und Liebe in Worte zu fassen: »Hoe kun je dan de hartstocht vertellen? De verwijzing naar Flaubert bevat de kiem van een uitweg: de beste manier om passie weer te geven is om een al gefictionaliseerd stramien te volgen. Het lijkt een alleszins effectieve methode om aan een

Narrative Wende und Emanzipation im Bildungsroman

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wird ein kulturelles Muster zitiert, das Frauen in eine passive Haltung zwingt und das in seiner Übersteigerung Passivität in Hörigkeit übersetzt. Der Clou eines solchen Verhaltens ist, dass es gerade in seiner psychischen Abweichung (der Perversion im Sinne Kaplans) eine logische Weiterentwicklung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt, wie Rachels Verweis auf andere hörige Frauen verdeutlicht. Die typisch weibliche Perversion Rachels begrenzt außerdem deutlich jenen unter Abschnitt 4.2 angesprochenen Befreiungsakt, der verheißen hatte, sie aus dem Korsett bestehender Konventionen zu lösen.

4.4

Narrative Wende und Emanzipation im Bildungsroman

In diesem Abschnitt soll die Rolle der Erzählerin von Rachels rokje als Gestalterin eines textuellen Universums thematisiert werden und die gängige Rezeption, die die zwischen dem ersten und dem zweiten Romanteil erfolgte inhaltliche Wende auch als Entwicklung der Figur Rachel interpretiert, einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Die im Roman angesprochene »Verstrickung« van Rachel und Douglas (Mutsaers 1994: 283) nicht nur durch Liebesbande, sondern auch auf dem Niveau der narration (i. S. Genettes) stellt die Erzählerin vor ein Problem, als sie die Möglichkeit erwägt, die Figur Douglas aus dem Text herauszuschreiben. Auch Rachel würde einer solchen Tat zum Opfer fallen und mit ihr, so die unausgesprochene Drohung, die ihr durch die Verstrickung der diegetischen Niveaus verbundene Erzählerin selbst. »Zo vreemd was het niet. Had Rokriem niet †n Rachels hoofd vorm gekregen? En als Douglas daar niet tegen kon, lag het dan niet voor de hand dat †k zou maken dat hij daar weer uit verdween? Het probleem was alleen dat ik niet wist hoe ik het aan moest pakken. Douglas kon dat nu wel willen, maar ik was ervan overtuigd dat ik Rokriem nooit in Rachel om zou kunnen brengen zonder dat zij daarmee zelf vorgoed verdween. Die twee waren zo verweven als wat. Dat maakte me radeloos. Maar toen kwam de dood in eigen persoon zich ermee bemoeien en diende zich aan. Ik zeg niet dat hij helemaal niet als geroepen kwam, ik zeg ook niet dat ik niet heel eventjes heb moeten denken aan een deus ex machina, wat doet het er ook toe. Hij kwam, hij zag en nam ze allebei mee. E¦n kreet en weg waren ze. En nu zitten ze dan in mijn hoofd, samen, klaar voor de rit«60 (Mutsaers 1994: 283). scene waar de passie van afspat te refereren en die vervolgens te voorzien van een nieuwe context« (Verstraten 2010: 72). Übers.: »Wie kann man dann von Leidenschaft erzählen? Der Verweis auf Flaubert enthält bereits den Keim einer Lösung: Die beste Art, Leidenschaft darzustellen ist die, sich nach einem fiktionalisierten Muster zu richten. Es scheint in jeder Hinsicht eine effektive Methode zu sein, sich auf eine von Leidenschaft getränkte Szene zu beziehen und dieser dann einen neuen Kontext zuzuweisen.« 60 Übers.: »So seltsam war das nicht. Hatte Rockgürtel nicht erst in Rachels Kopf Form an-

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

Diese oft zitierte Textpassage aus Rachels Rokje bildet für Aagje Swinnen in ihrer Studie Het slot ontvlucht zum weiblichen Bildungsroman den Wendepunkt, der eine Entwicklung der Erzählerin anstößt: »Distelvinks dood betekent de doorbraak van Rachels schrijverschap buiten de contouren van de romance«61 (Swinnen 2006: 181). Es ist die Loslösung aus dem romantischen Skript des intertextuell eng verwobenen Schicksals von Emma Bovary, die sich nach Swinnen nur durch den »Mord« an Douglas realisieren lässt.62 »Er doet zich tussen de plooien en ›Skatjsok‹ dus een ontwikkeling van het hoofdpersonage voor van een onschuldige tiener, bevangen door een kalverliefde, naar een schuldige schrijfster, die de dood van Rokriem op haar geweten heeft«63 (Swinnen 2006: 179).

Swinnen ist mit ihrer Sicht auf die Erzählerin als Mörderin nicht allein: Sie beruft sich auf Bart Vervaeck, der aus der Passage ebenso Umkehrung der Verhältnisse ableitet: »Als personage is Rachel de slaaf van Distelvink, als vertelster is ze zijn moordenaar«64 (Vervaeck 1994: 71). Die auffällige Passivität, die sich die Erzählerin im Kontext des Todes von Douglas dabei zuschreibt, findet in der Sekundärliteratur zu Rachels rokje bis dato keine Beachtung. Doch Rachel inszeniert sich als »ratlos«, der Tod trifft die Figur wie ein »deus ex machina« und tritt personifiziert auf, wie um die Schuld auf sich zu laden. Auch ist im Zusammenhang mit Douglas’ Tod die Rede von »Geschehnissen, die sich dazwischen drängen«, »echter als ich es aushalten könnte« (Mutsaers 1994: 288). In der Einschreibung in das Herr/Hündin Verhältnis erscheint gar Douglas als der aktive Part, der Rachel im Stich lässt: »[N]iemand die een waarachtig honden-

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genommen? Und wenn Douglas das nicht ertragen konnte, war es dann nicht völlig logisch, daß ich ihn daraus auch wieder verschwinden ließe? Das Problem war nur, daß ich nicht wußte, wie ich es anstellen sollte. Ob Douglas das nun wollte oder nicht, ich war mir ganz sicher, daß ich Rockgürtel nie in Rachel umbringen könnte, ohne damit nicht auch sie verschwinden zu lassen. Die beiden waren total miteinander verstrickt. Das machte mich ratlos. Aber da nahm der Tod höchstpersönlich die Sache in die Hand und meldete sich zur Stelle. Ich sage nicht, dass er völlig ungerufen kam, ich sage auch nicht, daß ich nicht für einen Moment an einen Deus ex machina denken mußte, aber was tut das schon zur Sache. Er kam, sah und nahm sie beide mit. Ein Aufschrei, weg waren sie. Und jetzt sitzen sie also in meinem Kopf, gemeinsam, abfahrbereit« (Mutsaers 1997: 297). Übers.: »Distelvinks Tod bedeutet den Durchbruch für Rachels Autorschaft außerhalb der Konturen der Romanze.« Im Kontext der intertextuellen Beziehung liest Swinnen das wiederholte Aufwehen des Rockes in Rachels rokje, das in Emma Bovary den Tod der Protagonistin andeutet, als Erwartung von Rachels Tod, die vom Tod des männlichen Objekts der romantischen Sehnsucht kontrastiert wird und so eine Art Emanzipation aus dem Skript ermöglicht. Übers.: »Zwischen den Falten und ›Skatschok‹ vollzieht sich die Entwicklung der Hauptfigur von einem unschuldigen Kind, von ›Kälberliebe‹ befangen, zur schuldigen Schriftstellerin, die den Tod von Rockgürtel auf ihrem Gewissen hat.« Übers.: »Als Figur ist Rachel Douglas’ Sklavin, als Erzählerin ist sie seine Mörderin.«

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hart in zijn borst draagt kan zich ook maar in de verste verten voorstellen dat zijn heer en meester hem ooit zal laten vallen«65 (Mutsaers 1994: 194). Douglas’ Tod ist ein Ereignis, das einer außertextuellen Wirklichkeit gleich in das textuelle Universum eintritt und das aber in einer wörtlichen Lesart nicht von der Erzählerin initiiert wird. Dieser Eindruck erfährt eine Verdichtung durch die Darstellung an anderen Stellen des Romans, in denen nicht nur die Perspektive von Douglas in Anspielung auf die Konvention des allwissenden Erzählers explizit ausgeblendet wird, sondern seine Handlungen als unkontrollierbare, außertextliche Realität erscheinen. »Terwijl Rokriem bij Ivy’s Flowershop een bosje leukodendron in laat pakken – wij weten dat niet doordat we alwetend zijn maar simpelweg doordat hij daar die dag mee aan kwam zetten en doordat de firmanaam zo duidelijk op het pakpapier te lezen was – staat Rachel in een glanzende panty en een groen truitje voor een imposante spiegel met een gouden kuif«66 (Mutsaers 1994: 112).

Der emanzipatorische Akt, der der Erzählerin als vorsätzlicher Mörderin zugeschrieben wird und mit dem sich die Erzählerin auch von der abhängigen Figur Rachel zu lösen trachtet – Swinnen konkludiert: »Daardoor verdwijnt Rachel, die zich als teef door Rokriem liet aanlijnen en haar meisjesbestaan inrichtte op het vooruitzicht van hun toenadering«67 (Swinnen 2006: 179) – ist in einer wörtlichen Lektüre keiner, weil die Erzählerin nicht explizit als Mörderin auftritt. In diesem Kontext ist außerdem bemerkenswert, dass Douglas ebenfalls Handlungen tätigt, die als Mordabsicht gedeutet werden können. In zwei Szenen schließt er seine Hände um Rachels Hals, ohne dass es dafür eine Erklärung gäbe: eine Reanimation, die er an Rachel durchführt, gestaltet sich sehr ambivalent: »Toen ik bijkwam en mijn ogen opensloeg lag hij met zijn handen om mijn keel en zijn mond wagenwijd geopend op de mijne«68 (Mutsaers 1994: 279). Douglas schnürt Rachel also die Luft ab, während er ihr über die Lippen Atemluft einbläst. In einer anderen Textpassage äußert sich Douglas über die schmale Taille von Rachel, schließt aber in weiterer Folge seine Hände um ihren Hals 65 Übers.: »Keiner, in dessen Brust ein wahrhaftes Hundeherz schlägt, kann sich auch nur im Traum vorstellen, daß sein Herr und Meister ihn je fallen lässt« (Mutsaers 1997: 202). 66 Übers.: »Während Rockgürtel bei Ivys Flowershop ein Sträußchen Leukodendron einpacken ließ – das wissen wir nicht, weil wir allwissend sind, sondern ganz einfach, weil er an dem Tag damit ankam und weil der Geschäftsname so deutlich auf dem Einpackpapier zu lesen war –, steht Rachel in einer glänzenden Strumpfhose und einem grünen Pulli vor einem imposanten Spiegel mit vergoldetem Aufsatz« (Mutsaers 1997: 117). 67 Übers.: »Dadurch verschwindet Rachel, die sich als Hündin von Rockgürtel anleinen ließ und ihr Mädchenleben auf die Aussicht auf ihre Annäherung einrichtete.« 68 Übers.: »Als ich zu Bewusstsein kam und die Augen aufschlug, lag er, die Hände um meinem Hals, den Mund sperrangelweit aufgesperrt, auf meinem Mund« (Mutsaers 1997: 294).

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»alsob das die Taille wäre«, wodurch Rachel »het benauwd kreeg« [keine Luft mehr bekam]69 (Mutsaers 1994: 280). Wenn auch Douglas’ Taten konsequenzlos bleiben, erweist er sich innerhalb der textuell aktualen Welt im Gegensatz zu Rachel durchaus als »realer« Gewalttäter. Die an beiden Seiten in unterschiedlicher Ausprägung und Qualität verortete Gewalt aktualisiert zudem den an verschiedenen Stellen in Rachels rokje konkret genannten Prätext von Heinrich von Kleists Penthesileia, einer Tragödie, die sich schließlich um einen Liebeskampf entwickelt.70 In der Interferenz durch die Leser mag die Auslöschung von Figuren aus der Handlung einer Geschichte kausal zwar der Erzählerin bzw. der Autorin (deren Name als Anagramm Rachel Stottermaus ergibt) zugeschrieben werden; die diesbezüglich seltsam passive Positionierung der Erzählerin aus Mutsaers Roman schafft allerdings keine Eindeutigkeit. Dahingegen wird in Rachels rokje präzise beschrieben, wie brutal die Erzählinstanz diesbezüglich vorgehen kann. Demonstriert wird die finale und effektive Auslöschung von Objekten oder Figuren aus ihrem fiktionalen Leben anhand einer Schüssel mit Austern, die im zweiten Kapitel im Rahmen der Vorbereitung eines festlichen Weihnachtsessens

69 Übers.: »und schloß seine Hände um meinen Hals, als ob es die Taille wäre« (Mutsaers 1997: 295). 70 Aus der Geschlechter-Perspektive besonders interessant ist die Berufung auf Penthesilea, weil mit der Gestalt einer Amazone eine kriegerische Frau introduziert wird, deren Eigenschaften tradierten Geschlechtszuschreibungen diametral entgegengesetzt sind. Dies vermag den performativen Charakter von Geschlecht herauszukehren, gerade, wenn dies wie bei Kleist außerhalb der typisch komödiantischen Amazonen-Plots erfolgt. In der aktuellen Kleist-Forschung wird jedoch betont, dass gerade die Begegnung Penthesileas mit Achilles eine »Wahrheit« hinter dem sozialen Konstrukt des Geschlechts im strukturalen Kontext der Amazonengesellschaft freilegt, die im Einklang mit essentialistischen Auffassungen von Geschlecht steht. Ricarda Schmidt beschreibt in ihrem Aufsatz Performanz und Essentialismus von Geschlecht bei Kleist, wie Penthesileas »tierhafte Wildheit« zunehmend von Schwäche und dem Wunsch nach Unterwerfung abgelöst wird. »Entgegen dem ersten Eindruck, daß Penthesilea weibliche Möglichkeiten jenseits binärer Geschlechtsidentitäten verhandelt, wird durch Penthesileas Unterwerfungssehnsucht und physische Schwäche gegenüber Achill zunehmend suggeriert, dass ihre sogenannte ,natürliche‹ Weiblichkeit durch ihre Liebe für Achilles an den Tag gebracht wird, dass jedoch deren Verwirklichung durch ihre internalisierte amazonische Identität verhindert wird. Die Tatsache, dass diese unter dem Amazonentum hervorbrechende Weiblichkeit konzeptionell essentialistischen Geschlechtskonzeptionen um 1800 nachgebildet ist, demonstriert, dass Kleist hier einen extremen Fall von Kultur oder Performanz gegen Natur oder Wesen ausspielt« (Schmidt 2011: 385). Das Ende der Tragödie lege die Schlussfolgerung nahe, dass zu strenge gesellschaftliche Normen destruktiv für das Individuum sein können, vor allem, wenn sie nicht im Einklag mit den natürlichen Wesenszügen lägen (Schmidt 2011: 385). Charlotte Mutsaers’ Rachel allerdings verabschiedet sich schließlich in ihrer Trauer um Douglas von der Identifikation mit der Amazone aus Kleists Drama, das ihr Douglas einst empfohlen hatte (vgl. Mutsaers 1994: 292).

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thematisiert wird und schließlich aufgrund des Attentats auf Rachels Vater keine weitere Rolle mehr spielt: »Soms overvalt je plotseling de wreedheid van de schrijver in zijn eigen boek. De snoerende wreedheid van een rokriem zou ik ook niet platonisch willen noemen maar als je met eigen ogen ziet hoe je pen, ter typering van wat dan ook, rustig zesendertig oesters op een balkon neerschrijft om ze goed te houden in de winterkou, en hoe diezelfde oesters al een paar alinea’s later compleet aan hun lot worden overgelaten omdat ze niet langer van pas komen, zul je moeten toegeven: d‚t is pas kaltstellen«71 (Mutsaers 1994: 41).

Von einer ähnlichen erzählerischen Nichtbeachtung des »ermordeten« Douglas kann hingegen nicht die Rede sein: Auch nach dem von Swinnen als Wendepunkt betrachteten Skatschok Kapitel präsentiert sich die Narration als zentriert um das Verhältnis von Douglas und Rachel. In den Gesprächen mit den Richtern rekonstruiert die Erzählerin die letzten Treffen mit Douglas schließlich bis ins Detail. Douglas wird also keineswegs aus der Narration herausgeschrieben, wie dies bei den kaltgestellten Austern der Fall war. Sein physischer Tod hat nur Auswirkungen auf die Dynamik zwischen den Figuren derselben diegetischen Ebene, nicht aber auf den Umfang der Rolle, die ihm aufgrund dieser Analepsen als Figur postum zubedacht ist. Zudem besteht, wie unter Abschnitt 4.1 dargelegt, Grund zur Annahme, Douglas sei in seiner Funktion als Ingenieur Rockgürtel als Ansprechpartner auf einer höheren diegetischen Ebene präsent.72 Nur vorläufig wird der Tod so als ein fundamentaler Einschnitt präsentiert, der die zyklische Struktur des Romans mit ihrer repetitiven Verschränkung der Begegnungen von Rachel und Douglas an verschiedenen Stellen endgültig durchbricht: »De dwaalleer dat het leven cyclisch is. Als het leven ophoudt draait het niet meer door. Nooit« (Mutsaers 1994: 203).73

71 Übers.: »Manchmal überfällt einen plötzlich die Grausamkeit des Autors in seinem eigenen Buch. Die einengende Grausamkeit eines Rockgürtels möchte ich auch nicht gerade platonisch nennen, aber wenn man mit ansieht, wie die eigene Feder, um, egal was, zu charakterisieren, seelenruhig sechsunddreißig Austern auf einen Balkon hinschreibt, um sie in der Winterkälte frisch zu halten, und wie ebendiese Austern schon ein paar Absätze weiter völlig ihrem Schicksal überlassen bleiben, weil sie nicht mehr länger gebraucht werden, dann muß man schon zugeben: So was nennt man kaltstellen« (Mutsaers 1997: 39, Hervorh. im Original). 72 Der Tod des Geliebten folgt außerdem dem intertextuellen Skript der teils gar erstrebenswerten, weil romantischen Verbindung zwischen Liebe und Tod. Sereni stellt diese Verbindung in ihrer intertextuellen Lektüre von Rachels rokje dar (Sereni 2003: 146, 157). 73 Übers.: »Der Irrglaube, das Leben drehe sich im Kreis. Wenn das Leben aufhört, dreht es sich nicht mehr weiter. Niemals« (Mutsaers 1997: 211).

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Dieses scheinbar finale Urteil wird sogleich relativiert: »Es sei denn, die Phantasie eilte zu Hilfe. Als Rettungsbrigade« (Mutsaers 1994: 203). In der Phantasie können Douglas und Rachel weiterleben, indem die Erzählerin Douglas eine Metamorphose in ein Fahrrad der Marke Raleigh74 durchleben lässt: »Als fiets zul je in me voortleven, vogeltje dat zo mooi zingen kon, als fonkelende herenfiets met alles erop en eraan […]«75 (Mutsaers 1994: 203). Diese Vorstellung schreibt sie gezielt in die zyklische Struktur ein, indem sie mit der expliziten Nennung der Verkehrsinsel (»vluchtheuvel«), den Ort der früheren einschneidenden Begegnungen von Rachel und Douglas wieder aufruft. »[…] roep ik dan komt het stalen ros subiet de hoek omjagen, tring, tring, vluchtheuvel op vluchtheuvel af […] en als ik hem oproep komt hij eraan, tring tring, en Rachel zit voorop, met een broek aan deze keer, wat willen jullie op een herenfiets, trouwens het rokje was gebroken […]«76 (Mutsaers 1994: 204).

In klarer Abweichung gegenüber den früheren Szenarien mit Rachel und Douglas ist hier allerdings Douglas in der Rolle des Unterworfenen, als Fahrrad, das nicht nur von einer hosentragenden Rachel gelenkt wird, sondern auch von der Erzählerin herbeigerufen werden kann. Konterkariert wird diese Phantasievorstellung jedoch von der textuell aktualen Welt, die am Ende des Romans beschrieben wird. Dort berichtet die Erzählerin, wie sie sich neben Douglas’ Leiche ins Bett legt und schließlich mit geschürztem Rock das Totenzimmer verlässt, »[u]m ihm so lange wie möglich eine Aussicht auf meine Tätowierung zu gewähren« (Mutsaers 1994: 293), auf jene Tätowierung in ihrem Schambereich, die mit Tannenzweig und Distelfink Rachel und Douglas symbolisch vereinigt. Am Tag nach Douglas’ Tod erreicht die Erzählerin ein Brief, den er vor seinem Tod an sie abgeschickt hat. Darin legt er ihr in Form eines jiddischen Liedes nahe, statt eines verliebten Kälbchens – eine beleidigende Zuschreibung, die die Mutter der jugendlichen Rachel getroffen hatte – eine »Schwalbe« zu sein. »Toen schijn ik zingend uit het postkantoor te zijn gekomen. Toen schijnen de mensen elkaar te hebben aangestoten: ›Sta stil, hou je vast, Rachel Stottermaus komt eraan. In haar rokje!‹ Maar toen was ik al verdwenen. Op mijn fiets. Degeen die u voor u heeft is iemand anders«77 (Mutsaers 1994: 296). 74 Christine Hermann weist darauf hin, dass der Markenname auch als Variante von Rachels eigenem Namen (Ragheil) und so als Verschmelzung beider Figuren gelesen werden kann (Hermann 2008: 455). 75 Übers.: »Denn du wirst als Fahrrad in mir weiterleben, Vögelchen, das so schön singen konnte, als funkelndes Herrenrad mit allen Schikanen« (Mutsaers 1997: 211). 76 Übers.: »[…] wenn ich rufe, kommt auf der Stelle das Stahlroß um die Ecke gefegt, klingeling, von einer Verkehrsinsel zur nächsten, […] wenn ich es beschwöre, kommt es sofort, klingeling, und Rachel sitzt vorn drauf, diesmal in Hosen, so gehört es sich auf einem Herrenrad, und übrigens war das Röckchen entzwei […]« (Mutsaers 1997: 212). 77 Übers.: »Dann scheine ich singend aus dem Postamt gekommen zu sein. Dann scheinen sich

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Anstatt der postulierten erzählerischen Wende bleibt die Narration auch hier in der zirkulären Struktur verhaftet, lautet doch der Romanbeginn: »Sta stil, hou u vast: Rachel S. komt eraan. In haar rokje!« (Mutsaers 1994: 13). Von der Hose, die sie auf dem Herrenfahrrad tragen muss, das Douglas in ihrer Phantasie sein soll, ist in der Schlussszene keine Rede mehr, und das Fahrrad wird auch nicht als Herrenfahrrad der Marke Raleigh identifiziert, wie es im Kontext der Metamorphose von Douglas stets geschah. Auch die Identifikation mit Rachel (»Rachel Stottermaus komt eraan«) bei gleichzeitiger Distanzierung von ihr (»Degeen die u voor u heeft…«) weicht nicht von den unter Abschnitt 4.1 präsentierten Verfahren der Erzählinstanz ab, die den ganzen Roman prägen. Schließlich erzählt das Ich, der Brief sei von »Rockgürtel« geschrieben worden (Mutsaers 1994: 294), und installiert damit aufs Neue und postum das hierarchische Verhältnis zwischen Rock und Rockgürtel, das schon beendet schien. Überdies steht auch das Bild der Schwalbe, zu der Rachel gemäß dem von Douglas zitierten Lied werden soll – »Wolst gekent doch sajn a foigl // wols gekent doch sajn a schwalb« (Mutsaers 1994: 295) – im Dienste der Zirkularität. Dem Roman vorangestellt ist das Gedicht »Jugend« von Marina Tsvetajeva, in der die Jugend assoziativ mit der Schwalbe (und einem himbeerroten Röckchen) verknüpft wird, während dem lyrischen Ich im Abschied von der Jugend ein hexenartiges Dasein bevorsteht (»Weldra toverkol en niet meer zwaluw«).78 Nach ihrem Abschiedsbesuch im Totenzimmer von Douglas blickt Rachel in den Spiegel und erblickt »eine Hexe« (Mutsaers 1994: 294), wohlgemerkt in der gleichen Terminologie (»een toverkol«), die auch im Mottogedicht verwendet wird.79 Sie befindet sich so in der gleichen schmerzvollen Situation des Abschieds wie Tsvetajevas lyrisches Ich. Doch durch Douglas’ postume Botschaft beschwingt, kann Rachel die ungewünschte Metamorphose umkehren und singend und schwalbenhaft (und mit einem Röckchen bekleidet) wieder in jene Jugend zurückkehren, die von heftigen romantischen Gefühlen begleitet war. Wenn Jos Gerits Rachels rokje als Entwicklung der Hauptperson »vom Kälbchen zur Schwalbe« beschreibt (Gerits 1994: 537), lässt er den repetetiven Charakter des Szenarios außer Acht. die Leute angestupst zu haben: ›Stop, halten Sie sich fest, Rachel Stottermaus ist im Anmarsch. In ihrem Röckchen!‹ Aber da war ich bereits verschwunden. Auf meinem Rad. Diejenige, die Sie vor sich haben, ist jemand anders« (Mutsaers 1997: 309). 78 In der deutschen Übersetzung des Gedichts von Ralph Dutli, die in der deutschen Ausgabe von Rachels rokje aufgenommen wurde, ist diese Unterscheidung weniger deutlich als in der abgedruckten niederländischen Bearbeitung von Marko Fondse. Heißt es bei Dutli: »Bald schon muß ich Schwalbe zu den Hexen!« (vgl. Mutsaers 1997: 9), was ein Weiterbestehen als Schwalbe impliziert, lautet die gleiche Zeile auf niederländisch: »Weldra toverkol en niet meer zwaluw« (vgl. Mutsaers 1994: 11), was eine Ablösung der einen durch die andere Erscheinungsform nahelegt. 79 Dies, obwohl dies nicht zwingend ist, weil die niederländische Sprache mit »heks« auch ein gebräuchliches Synonym kennt.

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Neben der Zirkularität des Geschehens, die formal durch das Wiederaufgreifen der Eingangsmotive und -bilder in der Schlusssequenz des Romans verdichtet wird, ist hier besonders von Belang, dass der Anstoß und die inhaltliche Ausgestaltung der Verwandlung in eine Schwalbe von Douglas entwickelt wird, während die Erzählerin schlicht Douglas’ Aufforderungen folgt. Dieses Phänomen taucht an mehreren Schlüsselstellen des Romans auf: »[D]u wirst mich in dir selbst umbringen müssen« (Mutsaers 1994: 280), beschwört Douglas Rachel, woraufhin sein Tod eintritt.80 Ebenso verhält es sich mit der Vorstellung des Weiterlebens als Fahrrad (Mutsaers 1994: 285) und dem Lied der Schwalbe, das Douglas ihr brieflich zukommen lässt: »Eerst heb je mij losgezongen van mijn betekenis, nu is het de beurt aan jezelf. Jij die zoveel liedjes kende en het mooiste niet. Leer het uit je hoofd […] en zing het op de fiets«81 (Mutsaers 1994: 295).

Nicht nur erweist sich hier aufs Neue Douglas’ Rolle als Ideengeber, die Textpassage problematisiert überdies das diegetische Niveau von Douglas. Zwar wird die Existenz des Briefes damit erklärt, dass er ihn noch an seinem Todestag abgeschickt hätte, von seinem »Bedeutungsverlust« spricht er allerdings in der Vergangenheitsform, als gäbe es, ähnlich wie im Verhältnis der Ich-Erzählerin zu Rachel, eine Mischform der Identität, die eine gleichzeitige Existenz auf mehreren diegetischen Ebenen ermöglicht und vor allem eine mögliche Weiterexistenz von Douglas andeutet (vgl. Abschnitt 4.1).82 Das Postulat einer narrativen Wende, die mit Douglas’ Tod eintritt,83 unter80 Die Erzählerin ist ratlos, wie sie dieser Aufforderung begegnen soll. Sie weint, u. a. »[o]mdat ik hem om moest brengen. Omdat ik niet wist hoe dat moest zonder diamanten gordel met een dolk erin«, hier wird auf Kleists Penthesilea verwiesen (Mutsaers 1994: 281). Übers.: »Weil ich ihn umbringen mußte. Weil ich nicht wußte, wie ich das anstellen sollte, ohne diamantbesetzten Gürtel mit Dolch« (Mutsaers 1997: 296) 81 Übers.: »Zuerst hast du mich von meinem Sinn freigesungen, jetzt bist du selbst an der Reihe. Du, die du so viele Lieder kanntest, nur das schönste nicht. Lern es auswendig […] und sing es auf dem Rad« (Mutsaers 1997: 309). 82 Diese Lesart kann auch direkte Ansprachen Rockgürtels durch die Erzählerin sinnvoll integrieren, so etwa folgende Textpassage: »Geen coup de foudre zo origineel of hij kan zich herhalen, Rokriem. Weet je het nog? Weet je nog hoe je zomaar tegen haar opbotste terwijl zij als dertig jaar buiten zwierf om dat voor elkaar te krijgen?« (Mutsaers 1994: 52). Übers.: »Kein Coup de foudre so originell, als daß er sich nicht wiederholen könnte, Rockgürtel. Weißt du noch? Weißt du noch, wie du zufällig mit ihr zusammengestoßen bist, obwohl sie schon dreißig Jahre lang die Gegend unsicher machte, um das hinzukriegen?« (Mutsaers 1997: 51). 83 Die Wende betrifft vor allem formale Variationen der Struktur des Romans. Mit der Schilderung des Todes von Douglas endet die Erzählung in der Form von Rockfalten. Der Rock bleibt »unvollendet« zurück, die Erzählerin muss aus dem kaputten Rock »aussteigen« (Mutsaers 1994: 203). Der darauf folgende Abschnitt »Skatschok«, kündigt die Änderung im Erzählverhalten an. Das implizit dialogische Erzählen des Rockfalten-Teils weicht mit »Rachels Röckchen revisited« einer expliziten Dialogik zwischen der Erzählinstanz und den

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liegt so deutlichen Einschränkungen, nämlich erstens jener Passivität der Protagonistin und Erzählerin in der Mordfrage und zweitens der erzählerischen Perpetuierung des Verhältnisses zwischen Rachel und Douglas über dessen Tod hinaus. Überdies ist es auch nicht möglich, Figur und Erzählerin Rachel definitiv in ein Verhältnis von distanziertem, erzählenden Ich und überwundenem, erlebenden Ich zu fassen, was einen Ausstieg aus dem zirkulären Szenario rechtfertigte. Die bereits dargelegte diegetische Verstrickung bleibt nicht ohne Konsequenzen für den emotionalen Abstand zu der Figur, aus der sich die spätere Erzählerin entwickelt haben könnte. In »Rachels rokje revisited«, jenem Gespräch mit Richtern, das zeitlich nach Douglas Tod situiert ist, fallen beide Instanzen weitgehend zusammen. Die Erzählerin berichtet fast ausschließlich in der Ich-Perspektive von Erlebnissen mit Douglas und lässt keine kommentierende oder urteilende Distanz zu dem erlebenden Ich erkennen. Dadurch folgt auch die durch Douglas’ Tod »befreite« Erzählerin in ihrer Retrospektion dem gleichen romantischen Skript wie die Figur Rachel. Die folgende Textpassage unterstreicht die Abwesenheit dieser Distanz besonders, da die Richter kritisch nachhaken, als die Erzählerin von heimlich ausgetauschten Blicken mit Douglas berichtet. So schaffen sie für die Erzählerin die Möglichkeit, vergangene Ereignisse einer neuen Interpretation zu unterziehen, die von der reinen Perzeption der erlebenden Figur abweicht:84 »– We wisselden alleen wat blikken van verstandhouding. […] – Projecteerde u dat er niet zelf in? – Waarin? – In zijn liefdevolle blik. – Zei ik dat die blik liefdevol was? – Daarom kunt u er nog wel wat in projecteren. – Dat was niet nodig. Ik zag mezelf glashelder weerspiegeld in zijn donkere ogen […]«85 (Mutsaers 1994: 242). Richtern, die eine diffuse Schuldfrage (an der Verwandtschaft zum »schuldigen« Vater, an dem Mord an Douglas) zu klären trachten. 84 An einigen Stellen des Romans ist dies durchaus der Fall, wenn etwa in einem an den stream of consciousness erinnernden Verfahren Rachels Gedanken über das rundlich-weibliche Aussehen der Freundin ihres Lehrers ausführlich wiedergegeben werden. Am Ende der betreffenden Textstelle schreitet die Erzählerin ein: »Als ik eerlijk ben moet ik zeggen dat ik de dikte van de vriendin wat overdreven heb« (Mutsaers 1994: 164) und liefert sogar eine psychologisierende Interpretation für die vorurteilsbehaftete Wahrnehmung der jugendlichen Rachel. Übers.: »Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich das mit der Körperfülle seiner Freunding etwas übertrieben habe.« 85 Übers.: »Wir wechselten nur ein paar einvernehmliche Blicke. […] – Haben Sie das nicht hineininterpretiert? – Wohinein? – In seinen liebevollen Blick? – Habe ich gesagt, daß der Blick liebevoll war? – Dennoch könnten Sie doch etwas hineininterpretieren. – Das war nicht

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In der immer wieder suggerierten Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart kann sich die Erzählerin nicht von ihrer Figur emanzipieren: »Maar ik hoor gestommel. Misschien heeft Rachel intussen de bovenste tree weer bereikt en trappelt ze om bij hem binnen te gaan. Wie houdt haar tegen. Ik niet«86 (Mutsaers 1994: 111).

Auch jener an anderer Stelle bereits angeführte Gegensatz von Herz und Verstand, der die beiden Ebenen des Ich trennen könnte, erweist sich als unhaltbar. Zu Anfang des Textes wird noch suggeriert, das romantische Verlagen sei durch das Herz und gegen den Verstand diktiert: »De wet van de hartstocht zegt: Baas en Teef. Trots heeft daar niets mee te maken. Verstand ook niet. Verruking alles«87 (Mutsaers 1994: 54). In weiterer Folge wird jedoch auch das Gehirn als »fühlendes« Organ dargestellt, das sich ebenso der Kontrolle des Subjekts entzieht: »[…] toen had zij ook nog niet de opdringerigheid ervaren van ervaringen die n†et worden opgedaan. Moest ze nog ervaren dat ›Af‹ zeggen tegen de orenloze hersens, ›Af‹ zoals dat wel gezegd wordt tegen een springerige hond, niets uithaalt. Hersens blijven hersens en denken en voelen wat ze willen. Daarin heb jijzelf geen zeggenschap. Niets in te brengen dan lege briefjes. De wil, de vrije, vrije wil«88 (Mutsaers 1994: 174).

Eine kritische Kontrollinstanz, die das romantische Verlangen einzuordnen oder zu relativieren vermag, ist hier nicht auszumachen.89 Anstelle einer teleologischen Entwicklung oder wie auch immer gearteten Emanzipation der Figur tritt die Wiederholungsschleife. »De liefde verklaren, Franklin, dat is geen peulenschil […] Hoe dan ook, Rachel […] vond daar de woorden niet voor. Stelde het uit en uit. Totdat zij verdween. Met dat

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nötig. Ich sah mich selbst glasklar in seinen dunklen Augen gespiegelt […]« (Mutsaers 1997: 255). Übers.: »Aber ich höre Gepolter. Vielleicht ist Rachel inzwischen wieder auf der obersten Stufe angekommen und zappelt vor Ungeduld, bei ihm eintreten zu können. Wer hält sie zurück. Ich nicht« (Mutsaers 1997: 116). Übers.: »Das Gesetz der Leidenschaft lautet: Herr und Hündin. Mit Stolz hat das nichts zu tun. Mit Verstand auch nicht. Nur mit Verzückung. Wer wäre denn sonst schon bereit, dafür mit dem Leben zu bezahlen« (Mutsaers 1997: 54). Vgl. hierzu auch das den Verstand »auslachende« Herz (Mutsaers 1994: 62). Übers.: »[…] aber damals hatte sie auch noch nicht die Penetranz von Erfahrungen erlebt, die ausblieben. Da mußte sie noch erfahren, daß ›Aus!‹ zu einem Hirn ohne Ohren zu sagen, ›Aus!‹, wie man etwa zu einem anspringenden Hund sagt, nichts nützt. Hirn bleibt Hirn, und es denkt und fühlt, was es will. Dabei hast du nichts zu melden. Nichts einzubringen als leere Zettel! Der Wille, der freie, freie Wille!« (Mutsaers 1997: 181). Auch der Wille kann ausgeschlossen werden: »Op dit soort dingen heeft de wil geen vat. Zoals hij ook geen vat heeft op de plooienval van uw rokje. De wind, dat is de enige die er vat op heeft en die is nu net ongrijpbaar, als laat hij ons soms achter in grote verslagenheid« (Mutsaers 1994: 150).

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uitstel begint ons verhaal. Met die verdwijning houdt het niet op. Hoe zou een nachtkaars die nooit gebrand heeft immers uit kunnen gaan«90 (Mutsaers 1994: 48).

Hier wird ausdrücklich auf die Kontinuität der Handlung verwiesen, die sich klar in eine Zirkelstruktur einschreibt: »Die Geschichte« endet eben nicht, wie die Ebene des r¦cit, mit Rachels fröhlicher Befreiung auf dem Fahrrad.

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Phallus und (symbolische) Kastration

Dem bekannten niederländischen Kinderlied »Er zat een aapje op een stokje« [Ein Aff ’ auf einem Stöckchen saß] kommt in Rachels rokje eine wichtige Rolle zu, fungiert es doch als Marker für die symbolische Kastration der jungen Rachel. Die abweisende Mutter lehrt Rachel »das Lied vom Rock«, das in seiner expliziten Darstellung innerhalb des Gegensatzpaares von Mann und Frau als eine Art Einführung in das Dasein als Frau verstanden werden kann: »De kleren maken de man. En de rok, het rokje, de plooienval maakt de vrouw. Het liedje van de kleren wordt je bijgebracht door je vader. Maar je moeder leert je het liedje van de rok. Uit wraak dat je hun hele buik hebt uitgewoond leren sommige moeders een vals liedje. Vals, omdat het je opzadelt met gemis«91 (Mutsaers 1994: 19).

Die angesprochene Leerstelle, die aus dem Lied über das Äffchen, aus dessen Rock ein Schwanz ragt, abgeleitet wird, wird textuell als Verlust des Schwanzes determiniert, der einer von der Mutter ausgeführten Kastration zum Opfer fällt: »[…] want onder het fijn geborduurde apenrokje bevindt zich de wilde apenstaart. Zoals d†e tekeer kan gaan. Slaat constant maar van links naar rechts en wipt omhoog. Vooral dat laatste. Soms lijkt het wel of alle wildheid zich in die ene staart heeft samengeperst. Tegen haar. Dus als die staart straks nog niet tot bedaren komt, ook na een paar fikse klappen niet, dan moet hij het zelf maar weten. En zij ook. Dat gaat hij eraf. Bastacanasta!«92 (Mutsaers 1994: 22). 90 Übers.: »Eine Liebeserklärung, Franklin, das ist kein Kinderspiel. […] Wie dem auch sei, Rachel […] fand nicht die richtigen Worte. Schob es immer wieder auf. Bis sie verschwand. Mit diesem Aufschieben fängt unsere Geschichte an. Mit diesem Verschwinden hört sie nicht auf. Wie könnte eine Kerze, die nie gebrannt hat, denn je verlöschen« (Mutsaers 1997: 47). 91 Übers.: »Kleider machen Leute. Und der Rock, das Röcken, der Faltenwurf die Frau. Das Lied von den Kleidern wird dir vom Vater beigebracht. Aber die Mutter lehrt dich das Lied vom Rock. Aus Rache, weil man ihnen den Bauch ausgeleiert hat, lehren einen manche Mütter ein falsches Lied. Falsch, weil es dir ein Manko aufbürdet« (Mutsaers 1997: 17). 92 Übers.: »[…] denn unter dem feinbestickten Affenröckchen verbirgt sich der wilde Affenschwanz. Wie der sich aufführen kann. Schlägt ständig von links nach rechts und wippt hoch. Vor allem letzteres. Manchmal könnte man fast meinen, alle Wildheit hätte sich in diesem Schwanz geballt. Gegen sie. Wenn also der Schwanz sich nicht bald beruhigt, auch nicht nach

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Mit einer Schere schneidet die Mutter eine Öffnung in den Rock, um den Schwanz sichtbar zu machen (Mutsaers 1994: 22) und lässt diesen von der »gehorsamen« Tür abklemmen, die antropomorphisiert als Vollstreckerin des mütterlichen Willens auftritt (Mutsaers 1994: 23). »Hi! Hi! Nu ligt het staartje op het gangzeil. Ha! Ha! Het prille rokje zit vol bloed«93 (Mutsaers 1994: 23). Dieser Akt geht, das wird schnell deutlich, über die symbolische Kastration bei Freud und Lacan hinaus, die im Wesentlichen in der väterlichen Drohung beschlossen liegt.94 Dort ist es das der symbolischen Ordnung zugehörende väterliche Verbot, das es dem Kind jeglichen Geschlechts untersagt, für die Mutter »Phallus zu sein« und damit deren Nicht-Haben eines Phallus auszugleichen, das sie mittels des Kindes zu überwinden sucht. Das Affenschwänzchen in Rachels rokje ist ein phallisches Symbol par excellence: Nicht nur referiert es in seiner Form an das erigierte männliche Genital,95 es ist ebenso wie der Phallus bei Lacan (und teilweise bei Freud) eben gerade nicht nur auf das naturgegebene Genital beschränkt: »Vielmehr ist der Kastrationskomplex eingebettet in ein soziales Beziehungsgefüge, in welchem der Wunsch nach dem Phallus mit einem gesellschaftlichen Verbot korreliert. Dieses Verbot betrifft beide Geschlechter und es ist der Vater, der es – im Namen des Gesetzes – ausspricht« (Pagel 1991: 99).

Über die anatomische Komponente im Denken Lacans und damit über die stabile Bindung der (kastrierenden) Rolle an das Geschlecht des Vaters herrscht Uneinigkeit. Zwar ist das väterliche Gesetz theoretisch nicht an ein Geschlecht geknüpft und eher als Funktionsbeschreibung zu sehen, die von unterschiedlichen Akteuren (Mutter, Lehrer, Ordnungsmacht) besetzt werden kann (u. a. Pagel 1991: 107). Der solcherart symbolische Vater ist aber, so die feministische Kritik, ausschließlich »verkörpert […] in männlichen Gestalten.« Lacan stellt, wie Lindhoff schreibt, »die symbolische Ordnung mit ihrer hierarchischen Aufteilung der Geschlechtsrollen nicht in Frage, sondern affirmiert sie, als sei sie naturnotwendig« (Lindhoff 2003: 76).96 Das Naheverhältnis bzw. die Identifi-

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ein paar tüchtigen Klapsen, dann muß er es selbst wissen. Und sie auch. Dann kommt er runter. Bastacanasta!« (Mutsaers 1997: 20). Übers.: »Hi! Hi! Jetzt liegt der Schwanz auf dem Linoleum im Flur. Ha! Ha! Das zarte Röckchen ist blutverschmiert« (Mutsaers 1997: 21). Sereni verwendet ebenfalls den Begriff der symbolischen Kastration, sieht aber die Körperlichkeit und Konkretheit des Bildes als Versuch, das Mutter-Tochter-Verhältnis zu zeigen, anstatt zu beschreiben (Sereni 2006: 93). Das im Übrigen auch nur zum Phallus werden kann, weil es gerade in seiner wahrgenommenen Abwesenheit beim weiblichen Geschlecht als vom Rest des Körpers abgelöste Entität begriffen werden kann. Was Lacan allerdings leistet, ist Folgendes, wie Braun beschreibt: Er löst das Gesetz des Vaters von der expliziten Personalisierung der auf das Dreieck Mutter-Vater-Kind beschränkten Theorie Freuds und ergänzt dieses »struktural«, indem er es abstrahierend die Traditionen mehrerer Generationen miteinbeziehen lässt (Braun 2007: 121).

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kation von Penis und Phallus hat Lacan in seiner eigenen Textpraxis nicht aufgebrochen.97 Insofern stellt Rachels rokje mit der kastrierenden Mutterfigur eine wichtige Abweichung von dem psychoanalytischen Modell dar. Es gilt vor der Folie der Psychoanalyse zwei Aspekte zu beachten: Erstens den Vollzug der Kastration am Kind und zweitens die damit verknüpfte Initiation in die symbolische Ordnung; beide zeigen sich in Rachels rokje unter Veränderung einiger, aber nicht aller bekannten geschlechtlichen Vorzeichen. Der Akt der Kastration, der bei Mutsaers wörtlich von der Mutter und nicht wie in der klassischen Psychoanalyse bis hin zu Lacan imaginär vom Vater ausgeführt wird, definiert Weiblichkeit als Abwesenheit des Schwanzes, schmerzhaft sichtbar gemacht durch das Loch im Rock. Inwieweit das phallische Symbol des Schwanzes geschlechtergebunden auftritt, darüber kann folgende Textpassage Aufschluss verleihen: »De meeste getrouwde vrouwen die zich met niet heel veel anders afbeulen dan wat zijzelf het ›bijhouden‹ van hun huis noemen weten het doorgaans zo te plooien dat hun man ineens zijn staartje mist. En als die man dood is, wat dan? Geen nood, dan coupeer je je dochter. Hebben dochters dan een staartje? Sommige dochters wel. En ter wille van de gezonde vrouwelijkheid en om de kans op kleinkinderen reÚel te maken dient hoe dan ook voorkomen te worden dat dat staartje wortel schiet. Rachels moeder laat derhalve geen gelegenheid onbenut om haar dochter in te peperen dat eigenlijk alles wat jij in je onbesuisde dartelheid onderneemt ›niet zo bie‹ is«98 (Mutsaers 1994: 69).

Es sind vornehmlich, aber nicht ausschließlich Männer, die im Besitz eines Schwanzes dargestellt werden, und durchgehend Frauen, die kastrierend auftreten. Der Inhalt des Phallussymbols erscheint variabel: Vervaeck erkennt die »sexuellen Triebe« in dem Affenschwänzchen (Vervaeck 1999: 98), Sereni daneben auch die »Kreativität« (Sereni 2003: 144). Auf Basis der textuellen Informationen lässt sich feststellen, dass die Kastration der Mutter einer Nivellierung gleicht, die die Besonderheit oder Einzigartigkeit jeglicher Tätigkeit der Tochter in Abrede stellt. Sie steht im Gegensatz zur Beweglichkeit und Wildheit 97 In der Gender- und Queer-Theorie wurden deshalb alternative Konzepte (Omphalos nach Elisabeth Bronfen) oder Neuterritorialisierungen (der lesbische Phallus nach Judith Butler) entwickelt (Bischoff 2002: 306). 98 Übers.: »Die meisten verheirateten Frauen, die sich mit nicht viel mehr plagen als dem, was sie selbst das ›in-Ordnung-halten‹ ihrer Wohnung nennen, verstehen es so einzurichten, daß ihr Mann auf einmal seinen Schwanz los ist. Und wenn der Mann tot ist, was dann? Keine Sorge, dann kupiert man seine Tochter. Haben Töchter denn einen Schwanz? Manche Töchter schon. Und wegen der gesunden Weiblichkeit, und um die Chance auf Enkelkinder reell zu machen, muß um jeden Preis verhütet werden, daß der Schwanz Wurzeln schlägt. Rachels Mutter läßt daher keine Gelegenheit aus, ihrer Tochter einzubleuen, daß eigentlich alles, was sie in ihrem unbesonnenen Übermut unternimmt, ›nichts Besonderes‹ ist« (Mutsaers 1997: 72).

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der (Affen-)Schwanzträger (»onbesuisde dartelheid«, »wildheid« »omhoog wippen«) und dient der (mütterlichen) Auffassung von normativer Weiblichkeit und nicht etwa der vom Geschlecht losgelösten Integration in eine Gesellschaftsordnung. Das Schwänzchen steht explizit der Idee von Weiblichkeit im Weg, während es Männern grundsätzlich eigen zu sein scheint, auch wenn sie es innerhalb der Institution der Ehe verlieren können. Die mütterliche Vorstellung von idealer Weiblichkeit, gespeist aus »vorweggenommenem Neid« und Konkurrenzdenken (Mutsaers 1994: 41, 154) wird in mehreren Textpassagen ausgeführt. So folgt auf die blutige Kastrationsszene die Bemerkung: »Maar je haar zit tenminste goed. Zeker tot Kerstmis over een paar jaar«99 (Mutsaers 1994: 23). Neben dem adretten Auftreten geht es um Unauffälligkeit und erotische Unaufdringlichkeit. Das Zurechtmachen der Tochter für ein Schulfest nennt die Mutter »nervöses Getue« und erklärt, dass die Jungen eher ein »freundliches Gesicht« anziehend fänden als eine »BB-Frisur« oder einen »Rock mit diesem ganzen Firlefanz« (Mutsaers 1997: 174).100 Rachel, die ihrerseits eine andere Auffassung von Weiblichkeit hat, entwirft das Bild weiblicher Verführungskraft und fürchtet darum, sie könnte ohne Schwänzchen weniger attraktiv auf Männer wirken: »[E]en bakvis die op school de glanzendse carriÀres krijgt voorgespiegeld terwijl ze sterk het gevoel heeft dat ze vernaggeld wordt omdat ze ervan overtuigd is dat geen enkele carriÀre hoe glanzend ook een paar mannenarmen ertoe verleiden zal om een kalf met een fout of een aapje zonder staart te omvatten. […] En hoe een vrouw koket haar rok optilt om zicht te geven op haar bovenbenen, wat ook de waarde heeft van een verklaring, ook daarin had niemand haar geschoold«101 (Mutsaers 1994: 90).

Folgerichtig antwortet die erwachsene Rachel auf die Frage eines Psychiaters, wie es um ihre Weiblichkeit bestellt sei, »die vrouwelijkheid van mij heeft niet veel om het lijf, ik heb zelfs geen losse verkering gehad«102 (Mutsaers 1994: 230). Der von ihr erfahrene mangelnde Erfolg bei Männern – der im Übrigen im Roman durch die Aufzählung einiger Tanzschulbekanntschaften Widerspruch findet – führt zur Aberkennung weiblicher Qualitäten. Beide so evozierten 99 Übers.: »Aber deine Haare sitzen wenigstens gut. Bestimmt bis Weihnachten in ein paar Jahren« (Mutsaers 1997: 21). 100 Die Motive dahinter verortet die Erzählerin klar im mütterlichen Neid: Die mütterliche Attraktivität soll nicht hinter der der Tochter verblassen (Mutsaers 1994: 20). 101 Übers.: »[E]in Backfisch, dem man in der Schule die glänzendsten Karrieren vorspiegelt, während sie das sichere Gefühl nicht los wird, daß man sie beschummelt, weil sie davon überzeugt ist, daß keine Karriere, und sei sie noch so glänzend, ein Paar Männerarme dazu verleiten wird, ein Kalb mit einem Fehler oder einen Affen ohne Schwanz zu umfangen. […] Und wie eine Frau kokett den Rock schürzt, um ihre Schenkel zu zeigen, was ja auch fast eine Erklärung ist, auch darin hatte sie keiner geschult« (Mutsaers 1997: 93). 102 Übers.: »mit meiner Weiblichkeit ist es nicht weit her, ich hatte nicht mal eine lockere Beziehung« (Mutsaers 1997: 242).

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Vorstellungen von Weiblichkeit, sowohl die der Mutter als die der Tochter, haben einen von einer heterosexuellen Matrix eingegebenen Bezugspunkt: die Abhängigkeit von männlicher Bestätigung. Als erwachsene Frau weiß Rachel das mütterlich introduzierte Loch in ihrem Rock, das Zeichen der Kastration, umzudeuten: » […] en dan is het Rokriems beurt, spring maar achterop Rokriem, a tergo, daar was het gaatje in het apenrokje voor bedoeld, op zijn hondjes […]«103 (Mutsaers 1994: 205). Die Wunde der Kastration verschwimmt in einer anderen Textpassage mit der Vagina, die durch eine zweideutige Wortwahl – »im Rock«, nicht etwa »darunter« – ebenfalls auf der Oberfläche des Rockes situiert werden kann:104 »Ja maar, een broek is geen rok. Rokjes met deurtjes, hokjes met geurtjes. In de rok, daar bevindt zich de Tropische Deur en nergens anders. Daar kan een rokriem zo naar binnen glippen met zijn staart. Als hij wil door een kier. Als hij wil zo vlug mogelijk. Daar hoort hij thuis. Bij Rachel dus«105 (Mutsaers 1994: 112).

Zur ersehnten Penetration durch Douglas kommt es allerdings im Verlauf des Romans nicht, es bleibt bei dem Wunsch danach. Dieser ist bezeichnend: Einem psychoanalytischen Lehrstück gleich wird das Nicht-Haben des Schwanzes von Rachel hier kompensiert durch das Begehren nach dem Anderen, der sehr wohl über diesen verfügt. Schließlich zeigt sich das heterosexuelle Begehren bei Lacan verschränkt zwischen der Frau als »Signifikant des Begehrens des Mannes« (Lindhoff 2003: 77), indem sie der Phallus ist, und dem Mann, der mit dem Phallus den Signifikanten des Begehrens hat. Wie die Kastrationswunde von Rachel als Möglichkeit zur Vereinigung mit Douglas umdefiniert wird, so weiß sie auch die (von der Mutter verpönte) Beweglichkeit des kupierten Schwänzchens metonymisch zu ersetzen durch die ganzkörperliche Beweglichkeit des »Epizentrums« (Mutsaers 1994: 13) der »konstant wirbelnden« Rachel (Mutsaers 1994: 13) und ihres mitschwingenden Röckchens. Dies wird kontrastiert von der Darstellung der an die Mutter erinnernden Teddy Trabant (Mutsaers 1994: 164), Douglas’ Lebenspartnerin, die oft ruhend auf der Chaiselongue beschrieben wird (Mutsaers 1994: 242, 291, 293), während Rachel über ihre eigenen Beine konstatiert: »Die hebben niks anders gedaan als rondrennen, steigeren, en dansen, die hebben van zijn leven nog geen 103 Übers.: »[…] und dann kommt Rockgürtel dran, spring nur hinten drauf, Rockgürtel, a tergo, dafür war das Loch im Affenröckchen gedacht, wie die Hunde […]« (Mutsaers 1997: 213 f). 104 Auch dies lässt sich aus der Perspektive der Psychoanalyse im Kontext der Kastrationsangst verstehen. 105 Übers.: »Ja aber, eine Hose ist kein Rock. Röcke mit Türen, Ställe mit Gerüchen. Im Rock, da verbirgt sich die Tür zu den Tropen, und nirgendwo anders. Da kann Rockgürtel ganz einfach hineinschlüpfen mit seinem Schwanz. Wenn er will, durch einen Spalt. Wenn er will, so schnell wie möglich. Dort gehört er hin. Zu Rachel also« (Mutsaers 1997: 118).

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chaise-longue aangeraakt«106 (Mutsaers 1994: 253). Eine definitive Beschränkung von Rachels (Ausdrucks-)Möglichkeiten findet also durch die mütterliche Kastration nicht statt, sehr wohl aber erzwingt sie deren metonymische Verschiebung. Das Auftreten der Mutter als kastrierende Figur und damit die Übernahme der psychoanalytisch dem realen Vater zugedachte Rolle ist in Mutsaers Roman über eine grundsätzliche Verkehrung geschlechtsspezifischer kultureller Modelle strukturell angelegt. Der Kastrationsakt der Mutter wird mit »du, Pontia Pilata« bezeichnet (Mutsaers 1994: 22), auf ihren Verrat mit »Judith Iskariot« verwiesen (Mutsaers 1994: 27), wodurch explizit männliche Prätexte weiblich umfunktioniert werden. Es ist gar die Rede von einer Präferenz der Erzählerin für den »God de Moeder« [Muttergott] (Mutsaers 1994: 41). Sereni will dies als Umkehrung der autoritären Ordnung verstanden wissen: Deze vervrouwelijking van autoritaire mannelijke personages […] hangt samen met de omkering van het klassieke rollenpatroon in Rachels rokje. Terwijl het normaliter de vader is die de autoritaire orde vertegenwoordigt, is dat in Rachels rokje de moeder»107 (Sereni 2006: 94).

Diese Schlussfolgerung ist allerdings nur teilweise zutreffend, insofern sie zwar die Modelle und Strukturen berücksichtigt, in die die Figuren formal eingeschrieben werden, nicht jedoch die Handlungen bzw. die Realisierung dieser Strukturen innerhalb der fiktionalen Welt. Zwar nimmt die Mutter die strategische Position der autoritären, symbolischen Ordnung ein, dennoch folgt Rachel aber nur den im Kontrast zur dämonisierten Mutter108 idealisierten Werten des Vaters, während die Gebote der Mutter mit Ausnahme der Erfahrung des Verlusts (des Phallus) keine nachvollziehbare Wirkung haben und auf Rachels Widerstand stoßen. Am deutlichsten zeigt sich dies aus dem mütterlichen Wunsch, »die leraar met die idiote naam moet ophoepelen, al is het maar uit haar [Rachels] hoofd«109 (Mutsaers 1994: 70). Selbst der physische Tod von Douglas kann ihn schließlich nicht aus Rachels Kopf lösen, da ihre Phantasie ihn wörtlich reanimiert. Ganz anders das Verhältnis zu ihrem Vater. In ihrer Präferenz für kurze Röcke, die freie Sicht auf ihre Beine ermöglichen, folgt Rachel seinem 106 Übers.: »Die haben nichts anderes getan als herumrennen, in die Höhe fliegen und tanzen, die haben ihr Lebtag noch keine Chaiselongue berührt« (Mutsaers 1997: 266). 107 Übers.: »Diese Verweiblichung autoritärer männlicher Figuren […] hängt mit der Umkehrung des klassischen Rollenmusters in Rachels rokje zusammen. Während es normalerweise der Vater ist, der die autoritäre Ordnung repräsentiert, ist es in Rachels rokje die Mutter.« 108 Sogar die Mörderin des Vaters wird assoziativ mit der Mutter verknüpft: als »ein durchwachsenes Mutterschaf« betritt sie die Szene (Mutsaers 1997: 24). 109 Übers.: »dieser Lehrer mit dem idiotischen Namen muß verschwinden, und wenn es nur aus ihrem Kopf ist« (Mutsaers 1997: 73).

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ästhetischen Ideal, da er aus der Schönheit der Beine andere menschliche Qualitäten ableiten wollte (Mutsaers 1994: 259): Lange Röcke, so folglich auch die Erzählerin, könnten die »schreckliche Vermutung« stützten, die Beine wären nicht schön (Mutsaers 1994: 126). Doch ist es nicht nur die Ordnung des Vaters, der sich Rachel unterwirft: Es ist vor allem ihr Sprachlehrer Douglas, dessen Auffassungen sie übernimmt. Seine Rolle als Substitut des Vaters wurde in der Sekundärliteratur bereits öfter thematisiert (u. a. Jansen 2001: 7, Heumakers 2003: 99, Verstraten 2010: 70). Mehrfach finden sich in Rachels rokje Stellen, die Rachels Übernahme von Douglas‹ Überzeugungen demonstrieren. In einer Unterrichtsstunde äußert Douglas etwa gegenüber seinen Schülern: »[…] aan interpreteren heb ik toch een broertje dood. Waarom zegt de dichter dit, waarom zegt de dichter dat, wat bedoelt hij hier, wat bedoelt hij daar, dat leidt nergens toe«110 (Mutsaers 1994: 171).

Auf diese Doktrin rekurriert er auch später in einem Gespräch mit der erwachsenen Rachel. Diese weiß nicht, wie sie eine Geste seinerseits interpretieren soll und fragt nach ihrer Bedeutung, woraufhin er sie zurechtweist. »›Bedoel je,‹ zei ze, ›dat je gaat?‹ Hij steigerde: ›O Rachel! Als je kleren op dit moment vlam zouden vatten, zou je dan nûg vragen naar de bedoeling?‹«111 (Mutsaers 1994: 192).

Gegenüber den Richtern verweist Rachel schließlich ihrerseits auf die Sinnlosigkeit der Frage nach der Bedeutung, es erweist sich, dass sie Douglas’ Grundsatz bereits internalisiert hat. »– […] Douglas heeft mij altijd voorgehouden dat het verkeerd is om naar bedoelingen te vragen, onbeschoft, not done, zinloos bovendien. Voor ware bedoelingen komt toch niemand uit. – Bent u het daarmee eens? – Hartgrondig«112 (Mutsaers 1994: 213).

Auch andere Überzeugungen, die die Erzählerin vertritt, haben ihren Ursprung in der Ideologie, die Douglas vertritt: »Begin in de geest. Dan zal voetje voor 110 Übers.: »[…] interpretieren kann ich sowieso auf den Tod nicht ausstehen. Warum sagt der Dichter dies, warum sagt der Dichter das, was meint er hier, was meint er dort, das führt zu nichts« (Mutsaers 1997: 178). 111 Übers.: »›Soll das heißen‹, fragte sie, ›daß du gehst?‹ Er erwiderte empört: ›O Rachel! Wenn deine Kleider in diesem Augenblick in Flammen gerieten, würdest du dann immer noch fragen, was das heißen soll?‹« (Mutsaers 1997: 200). 112 Übers.: »-[…] Douglas hat mir immer vorgehalten, daß es verkehrt sei, nach der Absicht zu fragen, unverschämt, not done, außerdem sinnlos. Was einer wirklich beabsichtigt, gibt er eh’ nicht zu. – Stimmen Sie dem zu? – Aus ganzem Herzen« (Mutsaers 1997: 223).

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voetje de werkelijkheid volgen. Dat heb ik van ingenieur Rokriem geleerd«113 (Mutsaers 1994: 29). Douglas’ Faszination für eine Dissertation über räumliche Anordnungen in Flauberts Emma Bovary übernimmt Rachel ebenso. In weiterer Folge spricht sie über Pläne, über denselben Roman zu promovieren (Mutsaers 1994: 247). An der Flaubert-Dissertation lobt Douglas, sie sei »goed geschreven zonder dat er rechtstreeks afgekoerst wordt op het onderwerp« (Mutsaers 1994: 244). Mit einer vergleichbaren Vorliebe für schlingernde Pfade114 wirft Rachel ihren Richtern vor: »U wilt maar ¦¦n ding geloof ik: linea recta afkoersen op de schuld. Langs de snelweg nog wel. […] Maar dat gaat zomaar niet, de Van Slingelandtroute bestaat ook en dat is toevallig de mijne. Het antwoord op de schuldvraag, heren en rechters, is nog nooit kaarsrecht geweest«115 (Mutsaers 1994: 233).

Nach der Erwähnung von Douglas’ »Steckenpferd«, Fotografien von sogenannten non-events, meint Rachel eine grundlegende Verwandtschaft zu erkennen, »plotseling besefte ik dat ik het non-event altijd had omhelsd« (Mutsaers 1994: 288), obwohl sie vor seiner Erklärung zu dem Begriff ahnungslos war »[v]on einem non-event hatte ich auch noch nie gehört« (Mutsaers 1994: 288). Aus der Betonung der eigenen Überraschung zeigt sich hier ganz deutlich, wie Rachel sich bereitwillig alle Präferenzen von Douglas aneignet. Kulturelle Aktivitäten aller Art erweisen sich ebenfalls als von Douglas eingegeben: Er schickt sie in ein Filmmuseum für die Filme eines ihr unbekannten Künstlers, ihren Besuch dort muss sie ihm versprechen (Mutsaers 1994: 287 f) und er empfiehlt ihr die Lektüre von Kleists Penthesileia (Mutsaers 1994: 136), die sie ihrerseits später in einem Leseklub vorstellt. Über den reinen Konsum dieser Kunst hinaus wirken die Protagonistinnen der von Douglas empfohlenen Bücher Emma Bovary und Penthesileia als Rollenvorbilder Rachels, wenn sie auch an der Nachahmung der Penthesileia, insbesondere deren Tötung ihres Geliebten, verzweifelt. Im Kontext der zahlreichen explizit von Douglas übernommenen Denkmuster und Ideologien erscheint Serenis Darstellung der Parallelität der Auffassungen von Douglas und Rachel als kontingent problematisch: 113 Übers.: »Fang im Geist an. Dann folgt die Wirklichkeit, Schritt für Schritt. Das habe ich von Ingenieur Rockgürtel gelernt« (Mutsaers 1997: 28). 114 Vgl. dazu auch Rachels Ankündigung am Beginn des Verhörs: »We zullen het hele boek door moeten wandelen, van achteren naar voren en weer terug. En dan nog alle zijpaadjes, die zullen we ook moeten bewandelen« (Mutsaers 1994: 209). 115 Übers.: »Sie wollen nur eins, glaube ich: linea recta auf die Schuld lossteuern. Am besten über die Autobahn.[…]. Aber so einfach geht das nicht, die Schlängelpfad-Route gibt es auch noch, und das ist zufällig meine. Die Antwort auf die Schuldfrage, meine Herren Richter, war noch nie schnurgerade« (Mutsaers 1997: 245).

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»Zo heeft Douglas een hekel aan interpreteren […] en is Rachel van plan om te promoveren op wat de distelvink in Madame Bovary uitbroedt. Beide lijken een fascinatie te hebben voor het ›detail‹ en een afkeer van het theoretische […]«116 (Sereni 2006: 117).

Indem sie von einer quasi zufällig geteilten Position »alternativer Anti-Intellektualität« ausgeht (Sereni 2006: 117), verschließt sie die Augen vor dem die Beziehung prägenden Hierarchieverhältnis. Das asymmetrische Lehrer-Schüler Verhältnis, das sich unumkehrbar in die Beziehung von Rachel und Douglas eingeschrieben hat (vgl. Abschnitt 4.3), prägt auch die Normen und Werte, die Rachel – meist unkritisch – vertritt, während die symbolische Ordnung, aus der heraus die kastrierende Mutterfigur gemäß der Logik der Psychoanalyse agiert, keine erkennbare Anpassungsleistung Rachels mit sich bringt. So ist der Geschlechterrollentausch, der vor allem in Bezug auf die Mutterfigur so explizit stattfindet, besser im Kontext der Unterscheidung von Idealisierung117 und Dämonisierung zu begreifen, wobei für die negative, beschränkende Rolle auf männliche Skripts zurückgegriffen wird, bei gleichzeitiger ausdrücklicher Unterwerfung unter die im Zuge dieser Polarisierung gerade als ausschließlich positiv erfahrene männliche Deutungshoheit über das Leben. Rachel erklärt die Existenz menschlicher Schwächen mit einem alttestamentarischen Muttergott, dessen Geschlechtstransformation auch nur Wunschvorstellung bleibt: »[…] de waarden behoeden van het fragiele individu kan natuurlijk niet. God zelf kan het niet eens. Sterker, hij heeft die fragiliteit er met opzet ingebakken. Bij iedereen. Ter behoeding van zijn almacht en ter voorkoming van de onze. Uit premature jaloezie. Reden waarom ik liever van God de Moeder spreek dan van God de Vader«118 (Mutsaers 1994: 41).

Der gütige Gott bleibt in einer (projektiven) Hypostasierung der Geschlechterdifferenz männlich – »lieber Vater im Himmel, behüte mich«, lautet ein Flehen Rachels (Mutsaers 1994: 27) – erscheint als Zweifaltigkeit von Rachels realem, verstorbenen Vater und dem Himmelsvater. Als aus anti-deutschem Sentiment auch der Hund der jugendlichen Rachel erschossen wird, spricht sie: »Ik kom 116 Übers.: »So hat Douglas eine Abneigung gegen das Interpretieren […] und fasst Rachel den Plan zu promovieren über das, was der Distelvink in Madame Bovary ausbrütet. Beide scheinen eine Faszination für das ›Detail‹ zu haben und das Theoretische abzulehnen […]«. 117 Die Idealisierung wird von Sereni ebenfalls angesprochen (Sereni 1994: 21). 118 Übers.: »[…] die Werte des fragilen Individuums schützen, das geht natürlich nicht. Das kann nicht mal Gott. Schlimmer noch, er hat die Fragilität absichtlich mit eingebacken. In jeden. Einschließlich der Werte. Zur Wahrung seiner Allmacht und zur Verhütung der unsrigen. Aus vorweggenommenem Neid. Das ist der Grund, weshalb ich lieber von Gottmutter spreche als von Gottvater« (Mutsaers 1997: 40).

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eraan, Vader […]« (Mutsaers 1994: 28) [»Ich komme, Vater«], und deutet damit nicht nur die Hoffnung auf ihr eigenes Nachfolgen des Vaters in den Tod an, sondern lässt mit dem Großbuchstaben in der Anrede Gott und Vater verschmelzen. So zeichnet sich in Mutsaers’ Universum ein Bild ab, das die traditionellen Geschlechterdichotomien, gerade auch was ihre Rolle bei der psychogenetischen Subjektkonstitution betrifft, ausdrücklich thematisiert und verschiebt, die Opposition an sich allerdings nicht dekonstruiert. Das offensive Spiel mit Binaritäten, das die Autorin betreibt, wurde bereits andernorts thematisiert und von Sereni auch ausdrücklich als dekonstruktive Strategie im Derrida’schen Sinne bezeichnet (Sereni 2006: 134). Dabei bemerkt sie zu Recht, dass diese nicht immer bis zum Äußersten durchgeführt wird: Manchmal sei es lediglich eine Umwertung traditioneller Hierarchien, die in dem dichotomischen Verhältnis angelegt sind. »Een groot aantal van Mutsaers’ teksten kunnen dan ook gelezen worden in het licht van het verlangen het ongewichtige gewicht te geven, het veronachtzaamde weer onder de aandacht te brengen en in zijn waarde te herstellen«119 (Sereni 2006: 134).

In Rachels rokje ist auf Basis der hier präsentierten Überlegungen weder von der einen noch von der anderen Strategie in Reinform auszugehen. Mit der Zuschreibung des weiblichen Geschlechts an die kastrierende Figur und die darauf aufbauende Verkehrung der Geschlechterverhältnisse löst Mutsaers traditionale Zuschreibungen tendentiell aus ihrer Bindung an ein Geschlecht, geht dabei aber sehr selektiv vor. Nicht die Dekonstruktion oder die Aufwertung des untergeordneten Pols (Weiblichkeit) steht dabei im Vordergrund, sondern die Etablierung einer andersartigen, sehr individuellen, subjektiv-projektiven Geschlechterdifferenz, die gerade alle positiven Werte auf Seiten des männlichen Pols verortet und alle negativen auf Seiten des weiblichen. In ihren grundlegenden Zügen, etwa der männlichen Weltexplikation und der tendentiellen Assoziierung des phallischen Symbols mit dem männlichen Genital, werden überdies durchaus auch bestehende Stereotypen aufgegriffen und verfestigt.

4.6

Weibliche Subjektentwürfe

In Mutsaers’ Roman wird die Attraktivität der zentralen, ambigen Metapher des Rockes einerseits mit den fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Falten 119 Übers.: »Eine große Zahl von Mutsaers Texten können im Lichte dieses Verlangens, dem nicht Gewichtigen Gewicht zu verleihen, dem Unbeachteten wieder zu Aufmerksamkeit zu verhelfen, gelesen werden.«

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und der daraus resultierenden Unmöglichkeit, binäre Unterscheidungen wie Berg und Tal zu treffen, erklärt. Andererseits gilt auch die Zirkelform der Rockkonstruktion als erstrebenswert, weil sie Muster ohne feststellbare zeitliche Abfolge perpetuiert (Mutsaers 1994: 113). Die Faszination Mutsaers’ für die Form des Rockes spricht auch aus einer Äußerung der Autorin in einem Interview, das aus der Geschlechter-Perspektive besonders aufschlussreich ist: »Maar daarom heb ik – onder andere – ook die vorm van dat rokje gekozen, omdat daar de samenhang van plooien zo interessant is. Je kunt er geen scheiding tussen zien, maar ze komen uit elkaar voort, ze drukken elkaar op en ze verbergen een geheim. Plus dat het, zoals ik al zei, een vrouwelijk kenmerk is, een heel klein vachtje, een vrouwenvachtje«120 (van Heerden 1995: 57).

Der titelgebende Rock ist nicht nur ein strukturierendes Textprinzip, sondern auch Subjektentwurf und Symbol für Weiblichkeit, Aspekte, die hier einer genaueren Betrachtung unterzogen werden sollen. Erstens ist der Rock der Text im Allgemeinen: Konkrete Verweise auf die Auffassungen von Roland Barthes vom Text als Gewebe und vom Leser als »Schürzenjäger« zeugen hiervon (Mutsaers 1994: 12). Zweitens verweist er auf bestimmte Prätexte aus der Feder anderer Autoren, etwa »alle Röcke von Franz Kafka« (Mutsaers 1994: 124), drittens gleichzeitig aber auch konkret auf den ersten Teil von Rachels rokje, jenen Abschnitt, der im Unterschied zum zweiten Teil in verschiedenen »Falten« präsentiert wird. So diffus die Rockmetapher in Rachels rokje auch sein mag, das Röckchen, um das es geht, hat bestimmte begehrenswerte Eigenschaften, die gerade in seiner paradoxalen, »grillig[e]« [bizarren] Zusammensetzung bestehen121 und die Beweglichkeit der Rockträgerin sichtbar zu machen vermögen: »De vezels ruw ¦n zacht. Het weefsel dicht ¦n open. De stof licht ¦n zwaar. De lengte kort ¦n lang. De omvang wijd ¦n nauw. De zoom breed ¦n smal. De kleur licht ¦n donker«122 (Mutsaers 1994: 119). 120 Übers.: »Aber darum habe ich – unter anderem – auch die Form des Röckchens gewählt, weil dort der Zusammenhang der Falten so interessant ist. Man kann keine Trennung dazwischen ausmachen, sie entstehen auseinander, drücken einander hinauf und verbergen ein Geheimnis. Und, dass es, wie gesagt, ein weibliches Merkmal ist, ein sehr kleines Fell, ein Frauenfell.« 121 Vgl. auch die Beschreibung eines konkreten Röckchens, das mit seinem Faltenwurf binäre Vorstellungen ebenfalls aufzuheben scheint (Mutsaers 1994: 113). 122 Übers.: »Die Fasern rauh und weich zugleich. Das Gewebe dicht und grob gewirkt. Der Stoff leicht und schwer. Die Länge kurz und lang. Der Durchmesser weit und eng. Der Saum breit und schmal. Die Farbe hell und dunkel« (Mutsaers 1997: 124).

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Andere ähnliche und durchaus ebenfalls weiblich konnotierte Kleidungsstücke, die dieser antagonistischen Ästhetik widersprechen, werden auf allen semantischen Ebenen der Metapher abgelehnt: Ein »gefährlicher« Rock aus dem »Kleiderschrank der Weltliteratur« (Mutsaers 1994: 123) ist etwa jenes steife, glatte Ungetüm, das die Haushälterin Therese aus Elias Canettis Roman Die Blendung (1936) trägt, glatt wie auch der straff anliegende und so faltenlose Rock der nicht bedingungslos liebenden Mutter Rachels (Mutsaers 1994: 167). Analog wird auf der poetologisch-selbstreflexiven Ebene den skeptischen Lesern der ersten »Rockfalte« des Romans geraten: »Amuseer je liever met een rechte jurk, een broekrok, een stevig mantelpak. Dat geeft houvast en dat is beter voor je hele organisme«123 (Mutsaers 1994: 13 f). In der Glätte und Unbeweglichkeit liegt die Bedrohung durch Konventionalität und Konformität. Das eingangs angeführte Interview-Zitat legt den Fokus auf die Tatsache, dass der Rock auch als Symbol für Weiblichkeit gilt. Gleichzeitig soll er, wie Rachel formuliert, »alles, was mein Leben ausmachte« (Mutsaers 1994: 229) umfassen: Der Rock fungiert in Rachels rokje auch als Symbol biographisch verstandener Identität. »Der Rock, das bist du selbst«, sagt Rachel (Mutsaers 1994: 112), eine Vorstellung, die im »Kleinen Katechismus des Rocks« weiter ausgearbeitet wird: »Vraag: Waartoe zijn wij op aarde? Antwoord: Om een passend rokje te dragen en er weer uit te stappen als de tijd daar is. Vraag: Een passend rokje, hoe maakt men dat? Antwoord: Neem twee van je allergrootste gaten en verbind die door een weefsel. Erin stappen. aansnoeren. Goed luisteren naar de plooien van je hersenen. En wegcirkelen. De tijd doet de rest«124 (Mutsaers 1994: 119).

Die angesprochenen Falten des Gehirns und damit etwas vor dem im-Rock-Sein Gegebenes spiegeln sich gleichermaßen im Faltenwurf des Röckchens, aber auch »die Zeit«, der biographische Verlauf wirkt prägend auf die Form des Kleidungsstückes.125 »Vraag: Hangen de plooien in een rokje samen? Antwoord: Allicht, j†j zit er toch in?

123 Übers.: »Amüsier dich lieber mit einem engen Kleid, einem Hosenrock oder einem soliden Kostüm. Das gibt Halt und ist auch besser für den Organismus« (Mutsaers 1997: 12). 124 Übers.: »FRAGE: Wozu sind wir auf Erden? ANTWORT: Um ein passendes Röckchen zu tragen und wieder herauszusteigen, wenn die Zeit gekommen ist. FRAGE: Ein passendes Röckchen, wie macht man das? ANTWORT: Nimm zwei deiner allergrößten Löcher und verbinde sie durch ein Gewebe. Einsteigen. Festzurren. Gut auf die Falten deines Gehirns hören. Und wegwalzern. Den Rest besorgt die Zeit« (Mutsaers 1997: 124). 125 Auch jene Aussage Rachels, die zwischenzeitlich aufgetanen eigenen Erlebnisse würden einen im Unterschied zu dem als Kind getragenen Rock anderen Rock erfordern (Mutsaers 1994: 229), fügen sich in dieses Bild.

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Vraag: En als ik er ooit uit mocht stappen? Antwoord: Dan valt te hopen dat het naar je is gaan staan«126 (Mutsaers 1994: 120).

Der solchermaßen vorgestellte Subjektentwurf mit dem Rock als Ausdruck von Individualität ließe sich universal fassen, würde der Aspekt der Feminität nicht ebenso zentral abgehandelt. »Und der Rock, das Röckchen, der Faltenwurf macht die Frau« (Mutsaers 1994: 19), postuliert die Erzählerin, wobei eine essentialistisch verstandene körperliche Voraussetzung nur eine untergeordnete Rolle spielt,127 schließlich gibt es, wie die junge Rachel bemerkt, auch »Söhne mit Röcken« (Mutsaers 1994: 211). Vielmehr geht es um Konvention und geschlechtliche Inszenierung: »het vrouwelijkste aan Rachel was haar rokje, het manlijkste aan hem zijn leren riem. Maar dat sluit de hartstocht nog niet uit, hartstocht kent geen blokkades […]«128 (Mutsaers 1994: 275). Die kulturelle Konvention, die das weibliche Subjekt in den Rock zwingt und damit in ein soziales Geschlecht, wird in einer Textpassage besonders deutlich herausgearbeitet. Es sei, so die Erzählerin, nicht einmal der Rock, der das ideale Kleidungsstück darstellt: »in schort, onderjurk of pon komt een vrouw pas werkelijk tot haar recht«129 (Mutsaers 1994: 227): »Als ik openlijk en dus niet alleen in keuken, badkamer, slaapkamer of paskamer […] met schortjes, onderjurken of ponnen had mogen showen had ik me stukken zekerder gevoeld, niet zo opgesplitst en verscheurd. Dan had ik nooit rokjesspecialist hoeven worden en Rachel ook in een heel andere outfit langs de straat laten slieren, had ze misschien meer succes gehad«130 (Mutsaers 1994: 227).

Der »bizarre« Rock (Mutsaers 1994: 119) erweist sich an dieser Stelle deutlich als von der Gesellschaft oktroyierte Form der Verhüllung, die eine Zerrissenheit des 126 Übers.: »FRAGE: Hängen die Falten eines Röckchens zusammen? ANTWORT: Na klar, du selbst bist doch mittendrin? FRAGE: Und wenn ich je aussteigen sollte? ANTWORT: Dann ist zu hoffen, daß es deine Form angenommen hat« (Mutsaers 1997: 126). 127 Selbst der unter Abschnitt 4.5. analysierte Satz »In de rok, d‚‚r bevindt zich de Tropische Deur en nergens anders« (Mutsaers 1994: 112) bleibt in seiner metaphorischen Formulierung uneindeutig und verhindert im Zusammenspiel mit den anderen Aussagen zu Rock und Körper eine finale, quasi-essentielle Assoziation von Rock und Weiblichkeit. 128 Übers.: »Das Weiblichste an Rachel war ihr Röckchen, das Männlichste an ihm sein Ledergürtel. Aber das schließt Leidenschaft noch nicht aus. Leidenschaft kennt keine Hindernisse […]« (Mutsaers 1997: 290). 129 Übers.: »Und in einer Schürze, einem Unterkleid oder Nachthemd kommt eine Frau erst richtig zur Geltung, so sehe ich das zumindest« (Mutsaers 1997: 238). 130 Übers.: »Wenn ich in der Öffentlichkeit, also nicht nur in der Küche, im Badezimmer, Schlafzimmer oder in der Ankleidekammer […]Schürzen, Unterkleider oder Nachthemden hätte vorführen dürfen, wäre ich viel selbstsicherer gewesen, nicht so gespalten und innerlich zerrissen. Dann hätte ich niemals Rockspezialistin werden müssen und Rachel auch in einem ganz anderen Outfit auf der Straße flanieren lassen, dann hätte sie vielleicht mehr Erfolg gehabt« (Mutsaers 1997: 239).

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weiblichen Subjekts mit sich bringt. Er kann als Ausdruck von gender begriffen werden, als kollektiver Weiblichkeitsentwurf, den sich die Frau aneignen muss. Besonders bedeutungsvoll erscheint dies im Kontext des Rockgürtels, als der Douglas, wie sein selbst gewählter neuer Nachname überdeutlich anzeigt, für Rachel fungiert. In mehreren Textpassagen wird die Bedeutung eines Gürtels hervorgehoben: Nicht der rote Faden sei es, der einen Rock zusammenhalten solle, sondern ein Gürtel (Mutsaers 1994: 30, vgl. 13, 119); der externe, gleichsam erzwungene Zusammenhang wird dem internen vorgezogen. Darum ist auch die Rede von der »einschnürenden Grausamkeit eines Rockgürtels« (Mutsaers1994: 41). »Een rok is geen sok. Het rokje wil niet opgehouden worden, het wil omsingeld wezen als een paardenbuik. Dat kan het beste met een rokriem. Maar een rokriem kan nog meer. Het menselijk lichaam heeft twee streken: de hartstreek en de schaamtestreek. Een goeie rokriem snoert die bij elkaar«131 (Mutsaers 1994: 119).

Die Zerrissenheit des Subjekts wird idealiter kompensiert von einer externen Kraft, die das ganze Begehren in eine Richtung lenkt und damit auch das begehrende Subjekt konstituiert. Wie das Symbol des Röckchens selbst funktioniert auch der Rockgürtel auf mehreren Ebenen. »Rokriem, zoals de naam het zegt, is het personage dat de plooien van Rachels puberverliefdheid tot een romanrok verbindt«132, fasst Gerits zusammen (Gerits 1994: 534). Ähnlich bemerkt van den Berg: »Het rokje is een metafoor voor het leven van Rachel, de verschillende plooien (ervaringen, zo men wil) worden bijeen gehouden door Douglas Distelvink, alias Rokriem. […] Distelvink is rokriem op alle denkbare wijzen: letterlijk in zijn bijnaam, functioneel als structurerend middel dat de ›plooien‹ bijeen houdt, en wezenlijk eenmaal in de vorm van een ›levende ceintuur‹«133 (van den Berg 1994: 65).

Für die Röckchenträgerin ist der Rockgürtel in jedem Fall der konstituierende Andere, der für den Zusammenhang des Subjekts einsteht. So sehr jedoch der von Rachel gewählte Rock einem Kompromiss entspringt zwischen der Anpassung an gesellschaftliche Normen einerseits (im Gegensatz 131 Übers.: »Das Röckchen will nicht gehalten werden, es will umgürtet sein wie ein Pferdebauch. Das geht noch am besten mit einem Rockgürtel. Aber ein Rockgürtel hat noch mehr zu bieten. Der menschliche Körper hat zwei Gegenden: die Herzgegend und die Schamgegend. Ein guter Rockgürtel schnürt die beiden zusammen« (Mutsaers 1997: 125). 132 Übers.: »Rockgürtel, wie der Name schon sagt, ist die Figur, die die Falten von Rachels pubertärer Verliebtheit zu einem Romanrock verbindet.« 133 Übers.: »Das Röckchen ist eine Metapher für Rachels Leben, die verschiedenen Falten (Erfahrungen, wenn man so möchte) werden von Douglas Distelvink, alias Rockgürtel, zusammengehalten. […] Distelvink ist Rockgürtel auf alle denkbaren Arten: wörtlich in seinem Spitznamen, funktional als strukturierendes Mittel, das die ›Falten‹ verbindet, und wesentlich einmal in der Form eines »lebendigen Gürtels.«

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zum Nachthemd) und der Abweichung davon andererseits (durch den »bizarren« Faltenwurf anstatt Glätte und Steifheit), entwickelt er sich auch zu einem widerständigen Element in der Beziehung zu Douglas. Dieser schenkt Rachels Röcken keine besondere Beachtung (Mutsaers 1994: 55), bzw. äußert sogar diplomatisch seine Ablehnung: »Ik moet zeggen, ik houd niet zo van zulke rokjes. Maar omdat het het jouwe is…«134 (Mutsaers 1994: 116): »En het was niet nieuw voor me, meer dan eens had hij me te kennen gegeven dat hij aan mijn rokjes wennen moest. Hij had er geen afkeer van zei hij maar hij moest eraan wennen. Voor mij vormde dat een uitdaging, een van de grootste provocaties van mijn leven. Ik had zoiets van: wacht maar, voor jou zal ik een rokje maken dat zijn weerga niet kent, met een plooienval van hier tot aan de evenaar en een wervelend vermogen van minstens windkracht acht, een rokje dat je volledig mee zal zuigen, in zal wikkelen en waaraan je domweg niet ontkomen kan«135 (Mutsaers 1994: 228).

Das Verhältnis von Rockgürtel und Rock wird in der hier zitierten Wunschvorstellung umgekehrt: Der Rock soll Douglas umschließen. Rachel macht Anstalten, diesen Wunsch auch in die Tat umzusetzen: Sie beginnt mit der (Jahre andauernden) Arbeit an jenem widerständigen Rock, der »alles, was [ihr] Leben ausmachte«, umfassen soll (Mutsaers 1994: 229). Diese Tätigkeit betont die Machbarkeit des subjektiven Röckchens: Es ist nicht das Leben, das von außen unkontrolliert auf das Subjekt hereinbricht und dieses mit einem passenden Rock versieht, sondern das Subjekt, das in einer verschränkten Bewegung von Außen und Innen das Röckchen selbst gestaltet. Doch ist dieses noch nicht fertiggestellt, als Douglas stirbt: »Het rokje was nauwelijks driekwart af of hij ging dood. En nog geen draadje, geen plooitje, geen glimpje had hij ervan gezien«136 (Mutsaers 1994: 229). Mit Douglas’ und damit Rockgürtels Tod verschmilzt das neuangefertigte Röckchen mit jenem, das Rachel bereits trägt, indem es sowohl »kaputt« als auch »unvollendet« ist: »Het rokje bleef achter. Kapot en onvoltooid. Een kapot rokje is ook een rokje maar toch. 134 Übers.: »Ich muss zugeben, ich mag solche Röckchen nicht besonders. Aber weil es deins ist …« (Mutsaers 1997: 122). 135 Übers.: »Es war mir auch nicht neu, er hatte mir mehr als einmal zu verstehen gegeben, daß er sich an meine Röcke gewöhnen müsse. Er habe keine Abneigung dagegen, sagte er, aber sie seien gewöhnungsbedürftig. Für mich war das eine Herausforderung, eine der größten Provokationen meines Lebens. Ich dachte so was wie: Wart bloß, für dich werde ich ein Röckchen schneidern, das seinesgleichen sucht, mit einem Faltenwurf von hier bis zum Äquator und einer Wirbelkraft von mindestens Windstärke acht, ein Röckchen, das sich mit Haut und Haar mitreißen und einwickeln wird und dem du schlichtweg nicht entkommen kannst« (Mutsaers 1997: 240). 136 Übers.: »Das Röckchen war noch kaum zu drei Vierteln fertig, da starb er. Und er hatte noch keine Faden, keine Falte, keinen Schimmer davon gesehen« (Mutsaers 1997: 241).

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Men kan er beter uitstappen. Wat ik dus deed. Weg Rachel Stottermaus«137 (Mutsaers 1994: 203).

Angesichts des Wegfalls jenes konstituierenden Anderen, auf den es sich bezieht, wird der spezifische rockartige Subjektentwurf zurückgelassen. Kann, wie oben bereits gezeigt wurde, der Rock als Form des sozialen Geschlechts begriffen werden, das sich in der Verschränkung von gesellschaftlichen Normen und individueller Performanz gestaltet, so ist im Hinblick auf ein diesem gender eventuell zugrunde liegendes oder von ihm abweichendes »biologisches« Geschlecht jener Körper von Interesse, der dem kaputten Rock aus dem obigen Zitat entsteigt. Seltsam undeterminiert – »nicht benennbar«, schreibt Hugo Brems (2006: 516) – stellt sich aber jenes Ich dar, das aus dem Rock kommt. In allen darauf folgenden Szenen des Romans, sowohl auf der Ebene des r¦cit wie auch der histoire, trägt die Erzählerin wiederum einen (anderen?) Rock, als wären Rock und Körper untrennbar miteinander verbunden,138 was auch die am Kapiteleingang zitierte Bezeichnung des Rocks als »Frauenfell« nahelegt. Zwar wird suggeriert, das Ich könne sich die Röcke aussuchen, abseits der bizarren Oberfläche des Rockes aber bleibt nur eine Leerstelle, denn »dat rokje ben je zelf« (Mutsaers 1994: 112). Generell ist es auffällig, dass Rachels Körper – wie auch die anderen – nie autonom in seiner Nacktheit geschildert wird. Zwar ist er biologisch eindeutig markiert, Rachel menstruiert, hat lange Beine und einen »zu flachen Oberkörper«, Bedeutung generiert aber nur die Oberfläche, der Rock, den Rachel jeweils trägt. »De mens is onbeschrijfelijk onbeschrijfbaar. Evenals het dier. Evenals het romanpersonage. Evenals het naakte bestaan. Maar gelukkig draagt hij een rokje«139 (Mutsaers 1994: 15).

137 Übers.: »Das Röckchen blieb zurück. Lädiert und unvollendet. Zwar ist ein lädiertes Röckchen auch ein Röckchen, aber trotzdem. Man sollte besser heraussteigen. Was ich auch tat. Weg Rachel Stottermaus« (Mutsaers 1997: 211). 138 Vgl. etwa: »Maar zij stond onder stroom. H‚‚r rokje was van schrikdraad« (Mutsaers 1994: 62) Übers.: »Aber sie jedoch stand unter Strom. Ihr Röckchen war aus Elektrodraht« (Mutsaers 1997: 63), oder der Rock, der auch die Hunde-Metamorphose begleitet: »Dat ik het gelaarsde hondje was met het rokje aan« (Mutsaers 1994: 242). Übers.: »Dass ich der gestiefelte Hund mit dem Röckchen war.« 139 Übers.: »Der Mensch ist unbeschreiblich unbeschreibbar. Genau wie das Tier. Wie die Romanfigur. Wie die nackte Existenz. Aber zum Glück trägt er ein Röckchen« (Mutsaers 1997: 13).

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An anderer Stelle wird den Lesern verdeutlicht, sie müssten Rachels Rock verstehen, um Rachel zu begreifen, an der Oberfläche bleiben, um die Tiefe der Persönlichkeit zu verstehen: »Een goed schilderij, hoor je soms zeggen, daar moet je in kunnen stappen als in een auto. Voor een rokje geldt hetzelfde, maar het geval wil dat Rachel sinds haar veertiende niet meer van maat veranderd is, zodat ik moeilijk zeggen kan: stap maar in. Maar als jullie zo vriendelijk zouden willen zijn haar te volgen, achter haar rokje aan te lopen, misschien dat je er dan op die manier achter komt wat het behelst, wat haar behekste«140 (Mutsaers 1994: 91).

Der Rock ist es auch, der der Logik der Oberfläche zufolge in der Form eines Loches den Kastrationskomplex transportiert (Mutsaers 1994: 112), während der Körper aber an keiner Stelle als versehrt dargestellt wird: Nicht die Vagina oder gar das Nicht-Haben des Phallus ist ausschlaggebend, sondern die Wunde, die der kupierte Schwanz im Rockstoff, an der Oberfläche, zurückgelassen hat. Auf dem solchermaßen natürlichen, problemlos biologisch fassbaren, aber bedeutungslosen Körper bildet der Rock jenen Ort, an dem sich kulturelle (gesellschaftliche Konformität nur des Rockes, nicht etwa des Nachthemds), verquickt körperlich- psychische (die in den Rock eingeschriebene Kastration) und vom Subjekt gestaltete (der Rock als widerständiger Aspekt in der Beziehung zu Douglas, aber auch als erotisches Mittel) Einflüsse verschränken. Verstärkt wird dieser Eindruck zusätzlich von der philosophischen Tragweite, die Charlotte Mutsaers den Falten des titelgebenden Rockes verleiht: Vielfach wurde bereits auf die Verbindung von Rachels rokje zu Gilles Deleuzes Studie Le pli. Leibniz et le baroque (1988) [Die Falte: Leibniz und der Barock] (Deleuze 1995: 13)141 hingewiesen (Rovers 2003: 329 f, Sereni 2005: 373 f, de Jong 2006: 386 f, Verstraeten 2010: 66). Vor allem Rovers liefert eine an moralischen Aspekten ausgerichtete Betrachtung von Rachels rokje im Sinne Deleuzes. Der französische Philosoph nimmt eine wichtige Stellung im Werk Mutsaers’ ein. Wiederholt finden sich in ihren Texten Verweise auf diverse seiner Schriften. In ihren Essays in Paardejam, worin eine Anzahl an Prätexten zu Rachels rokje besprochen werden, benennt Mutsaers gar das »Glück«, Gilles Deleuze »als 140 Übers.: »In ein gutes Gemälde, wird manchmal gesagt, muß man einsteigen können wie in ein Auto. Für ein Röckchen gilt dasselbe, aber der Zufall will es, daß Rachel seit ihrem vierzehnten Lebensjahr dieselbe Kleidergröße hat, so daß ich schwerlich sagen kann: Steig doch ein. Aber wenn ihr so freundlich sein wollt, ihr zu folgen, hinter ihrem Röckchen herzulaufen, vielleicht kriegt ihr auf diese Weise raus, was an ihm dran war, was sie verhexte« (Mutsaers 1997: 94). 141 Die zentrale Funktion der Begrifflichkeit der Falte leitet sich dabei nicht unmittelbar aus den Schriften von Leibniz ab, sondern entspringt dem Denken Deleuzes, der in der gleichen vereinnahmenden Bewegung etwa auch seinen Zeitgenossen Michel Foucault in Foucault (1986) als Denker der Falte rezipiert.

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Lehrmeister« gefunden zu haben, der ihr auch die Idee der Falte nähergebracht habe (Mutsaers 1996: 208). Die Parallelen sind offensichtlich: In Die Falte beschreibt Deleuze anhand der bei ihm sehr postmodern verstandenen Ästhetik des Barock, wie der strukturale und von strenger Statik geprägte Raum der Renaissance von einer »Kunst der Texturen« abgelöst wird (Deleuze 1995: 198), die sich auch darin äußert, dass die Mode nicht mehr als dem Körper untergeordnet, sondern von ihm gelöst begriffen wird: »Die Befreiung der Falten, die nicht mehr einfach den endlichen Körper reproduzieren, ist leicht zu erklären: es wird zwischen Kleidung und Körper etwas Drittes, es werden dritte Dinge eingeführt. Das sind die Elemente. […] Vielmehr genügt es, die Weise zu betrachten, in der das Verhältnis von Kleidung und Körper nun durch die Elemente vermittelt, überdehnt und ausgeweitet wird« (Deleuze 1995: 198).

Wind oder Wasser verleihen den Falten in der Kleidung eine Gestalt, die nicht mehr nur vom deren Inhalt, dem Körper vorgegeben ist. Die Falten werden zu Bedeutungsträgern, erfüllen eine Vermittlerfunktion zwischen äußeren Kräften und der Materie, auf die erstere einzuwirken versuchen. »In allen diesen Fällen gewinnen die Kleiderfalten nicht durch ein einfaches Bemühen um Dekoration Autonomie und Weite, sondern dadurch, daß sie die Intensität einer geistigen Kraft ausdrücken, die auf den Körper wirkt, entweder um ihn zu verkehren oder um ihn wiederaufzurichten oder zu erheben, immer aber, um ihn umzudrehen und das Innere daran zur Geltung zu bringen« (Deleuze 1995: 199, Hervorh. im Original).

Der Rock in Rachels rokje erfüllt eine vergleichbare Funktion, was auch anhand der »geistigen Kraft« ausgedrückt werden kann, die das Rock-Subjekt nachhaltig beeinflusst: Immer wieder weht Rachels Röckchen hoch, um eine Veränderung einzuleiten: »Het gaat gepaard met zo’n hevige klap en zo’n hevige windstoot dat haar rokje hoog opwaait en haar dunne halsje omvat als de kelk van een dwarsgestreepte bloem. Als het weer neervalt is het niet hetzelfde rokje meer, qua plooeinval. Ze staat meteen in lichterlaaie. Het kan niet anders of hier werd doortocht verleend aan de bliksem«142 (Mutsaers 1994: 37).

Das Spiel der Elemente gestaltet sich unkontrollierbar, es bricht über die Textur des Röckchens herein:

142 Übers.: »Es geht mit einem derart harten Schlag einher und einem so heftigen Windstoß, daß ihr Röckchen hochflattert und ihren dünnen Hals wie der Kelch einer quergestreiften Blüte umschließt. Als es wieder zusammenfällt, ist es nicht mehr dasselbe Röckchen, vom Faltenwurf her. Sie steht sofort in hellen Flammen. Man kann es nicht anders sagen: Hier wurde dem Blitz Durchzug gewährt« (Mutsaers 1997: 35).

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»Op dit soort dingen heeft de wil geen vat. Zoals hij ook geen vat heeft op de plooienval van uw rokje. De wind, dat is de enige die er vat op heeft en die is nu net ongrijpbaar, al laat hij ons soms achter in grote verslagenheid«143 (Mutsaers 1994: 150).

Die bei Mutsaers bereits textuell angelegte Vorstellung vom Rock als (gefaltetes) Kleidungsstück und Subjekt wurzelt folglich bei Deleuze. Seine Interpretation der barocken Bildsprache beschränkt sich nicht nur auf die Ästhetik, sondern ist auch auf der Ebene der Metaphysik und der Ethik als ethischem Selbstverhältnis wirksam. Die Welt schreibt sich dann als Falte in die Materie ein, während sich die Materie auch in die Welt entfaltet. Noch expliziter als in Le pli findet sich der Gedanke der Subjektwerdung als Faltung, während derer äußere Kräfte wirksam werden, die erst ein Selbstverhältnis erzeugen können, in Deleuzes Band Foucault. In einer Ablehnung der Annahme einer ursächlichen Innerlichkeit oder Tiefe des Subjekts wird dort herausgearbeitet, wie die Subjektivierung als prozessual und veränderlich verstandene Faltung oder Ableitung des Außen entsteht, geformt von jeweils historisch begriffenen Machtverhältnissen, Wissensordnungen und Teleologien.144 Vor dem Hintergrund der Deleuze’schen Subjektkonzeption bestätigt sich das oben bereits dargestellte Primat der Oberfläche, der kein substantieller Charakter zukommt. Diese lässt sich aber, das kann ebenfalls über die Rückkoppelung zu Deleuzes Theorien festgestellt werden, deshalb nicht frei und individuell gestalten, sondern unterliegt Machtmechanismen und äußeren Einflüssen, die die subjektiven – und im Falle von Rachels rokje konkret die weiblich-subjektiven – Faltungen und substantiell erscheinenden Vertiefungen prägen. Welcher Art diese Machtmechanismen sind, lässt sich an den asymmetrischen Geschlechterbeziehungen, die in den vorigen Abschnitten beschrieben wurden, ablesen.

143 Übers.: »Solche Dinge hat der Wille nicht im Griff. Wie er auch den Faltenwurf Ihres Röckchens nicht beeinflussen kann. Der Wind, das ist der einzige, der es im Griff hat, und den kann man nun gerade nicht fassen, auch wenn er uns manchmal in großer Niedergeschlagenheit zurückläßt« (Mutsaers 1997: 156). 144 Die von Rovers herausgearbeitete »Freiheit« des Gesetzes von Herr und Hündin auf Basis der Deleuze’schen Leibniz-Interpretation mutet in dieser Hinsicht etwas statisch an: Als »Freiheit, den eigenen Inklinationen« der Seele zu folgen, soll Rachels Unterwerfungsphantasie gedeutet werden (Rovers 2006: 333), wobei die Inklinationen als »vorgefaltete« Seele, die sich wiederum nach den Umständen faltet, verstanden werden, (Rovers 2006: 331). Eine solche Sichtweise vermittelt den Eindruck einer substantiell und a priori gegebenen Seele, einer Tiefe, auf die erst nachträglich das Außen in Form der Umstände einwirkt.

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Die Unterordnung des weiblichen Subjekts – Charlotte Mutsaers

Abschließende Bemerkungen

Mit der im Kernsymbol des Romanes angelegten unentwirrbaren Verküpfung von Rock und Subjekt spricht Rachels rokje der Oberfläche (des Kleidungsstückes) eine Rolle zu, die geeignet ist, die definitorische Unterscheidung von biologischem und sozialen Geschlecht aufzuheben. Geschlechtlich bestimmte Subjektentwürfe werden einzig auf der veränderlichen Oberflächentextur situiert, der keine essentialistische Tiefenstruktur gegenübersteht. Am deutlichsten zeigt sich dies anhand des Beispiels der an der Protagonistin vollzogenen Kastration, die keine Wunde am Körper zurücklässt, sondern nur im Rockstoff. Gleichzeitig muss bemerkt werden, dass die eindeutige Markierungs- und Verweisungspraxis, die Figuren dabei gemäß sprachlicher Konventionen nach ihrem biologischen Geschlecht unterscheidet, sich dadurch nicht angetastet zeigt. Es werden nicht die biologisch-anatomischen Differenzen an sich in Frage gestellt, sondern jene Konzeptualisierungen von Geschlecht, die diese Differenz als vordiskursive Folie für weitere Geschlechtszuschreibungen begreifen und damit dem gender eine essentialistische Basis unterstellen. Aufgelöst wird die binäre Opposition von Männlichkeit und Weiblichkeit in Rachels rokje also nicht, wohl aber wird ihre Allgemeingültigkeit in Frage gestellt. Der Rock als spezifische Ausdrucksform des weiblichen Subjektes stellt sich bei Mutsaers als gesellschaftliche Norm dar, die der Frau aufgezwungen wird. Der Konstruktcharakter von Geschlecht wird somit betont. Gedoppelt erscheint in diesem Zusammenhang aber die Selbstinszenierung der Protagonistin aus Rachels rokje. Sie trachtet einerseits, ihren Rock und Subjektentwurf individuell auszugestalten, indem sie sich gegenüber der Gesellschaft mit provokanten Auffassungen positioniert und sich von ihr zu befreien sucht, realisiert dabei aber andererseits umso stärker das kulturelle Muster der Abhängigkeit von der männlichen Deutungshoheit. Die Unausweichlichkeit des Einflusses von Machtverhältnissen auf die Subjektkonstitution wird durch die philosophische Verortung des Kernsymbols des Röckchens in der Philosophie von Deleuze betont. Alle Überzeugungen, die Rachel als Individuum charakterisieren, erweisen sich als eingegeben von männlichen (Vater-)figuren, alle Rollen, die sie einnimmt (Hund, Junge, Frau) sind Versuche, die männlichen Projektionen zu realisieren. Die unkritische Übernahme von Ideen erstreckt sich auch auf misogyne Darstellungen. Eingeschrieben in die zirkuläre Raum- und Zeitstruktur des Romans wird dieses der Geschlechterdifferenz eingeschriebene Abhängigkeitsverhältnis ins Endlose perpetuiert.

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Die Wahrheit des Körpers und der Hermaphrodit – Peter Verhelst

Der Flame Peter Verhelst, ein »Kronzeuge« des Postmodernismus (Vaessens 2001: 18), veröffentlichte mehrere Gedichtbände, bevor er 1993 mit Vloeibaar harnas sein Prosadebüt publizierte. In schneller Folge erschienen in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren weitere Prosabände, hauptsächlich Romane – Vloeibaar harnas (1993), Het spierenalfabet (1995)1, De kleurenvanger (1996)2, Tongkat (1999), Zwerm (2005) – aber auch die »Märchen« Zwellend fruit (2000) und die Novelle Memoires van een luipaard (2001). Daneben publizierte Verhelst weiter lyrische Werke, aber auch zunehmend dramatische Arbeiten. Deutlich zeigt sich in Verhelsts Prosawerk eine Entwicklung, die im Laufe der 1990er Jahre zu einer verstärkten Herausarbeitung eines zirkulären Zeitbegriffs sowie einer Radikalisierung des Metapherngebrauches führte: Finden viele Vergleiche in Vloeibaar harnas und Het spierenalfabet noch unter expliziter Verwendung eines vergleichenden Terminus wie »wie« statt, weichen sie in De kleurenvanger, vor allem aber in Tongkat einer unmittelbaren Realisierung des Gesagten durch Literalisierung (vgl. Reugebrink 2001: 21). In Tongkat setzt zudem eine Verweisstruktur ein, die sich auf politische Ereignisse bezieht, ein Verfahren, das im monumentalen Roman Zwerm (2005) fortgesetzt wird. Mit dem Roman Tongkat gelang Verhelst der Durchbruch bei einer relativ breiten Leserschicht, was durch die Verleihung mehrerer Literaturpreise, vor allem aber anhand des von einer jugendlichen Jury vergebenen Preises »Jonge Gouden Uil« illustriert werden kann. In Tongkat, jenem Roman, der aufgrund seiner besonderen Stellung in Verhelsts Werk auch in der vorliegenden Untersuchung fokussiert betrachtet werden soll, erzählen verschiedene Figuren in acht Kapiteln3 ihre Sicht der Ereignisse um eine repressive Monarchie, gegen die sich gewalttätiger Widerstand 1 Auf Deutsch erschienen als Das Muskelalphabet, 1999. 2 Auf Deutsch erschienen als Der Farbenfänger, 1999. 3 Komplettiert werden diese acht Kapitel von einem neunten Abschnitt, der aus einem zweistrophigen Gedicht besteht.

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regt. Im textuellen Universum bewegen sich mythische Titanen neben Mitgliedern der RAF, Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten neben dem christlichen Mystiker Juan de la Cruz, die Mütter von der Plaza de Mayo demonstrieren vor einem Königshaus, das Parallelen mit dem belgischen Königshaus aufweist,4 während Soldaten die Kriegsverbrechen des Kosovo-Krieges neu aufleben lassen. Die Anachronismen scheinen nicht zuletzt einer literalisierten Metapher zu entspringen: »De tijd bevroor. Letterlijk. Vrouwen werden aangesteld om de seconden te tellen, maar ook hun hersenen werden weldra bedekt met een laagje ijs«5 (Verhelst 1999: 13). Die Dystopie wird nämlich von einem extremen Kälteeinbruch und einer in der Tauperiode folgenden Flut biblischer Dimensionen vervollständigt. Die Rahmenhandlung des ersten und letzten Kapitels wird von den Erzählungen der beiden Überlebenden dieser Katastrophen gebildet, von denen der eine sich als Autor (seiner eigenen Erinnerungen), der andere als Leser (dieser nur fragmentarisch überlieferten Erinnerungen) präsentiert.6 Die anderen Kapitel sind großteils ebenfalls in IchForm, aber angesichts ihres Inhaltes offensichtlich post mortem verfasst. Dieser Umstand wird über vier Abschnitte mittels eines am Ende eingefügten »und …«, ganz bewusst in jene zirkuläre Zeitstruktur eingebettet,7 die Vervaeck als Grundfigur des Postmodernismus beschrieben hat (Vervaeck 1999: 150). Viel wurde über die Gründe von Verhelsts Erfolg gerade bei jungen Lesern spekuliert und als Conclusio meist die bildgewaltige Sprache Verhelsts herangezogen, deren obsessive Verfahren viele an die assoziative Ästhetik von Computerspielen, teuer produzierten Hollywoodfilmen und Musikvideos erinnerten (Vaessens 2001: 2, Reugebrink 2001: 15). Mit der offensichtlichen Differenz im Rezeptionsverhalten unterschiedlicher Generationen ging die Überlegung einher, wie die Texte von Verhelst gelesen werden sollten. Insbesondere die universitäre Literaturwissenschaft sprach sich im Gefolge des zu Tongkat verfassten Artikels Postmodernisme en leesstrategie von Thomas Vaessens dabei jedoch weiterhin für eine kritische, den modernistischen Prinzipien8 verpflichtete 4 Insbesondere bezüglich der sogenannten Königsfrage während und nach dem Zweiten Weltkrieg. 5 Übers.: »Die Zeit erfror. Wörtlich. Frauen wurden angestellt, um die Sekunden zu zählen, aber auch ihre Gehirne wurden bald von einer Eisschicht bedeckt.« 6 Das dynamische Verhältnis zwischen diesen beiden Polen wird unter Abschnitt 5.3.4 besprochen. 7 Auch das achte Kapitel, also ein Abschnitt der Rahmenhandlung, und das Gedicht, das das neunte Kapitel ausmacht, enden auf diese Weise. 8 Bei Reugebrink ist die Rede von einem realistischem Paradigma. Auch er sieht den postmodernen Roman von Verhelst als bewusste Konfrontation mit der konventionellen Lesart und dem konventionellen Leser, »waarmee ik bedoel: ¦¦n die hardnekkig op zoek blijft naar bijvoorbeeld een logisch-causale ordening in een tekst die in dat opzicht volledig chaotisch lijkt te zijn« (Reugebrink 2001: 16).

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Lektüre aus (Vaessens 2001, Reugebrink 2001, Gorus 2005). Es sei, so Vaessens, ein »spezifisch literarisches Spiel« (Vaessens 2001: 4) über »implizite Leseinstruktionen« (Vaessens 2001: 7), das der Autor mit seinen Lesern treibe: »Waar het mij om gaat is aan te tonen dat het geen kwaad kan de postmoderne roman Tongkat op een structurerende, rationele manier te lezen, juist omdat het aanzet tot kritische reflectie op deze leeswijze (die ik overigens modernistisch noemen zal) en de mentaliteit waaruit zij voortvloeit. Ik beschrijf de paradoxale situatie dat een postmoderne literaire tekst in eerste instantie vraagt om een leesstrategie die ontwikkeld is met het oog op het analyseren en interpreteren van modernistische teksten«9 (Vaessens 2001: 5).

Auf diese Weise wird der Text in erster Linie als bewusste Auseinandersetzung mit tradiertem, verstehenden Lesen aufgefasst und in der Beschreibung der Dynamik zwischen der Provokation einer solchen Lesart und ihrer Enttäuschung vornehmlich auf metafiktionaler Ebene interpretiert.10 Auch wenn Peter Verhelst wie Atte Jongstra, Stefan Hertmans und Charlotte Mutsaers, aber auch M. Februari, R. A. Basart, Willem Brakman, Louis Ferron, und Pol Hoste nach der in Het postmodernisme dargestellten Auffassung zum engsten Kern postmoderner Schriftsteller gehört, betont Bart Vervaeck die Divergenzen zwischen den einzelnen so etikettierten Schriftstellern. Jeder Autor, so Vervaeck, sei auf eine andere Art postmodern (Vervaeck 1999: 12), und in der Tat ist auch der Postmodernismus von Verhelst anders beschaffen als der Jongstras oder Mutsaers. Dies zeigt sich schon im Umgang mit der Intertextualität, die bei Verhelst besser als Intermedialität gefasst werden kann, da die visuelle Kultur von der bildenden Kunst bis hin zur Filmtradition zu einem wesentlich größeren Teil in Verhelsts Werke eingespeist ist als Texte im engeren Sinn (Gorus 2005: 6, Vervaeck 2006: 451).11 Unter den Texten wiederum sind es vor allem Mythen, Märchen und biblische Geschichten, die in abgewandelter, meist vielfach 9 Übers.: »Es geht mir darum zu zeigen, dass es nicht schaden kann, den postmodernen Roman Tongkat auf eine strukturierende, rationale Art zu lesen, gerade weil es zu einer kritischen Reflexion über diese Lesart (die ich im Übrigen modernistisch nenne) und die Mentalität, aus der sie entstanden ist, führt. Ich beschreibe die paradoxe Situation, dass ein postmoderner literarischer Text in erster Instanz eine Strategie der Leser herausfordert, die im Hinblick auf die Analyse und Interpretation modernistischer Texte entwickelt wurde.« 10 Für Vaessens ergibt sich daraus nämlich just eine engagierte Haltung des postmodernen Romans. Zwar stelle sich das, was als Wirklichkeit betrachtet wurde, als »relativ und kontingent« heraus, in der Konfrontation mit der Arbitrarität sei es aber der Leser (und nicht der Text selbst), der sich positionieren müsse (Vaessens 2001: 26, vgl. auch Vervaeck 2006: 438). Diese Einschätzung steht im Gegensatz zum vielgeäußerten Vorwurf, Verhelst ergäbe sich einem reinen Ästhetizismus, der das kritische und politische Potential von Literatur verblassen ließe (z. B. Bultinck 2000: 173, Reugebrink 2001: 28). 11 Dazu muss erwähnt werden, dass die Musik, vor allem der Kastratengesang, bei Verhelst ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.

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amalgamierter Form aufgerufen werden und nur in unwesentlichem Umfang etwa die kanonisierten Romane der Weltliteratur. Die Präferenz für die Gattung der Märchen zeigt sich teils auch in der Titelgebung der Bücher : Der Paratext von Zwellend fruit weist es als »Märchen« aus, wenngleich es mit Agamemnon, Klytaimnestra, Iphigenia und Orestes mythische Figuren sind, die darin auftreten. Explizit wird in Verhelsts Texten bzw. Paratexten hingegen u. a. verwiesen auf Künstler wie Thierry de Cordier, Francis Bacon und Francisco da Goya12. Der Kunsthistoriker Pieter de Nijs stellt darüber hinaus auch eine große Verwandtschaft von Verhelsts Werk zu Pierre Klossowski, den Stierkampfzyklen von Picasso, generell der von Georges Bataille in Les Larmes d’Eros beschriebenen Ästhetik und einer Performancekunst wie jener von Marina Abramovic fest, Kunst also, die Genuss und Schmerz, Ästhetik und Zerstörung koppelt (Nijs 2001: 47). Die eigentliche und unmittelbare Erfahrung sei es, so Nijs, die Verhelst genau wie jene Künstler an die Stelle ihrer sterilen Darstellung treten lassen wolle: »Ik zie in de activiteiten van kunstenaars als Abramovic, Orlan […] even zovele pogingen om de toeschouwer ›dichter op de huid‹ te komen, hem geen beeld meer voor ogen te toveren, maar de lijfelijke ervaring te geven van het verkeren met de ander, om hem te laten binnendringen in ›het beeld buiten jezelf‹, om hem ›door de spiegel heen te laten stappen‹ – iets wat bijna onontkoombaar inhoudt: het spiegelbeeld vernietigen«13 (Nijs 2001: 47).

Dies scheint bei vielen der professionellen Leser zu funktionieren: »Die Welt gleicht einem Organismus und du selbst einem Sinnesorgan« fasst Hans Goedkoop in dem Versuch, die Wirkung von Verhelsts Schreibweise zu umreißen, seine Lektüre von Het spierenalfabet (Goedkoop 2004: 212)zusammen. Die Sinnlichkeit spielt eine zentrale Rolle in Verhelsts Werk, eine Feststellung, ohne die tatsächlich keine Literaturkritik oder sonstige literaturwissenschaftliche Betrachtung über Verhelsts Bücher auskommt (Gorus 2005: 1). Hugo Brems lässt sie Verhelst deshalb innerhalb eines »nicht-hierarchischen, fließenden, hori-

12 Eine Figur namens Goya tritt etwa in De kleurenvanger auf und weist einige Parallelen mit der historischen Persönlichkeit auf. 13 Übers.: »Ich sehe in den Aktivitäten von Künstlern wie Abramovic, Orlan […] genau so viele Versuche, dem Betrachter ›näher auf die Haut‹ zu rücken, ihm kein Bild mehr vor Augen zu zaubern, sondern eine körperliche Erfahrung vom Umgang mit dem Anderen zu geben, etwas, um ihn in das ›Bild außerhalb von ihm selbst‹ eindringen zu lassen, ihn ›durch den Spiegel hindurchsteigen zu lassen‹ – etwas, was beinahe unvermeidbar auch heißt: das Spiegelbild zerstören.«

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zontalen, erotischen Schreibens« situieren, das an der Schnittfläche zwischen Postmodernismus und ¦criture f¦minine angesiedelt ist.14 Als größter Motor der vielzitierten Sinnlichkeit fungiert das postmoderne Verfahren der Literalisierung, das Metaphern wörtlich nimmt (Vervaeck 1999: 204). Es wird von Verhelst auf die Spitze getrieben: Herzen werden wörtlich aus dem Leib gerissen, der Mensch ohne Moral wird wörtlich zur Ratte, Geschichten werden sich kauend einverleibt. Die Vorliebe für Transformationen und Metamorphosen aller Art entsteht auch genau in diesem Kontext, wenn es sich anbietet, auch den Rahmen der literarischen Phantastik zu einem besseren Verständnis von Verhelsts Werk heranzuziehen (vgl. Abschnitt 5.3.2).15 In der Rezeption von Verhelsts Literatur wurden zentrale poststrukturalistische und postmoderne Konzepte zur Explikation herangezogen. Patrick Peeters greift für das Kritisch Lexicon etwa die Parallelen von dem von Jean-Francois Lyotard verkündeten Abschied von den großen (abendländischen, metaphysischen) Erzählungen und den Verhelst’schen Texten auf (Peeters 2001: 9) »Zo lijkt Verhelst de idee van Jean-Francois Lyotard in de praktijk te brengen dat na het einde van de grote verhalen de lokale verhalen steeds opnieuw verteld moeten worden om mensen van een houvast te voorzien«16 (Peeters 2001: 9).

Auch Reugebrink zieht die großen Erzählungen hinzu, um Verhelsts Schreiben zu erklären und kritisiert im gleichen Zug, dass Verhelst im Gestus der »Auslöschung« der traditionellen Sinngebung das Paradox des postmodernen Abschieds von den großen Erzählungen verwirkliche, das als Substitut dieser Wahrheiten fungiere. Das »Reinheitsverlangen« von Verhelst sei der Glaube an die Vernichtung der traditionellen Sinngebung im Namen eines allerletzten Sinns (Reugebrink 2001: 28). Schließlich verortet Vervaeck die Präferenz für den Tastsinn im Werk des Flamen in der »Abkehr von der westlichen Erkenntnis«, die »visuell orientiert ist« (Vervaeck 2006: 436). Darüber hinaus fungiert offensichtlich vor allem die poststrukturalistische Sprachkritik als Folie auch für die Betrachtung der oben erwähnten Strategie der Literalisierung. Vervaeck definiert diese unter deutlicher Abgrenzung von körperlich verstandenen Metamorphosen:

14 Brems’ Darstellung lässt ob ihrer für eine Literaturgeschichte zu erwartenden Kürze in den Ausführungen zum Œuvre einzelner Autoren einige Fragen offen (vgl. auch Abschnitt 1.4). 15 Dies geschieht in bewusster Distanzierung von Vervaecks Unterscheidung der Literalisierung der Metapher von wahrhaften Metamorphosen (Vervaeck 1999: 204). 16 Übers.: »So scheint Verhelst die Idee von Jean-Francois Lyotard in die Praxis umzusetzen, gemäß der nach dem Ende der großen Erzählungen die lokalen Erzählungen immer wieder erzählt werden müssen, um den Menschen Halt zu geben.«

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»Het letterlijk nemen van de beeldsprak, waardoor het ›alsof‹ wegvalt. Zo kan een mens in een postmoderne roman letterlijk een machine of een dier worden.17 Dit is geen groteske of surrealistische metamorfose, maar een doortrekken van de postmoderne opvatting dat de mens en de wereld slechts bestaan in een netwerk van beelden«18 (Vervaeck 1999: 204).

Es gelte trotz der extremen Körperlichkeit der entstandenen Bilder der Primat der Sprache, wie Vervaeck betont: »Essentieel aan deze lijfelijke taal is dat ze beeld is en moet blijven. Het gaat in de postmoderne roman zeker niet om een analytische, wetenschappelijke en klinische beschrijving van het lichaam. Dat zou de taal van de formule en van de naamgeving zijn en daar heeft de lichamelijke taal van de postmodernist een afkeer van. Wat benoemd wordt, verdwijnt; wat verbeeld wordt, resoneert en zorgt voor samenhangen«19 (Vervaeck 1999: 111).

Metamorphosen, körperliche Transgressionen und Sinnlichkeit von postmodernen Texten werden durch diese Darstellung in den Dienst sprachlicher Weiterverweisung gestellt, die wiederum aufzeigt, dass ein Signifikationsprozess nie zu einem Abschluss kommen kann, weil »das eine Bild eine Maske für das andere ist«, ohne dass es einen Kern gäbe, auf den sich alles bezöge (Vervaeck 1999: 115).20 »Zo kan de postmoderne taal beschreven worden als een maskerade zonder einde, een doorverwijzing van taal naar lichaam, mens en wereld, zonder dat die verwijzing ooit aankomt bij een eindpunt, dat wil zeggen een echte mens of wereld of lijfelijkheid. Alles is altijd onderweg en niets valt ooit volledig samen met zichzelf of met iets anders«21 (Vervaeck 1999: 116). 17 Hier bezieht sich Vervaeck, wie aus dem weiteren Verlauf der Argumentation ersichtlich wird v. a. auf Beispiele aus Verhelsts Werk. 18 Übers.: »Das wörtliche Verständnis der Bildsprache, wodurch das Als-ob wegfällt. So kann ein Mensch in einem postmodernen Roman wörtlich ein Tier oder eine Maschine werden. Das ist keine Groteske oder surrealistische Metamorphose, sondern ein Weiterführen des Gedankens, dass der Mensch und die Welt nur in einem Netzwerk von Bildern bestehen.« 19 Übers.: »Essentiell an dieser körperlichen Sprache ist, dass sie Bild ist und bleiben muss. Es geht im postmodernen Roman sicherlich nicht um eine analytische, wissenschaftliche und klinische Beschreibung des Körpers. Das wäre die Sprache der Formeln und der Benennung und davon wendet sich die körperliche Sprache des Postmodernisten ab. Was benannt wird, verschwindet, was verbildlicht wird, resoniert und sorgt für Zusammenhänge.« 20 Diese Sichtweise beschränkt sich augenscheinlich auf den Kreis der universitär-institutionellen Literaturwissenschaft. Auffällig ist, dass etwa der niederländische Literaturkritiker Arie Storm Verhelst weniger akademisiert betrachtet. »Voor de goede orde: met zijn fragmentarische [op beelden georienteerde] aanpak stelt Verhelst zich dus niet tot doel op postmoderne wijze de kunstmatigheid van zijn schrijven te benadrukken. Voor Verhelst ist er geen verschil tussen lezen en leven« (Storm 2001: 11). 21 Übers.: »So kann die postmoderne Sprache als Maskerade ohne Ende beschrieben werden, als Weiterverweisen von Sprache zu Körper, Mensch und Welt, ohne dass der Verweis jemals einen Endpunkt erreicht, das heißt, einen echten Menschen oder Körperlichkeit. Alles ist

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Vervaeck geht auch wiederholt auf die Praxis der Dechiffrierung ein, also das exzessive Verweisen bis zur Auflösung konkreter Bedeutung bei Verhelst,22 situiert dies in einem Artikel zunächst aber im Kontext der negativen Dialektik Adornos: Etwas werde »so weit durchgeführt, dass es in sein Gegenteil umschlägt« (Vervaeck 2004: 825): »Dat is de verklaring voor alle postmoderne verstoringen van de traditionele logica: een dode kan een levende worden, een slachtoffer een beul, […] een koning een terrorist […]«23 (Vervaeck 2004: 826). In einer späteren Publikation, der Monographie Literaire hellevaarten (2006), nennt er das gleiche System24 »dekonstruktiv« (Vervaeck 2006: 420): »De onderwereld van Verhelst construeert en deconstrueert het systeem van de bovenwereld, en omgekeerd. Het systeem kan niet zonder zijn onderkant«25 (Vervaeck 2006: 420).

Die dekonstruktive Wirkung ist dabei nicht nur auf den Gegensatz von Unterwelt und Welt bezogen, sondern bestimmt auch andere konventionelle Dichotomien wie Traum und Wirklichkeit, Wärme und Kälte sowie Himmel und Hölle (Vervaeck 2006: 420, 417). Ausführlich beschreibt Vervaeck die vielfältigen Strategien, die diese Auflösung der Dualismen herbeiführen: Nicht nur sind die Räume von Hölle und Erde, Unterwelt und Welt »porös« (Vervaeck 2006: 422), im wörtlichen Sinne an vielen Stellen durchgängig, was im Kontext traditioneller Höllenfahrten mit deutlich definierten Höllentoren eine auffällige postmoderne Verschiebung darstellt; den verschiedenen Lebensräumen sind auch Figuren zugeordnet, die die jeweilige Welt personifizieren, und die im Laufe des Romans aber die Räume tauschen.26 Vielfach finden sich in der einschlägigen Forschungsliteratur Darstellungen von aufgehobenen Dualismen, denen eine ganz zentrale Rolle im Werk von Verhelst zuerkannt wird (Nijs 20001: 53). Es beginnt bei der Funktion des exzessiv beschriebenen, sinnlichen Essens in Het spierenalfabet, das Innen und Außen verschmelzen lasse (Vervaeck 1999: 83), verläuft über die Aufhebung der Trennung von Lesen und Schreiben Tongkat (Storm 2001: 10), aber auch u. a. von

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immer in Bewegung und nichts fällt vollständig mit sich selbst oder etwas anderem zusammen.« Hier bezogen auf Tongkat. Übers.: »Das ist eine Erklärung für alle postmodernen Störungen der traditionellen Logik: Ein Toter kann lebendig werden, ein Opfer ein Henker, […] ein König ein Terrorist […].« Ebenfalls bezogen auf Tongkat. Übers.: »Verhelsts Unterwelt konstruiert und dekonstruiert das System der Oberwelt und umgekehrt. Das System funktioniert nicht ohne seine Kehrseite.« Vervaeck sieht Himmel, Erde und Hölle personifiziert in den Figuren Juans, des Königs und des Aufständischen Carlos. Juan arbeitet aber sowohl den Aufständischen wie auch dem Königshaus zu, Carlos gehört zu den neuen Herrschern nach der Revolution, der König stürmt gar zusammen mit den revoltierenden Massen die Mauern des eigenen Palastes (Vervaeck 2006: 425).

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Leben und Tod (Vervaeck 2004b: 818), Zeit und Raum (Vervaeck 2004b: 819), Feuer und Eis (Vervaeck 2004b: 819), Machthaber und Revolutionäre (Vervaeck 2006: 417) und endet bei der Frage, ob die vielfach beschriebenen Tode Folgen sind »von einem Sprung oder einem Stoß«, »Wahl oder Zwang« (Vervaeck 2006: 426). Zuweilen aber drifte, das beschreibt Reugebrink, die Auflösung der Gegensätze in pure Destruktion ab (Reugebrink 2001: 24). Ein Spezifikum der Verhelst’schen Dechiffrierung ist in der Tat die Dopplung ihres bedeutungsauflösenden und sprachkritischen Effektes durch die obsessive, explizite Thematisierung des Auslöschens und Zerstörens, die sich in allen Romanen Verhelsts findet. So ist der erste Satz aus Het spierenalfabet als Frage formuliert: »Wie kann ein beschriebenes Blatt wieder jungfräulich weiß werden?« (Verhelst 1995: 9). Die anorektische Figur Lore tanzt über komplizierte Figuren im Dunkeln das englische Wort »delete« als verschlüsselte Botschaft und auch eingeschobene naturwissenschaftliche Fakten demonstrieren ein einschlägiges Interesse: »Aan het eind van haar bestaan spat de zon uit elkaar en verstrooit het gros van haar elementen in de ruimte. Alleen zware sterren imploderen niet. Ze vormen zwarte gaten die alles wat in hun nabijheid komt verzwelgen. Een zon bijvoorbeeld«27 (Verhelst 1995: 174).

Das vielzitierte Pentagramm, das eine Basisstruktur im Werk Verhelsts darstellt und mit immer neuen Bedeutungen aufgeladen, dechiffriert und »kontaminiert« wird (Vervaeck 2006: 445),28 zerfällt in Vloeibaar harnas schließlich wörtlich in seine als Graphik in den Text aufgenommenen Einzelteile, die in zackiger Schrift AIDS buchstabieren. Sie kündigen den Tod der Figur Felix an, ein Vorgang, der wiederum als »Dekonstruktion« bezeichnet wird (Peeters 2001: 8). In Het spierenalfabet wird der metafiktionale Charakter dieses Verfahrens durch einen Dialog der beiden Protagonisten hervorgehoben, der sich um ein Buch dreht: »De auteur ervan is geobsedeerd door structuren die zo stompzinnig zijn dat ze nauwelijks serieus kunnen worden genomen«29 (Verhelst 1995: 59).

27 Übers.: »Am Ende ihrer Existenz spritzt die Sonne auseinander und verstreut das Gros ihrer Elementen im Raum. Nur schwere Sterne implodieren nicht. Sie formen schwarze Löcher, die alles, was sich ihnen nähert, verschlingen. Eine Sonne zum Beispiel.« 28 In Vloeibaar harnas verweist das Pentagramm auf das RAF-Symbol, den Antichrist, Alpha und Omega, den Engel, Zweigeschlechtlichkeit, in De kleurenvanger auf die Orte der Handlung, in Tongkat auf die Gewalttätigkeit, auf die Leiche des Königs, auf die Wunde von Opfern der Titanen, aber auch auf eine Art Initiationsritus, der eine Tätowierung beinhaltet, auf die Titanen selbst und auf die RAF, in Het spierenalfabet auf die paradoxale Figur der Auslöschung (vgl. Nijs 2001: 33 f). 29 Übers.: »Dessen Autor ist besessen von Strukturen, die so stumpfsinnig sind, dass sie nicht ernstgenommen werden können.«

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Der Verweis wird noch konkreter ausgestaltet, indem betont wird, der Autor verwende ein Pentagramm als Basisstruktur seines Werks: »Wel, de auteur van het verhaaltje hier gebruikt het pentagram als basisstructuur van zijn oeuvre, of hoe heet dat, en tegelijkertijd probeert hij die structuur de hele tijd te ondermijnen […]«30 (Verhelst 1995: 59).

Insgesamt gilt: »[E]lke structuur die gesloten is, is per definitie sucidaal, zelfvernietigend en dus ook labiel«31 (Verhelst 1995: 60), eine Aussage, die Goedkoop sogar als »Das Gesetz von Verhelst« bezeichnet (Goedkoop 2004: 215). Die Figur der Auslöschung wird auch oft in der Rezeption von Verhelsts Texten übernommen, um die gesamtheitliche Wirkung seiner Literatur zu charakterisieren. Nach Goedkoop präsentiert sich der Roman Tongkat als »der perfekte Selbstmörder«, der seine Leiche selbst beseitigt und nur Leere hinterlässt (Goedkoop 2004: 222). »Met zijn tot in het waanzinnige geconcentreerde leegte is het een roman als een zwarte zon, of witte inkt, een toets met de letters DEL. het is niet te beoordelen naar gangbare maatstaven van goed en slecht en mooi en lelijk, Het is, dat is alles. Dat wil zeggen, het is niets. Maar God, wat is dat veel«32 (Goedkoop 2004: 224).

Nijs argumentiert ähnlich: »[…] zo breekt Verhelst steeds opnieuw het systeem af dat aan zijn romans ten grondslag ligt en dat de lezer als lezend met meer of minder moeite heeft mee ge(re)construeerd«33 (Nijs 2001: 29). Inwieweit dies auch auf die Geschlechterdifferenz zutrifft, soll im Folgenden untersucht werden. Wurde dem Geschlechter-Aspekt im Werk von Atte Jongstra kaum Beachtung zuteil, obwohl durch die vielfache (ironisierte) Zitation misogyner Auffassungen und die Sehnsucht der durchwegs männlichen Protagonisten nach einer Verschmelzung mit einer Frau dies geradezu herauszufordern scheinen, verhält sich dies bezüglich des Prosawerkes von Peter Verhelst anders. De Nijs nennt die »(Geschlechts-)Transformation« selbst einen der zentralen Aspekte bei Verhelst 30 Übers.: »Ja, der Autor dieser Geschichte hier verwendet das Pentagramm als Basisstruktur seines Œuvres, oder wie das heißt, und gleichzeitig versucht er diese Struktur die ganze Zeit zu untergraben […].« 31 »[…] jede geschlossene Struktur ist per definitionem selbstmörderisch, selbstvernichtend und so eben auch labil.« 32 Übers.: »Mit seiner bis ins Wahnsinnige konzentrierten Leere ist es ein Roman wie eine schwarze Sonne oder weiße Tinte, eine Taste mit den Buchstaben DEL. Er ist nicht nach den gängigen Maßstäben von gut oder schlecht und schön oder hässlich zu beurteilen. Er ist, das ist alles. Das heißt, er ist nichts. Aber mein lieber Gott, ist das viel.« 33 Übers.: »[…] so bringt Verhelst immer wieder das System zum Einsturz, das seinen Romanen zugrunde liegt und das der Leser während des Lesens mit mehr oder weniger Mühe mit (re)konstruiert hat.«

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(De Nijs 2001: 35).34 Bart Vervaeck hebt hervor, dass die Figur des Hermaphroditen in jedem der Verhelst’schen Romane auftrete35 und den hybridischen Charakter der Körperlichkeit verstärke, und Hugo Brems spricht, wie bereits erwähnt, vom »weiblichen, fließenden« Schreiben Verhelsts. Dies verheißt interessante Ansätze für die Geschlechterperspektive auf Verhelsts Romane. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass es trotz immer wiederkehrender Motive aus dem Bereich der Transgressionen zwischen den Geschlechtern wichtig ist, innerhalb des Verhelst’schen Œuvres zu differenzieren und zu nuancieren. Es ergeben sich, auch bedingt durch die oben bereits angedeutete Radikalisierung der Literalisierung im Laufe von Verhelsts literarischem Schaffen deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Romanen, wobei insbesondere De kleurenvanger eine besondere, weil großteils geschlechterdekonstruierende Position einnimmt. Im Folgenden sollen deshalb um die exemplarische und zentrale Analyse von Tongkat die wesentlichen Parallelen und Verdichtungen, aber auch Differenzen zwischen den Romanen herausgearbeitet werden. Als Ansatzpunkte fungieren die Erzählperspektiven, die Problematisierung des Konzeptes der Identität über figurale Dopplungen und Übergänge, aber auch das Cross-Dressing, die Vorstellung eines dritten Geschlechts und Androgynität und Hermaphroditismus. Daneben soll mithilfe der feministischen Narratologie auch die Blickökonomie in den Verhelst’schen Romanen studiert werden.

5.1

Das Geschlecht der Erzählung

Meist erzählen die Figuren in Verhelsts Prosa ihre eigenen Geschichten, sind also als homo- oder autodiegetische Erzähler zu bezeichnen. Während jedoch in Vloeibaar harnas, Het spierenalfabet und Memoires van een luipaard durchgängig ein Ich-Erzähler auftritt, zeichnen sich De kleurenvanger, Tongkat und auch Zwellend fruit und Zwerm durch polyphone Konstruktionen aus. In den frühen Romanen Vloeibaar harnas und Het spierenalfabet sind diese Erzähler eindeutig männlich markiert,36 ebenso wie sich die verschiedenen Erzählin34 Die anderen Aspekte sind lt. Nijs Tauromachie, Dekapitation, Kastration, Reflexion und Religion. 35 Vervaecks Het postmodernisme bezieht sich dabei aufgrund des Erscheinungsdatums nur auf die Romane, die vor 1999 erschienen sind, also Vloeibaar harnas, Het spierenalfabet und De kleurenvanger. 36 In Vloeibaar harnas geschieht das über die körperliche Selbstdarstellung des Erzählers, die Bartstoppeln um seinen Mund (Verhelst 1993: 7), sowie über die an mehreren Stellen thematisierte Beziehung zu dem explizit homosexuellen Felix, der dem Ich-Erzähler seine Liebe gesteht, die dieser aber aufgrund seiner Präferenz für Frauen nicht erwidert (Verhelst 1993: 28). Zwar wird diese geschlechtliche Zuordnung an keiner Stelle problematisiert, jedoch

Das Geschlecht der Erzählung

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stanzen aus De kleurenvanger und Tongkat über die Verwendung von Personalpronomen, Bezeichnungen wie »Junge«, »Mädchen«, »Mann« oder »Frau« sowie körperliche Beschreibungen jeweils einem Geschlecht zuordnen lassen. In Memoires van een luipaard ist dies anders, weshalb an dieser Stelle ausführlicher darauf eingegangen werden soll:37 Konsequent werden eindeutige Aussagen über das Geschlecht des Erzählers vermieden, wenn auch wiederholt suggeriert wird, es handle sich um eine Frau. Diese Suggestion funktioniert nur über bewusste Auslassungen und Aktivierungen der Erwartungshaltung der Leser. Die wohl eindeutigste Stelle schildert einen Dialog zwischen der Erzählinstanz und dem begehrten Mädchen, das in einem einschlägigen Etablissement ihren Körper anbietet. »Ik schoof de kap van mijn hoofd en schudde mijn haren los. ›Ik ben…‹ ›Ik had het gehoord an je stem,‹ zei ze«38 (Verhelst 2001: 11).

An den über das Geschlecht entscheidenden Stellen klafft den Lesern eine Leerstelle der textuellen Welt entgegen, die mithilfe des Prinzips der geringsten Abweichung39 auch ohne weitere textinterne Aussagen ergänzt werden kann. Dabei ist weniger entscheidend, dass die Leser die Leerstelle wahrscheinlich mit einer weiblichen Besetzung füllen,40 sondern vielmehr, dass sie durch die Auslassungszeichen gezwungen werden, dies zu tun. Ein reiner Automatismus, der wie unter Abschnitt 2.1.1 beschrieben dazu führt, Charles Bovary aufgrund kognitiver Implikationen mehr oder weniger unbewusst einen intakten menschlichen Körper mit zwei Beinen zuzuschreiben, ist hier nicht ausreichend. Vielmehr wird die Aktivierung der Leser durch die Auslassung hypostasiert. Sie ist dem Text gar strukturell eingeschrieben, indem sich die Zurückhaltung der Erzählinstanz gegenüber Aussagen zu ihrem eigenen Geschlecht auch nach der oben zitierten Suggestion der Weiblichkeit stets aufs Neue zeigt. So heißt es etwa: »[i]ch hörte meinen Namen, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte« (Verhelst

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muss bemerkt werden, dass sie indirekt erfolgt, ohne Personalpronomen zu nennen oder die Zuschreibung »Mann« ausdrücklich vorzunehmen. In Het spierenalfabet ist der Ich-Erzähler hingegen unproblematisch männlich markiert. Obwohl Memoires eher als Novelle zu bezeichnen ist denn als Roman, wird das Werk aufgrund seines interessanten Umgangs mit dem Geschlecht der Erzählinstanz hier besprochen. Übers.: »Ich schob die Kappe von meinem Kopf und schüttelte meine Haare aus. ›Ich bin …‹ ›Ich habe es an deiner Stimme gehört,‹ sagte sie.« Schließlich können (lange) Haare und eine (höhere) Stimme impliziert und dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden. Eine Interpretation, die sich im weiteren Verlauf des Textes als haltbar erweist und somit inhaltlich nicht problematisiert wird.

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Die Wahrheit des Körpers und der Hermaphrodit – Peter Verhelst

2001: 17), ohne dass dieser Name im weiteren Verlauf genannt wird.41 Auffällig erscheint auch die textuelle Indifferenz im folgenden Textbeispiel: »Waarom spreekt men altijd over een man en een vrouw als men het over liefde heeft? Ik heb [de buurvrouw] naar mannen zien kijken. Ze had evengoed naar een kast kunnen kijken, of zelfs naar een ingenieus in elkaar gezette kast. Ik heb haar naar vrouwen zien kijken. Haar ogen veranderden in zachte vingertoppen en een tong. Ik heb haar naar mij zien kijken«42 (Verhelst 2001: 28).

Die Anordnung der Erzählung mag nahelegen, es ginge bei dem »mich« um eine Frau,43 doch der spezifische Inhalt des potentiell aussagekräftigen, weil differierenden Blickes der Nachbarin auf die Erzählinstanz wird nicht mehr beschrieben.44 Auch hier wird eine Einordnung in die geschlechtlichen Kategorien seitens der Leser herausgefordert. Das Verfahren Verhelsts legt damit zwei wichtige konventionelle Deutungsmuster offen: zum einen die oft automatische Identifikation des Geschlechts des Autors mit jenem der Erzählinstanz (Lanser 1995: 89), die über die Suggestion der Weiblichkeit bewusst verstört wird, und zum anderen die der heterosexuellen Normativität. Die Figur, auf die sich das Begehren in Memoires van een luipaard richtet, ist eindeutig eine Frau. Mit der Zuschreibung der Weiblichkeit an die Erzählinstanz45 handelt es sich somit um die Darstellung lesbischen Begehrens.46 Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang auch das Gedicht luipaard, das die Erzählung Memoires van een luipaard begleitet: Auf jeder Buchseite wird in 41 Auch die Aussage »[t]oen ik nog een kind was« (Verhelst 2001: 61), passt in diesen Rahmen, ist in ihrer Formulierung aber sicherlich konventioneller. 42 Übers.: »Warum spricht man immer über einen Mann und eine Frau, wenn man über die Liebe spricht? Ich habe [die Nachbarin] Männer anblicken gesehen. Sie hätte ebenso gut auf einen Schrank blicken können oder sogar auf einen genial konstruierten Schrank. Ich habe sie Frauen anblicken gesehen. Ihre Augen verwandelten sich in sanfte Fingerspitzen und eine Zunge. Ich habe sie mich anblicken gesehen.« 43 Allerdings könnte aus der erzählerischen Anordnung heraus das Ich in diesem Kontext auch als ein drittes Geschlecht, eine zusätzliche Kategorie, betrachtet werden. 44 Auch in einer anderen Passage ist es die Struktur eines Vergleiches, die eine Zuordnung zum weiblichen Geschlecht wahrscheinlich macht: »Zoals een man droomt van een zoon omdat die hem later zal kunnen dragen tijdens de uitgeputte, laatste dagen, zo had ik van haar gedroomd tijdens mijn klim naar het licht« (Verhelst 2001: 53). Übers.: »Wie ein Mann von einem Sohn träumt, weil dieser ihn später in seinen erschöpften letzten Tagen tragen könnte, so hatte ich von ihr geträumt während meines Kletterns zum Licht.« 45 Im Übrigen auch entgegen den intermedialen Verweisen: Mit der im Paratext erwähnten Oper Orfeo ed Eurydice (1762) von Christoph Willibald Gluck wird ebenso ein heterosexuelles Verhältnis heraufbeschworen wie mit den visuellen Parallelen zum Film Cat people (1942 in der Verfilmung von Jacques Tourneur, 1982 von Paul Schrader). Die Funktion dieser Prätexte habe ich an anderer Stelle ausführlich besprochen (Bundschuh-van Duikeren 2010). 46 Im engen Zusammenhang mit dem homosexuellen Verhältnis steht das dominante Motiv des Spiegelns, das an vielen Stellen in Memoires ausgearbeitet wird.

Das Geschlecht der Erzählung

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der Kopfzeile das Gedicht fortgesetzt, sodass die Lyrik die Prosa zu kommentieren scheint (oder umgekehrt). Das Gedicht zeichnet sich durch mehrere Stimmwechsel aus: Anfangs wird von einem »Wir« erzählt, das durch neutrale Bezüge auf die zwei auftretenden Personen (»de een« und »de ander«, wobei der niederländische Artikel »de« keine Rückschlüsse auf das Genus zulässt) die geschlechtliche Markierung bewusst vermeidet. Dann geht die kollektive Instanz in ein – geschlechtlich unmarkiertes – lyrisches Ich über, das allerdings eine deutlich markierte »sie« begehrt. An dieser Stelle ist die Perspektive auch ident mit der Erzählsituation, die den Prosatext beherrscht. Das Gedicht endet allerdings mit der für Verhelst so typischen zweiten Person Singular, die wiederum viele Interpretationsmöglichkeiten offenlässt. Das »Du« kann das (weibliche) Objekt der Begierde sein, das unpersönliche »Man«, ein implizites »Ich« oder auch der Leser des Gedichtes, wodurch Subjekt und Objekt, Leser und lyrische Figuren, Individuum und Allgemeinheit ineinander übergehen, ein Verfahren, das dazu geeignet ist, das binäre Schema der Geschlechtercodierung auszuhebeln. Wird die heterosexuelle Matrix und die automatische Zuschreibung von Männlichkeit an Ich-Erzähler in Texten männlicher Autoren in Memoires van een luipaard vor allem über die Ebene der geschlechtlichen Markierung der Erzählinstanz abgehandelt, wird in De kleurenvanger der umgekehrte Weg eingeschlagen. Die drei dominanten Erzählinstanzen, die jeweils durch ein graphisch dargestelltes Symbol am Kapitelanfang – ein Flügel, eine Meerjungfrau sowie ein Bienenstock – erkennbar sind (sie sollen im Folgenden aufgrund ihrer Namenlosigkeit auch anhand ihrer Symbole identifiziert werden), sind durchaus geschlechtlich markiert.47 Indem ihre Erzählungen zu einem großen Teil verschiedene Perspektiven auf die geteilte Geschichte, die Geschehnisse der textuell aktualen Welt liefern, kann außerdem ein Abgleich zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung stattfinden, der die Zuschreibungen durch die Erzähler bestätigt. Die Figur der Meerjungfrau wird dabei immer sowohl vom Flügel- als auch vom Bienenkorb-Erzähler als »sie« und »das Mädchen« bezeichnet, während ihre Selbstbeschreibung nicht eindeutig ist (vgl. Abschnitt 5.4). Fasst man die Verteilung der Erzählstimmen auf männliche und weibliche Figuren – die Erzähler in De kleurenvanger sind allesamt homodiegetisch – ins Auge, so kann festgestellt werden, dass der Bienenkorb-Erzähler eine quantitativ untergeordnete Quelle ist, während der (eindeutig männliche) Flügel-Erzähler sowohl quantitativ als qualitativ das Geschehen bestimmt. Von 49 Abschnitten werden 47 Bereits auf der ersten Textseite verwendet der Flügel-Erzähler die Formulierung »Jungen wie ich« (Verhelst 1996: 9). Der Bienenkorb-Erzähler stellt sich mit den Worten »Ich bin der Leimstangenmann« vor (Verhelst 1996: 94). Auch die Meerjungfrau-Erzählinstanz nimmt Geschlechtszuschreibungen vor, wobei diese komplex gestaltet sind. Vgl. hierzu Abschnitt 5.4.

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29 aus der Perspektive des männlichen Flügel-Erzählers berichtet und nur 13 aus jener der Meerjungfrau-Erzählerinstanz.48 Dazu kommt der qualitative Unterschied beider Perspektiven: Dem Flügel-Erzähler obliegt es durchgehend, neue Situationen und Geschehnisse sowohl auf dem Niveau des r¦cit als auch der histoire zu beschreiben. Da der Roman einen auf zeitlicher Ebene relativ linear erzählten Kern (eine Reiseerzählung) umfasst,49 wird ein Großteil der den Lesern vermittelten »Fakten« von dieser Erzählinstanz getragen, während die Meerjungfrau-Erzählinstanz diese Fakten hauptsächlich durch ihre eigene Sichtweise ergänzt. Meist bestätigt sie in groben Zügen jeweils die Version des FlügelErzählers, und kann nur wenige Geschehnisse der erzählten Geschichte (im Sinne des histoire) exklusiv präsentieren. In De kleurenvanger ist die dominante Perspektive damit eine (eindeutig) männliche. Unter den Erzählinstanzen in Tongkat, die gleich der polyphonen Strategie in De kleurenvanger, jeweils per Kapitel wechseln,50 sind sieben Ich-Erzähler, sowie eine personale Erzählinstanz, die ihrerseits nur eine Figur als Fokalisator einsetzt und somit einen ähnlichen erzählerischen Effekt hervorruft wie die homodiegetischen Instanzen. Fünf Erzähler präsentieren sich als männlich und drei als weiblich, wobei zwei der von weiblichen Ich-Erzählern bestrittenen Abschnitte als einzige mit der gleichen, titelgebenden Überschrift »Tongkat« [dt. Zungenkatze] bedacht werden und chronologisch (bezogen auf die textuell aktuale Welt) und perspektivisch aneinander anschließen, also nur eine anthropomorphe Erzählstimme zu umfassen scheinen. Als letztes, neuntes Kapitel fungiert ein Gedicht, dessen lyrisches Ich nicht näher bezeichnet wird. Dennoch kann das 5:2 Geschlechterverhältnis nicht ohne weiteres aufrechterhalten werden: Verschiedene textuelle Verfahren, die in den folgenden Abschnitten ausführlich beschrieben werden sollen, bewirken eine Aufweichung der Trennung der sieben Erzählinstanzen als Entitäten.

48 Von den restlichen Abschnitten entfallen vier auf den Bienenkorb-Erzähler und drei weitere auf andersartige Einschübe (z. B. das »Intermezzo« von Michelangelo). 49 Diese wird allerdings von zahlreichen Einschüben und Parallelerzählungen durchbrochen. Van Kempen schreibt deshalb von einer »polyphonen« Erzählweise: »De verhalen grijpen op elkaar in, overlappen elkaar, vloeien in elkaar over, slokken elkaar op of weerspreken elkaar, met als gevolg dat de romans zich maar lastig laten duiden« (Van Kempen 2001: 3). 50 Eine Einteilung in abgeschlossene Identitäten ist in Tongkat unter Einbeziehung aller narrativen Ebenen durchaus problematisch, wie unter Abschnitt 5.2. herausgearbeitet wird. Die hier dargestellte Struktur stellt so auch nur eine erste Orientierung dar, die lediglich die oberflächlichen Ordnungsprinzipien nachzeichnet, um sie im weiteren Verlauf der Argumentation zu einem differenzierten Bild aufzufächern.

Lesarten der Identität

5.2

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Mit dem Titel des Romans Tongkat wird das zentrale Bild der Katze, das im Text viele Figuren und Erzähler vereint, aufgegriffen. Er verweist nicht nur auf die Erzählerin der gleichnamigen zwei Kapitel, die als Prostituierte den Namen »Zungenkatze« führt. Der Erzähler des achten Kapitels, der Kammerdiener des Königs, verwirklicht die Katzenexistenz auf einem anderen Niveau. Er behauptet über sich selbst: »Ik heb evenveel levens als een kat. Maar ik ben wel al acht keer gestorven«51 (Verhelst 1999: 262). Die Tatsache, dass Tongkat neun Kapitel umfasst, hat die Rezeption des Buches dann auch in die Richtung der neun Katzenleben gelenkt : »Eine Katze hat neun Leben – die neun Kapitel des Buches«, schreibt Bart Vervaeck (2006: 424). Auch Hugo Boussets Interpretation schlägt in die gleiche Kerbe: »Die Ich-Figur des ersten […] Kapitels von Tongkat hat neun Leben« und ergänzt sogar, es handle sich dabei manchmal um »das eines Mannes, manchmal das einer Frau« (Bousset 1999 : 761).52 Grundsätzlich gelte: »de precieze identiteit van [Verhelsts] personages ligt vaak niet helemaal vast. Verhelst werkt veel met metamorfoses, dubbelgangers, en persoonsverwisselingen«53 (Storm 2001: 12), »[j]eder hat dutzende Identitäten […]« (Verhelst 2004: 828). Aus der Geschlechter-Perspektive ist dies eine besonders interessante Auffassung, der im Folgenden auch nachgegangen werden soll. 51 Übers.: »Ich habe ebenso viele Leben wie eine Katze. Aber ich bin schon acht Mal gestorben.« 52 Die explizite Benennung der neun Leben, die Bousset vornimmt, ist dabei nur schwer nachvollziehbar. Er sieht jeweils ein Leben verwirklicht in den Figuren des Leidensfängers nach Thierry de Cordier, dem Titanensohn Prometheus, der RAF-Terroristin Ulrike, des Mädchens-mit-dem-roten-Haar, des Königs, des Kammerdieners, des Findelkindes, Gudruns sowie – als »het ultieme leven«, von Juan. Abgesehen von der hierarchischen Unterordnung der übrigen acht Leben unter die Existenz des Mystikers Juan (Bousset 1999: 762), die anhand des Textes kaum belegbar ist, ist die Nennung einiger Figuren in diesem Zusammenhang überraschend. Während der Romantext eine Vielzahl von Hinweisen liefert, die die Identität von Ulrike und dem Mädchen-mit-dem-roten-Haar, aber auch von Kammerdiener und Findelkind suggerieren und somit eine getrennte Erfassung der Leben ad absurdum führen (Bousset 1999: 762), tritt Gudrun, im Gegensatz zu den anderen von Bousset genannten Figuren bzw. Leben, gar nicht als Erzählinstanz oder Fokalisator auf, sondern erscheint nur als eine von mehreren handelnden Figuren. Die Umschreibung ihrer Rolle wird von Bousset nicht weiter begründet. In Boussets Rezension gilt es auch an anderer Stelle ungenaue Zuschreibungen festzustellen, etwa durch den Beleg für die an sich plausible Behauptung, die mythologischen Figuren Ikarus und Prometheus würden in der Figur des Titanensohns Prometheus verschmelzen (Bousset 1999: 762), der an dem im Roman beschriebenen Angstbild eines auf der Brust von Prometheus befestigten Vogelkäfigs festgemacht wird. Diese Szene wird zwar beschrieben, aber nicht anhand der Figur Prometheus’, sondern an jener des Fährmanns zur Unterwelt (Verhelst 1999: 53). Auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit Boussets Ausführungen soll deshalb hier verzichtet werden. 53 Übers.: »die genaue Identität von [Verhelsts] Figuren steht oft nicht ganz fest. Verhelst arbeitet viel mit Metamorphosen, Doppelgängern und Verwechslungen«.

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Es gibt im Wesentlichen zwei Argumente für diese Interpretation, wenngleich sie aufgrund des grundsätzlich kontradiktorischen textuellen Universums von Tongkat ebenso wenig eine hermeneutische Integration aller narrativen Aspekte erlauben wie andere Ansätze. Erstens verwenden (scheinbar) verschiedene IchErzähler exakt dieselben auffälligen Formulierungen, wie in der Sekundärliteratur zu Tongkat wiederholt festgestellt wurde (Vaessens 2001: 12): So ist im ersten und im vierten Kapitel die Rede von »de glimlach van gelovigen, debielen en jonge moeders« (Verhelst 1999: 67, 171), Figuren stehen sich im zweiten, dritten und vierten Kapitel gegenüber »als twee zachte spiegels van vlees« (Verhelst 1999: 101, 119, 133, 153) – abgewandelt findet sich diese Aussage auch an anderen Stellen (Verhelst 1999: 109, 16954), etwa auch im achten Abschnitt (Verhelst 1999: 320)55 – und sie erwähnen in siebenten und achten Kapitel angesichts eines Fisches »de smaak van zilveren armbanden in mijn mond« (Verhelst 1999: 247, 261). Da der wiederkehrende Wortlaut von verschiedenen Ich-Erzählern verwendet wird und so nicht einer übergeordneten Erzählinstanz zugeschrieben werden kann, wird der Fokus der Aufmerksamkeit auf die Problematisierung von Identität gerichtet. Zweitens beschreiben drei homodiegetische Erzählinstanzen (Prometheus’ Mutter, Tongkat/Ulrike, Juan und der König) am Ende des jeweils von ihnen erzählten Kapitels56 ihren eigenen Tod, erzählen also posthum.57 Diese Tatsache wird unterstrichen, indem ihre Ausführungen und damit die jeweiligen Kapitel jeweils mit der Formulierung »und …« enden (Verhelst 1999: 172, 192, 223, 257), die sowohl durch die Verwendung der Konjunktion als auch durch die Auslassungszeichen eine Kontinuität wenn auch nicht der biographisch-historisch verstandenen Identität,58 dann doch des (wie auch immer gearteten) Daseins andeutet. Dieses Verfahren erscheint geeignet, den Übergang in eine andere Form der Existenz, etwa als folgender Erzähler, anzuzeigen.59 Bereits im Paratext des Romans wird schließlich eine plurale Auffassung des Ichs angedeutet, indem ein Zitat aus dem Evangelium von Lukas angeführt wird: »Wie heißt du? Er antwortete: Legion. Denn er war von vielen Dämonen besessen« (Lk 8, 30). 54 55 56 57

Dort als »een spiegel van vlees en bloed.« Dort als »spiegelbeeld van vlees.« Es geht um das vierte bis einschließlich siebente Kapitel. Thomas Vaessens betrachtet diesen Aspekt der »perspektivischen Merkwürdigkeit« vor allem als bewusstes Spiel mit der Struktur (Vaessens 2001: 12). 58 Mit dieser Formulierung endet auch der Bericht der konventionell als Entität erkennbaren und abgrenzbaren Erzählinstanz. 59 Der Effekt ist auf gegenläufigen Verfahren aufgebaut. Zu einen bricht mit dem (vermuteten) Eintritt des Todes auch die Erzählung der jeweiligen Erzählinstanz ab, erscheint der Tod also als Finalität. Zum anderen werden die Ereignisse von allen Ich-Figuren durchgehend im Präteritum geschildert, wodurch der Eindruck entsteht, dass das Erzählen über den Tod hinaus fortgesetzt sein müsste.

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Zudem kann angeführt werden, dass neben motivisch angelegten Verknüpfungen jeweils unterschiedlicher, auch gemischtgeschlechtlicher Figurenkonstellationen60 viele der Figuren in Tongkat graduell unterschiedlich ausgeprägte katzenartige Züge haben:61 Sie sind u. a. generell katzenartig (Verhelst 1999: 31, 264), haben für die Dunkelheit geeignete Katzenaugen (Verhelst 1999: 44, 104), machen einen Katzenbuckel (Verhelst 1999: 105) oder schnurren gar (Verhelst 1999: 155). Die Bandbreite in deren Beschreibung ist groß und reicht von nicht explizit auf Katzen verweisenden, aber dennoch sichtbaren Parallelen im Verhalten bis hin zur regelrechten Metamorphose. So erscheint der Titan Japetos in der Beschreibung durch seine Frau, Prometheus’ Mutter, als Katze, wenn er »jeden Morgen seine nächtliche Beute an unserer Haustür niederlegte« (Verhelst 1999: 149, auch 159), während die Erzählerin selbst, wie übrigens auch Juan, »harige braakballen« [haariges Gewölle] (Verhelst 1999: 166, 219) ausspeit. Ausdrücklichen Vergleichen mit den Tieren werden diese Figuren aber an keiner Stelle unterworfen. Für Prometheus und den ersten Ich-Erzähler Peter werden solche Vergleiche zwar herangezogen, erreichen aber quantitativ kein bemerkenswertes Ausmaß: Prometheus »schnurrt« als Baby und liegt in einer späteren Szene »wie eine träge Katze in einem Baum […]« (Verhelst 1999: 98), während Peter von einem Stallburschen durch kleine Schlupflöcher im königlichen Palast geleitet wird, »[e]in Loch, durch das zwei katzenartige Jungen schlüpfen konnten« (Verhelst 1999: 31). Dennoch erscheint der animalische Zustand als etwas, das für Peter nicht in jeder Hinsicht erreichbar ist. Zwar können sich seine Augen wie Katzenaugen dem Dunkel der Unterwelt anpassen, doch er würde im wörtlichen Sinn »niemals die Augen einer Katze bekommen« (Verhelst 1999: 44), ganz im Gegensatz zu Tongkat/Ulrike, die von sich behauptet: »Ich habe die Augen einer Katze« (Verhelst 1999: 104, 177). Es sind vor allem zwei Figuren, die das Katzendasein innerhalb der fiktionalen Welt von Tongkat verwirklichen: Tongkat/Ulrike und der Kammerdiener. In der Selbst- und Fremdbeschreibung62 von Tongkat/Ulrike geht der Vergleich an manchen Stellen über die Konvention der Zuschreibung von Katzenartigkeit63

60 Sowohl Tongkat/Ulrike als auch der Kammerdiener und Peter werden etwa wiederholt mit Erdbeeren in Verbindung gebracht, die Nabelschnur bezeichnet die Verbindung von Prometheus mit seiner Mutter, aber auch die Beziehung zwischen dem König und dem Kammerdiener. 61 Auffällig ist, dass der Kronprinz und spätere König überhaupt nicht mit den Tieren in Verbindung gebracht wird, ebenso wenig Gudrun, die zwar nicht als Erzählerin auftritt, der aber ähnlich Japetos auch eine tragende Rolle im Geschehen zubedacht ist. 62 Mit allen nötigen Einschränkungen bezüglich der Möglichkeit dieser hier vorgenommenen begrifflichen Trennung. 63 Solche klassisch metaphorisch zu verstehenden Textpassagen gibt es zuhauf, etwa: »Als kind zat ik al gehurkt op de vensterbank als een kat de sterren met mijn ogen te vangen« (Verhelst

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zur Illustration von körperlicher Geschmeidigkeit o.Ä. hinaus: Schon auf einem Kinderfoto, auf dem sie eine Katzenmaske trägt (Verhelst 1999: 107), deutet sich die Verwandtschaft mit den Tieren an. Übereinstimmend berichten Prometheus’ Mutter und der personale Erzähler, der Prometheus als Fokalisator einsetzt, von einer bedrohlichen Situation, in der Ulrike zur wehrhaften Katze wurde: »[A]ber es war das Mädchen, das ihren Rücken krümmte und fauchte« (Verhelst 1999: 105), wobei Prometheus’ Mutter die gleichlautende Beschreibung mit dem Zusatz »wie eine wilde Katze« versieht (Verhelst 1999: 161), der deutlich macht, dass es doch noch immer um eine nur sprichwörtliche Deskription geht.64 Mit der Figur von Tongkat/Ulrike wird die teilweise literalisierte Katzenmetapher auch erotisch aufgeladen, wie Ulrikes Erklärungen zu ihrem Künstlernamen »Tongkat« als Prostituierte demonstrieren: »Ik kon sommige […] verhalen ook verkopen. […] Ik vroeg me af wat het hoofd van de mannen op hol bracht? Juist. Zoals elk meisje uit het vak had ik een naam. Tongkat. Mijn tong was even lenig als een kat, vandaar«65 (Verhelst 1999: 184).

Diese Erotisierung ist umso bemerkenswerter, als es sich bei den von Tongkat/ Ulrike angebotenen Diensten nicht um den Verkauf ihres Körpers handelt, sondern um das Anbieten von Geschichten,66 die im textuellen Universum von Tongkat wie Drogen konsumiert werden, um der eigenen Realität zu entfleuchen. »Eerst de naakte feiten: ik vertelde verhalen. Nu de waarheid: ik handelde in illusies, maar ik gaf ze andere namen, meestal meisjesnamen. Mannen houden daarvan. Nu de illusie: ik ontving hen in een donkere kamer, streek als een kat langs hun benen en verwende hen met mijn tong. Dat was althans de suggestie. Met mijn tong gaf ik mijn verhalen de gewenste vorm. Letterlijk. Soms was mijn tong scherp als een injectienaald 1999: 131) oder: »Ze glimlachte als ik mijn wangen als een kat tegen haar handpalmen wreef« (Verhelst 1999: 132). 64 Dies kann auch auf eine Passage angewendet werden, in der der reine Vergleichscharakter nicht durch ausdrückliche Erwähnung, sondern erst durch die Naturalisierungsleistung der Leser zustande kommt: Nachdem Ulrike/Tongkat mehrfach beschrieben hat, dass sie Fingermesser, die sie Prometheus’ Vater abgenommen hat, als Waffe immer bei sich trägt, präsentiert sie sich wie folgt: »Ik had de ogen van een kat en ik had klauwen. E¦n keer verraste ik een soldaat in zijn slaap. […] Hij greep automatisch naar zijn geweer, maar mijn linkerhand was sneller« (Verhelst 1999: 177). Aufgrund der Informationen, die die Leser an anderen Stellen über die Bewaffnung Ulrikes erhalten haben, liegt es nahe, das Haben von Klauen nicht wörtlich, sondern weiterhin metaphorisch zu verstehen, wenngleich die Formulierung in diesem Fall durchaus zweideutig ist. 65 Übers.: »Ich konnte einige ihrer Geschichten auch verkaufen. […] Ich fragte mich, was die Köpfe der Männer zum Explodieren brachte? Richtig. Wie jedes Mädchen vom Fach hatte ich einen Namen. Zungenkatze. Meine Zunge war ebenso geschmeidig wie eine Katze, deshalb.« 66 Der in vielen Sprachen enthaltene Doppelsinn von »tongue« als Zunge und Sprache ist dabei wohl als erwünschter Nebeneffekt zu betrachten.

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en boorde die zich door hun armen heen, recht in de ader. […] Soms lurkten ze aan mijn verhalen als aan een opiumpijp. Bedwelmend. Vervoerend. Verslavend. Ik begon te vertellen. Ze leunden achterover. Ze sloten hun ogen. Ze begonnen te zuchten. Ze kreunden even. Ze kwamen altijd terug«67 (Verhelst 1999: 184).

Die Ökonomie des Begehrens ersetzt hier zwar den Sex durch das (ebenfalls sehr körperlich verstandene) Narrativ, im nach wie vor weiblichen Objekt des Begehrens (Tongkat, Geschichten mit »Mädchennamen«) fallen aber konventionelles Verständnis und postmoderne Substitution zusammen. Der erotische Aspekt des Katzenvergleiches spielt hingegen bei dem männlichen Kammerdiener keine Rolle, wenngleich die Literalisierung der Metapher sich in seiner Figur am weitesten verwirklicht darstellt: Nicht nur hat er, gleich Tongkat/Ulrike, »Katzenaugen« (Verhelst 1999: 317, 333), kann »schlafen wie eine Katze« (Verhelst 1999: 319) und bewegt sich auch wie eine: »[Juan] lächelte, wenn ich wie eine Katze an seinen Handflächen entlangstrich« (Verhelst 1999: 271), sondern die aufgerufenen animalischen Bilder verlassen an drei Textstellen letztlich auch den Bereich des klassisch als eine Form des uneigentlichen Sprechens definierten Metaphorischen. Als Findelkind im Palast von einem Mann entdeckt, nimmt dieser den Erzähler auf wie eine junge Katze: »[Ich] hing […] an meiner Nackenhaut zwischen seinem Daumen und Zeigefinger« (Verhelst 1999: 264), wobei das niederländische Wort »(nek-)vel« mit Haut und (Tier-)Fell eine Doppelbedeutung aufweist. Nach einer im Weiteren beschriebenen Annäherung seitens des Mannes liegt der Junge verschreckt in einer Ecke: »In einer dunklen Ecke leckte ich mich sauber« (Verhelst 1999: 264). Schließlich wird er von den Palastwachen aufgegriffen und unsanft in das Gemach des HofMystikers Juan befördert, weil dieser mit seinen Sympathien für das Kind nicht hinter dem Berg hält: »Terwijl ik viel, werd ik een harige bal en rolde onder het bed«68 (Verhelst 1999: 269). Sowohl in der Wahrnehmung anderer Figuren als auch in der eigenen ist der Erzähler des achten Kapitels hier zum Tier geworden. Über Verhaltensaspekte hinaus wird die Metapher hier auf physischer Ebene literalisiert, was die Darstellung seines eigenen Körpers als »haariges Knäuel« zu zeigen vermag. Besonders zwingend erscheint die Katzenartigkeit des Kammerdieners auch, 67 Übers.: »Erst die nackten Tatsachen: Ich erzählte Geschichten. Nun die Wahrheit: Ich handelte mit Illusionen, meistens Mädchennamen. Männer lieben so etwas. Nun die Illusion: Ich empfing sie in einem dunklen Zimmer, strich wie eine Katze an ihren Beinen entlang und verwöhnte sie mit meiner Zunge. Das war zumindest die Suggestion. Mit meiner Zunge gab ich den Geschichten die gewünschte Form. Wörtlich. Manchmal war meine Zunge spitz wie eine Injektionsnadel und bohrte sich durch ihre Arme, genau in die Ader. […] Manchmal zogen sie an meinen Geschichten wie an einer Opiumpfeife. Benebelnd. Erobernd. Süchtig machend. Ich begann zu erzählen. Sie lehnten sich zurück. Sie schlossen ihre Augen. Sie begannen zu seufzen. Sie stöhnten kurz. Sie kamen immer zurück.« 68 Übers.: »Während ich fiel, wurde ich zu einem haarigen Knäuel und rollte unter sein Bett.«

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da er es ist, der die eingangs erwähnte Metapher der neun Katzenleben handhabt. Es werden gar die acht Tode, die er behauptet, bereits gestorben zu sein (Verhelst 1999: 262), geschildert, wodurch die Redewendung auch eine konkrete Realisierung innerhalb der textuellen Welt erfährt. Die Art der Darstellung dieser Tode unterstreicht aufs Neue jenen zirkulären Charakter, der dem Text auch in Bezug auf die Zeit- und Raumstruktur,69 aber auch des Daseins generell bzw. der Erzählerfunktion der Figuren inhärent ist.70 Die Weiterexistenz nach den Toden der Figuren wird nämlich in die Begrifflichkeit einer russischen Matrjoschka gefasst. »Ik denk dat iemand die negen levens heeft op zo’n Russisch poppetje lijkt. Schroef het open en er zit een kleiner poppetje in dat je opnieuw kunt openschroeven enzovoort«71 (Verhelst 1999: 263). Das Fortbestehen des Ichs ist so an eine neue körperliche Hülle geknüpft. Bei manchen seiner Todeserfahrungen kann der Kammerdiener »sich selbst liegen sehen« (Verhelst 1999: 267, 275) und ihnen folgt eine Periode der langwierigen Rekonvaleszenz sowie ein Kennenlernen des »neuen« Körpers, der »neuen« Form. Wiewohl die neun Leben damit deutlich als Marker für die Thematisierung von Identität dienen, sind nicht alle beschriebenen Tode gleichermaßen existentiell zu begreifen. So beschreibt der Erzähler seinen dritten Tod als »kleinsten Tod« (Verhelst 1999: 294) und ganz gemäß der französischen Redensart vom Orgasmus als petite mort meint er damit die sexuelle Vereinigung des Erzählers mit der Pflegerin und Untergrundaktivistin Gudrun. So präsentiert sich die eingangs beschriebene übliche Lesart der neun Kapitel von Tongkat als die neun Leben einer »Zungenkatze« in einem komplexeren Zusammenhang: Sie muss mit und neben jener Lesart funktionieren, die die konkreten vielfachen Leben des Erzählers des achten Kapitels heranzieht, was besonders aus der Geschlechter-Perspektive relevant ist. Können nämlich auf dem Niveau des kompletten Romans und damit des gesamten textuellen Universums sowohl eindeutig männliche als auch weiblich markierte Modi der fiktionalen Existenz als verschiedene Ausdruckformen eines wie auch immer gearteten Ichs verstanden werden, sind die verschiedenen Leben auf der Ebene lokaler Überschneidungen bzw. der Welten der einzelnen Kapitel nur jeweils von einem Geschlecht geprägt. Trotz der Radikalität der Literalisierung der Katzen69 Zur Zeitstruktur sei auf Vaessens 2001 verwiesen, die räumliche Dimension wird bei Vervaeck 2006 ausführlich behandelt. 70 In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass es keine unendliche Wiederholung und Zirkularität ist, die Verhelst beschreibt, sondern eher eine Spiralbewegung, die zur (Selbst-) destruktion führt. So schreibt der Erzähler des achten Kapitels in Tongkat: »Die Geburt, die darauf folgt – die neunte – ist dein letzter Tod« (Verhelst 1999: 263). 71 Übers.: »Ich denke, dass jemand, der neun Leben hat, einem russischen Püppchen ähnelt. Schraub es auf, und da ist ein kleineres Püppchen drinnen, das du wieder aufschrauben kannst und so weiter.«

Ich ist ein Anderer – multiple Identitäten

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metapher bedeutet dies eine Kontinuität der geschlechtlichen Identität auf der Figurenebene. Die Problematisierung von Identität auf der Ebene der einzelnen Kapitel von Tongkat soll im folgenden Abschnitt eingehend behandelt werden.

5.3

Ich ist ein Anderer – multiple Identitäten

Die Verwendung von Eigennamen in Tongkat bietet einen ersten Einstieg in die Problematisierung von Identität auf der Ebene der Kapitel. Nach der Figur Tongkat, die, so lässt sich rekonstruieren, eigentlich Ulrike heißt und Tongkat nur als Milieu-Namen gebraucht, sind nicht nur der Roman als Ganzes, sondern auch zwei Kapitel benannt. Wer jedoch davon ausgeht, dass die übrigen Titel der einzelnen Abschnitte, »Aardbeienmond«, »Vuurjongen«, »Muurvrouw«, »Spijkerman«, »Vleeskroon« und »Vuurhaar« deshalb auch (Alias-)Namen der anderen, in den jeweiligen Abschnitten als Erzähler auftretenden Figuren sind, was durch die Endung der Namen auf -junge, -frau und -mann zusätzlich nahegelegt wird, wird enttäuscht: Explizit genannt wird im Unterschied zu Tongkat keine der Bezeichnungen in den entsprechenden Kapiteln,72 obwohl sich assoziativ durchaus Verbindungen zwischen den Erzählern und den Bezeichnungen im Titel herstellen lassen. Die Kapitelbezeichnungen verweigern sich damit der Denotation und funktionieren rein über die Konnotation, was ihnen einen polysemischen Charakter verleiht.73 Dies ist umso interessanter, als insbesondere »Aardbeienmond« und »Vuurhaar« über die im Zusammenhang mit Tongkat/ Ulrike eingesetzten Motive ebenso gut als Titel für den Tongkat-Abschnitt eingesetzt werden könnten: Hinweise hierfür sind das oft herbeizitierte, von Blut gerötete Haar von Tongkat/Ulrike (Verhelst 1999: 179, 221) sowie u. a. ihre besondere Zungenfertigkeit, die sie aus Eiszapfen Erdbeeren (Verhelst 1999: 179) formen lässt. Verfestigen lassen sich diese assoziativen Verknüpfungen auf der Ebene der Identität allerdings nicht. Die Verweisstruktur in Tongkat ist komplex, wie anhand des Umgangs mit der 72 Aufgrund der vielfältigen Überlappungen zwischen den verschiedenen Kapiteln werden alle erzählenden Figuren auch fremdbeschrieben – niemals jedoch geschieht dies unter der Bezeichnung, die als Kapitelüberschrift fungiert. 73 Dieses Verfahren kann im Rahmen von Roland Barthes’ Ausführungen zu Denotation und Konnotation verstanden werden, wie dieser sie in S/Z formuliert. Er spricht sich dort gegen die Denotation und für die Konnotation aus, da die Konnotation Grundlage für den polysemischen Charakter von Texten ist. »Wenn wir die Denotation als Wahrheit, Objektivität und Gesetz begründen, so geschieht das, weil wir noch dem Prestige der Linguistik unterworfen sind, die bis zum heutigen Tag Sprache auf den Satz und auf seine lexikalischen und syntaktischen Komponenten reduziert hat (Barthes 1987: 11). Stattdessen gelte es, die oft kritisierte Konnotation als »Spur eines gewissen Pluralen im Text« zu erhalten (Barthes 1987: 12, Hervorh. im Original).

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Figur Tongkat/Ulrike gezeigt werden kann.74 Erstmals wird die Figur im zweiten Kapitel, über Prometheus als Fokalisator, eingeführt. Lange bleibt sie namenlos und wird nur, übrigens übereinstimmend mit der Version der Ich-Erzählerin des vierten Kapitels, Prometheus’ Mutter, als »das Mädchen« bezeichnet,75 obwohl sie bereits eine Liebesbeziehung mit Prometheus pflegt. Seine Frage, ob sie einen Namen hätte, beantwortet sie schlicht mit einem Ja, ohne aber über den Namen Auskunft zu geben (Verhelst 1999: 102). Erst gegen Ende des Kapitels ist von Ulrike die Rede (Verhelst 1999: 118). Auch im von ihr selbst erzählten fünften Abschnitt wird die Figur über die direkte Ansprache einer dritten Figur als Ulrike76 identifiziert. Das dritte Kapitel, das sich aufgrund historischer und perspektivischer Kontinuität und Kohärenz mit dem fünften Abschnitt ebenfalls als von Ulrike erzählt erweist, nennt jedoch weder diesen Vornamen, noch ihren Milieu-Namen Tongkat, der ebenfalls erst im fünften Kapitel auch als Figurenname introduziert wird. Stattdessen wird der Name Ulrike im dritten Kapitel von ihr selbst als Name eines willkürlichen Mitglieds ihrer revolutionären Untergrund-Gruppierung aufgezählt, und nicht etwa explizit als eigener. »Vanaf die avond zouden we elkaar met de voornaam aanspreken. Holger, Volker, Dorothea, Gudrun, Andreas, Rainer, Horst, Manfred, Michael, Ingrid, Dieter, Antje, Ulrike, Ina, Charly, Irene, Peter«77 (Verhelst 1999: 134).

Zusätzlich wird der entfremdende Gestus betont, wenn die Erzählerin weiter über die Dynamik in der Gruppe sinniert: »Ik vroeg me af of de anderen hun correcte voornaam hadden verklapt. Zij wel?«78 (Verhelst 1999: 134). An dieser Stelle ist es für den Rezipienten unwiderruflich unmöglich, der Erzählerin, die er für Ulrike gehalten hatte, weiterhin einen validen Eigennamen zuzusprechen. Dieses narrative Verfahren wird von der Darstellung im fünften Kapitel kontrastiert, das wie das dritte Kapitel den Titel »Tongkat« trägt, allerdings versehen 74 Die Komplexität der Verweisstrukturen beschränkt sich nicht nur auf die Figur von Ulrike. Sie entsteht auch an zahlreichen anderen Stellen im Roman, wenn etwa Juan vom Findelkind im Palast spricht und der König vom Kammerdiener und beide dabei auf eine Person mit offensichtlich den gleichen biographischen Zügen referieren, ohne dass diese Bezeichnungen eindeutig synthetisiert werden. So erklärt sich etwa auch Boussets Frage zur Figur des Kammerdieners: »Gibt es einen Unterscheid zu dem Findling in der Geschichte?« (Bousset 1999: 762). 75 Ihrerseits bezeichnet die Erzählerin des dritten Kapitels Prometheus ebenfalls nur als »der Junge«, eine Praxis, die im ebenfalls von ihr erzählten sechsten Kapitel der ausdrücklichen Nennung seines Namens weicht. 76 Die historische Figur der Ulrike Meinhof schwingt hier deutlich mit, da alle Mitglieder der revolutionären Gruppe, der sie angehörte, ebenfalls Vornamen von RAF-Mitgliedern tragen. 77 Übers.: »Von diesem Abend an würden wir einander bei den Vornamen nennen. Holger, Volker, Dorothea, Gudrun, Andreas, Rainer, Horst, Manfred, Michael, Ingrid, Dieter, Antje, Ulrike, Ina, Charly, Irene, Peter.« 78 Übers.: »Ich fragte mich, ob die anderen ihren richtigen Vornamen verraten hatten. Sie zumindest?«

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mit der Zahl Zwei in der Potenz (Tongkat2), was bereits eine Verdopplung impliziert. Dort erklärt sie nicht nur die Genese ihres Pseudonyms »Tongkat« (Verhelst 1999: 185) und nimmt damit eine erste Selbstbezeichnung vor, sondern schreibt sich auch den Namen Ulrike explizit zu: »Toen sprak hij mijn naam uit. Zes letters die mij lieten duizelen omdat ik ze als zo lang niet meer in die volgorde had gehoord. Ulrike.«79 (Verhelst 1999: 189, Hervorh. im Original). Inhaltlich, chronologisch und perspektivisch schließen die beiden TongkatKapitel trotz dieser Unterschiede in der referentiellen Praxis nahtlos aneinander an, was eine Kontinuität des erzählenden Ichs suggeriert.80 Der Eigenname verliere »seine Eigenheit« in einem »postmodernen Sprachspiel«, schreibt Bart Vervaeck in Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman (Vervaeck 1999: 74). Die Veränderung von Namen innerhalb eines Textes – eine Strategie, die auf Tongkat nur teilweise zutrifft, weil sie zwar angedeutet, aber nicht in letzter Konsequenz durchgeführt wird – sieht Vervaeck als Verfahren, das sich mit Derrida gegen die Idee eines festen Referenzpunkts richtet. »Zoals we al eerder gezien hebben, gaat Derrida […] tegen die opvatting [van een vast referentiepunt] in door aan de tonen dat de herhaling geen vooraf bestaande entiteit tot identiteit omtovert, maar veeleer die zogenaamde entiteit opvoert als steeds veranderend. Elke herhaling is in feite ook een vervorming, een vervalsing. Dat is exact wat de vervorming van namen in de postmoderne roman laat zien«81 (Vervaeck 1999: 75).

79 Übers.: »Dann sprach er meinen Namen aus. Sechs Buchstaben, die mich schwindlig werden ließen, weil ich sie schon so lange nicht mehr in dieser Reihenfolge gehört hatte. Ulrike.« 80 Ähnlich wird auch bei anderen Figuren verfahren. Den Erzählerfiguren in Tongkat werden nur mit größter Zurückhaltung Eigennamen zugedacht. Der Ich-Erzähler des ersten Kapitels bleibt namenlos, erst durch den Erzähler des achten Kapitels auf Seite 306 des Romans wird eine Person namens Peter beschrieben, die aufgrund der rekonstruierbaren Ereignisse ident mit dem ersten Erzähler sein kann, aber nicht muss. Eine Identifizierung ist letztlich unmöglich. Als zusätzliches Spiel mit der Idee der Identität präsentiert sich die (Vor-)Namensgleichheit mit Peter Verhelst: Der erste Ich-Erzähler entpuppt sich nicht zufällig als Autor jener auf Stofffetzen geschriebenen Geschichte, die dem achten Erzähler in der Rolle des Lesers präsentiert wird. Eine Ausnahme von dieser verschleiernden Benennungspraxis ist einzig das auch von der Erzählsituation abweichende zweite Kapitel, innerhalb dessen der personale Erzähler gleich im ersten Satz Prometheus eindeutig als Namen jener Figur introduziert, durch deren Augen er die Geschehnisse schildert. 81 Übers.: »Wie wir schon an früherer Stelle gesehen haben, widersetzt sich Derrida […]der Auffassung [eines festen Referenzpunktes], indem er zeigt, dass die Wiederholung keine vorab existierende Entität zur Identität umzaubert, sondern vielmehr die sogenannte Entität als stets veränderlich aufführt. Jede Wiederholung ist faktisch auch eine Verformung, eine Verfälschung. Das ist exakt das, was die Verformung der Namen im postmodernen Roman zeigt.«

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Funktioniert die Problematisierung der Identität bei der Figur von Tongkat/ Ulrike stark über die Ebene des Eigennamens, wird in einer Textstelle auch eine körperliche Komponente der bereits angesprochenen Verdopplung angedeutet: »Onder mijn huid zit een ijsmeisje, als een bevroren fles; sla het glas stuk en je houdt een fles van ijs in je handen. Vroeger had ik een pop die zo levensecht was dat iedereen eraan wou voelen. Maar zelfs dat verschafte niemand zekerheid: de pop nam de lichaamstemperatuur aan van wie haar aanraakte. Het waren de ogen die haar verraden.[…] Zo’n pop is het die in me plaatsgenomen heeft, vertraagd knipperend met de oogleden, ijskoud. Maar niemand die het merkt. Voel maar. Aan de buitenkant heb ik jouw temperatuur«82 (Verhelst 1999: 178).

Es ist, sowohl was das Spiel mit den Eigennamen als auch das im Roman weiter nicht ausgearbeitete Bild des »Eismädchens« betrifft, als gegeben anzusehen, dass die Infragestellung von Identität hier nur vor dem Hintergrund einer validen Geschlechterbinarität stattfindet, deren Grenzen von den textuellen Strategien nicht überschritten werden. Die Kohärenz einer determinierenden geschlechtlichen Substanz, der immer wieder neue Identitäten im Sinne eines identifizierenden Verfahrens eingeschrieben werden, kann auch anhand der Figur des Anführers der Revolutionäre, Carlos, demonstriert werden. Dieser ist dafür bekannt, ein unkenntliches Gesicht zu haben (vgl. Vervaeck 2006: 424). Der Kammerdiener etwa nimmt an, mit Carlos zu sprechen: »Denk ik. Niemand herinnert zich hoe hij eruitziet, omdat zijn gezicht voortdurend van vorm verandert. Onmogelijk?«83 (Verhelst 1999: 288). Dieselbe Unsicherheit zeigt sich auch in anderen Begebenheiten: »Ze stond te praten met Carlos, dacht ik, maar toen de man zich omdraaide, had hij het gezicht van iemand anders«84 (Verhelst 1999: 292). Immer jedoch wird Carlos nur in männlichen Gestalten erkannt. Wahrgenommen wird »ein Mann«: »Ich sah ihn an. Er hatte Carlos’ Gesicht« (Verhelst 1999: 323). Eine Zuschreibung von Carlos Namen auf einen weiblichen Körper findet nicht statt. Auch eine weitere Figur kann für die Behandlung der Identitätsthematik herangezogen werden. »Ich ist ein Anderer« – dieser Satz beherrscht das siebente 82 Übers.: »Unter meiner Haut befindet sich ein Eismädchen, wie eine gefrorene Flasche; zerbrich das Glas und du hältst eine Flasche aus Eis in der Hand. Früher hatte ich eine Puppe, die so lebensecht war, dass jeder sie anfassen wollte. Aber selbst das verschaffte niemandem Sicherheit: Die Puppe nahm die Körpertemperatur desjenigen an, der sie anfasste. Es waren die Augen, die sie verrieten. […] So eine Puppe ist es, die in mir Platz genommen hat, verlangsamt mit den Augenlidern zwinkernd, eiskalt. Aber keiner, der es merkt. Fühl mal. An der Außenseite habe ich deine Temperatur.« 83 Übers.: »Denke ich. Niemand kann sich erinnern, wie er aussieht, weil sein Gesicht dauernd seine Form verändert. Unmöglich?« 84 Übers.: »Sie sprach mit Carlos, dachte ich, aber als der Mann sich umdrehte, hatte er das Gesicht von jemand anderem.«

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Kapitel, in dem der neue junge König als Ich-Erzähler auftritt. Immer wieder zitiert er Rimbaud und formuliert die Unsicherheit über seine eigene Identität. Strukturell äußert sich sein Zweifel im ständigen Wechsel zwischen der Ich- und Du-Perspektive,85 die den »Anderen«, der das Ich zu sein glaubt, aus seiner Abstraktion herauslöst und ihm einen konkreten Platz in der Narration zuweist. Wie viele andere Figuren des textuellen Universums auch handelt der untergetauchte König mit Geschichten – allerdings nicht in der versinnlichten Form, wie Tongkat/Ulrike sie anbietet – und fasst diese Phase seines Lebens wie folgt zusammen: »Ik en mijn handeltje. Ik? Je had het gevoel uit je lichaam te zijn getreden«86 (Verhelst 1999: 252). Die mit der Interpunktion vollzogene Infragestellung der Zuschreibung »ich« führt dazu, dass der Perspektivwechsel vom Ich zum Du nicht unbemerkt vonstattengeht. Sie setzt damit quasi tautologisch den Inhalt des zweiten Vollsatzes aus dem Zitat um. Ähnlich verhält es sich in folgender Passage: »Het laatste verhaal gaat over mezelf. Of juist niet. Denk aan een kamer. De wanden bestaan uit spiegels. […] Je ziet jezelf eindeloos uiteenvallen in jezelf, jezelf, jezelf…«87 (Verhelst 1999: 240). Immer wieder durchbrechen ganze Passagen in der zweiten Person Singular die Ich-Erzählung des Königs. Eine psychologische und psychoanalytische Naturalisierung dieser und ähnlicher Textstellen mit dem Du als Ausdruck einer Entfremdung oder Spaltung des Subjekts bietet sich hier geradezu an, ist die Vorstellung des Ichs als Anderem doch aufs Engste mit den Theorien Jacques Lacans verknüpft. Lacan war es mit der Unterscheidung von »je« (dem unbewussten, wahren Ich) und »moi« (dem narzisstischen Ich) darum zu tun, im Anschluss an Freuds Theorien zum Unbewussten und zum Narzissmus »die Selbstgewißheit des cartesianischen Cogito« zu unterminieren (Pagel 1991: 24). Er beschreibt, wie sich das Subjekt selbst hervorbringt, indem es sich seiner selbst aneignet. Zwar ist das Spiegelstadium, innerhalb dessen sich diese Aneignung abspielt, als Imagination des idealen Ich der frühkindlich erfahrenen Fragmentarisierung des eigenen Leibes entgegensetzt und ist damit ein triumphaler Akt (Pagel 1991: 26), es führt dennoch zu einer bleibenden Spaltung des Ichs. Lacan entlarvt auf diese Weise den notwendig »phantasmatischen« Charakter von Identität (Breger 2005: 54), eine Erkenntnis, die sich problemlos auf 85 Die Anwendung dieser Form im siebenten Kapitel unterscheidet sich von anderen Teilen des Romans, in der an einigen wenigen Stellen ebenfalls ein Du angesprochen wird. Dort handelt es sich allerdings um einen direkt adressierten Narratee bzw. eine Leseransprache, die etwa über die Frage »Glauben Sie mir?« (Verhelst 1999: 177) aktiv in die Gestaltung der fiktionalen Welt miteinbezogen wird. 86 Übers.: »Ich und mein Geschäft. Ich? Du hattest das Gefühl aus deinem Körper getreten zu sein.« 87 Übers.: »Die letzte Geschichte handelt von mir. Oder eben nicht. Denk an ein Zimmer. Die Wände bestehen aus Spiegeln. […] Du siehst dich endlos auseinanderfallen in dich selbst, dich selbst, sich selbst …«

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die Figur des Königs in Tongkat anwenden lässt. Der Höhepunkt der psychischen Spaltung ist indes erreicht, als der König zusammen mit dem wütenden Mob die Mauern seines eigenen Palasts stürmt und letztlich zum »Aufständischen gegen sich selbst« wird (De Nijs 2001: 29, vgl. auch Goedkoop 2004: 220).

5.3.1 Cross-Dressing Es ist nicht nur die wie von Lacan beschriebene allgemein menschliche, mit leicht psychotischen Zügen ausgestattete Erfahrung der (scheiternden) Subjektappropriation,88 der in Tongkat mit der Erzählung des Königs sprachlich Ausdruck verliehen wird. Der junge König täuscht auch andere bewusst über seine Identität, die Thematik überschreitet damit den innerpsychischen Bereich und tritt auf die Ebene der Figurenbeziehungen ein. »Ik ben de koning. Ik ben de koning niet. Ik heb mezelf laten verdwijnen, ik heb mezelf opnieuw uitgevonden en ik ben niet van plan om daarmee op te houden. Je est un autre est un autre est un autre. Het is verbazend in hoeveel mensen je je kunt vermommen. Met enkele strategisch aangebrachte lijnen kun je een nieuw gezicht schilderen op je vertrouwde gezicht, zodat je schrikt als je jezelf toevallig in een winkelraam of in een spiegel ziet. En dat heeft niet altijd te maken met opgeplakte snorren of baarden. Ook je lichaam zelf kan gedaanten aannemen«89 (Verhelst 1999: 227).

Der König erweist sich als äußerst wandlungsfähig, hat er doch, so die Erklärung, die Kunst der Tarnung bei den Elitetruppen des Heeres erlernt (Verhelst 1999: 227). Aus dem Zitat wird deutlich, dass es bei den Verwandlungen in erster Linie um oberflächliche Veränderungen am Äußeren geht (»strategisch angebrachte Striche«),90 allerdings scheint der abschließende Satz aus der Ober88 Je und Moi bleiben in einer libidinösen Grundstruktur aufeinander bezogen, die unauflösbar ist. Das ontogenetisch durchlaufene, aber auch exemplarisch zu verstehende Spiegelstadium (Pagel 1991: 34), kann aber auch in einem Beharren auf der Erfahrung des Geteilt-Seins zur Entwicklung von (paranoiden) Psychosen führen. Dies ist es wohl auch, was der Figur des Königs attestiert werden könnte. 89 Übers.: »Ich bin der König. Ich bin nicht der König. Ich hab mich selbst verschwinden lassen, ich habe mich neu erfunden und ich habe nicht vor, damit aufzuhören. Je est un autre est un autre est un autre. Es ist erstaunlich, in wie viele Menschen man sich vermummen kann. Mit einigen strategisch angebrachten Striche kannst du ein neues Gesicht auf dein vertrautes Gesicht malen, sodass du erschrickst, wenn du dich selbst zufällig in einem Schaufenster oder einem Spiegel siehst. Und das liegt nicht immer an den aufgeklebten Schnauz- oder Vollbärten. Auch dein Körper selbst kann Gestalten annehmen.« 90 Das Hantieren mit Schminke, verschiedenen Perücken und Kunstbärten wird im weiteren Verlauf ebenfalls geschildert (Verhelst 1999: 228). Der Kammerdiener jedoch erkennt den König trotz seiner Tarnung: »Dat gezicht. Het was veranderd. Maar het is onmogelijk om je hele gezicht te veranderen« (Verhelst 1999: 318). Übers.: »Das Gesicht. Es sah anders aus. Aber es ist unmöglich, das ganze Gesicht zu verändern.«

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flächlichkeit dieser Kostümierung auszubrechen, ein Eindruck, der insbesondere vor dem Hintergrund der spezifischen phantastischen Gesetzmäßigkeiten des textuellen Universums entsteht. Auch der Körper anderer Figuren in Tongkat nimmt schließlich andere, mitunter sogar nicht-menschliche Formen an: Ulrike/Tongkat wird zum Cello und Peter zur Ratte (vgl. Abschnitt 5.3.2). Eine Metamorphose scheint in diesem textuellen Universum also grundsätzlich im Bereich des Möglichen. An einer anderen Stelle spezifiziert der König seine Verkleidungen, womit die Voraussetzung für eine genauere Betrachtung der suggerierten Metamorphose geschaffen ist. »Vrijheid. Niemand kan zich voorstellen hoe gelukkig ik was op die ijsvlakte, toen ik dat lichaam van een koning van me afwierp. Welk lichaam ik nu heb? Kies maar. Ik ben soldaat, afvalverzamelaar, schooier, nar, mordenaar… Ik ben zelfs een vrouw als ik er zin in heb. Het zijn niet alleen de snorren, baarden, schmink en kleren die maken wat je zijn, maar vooral zijn het de hersens. Je bent wat je denkt dat je bent. Wat ik ben? Een lichaam waaruit een ander lichaam te voorschijn kruipt. Wie ik ben? Je est un autre«91 (Verhelst 1999: 237).

Bald jedoch stellt sich heraus, dass nicht quasi-natürliche Transformationen gemeint sind, sondern bewusst performative Aspekte wie das bewusste Verändern von Körperhaltung, Mimik und Gestik. So beschreibt der Erzähler die Verkleidung als Müllsammler als Zusammenstellung von einem Bart, abgetretenen Schuhen, die seinem Gang etwas Unsicheres verleihen und müde geschminkten Augenwinkeln (Verhelst 1999: 237). An anderer Stelle spricht er von einem gekrümmten oder aufrechten Rücken, dem Gang oder der Armhaltung (Verhelst 1999: 228). Außerdem bezeichnet er eine Verkleidung, die dazu führt, dass niemand etwas Auffälliges in ihm erkennt, stolz als »gute Arbeit«92 (Verhelst 1999: 237). Noch deutlicher wird die Maskerade geschildert, wenn der König in einer Menschenmasse inkognito zu bleiben versucht: »Hij greep naar de kleren die boven de handen dansten. Kleed de naakten. Hij vermomde zich in de anderen«93 (Verhelst 1999: 329). Ganz explizit sind es hier die Kleider der anderen, die ihm zur Verstellung dienen. Sowohl in der Intentionalität des Aktes als auch in der Ausführung, die als 91 Übers.: »Freiheit. Niemand kann sich vorstellen, wie glücklich ich war auf dieser Eisfläche, als ich den Körper des Königs von mir abstreifte. Welchen Körper ich nun habe? Wähle selbst. Ich bin Soldat, Lumpensammler, Landstreicher, Narr, Mörder … Ich bin sogar eine Frau, wenn ich Lust dazu habe. Es sind nicht allein die Schnauzer, Bärte, Schminke und Kleider, die ausmachen, was man ist, sondern der Kopf. Du bist, was du denkst, das du bist. Was ich bin? Ein Körper aus dem ein anderer Körper hervorkriecht. Je est un autre«. 92 Der Hofstaat lässt sich übrigens nicht von der äußerlichen Hülle täuschen: In einem Obdachlosen in der Stadt meinen die Palastbediensteten den König zu erkennen (Verhelst 1999: 310). 93 Übers.: »Er griff nach den Kleidern, die über den Händen tanzten. Kleide die Nackten. Er verkleidete sich als die anderen.«

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Täuschung zu verstehen ist, weicht die vom König beschriebene »Freiheit« von anderen Gestaltveränderungen in Tongkat ab. Das »Andere«, als das sich das Ich darstellt, ist hier keine psychisch motivierte, annehmlich unkontrollierte Abspaltung, sondern bewusstes Täuschungsmanöver und Überlebensstrategie. Die ausdrückliche Erwähnung der Möglichkeit der Verwandlung in eine Frau ist auch so zu verstehen: als Geschlechtermaskerade. Sie bleibt an der Oberfläche und verändert die gegebene geschlechtliche Identität der Figur nicht, betont aber auch die Machbarkeit/Täuschung von Gender.94 Auch das Beispiel anderer, sich ebenfalls verkleidender Menschen in der Umgebung des Königs vermag zu zeigen, dass die Substantialität einer biologisch-anatomischen Unterscheidung der beiden Geschlechter dadurch nicht angetastet wird. »Er waren vrouwen die enkel nog als vrouw herkenbaar waren door een opgekleefde snor en smalle schouders. Maar vooral waren er veel vrouwen die niet als vrouw waren geboren. Met haren op plekken waar vrouwen geen haar hebben. Met borsten die onmogelijk uit huid, melkklieren en vetweefsel konden bestaan«95 (Verhelst 1999: 253).

Der Körper verrät hier das eigentliche Geschlecht, lässt die Maskerade erst offensichtlich werden. Aufschlussreich ist auch die Motivation, die für diese Vielzahl der beschriebenen (Geschlechter-)Maskeraden genannt wird, und zwar nicht nur seitens des Königs, sondern auch seitens des Kammerdieners. Jeder »vermummt« sich in seine eigenen, tiefsten »Träume« (Verhelst 1999: 253, 319); der König »stiehlt« auch Träume von anderen (Verhelst 1999: 253), weshalb er noch wandlungsfähiger zu sein vermag. Der Charakter dieser Träume bleibt mehrheitlich unerwähnt. Bekannt ist nur der Traum des Kammerdieners, der sich in das Objekt seiner Begierde verwandeln möchte, in seine Freundin Gudrun.96 Er beschreibt, wie diese Verwandlung vonstatten geht:

94 Interessant ist aus dieser Perspektive darüber hinaus die Aufzählung der möglichen Verkleidungen, die neben der Verwandlung in eine Reihe nicht gerade statusgemäßer, immer in der männlichen Form präsentierter Erscheinungsformen als Steigerung (»sogar«) die Verkleidung als Frau anführt. Damit wird die »Andersartigkeit« von Frauen zusätzlich betont und die verschiedenen weiblichen Existenzen unter einem Nenner, dem Geschlecht, zusammengefasst. Im Gegensatz zu den verschiedenen männlichen Existenzen erscheint es so für die Kategorie »Frau« unwesentlich, ob es um eine alte oder junge, arme oder reiche Frau, eine Bäuerin oder Lumpensammlerin geht. 95 Übers.: »Es gab Frauen, die nur noch an dem aufgeklebten Schnauzer und ihren schmalen Schnauzern als Frau zu erkennen waren. Vor allem aber gab es viele Frauen, die nicht als Frau geboren waren. Mit Haaren an Stellen, an denen Frauen keine Haare haben. Mit Brüsten, die unmöglich aus Haut, Milchdrüsen und Fettgewebe bestehen konnten.« 96 Etwas undeutlich ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung von Bart Vervaeck, »de kamerjongen wordt Gudrun« sei wörtlich zu verstehen. Gleichzeitig spricht Vervaeck von einer »karnevalesken Verkleidung« (Vervaeck 2006: 456).

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»Ik had alleen een pruik gemaakt. Het had me vele dromen gekost voor een meisje me toestond haar kaal te scheren. Maar de haren hadden dan ook dezelfde kleur als die van Gudrun«97 (Verhelst 1999: 319).

Die Verkleidung als Liebesobjekt kann im von Heterosexualität dominierten fiktionalen Universum von Tongkat als Erklärung für das Cross-Dressing der Figuren fungieren. Der Begegnung mit anderen kann die Verkleidung auch im Beispiel des Kammerdieners nicht standhalten. Als er in dieser Geschlechtermaskerade auf den König trifft, verwendet dieser als Erzähler sogleich das männliche Personalpronomen, um auf den Kammerdiener zu verweisen: »Tot iemand mij bij mijn schouders beetneemt en omdraait. Een gezicht dat ik herken. Zijn glimlach. Maar het zijn zijn handen die me nu wegduwen«98 (Verhelst 1999: 256, Hervorh. d. Verf.). Die leibliche Oberfläche mag sich weiblich präsentieren, die Person wird trotzdem als männlich erkannt.99 In der taxonomisch nur begrenzt zugänglichen Welt von Tongkat ist es ohne weiters möglich, Aussagen über das Geschlecht einer Figur Wahrheitswerte zuzuerkennen, indem die Perspektive der Figuren mit der der Leser übereinstimmt. Der textuelle Umgang mit Geschlecht in Tongkat ist durchaus typisch für Verhelsts Romane. Nach der gleichen Logik verfährt der Autor auch in Vloeibaar harnas: Die rätselhaften Anrufe eines Mannes mit »metallischer Stimme« (Verhelst 1993: 41) entpuppen sich als stimmlich mit einem Vodecoder verfälschte Botschaften der jungen Nachbarin des Erzählers, das Attribut »männlich« muss somit retrospektiv aus der Beschreibung der Ereignisse gelöscht werden. Noch deutlicher lässt sich das Cross-Dressing, das einem widerständigen, weil »wahren« Körper aufgedrängt wird, am Beispiel der Hauseigentümerin »Madame« illustrieren. Ihr Gesicht wirkt »hart« und »männlich«, »alsof het schijnsel van een baard zich door de huid heen gewerkt heeft« (Verhelst 1993: 45). Sie erweist sich gegen Ende des Romans als Mann mit eindeutigen Geschlechtsmerkmalen (Verhelst 1993: 169), der sich nach dem Suizid seiner Frau »in ihren Körper gezwängt« hat (Verhelst 1993: 171). Hier wird zum einen deutlich, dass es ein fremder, externer Körper ist, den er sich anzueignen versucht hat, und zum anderen, dass der eigene Körper sich der Aneignung widersetzt, indem er seine Spuren auf der täuschenden Oberfläche hinterlässt. Es 97 Übers.: »Ich hatte nur eine Perücke gemacht. Es hatte mich viele Träume gekostet, bis ein Mädchen es mir erlaubte, sie kahl zu scheren. Aber ihre Haare hatten dann auch die gleiche Farbe wie die von Gudrun.« 98 Übers.: »Bis jemand mich an meinen Schultern packt und umdreht. Ein Gesicht, das ich erkenne. Sein Lächeln. Aber es sind seine Hände, die mich nun wegstoßen.« 99 Ein zweiter Aspekt ist für das Verständnis dieses Zitats nötig, nämlich die Tatsache, dass der Kammerdiener auch als Doppelgänger des Königs gesehen werden kann. Vgl. dazu Abschnitt 5.3.3.

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sind jedoch nicht diese Spuren an sich, die die Geschlechterdifferenz aufrufen, sondern die Tatsache, dass die Suggestion einer nicht eindeutigen Zuordnung, die Irritation zu Anfang des Romans gegen die »Wahrheit« und »Auflösung« einer eindeutigen geschlechtlichen Determination eingetauscht wird.100 Inwieweit Drag oder Cross-Dressing trotz dieser erfolgten Geschlechterzuordnung subversiv ist, darüber scheiden sich auch in der Gender-Theorie die Geister. Oft wird Judith Butlers Gender Trouble herangezogen, um Drag als parodistischen Körperakt bezeichnen zu können. Butler selbst ist da zurückhaltender, wie sie in einem Interview für Radical Philosophy betont: Wiewohl Drag die Möglichkeit eröffne, die Performativität von gender sichtbar zu machen, könne es nicht als Paradigma der Subversion der herkömmlichen Geschlechtercodierung gelten (Osborne/Segal 2004: 33), eine Fall-zu-Fall Entscheidung müsste getroffen werden. Als mögliches Kriterium bietet sich in diesem Zusammenhang der Kontext an, innerhalb dessen sich der verräterische Körper bzw. das Geschlecht in Tongkat präsentiert. Im Folgenden soll der Blick deshalb insbesondere auf jene kontextuellen Bedingungen gerichtet werden, die sich aus dem Textgenre ergeben.

5.3.2 Phantastische Möglichkeiten In Decoding Gender in Science Fiction (2002) knüpft Brian Attebery den Umgang mit geschlechterdekonstruktiven Verfahren an die Möglichkeiten des Genres. In den realistischen Prinzipien verpflichteten Textsorten sind die Möglichkeiten begrenzt: »In fiction that purports to represent the real world, there are few ways to represent the category – or anti-category – of ›thirdness‹. […] the role of disruptive third can be taken by characters who possess epicene features; or who cross-dress […]. In each of these cases, however, it is possible to force the ambiguous character into a more conventional category ; by the story’s end, the author or reader (or both in collusion) discovers the ›real‹ gender of the character and reinterprets events accordingly« (Attebery 2002: 9).

Hingegen gebe es in literarischer Phantastik wie Science-Fiction Texten mannigfaltige Möglichkeiten, andere Perspektiven auf Geschlechtlichkeit zu entwickeln.101 100 In Bezug auf die sexuelle Orientierung hingegen erscheint die Figur der Madame hingegen in einem subversiveren Licht, da sie aus der Norm der Heterosexualität ausbricht (vgl. Abschnitt 5.5). 101 Dies bedeutet nicht, dass dies in spekulativer Literatur immer geschieht – zahlreiche konventionelle genrespezifische Typen wie etwa die »damsel in distress« können dafür als

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»For in [science fiction], androgyny and other sexual alternatives need not be illusions to be dispelled or exceptions to be avoided but can instead represent plausible features of an extrapolated future or an alien world« (Attebery 2002: 9).

Erstmals von Tzvetan Todorov in Introduction — la litt¦rature fantastique (1970) als eigenständige Gattung102 beschrieben, definiert sich das Phantastische über im Text wahrnehmbare Grenzüberschreitungen, die nicht über den Rückgriff etwa auf natürliche Erscheinungen plausibilisiert werden können. In neueren Veröffentlichungen zum Thema wird allgemeiner die Erfahrung der Alterität – auch im Hinblick auf gender – herausgestellt (Lachmann 2002, Simonis 2005).103 Auch für das Werk Verhelsts kann die Phantastik einen sinnvollen Zugang bieten, wie an dieser Stelle argumentiert werden soll. Von einigen Kritikern wurde Verhelsts Werk, insbesondere Tongkat, bereits phantastisch genannt (Bultinck 2000: 17, Goedkoop 2004: 218),104 eine Zuordnung, die insbesondere jene Elemente des Schreckens und Ekels gattungsbezogen zu umfassen vermag, die bei Verhelst im Unterschied zu vielen anderen Autoren des niederländischen Postmodernismus eine so zentrale Rolle spielen.105 Zudem liefert sie einen Ordnungsrahmen für die zahlreichen Möglichkeiten, die sich durch das radikalisierte Verfahren der Literalisierung von Metaphern (menschlichen) Körpern in Tongkat, De kleurenvanger und auch in

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Beispiel fungieren –, sondern bezeichnet die vielfältigen Möglichkeiten, die sich für die Darstellung zur Alternativen einer binär begriffenen Geschlechterdifferenz auftun. Lance Olsen hatte ähnliche Sichtweisen bereits als »naiv« kritisiert, die von einer generell geringeren Abhängigkeit phantastischer Literatur von der empirischen Realität ausgingen. Er argumentiert, es wären letztendlich immer collagierte Versatzstücke genau jener empirischen Realität, die in der Phantastik in neuer Zusammenstellung präsentiert würden (Olsen 1998: 72). Auf Atteberys Vorschlag trifft diese Kritik jedoch nicht zu, da es ihm um die Einbettung phantastischer, »anderer« Erscheinungen in die fiktionale Welt geht, also um ihre Wirkung und nicht um ihre entstehungsbedingte Gebundenheit an bekannte Aspekte der empirischen Realität. Mittlerweile wird die Phantastik auch statt als Genre als Modus literarischen Schreibens begriffen (Moglen 2001). Vgl. auch Moglen 2001, Horstkotte 2004. Der Begriff der Alterität ist dabei durchaus diffus (Simonis 2005: 13). Storm spricht im Zusammenhang mit Tongkat von Fantasy (Storm 2001: 11), einer verwandten Form literarischer Phantastik, die sich durch einen alternativweltlichen Zugang auszeichnet, wobei gemäß dem Sachwörterbuch der Literatur ethische Fragen und der Kampf von Gut gegen Böse im Zentrum stehen (Wilpert 2001: 260). Zu nennen sind hier etwa die zahlreichen Verweise auf Serien- und Massenmörder oder die im Keller konservierten Föten in Vloeibaar harnas, die fragmentierten Kinderleichen in Het spierenalfabet, die immer wieder inszenierten körperlichen Verstümmelungen (von ausgelöffelten Augäpfeln bis zur Selbstausweidung eines menschlichen Körpers) in De kleurenvanger, die kriegerischen Gräueltaten in Tongkat und das gewaltsame Einritzen eines Kunstwerkes in den realen Körper in Memoires van een luipaard.

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Zwellend fruit eröffnen.106 Um einen Überblick über diese phantastischen Möglichkeiten zu schaffen, seien einige der Metamorphosen genannt. Die Phantastik der Darstellung im Werk Verhelsts kulminiert zweifelsohne in den Beschreibungen der Fähigkeiten einer Truppe von jungen Leuten in De kleurenvanger, die als Künstler auftreten. Einer tritt als »telepathisches Chamäleon« auf, indem er die Form der Gedanken seines Publikums annimmt, und kann vom Tier bis zur Seifenblase alle Vorstellungen verkörperlichen (Verhelst 1996: 185). Ein anderer weidet seinen eigenen Körper aus und hängt den eigenen Kadaver an einem Baum auf, der seinerseits wiederum nur die (botanische) Erscheinungsform eines weiteren Mitglieds der Truppe ist (Verhelst 1996: 186 f). Der Aufführungscharakter unterstreicht, dass die Metamorphosen – nach einer langen Trainingsphase der für die Truppe auserkorenen Jugendlichen – willentlich hervorgerufen werden können. Auch in Tongkat werden unterschiedlichste Metamorphosen und Transgressionen dargestellt.107 Willentlich und nach langer Anstrengung herbeigeführte Verwandlungen (Prometheus als Adler108), stehen dabei neben Personifizierungen abstrakter Begriffe (Peter in Gestalt seiner »Angst« als Ratte), 106 Im Zusammenhang mit der unter Abschnitt 5 eingangs erwähnten Entwicklung von Verhelsts Werk vor allem bezüglich der Radikalisierung des literalisierenden Verfahrens sind Vloeibaar harnas und Het spierenalfabet nicht oder nur sehr eingeschränkt als phantastisch zu begreifen. 107 An dieser Stelle werden nur Gestaltveränderungen und Metaphern besprochen, die verdichtet und wiederholt vorkommen. Einige nicht-figürlich zu verstehende Gestaltveränderungen, sofern sie nur einmalig angedeutet und nicht weiter ausgearbeitet werden, werden so nicht berücksichtigt. Zu nennen wäre in diesem Kontext etwa folgende Aussage von Prometheus’ Mutter : »De dag nadat mijn zoon was verdwenen, veranderde ik in een lynx. Ik spitste mijn puntoren, ik zette mijn voeten in zijn voetsporen en ging hem achterna« (Verhelst 1999: 159). 108 Prometheus muss das Fliegen mit echten Adlerflügeln nach und nach erlernen, um in der feindlichen Umwelt vorankommen zu können. Während es zuerst auch biologisch-physikalisch noch plausibel als Gleiten unter Zuhilfenahme der Flügel beschrieben wird, wird ihm das Hilfsmittel nach und nach immer vertrauter und scheint Teil seines Körpers zu werden: »De adelaarsvleugels was hij zozeer als een onderdeel van zijn eigen lichaam gaan beschouwen, dat hij ze niet eens meer afnam, zelfs niet om te slapen« (Verhelst 1999: 96). Er kommt immer höher, wenn auch, wie das folgende Zitat zeigt, seine Ähnlichkeit mit einem Vogel auf der Ebene ein Vergleich bleibt und noch keine Metamorphose im eigentlichen Sinne vollzogen wurde: »Genoeg om zich met zijn voeten aan een stevige, laaghangende tak vast te klemmen. Daar sliep hij, in die bomen, als een vogel in het gewei van een hert« (Verhelst 1999: 96). In seiner Eigenwahrnehmung jedoch entfremdet sich Prometheus zunehmend von seinem Dasein als Mensch: »Het is moeilijk te zeggen of Prometheus mensen vermeed omdat hij zichzelf niet langer als een mens beschouwde, of dat hij van hen vervreemdde omdat hij geen mensen meer zag« (Verhelst 1999: 96). Die Verwandlung in einen Vogel kulminiert in der folgenden Darstellung: »[Hij f]ladderde omhoog en haakte zijn voeten rond een tak, hupte omhoog en stond lang met zijn hoofd boven de boomkruin te kijken« (Verhelst 1999: 100). Das »wie« des Vergleichs ist in dieser Formulierung weggefallen, die vogelartigen Bewegungen scheinen ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

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literalisierten Redewendungen (der Kammerdiener als (Schoß-)Hund des Kronprinzen), quasi-evolutionären Umweltanpassungen (die hellhäutigen und fast blinden Bewohner der Unterwelt)109 und scheinbar natürlich angelegten Körpereigenschaften (Ulrikes Körper als Streichinstrument), wobei diese Unterscheidung nicht über zahlreiche Überschneidungen und Bewegungen zwischen den einzelnen Kategorien hinwegtäuschen soll. Typisch für die phantastischen Transformationen ist ein beständiges Changieren zwischen den verschiedenen Zuständen, das eindeutige Zuordnungen etwa zu Mensch oder Tier unmöglich macht, wie etwa der paradoxe Kampfschrei aus Tongkat: »Homo homini rattus est« (Verhelst 1999: 76, im Original kursiv) illustriert. Welche Form jedoch die Körper zwischenzeitlich auch annehmen mögen, ihr einmal markiertes Geschlecht bleibt konstant,110 wie am Beispiel Peters gezeigt werden kann: Dieser verwandelt sich in eine Ratte und tötet andere durch seine Bisse (Verhelst 1999: 76). »Ik nam de gedaante aan van mijn diepste angst. Een donkere pels die me oploste in de nacht, snorharen in plaats van ogen en tanden die zich in het vleeskleurige gras boorden«111 (Verhelst 1999: 69). Peters äußere Erscheinung oszilliert zwischen humanem und animalischem Dasein. So folgt auf die sprichwörtliche Feststellung »Niemand vroeg hoe de anderen het hadden overleefd. Eens rat, altijd rat«112, wenig später die Aussage: »Gevaar en leven: we waren nog altijd jongens. Wat de drijfveer ook was, het duiken hielp ons om de dag door te komen. We hadden immers geen vrouwen. Daarmee bedoel ik dat we geen plan hadden, geen toekomst. Mannen onder elkaar«113 (Verhelst 1999: 72, Hervorh. d. Verf.).

Vervaecks Postulat, »[a]chter de gadaanteverwisselingen is er dan ook geen vaste gestalte« (Vervaeck 2006: 456), womit er auch auf die vielfache Überlagerung verschiedener Gestalten anspielt, kann insofern nur mit Einschränkungen bestätigt werden, da den Transformationen eine geschlechtlich geprägte Tiefen-

109 Hier tun sich viele Parallelen mit Eloi und Morlocks aus H. G. Wells Science-Fiction Klassiker The Time Machine (1895) auf. 110 Diese bleibt bei manchen Vergleichen auch undeterminiert, so wird etwa grundsätzlich das Geschlecht der Katze, in die so viele Figuren aus Tongkat übergehen, nicht erwähnt. In diesen Fällen ist allerdings gemäß des kognitiven Prinzips der geringsten Abweichung nicht davon auszugehen, dass die Leser den Tieren bewusst ein anderes Geschlecht zuschreiben als dem Menschen, der sich in sie verwandelt. 111 Übers.: »Ich nahm die Gestalt meiner tiefsten Angst an. Ein dunkler Pelz, der mich in der Nacht auflöste, Schnurrhaare statt Augen und Zähne, die sich in das fleischfarbene Gras bohrten.« 112 Übers.: »Niemand fragte, wie die anderen überlebt hatten. Einmal Ratte, immer Ratte.« 113 Übers.: »Gefahr und Leben: Wir waren immer noch Jungen. Was die Motivation auch war, das Tauchen half uns, den Tag zu überstehen. Wir hatten schließlich keine Frauen. Damit meine ich, dass wir keinen Plan hatten, keine Zukunft. Mannen unter sich.«

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struktur zugrunde zu liegen scheint, die einen minimalen personalen Kern erhält. Eine deutliche Präferenz für den organischen Bereich ist den Transformationen in sämtlichen Romanen Verhelsts gemein.114 In Tongkat – wie übrigens auch in Vloeibaar harnas und Het spierenalfabet und Memoires van een luipaard – finden fast alle Metamorphosen zwischen humanem und animalischem Bereich statt:115 Eine Ausnahme ist dabei Ulrike, die ihren nackten Körper wie ein Streichinstrument bespielen kann. Mit einem Bogen streicht sie über ihren Bauch und entlockt ihm Musik, »die Geige, die sie selbst war«, und lässt Prometheus gar auch auf ihrem Körperinstrument spielen, indem er sie umfasst wie ein Cello (Verhelst 1999: 102).116 Auch wenn im Zusammenhang mit den Körpertransformationen Aussagen getroffen werden, die dem realen Wissenschaftsdiskurs entsprungen scheinen – etwa: »Alle sind wir sowohl genetisch als auch von unserer Umwelt geformt« (Verhelst 1999: 60) – ergibt sich aus der Vielfalt der Varianten für die Leser kaum eine Möglichkeit, Gesetzmäßigkeiten zur Gestaltveränderung in einer textuell aktualen Welt von Tongkat abzuleiten. Umso erstaunlicher mutet es an, dass an keiner Stelle in Tongkat oder den anderen Romanen Verhelsts mit Ausnahme von De kleurenvanger (vgl. Abschnitt 5.4) eine explizit benannte körperliche Transformation zwischen den Geschlechtern stattfindet.

114 In der einschlägigen Sekundärliteratur wurde postuliert, Prometheus’ Mutter würde wörtlich zu einer Steinmauer (Vervaeck 2006: 456) und Menschen verschmölzen mit Motorrädern zu modernen Zentauren; diese Feststellungen halten einer genauen Überprüfung aber nicht stand. Dies kann am Beispiel von Prometheus’ Mutter illustriert werden. Zwar formt sie aus (externalisierten) Bestandteilen ihrer selbst, sowohl materialer als psychischmentaler Art (Blut, Tränen, Erinnerungen) Ziegelsteine, aus denen sie eine Mauer errichtet, bleibt aber eine von dieser Mauer getrennte Identität, was aus der getrennten Nennung von Frau und Mauer ersichtlich ist: »Wenn ich direkt vor der Mauer stehe, bin ich fast nicht von ihr zu unterscheiden« (Verhelst 1999: 169). Ähnlich formuliert Ulrike: »eine Frau, die fast nicht von einer Mauer zu unterscheiden war« (Verhelst 1999: 184), aber auch der König: »eine Frau, die in einer Mauer wohnte« (Verhelst 1999: 241). Ebenso verhält es sich mit dem vermeintlichen Maschinen-Menschen Ren¦ in Het spierenalfabet, den Vervaeck und van Kempen als vollkommen kybernetischen Menschen auffassen (Van Kempen 2001: 8, Vervaeck 2004b: 821). Zwar stirbt er gleichzeitig mit seinem aus gesundheitlichen Gründen Teile seines Körpers substituierenden Computer, dies erweist sich jedoch als sorgfältig programmiertes Geschehen, im Laufe dessen er über einen Computerbefehl einen Stromstoß aussendet, der wiederum den eigens für diesen Zweck an das Stromnetz angeschlossenen Rollstuhl in Brand setzt. Auch hier bleiben die Bereiche voneinander getrennt. 115 In De kleurenvanger ist das nicht der Fall: Hier überwiegen Metamorphosen im organischen und animalischen Bereich, aber auch die anorganische Sphäre wird etwa durch die Verwandlung in eine Marmorstatue oder eine Seifenblase berührt. 116 Auffällig daran ist aus der Geschlechter-Perspektive, dass diese phantastische Erscheinung, die an Man Rays Le Violon d’Ingres erinnert, konventionell weibliche Körperformen aufruft, die dem androgynen Körper Ulrikes nicht zu entsprechen scheinen.

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5.3.3 Doppelgänger Die Thematik des Anderen im Ich und des Ich im Anderen verläuft in Tongkat nicht nur entlang der Linie der Psychologie einerseits und der Maskerade andererseits, sondern wird auch über eine Doppelgänger-Motivik aufgebaut. Eine besondere Rolle spielt dabei die Beziehung des Königs zu seinem ehemaligen Kammerdiener. Verschiedene Erzähler berichten übereinstimmend, der König hätte mehrere Doppelgänger : »Vanaf zijn geboorte zouden jongetjes uit het hele koninkrijk zijn geselecteerd. Dubbelgangertjes die vervangen werden naargelang het lichaam en de gelaatstrekken van de prins door de leeftijd werden vervormd. Volgens de geruchten werden de jongetjes weggeplukt zoals de beste koorzangers vroeger uit het Italiaanse platteland. Maar hier werden ze niet gecastreerd, of toch niet lichamelijk. De amputatie was geestelijk. Afgezonderd van hun familie, tussen de muren van het paleis, werden ze opgeleid om de jonge prins tot in het geringste detail te imiteren. Geen eigen gebaartjes meer, geen eigen gedachten, zelfs geen eigen naam meer«117 (Verhelst 1999: 136).

Die vermuteten Doppelgänger dienen den anderen Figuren nicht nur dazu, widersprüchliche Wahrnehmungen wie etwa die gleichzeitige Sichtung des Königs an zwei Orten zu erklären (Verhelst 1999: 284, 310), sondern stiften auch eine Identitätskrise in der Psyche des Königs. Das wiederum wird in die bekannte Formulierung gekleidet, die bereits unter Abschnitt 5.3.1 besprochen wurde: »Op een dag waren mijn dubbelgangers verdwenen. Althans, ik ontmoette ze niet meer. Soms vraag ik me af of ik wel de prins ben of een dubbelganger. Je est un autre est un autre est un autre. Die stem in mijn hoofd«118 (Verhelst 1999: 240). Die Doppelgänger bleiben gemäß ihrer Beschreibung als namenlose Kopien identitätslos, an einigen Stellen wird allerdings suggeriert, der Kammerdiener des Königs sei einer von ihnen. »Omdat ik de kamerjongen was van een onzichtbare koning, werd ik zelf onzichtbaar«119 (Verhelst 1999: 309 f), beschreibt 117 Übers.: »Seit seiner Geburt sollen kleine Jungen aus dem ganzen Königreich ausgewählt worden sein. Kleine Doppelgänger, die ersetzt wurden, sobald der Körper und die Gesichtszüge des Prinzen vom Alter verformt wurden. Den Gerüchten nach wurden die Jungen geholt wie früher in Italien vom Land die besten Chorsänger. Aber hier wurden sie nicht kastriert, zumindest nicht körperlich. Die Amputation war geistig. Abgesondert von ihren Familien, zwischen den Palastmauern, wurden sie unterrichtet, um den jungen Prinzen bis ins geringste Detail zu imitieren. Keine eigenen Gesten mehr, keine eigenen Gedanken, sogar kein eigener Name mehr.« 118 »Eines Tages waren meine Doppelgänger verschwunden. Ich traf sie jedenfalls nicht mehr. Manchmal fragte ich mich, ob ich überhaupt der Prinz war oder doch ein Doppelgänger. Je est un autre est un autre est un autre. Die Stimme in meinem Kopf.« 119 Übers.: »Weil ich der Kammerdiener eines unsichtbaren Königs war, wurde ich selbst unsichtbar.«

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der Kammerdiener seine kompromisslose Anpassung an die Erscheinungsform des Königs; so radikal, dass er selbst dessen Abwesenheit körperlich nachvollzieht. Noch deutlicher tritt seine Funktion als Doppelgänger in einer anderen Passage hervor: Nach dem Tod des Königs durch das Attentat von Tongkat/ Ulrike wird der Kammerdiener, der selbst ein Mitglied der revolutionären Untergrundorganisation unter Carlos’ Führung war, von diesem der Lynchjustiz des Volkes ausgeliefert, indem Carlos ihn als König bezeichnet. Doch der Kammerdiener entgegnet nur : »Ich bin der König nicht, ich bin …« (Verhelst 1999: 323). Anstelle einer Selbstsetzung wird die Identität hier einer Leerstelle überlassen. Carlos’ Tat erscheint im breiteren Kontext alles andere als zufällig, wird die Vernichtung der königlichen Doppelgänger doch bereits angekündigt: »›Misschien wordt het tijd om ze terug te roepen,‹ zei de officier. ›Misschien wordt het tijd om ze te vernietigen,‹ zei de chef. Ze? De spiegelbeelden van de koning. De dubbelgangers«120 (Verhelst 1999: 310).

In einer anderen Szene erscheint der Kammerdiener konsequenterweise auch als »spiegelbeeld« des Königs (Verhelst 1999: 320). Zusammen aufgewachsen teilen Kammerdiener und König zudem viele Erinnerungen. Darüber hinaus haben sie beide eine besondere Beziehung zu dem königlichen Berater Juan, der sie »in ihren Träumen« besuchen kann (Verhelst 1999: 217), eine Fähigkeit, von der er häufig in manipulativer Absicht Gebrauch macht. Eine Übereinstimmung der mentalen Inhalte beider Figuren ist so über den Umweg der Einflüsterung durch Juan auch im Bereich des Möglichen. Ein weiteres Bild unterstreicht die enge Verstrickung der beiden Figuren. Der Kammerdiener »folgt« dem König »wie ein Schatten« (Verhelst 1999: 318), lässt sich also von diesem leiten, beschreibt aber auch die gegenläufige Bewegung, in der er den aktiven Part übernimmt: »es war mein Schatten, der ihn vorausstieß« (Verhelst 1999: 320). Hier ist nicht mehr auszumachen, wer die Richtung bestimmt. Sein Verhältnis zum König charakterisiert der Kammerdiener wie folgt: »Ik was zijn spiegelbeeld van vlees. Geen onzichtbare draad was het die ons verbond, maar een navelstreng«121 (Verhelst 1999: 320). Auch die sich ständig vom Ich zum Du verschiebende Erzählsituation kann im Rahmen der Beziehung von König und Kammerdiener als funktionalisiert begriffen werden. Das siebente Kapitel, in dem der König als Ich-Erzähler auftritt, zeichnet sich im Vergleich mit den anderen Teilen des Romans durch seine besonders diffuse Erzählweise aus, auch weil sich viele Traum- und Wahnszenen 120 Übers.: »›Vielleicht wird es Zeit, sie zurückzurufen‹, sagte der Offizier. ›Vielleicht wird es Zeit, sie zu vernichten‹, sagte der Chef. Sie? Die Spiegelbilder des Königs. Die Doppelgänger.« 121 Übers.: »Ich war sein fleischliches Spiegelbild. Kein unsichtbarer Faden war es, der uns verband, sondern eine Nabelschnur.«

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in seinen Bericht mengen. In einer dieser psychotischen Szenen, nach Phantasien über fragmentierte Körperteile einerseits und Spuren pluraler Existenzen im eigenen Körper, werden die letzten Gedanken vor dem Tod beschrieben: »En je glimlacht. En je voelt een hand die glimlach vastnemen. Hoe die vingers je glimlach door het vel, uit het vlees van je mond scheuren en hoe die glimlach over je kin zal blijven vloeien«122 (Verhelst 1999: 251).

Das entfremdete Lächeln, das in dieser Passage dem Du zugeordnet wird,123 taucht an einer anderen Textstelle wieder auf. Diese markiert das finale Aufeinandertreffen von König und Kammerdiener. Es ist das Lächeln des Kammerdieners, der den König in den Tod stößt: »Tot iemand mij bij mijn schouders beetneemt en omdraait. Een gezicht dat ik herken. Zijn glimlach«124 (Verhelst 1999: 256). Ebenso externalisiert präsentiert sich die Beschreibung des ersten Wiedersehens der beiden nach langer Zeit: »De ogen die je aankeken en je op hetzelfde moment herkenden«125 (Verhelst 1999: 254). Hier sind Subjekt und Objekt des erkennenden Blickes nicht mehr unterscheidbar.

5.3.4 Aufeinanderfolgende Existenzen und die Kontinuität des Geschlechts Textpassagen, in denen oft zwischen Ich- und Du-Perspektive gewechselt wird, finden sich ebenfalls im vom Kammerdiener erzählten achten Kapitel, nämlich meist dann, wenn er eine seiner im Rahmen des Katzenlebens situierten Todeserfahrungen beschreibt. In noch stärkerem Ausmaß als im Kontext von Ulrike und dem König wird die Annahme von Identität auf die materiale Ebene verlagert, wenn es um die Figur des Kammerdieners geht. Dessen viele Tode stehen im Zeichen der körperlichen Transformation. Auf den Sturz, der die Todeserfahrung kennzeichnet und der in Tongkat immer wieder angeführt wird – nicht zuletzt in lyrischer Form im neunten und letzten Kapitel – folgt die wörtlich zu verstehende Fragmentarisierung und Neuzusammenstellung des jeweils »neuen Körpers« (Verhelst 1999: 122 Übers.: »Und du lächelst. Und du fühlst eine Hand dein Lächeln festhalten. Wie die Finger dein Lächeln durch die Haut, aus dem Fleisch deines Mundes reißen und wie das Lächeln immer über dein Kinn fließen wird.« 123 Vgl. auch ebenfalls in der Du-Perspektive »Du und dein Lächeln« (Verhelst 1999: 254). 124 Übers.: »Bis mich jemand an meinen Schultern packte und umdrehte. Ein Gesicht, das ich erkenne. Sein Lächeln.« Die Beschreibung der gleichen Szene durch den Kammerdiener bestätigt diese Bewegung, weicht allerdings in einem dort zusätzlich beschriebenen Detail deutlich von der Darstellung des Königs ab. Der Kammerdiener spricht von einem nach dem Umdrehen und vor dem Stoß erfolgten Kuss (Verhelst 1999: 321). 125 Übers.: »Die Augen, die dich ansahen und dich im selben Moment erkannten.«

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276). Vervaeck spricht in diesem Zusammenhang vom »Einsturz der Identität« (Vervaeck 2006: 426). Unterstrichen wird dies durch das weniger persönliche »Du«, das diesen Transformationen unterworfen ist.126 »Er is alleen de val, het neerkomen en het uiteenspatten. […] Zo is het. Daarmee is het te vergelijken. Alleen word je niet wakker en blijf je vallen, zo diep en zo snel dat je eerst je angst en daarna ook je vorm verliest. Druppels. Kwikdruppels. Meer niet. Daarna, na uren, maanden, jaren, seconden, rollen die druppels opnieuw naar elkaar toe. Denk aan de school vissen. Tot je opnieuw een lichaam bent, met handen die je meent te herkennen, armen, een buik, een gezicht die je vertrouwd voorkomen. Maar is het wel hetzelfde lichaam? Misschien niet«127 (Verhelst 1999: 262 f).

Die äußerlichen Veränderungen des Kammerdieners haben eine andere Qualität als die Tarnungen bzw. das Cross-dressing des Königs. Sie werden nicht intentional hervorgerufen, sondern das Ich ist ihnen unterworfen: »Had hij me echt niet herkend? Of hadden de gebeurtenissen in het huis een masker geschilderd op mijn gezicht?«128 (Verhelst 1999: 318). Ungewollt soldatisch gar erscheint der Kammerdiener nach einem seiner Tode: »Ik was weer levend. Hoe kon ik het anders verklaren dat ik ’s ochtends met stramme spieren in de gangen van het paleis rondliep, mijn armen voor me uit?«129 (Verhelst 1999: 267). Der jeweils neue Körper ist nicht an konventionell humane Formen gebunden, wie eine andere Transformation zeigt, die ihm statt der Wirbelsäule ein Messer in seinem Rücken verleiht (Verhelst 1999: 279). Während jedoch die Kontinuität der materialen Einbettung des Ich durch die erlittenen Tode verloren geht, bleibt das geistig-biographisch verstandene Ich, das sich diese Körper in jeder Gestalt aufs Neue aneignen muss, eine auffallend stabile Entität. Es spinnt die gleichen Gedanken weiter, sehnt sich nach der geliebten Gudrun, erinnert sich an Juan als Beschützer in der feindlichen Umgebung des Palasts und denkt an Carlos, der ihn verraten hat, mit Wut zurück. Eine weitere Konstante, und das ist angesichts der vielgestalten Verkörperli126 Vgl. auch zwei andere Todesszenen, die mit einem Wechsel der Erzählhaltung einhergehen (Verhelst 1999: 297, 331). Insbesondere in der ersten dieser Textstellen wird deutlich, dass erst dann wieder zur konventionellen Ich-Erzählung übergegangen wird, wenn eine gewisse körperliche Integrität wieder hergestellt ist. 127 Übers.: »Es gab nur den Fall, das Aufkommen und das Auseinanderspritzen. […] So ist es. Damit ist es zu vergleichen. Nur wirst du nicht wach, sondern fällst du immer weiter, so tief und so schnell, dass du erst deine Angst und dann auch deine Form verlierst. Tropfen. Quecksilbertropfen. Mehr nicht. Danach, nach Stunden, Monaten, Jahren, Sekunden, rollen die Tropfen aufeinander zu. Denk an einen Fischschwarm. Bis du wieder ein Körper bist, mit Händen, die du zu erkennen glaubst, Armen, einem Bauch, einem Gesicht, alles Dinge, die dir vertraut vorkommen. Aber ist es auch der gleiche Körper? Vielleicht nicht.« 128 Übers.: »Hatte er mich wirklich nicht erkannt? Oder hatten die Ereignisse im Haus eine Maske auf mein Gesicht gezeichnet?« 129 Übers.: »Ich lebte wieder. Wie konnte ich sonst erklären, dass ich morgens mit strammen Muskeln in den Gängen des Palasts herumlief, die Arme vor mir ausgestreckt?«

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chung bemerkenswert, ist das Geschlecht dieses Ichs. Selbst am Ende der Erzählung des Kammerdieners, in der er sich in einer isolierten Situation befindet, aus der sich auch erzählerisch kaum geschlechtliche Markierungen etwa über Personalpronomen ableiten lassen, wird gemäß dem Prinzips der geringsten Abweichung über die Erwähnung des Bartes im Gesicht (Verhelst 1999: 336) suggeriert, es handle sich nach wie vor um einen männlichen Erzähler. Nicht nur verschwimmen die Grenzen zwischen Kammerdiener und König in einer ständigen Bewegung, sondern auch jene zwischen Kammerdiener und Waisenkind Peter, dem ersten Erzähler. Beide sind Überlebende der Kälteperiode und der Revolution und treffen in einer apokalyptischen Szenerie indirekt aufeinander. Peter tritt in der Rolle des Autors zumindest eines Teiles des mit Tongkat präsentierten Textes auf.130 Auf Stofffetzen an Vogelbeine gebunden, und dementsprechend auch in willkürlicher Anordnung, gelangen seine Schriften zu dem in der Schlammflut um sein Leben kämpfenden Kammerdiener. Dieser erkennt darin nicht nur Botschaften eines fundamental Anderen, sondern »het verhaal waar ik aan toebehoor. De woorden die ze rond hun poten dragen, zijn mijn woorden«131 (Verhelst 1999: 336). Mehrmals wiederholt er diese Einschätzung: »Iemand die mijn dromen kende, had ze opgeschreven en aan de vogelpoten vastgebonden«132 (Verhelst 1999: 330). Eine weitgehende (geistige) Identifikation von letztem und erstem Erzähler, und auf metafiktionaler Ebene zwischen Autor und Leser, ist hier zwar erreicht, bleibt aber nicht statisch, sondern oszilliert ständig zwischen der Trennung der Entitäten und ihrer Verschmelzung. »Ik vraag me af of hij me ziet, de schrijver. Zal hij me herkennen? Ik heb mijn haren en een baard, maar ik heb mijn gezicht nog. Weliswaar vol zout en door de wind en de zon gelooid, maar het is mijn gezicht. En als hij dat niet herkent, heb ik nog mijn woorden. Dezelfde die uit zijn vingers stromen«133 (Verhelst 1999: 336).

Zwar strömen die gleichen Worte aus ihren Fingern, die Thematisierung eines Wiedersehens und möglichen Wiedererkennens jedoch lassen wiederum zwei Individuen erkennen, die lediglich viele Gemeinsamkeiten und geteilte Erin130 Es wird keine Aussage darüber getroffen, welchen Umfang die Texte haben, die der Kammerdiener liest. Es kann sich dabei sowohl ausschließlich um das erste Kapitel von Tongkat handeln, das die Erlebnisse des Waisenkindes beschreibt, oder gar nur um Fragmente daraus, aber auch um den kompletten Roman, wie er den Lesern vorliegt. 131 Übers.: »die Geschichte, zu der ich gehöre. Die Worte, die sie an ihren Beinen tragen, sind meine Worte.« 132 Übers.: »Jemand, der meine Träume kannte, hatte sie aufgeschrieben und an den Vogelbeinen festgebunden.« 133 Übers.: »Ich frage mich, ob er mich sieht, der Autor. Wird er mich erkennen? Ich habe meine Haare und einen Bart, aber ich habe mein Gesicht noch. Zwar voll Salz und von Wind und Sonne gegerbt, aber es ist mein Gesicht. Und wenn er das nicht erkennt, habe ich noch meine Worte. Die gleichen, die aus seinen Fingern strömen.«

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nerungen haben: »Zal hij mij omhelzen? Zullen we praten over het paleis? De dromen die we deelden?«134 (Verhelst 1999: 336). Wen auch immer der Kammerdiener hinter dem Verfasser der Geschichten, die die Vögel ihm zutragen, vermutet: ein Alter Ego (Vervaeck 2006: 443), einen unbekannten Autor oder jenes Waisenkind, mit dem er zu ihren gemeinsamen Zeiten am königlichen Hof befreundet war, das Geschlecht dieser Person scheint jedenfalls unzweifelhaft zu bestehen. Die Untrennbarkeit von Identitätskonzeptionen und Geschlechtsidentität arbeitet Judith Butler in Gender Trouble heraus, indem sie postuliert: »Da aber die ›Identität‹ durch die stabilisierenden Konzepte ›Geschlecht‹ (sex), ›Geschlechtsidentität‹ (gender) und ›Sexualität‹ abgesichert wird, sieht sich umgekehrt der Begriff der ›Person‹ selbst in Frage gestellt, sobald in der Kultur ›inkohärent‹ oder ›diskontinuierlich‹ geschlechtlich bestimmte Wesen auftauchen, die Personen zu sein scheinen, ohne den gesellschaftlich hervorgebrachten Geschlechter-Normen […] kultureller Intellegibilität zu entsprechen, durch die die Personen definiert sind« (Butler 1991: 38).

Kurzum, die Intellegibilität einer Person im Sinne westlicher Philosophie könne nur »in Übereinstimmung mit wiedererkennbaren Mustern der GeschlechterIntellegibilität […]« gegeben sein, also nur, wenn die Voraussetzung der geschlechtlichen Determinierung gegeben ist (Butler 1991: 37). Dieses Verständnis von Identität prägt sichtlich auch die meisten von Verhelsts Romanen: Ähnliche Verfahren finden sich in Vloeibaar harnas und Het spierenalfabet, vor allem aber auch in Zwerm. Dort findet sich nur eine Textpassage, in der anhand einer anonymen Figur die Möglichkeit angedeutet wird, fließende Übergänge zwischen den Identitäten könnten auch geschlechterübergreifend stattfinden, wobei diese Potentialität weder eine eindeutige Aktualisierung erfährt, noch über diese kurze Bemerkung hinaus ausgearbeitet wird.135 Hingegen erfahren transgressive Bewegungen zwischen gleichgeschlechtlichen Protagonisten ausführliche Beachtung. Die beiden Hauptfiguren Abel und Angel zeigen sich nicht nur durch ihre Namensähnlichkeit und wesentliche biographische Merkmale verbunden in einer Welt, in der die Identifikation des Individuums von allen Seiten angetastet wird und die Existenz von Klonen bemerkt wird (Verhelst 2005: 634). 134 Übers.: »Wird er mich umarmen? Werden wir über den Palast sprechen? Die Träume, die wir teilten?« 135 Hierbei handelt es sich um eine eingangs als Frau beschriebene Figur, die an ihren Wirkungsstätten Leichen hinterlässt, deren Identität vor allem aber auch deren körperliche Hülle sie im Folgenden anzunehmen scheint (Verhelst 2005: 634, 626, 615,585). Nach einigen Frauenleichen ist dies in einem Fall ein männlicher Toter (Verhelst 2005: 469), was mit »[…] Menschen ändern ihr Geschlecht nicht einfach so« (Verhelst 2005: 471) kommentiert wird. Weiter ausgearbeitet wird diese potentielle Transgression aber nicht.

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»Je zult merken dat je D N A-profiel veranderd is, alsof het patroon van je vingerafdrukken werd gewijzigd. Het zal aanvoelen alsof iemand met je wezen heeft geknoeid. Alles en iedereen is aangetast. Niemand is nog wie hij dacht te zijn. Niets is nog zoals we het dachten te kennen«136 (Verhelst 2005: 18).

In dem solcherart beschaffenen textuellen Universum überrascht es nicht, dass die beiden eindeutig männlich markierten Figuren zunehmend zu Doppelgängern werden, bis sie am Ende des Romans ihre Identität regelrecht tauschen. An Angels Gesicht scheint von Anfang an etwas »nicht zu stimmen«, es wird mit »Copy-Paste« verglichen und die Frage wird gestellt, ob der junge Mann überhaupt existiere (Verhelst 2005: 600). Das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen Abel und Angel, Abels üppige Kopf- und Körperbehaarung, wird entfernt (Verhelst 2005: 305), wodurch die beiden für Fremde ununterscheidbar werden und vielfältige Verwechslungen hervorrufen (Verhelst 2005: 104, 91). Die Verwechslungen finden nicht nur auf figuraler Perspektive statt, sondern auf erzählerischer, indem mehrmals nach Erwähnung Abels gefragt wird: »War es eigentlich Abel?« (Verhelst 2005: 84, 56, 16). Es tauchen Kinderfotos auf, die zwei kleine Jungen – wahrscheinlich Abel und Angel – zeigen, die als identische Zwillinge bezeichnet werden, so identisch gar, dass es nicht mehr natürlich wirkt (Verhelst 2005: 62). Angel sagt deshalb über Abel: »Vandaag heb ik mijn broertje gevonden. Ik heb geen broer. Maar ik heb hem wel gevonden«137 (Verhelst 2005: 371). In der Tat ist bald nicht mehr auszumachen, ob es sich bei den Männern um zwei oder eine Person handelt. Eine Wunde, die Angel zugefügt wird, streckt auch den beobachtenden Abel nieder (Verhelst 2005: 79), Angel wird von seiner eigenen Telefonnummer angerufen (Verhelst 2005: 51): »De herkenning die Angel met stomheid slaat: dit is geen willekeurige man, dit ben ik, ik kijk in mijn eigen ogen!«138 (Verhelst 2005: 300, Hervorh. im Original).139 Wie schon in Tongkat bleibt die Identität und Differenz der Figuren beweglich, und so kann Pearl, Abels Geliebte, die schließlich von Angel aus ihrer Gefangenschaft gerettet wird, erst Fremdheit und dann Nähe konstatieren. »Hij is veranderd, ze moet hem elke keer opnieuw bekijken om in dat kale hoofd het gezicht van haar Abel te herkennen. Hij gedraagt zich

136 Übers.: »Du wirst merken, dass dein DNA-Profil verändert wurde, als ob das Muster deiner Fingerabdrücke sich verändert hätte. Es wird sich anfühlen, als hätte jemand mit deinem Wesen herumgespielt. Alles und jeder ist betroffen. Niemand ist noch der, der er zu sein glaubte. Nichts ist wie wir dachten, dass es ist.« 137 Übers.: »Heute habe ich meinen kleinen Bruder gefunden. Ich habe keinen Bruder. Aber ich habe ihn gefunden.« 138 Übers.: »Die Erkenntnis, die Angel unvermittelt trifft: Das ist nicht irgendein Mann, das bin ich, ich schaue in meine eigenen Augen!.« 139 Vgl. dazu zahlreiche andere relevante Textpassagen (Verhelst 2005: 296, 291).

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vreemd«140 (Verhelst 2005: 6). Diese Ahnung der Täuschung über die Identität ihres Geliebten verschwindet aber wenig später kommentarlos: »Ergens volgt Pearl met haar wijsvinger de contouren van de moedervlekken op de arm van een vertrouwd, warm jongenslichaam«141 (Verhelst 2005: 2). Nicht nur anhand der Doppelgängermotivik um Abel und Angel bestätigt sich die Essentialität der Kategorie Geschlecht. Auch zahlreiche andere Figuren in Zwerm (Goldstein, Kaspar Morcoosi, Major Hanin, Oberst Schwarzkopf, Wafda Idris142, Abels Vater) haben mehrere Identitäten im Rahmen etwa von bewussten Täuschungen als Doppelagenten oder auch von psychischen Störungen oder Verdrängungsmechanismen. Das Geschlecht aber, erkennbar über eindeutige Markierungen der Personalpronomen, bleibt in allen diesen Fällen durch die Transgressionen hinweg konstant gleich.

5.4

Das dritte Geschlecht

Ein gänzlich anderer textueller Umgang mit der Zuschreibung von einem essentialistisch verstandenen Geschlecht zeigt sich in De kleurenvanger, einem Text, in dem die zu Beginn etablierte geschlechtliche Markierung der Figur der Meerjungfrau konterkariert wird von der Wahrnehmung anderer Figuren und teils auch der Selbstinszenierung der Erzählinstanz. Sowohl der Flügel-Erzähler als auch der Bienenstock-Erzähler verwenden durchgehend weibliche Pronomina und eindeutige Geschlechtszuschreibungen wie »das Mädchen« und »Mädchenkörper« (Verhelst 1996: 41), um auf die Meerjungfrau-Erzählinstanz zu verweisen. Die Meerjungfrau-Erzählinstanz spiegelt dieses Verhalten, berichtet zum Beispiel vom Aufwachsen im Waisenhaus und dem dort situierten Streit mit »einem anderen Mädchen« (Verhelst 1996: 18), eine Formulierung, die nach den gängigen Gesprächskonventionen klar das weibliche Geschlecht der Erzählinstanz voraussetzt, da sonst die Bezeichnung des Mädchens als »anderes« überflüssig wäre. Auch körperlich stellt sich die Erzählinstanz auf den ersten Blick als Frau dar, intellegibel über taxonomische Zugänglichkeitsrelationen zur entstehenden textuellen Welt. Sie beschreibt ihre eigene Brust als »Pfirsich« in der Hand eines Mannes, kontrastiert von dem »fleischigen Stock« seines Geschlechts (Verhelst 1996: 77). Ebenso wie der König in Tongkat versucht sie, ihr Geschlecht mittels Cross-Dressing zu verbergen: 140 Übers.: »Er hat sich verändert, sie muss ihn jedes Mal aufs Neue ansehen, um in diesem kahlen Schädel das Gesicht von ihrem Abel zu erkennen. Er benimmt sich komisch.« 141 Übers.: »Irgendwo folgt Pearl mit ihrem Zeigefinger den Konturen der Muttermale auf dem Arm eines vertrauten, warmen Jungenkörpers.« 142 Wafda Idris hat teilweise nicht-menschliche, roboterhafte Züge.

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»’s Nachts hield ik ervan de hoeren te bestuderen. Ik verkleedde me als man en flaneerde door de straten. Het is onmogelijk een hoer om de tuin te leiden, maar ze deden alsof ze niets merkten en kirden, bewogen hun heupen, toonden hun vuurrode tong en wreven over hun borsten«143 (Verhelst 1996: 20).

Während die Verkleidung für den König aus Tongkat Überlebensstrategie ist, ist die Motivation der Meerjungfrau-Erzählinstanz aber unklar. Ihr Auftreten als junger Mann führt zu weiteren Verwechslungen und Unsicherheiten. Die Erzählinstanz Michelangelo, die nur für die Dauer eines kurzen Abschnittes eingeführt wird, beobachtet in einer Kathedrale ein Mädchen, »auch wenn ich nicht sicher bin, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist« (Verhelst 1996: 34). Auch der sexuell von ihr angezogene Priester der Kathedrale wird in Verwirrung gestürzt: »Ik antwoordde dat niet alles is wat het lijkt. Hij opende de deur van de sacristie en liet me voorgaan. Toen ik mijn jas uittrok, snapte hij wat ik bedoelde. Ik had mijn meisjeskleren al aan, voor hij zijn woorden had teruggevonden«144 (Verhelst 1996: 21).

Wie oben bereits in Bezug auf Tongkat ausgeführt, ist der (weibliche) Körper, der unter der maskierenden Kleidung verborgen ist, hier Träger der geschlechtlichen Bedeutung: Seine Enthüllung ist zugleich die Enthüllung der Wahrheit. Doch in Tongkat findet die Geschlechterverwirrung nur an der Oberfläche statt und hängt damit einem Substantialismus an, obwohl die Identität von Figuren als grundsätzlich veränderlich und ohne Kern oder Substanz begriffen wird, wie auch Vervaeck beschreibt, indem er das Tongkat-Bild der Matrjoschka aufgreift (Vervaeck 1999: 79). In De kleurenvanger beginnen an dieser Stelle verschiedene andere, einander verdichtende textuelle Strategien zu greifen, die nach und nach auch der scheinbar leiblich determinierten Substanz Grund und Boden entziehen. An erster Stelle ist hier die Selbstbeschreibung der Meerjungfrau-Erzählinstanz zu nennen, die als Ort ihres Geschlechts ausdrücklich den Rachenraum bestimmt. Das Geschlecht »von so jemandem wie ich« (Verhelst 1996: 29) ist nicht nur einem anderen Ort als vermutet, sondern präsentiert sich nicht als einheitlich, sondern als doppelt : »waar de mondholte overgaat in de keel ben ik een jongetje, en dieper in de warme tunnel van de hals ga ik open en dicht als een meisje«145 (Verhelst 1996 : 29, siehe auch 77). Auf Basis einer biologischen 143 Übers.: »Nachts beobachtete ich gerne die Prostituierten. Ich verkleidete mich als Mann und flanierte durch die Straßen. Es ist unmöglich, eine Hure zu täuschen, aber sie taten, als würden sie nichts merken und gurrten, bewegten ihre Hüften, zeigten ihre feuerrote Zunge und rieben über ihre Brüste.« 144 Übers.: »Ich antwortete, dass nicht alles ist, wie es scheint. Er öffnete die Tür der Sakristei und ließ mich vorgehen. Als ich meine Jacke auszog, verstand er, was ich meinte. Ich hatte meine Mädchenkleider schon an, bevor er seine Sprache wiedergefunden hatte.« 145 Übers.: »wo die Mundhöhle in den Rachen übergeht, bin ich ein Junge, und tiefer im warmen Tunnel des Halses gehe ich auf und zu wie ein Mädchen.«

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Zugänglichkeit des textuellen Universums könnte dies noch als reine Umdeutung allgemein menschlicher körperlicher Merkmale wie Stimmbändern und Zäpfchen verstanden werden. Die seltsame Zweigeschlechtlichkeit der Meerjungfrau-Erzählinstanz bringt aber auch Konsequenzen mit sich: Sie singt sowohl den weiblichen als auch den männlichen Part in Opern (Verhelst 1996 : 30).146 Eine regelrechte Metamorphose, das zweite textliche Verfahren, setzt schon früh ein, als die Zwitterfigur von einer Brücke ins Wasser stürzt: »Toen voelde ik het aan mijn benen: hoe ze voor mijn ogen samensmolten, hoe mijn voeten schuin gingen staan en uitliepen als in een staarvin. Had ik nog een geslacht?«147 (Verhelst 1996: 29).

Nicht nur verdeckt der Fischschwanz die primären Geschlechtsmerkmale, die solchermaßen evozierte Erscheinung einer Meerjungfrau an sich kombiniert Brüste und (phallischen) Schwanz, weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale. Zwar wird das Haben eines Geschlechts von der Erzählinstanz im weiteren Verlauf nicht mehr verneint, die Bezeichnung als »mijn parelmoeren geslacht« [mein Perlmutt-Geschlecht] (Verhelst 1996: 218) hält aber alle Möglichkeiten offen. Sogar in einem Kuriositätenkabinett stellt sich der/die ErzählerIn zur Schau, wobei auch deutlich wird, dass sich nun auch das Begehren der Frauen auf ihn/sie richtet: »Ik ben een jongen en een meisje. De ogen van de vrouwen worden donker als ik naar hen glimlach«148 (Verhelst 1996: 204). Als dritte textuelle Strategie kann kontrafaktisches Erzählen über die Darstellung der Wahrnehmung einer unbeteiligten, nicht als Erzähler fungierenden Figur herangezogen werden. Nachdem der Flügel-Erzähler am Ufer eines Flusses einem Mädchen begegnet, das aus den Fluten auftaucht, kommt er mit ihm ins Gespräch. Sie essen und rauchen, bis das Mädchen ihn ins Wasser locken will, auch, indem es sich ihres Bikinioberteils entledigt. Wenig später ist das Mädchen im Wasser verschwunden, es scheint so ebenfalls ein Wasserwesen zu sein oder gar eine Dopplung der Figur der Meerjungfrau. Doch ein Zeuge dieses Geschehens, der Künstler Juan, beschreibt die Szene gegenüber dem Erzähler unter teilweise verschobenen Vorzeichen: »›Je lag op je rug. Op die rotsen, zo’n tien meter van je af stond een man. Ik dacht dat jullie aan het praten waren‹«149 146 Damit zeigt sie auch eine gewisse Verwandtschaft mit in De kleurenvanger anachronistisch auftretenden Kastraten Alessandro Moreschi. 147 Übers.: »Dann fühlte ich es an meinen Beinen: wie sie vor meinen Augen zusammenwuchsen, wie meine Füße sich querstellten und in eine Schwanzflosse ausliefen. Hatte ich noch ein Geschlecht?« 148 Übers.: »Ich bin ein Junge und ein Mädchen. Die Augen der Frauen werden dunkel, wenn ich sie anlache.« 149 Übers.: »›Du lagst auf deinem Rücken. Auf den Felsen, ungefähr zehn Meter von dir entfernt stand ein Mann. Ich dachte, dass ihr euch unterhieltet.‹«

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(Verhelst 1996: 124). Auch auf Rückfrage des Flügel-Erzählers, ob er nicht doch eher eine Frau meine, antwortet Juan, er kenne den Unterschied zwischen einem Mann und einem Mädchen (Verhelst 1996: 124). Einer ähnlichen Logik folgt eine Beobachtung des Flügel-Erzählers selbst. »Ik volg een kaalgeschoren jongen, die op vuurrode hakken loopt. Schichtig kijkt hij over zijn schouder […]. Ik maak me onzichtbaar. Desnoods verander ik in een boom. Vanuit een portiek kan ik zien hoe hij zijn jas afwerpt. Eronder is hij naakt. Lenig springt hij op de leuning van de brug en duikt in het water. Het is een meisje. Een meisje op de leuning van een brug. […] Niemand kan zo lang onder water blijven«150 (Verhelst 1996: 213, Hervorh. d. Verf.).

Die Differenz zu jenen unter Abschnitt 5.3.1 behandelten Szenen, in denen die oberflächliche Maskerade das eigentliche Geschlecht nur unzureichend zu verbergen vermag, ist groß. Sowohl auf der Ebene der Geschlechtsidentität (gender) als auch des biologisch verstandenen Geschlechts (sex) werden traditionelle Vorstellungen hier über Bord geworfen. Die »feuerroten Stöckelschuhe« lassen den Erzähler keinen Moment daran zweifeln, dass es sich um eine männliche Person handelt, der er folgt. Doch es geht hier nicht nur um Cross-Dressing, auch wenn die körperliche Entblößung die geschlechtliche Zuordnung zunächst zu bestätigen scheint. Letztendlich revidiert der Erzähler seine Entscheidung über das Geschlecht der beobachteten Person aufgrund nicht-anatomischer Kriterien. Die Zuverlässigkeit des Flügel-Erzählers in Bezug auf die korrekte Zuschreibung von Geschlecht gerät an dieser Stelle deutlich ins Wanken, was durch ein viertes narratives Verfahren noch verstärkt wird, indem der projektive Charakter der Erscheinung des vom Flügel-Erzähler begehrten rotbeschuhten Mädchens deutlich hervortritt. »Was ich auf der Brücke gesehen habe, war ein Echo meiner Vergangenheit« (Verhelst 1996: 214), schließt der Flügel-Erzähler. Er legt damit die enge Verflechtung von Phantasie und (fiktionaler) Realität, Erinnerung und Gegenwart offen. Dieser Eindruck verdichtet sich in einer anderen Szene, in der die Meerjungfrau-Erzählinstanz direkt an den Flügel-Erzähler appelliert. »Nee. Niet meer denken. Verlies je verstand. Geloof mij. Zeg mij na: ›Jij bent een spiegeling.‹ Ik ben een spiegeling. 150 Übers.: »Ich folge einem kahlgeschorenen Jungen, der auf feuerroten Stöckelschuhen läuft. Scheu blickt er sich um […]. Ich mache mich unsichtbar. Notfalls verwandle ich mich in einen Baum. Vom Eingang aus kann ich sehen, wie er seine Jacke abwirft. Darunter ist er nackt. Gelenkig springt er auf das Brückengeländer und taucht ins Wasser. Es ist ein Mädchen. Ein Mädchen auf dem Geländer. […] Niemand kann so lange unter Wasser bleiben.« (Hervorh. der Verf.).

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Niet dat ik de einige ben, maar ik ben wel de einige voor jouw. Mijn rode lippen, mijn melkwitte buik, mijn parelmoeren geslacht. Voor jouw. Mijn keel. In mijn keel ben ik een jongetje en een meisje die met elkaar in de weer zijn. […] Je wordt door hen bezeten: vooraan door het meisje, achteraan door de jongen«151 (Verhelst 1996: 218).

Hier erscheint der Körper in seiner komplexen Beschaffenheit als reine Spiegelung des Begehrens. Eine Trennung von gender und sex ist in diesen Textpassagen nicht mehr möglich, es wird, mit Judith Butler gesprochen, die Körperoberfläche nicht »als Natürliches inszeniert«, sondern vielmehr der »performative Status des Natürlichen selbst enthüllt« (Butler 1991: 214).152 In der Verschränkung von Begehren, Identität und geschlechtlich (un-)bestimmtem Körper wird die »Illusion einer geschlechtlich bestimmten Identität« aufgedeckt (Butler 1991: 215), die fälschlicherweise als substantiell begriffen wird. Dies geschieht aber, und das ist wesentlich, in De kleurenvanger hauptsächlich in Bezug auf die Figur des Zwitterwesens Meerjungfrau, während das (männliche) Geschlecht des Flügel- und auch des Bienenstock-Erzählers nicht subvertiert wird.153 Zwar erkennt Bart Vervaeck in der als Happy End inszenierten Vereinigung der beiden Erzähler einen Verweis auf den Mythos von Hermaphroditus (Vervaeck 1999: 83), weil die Figuren einander unter Wasser umarmen und in weiterer Folge eine körperliche Verschmelzung angedeutet wird (»Sie wird meine Lunge sein«, Verhelst 1996: 299). Das solchermaßen intertextuell her151 Übers.: »Nein. Nicht mehr denken. Verlier deinen Verstand. Glaub mir. Sag mir nach: ›Du bist eine Spiegelung.‹ Ich bin eine Spiegelung. Nicht, dass ich die Einzige bin, ich bin aber die Einzige für dich. Meine roten Lippen, mein milchweißer Bauch, mein perlmutterfarbenes Geschlecht. Für dich. Mein Hals. In meinem Hals bin ich ein Junge und ein Mädchen, die miteinander knutschen. […] Du wirst von ihnen besessen: vorne von dem Mädchen, hinten von dem Jungen.« 152 Die hier angeführten Zitate entstammen einem längeren Argumentationsstrang aus Gender Trouble, worin Butler den phantasmatischen Charakter des von der Natur vorgegebenen, geschlechtlich markierten Körpers bespricht. Sie zeigt, wie diese Tatsache von parodistischen, zitierenden Verfahren aufgerufen oder auch verschleiert werden kann. 153 Als Ausnahme kann jener Übergang zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit gesehen werden, der über das konzeptuelle Blending zweier Szenarien entsteht. Dies ist der Fall, als der Flügel-Erzähler in einer Art diffusem Tagtraum beobachtet, wie ein Adler dem begehrten Mädchen die Brust aufpickt und ihr Herz herausreißt (Verhelst 1996: 173). Diese Beobachtung bringt schon durch den Verweis auf den Mythos von Prometheus mit einer Frau in dessen Rolle eine gewisse Subversion geschlechtlich determinierter Vorstellungen mit sich: »En elke dag zou het mechaniekje van het levenloze meisjeslichaam enkele minuten na het verdwijnen van de adelaar opnieuw op gang worden gebracht door een onzichtbare vinger. De pieren zouden zich opnieuw vasthechten en het vel zou zich opnieuw over het middenrif sluiten als een mond« (Verhelst 1996: 173). In einer anderen Version der Geschichte ist es der Flügel-Erzähler selbst, der, mit einem Baum verwachsen, offensichtlich von einem Adler attackiert wird (Verhelst 1996: 178). In einer Überlagerung der beiden Szenarien durch Blending wird das Geschlecht zu einer austauschbaren Variable.

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beizitierte hermaphroditische Dasein des Flügel-Erzählers wird aber narrativ nicht mehr verwirklicht, sondern nur antizipiert. Abgesehen von der Meerjungfrau-Erzählinstanz wird die Variabilität der Kategorie Geschlecht noch an einer anderen Nebenfigur verhandelt, nämlich an der historischen Figur des Kastraten Alessandro Moreschi.154 An einer Textstelle wird das männliche Geschlecht dieser Figur in Frage gestellt, und zwar vom Vater des Kastraten: »Weet hij dat een kind dat sterft zijn ouders vermoordt? Zou hij weten dat hij een man is? Ja. Ja. Nee«155 (Verhelst 1996: 71). Die rückwirkende Verneinung, die sich allerdings nicht klar auf eine oder beide der vorangegangenen Affirmationen bezieht, hinterlässt einen diffusen Eindruck. Die Möglichkeit, Alessandro könnte seiner eigenen Geschlechtlichkeit unsicher sein, wird etabliert. Dennoch wird an anderer Stelle – im Unterschied zur Figur der Meerjungfrau – eine Erklärung für die Sorge des Vaters geliefert, nämlich die Selbstinszenierung des Sohnes, der mit seiner Kastration kokettiert. »Als hij het over zichzelf heeft, gebruikt hij de derde persoon enkelvoud. Onzijdig. Hij wijst op zijn lichaam en fluistert: dit hier is slechts een medium. We weten dat hij liegt en daarom applaudisseren we. Zijn leugens staan hem. Hij wikkelt zich erin als in een vrouwelijke jas«156 (Verhelst 1996: 58).

Aus der Sicht eines Moreschi bewundernden Journalisten wird dessen Darstellung als geschlechtliches Neutrum und göttliches Medium klar als »Lüge« bezeichnet; auch hier wird suggeriert, es gebe über die Inszenierung und auch die tatsächlich erfolgte Kastration hinaus eine bleibende Wahrheit des Körpers und des Geschlechts. Dazu kommt, dass Moreschi im Verlauf des Romans als gewalttätiger Rächer seiner eigenen Kastration erscheint und in einem heterosexuellen Kontext agiert. Die thematisierte Unsicherheit bezüglich des Geschlechtes ist insofern wohl eher als intentionale Selbstinszenierung als »Anderes« zu verstehen denn als grundsätzliches Problem der Kategorisierung innerhalb der textuellen Welt, in der Moreschi schließlich allen zweifelsfrei als (kastrierter) Mann gilt. Die besondere und deviante Rolle der Meerjungfrau-Figur – auch in De kleurenvanger wird die Geschlechterdifferenz schließlich sonst auf minimalem Niveau aufrechterhalten – tritt so noch deutlicher hervor. Sie wird zusätzlich zu den oben beschriebenen Verfahren auch durch die Strukturierung des Textes 154 Dies ist übrigens der einzige Kastrat, der in den Romanen Verhelsts als Figur auftritt, obwohl das Motiv der Kastratenmusik in mehreren seiner Romane eine Rolle spielt. 155 Übers.: »Weiß er, dass ein Kind, das stirbt, seine Eltern ermordet? Weiß er, dass er ein Mann ist? Ja. Ja. Nein.« 156 Übers.: »Wenn er über sich selbst spricht, verwendet er die dritte Person Singular. Neutrum. Er zeigt auf seinen Körper und flüstert: Dies hier ist nur ein Medium. Wir wissen, dass er lügt und darum applaudieren wir. Seine Lügen stehen ihm. Er wickelt sich darin ein wie in eine weibliche Jacke.«

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mit zentralen Motiven und Metaphern gestützt. Ist dem Flügel-Erzähler schon durch sein graphisches Erkennungsmerkmal das Element Luft zugeordnet und der Meerjungfrau-Erzählinstanz durch den Fischschwanz das Wasser, vereinigt Letztere schließlich beide Bilder in ihrer Figur. Dies kündigt sich schon in ihrem die Metamorphose einleitenden Sturz von der Brücke an, in der sie »wie ein Vogel« auf dem Brückengeländer sitzt (Verhelst 1996: 16). Auch in der Selbstdarstellung durch die Meerjungfrau-Erzählinstanz ist diese in ihren Möglichkeiten ambivalent angelegt, adaptiert sich gleichermaßen für Wasser und Luft. »Verloor ik mijn evenwicht, werd ik geduwd of sprong ik? Wat maakt het uit? Toen ik van de brugleuning loskwam, had ik de keuze tussen vliegen en vallen. Mijn lichaam koos. Toen ik in het water neerkwam, kreeg ik kieuwen«157 (Verhelst 1996: 26).

In der Rückschau durch den Bienenkorb-Erzähler, der die gleiche Vogel-Metapher aufgreift wie der Flügel-Erzähler, findet die Richtung des Verschwindens des begehrten Mädchens gar keine Erwähnung, die Wahrnehmung bleibt im Moment der Ambivalenz hängen. »De ene seconde zat het meisje nog als een vogel op de leuning van een brug en de volgende seconde – de tijd voor het knipperen met de oogleden – was ze verdwenen. Weg. In licht opgegaan«158 (Verhelst 1996: 112).

Das textuell männlich konnotierte Element Luft ist in all diesen Darstellungen bereits in der Figur der Meerjungfrau angelegt, was ihre Zweigeschlechtlichkeit metaphorisch unterstreicht. Schließlich werden auch intertextuelle Verbindungen wirksam, die die Meerjungfrau-Erzählinstanz in der Rolle des Odysseus auftreten lassen: »Soms ontkleedt hij zich en kijk ik ademloos toe hoe zijn mooie, bleke lichaam boven me drijft. Ik moet mezelf dan met mijn haren aan blootliggende boomwortels vastbinden om die lokzang te weerstaan. Ik moet een hand op mijn mond leggen en de andere op mijn geslacht«159 (Verhelst 1996: 47).

Hier ist es der Flügel-Erzähler, dessen Schönheit als Sirenenlockgesang fungiert, was auch die Subjekt-Objektrollen in De kleurenvanger verkehrt. Das unter 157 Übers.: »Verlor ich mein Gleichgewicht, wurde ich gestoßen oder sprang ich? Was ist der Unterschied? Als ich mich von dem Brückengeländer löste, hatte ich die Wahl zwischen fliegen und fallen. Mein Körper wählte. Als ich auf dem Wasser aufkam, bekam ich Kiemen.« 158 Übers.: »In der einen Sekunde saß das Mädchen noch wie ein Vogel auf dem Brückengeländer und in der folgenden Sekunde – der Zeitspanne eines Augenzwinkerns – war sie verschwunden. Weg. Im Licht aufgegangen.« 159 Übers.: »Manchmal entkleidet er sich und ich schaue atemlos zu, wie sein schöner, bleicher Körper über mir treibt. Ich muss mich dann selbst mit meinen Haaren an den freiliegenden Baumwurzeln festbinden, um diesem Lockgesang widerstehen zu können. Ich muss eine Hand auf meinen Mund legen und die andere auf mein Geschlecht.«

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Abschnitt 3.5 dargestellte konzeptuelle Blending des prätextuellen mit dem aktualen Szenario lässt das Geschlecht austauschbar erscheinen.

5.4.1 Gegenläufige Tendenzen In De kleurenvanger gibt es allerdings auch gegenläufige Tendenzen, die Geschlechtsidentität und biologisches Geschlecht neu in die Figuren einschreiben. Ausgerechnet am Beispiel von auch als solchen bezeichneten Amazonen wird dies in Einschüben gezeigt, die die Reiseerzählung des Flügel-Erzählers unterbrechen. So wird aus der Sicht westlicher Kolonisatoren ein Dorf beschrieben, das sich gegenüber Missionaren als matriarchal und gar gynozentrisch präsentiert: Da die Männer sich nur mit gefährlichen Flugübungen beschäftigen, übernehmen die Frauen alle gesellschaftlich relevanten Aufgaben, darunter auch die Verteidigung des Dorfes. Schließlich sterben die Männer im Zuge ihrer Flugversuche aus, während einigen Frauen männliche Geschlechtsteile anwachsen. Die von kolonialen Mustern geprägte kulturanthropologische Beobachtung, die sich auf die Fremdheit des vermeintlichen Amazonenvolkes fokussiert, wird von der Perspektive einer der Amazonen kontrastiert. In einer Umkehrung der kolonialen Logik stellt sie das gynozentrische soziale Gefüge als theatrale Aufführung für die deutschen Ethnologen dar : »Overdag deden wij alsof we zowel de jacht, de leiding als de verdediging van het dorp voor onze rekening namen«160 (Verhelst 1996: 148), wobei die Frauen auch ihre sexuellen Reize bewusst einsetzen. Die Inszenierung lässt sich umso erfolgreicher umsetzen, als der koloniale Blick die Sicht auf das Individuum versperrt und damit für Täuschungen empfänglich ist (Verhelst 1996: 148), so kann auch eine Geschlechtsumwandlung von Frau zu Mann inszeniert werden: »We maakten de drie [onderzoekers] wijs dat de mannen die we overhadden niet als man geboren waren. Als bewijs toonden we een meisje dat we in een hut hadden opgesloten. […] Na vier dagen vervingen we het meisje ’s nachts door haar broer«161 (Verhelst 1996: 149).

Schließlich sind es doch die aus ihrem Versteck überraschend hervorgekommenen Männer des Dorfes, die die kolonialen Eindringlinge foltern bzw. ermorden. Dem vermeintlichen Amazonenvolk gelingt es, unter dem Deckmantel 160 Übers.: »Untertags taten wir, als ob wir sowohl für die Jagd als auch die Führung und Verteidigung des Dorfes verantwortlich waren.« 161 Übers.: »Wir machten den drei [Forschern] weis, dass die Männer, die noch übriggeblieben waren, nicht als Männer geboren waren. Als Beweis zeigten wir ihnen ein Mädchen, das wir in einer Hütte eingeschlossen hatten. […] Nach vier Tagen vertauschten wir das Mädchen nachts gegen seinen Bruder.«

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des Fremden den vertrauten Strategien (kriegerischen Männern) zum Erfolg zu verhelfen. Der Spott, der jenen gilt, die an das Wunder der Metamorphose glauben, ist groß: Es seien vor allem Männer, die solchen Mirakeln Glauben schenkten (Verhelst 1996: 148). Der Hermaphroditismus der Meerjungfrauen-Erzählinstanz kann vor dem Hintergrund dieser Binnenerzählung und je nachdem, welches Gewicht ihr beigemessen wird, ebenfalls als faktisch falsch, als theatrale Aufführung für das gutgläubige, aber verblendete Publikum gelesen werden. Diese Dynamik vermag die im vorigen Abschnitt beschriebene Transgressivität der Geschlechter zumindest einzuschränken, indem es ihr die universale Gültigkeit innerhalb des textuellen Universums abspricht.

5.5

Die Befreiung aus der heterosexuellen Norm

Im Prosawerk Peter Verhelsts werden auffällig viele homosexuelle Verhältnisse beschrieben, wodurch der Heteronormativität Wesentliches entgegengesetzt wird. Judith Butler analysierte in Gender Trouble, wie stark die Binarität traditioneller Geschlechterauffassungen und die Idee der Heterosexualität als Norm verflochten sind: »Die heterosexuelle Fixierung des Begehrens erfordert und instituiert die Produktion von diskreten, asymmetrischen Gegensätzen zwischen ›weiblich‹ und ›männlich‹, die als expressive Attribute des biologischen ›Männchen‹ (male) und ›Weibchen‹ (female) verstanden werden. Die kulturelle Matrix, durch die die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) intelligibel wird, schließt die ›Existenz‹ bestimmter ›Identitäten‹ aus, nämlich genau jene, in denen sich die Geschlechtsidentität (gender) nicht vom anatomischen Geschlecht (sex) herleitet und in denen die Praktiken des Begehrens weder aus dem Geschlecht noch aus der Geschlechtsidentität ›folgen‹« (Butler 1991: 39).

Neben Memoires van een luipaard, worin ein lesbisches Liebesverhältnis suggeriert wird, taucht auch in Vloeibaar harnas mit der Figur des in den Protagonisten verliebten Felix ein Homosexueller auf, auch wenn dessen Begehren angesichts der stabilen heterosexuellen Orientierung des Ichs nicht erwidert wird. Besonders vielschichtig ist in dieser Hinsicht der dem gleichen Roman entspringende Cross-Dresser Madame, der sich als Mann in Frauenkleidern homosexuellen Praktiken widmet. In Het spierenalfabet wird ein (unglückliches) Dreiecksverhältnis zwischen dem heterosexuell empfindenden männlichen Ich-Erzähler, der bisexuellen Lore und deren Freundin geschildert. In De kleurenvanger verliebt sich die Figur Francisco (de Goya), der Lehrmeister des Bienenkorb-Mannes, in einen jungen Matador, der »Langsam. Weiblich. Elegant« tanzt (Verhelst 1996: 242, vgl. 239) und mit diesem Tanz die Stiere so zu

Androgynität und Hermaphroditismus

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betören vermag, dass sie tot umfallen, anstatt mit dem Spieß erstochen werden zu müssen. Einige Male werden Figuren beschrieben, die auf beide Geschlechter anziehend wirken, wobei nicht immer klar wird, ob es sich bei beiden Geschlechtern gleichermaßen um eine erotische Anziehung handelt. So lässt der Matador »sowohl das Blut der Mädchen rauschen als auch das der Männer« (Verhelst 1996: 249), die Meerjungfrau-Erzählinstanz aus De kleurenvanger berichtet davon, dass sowohl Männer als auch Frauen sich für sie interessieren: »De ogen van de vrouwen worden donker als ik naar hen glimlach«162 (Verhelst 1996: 204). Auch ein nicht eindeutig identifizierbarer Ich-Erzähler aus Zwerm ist explizit für beide Geschlechter attraktiv (Verhelst 2005: 138). Ganz anders gestaltet sich im Unterschied dazu die eindeutige Situierung der begehrenden Blicke innerhalb der heterosexuellen Matrix in Tongkat: »Ulrike kreeg de mannelijke ogen. Prometheus die van de vrouwen en de kinderen«163 (Verhelst 1999: 119). Wiewohl verschiedenste sexuelle Orientierungen die Beziehungen der Figuren in Verhelsts Romanen prägen, bleibt wie bei der erzählerischen Auflösung des Cross-dressings der Körper der Ort, an dem über die Wahrheit des Begehrens entschieden werden kann; der Körper wird mit in den Worten von Francette Pacteau zur »site of all truth« (Pacteau 1986: 81). Diese Wahrheit des Körpers wird an einigen Textstellen konkret benannt: »Ze nam mijn handen en legde die op haar borsten. Ik wendde me af en zei dat ik van mannen hield. Ze voelde aan mijn lichaam dat ik loog«164 (Verhelst 1996: 222), heißt es in De kleurenvanger. In Het spierenalfabet wird es zweimal betont: »Een lichaam liegt nooit« (Verhelst 1995: 129, vgl. 99) – ein Körper lügt nie.

5.6

Androgynität und Hermaphroditismus

Laut dem Metzler-Lexikon Gender Studies wird Hermaphroditismus zuweilen synonym mit Androgynität verwendet, wobei ein breites Spektrum nicht eindeutiger Geschlechtsausprägung umfasst wird; oft wird aber auch zwischen diesen Begriffen differenziert. In letzterem Fall ist der Hermaphroditismus als biologisch verankerte Zweigeschlechtlichkeit zu verstehen, während Androgynität so divergierende Konzepte wie Cross-dressing und Transsexualität umfassen kann, wobei die Körperoberfläche des Individuums meist weiterhin eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden kann. Für die vorliegende Ab162 Übers.: »Die Augen der Frauen werden dunkel, wenn ich sie anlache.« 163 Übers.: »Ulrike bekam die Augen der Männer. Prometheus die der Frauen und der Kinder.« 164 Übers.: »Sie nahm meine Hände und legte sie auf ihre Brüste. Ich wandte mich ab und sagte, dass ich Männer liebte. Sie fühlte an meinem Körper, dass ich log.«

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handlung wird nach Möglichkeit die differenzierende Terminologie gehandhabt. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass mit jener phantastischen vom Typ Verhelsts besondere Voraussetzungen geschaffen sind, um über eine über Kleidung oder Habitus hinausgehende Transgression zu einem anderen als einem körperlich gegebenen Geschlecht zu verwirklichen. Außerdem soll der Übersichtlichkeit halber auch der Androgynitätsbegriff enger gefasst werden. Er wird mit Francette Pacteau verstanden als Zuschreibung, die ein Beobachter vornimmt, ohne damit einen konkreten Referenzpunkt zu haben. Androgynität ist insofern im Gegensatz zur Zweigeschlechtlichkeit nicht »real«. Es kann konstatiert werden, dass die Einbettung in einen im weitesten Sinne phantastischen, alternativ-weltlichen Kontext gerade im Hinblick auf die starren, binären Ordnungsstrukturen rund um geschlechtliche Identität, Körper und sexuelle Orientierung die Möglichkeit eröffnet, andere Formen von Identität darzustellen, ohne deren Devianz thematisieren zu müssen. Und tatsächlich, in Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman schreibt Bart Vervaeck, in allen bis zu diesem Zeitpunkt erschienenen Romanen Verhelsts – dies betrifft Vloeibaar harnas, Het spierenalfabet und De kleurenvanger – fände sich im Dienste postmoderner Hybridität eine hermaphroditische Figur, wobei er den Terminus nicht im Hinblick auf die oben erwähnte Abgrenzung oder Deckungsgleichheit mit Androgynität spezifiziert (Vervaeck 1999: 83). Lässt sich die Meerjungfrau-Erzählinstanz aus De kleurenvanger durchaus als im strengen Sinne hermaphroditisch oder intersexuell bezeichnen (vgl. Abschnitt 5.4) – finden sich in den anderen Texten – übrigens auch in den später erschienenen wie Tongkat, Memoires van een luipaard165, Zwellend fruit und Zwerm – keine vergleichbaren Figurationen. Die »geschlechtslose Vollkommenheit«, die Vervaeck zitiert, um den Hermaphroditismus in Het spierenalfabet nachzuweisen (Vervaeck 1999: 83), wird dort zwar vom Ich-Erzähler als Vorstellung genannt, ist aber weder an eine bestimmte Figur gebunden noch körperlich verwirklicht. Zudem verweist sie nicht so sehr auf die klassisch hermaphroditische Überfülle (nämlich das Vorhandensein sowohl männlicher als auch weiblicher Geschlechtsmerkmale) als vielmehr auf die vollkommene Abwesenheit davon. In Vloeibaar harnas löst sich die Vorstellung dieser Vollkommenheit aus ihrer Abstraktion, indem sich der Ich-Erzähler für einen Moment selbst als intersexuelles Wesen imaginiert, bleibt aber innerhalb der tex165 Es ließe sich argumentieren, dass die nicht erfolgte geschlechtliche Determinierung des Erzählers in Memoires van een luipaard effektiv einem zweigeschlechtlichen Erzähler entspricht, jedoch wird, abgesehen von der deutlichen Suggestion, es ginge um eine weibliche Stimme, an keiner Stelle angedeutet, der Körper des Ichs wiche in irgendeiner Art von den anderen, auch in der fiktionalen Welt konventionell beschriebenen Körpern ab. Dies ist durch die unter Abschnitt 5.4 dargestellten Verfahren in De kleurenvanger sehr wohl der Fall.

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tuell aktualen Welt reine Idee, ohne körperliche Realisierung: »Ik heb me met borsten voorgesteld, tweeslachtig, met de ene kant leven ontvangend, met de andere leven schenkend. Als een volmaakt universum«166 (Verhelst 1993: 37). Ein weiteres Beispiel aus De kleurenvanger demonstriert eine dritte Möglichkeit von Intersexualität, nämlich die von der Konkurrenzsituation abhängige Heranbildung männlicher bzw. weiblicher Merkmale im fliegenden Wechsel. Berichtet wird von den Okinawae-Fischen, deren Geschlecht bidirektional veränderlich ist:167 »›Volmaaktheid,‹ begin ik aarzelend, ›yin en yang, de perfecte cirkel‹. […] ›Nee, idioot, als je zowel mannelijk als vrouwelijk bent, kun je ze ook beide vermoorden‹«168 (Verhelst 1996: 80). Im Vordergrund steht hier die Idee der Unabhängigkeit vom anderen Geschlecht. Die drei Textpassagen zeigen, dass die Projektionsfläche, die ein geschlechtlich nicht eindeutig innerhalb eines binären Schemas determinierbarer Körper bietet, einerseits ein Kerngedanke in den Romanen Verhelsts ist, andererseits aber je nach Werk sehr unterschiedlich ausgestaltet wird und zudem außer in De kleurenvanger nicht aus der Form der Ideenhaftigkeit gelöst wird. Die sichtbar variable Bedeutung ist dabei durchaus typisch für die Zweigeschlechtlichkeit als Platzhalter für verschiedenste Auffassungen, wie Brian Attebery betont: »At various times, in various hand, androgyny [hier : Hermaphroditismus] has stood for wholeness, narcissism, fashion, bisexuality, heterosexual marriage, liberation of women, decadence, the balance between ying en yang, and, yes, appropriation of women’s prerogatives by men« (Attebery 2002: 133).

Zudem muss die Verortung der oben zitierten Textstellen als Ausdruck der postmodernen Vorliebe für Hybridität im spezifischen Falle Peter Verhelsts nuanciert werden. Wie unter Abschnitt 5 ausgeführt, handelt es sich in Verhelsts Werk bei der Darstellung geschlossener und deshalb meist auch selbstdestruktiver Systeme um ein grundlegendes strukturelles Moment, das anhand vieler Beispiele durchdekliniert wird, von der zerstörerischen Expansion des Universums über sich selbst auslöschende Tinte bis hin zur sich selbst verdauenden Figur. Auch die Vollkommenheit und Zirkularität eines zweigeschlecht166 Übers.: »Ich habe mir mich mit Brüsten vorgestellt, zweigeschlechtlich, auf der einen Seite das Leben empfangend, auf der anderen Seite das Leben schenkend. Wie ein vollkommenes Universum.« 167 In Abwesenheit eines Männchens kann das größte Weibchen männliche Geschlechtsmerkmale entwickeln (und diese Entwicklung später wieder revidieren), genauso, wie ein einem dominanten Männchen untergeordnetes Männchen weibliche Geschlechtsmerkmale heranbilden kann. 168 Übers.: »›Vollkommenheit‹, setze ich zögernd an, ›Yin und Yang, der perfekte Kreis‹. […] ›Nein, Idiot, wenn du sowohl männlich als auch weiblich bist, kannst du sie auch beide ermorden.‹«

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lichen Körpers fügt sich in die Reihe geschlossener Systeme ein und kann solchermaßen funktionalisiert, das heißt mit einem Fokus nicht primär auf das Aufbrechen der Geschlechterdifferenz, betrachtet werden. Dies vermag auch eine weitere Abstraktion des hermaphroditischen Prinzips zu demonstrieren, die sich in der Umdeutung des omnipräsenten Symbols des Pentagramms in Vloeibaar harnas darstellt: »Het pentagram. Vijfpuntige ster : twee benen, twee armen, een hoofd. Bij omkering: twee armen, twee benen, een geslacht dat naargelang de voorkeur zowel mannelijk als vrouwelijk gedefinieerd kan worden.[…] De gestalte met het hoofd is geslachtloos. De onthoofde gestalte heeft een geslacht/geslachten. […] Beide gestaltes kunnen als een spiegelbeeld van elkaar gelezen worden. Een palindroom. Op dat moment vormen ze samen het perfecte symbool voor engelen: bestaand uit geest (hoofd, geslachtloosheid) en tweeslachtigheid (androgyn, hermafrodiet)!«169 (Verhelst 1993: 93 f).

Auch hier ist es keine Figur, die zum Träger einer geschlechtlich nicht definierbaren Bedeutung wird, sondern nur ein wörtlich als solches bezeichnetes Symbol. Viel zwingender als der von Vervaeck benannte Hermaphroditismus als tatsächlich zweigeschlechtlicher Körper erscheint in Verhelsts Werk die Idee der Androgynität im Sinne Pacteaus, also nicht als realer körperlicher Zustand, sondern als »impossible referent«. Ist es bei der Idee des Hermaphroditismus vor allem die durch Komplementarität erreichte Vollkommenheit, die in den Romanen Verhelsts als erstrebenswert gilt, weil sie ihrerseits die Basis für die Auslöschung bildet, steht die Androgynität im Zeichen eines ästhetischen Ideals, das stark mit Jugendlichkeit verknüpft ist. Das biologische Geschlecht vieler Frauenfiguren in Verhelsts Romanen kann oft definitiv erst durch einen Blick von vorne auf die Wölbung der Brust oder sogar erst durch die Entblößung ihres Körpers als weiblich determiniert werden. Sowohl ihre Statur als auch ihre Kleidung tragen dazu bei, die Grenzen zwischen den Geschlechtern zu verwischen. Die durchwegs männlichen Erzähler, die diese für sie durchaus attraktive Androgynität beschreiben,170 erliegen dabei jedoch keiner Täuschung, die erst retrospektiv aufgelöst wird, sondern verwenden von 169 Übers.: »Das Pentagramm. Fünfzackiger Stern: zwei Beine, zwei Arme, ein Kopf. Umgekehrt: zwei Arme, zwei Beine, ein Geschlecht, das je nach Vorliebe sowohl männlich als auch weiblich bestimmt werden kann. […] Die Gestalt mit dem Kopf ist geschlechtslos. Die enthauptete Gestalt hat ein Geschlecht/Geschlechter. […] Beide Gestalten können als Spiegelbild voneinander gelesen werden. Ein Palindrom. In dem Moment bilden sie zusammen das perfekte Symbol für Engel: bestehend aus Geist (Haupt, Geschlechtslosigkeit) und Zweigeschlechtlichkeit (Androgyn, Hermaphrodit)!« 170 Auffallend oft – bei Lore (Het spierenalfabet), der Figur der Meerjungfrau (De kleurenvanger) und Tongkat/Ulrike (Tongkat) – geht der androgyne Körper gepaart mit rotem Haar, einem traditionell äußerst sexualisierten Symbol, vgl. die Darstellung gefährlicher rothaariger Verführerinnen wie Salome, Lilith, Lulu, Medusa usw. (Steinkämper 2007: 268).

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Anfang an weibliche Personalpronomen für die jungenhaften Figuren171. Über Tongkats Gudrun sagt der Kammerdiener : »Van achteren had ze het lichaam van een jongen. Maar toen ze zich omdraaide niet meer«172 (Verhelst 1999: 287) und bestätigt später : »Toen knoopte ze haar kleren een voor een los. Ze was inderdaad geen jongen«173 (Verhelst 1999: 293). Ähnlich wird die Annäherung von Tongkat/Ulrike und Prometheus beschrieben: »Zo stonden ze tegenover elkaar als twee zachte spiegels van vlees. Toen draaide ze zich om en keek hem over haar schouder aan, alsof ze over iets nadacht. Nam toen een besluit. Wendde zich naar hem toe. En dan opnieuw die blik die hem vastspijkerde, terwijl ze haar linkerhand op haar buik legde. Hij keek. Traag schoof de hand omhoog. Ze had een buik. Hoger nog. Ze was een meisje«174 (Verhelst 1999: 101).

Lore aus dem spierenalfabet trägt schwere Springerstiefel und »läuft wie ein Junge« (Verhelst 1995: 83), doch eine nächtliche Beobachtung beweist: »Sie hat Brüste« (Verhelst 1995: 52). Die gleichnamige Lore aus De kleurenvanger, ebenfalls Trägerin von Springerstiefeln und ein deutliches Echo der ersten Lore, hat »Jungshüften. Und darüber ein Mädchenkörper« (Verhelst 1996: 198). Der Unterschied zu der unter Abschnitt 5.4 beschriebenen hermaphroditischen Szene aus De kleurenvanger wird in diesem Zusammenhang besonders deutlich. Dort wird schließlich kein eindeutig weiblicher (oder männlicher) Körper beschrieben, der über das »wahre« Geschlecht Aufschluss verleihen könnte, sondern die Unsicherheit bleibt erhalten. »Ik volg een kaalgeschoren jongen, die op vuurrode hakken loopt. Schichtig kijkt hij over zijn schouder […]. Ik maak me onzichtbaar […]. Vanuit een portiek kan ik zien hoe hij zijn jas afwerpt. Eronder is hij naakt. Lenig springt hij op de leuning van de brug en duikt in het water. Het is een meisje. Een meisje op de leuning van een brug. […] Niemand kan zo lang onder water blijven«175 (Verhelst 1996: 213). 171 Als einzige Ausnahme kann Luca aus Vloeibaar harnas genannt werden. Sie wird erst als »Junge« beschrieben, entpuppt sich aber wenig später als Mädchen (Verhelst 1993: 16 f). Im Unterschied zu den anderen androgynen Frauenfiguren ist sie allerdings auch nicht Objekt des männlichen Begehrens, sondern begehrt ihrerseits den Erzähler, ein Verlangen, das nicht erfüllt wird. 172 Übers.: »Von hinten hatte sie den Körper eines Jungen. Aber als sie sich umdrehte, nicht mehr.« 173 Übers.: »Dann knöpfte sie ihre Kleider langsam auf. Sie war wirklich kein Junge.« 174 Übers.: »Sie standen einander gegenüber wie zwei weiche Spiegel aus Fleisch. Dann drehte sie sich um und sah ihn über ihre Schulter an, als ob sie über etwas nachdachte. Fasste einen Entschluss. Wandte sich ihm zu. Dann aufs Neue der Blick, der ihn festnagelte, während sie ihre linke Hand auf ihren Bauch legte. Er schaute. Langsam wanderte die Hand hinauf. Sie hatte einen Bauch. Noch höher. Sie war ein Mädchen.« 175 Übers.: »Ich folge einem kahlgeschorenen Jungen, der auf feuerroten Stöckelschuhen läuft. Scheu blickt er sich um […]. Ich mache mich unsichtbar.[…] Vom Eingang aus kann ich sehen, wie er seine Jacke abwirft. Darunter ist er nackt. Gelenkig springt er auf das Brü-

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Die androgyne Erscheinung vieler Frauenfiguren ist ein ästhetisches Ideal, das Verhelst in seinem Œuvre konsequent verfolgt, während der weiblich erscheinende Mann – außer unter der unter Abschnitt 5.3.1 besprochenen Maskerade mit Täuschungsabsicht bzw. in karnevalistischen Szenen – keine Rolle spielt,176 schon gar nicht in der Erwähnung durch weibliche Erzählinstanzen. Die gleiche, verdichtende Tendenz lässt sich auch von im weitesten Sinne intertextuellen Verweisen ableiten, in denen manchmal auch weibliche Figuren in einer prätextuell männlich konnotierten Rolle abgebildet werden.177 So wird Lore aus Het spierenalfabet mit Sisyphus verglichen (Verhelst 1995: 99) und in Vloeibaar harnas ein Mädchen herbeiphantasiert, das als Torero auftritt,178 und ist Frau Oberst Schwarzkopf aus Zwerm wohl nach dem historischen Modell des General Norman Schwarzkopf modelliert, der die Operation Desert Storm leitete. Die Obsession mit androgynen Körpern lässt sich auch an der Wortwahl ablesen, die die Romane Verhelsts dominiert: Männliche Figuren werden fast ausschließlich als »Jungen« bezeichnet, weibliche als »Mädchen«,179 eine Praxis, mit der erst in Zwerm und auch dort nur teilweise gebrochen wird. Dass die Wortwahl ebenfalls im Dienste der Verwirklichung einer bestimmten Ästhetik eines jugendlichen Körpers steht, kann anhand eines Zitates aus De kleurenvanger illustriert werden: »De mensen worden mooier. […] Alle vrouwen lopen als meisjes. Alle mannen lopen fluitend achter die meisjes aan«180 (Verhelst 1996:

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ckengeländer und taucht ins Wasser. Es ist ein Mädchen. Ein Mädchen auf dem Geländer. […] Niemand kann so lange unter Wasser bleiben.« Die einzige diesbezüglich relevante Erwähnung ist der »weibliche« Tanz des homosexuellen Toreros in De kleurenvanger, wobei die Weiblichkeit nur auf die situationsgebundene Bewegung bezogen wird und nicht etwa auf Kleidung oder Körperbau. Die ist im Übrigen ein deutlicher Unterschied zur Textpraxis Atte Jongstras, wo intertextuelle Verweise immer einer strengen geschlechtlichen Codierung folgen, die keine Vergleiche zwischen weiblichen und männlichen Figuren zulässt. »Ben in een ets van Goya gestapt die de zeer handige student van Falces voorstelt, die, gewikkelt in een rode cape, de stier met de bewegingen van zijn lichaam om de tuin leidt. Heb me onder de rode cape een wiegend meisjeslichaam voorgesteld« (Verhelst 1993: 34, vgl. auch Verhelst 1995: 101). Übers.: »Bin in eine Radierung von Goya gestiegen, die einen sehr geschickten Schüler von Falces abbildet, der, in ein rotes Cape gewickelt, den Stier mit den Bewegungen seines Körpers täuscht. Habe mir unter dem Cape einen wiegenden Mädchenkörper vorgestellt.« Auch allusiv gibt es vergleichbare Szenen, wenn etwa die Meerjungfrau-Erzählinstanz in ihrer selbst erfundenen Stottertherapie an Demosthenes erinnert (Verhelst 1996: 76), im Übrigen eine sehr ironische Refiguration, indem sie dafür die Hoden des von ihr kastrierten Sängers verwendet. Diese Bezeichnungen werden meist im Wechsel mit den Eigennamen der Figuren verwendet. Übers.: »Die Menschen werden schöner. […] Alle Frauen gehen wie Mädchen. Alle Männer laufen pfeifend den Mädchen hinterher.« Auffällig ist auch, dass etwa die Figur der klassischen, sehr weiblichen Verführerin Inez in Het spierenalfabet, die auf alle Männer bis auf den Ich-Erzähler sehr anziehend wirkt, von jenem immer mit ihrem Eigennamen benannt wird, ein Hinweis, dass sie nicht als (begehrenswertes) Mädchen wahrgenommen wird, wiewohl ihr Körper durchaus als »schön« bezeichnet wird.

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259). In letztgenanntem Roman findet sich überdies eine parallel gestaltete Textpassage, die die Umkehrung des Prinzips in Worte fasst: »Alle meisjes lopen als vrouwen« [Alle Mädchen gehen wie Frauen] (Verhelst 1996: 52). Im Unterschied zu der besonders hervorgehobenen Attraktivität der Mädchen erscheint dieses Zitat als faktische Beschreibung: Weder werden die Frauen vom Erzähler als schön bezeichnet, noch durch die auf ihr Aussehen reagierenden anderen Figuren in ihrer Attraktivität bestätigt. Von Frauen und Männern ist nur bei älteren, für die (männlichen) Erzähler jeweils sexuell meist nicht als attraktiv beschriebenen Figuren die Rede, wie etwa am Beispiel von Tongkat bei den Nonnen, den weiblichen Höflingen mit Ausnahme der geliebten Gertrud sowie bei Prometheus’ Mutter.181 Letztere beobachtet ebenfalls den (sexuellen) Erfolg androgyner Jugendlicher : »Ik heb mannen gezien die jongens kochten die nauwelijks de baard in de keel hadden. Ik heb meisjes zonder borsten gezien die zich vermomden als een vrouw. Sneller dan zij had ik door dat ze nog meer succes zouden hebben zonder hun vermomming«182 (Verhelst 1999: 164).

So wie der Anblick der weiblichen Brust an einem ansonsten schmalen, androgynen Körper in Verhelst Romanen regelmäßig den Beginn einer sexuellen Beziehung zwischen Erzähler und Mädchen markiert, wird mit der Intensivierung der sexuellen Beziehung der körperliche Unterschied zwischen den Geschlechtern wieder hervorgehoben. In Tongkat bilden sich phantasmatische Körperdopplungen aus, die sich – im Gegensatz zu den realen Figuren – aneinander annähern. Ein imaginierter zweiter Körper von Tongkat/Ulrike berührt so Prometheus, »En waar die mond was geweest, voelde Prometheus ook in zichzelf een nieuw lichaam ontstaan, warmer en mannelijker dan hij zich ooit had kunnen voorstellen«183 (Verhelst 1999: 102). Bei Tongkat/Ulrike verhält es 181 Dies, obwohl der Übergang zwischen dem Dasein als Mädchen und jenem als Frau definitorisch in der textuellen Welt ausdrücklich mit dem Einsetzen der Menstruation markiert ist (Verhelst 1999: 146 f) und es gleichzeitig eher unwahrscheinlich erscheint, dass Figuren wie Ulrike oder Gudrun nach diesem Kriterium keine Frauen sind. 182 Übers.: »Ich habe Männer gesehen, die Jungen kauften, die kaum noch Bartwuchs hatten. Ich habe Mädchen ohne Brüste gesehen, die sich als Frau verkleideten. Schneller als sie verstand ich, dass sie ohne Verkleidung mehr Erfolg hätten.« Weniger explizit auf die Körper bezogen, aber doch verwandt präsentiert sich die Beobachtung in De kleurenvanger, es gebe Prostituierte, die »kirden, bewogen hun heupen, toonden hun vuurrode tong en wreven over hun borsten. Enkele vrouwen beperkten zich tot suggestieve gebaren en het waren juist die vrouwen die het eerst een vis aan de haak sloegen« (Verhelst 1996: 20). Auch hier ist es nicht der offensiv zur Schau gestellte weibliche Körper, der Erfolg verspricht, sondern eine gewisse Zurückhaltung in der Betonung der geschlechtlichen Differenz. 183 Übers.: »Und wo dieser Mund gewesen war, fühlte Prometheus, wie auch in ihm selbst ein neuer Körper entstand, wärmer und männlicher als er es sich jemals hätte vorstellen können.«

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sich genauso: »En zij kreeg borsten waar hij [het tweede lichaam] zijn handen neerlegde«184 (Verhelst 1999: 102). Auch zwei andere Sexszenen weisen eine ähnliche Struktur auf, wenn sich auch der phantasmatische Charakter der neu entstandenen Körper zugunsten eines eher metonymischen Verständnisses des neuen Leibes verflüchtigt. »Toen knoopte ze haar kleren een voor een los. Ze was inderdaad geen jongen. Ze had tien vingers om mijn eigen lichaam en dat van haar tot leven te brengen. Twee handen om dat jongetjeslijf van mij in snippers te scheuren. Twee monden die een nieuw lichaam bliezen van roodgloeiend glas«185 (Verhelst 1999: 293 f).

Ebenso wird der Waisenjunge Peter aus Tongkat vor einer Frau in die Kunst der körperlichen Liebe eingeführt: »Haar mond en vinger knipten uit mijn kleren […] een lichaam dat ik nooit eerder had gekend […]«186 (Verhelst 1999: 66). In der körperlichen Begegnung wird also die über das ästhetische Ideal der Androgynität angedeutete geschlechtliche Indifferenz zugunsten klassischer, deutlich differenzierter Formen männlicher und weiblicher Körperlichkeit aufgegeben.

5.6.1 Androgynität und notwendiges Scheitern In einem von Verhelsts Romanen, Het spierenalfabet, ist die Androgynität erwiesenes Ziel einer bewusst eingesetzten Körperpraxis. Über die nach Kriterien klassischer Weiblichkeit attraktive und sinnliche Inez sagt die weibliche Protagonistin Lore: »Zij is een van mijn mogelijkheden. […] Ik had ook zoals haar kunnen zijn. Maar ik ben het niet«187 (Verhelst 1995: 82). Sie betont damit die Form- und Machbarkeit von Körperlichkeit. Fanatisches Sporttraining und Anorexie sollen den Körper von Lore und drei ihrer Freundinnen zur »Negation eines Frauenkörpers machen« (Verhelst 1995: 80), indem nicht nur das Fett der Muskelmasse weicht, sondern auch die Regelblutung aussetzt. Das erklärte Ziel ist kein männlich erscheinender Körper, Behaarung (auch Kopfbehaarung) oder ein übertriebener Muskeltonus stoßen auf Ablehnung, sondern ein »Antikörper« (Verhelst 1995: 81), be-leibte Indifferenz. 184 Übers.: »Und sie bekam Brüste, wo er [sein zweiter Körper] seine Hände hinlegte.« 185 Übers.: »Dann knöpfte sie ihre Kleider langsam auf. Sie war in der Tat kein Junge. Sie hatte zehn Finger, um meinen eigenen Körper und den ihren zum Leben zu erwecken. Zwei Hände, um meinen Jungenkörper in Fetzen zu reißen. Zwei Münder, die einen neuen Körper von rotglühendem Glas bliesen.« 186 Übers.: »Ihr Mund und ihre Finger schnitten aus meinen Kleidern […] einen Körper, den ich früher noch nicht gekannt hatte […].« 187 Übers.: »Sie ist eine meiner Möglichkeiten. […] Ich hätte so sein können wie sie. Aber ich bin es nicht.«

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»Het lichaam van de mannelijke bodybuilder is onnatuurlijk en daaraan ontleent het zijn schoonheid; het is een zinloze schoonheid (een pluspunt) maar het is tevens grotesk door het belachelijk kleine piemeltje dat zich tussen al die rollende spierkabels schuilhoudt. Daardoor valt de dreiging uit de constructie weg«188 (Verhelst 1995: 155).

Die Disziplinierung und Formung des Körpers geht auch mit einer geistigen Transformation einher, die die Mädchen zu Asketinnen werden lässt. »Het is mogelijk dat de geest zijn strenge wetten oplegt aan het lichaam. Het is zelfs perfect mogelijk. Ik was er het levende bewijs van. […] Door mijn ascese begon niet alleen mijn vorm (de spierenconstellatie) te veranderen, ook de inhoud (de waarheid!) werd stap voor stap in de gewenste vorm gekneed«189 (Verhelst 1995: 157).

Mehr und mehr wird ihr Körper zum Kunstwerk und auch bewusst als solcher präsentiert: »Wir glänzten wie polierte Marmorstatuen« (Verhelst 1995: 160). Die Trägerinnen des Körpers erfahren gleichzeitig aufgrund ihres Verhaltens gesellschaftliche Ächtung. Die beiden radikalsten Verfechterinnen des Antikörpers – Lore zählt nicht dazu – stellen ihre nackten, nach der eigenen Wunschvorstellung geformten Körper hängend an einem Seil über der Stadt aus, bis eine von ihnen in den Tod stürzt. Die andere Frau möchte trotzdem den Triumph ihrer Vorstellung auskosten, fühlt »Glück«, sieht in ihrem kalkweißen Kunstkörper einen »ausgestreckten Mittelfinger« für das entsetzte Publikum (Verhelst 1995: 165). Doch sie wird gerade von diesem androgyn intendierten Körper verraten: Ihre Menstruation setzt ein, das Blut tropft von dem hängenden Kunstkörper auf den Boden. Gespiegelt wird dies in der kurzen, von einer der Frauen prophetisch erwähnten Geschichte von einem Windhund-Weibchen, dessen körperliche Beschreibung in der Kombination von Athletik mit Zartheit und Zerbrechlichkeit viele Parallelen mit den vier Frauen aufweist. Die Hündin stirbt schließlich an einem Tumor in der Gebärmutter, »nooit jongen geworpen, nooit gezoogd« (Verhelst 1995: 156). Die geschlechtliche Indifferenz, der asketische Exzess führt somit in Het spierenalfabet entweder zum Tod, zur Selbstauslöschung oder scheitert am Widerstand des (menstruierenden) Körpers, der auf seltsame Weise Francette Pacteaus Losung der Unmöglichkeit der Repräsentation von Androgynität verwirklicht: »The ›body‹ as an entity, as an end in itself, cannot contain the excess of the androgynous fantasy« (Pacteau 1986: 81). 188 Übers.: »Der Körper eines männlichen Bodybuilders ist unnatürlich und daraus entlehnt er seine Schönheit; es ist eine sinnlose Schönheit (ein Pluspunkt), aber auch grotesk durch den kleinen Pimmel, der sich zwischen all den rollenden Muskelsträngen versteckt hält. Dadurch weicht die Drohung aus der Konstruktion.« 189 Übers.: »Es ist möglich, dass der Geist dem Körper seine strengen Gesetze aufzwingt. Es ist sogar perfekt möglich. Ich war der lebende Beweis. […]. Durch meine Askese begann sich nicht nur die Form (der Muskelzusammensetzung) zu verändern, auch der Inhalt (die Wahrheit!) wurde Schritt für Schritt in die gewünschte Form geknetet.«

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Dies wird auch von den Überlegungen zur Ikonographie des Heiligen Sebastian demonstriert, die Vloeibaar harnas als Leitmotiv durchziehen: Seine Androgynität speist sich aus dem Lendenschurz, der in seiner Verhüllung der entscheidenden Geschlechtsmerkmale – und nur für die Dauer der Verhüllung kann nach Pacteau die Androgynität existieren (Pacteau 1986: 78)190 – die Möglichkeit ihrer Abwesenheit andeutet (Verhelst 1993: 101). Indem seine Darstellung in diesem Moment der Unentschiedenheit verharrt, erscheint seine Oberfläche als liminaler Raum, der nicht so sehr Innen und Außen, Wahrheit verheißenden Körper und täuschende Fassade trennt, als vielmehr die Gleichzeitigkeit von Binaritäten ermöglicht: »De combinatie van ondraaglijk lijden en ondraaglijk genot. Mannelijk en vrouwelijk. Of beter gezegd geslachtloos. Negatie van de androgyn. Tegelijk geslachtloos en seksueel prikkelend. De schoonheid van zijn lichaam en de schoonheid van het vernietigen ervan. Het actieve (moed) en het passieve (sereen ontvangen van de pijlen). Het sacrale (hemelwaartse blik) en het profane (neersijpelende bloed). De glimlach van het lijden. Het horribele en het angelieke. Als slachtoffer van de pijlen patroonheilige van de boogschutters«191 (Verhelst 1993: 97).192

Ähnlich widersprüchlich mutet auch Lores mit ihrer radikalen Körperarbeit angestrebtes Lebensziel an: »Ik wil zo veel beelden dat de betekenis verdwijnt als in een centrifuge. Een tollende vuurbol die wegspattende betekenissen genereert. Mogelijkheden. Een mogelijkheidsmachine wil ik zijn«193 (Verhelst 1995: 99). 190 »The androgyne dwells in a distance. The androgynous figure has to do with seduction, that which comes before undressing, seeing and touching. It can only exist in the shadow area of the image; once unveiled, once we throw a light on it, it becomes a woman or man […]« (Pacteau 1986: 78). 191 Übers.: »Die Kombination von unerträglichem Leiden und unerträglichem Genuss. Männlich und weiblich. Oder besser: geschlechtslos. Negation des Androgynen. Zugleich geschlechtslos und sexuell erregend. Die Schönheit seines Körpers und die Schönheit von dessen Vernichtung. Das Aktive (Mut) und das Passive (das ruhige Empfangen der Pfeile). Das Sakrale (Blick himmelwärts) und das Profane (heruntertropfendes Blut). Das Lächeln des Leidens. Das Schreckliche und das Engelhafte. Als Opfer der Pfeile Schutzpatron der Bogenschützen.« 192 Es ist im Übrigen die Faszination für die Gleichzeitigkeit der Gegensätze im Allgemeinen und nicht der Geschlechter-(in)differenz im Besonderen, die dem Hl. Sebastian eine so wichtige Rolle in Vloeibaar harnas beschert, wie auch folgendes Zitat zu illustrieren vermag: »Als Sint-Sebastiaan heb ik mij een huis proberen voor te stellen; tegelijk doorboord en onkwetsbaar, aards (pijn) en hemels (extase), bloedrood en krijtwit, vastgebonden en vogelvrij, belaagd en aanbeden« (Verhelst 1993: 23). In der Figur des Hl. Sebastian kulminieren verschiedene zentrale Ideen und Ästhetiken Verhelsts, worunter die Vorstellung der geschlechtlichen Indifferenz nur ein Aspekt ist. Die grundsätzliche Präferenz für das Paradoxale (Nijs 20001: 53), aber auch etwa die Vorliebe für den verstümmelten, vernarbten Körper können hier an erster Stelle genannt werden (Van Kempen 2003: 5). 193 Übers.: »Ich möchte so viele Bilder, dass die Bedeutung verschwindet wie in einer

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Es ist jedoch die (relative) Linearität der Erzählung und Lores Status als echte Bewohnerin der textuellen Welt von Het spierenalfabet, die das verhindert. Ist die Darstellung des Hl. Sebastian als Motiv der bildenden Kunst notwendigerweise statisch und erweist sich gerade dadurch als das auslösende Moment für die Oszillation der Bedeutungen und Möglichkeiten, läuft die literarische Handlung des Romans und damit auch das Schicksal der Bewohner der textuellen Welt auf einen Höhepunkt zu, entwickelt sich graduell und gib dadurch unter Umständen auch mehr preis. Das Ziel des »Antikörpers« wird dabei als unerreichbar gestaltet. Der Roman schildert dessen Genese (die Körperpraktik) und Scheitern (Tod durch Sturz, Menstruation, mangelnde Disziplin) und lässt so keine Statik zu. Wie in den anderen Beispielen zur Androgynität im Werk Verhelsts – mit Ausnahme von De kleurenvanger – muss die antrainierte Hülle der körperlichen »Wahrheit« weichen. Im krassen Gegensatz zum notwendigen Scheitern des androgynen Körperideals und des damit verbundenen Wunsches nach Auslöschung – Lores über einen Tanz vermittelte Botschaft an den Erzähler lautet »delete« – steht die kontrollierte Selbstdestruktion des kybernetischen Menschen Ren¦. Dessen Plan der Vernichtung seiner eigenen Existenz durch die Realisierung des MaschinenMenschen geht auf, während Lores Auslöschung sich nur als diffuse Abwesenheit präsentiert: Sie ist für den Ich-Erzähler schlicht nicht mehr erreichbar,194 körperlich aber weiter existent.

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Subjekt und Objekt in Kunst, Blick und Begehren

Unter Abschnitt 5.1 wurde bereits herausgearbeitet, dass ein quantitativer Vergleich von Erzählinstanzen unter den Vorzeichen des Geschlechts zugunsten männlicher Erzähler ausgeht. Dies spiegelt sich auch in den Blickstrukturen wieder, die es im Verhelst’schen Romanwerk nachzuzeichnen gilt. Der Prometheus-Verlag, wo das Werk Verhelsts erscheint, druckte gleich auf zwei Umschlägen einen Frauenkörper ab (Het spierenalfabet und De kleurenvanger), womit dieser bereits als Objekt des Blickes des Rezipienten195 installiert wird. Schleudertrommel. Ein wirbelnder Feuerball, der wegspritzende Bedeutungen generiert. Möglichkeiten. Eine Möglichkeitsmaschine will ich sein.« 194 Hier weiche ich von Bousset ab, der das Verschwinden von Lore gerade im Zug der Erreichung ihres Ziels verstanden wissen will: »zodra een lichaam perfect wordt, verdwijnt het« (Bousset 1999: 121). Ihr Verschwinden wird aber im Text begründet, indem sie dem Prozess um ihre Geliebte beiwohnen muss, jener Frau, deren Regelblutung den Traum von einem androgynen Körper zunichtemachte. 195 Hiermit soll nicht angedeutet werden, dass die Perspektive der LeserInnen oder BetrachterInnen automatisch eine männliche ist, wie es Mulveys filmtheoretisches Konzept des male gaze vorsieht. Vielmehr gehe ich mit Tessa de Lauretis von der Möglichkeit aus,

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Generell gilt, dass über das Aussehen der weiblichen Figuren – abseits von phantastischen Körpertransformationen, die für alle Geschlechter beschrieben werden – durchgängig einige textuelle Informationen vorhanden sind, vor allem die Haarfarbe wird wiederholt thematisiert, während in Bezug auf das Aussehen der in wesentlich größerer Anzahl vorhandenen männlichen Figuren oft textuelle Leerstellen entstehen, die aufgrund mangelnder Relevanz in der Konstruktion der textuellen Welt unbesetzt bleiben.196 Besonders deutlich tritt die Asymmetrie der Blickstrukturen aber in situativen Beschreibungen hervor. In Zwerm wimmelt es aber von Wahrnehmungen männlicher Erzählinstanzen, die die weiblichen Figuren zum Objekt des Leser- und Figurenblickes machen, während vergleichbare Passagen zu männlichen Figuren fehlen. »Jane ademt diep in en uit. Haar kin lichtjes naar voren geduwd. Gesloten ogen. Bijtend op de onderlip. […] Jane wordt wakker, rekt zich uit, gaapt zo diep dat een traan aan haar wimpers hangt. Kijkt me verwonderd aan, alsof ze me voor de eerste keer ziet. […] Jane liegt in de zon. Geolied. Een spiegel in een woestijn. Jane duikt in het zwembad. Ze staat met gesloten ogen haar haren uit te wringen. Ze gaat op haar rug liggen. Het water loopt in haar navel en vormt er een plasje kwik«197 (Verhelst 2005: 533).

Der Machtaspekt solcher Beschreibungen erweist sich aus der Darstellung von Oberst Schwarzkopf, eines hochrangigen weiblichen Militärs. Ihr Auftritt wird durch die Augen einer männlichen Figur geschildert: »Hij hoort de klop op de deur, onmiddelijk gevolgd door het geluid van zware schoenen. Maar in plaats van een gemillimeterde kop […] ziet de directeur de gave huid van kolonel Schwarzkopf. De kleine, harde welving onder haar uniformjasje, de gebeeldhouwde haarwrong, de gemanicuurde vingers die hem een bevelschrift overhandigen«198 (Verhelst 2005: 218).

Das der Beschreibung zugefügte Attribut »perfekt« lässt die männliche Figur in der Rolle des Urteilenden erscheinen, noch dazu wird das Geschlecht über die weibliche Betrachter könnten in einer Figur der doppelten Identifikation sowohl Subjektals auch Objektposition nachvollziehen. 196 Das hat auch mit der häufiger von den männlichen Figuren eingenommenen Erzählerrolle zu tun. 197 Übers.: »Jane atmet tief ein und aus. Ihr Kinn leicht nach vorne geschoben. Geschlossene Augen. Beißt auf die Unterlippe. […] Jane wird wach, streckt sich, gähnt so tief, dass eine Träne an ihren Wimpern hängt. Schaut mich verwundert an, als ob sie mich zum ersten Mal sieht. […] Jane liegt in der Sonne. Eingeölt. Ein Spiegel in der Wüste. Jane taucht ins Schwimmbecken. Mit geschlossenen Augen drückt sie ihre Haare aus. Sie legt sich auf den Rücken. Das Wasser läuft in ihren Nabel und formt eine Pfütze Quecksilber.« 198 Übers.: »Er hört das Klopfen an der Tür, unmittelbar gefolgt vom Geräusch schwerer Schuhe. Aber statt eines millimeterkurz gestutzten Kopfes […] sieht der Direktor die perfekte Haut von Oberst Schwarzkopf. Die kleine, harte Wölbung unter ihrer Uniformjacke, die gemeißelte Haarlocke, die manikürten Finger, die ihm einen schriftlichen Befehl aushändigen.«

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Erwähnung der Brust betont. Noch expliziter wird es einige Seiten später, diesmal aus der Sicht der personalen Erzählinstanz: »De vrouw volgt op enkele passen. Dezelfde tred, iets gracieuzer, maar dezelfde gebalde kracht. Een gestroomlijnde mannenfantasie die ’s nachts wijdbeens boven je komt staan en… Ze heet Schwarzkopf, kolonel Schwarzkopf«199 (Verhelst 2005: 186).

Die nicht den situativen oder rollenstereotypen Erwartungen entsprechende Frau – ein »Tomboy« (Verhelst 2005: 82) – wird sexualisiert und zur Domina umgedeutet.200 Eine Analyse der Ökonomie der Blicke in Tongkat aus der GeschlechterPerspektive ist ebenfalls aufschlussreich. Im ersten Zusammentreffen zwischen Prometheus und Tongkat/Ulrike ist es Prometheus, der sie unbemerkt beobachtet: »Ze stond op een zwerfkei. Alleen. Zo gedragen mensen zich als ze zich onbespied wanen: natuurlijk, ernstig, in zichzelf verzonken, bloot. Het hoofd in de nek. Met een tong die als een mes tussen de lippen tekeerging, alsof ze die lucht wilde vermalen. […] Af en toe moest ze haar hoofd met beide handen vasthouden. Af en toe werden haar armen opgestuwd door dezelfde kracht die haar keel stuurde, en leken ze de lucht op te roeren. Zo bleek was het meisje dat haar armen en handpalmen flakkerden. In haar hals trilde een ader. Haar tenen kwamen even van de kei los. Toen hield ze op. Stond gebogen uit te hijgen. Raapte iets op wat op een gladde tak leek. Met haar linkerhand schoof ze haar hemd omhoog. Met haar rechterhand legde ze de tak op haar buik, net boven de navel. Haar kin rustte op de linkerhand en het hoofd keek toe hoe de tak over de buik begon de wrijven«201 (Verhelst 1999: 99). 199 Übers.: »Die Frau folgt mit wenigen Schritten Abstand. Derselbe Tritt, etwas graziöser, aber die gleiche geballte Kraft. Eine stromlinienförmige Männerphantasie, die nachts breitbeinig über dir steht und … Sie heißt Schwarzkopf, Oberst Schwarzkopf.« 200 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, wie das Verhältnis dieser Figur zur außertextlichen Realität gestaltet wird. Neben Oberst Schwarzkopf tragen viele andere Figuren ebenfalls Namen realer, historischer Persönlichkeiten. Im Paratext des Romans wird diese referentielle Beziehung verstärkt, indem diese Figurennamen aufgezählt werden und mit dem Zusatz versehen werden: »Zoek op het Web voor meer informatie over …«. Durchgehend handelt es sich um historische Personen, deren Geschlecht mit jenem der gleichnamigen Figur übereinstimmt. Bei Oberst Schwarzkopf ist dies, geht man von Norman Schwarzkopf als historischer Vorlage aus, nicht der Fall; ihr Name findet sich allerdings auch nicht auf der Liste, die diese referentielle Beziehung herausfordert und damit den Bruch auf der Ebene des Geschlechtes zusätzlich deutlich machen könnte. 201 Übers.: »Sie stand auf einem Findling. Allein. So verhalten sich Menschen, die sich unbeobachtet wähnen: natürlich, ernst, in sich selbst versunken, nackt. Der Kopf im Nacken. Mit einer Zunge, die wie ein Messer zwischen den Lippen entlangfuhr, als ob sie die Luft zerreiben wollte. […] Ab und zu musste sie ihren Kopf mit beiden Händen festhalten. Ab und zu wurden ihre Arme von der gleichen Kraft, die ihren Hals lenkte, vorwärtsgetrieben und schienen die Luft aufzuwirbeln. So bleich war das Mädchen, dass seine Arme und Handflächen flackerten. In ihrem Hals zuckte eine Ader. Ihre Zehen lösten sich von dem Stein. Dann hörte sie auf. Stand gebeugt und keuchte. Hob etwas auf, was ein glatter Ast zu

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In dem über Prometheus fokalisierten Abschnitt müssen die Leser dem kombinierten Blick der Figur Prometheus sowie der ihr übergeordneten Erzählinstanz folgen und Ulrike zu einem ästhetischen Objekt machen. Der hier beschriebene visuelle Eindruck bekommt überdies eine besondere Bedeutung beigemessen, weil er als »Hirngespinst« und »Traumbild« zur Obsession von Prometheus wird (Verhelst 1999 : 99, 100). In dem von Tongkat/Ulrike erzählten Kapitel wird diese Szene nicht erwähnt, weshalb selbst das Verfahren der Multiperspektivität hier keinen symmetrischen Austausch der Blicke bewirken kann. Das Interessante daran ist, dass die Blicke Ulrikes an anderen Stellen durchaus oft Erwähnung finden : Auch sie beobachtet Prometheus und begehrt ihn. Dies wird aber nur indirekt vermittelt : »De volgende dag zat ze naar hem te kjken. Toen hij wakker wird, kwam ze overeind en verborg haar verlegenheid achter haar handen. Nee, niet dichterbij komen. Nog niet. Wacht. Hij mocht naar haar kijken. Ze schudde haar haren opdat hij haar gezicht beter zou zien. En terwijl ze haar gezicht bewoog, als werd het gestreeld door een onzichtbare hand, zag Prometheus hoe daar een glimlach verscheen, en lager, in de hals, een blos die dezelfde koorts verradde die hij in zijn eigen bloed voelde bonzen«202 (Verhelst 1999: 101).

Dem Inhalt von Ulrikes Blick können die Leser an dieser Stelle nicht folgen, obwohl ihre Blickrichtung angesprochen wird. Vielmehr leitet ihr Blick ein wiederum fremddominiertes Blickregime durch den personalen Erzähler und Prometheus ein, dem sie sich nach kurzem Widerstand bereitwillig unterwirft, indem sie ihre Haare aus dem Gesicht schüttelt. Mit dieser Geste ist schließlich die Umkehrung des Blickes vollends eingeleitet, ausdrücklich müssen die Leser wieder Prometheus in der Wahrnehmung ihres Lächelns folgen. Der Objektcharakter der Frau wird zusätzlich noch unterstrichen, indem eine imaginäre Hand ihr Gesicht streichelt und sie so den von ihr selbst produzierten Bewegungen enteignet. Eine ähnliche Szene, die in anderem Kontext bereits wiedergegeben wurde, findet sich sogleich: »Zo stonden ze tegenover elkaar als twee zachte spiegels van vlees. Toen draaide ze zich om en keek hem over haar schouder aan, alsof ze over iets nadacht. Nam toen een besluit. Wendde zich naar hem toe. En dan opnieuw die blik die hem vastspijkerde, sein schien. Mit ihrer linken Hand schob sie ihr Hemd hinauf. Mit ihrer rechten Hand legte sie den Ast auf ihren Bauch, genau über dem Nabel. Ihr Kinn ruhte auf der linken Hand und der Kopf sah zu, wie der Ast über den Bauch zu reiben begann.« 202 Übers.: »Am nächsten Tag saß sie und sah ihn an. Als er erwachte, stand sie auf und verbarg ihre Verlegenheit hinter ihren Händen. Nein, nicht näherkommen. Noch nicht. Er durfte sie ansehen. Sie schüttelte ihr Haar, damit er ihr Gesicht besser sehen konnte. Und obwohl sie ihr Gesicht bewegte, als ob es von einer unsichtbaren Hand gestreichelt wurde, sah Prometheus, wie da ein Lächeln erschien und tiefer, am Hals, eine Rötung, die dasselbe Fieber verriet, das er auch in seinem eigenen Blut klopfen fühlte.«

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terwijl ze haar linkerhand op haar buik legde. Hij keek. Traag schoof de hand omhoog. Ze had een buik. Hoger nog. Ze was een meisje«203 (Verhelst 1999: 101).

Aus der Spiegelsymmetrie der Eingangsmetapher löst sich die Bewegung Ulrikes, die detailliert dargestellt wird, während Prometheus aus dem Fokus verschwindet. Dennoch ist es ihr über ihre Schulter geworfener Blick, der als eindringlich (»vastspijkeren«) beschrieben wird und ihr für einen Moment scheinbar die visuelle Kontrolle verleiht. Doch gleichzeitig mit ihrem Blick wandert Ulrikes eigene Hand über ihren Körper und wird von der Narration als einzige der Figurenbewegungen nachvollzogen, wodurch sich der weibliche Blick im Nichts verliert, während Leser und männliche Figur den weiblichen Körper einnehmen. Mögen sich die obigen Textpassagen noch aus der Erzählsituation (Fokalisation über Prometheus) ergeben, wird die gleiche Blickökonomie auch in der Ich-Erzählung von Ulrike geschildert. Sie beschreibt die Attraktivität eines männlichen Untergrundaktivisten: »Iemand van ons was daar een meester in: hij beweerde dat iedere vrouw die hem aankeek, bevangen werd door de wil hem te betalen. Hij hoefde er niets voor te doen. […] Wij, de meisjes, lachten hem uit. Maar ik wist dat hij gelijk had. Hij had inderdaad magneten in zijn lichaam. Zijn ogen. Hij kon een vrouw aankijken alsof het de eerste vrouw was die hij zag«204 (Verhelst 1999: 133).

Der weibliche Blick auf einen sich vollkommen passiv verhaltenden Mann, so wird im ersten Satz suggeriert, führt dazu, dass die Frau ihn bezahlen will. Doch es stellt sich heraus, dass es just nicht seine (passiv verstandene) Schönheit ist, die die Frauen für sich einzunehmen vermag, sondern gerade sein Blick, der den der Frau erwidert bzw. ihm sogar vorangehen muss. Wo die Frau ihren Blick hinter den Händen verbergen musste, um selbst ein »Spektakel« zu sein, erweist sich der Mann als wahrer »Träger des Blickes« (Mulvey 1975: 11). Inwieweit die weiblichen Figuren ihre eigene Existenz als Spektakel schon internalisiert haben, zeigt sich auch in Zwerm: Die eindeutig weiblich markierte Figur Pearl sieht ihren Geliebten Abel im Fernsehen, fühlt sich aber sofort von ihm wahrgenommen: 203 Übers.: »Sie standen einander gegenüber wie zwei weiche Spiegel von Fleisch. Dann drehte sie sich um und sah ihn über ihre Schulter an, als ob sie über etwas nachdachte. Fasste einen Entschluss. Wandte sich ihm zu. Dann aufs Neue der Blick, der ihn festnagelte, während sie ihre linke Hand auf ihren Bauch legte. Er schaute. Langsam wanderte die Hand hinauf. Sie hatte einen Bauch. Noch höher. Sie war ein Mädchen.« 204 Übers.: »Einer von uns war darin Meister: Er behauptete, dass jede Frau, die ihn ansah, von dem Willen übermannt würde, ihn zu bezahlen. Er brauchte dafür nichts zu tun. […] Wir, die Mädchen, lachten ihn aus. Aber ich wusste, dass er Recht hatte. Er hatte wirklich Magneten in seinem Körper. Seine Augen. Er konnte eine Frau ansehen, als ob es die erste Frau war, die er sah.«

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»Ze ziet opnieuw zijn gezicht op het televisiescherm. Zijn ogen, de tintelingen die hij daarmee veroorzaakt, alsof hij met zijn ogen alleen iets tot leven kan wekken, een bliksemdraadje dat zich een weg likt van haar mond naar haar kin. Het kuiltje in haar hals. De welving van de borst. De tepel. De andere tepel. Haar buik. Haar navel. Haar heup. Haar geslacht. Openbloeiend. Haar voetzolen op de vloer die haar bekken naar hem opduwen«205 (Verhelst 2005: 294).

Ebenso wie in dem oben zitierten Beispiel aus Tongkat ist der Eindruck, es ginge in der zitierten Passage um eine weibliche Wahrnehmung, falsch: Pearls Blick dient nur der Einleitung des phantasierten und erotisierenden männlichen Blickes, dem die Leser wiederum zu folgen gezwungen sind. Die Aktivität liegt auch hier beim Mann: Er ist es schließlich, der mit seinem Blick »zum Leben erweckt«. Auch vollkommen bloßgestellt an einen Voyeur, der sie ohne Pause per Video in allen ihren Verrichtungen beobachtet, ist Pearl bestrebt, den männlichen Blick zu befriedigen, dessen eigentliches Interesse ihr völlig bewusst ist: »Ze voelt hoe de camera ondertussen haar hals likt. Ze doet alsof ze niets merkt, dat doet ze al dagen, en dat zal ze nog enkele dagen volhouden. De lucht knettert. Het is niet zijn camera die hij op haar richt, maar zijn geslacht […]. De camera daalt haar hals af. Ze inhaleert diep. De tongpunt bereikt haar borsten. Ze houdt haar gezicht schuin, omdat ze weet dat haar profiel genadeloos is«206 (Verhelst 2005: 370).

Es macht sichtlich wenig Unterschied, ob der Blick Pearl gewünscht oder ungewünscht trifft: Zwar ist der Blick des Geliebten erregend, jener des Voyeurs nur in der Hoffnung auf Freiheit erduldet, ihre Unterwerfung an das männliche Blickregime ist aber in jedem Falle gegeben, bewusst setzt sie ihr Aussehen ein, denn – wie es an anderer Stelle heißt – »Meisjes beschikken nu eenmal over vaardigheden die een man niet bezit«207 (Verhelst 2005: 248). Selbst eine Textpassage aus Tongkat, die weitgehend auf der Symmetrie der Blicke basiert, installiert die Geschlechterdifferenz aufs Neue. Beschrieben wird eine Szene, in der Tongkat/Ulrike und Prometheus einander gegenüberstehen und den begehrenden Blick des jeweils Anderen masturbatorisch, aufgrund 205 Übers.: »Sie sieht wiederum sein Gesicht auf dem Bildschirm. Seine Augen, das angenehme Schaudern, das er damit verursacht, als ob er nur mit seinen Augen etwas zum Leben erwecken kann, ein Blitzfaden, der sich einen Weg von ihrem Mund zu ihrem Kinn leckt. Das Grübchen an ihrem Hals. Die Wölbung ihrer Brust. Die Brustwarze. Die andere Brustwarze. Ihr Bauch. Ihr Nabel. Ihre Hüfte. Ihr Geschlecht. Blühend sich öffnend. Auf dem Boden ihre Fußsohlen, die ihr Becken zu ihm aufrichten.« 206 Übers.: »Sie fühlt, wie die Kamera inzwischen ihren Hals leckt. Sie tut, als ob sie es nicht bemerkt, das tut sie schon seit Tagen, und das würde sie noch ein paar Tage aushalten. Die Luft knistert. Es ist nicht seine Kamera, die er auf sie richtet, sondern sein Geschlecht […]. Die Kamera gleitet ihren Hals hinab. Sie inhaliert tief. Die Zungenspitze erreicht ihre Brüste. Sie hält ihr Gesicht schief, weil sie weiß, dass ihr Profil unwiderstehlich ist.« 207 Übers.: »Mädchen haben Fertigkeiten, die ein Mann nicht hat.«

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ihrer Bewaffnung mit Fingermessern aber auch selbstdestruktiv verwirklichen, ohne einander zu berühren. »En terwijl ze elkaar bleven aankijken, begon zij die vlijmscherpe vingers te bewegen waar hij haar met zijn ogen streelde, terwijl ze zag hoe zij hem, door zijn hand heen, binnendrong. Dieper, roder, mannelijker dan zij ooit zelf had gekund«208 (Verhelst 1999: 109).

Dem weiblichen Blick kommt hier zwar (über die Vermittlung der Messerhände des Mannes) die Fähigkeit zur Penetration zu, dennoch ist es die Realisierung durch Prometheus selbst, die zumindest einen graduellen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Berührung erkennen lässt. Die in der Blickökonomie angelegten genderbezogenen Objekt- und Subjektrollen können auch hinsichtlich anderer Aspekte von Verhelsts Texten nachgewiesen werden. In Zwellend fruit finden sich diesbezüglich zwei weitere aufschlussreiche Textpassagen in zwei kurzen Kapiteln, die identisch aufgebaut und gar größtenteils identisch formuliert sind. Während sich der eine Abschnitt betitelt »(für den, der) das Mädchen (wählt)«, heißt der zweite in paralleler Anordnung »(für den, der) den Jungen (wählt)«. Nach den ersten sieben für beide Kapitel wortgleichen Absätzen wird jeweils die Hauptperson, das Mädchen bzw. der Junge eingeführt. Die im parallelen Textaufbau suggerierte Symmetrie der Geschlechter formt einen idealen Ausgangspunkt für die Analyse der Subjekt-Objekt-Relation. Über das Mädchen heißt es: »Overal waar ze was, kwamen de katten op haar af en streken langs haar benen. Vroeg je haar naam, dan streelde ze even een kattenrug tot de haren knetterden onder haar vingertoppen. Vrijwel elke dag kreeg ze de mooiste bloemen toegeworpen. Meestal weigerde ze die met een glimlach. Af en toe bladerde ze door de sprookjes. ’s Ochtends merkte de jongen dan dat het meisje in rook opgegaan was«209 (Verhelst 2001: 13).

Auch die Anziehungskraft des Jungen wird beschrieben: »Maar zijn vingers waren zacht als de buik van konijnenjongen en als hij zijn armen ophield, doken de vogels uit de bomen en landden op zijn schouders. Als je zijn naam vroeg, vroeg hij jou welke naam jij de mooiste vond. Terwijl je blozend en verbouwereerd naar een naam zocht, plukte hij die van jou als een bloem uit je haren, snoof 208 Übers.: »Und während sie einander ansahen, begann sie die scharfen Finger dort zu bewegen, wo er sie mit seinen Augen streichelte, während sie sah, wie sie durch seine Hand in ihn eindrang. Tiefer, röter, männlicher als sie es selbst je gekonnt hätte.« 209 Übers.: »Überall wo sie war, kamen die Katzen auf sie zu und strichen an ihren Beinen entlang. Fragtest du sie nach ihrem Namen, dann streichelte sie kurz einen Katzenrücken, bis die Haare unter ihren Fingerspitzen knisterten. Fast jeden Tag bekam sie die schönsten Blumen zugeworfen. Meistens lehnte sie diese mit einem Lächeln ab. Ab und zu blätterte sie durch die Märchen. Morgens merkte der Junge dann, dass das Mädchen sich in Rauch aufgelöst hatte.«

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genietend de geur op en vertelde je meer over jezelf dan je zelf had kunnen weten«210 (Verhelst 2001: 18).

Während aus den Zitaten deutlich wird, dass die Attraktivität des Mädchens es geradezu überkommt, wird der Junge aktiver dargestellt: Er reagiert auf die ihm zukommende Aufmerksamkeit und vermag es gar, die Verhältnisse umzukehren. Nicht er verrät seinen Namen, sondern das eingeführte »Du«, das gleichzeitig den Leser über die Suggestion der Identifikation mit dem Narratee in die Rolle des/der bewundernden Zuschauers/Zuschauerin versetzt. Die Kontrolle über die Situation ist sichtlich in den Händen des Jungen, er ist es schließlich, der dem Du mehr über sich erzählt »als es selbst je hätte wissen können.« Auch das jeweilige Ende der beiden Textpassagen ist im Hinblick auf die Zuschreibung von Aktivität und Passivität vielsagend. Das Mädchen in der Vergleichspassage verschwindet unvermittelt, zurück bleibt nur ein Junge, der ihr Verschwinden bemerkt. Subjekt- und Objektrollen können ebenfalls vor dem Hintergrund des bei Verhelst oft beschriebenen Kunstschaffens untersucht werden. In Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman beschreibt Bart Vervaeck das enge Verhältnis zwischen Sprache und Körper, das sie »metaphorisch« zusammenfallen lässt, ohne jemals eine echte Einheit zu erreichen (Vervaeck 1999: 108), wobei er mehrmals Verhelst zitiert. In dessen Werk sind Worte und Geschichten nicht dem Autor-Menschen unterworfen, der sie zu seinem Nutzen einsetzt, sondern bemächtigen sich seiner auf grotesk leibliche Art. »Verhalen die zich aan je dromen te goed zullen doen. Tot ze zich niet langer met die dromen tevredenstellen. Tot ze zich met je vlees beginnen te voeden«211 (Verhelst 1999: 251), heißt es in Tongkat, und auch in Zwellend fruit wird das Bild verwendet: »Men zei dat de sprookjes zich tegoed deden aan je bloed en je vlees. Tot er niet meer van je overbleef dan een bleke zak vol beenderen«212 (Verhelst 2001: 15). Dennoch wird auch die gegenläufige Bewegung beschrieben, in der die Worte im Dienst eines Künstler-Subjekts stehen, das damit neue Körper schafft. Dieses Subjekt ist allerdings männlich: »Misschien slagen mijn woorden er ooit

210 Übers.: »Aber seine Finger waren so weich wie der Bauch eines Kaninchenjungen und wenn er seine Arme ausstreckte, kamen die Vögel von den Bäumen und landeten auf seinen Schultern. Fragtest du ihn nach seinem Namen, fragte er, welcher Name dir am besten gefiele. Während du errötend und verdutzt nach einem Namen suchtest, pflückte er deinen wie eine Blume aus deinen Haaren, roch genießerisch daran und erzählte dir mehr über dich, als du selbst hättest wissen können.« 211 Übers.: »Geschichten, die sich an deinen Träumen gütlich tun. Bis sie sich nicht länger mit diesen Träumen zufriedengeben. Bis sie sich von Fleisch zu ernähren beginnen.« 212 Übers.: »Man sagte, dass sich die Märchen an deinem Fleisch und Blut gütlich täten. Bis nicht mehr von dir übrigbliebe außer einem bleichen Sack von Knochen.«

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in de perfecte vorm aan te nemen van een meisjeslichaam. Haar lichaam«213 (Verhelst 1996: 41), hofft der männliche Flügel-Erzähler aus De kleurenvanger. »Als inktvisvlees lag ik in haar handen en ik spuwde onophoudelijk woorden. Woorden die de smalle, wanhopige vorm aannamen van een meisjeslichaam«214 (Verhelst 1996: 223). Hier wird ein ästhetisiertes weibliches Objekt von einem männlichen Autor geschaffen. Ein solcherart beschaffener weiblicher Textkörper ist auch dem Romantitel Tongkat inhärent, der nicht zufällig ident ist mit dem Pseudonym, das sich Ulrike in ihrem erotisierten Handel mit Geschichten zugelegt hat. Der Roman erscheint als Frau, so wie Tongkat als Prostituierte selbst auch »Illusionen« verkauft, die »Mädchennamen« haben (Verhelst 1999: 184), wobei zwei semantische Ebenen changieren: Einerseits die Körperlichkeit dieser Illusionen, also die Prostituierte in der Rolle der realisierten Männerphantasie – die sich ebenfalls prostituierende Mutter von Prometheus konstatiert: »Ik veranderde in was onder hun vingers; ze kneeden me in de vorm die zij wilden«215 (Verhelst 1999: 169)216 – und andererseits die »Weiblichkeit« der erzählten und gehandelten »Geschichten«, des Textkörpers. An zahlreichen anderen Textstellen fungiert der weibliche Körper nicht als Objekt, sondern als Medium oder Unterlage für die (gewaltsame) Einschreibung der Ästhetik eines Künstler-Subjekts, etwa in De kleurenvanger : »Toen mijn jurk aan flaren hing, zette hij de mespunt op mijn witte linkerborst, net onder de tepel. Zijn naam, hij zou zijn naam in mij kerven. Ik had er alle belang bij doodstil te blijven liggen«217 (Verhelst 1996: 75).

Erkennbar ästhetische Ziele verfolgt der männliche Ich-Erzähler aus Vloeibaar harnas mit dem Bemalen des Körpers seiner Freundin als Kreuzung zwischen Sphinx und Leopard nach den Bildern von Fernand Khnopff, wofür die Identität des Objekts erst ausgelöscht werden muss: »Het penseel is een meedogenloos scalpel dat eerst de bestaande lijnen wegwerkt«218 (Verhelst 1993: 5). Sogleich 213 Übers.: »Vielleicht gelingt es meinen Worten, einmal die perfekte Form von einem Mädchenkörper anzunehmen. Ihrem Körper.« 214 Übers.: »Wie Tintenfischfleisch lag ich in ihren Händen und spuckte unaufhörlich Worte. Worte, die die schmale, verzweifelte Form eines Mädchenkörpers annahmen.« 215 Übers.: »Ich veränderte mich unter ihren Fingern; sie kneteten mich in die Form, die sie wollten.« 216 Zwar findet sich die gleiche literalisierte Metapher auch im Zusammenhang mit einem Mann, nämlich dem Kammerdiener, jedoch retrospektiv in seinem kindlichen Verhältnis zu seinem Ziehvater Juan: »Hij nam mij op zijn schoot en kneede me geduldig in een menselijke vorm« (Verhelst 1999: 268). 217 Übers.: »Als mein Kleid zerrissen war, setzte er die Messerspitze auf meiner linken Brust an, genau unter der Brustwarze. Seinen Namen, er würde seinen Namen in mich ritzen. Es war in meinem Interesse, vollkommen still liegen zu bleiben.« 218 Übers.: »Der Pinsel ist ein mitleidloses Skalpell, das erst die bestehenden Linien ver-

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intensiviert sich die gewaltsame Rhetorik: »Aan mijn vingertoppen vastgelijmd, worstelt ze zich door verschillende laagjes pijn heen; telkens knapt een vlies onder haar vel waardoor het bloed uit haar keel naar mij opspringt«219 (Verhelst 1993: 6). Die geschlechterspezifische Subjekt-Objekt-Konstellation findet sich auch in einer Binnenerzählung aus De kleurenvanger, in der sich eine Frau entkleidet, während ihr (männlicher) Partner zusieht: »Ze knikte, kruiste haar armen in een X en trok haar vliesdunne jurk in een vloeiende beweging boven haar hoofd uit. Ik verloor mijn adem en keek. In roestkleurige letters stond een gedicht op haar geschreven, beginnend onder de lijn van haar meisjesborsten en aflopend tot net boven het schaamhaar«220 (Verhelst 1996: 67).

Es kommt zu einer sexuellen Handlung, in deren Verlauf die Frau das Gedicht auch über den Erzähler »ausschmiert«, worauf er reagiert: »Mein Körper tat nichts anderes, als das Gedicht zu vollenden« (Verhelst 1996: 67). Schon am Beginn der Szene ist das Gedicht so auf den weiblichen Körper als passives Objekt eingeschrieben, während der männliche Körper imstande ist, den Text zu »vollenden« und somit in der aktiven Rolle aufzutreten. Auch im tendentiell subversiveren Text Memoires van een luipaard greift die Subjekt-Objekt-Struktur auf und inszeniert sie im Rahmen lesbischen bzw. nicht determinierten Begehrens. Das ästhetische Objekt ist dadurch zwar weiterhin eindeutig weiblich, in der Subjektrolle treten aber Verschiebungen auf, die umso deutlicher sind, als die geschlechtlich nicht eindeutig markierte autodiegetische Erzählinstanz als Refiguration von Orpheus auftritt. Das Gesicht der Geliebten ritzt sie in das Gesicht einer willkürlich gewählten Frau ein: »Het gezicht van mijn geliefde, getekend op dit gezicht. De perfectie«221 (Verhelst 2001: 99). Subvertiert die Suggestion der Weiblichkeit der Künstlerfigur hier auch die gängige Darstellung des Mannes als Künstler-Subjekt, ist die Objektrolle der Frau in Memoires eine doppelte: Nicht nur ist sie jenes Phantasma, das das Künstler-Subjekt ästhetisch realisieren möchte, sie bildet auch die Fläche, auf der dies erfolgt. Weiteren weiblichen Künstlerfiguren im Werk Verhelsts, etwa

schwinden lässt.« Man beachte im Werkvergleich das »Verschwindenlassen der Linien« im Gesicht des Königs aus Tongkat, das er sich selbst in der Doppelrolle von Subjekt und Objekt zufügt (vgl. Abschnitt 5.3.1). 219 Übers.: »Festgeklebt an meinen Fingerspitzen, quält sie sich durch verschiedene Schmerzschichten, jeweils platzt ein Gefäß unter ihrer Haut, wodurch das Blut aus ihrem Hals zu mir hochspringt.« 220 Übers.: »Sie nickte, überkreuzte ihre Armen zu einem X und zog ihr hauchdünnes Kleid in einer fließenden Bewegung über ihrem Kopf aus. Mir stockte der Atem, ich sah hin. In rostfarbenen Buchstaben stand ein Gedicht auf ihr geschrieben, beginnend unter der Linie ihrer Mädchenbrüste, auslaufend genau über ihrem Schamhaar.« 221 Das Gesicht meiner Geliebten, gezeichnet auf dieses Gesicht. Die Perfektion.«

Abschließende Bemerkungen

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Luca aus Vloeibaar harnas und Lore aus Het spierenalfabet, dient konsequenterweise jeweils ihr eigener Körper als Medium und Objekt ihrer Kunst.222 Wenn also konstatiert werden kann, dass die Subjektrolle in gewissem Umfang auch weiblichen Erzählern oder Figuren zugestanden wird, ist dennoch der weibliche Körper auf die Objektrolle festgelegt.

5.8

Abschließende Bemerkungen

Den Bewohnern der textuellen Universen von Peter Verhelst tun sich vielfältige Möglichkeiten auf, die eigenen Körper und Identitäten flexibel zu gestalten. Transformationen und Transgressionen sind an der Tagesordnung. Die von der Sekundärliteratur geweckte Erwartung, Verhelsts Romane zeigten regelmäßig Hermaphroditen und hybride Formen geschlechtlicher Identitäten, kann aber in dieser Form nicht bestätigt werden. Der Hermaphroditismus ist in den frühen Texten zwar wiederkehrendes Symbol für ein vollkommenes System, hat aber nur ideellen Charakter und spielt auf der Figurenebene mit Ausnahme des Romans De kleurenvanger, und dort ebenfalls als Abweichung von der Norm, keine Rolle. In weitaus größerem Umfang wird in allen Romanen die Androgynität des jugendlichen Körpers auch auf der Figurenebene zum ästhetischen Ideal stilisiert. Sie bleibt jedoch der Ebene der Projektion verhaftet und vermag es nicht, eine tiefer liegende Wahrheit des vergeschlechtlichten Körpers bleibend zu verdecken, womit sie eine essentialistische Semantik evoziert. Die OberflächenTiefen-Struktur des Verhältnisses von biologischem und sozialem Geschlecht, sex und gender, wird so nicht in Frage gestellt. Das solchermaßen essentialistisch verstandene Geschlecht ist es auch, das figuralen Transformationen als identitätsstiftende Konstante zugrunde liegt. Figurale Dopplungen, aber auch Grenzüberschreitungen in den animalischen oder organischen Bereich finden nur auf der stabilen Folie geschlechtlicher Identität statt. Eine Sonderrolle nimmt diesbezüglich nur der Roman De kleurenvanger ein, der das Geschlecht einer Figur als reine Projektion entlarvt und ihr hermaphroditische Züge verleiht. In Bezug auf die Heteronormativität zeigt sich Verhelsts Romanwerk subversiv, das Begehren ist allen geschlechtlichen Konstellationen eingeschrieben. Wo allerdings heterosexuelle Verhältnisse geschildert werden – und diese prägen auch bei Verhelst den Großteil der Handlungen – zeigt sich der wahrnehmende männliche Blick dominant. Die weiblichen Figuren werden erotisiert, sowie tendentiell passiv und objekthaft dargestellt. 222 In gewissem Sinne gilt dies auch für die gemischtgeschlechtliche, transgressive Schausteller-Gruppe aus De kleurenvanger.

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans1

Als bekannter Essayist setzt sich der Flame Stefan Hertmans regelmäßig mit verschiedensten Denkansätzen aus Philosophie und ästhetischer Theorie auseinander, eine Affinität zu poststrukturalistischem Gedankengut ist dabei nicht zu übersehen. Neben Theodor W. Adorno und Ludwig Wittgenstein sowie etlichen Schriftstellern vornehmlich der moderneren Literaturgeschichte sind es vor allem Michel Foucault, Roland Barthes, Gilles Deleuze, Jean-Francois Lyotard, Paul de Man und Jacques Derrida, die Hertmans beschäftigen. Engagiert verteidigt Hertmans in Fuga’s en pimpelmezen (1995) etwa das Projekt der Dekonstruktion von Derrida, de Man und Barthes gegen die George Steiners Kritik. Mit Barthes versteht Hertmans in Het putje van Milete (2002) den Text als Körper, auf dessen Oberfläche die Leser Schrammen anbrächten (Hertmans 2002: 388ff) und offenbart ein ebenfalls dem Poststrukturalismus entsprungenes Verständnis von Intertextualität als Grundbedingung von Sprache (Hertmans 1995: 48 f). Er hebt die Rolle der Dekonstruktivisten bei der Entlarvung der Idee der Autorität als Spiegelung hervor (Hertmans 1995: 48 f) und will mit Derrida die Dekonstruktion als historische Bewegung auffassen, die mit Moderne und Aufklärung in die Wege geleitet wurde und zwingend ist: »Dergelijke fundamentele bewegingen kunnen we niet sturen of afwijzen, ze nemen ons 1 Einige in diesem Abschnitt präsentierte Gedanken basieren auf meiner unveröffentlichten Diplomarbeit (2005) an der Universität Wien mit dem Titel Klingende Körper : der Körper in der Prosa von Stefan Hertmans. Diese Arbeit hat einen anderen thematischen Ansatz – im Vordergrund standen allgemeine Körperkonzeptionen und Phänomene wie Schmerz, Obszönität und Transgressionen zwischen Tier und Mensch – lieferte aber auch erste Hinweise auf eine dichotomische Geschlechterkonzeption, an die hier angeknüpft wurde. Konkret können folgende Abschnitte als Anschluss an die früheren Beobachtungen betrachtet werden: Die Beobachtungen zu referentiellen Verwirrung um Alois Schickelgruber und das GiottoFresko (215 f, vgl. Bundschuh 2005: 74 f), der Übergang von weiblichen Eigen- in Gattungsnamen (216 f, vgl. Bundschuh 2005: 38ff), die Verknüpfung der grotesken Körperkonzeption mit Johns krankem Körper (220, vgl. Bundschuh 2005: 85), die Beispiele zur Weiblichkeit als Anderem der Männlichkeit aus den Romanen Naar Merelbeke und Als op de eerste dag (231, vgl. Bundschuh 42 f) und einige Beispiele zur Illustration der Verknüpfung von Sexualität und Gewalt (234 f, vgl. Bundschuh 58ff).

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integendeel op in de beweging van de geschiedenis«2 (Hertmans 1995: 50). Postmodernes Denken sei überdies so neu nicht, postuliert Hertmans: Es handle sich um eine Form assimilierten Avantgarde-Denkens: »Want depersonalisatie, deconstructie, displacement, fragmentering, hermetisme, lichamelijkheid, ironie en verstedelijking van de metaforiek – dat is allemaal al gegeven vanaf het begin van deze [de twintigste] eeuw. Als er al iets ›post‹ is aan het hedendaagse kunstdenken, dan is het slechts dit ondergronds gaan – en vandaar bijna volkomen geassimileerd worden – van de tendensen van de avantgarde. De begrippen die daar en toen zijn gesmeed, hebben we volkomen in ons opgenomen, maar we zijn niet meer zo gek er weer een apostolaat van te maken«3 (Hertmans 1995: 31).

Angesichts einer solchen – wenn auch als historisch unausweichlich begriffenen – Selbstpositionierung überrascht es kaum, dass Hertmans als Exponent postmoderner Literatur wahrgenommen wird (Vervaeck 1999: 12, Brems 2006: 520, Grüttemeier/Leuker 2006: 308)4. Als Lyriker und Essayist hat Hertmans ein umfangreiches Œuvre geschaffen, dazu kommt u. a. eine von ihm als Trilogie bezeichnete Folge von Romanen, nämlich das vielbeachtete Naar Merelbeke (1994), den preisgekrönten sogenannten Roman-in-Erzählungen Als op de eerste dag (2001) sowie den vornehmlich als (Reli-)Thriller-Pastiche rezipierten Text Harder dan sneeuw (2004), Romane, deren übergeordnetes Thema Hertmans in einem Interview als die »sakralen Überbleibsel im Verhalten von Menschen, die sich von der Kirche entfernt haben« bezeichnet (Bultinck 2004: 629). Mit diesen Romanen erschloss sich der aufgrund seines davor erschienenen Prosawerks – des Debütromans 2 Übers.: »Solcherlei fundamentale Bewegungen können wir nicht steuern oder ablehnen, sie lassen uns ganz im Gegenteil an der Bewegung der Geschichte teilnehmen.« 3 Übers.: »Denn Depersonalisation, Dekonstruktion, Displacement, Fragmentierung, Hermetik, Körperlichkeit, Ironie und Urbanisierung der Metaphorik – das ist alles schon seit dem Beginn dieses [des zwanzigsten] Jahrhunderts gegeben. Wenn schon etwas ›post‹ ist an dem heutigen Kunstdenken, dann ist es nur diese Bewegung in den Untergrund – und von dort die fast vollkommene Assimilation – der avantgardistischen Tendenzen. Die Begriffe, die dort und damals geprägt wurden, haben wir vollkommen in uns aufgenommen, aber wir sind nicht mehr so verrückt, daraus wieder ein Apostolat zu machen.« 4 Eine Gegenstimme erhebt Bultinck, der die Lesbarkeit und relative Kohärenz der Texte Hertmans’ zum Anlass nimmt, dem Werk postmoderne Züge abzusprechen. »Dat Hertmans een postmoderne auteur zou zijn is een van de grootste misverstanden in de recente Vlaamse literatuurgeschiedenis«, postuliert er (Bultinck 2004: 627). Wiewohl Hertmans’ zwischen 1994 und 2004 entstandene Romane sicherlich nicht in jeder Hinsicht als postmodern zu bezeichnen sind, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Bultinck sein Urteil auf eine auffallend negative Auffassung des Postmodernismus gründet, die mit den von Vervaeck oder auch Brems vertretenen Darstellungen wenig gemein hat. Der Postmodernismus nimmt für Bultinck nur die Erscheinungsform eines willkürlichen anything goes oder auch eines akademisch-technischen Schreibens an, Hertmans’ Romane jedoch seien »nicht akademisch« und selbst »nicht schwierig«, weshalb Bultinck ihnen den postmodernen Charakter abspricht (Bultinck 2004: 627).

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Ruimte (1981) sowie der Erzählbände Gestolde wolken (1987) und De grenzen van woestijnen (1989) – als hermetisch geltende Autor ein deutlich größeres Publikum. Die starke Anlehnung an Gattungskonventionen insbesondere mit Naar Merelbeke und Harder dan sneeuw führte überdies zu Uneinigkeit um die Stoßrichtung der Texte. So kündigt der Klappentext des Verlages die in Naar Merelbeke skizzierte Geschichte einer Kindheit und Jugend in Flandern als Parodie auf den Erinnerungsroman an, während die literaturwissenschaftliche Rezeption den parodistischen Gehalt nicht in den Vordergrund stellte: Hugo Brems etwa subsumiert Hertmans’ Roman gar unter dem Kapitel »Flandern findet sich selbst«. Umgekehrt wurde das als Thriller vermarktete5 Harder dan sneeuw weithin als zumindest intendierte, wenn auch nicht gelungene Parodie bzw. Pastiche aufgefasst (Steinz 2004, Offermans 2004, van Deel 2004, Hoogervorst 2004).6 Für die vorliegende Untersuchung soll der Fokus auf Harder dan sneeuw gelegt werden, weil es in seiner Verflechtung der Identitätsproblematik und der Betonung der Körperlichkeit die meisten Ansatzpunkte für eine feministische Lektüre bietet, wobei stellenweise auch Naar Merelbeke und das den Nexus von Sexualität und Gewalt thematisierende Als op de eerste dag herangezogen werden.7 Harder dan sneeuw hat bis dato eine nur sehr beschränkte Rezeption in Literaturwissenschaft und Kritik erfahren. Die Zeitungsrezensionen zeichnen in Bezug auf eine Typologisierung des Romans ein gespaltenes Bild: Während einige Rezensenten sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass der Roman mit der »dekonstruktiven Vergangenheit« des literarischen Schaffens von Stefan Hertmans breche, sieht Bultinck eine größere Kontinuität (Bultinck 2004: 630). Pieter Steinz hingegen nennt Harder dan sneeuw ein »postmodernes Spiel mit dem Kriminalroman«, das den ebenso postmodernen Identitätsverlust thematisiere. Der Roman entfaltet seine Geschichte anhand terroristischer Anschläge ungeklärten Hintergrunds, die in die in jeder Hinsicht zugängliche textuelle Welt des Protagonisten John de Vuyst einbrechen. Die globalen terroristischen Ereignisse finden ihren Niederschlag auch auf der Ebene des Individuums, indem 5 Dies erfolgte weitgehend gegen den Willen des Autors, wie Bultinck darlegt (Bultinck 2004: 629). 6 Die Möglichkeit einer Pastiche präsentiert sich bei vielen Rezensenten auch als (Teil-)Erklärung für das nach allgemeiner Erklärung nicht gelungene, weil gegenüber früheren Werken qualitativ abfallende Buch. 7 Neben dem inhaltlichen Schwerpunkt waren für diese Entscheidung auch gattungsspezifische und typologische Kriterien ausschlaggebend. Als op de eerste dag besteht auch einzelnen Erzählungen, die zusammen keine Romanhandlung im eigentlichen Sinne ausmachen, während die absurden Ereignisse in Naar Merelbeke entgegen den als typisch postmodern aufgefassten Verfahren am Ende des Romans als erzählerische Unzuverlässigkeit eines phantasievollen Jungens aufgelöst werden.

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der Verlagslektor John ohne erkennbare Motive in eine Verschwörung verwickelt wird, die den Anschlägen zugrunde liegen könnte. Gestalkt von einem großen, rothaarigen Mann namens Hans Mattfersen, der noch dazu über einen nicht minder unheimlichen Doppelgänger verfügt, entspinnen sich diverse Intrigen. Unter anderem entwickeln sich John und Mattfersen zu Rivalen um verschiedene Frauen aus Johns Umfeld. Die von Arthur Koestler literarisch aufbereitete Geschichte des Khasarenvolkes, das, ohne semitischen Ursprungs zu sein, zum Judentum übergetreten war, fungiert als Folie für die Entstehung des ethnischreligiösen Terrorismus. Der vermutete khasarische Ursprung scheint auch die rothaarigen Doppelgänger in ihrem Tun anzutreiben. Wiewohl stets mehr Zusammenhänge entstehen, wird keine dieser Verbindungen aufgelöst, wie es das Thriller-Skript vorschriebe. Vielmehr wechseln Realitäts-, Traum- und Wahnsequenzen einander in unentscheidbarer Folge ab, was einem zunehmenden Kontrollverlust des homodiegetischen Erzählers über den eigenen Körper geschuldet ist. Zwar formen der Terror sowie die Spekulationen um die Khasaren den Rahmen der Handlung, der Fokus der Darstellung liegt auf dem versehrten, vergänglichen, schmerzenden Körper. Johns Niereninsuffizienz, seine sterbende Mutter und die Gewalt, die Mattfersen bzw. dessen Doppelgänger auf John und seine Exfrau Marga ausübt, werden Seite für Seite thematisiert. Die immer wieder herbeizitierte Bedeutungs- und Sinnlosigkeit allen Geschehens kulminiert in einer unbekannten Zielen dienenden Entführung Johns und Margas in ein nicht eindeutig zu benennendes Land in der Kaukasus-Region; ein Unternehmen, das im Tod aller Protagonisten endet. Die Identitäts- und Herkunftsthematik steht in Harder dan sneeuw zentral, wobei der Volkskörper der Khasaren, aber auch die individuellen Körper der Protagonisten zum Austragungsort einer Natur/Kultur-Debatte werden. Inwieweit die textuellen Verfahren, die die naturale Substantialität von Ethnien in Frage stellen und die Grenzen des individuellen Körpers antasten, auch Auswirkungen auf die Geschlechterkonzeption haben, soll im Folgenden untersucht werden. Erster Ansatzpunkt einer geschlechterkritischen Lektüre von Harder dan sneeuw ist die Analyse der Etablierung erzähltechnischer Hierarchien, die zu einer narrativen männlichen Dominanz führen. In einem zweiten Zugang wird die referentielle Praxis der Erzählinstanz sowie der Figuren auf Aufweichungen gängiger Identitätskonzeptionen sowie auf geschlechterbezogene Asymmetrien untersucht. Der dritte Ansatz bezieht sich auf die Integrität körperlicher Grenzen und die Doppelgängermotivik, wobei die physischen Verschmelzungen von Figuren thematisiert werden sollen. Als vierten Punkt wird die virile Selbstinszenierung des Ich-Erzählers mithilfe des Konzepts der männlichen Maskerade dargestellt. Schließlich wird der Nexus Sexualität und Gewalt thematisiert, der Harder dan sneeuw prägt.

Narrative männliche Dominanz

6.1

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Narrative männliche Dominanz

Die Ich-Erzähler in Hertmans Romanen sind durchgehend männlich8 und wie alle anderen auftretenden Figuren eindeutig geschlechtlich markiert, was die vielfältigen Darstellungen des begehrten weiblichen Objekts als phantasmatisches Anderes zu erklären vermag (vgl. Abschnitt 6.6). Dennoch wird in Harder dan sneeuw auch die weibliche Perspektive berücksichtigt: Es finden sich ganze Kapitel, die, personal erzählt, Marga seitenlang als Fokalisator einsetzen. Insbesondere in den so gestalteten jeweiligen Eingangssequenzen der Kapitel entsteht der Eindruck von verhüllten Ich-Erzählungen, in denen Marga auch ihre Sicht auf John schildern kann: »Een drama queen, die John, altijd geweest […] Wat een walging dat in haar naar boven bracht wanneer ze eraan terugdacht«9 (Hertmans 2004: 58, Hervorh. im Original). Doch der Schein trügt: Im Gegensatz zur Ich-Perspektive John de Vuysts, die in den einzelnen (und zahlenmäßig überlegenen) Kapiteln konsequent von Anfang bis Ende eingehalten wird, entwickelt die personale Erzählinstanz in den übrigen Abschnitten zunehmend eine eigene Präsenz, die die fokalisierten Passagen durchbricht. Das geschieht teils über nicht dem Fokalisator zuordenbare Urteile wie die Beschreibung der kranken und geschwächten Marga – »›Nee‹, sagt Marga, ›nee,‹, aber es klingt wie nie, nie‹« (Hertmans 2004: 176) und zahlreiche Handlungsbeschreibungen – nimmt aber eine drastische Wendung, wenn die Fokalisation unvermutet wechselt: »Marga ging naast hem zitten en nam de slappe, koude hand die op het dekbed naast haar heup lag. John reageerde niet. Ze hoorde opnieuw de regen tegen het grote raam in de woonkamer slaan. Het strijkkwartet van Debussy. Marga die een douche neemt. De honingkleur van haar schaamhaar. De smaak van croissants. De smaak van haar lipstick. […] De geur van gras in de nacht, opgewarmd door haar lichaam, zijn hand onder haar rug«10 (Hertmans 2004: 213).

Die Perspektive Margas ist damit nicht gesichert oder konstant, sondern kann jederzeit durch die Erzählinstanz objektiviert oder von Johns Stimme oder (fokalisiertem) Blick unterbrochen werden. Das so gestaltete Changieren der 8 Der 2008 erschienene Roman Het verborgen weefsel bricht erstmals aus dieser Struktur aus. 9 Übers.: »Eine drama queen, dieser John, immer schon gewesen […]. Was für einen Ekel es in ihr hervorrief, wenn sie daran zurückdachte.« 10 Übers.: »Marga setzte sich neben ihn und nahm die schlaffe, kalte Hand, die auf der Decke neben ihrer Hüfte lag. John reagierte nicht. Sie hörte wieder den Regen gegen das große Wohnzimmerfenster aufschlagen. Das Streichquartett von Debussy. Marga, die duscht. Die Honigfarbe ihres Schamhaares. Der Geschmack von Croissants. Der Geschmack ihres Lippenstifts. […] Der Geruch des Grases in der Nacht, gewärmt von ihrem Körper, seine Hand unter ihrem Rücken.«

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Perspektiven, das Margas Fokalisation einen untergeordneten Charakter verleiht, kulminiert in einem gesonderten Abschnitt am Ende des zweiten Kapitels. Dieser setzt wiederum mit Marga als Fokalisator ein, geht aber dann in der Schilderung eines Zusammentreffens mit John in dessen Ich-Erzählung über, an deren Ende, das gleichzeitig das Kapitelende markiert, John konkludiert: »Ich muss das alles geträumt haben. Nichts davon stimmt« (Hertmans 2004: 63). Da trotz des Perspektivenwechsels in erkennbarer Kontinuität ein einziger Vorfall innerhalb der textuellen Welt geschildert wird, muss hier mit der Infragestellung von Johns in Ich-Form erstattetem Bericht retrospektiv auch die personal, durch die Augen von Marga vermittelte Erzählung in Zweifel gezogen werden. Damit wird zusätzlich zu dem Wechsel zwischen Ich-Form und personaler Erzählinstanz eine Hierarchie etabliert, die Margas Perspektive unter jener von John situiert: Marga kann auf diese Weise selbst als Johns Geschöpf begriffen werden. Die retrospektiv veränderte Wahrnehmung der Erzählhaltung betrifft auch eine Textpassage, in der fokalisiert über Marga Informationen über ihre Unterwäsche preisgegeben werden, eine Darstellung, die in diesem Licht auch als Phantasma gelesen werden kann: »Het deed haar denken aan haar kinderjaren, toen ze van school naar huis liep […]. Een klein meisje dat haar best deed om niemand te ontgoochelen. Nu ging het voorzichtig over kleine plassen wippen gepaard met een vreemd genot: de string die ze aan haar onlangs gekochte jarretels had vastgemaakt trok een beetje, zodat haar bilnaad werd gekieteld telkens wanneer ze zich wou haasten. Een stille sensatie die zich moeiteloos vermengde met haar jeugdherinnering aan het rennende, zwetende meisje dat voor iedereen goed wou doen. Het was voor het eerst dat ze zich had opgetut met dit soort intieme frivoliteiten; wat was het met haar, dat ze zichzelf tegenwoordig verloor in een glossy versie van zichzelf ?«11 (Hertmans 2004: 55).

Dass Marga sich nur auf einem untergeordneten diegetischen Niveau bewegt, wird auch in einer anderen, metafiktional oder auch metaphysisch-religiös zu verstehenden Textpassage verdeutlicht, in der Marga eine bedrohliche Information über ihren Freund Hans Mattfersen zu verarbeitet versucht: »Het duizelde Marga even. Marga voelde hoe haar hart in haar keel klopte. 11 Übers.: »Es erinnerte sie an ihre Kinderjahre, als sie von der Schule nach Hause lief […]. Ein kleines Mädchen, das sein Bestes tat, um niemanden zu verärgern. Nun ging das vorsichtige Hüpfen über die Regenpfützen mit einem seltsamen Genuss gepaart: Der String, den sie an ihren vor kurzem gekauften Strapsen befestigt hatte, zwickte ein bisschen, sodass es an ihrer Poritze immer kitzelte, wenn sie sich beeilen wollte. Ein leises Gefühl, das sich mühelos mit ihrer Jugenderinnerung an das rennende, schwitzende Mädchen vermischte, das es jedem recht machen wollte. Zum ersten Mal hatte sie sich mit dieser Art intimer Frivolitäten hergerichtet; was war da mit ihr los, dass sie sich gerade in einer Hochglanz-Version ihrer selbst verlor?«

Narrative männliche Dominanz

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Marga kreeg overal jeuk. Marga vroeg of het nu eindelijk genoeg was. Marga probeerde gewoon te ademen. Marga probeerde een korstje uit haar linkerneusgat te pulken. Marga vroeg aan de bedenker van dit alles wat ze nu moest doen. Hij zei dat hij het niet wist«12 (Hertmans 1994: 213, Hervorh. d. Verf.).

Die Instanz »die all dies bedacht hat« und die dialogisch angesprochen wird, kann zwar nicht eindeutig als Gott, Autor oder Erzähler benannt werden, ihr Geschlecht ist allerdings eindeutig männlich, was dem hierarchischen Verhältnis auch eine Geschlechter-Komponente einschreibt. Margas wenig später darauf folgende Aussage: »Ich existiere nicht« ist Ausdruck ihrer Verzweiflung, bezeichnet aber auch ihren Kontrollverlust über die Handlungen und Aussagen der Figur, die sie darstellt, wie auch der weitere Verlauf der Textpassage sichtbar macht. »Marga pulkte aan haar lippen. Marga’s mooie vingers beefden. Marga hoorde iets, maar ze wist niet wat. Marga liet de krant liggen, stond op, wankelde even. ›Ja,‹ zei Marga, ›ja.‹ Ze wist niet waarom«13 (Hertmans 1994: 213, Hervorh. d. Verf.).

Hier wird Marga die Kontrolle über ihre eigenen Aussagen abgesprochen: das »Ja« ist kein intentionaler Akt, sondern auf und über die Figur stattfindende Sprache. In der Beschreibung ihrer »schönen« zitternden Finger nimmt die Erzählinstanz überdies wieder für einen kurzen Moment eine Beobachterposition ein und verlässt den konkreten Ausgangspunkt der figuralen Perspektive. Der direkte Vergleich zeigt, dass ähnliche diegetische Verwirrungen bei dem IchErzähler John nicht auftreten. Wenn letzterer Sinn- und Bedeutungslosigkeit oder Kontrollverlust thematisiert, geschieht dies ohne Berufung auf übergeordnete Instanzen oder durch eine metafiktional zu verstehende Problematisierung der eigenen Existenz. Obwohl die Leser also Einblicke in Margas Innenleben erhalten, im Unterschied zu allen sonstigen in Harder dan sneeuw handelnden Figuren,14 stellt sich ihre Perspektive als abhängige heraus in einem 12 Übers.: »Es schwindelte Marga. Marga fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Marga bekam überall Juckreiz. Marga fragte, ob es nicht endlich genug war. Marga versuchte, normal zu atmen. Marga versuchte eine Kruste aus ihrem linken Nasenloch abzukratzen, Marga fragte den, der all dies bedacht hatte, was sie nun tun sollte. Er sagte, dass er es nicht wüsste.« 13 Übers.: »Marga zupfte an ihren Lippen herum. Margas schöne Finger bebten. Marga hörte etwas, aber wusste nicht, was. Marga ließ die Zeitung liegen, stand auf, wankte. ›Ja‹, sagte Marga, ›ja.‹ Sie wusste nicht, warum.« 14 Im vierten Kapitel wird zwar das gleiche Verfahren – personale Erzählinstanz, Fokalisierung exklusiv über die Figur Mattfersen – angewandt, es handelt sich explizit aber um eine Zusammenfassung einer Selbstdarstellung der Figur im Rahmen eines (amtlichen?) Ge-

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

Maß, das über die gängige Subordination einer Fokalisierung unter der sie formal präsentierende Erzählinstanz deutlich hinausgeht.

6.2

Appellation und Individualität

Ein vom konventionellen Gebrauch abweichender Umgang mit Eigennamen ist eines der prominentesten Verfahren, das Hertmans in Harder dan sneeuw einsetzt, um das Konzept der Identität und der Referentialität anzutasten. Er kombiniert dabei unterschiedliche Techniken; zuallererst solche, die die Aufmerksamkeit auf die Namensgebung lenken. Hier ist erstens jene noch vergleichbar gebräuchliche, hauptsächlich über die Namen vermittelte intertextuelle Folie zu nennen, nach der sich John de Vuyst und Marga van Riet als faustische Figuren lesen,15 aber zweitens auch jene semantische Überfrachtung bekannter Begriffe, die überall (paranoide) Zusammenhänge benennt: »U begrijpt toch dat de naam Caesar, en vandaar alle afleidingen van Keizer, eigenlijk Khazaar betekenen?«16 (Hertmans 2004: 125). Drittens wird die (bewusst) fälschliche Namensnennung als Ausdruck eines Machtkampfes eingesetzt, wie ein langer Dialog der Rivalen John de Vuyst und Hans Mattfersen über die Implikationen der Khasaren-Theorie zeigt: Mattfersen nennt John De Veest, Dfuyst, De Puyst, De Veust und De Vurst (Hertmans 2004: 112 – 128), während John die Varianten Maffetterrzen und Pattfersen verwendet (Hertmans 2004: 119 – 131). Vor dem Hintergrund der zahlreichen Überlegungen zur genetischen Differenz verschiedener Völker, angeregt durch das Postulat des nicht-semitischen jüdischen Volkes der Khasaren, wird die Verwendung des Eigennamens schließlich funktionalisiert, wie eine Textpassage gleich zu Anfang des Romans verdeutlicht: Johns (jüdischer) Großvater, so die Familienlegende, hätte in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges einen österreichischen Landschaftsmaler mit Schnauzbart getroffen, der den Namen Alois Schicklgruber trug. »Jawohl, sagte mein Großvater dann, Hitler himself« (Hertmans 2004: 38). Diese Anekdote wird zu einem späteren Zeitpunkt innerhalb der textuellen Welt aksprächsprotokolles, die erzählerisch aufgegriffen wird: »Folgen wir seiner Geschichte, wie sie in Akte 046.HM/JDV.03 beschrieben wird« (Hertmans 2004: 85). 15 Auch explizit wird der Prätext ausgewiesen: Ein Manuskript Hans Mattfersens enthält die These, der mittelalterliche Alchimist Johann Faust, der hier ausdrücklich auf Goethes Tragödie bezogen wird, sei von khasarischer Abstammung (Hertmans 2004: 104). Eine gewisse Distanzierung von Goethe ist dabei festzustellen, ist Johns Name doch an jene Figur des Johann Faustus angelehnt, die als Grundlage vieler Faust-Texte fungiert, während Goethes Hauptfigur den Vornamen Heinrich trägt. 16 Übers.: »Sie verstehen doch, dass der Name Caesar und davon alle Ableitungen von Kaiser, eigentlich Khasare bedeuten?«

Appellation und Individualität

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tualisiert, indem John im Nachlass seines Großvaters tatsächlich eine Papiernotiz findet: »waarop het adres van ene Schicklgruber, zoals je weet de echte naam van Hitler«17 (Hertmans 2004: 235). Tatsächlich trug Hitlers Vater Alois Hitler als uneheliches Kind bis ins Erwachsenenleben, aber wohlweislich nur bis zu einem Zeitpunkt klar vor Adolf Hitlers Geburt, den mütterlichen Namen Schicklgruber. Dieses biographische Faktum wird hier transformiert in eine aus der Perspektive der realen Welt inkorrekte, aber deutliche (Landschaftsmaler, Schnauzbart, Nationalität) Referenz an den Sohn, die innerhalb der textuell aktualen Welt als wahr präsentiert wird (»wie du weißt«). Die Grenze zwischen den Generationen scheint damit aufgehoben, gleichzeitig rückt die unsichere Vaterschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wie übrigens auch in einer späteren Betrachtung Johns: »Ik star naar een beeld van de Heilige Jozef, die zich over een kribbe buigt en kijkt naar het kind van zijn vrouw en een Ander«18 (Hertmans 2004: 280). Die Verwechslung entscheidender Abstammungslinien und -ebenen nach dem Vorbild Alois/Adolf Hitler ist nicht auf die Figur John de Vuysts beschränkt. Auch Marga unterliegt ihr in einer ekphrastischen Darstellung: »Ze dacht terug aan de nachten dat John niet in staat was met haar te vrijen; aan de ontbrekende gemeenschap. Een beschermende sfeer – die van hen had nooit iets gehad van de aureolen die de auteur in het boek beschreef; die van de ouders van de Heilige Jozef, die elkaar terugzien. De desbetreffende vrouw, toekomstige moeder van Jozef, ist zwanger. De vader van Jozef ziet haar echter terug na een lange afwezigheid, het kind is dus niet van hem. […] De omhelzing is te zien op een van de fresco’s van Giotto in de Scrovegni-kapel. De twee echtlieden houden de hoofden dicht bij elkaar. Er ontstaat vremd genoeg een derde gezicht door de manier waarop de neus van de man en een van hun beider ogen samenkomen; een derde gezicht lijkt je op die manier aan te kijken, een prefiguratie van iets dat volkomen anders en nog ondenkbaar is, iemand die hen scheidt en bindt en die ze zelf niet kunnen zien«19 (Hertmans 2004: 160).

17 Übers.: »[…] darauf die Adresse eines Schicklgruber, wie du weißt Hitlers echter Name.« 18 Übers.: »Ich starre auf ein Bild des Hl. Josef, der sich über eine Krippe beugt, in der das Kind seiner Frau und eines Anderen liegt.« 19 Übers.: »Sie dachte an die Nächte, in denen John nicht imstande gewesen war, mit ihr zu schlafen; an die fehlende Gemeinschaft. Eine geschützte Atmosphäre – die ihre hatte nie etwas von dem Glorienschein gehabt, den der Autor in dem Buch beschrieb – die von den Eltern des heiligen Josef ausging, die einander wiedersehen. Die betreffende Frau, die zukünftige Mutter von Josef, ist schwanger. Der Vater von Josef sieht sie zum ersten Mal seit langer Abwesenheit wieder, das Kind ist also nicht von ihm. […] Ihre Umarmung ist auf einem der Fresken von Giotto in der Scrovegni-Kapelle zu sehen. Die zwei Eheleute halten die Köpfe eng zusammen. Es entsteht, seltsam ist das, ein drittes Gesicht durch die Art, in der die Nase des Mannes und eines ihrer beiden Augen sich verbinden; ein drittes Gesicht scheint einen auf diese Art anzusehen, eine Prefiguration von etwas, das vollkommen anders und doch noch undenkbar ist, jemand der sie trennt und bindet und den sie selbst nicht sehen können.«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

Das einzige Fresko der Scrovegni-Kapelle, auf das diese Beschreibung zutrifft, ist Anna e Gioacchino alla Porta Aurea, das allerdings das Zusammentreffen der Eltern der Gottesmutter Maria abbildet, Joachim und Anna. Die durch die genaue Beschreibung hypostasierte Diskrepanz zwischen kunstgeschichtlicher Gewissheit in der Referenzwelt der Leser und (unwidersprochener) Wahrheit in der textuell aktualen Welt lässt die mögliche Welt von Harder dan sneeuw wesentlich von der realen abweichen. Die vermeintliche Sicherheit der genetischen Herkunft wird so zweifach problematisiert: erstens im relativ konventionellen Zugang der unsicheren Vaterschaft (Alois, Josef, Joachim), zweitens in der Austauschbarkeit einzelner Aspekte des Stammbaums, etwa von Generationen (Vater als Sohn), oder auch mütterlicher und väterlicher Familienlinien (Maria und Josef), sichtbar jeweils nur in der Interferenz der Welten seitens der Leser. Am Beispiel der Giotto-Darstellung zeigt sich überdies, dass im Zuge der Problematisierung der biologischen Herleitung des Individuums auch Geschlechtergrenzen durchlässig sind: Josef rückt an die Stelle Marias, an deren Abstammung aus einer ebenfalls in unbefleckter Empfängnis schwangeren Mutter mit dem Fresko erinnert werden sollte.

6.2.1 Referentielle Praxis und die universale Frau Werden die Sicherheiten der biologisch-genetischen Abstammung durch die abweichende referentielle Praxis in Harder dan sneeuw in ihren Grundfesten angegriffen, ist es gerade der Familienstammbaum, der als Legitimation für eine Sippenhaft-Argumentation herangezogen wird. John, der ein Verhältnis mit der Tochter eines notorischen Rechtsradikalen hat, behauptet lange Zeit, ihren Vornamen nicht zu kennen. Über ein Gespräch mit ihr berichtet er : »Ik vertik het naar haar voornaam te vragen. Eender wat die is. Met Klossen als achternaam wordt het niets«20 (Hertmans 2004: 76). Vor dem Hintergrund der Abstammung, des väterlichen Namens zählt das Individuum nicht. Es wäre jedoch vorschnell, das oben genannte Zitat nur im Kontext der Abstammungsthematik zu lesen. Vielmehr funktioniert die Textpassage als Exemplum einer referentiellen Praxis, die die männlichen Figuren in Harder dan sneeuw die individuellen Frauen auf die Kategorie ihres Geschlechts reduzieren lässt. Dies äußert sich sowohl in jener Verweisgspraxis, die jede beliebige Frau als »das Mädchen« bezeichnet, als auch in der Vermeidung der Verwendung von weiblichen Eigennamen. Indem der Ich-Erzähler gleichzeitig Beziehungen zu mehreren Frauen unterhält, kann auch der Kontext, innerhalb dessen er etwa auf eine SMS »des 20 Übers.: »Ich vergesse es, nach ihrem Vornamen zu fragen. Einerlei, was es ist. Mit Klossen als Nachname wird es nichts.«

Appellation und Individualität

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Mädchens« (Hertmans 2004: 108) reagiert, sich an sexuelle Praktiken »des Mädchens« erinnert (Hertmans 2004: 67) oder schlicht beschreibt, wie »das Mädchen« sich bewegt (Hertmans 2004: 71), keine eindeutige Referenten erkennen lassen. Die Präferenz eines Gattungs- statt eines Eigennamens macht die individuelle Unterscheidung der weiblichen Figuren stellenweise unmöglich. Das Naheverhältnis zwischen Verallgemeinerung und (undefiniertem) Individuum wird besonders in folgender Textpassage sichtbar : »Ik onderhield op een gegeven ogenblik vier relaties, vier vrouwen die me als hun einige vertrouweling beschouwden als ze na een nacht met een tegenvallende vrijer hun hart wilden komen uitstorten. Ik zette koffie, knikte, streelde soms een keer door naar sigarettenrook ruikende haren, soms vroeg een van hen tegen de middag of we naar bed gingen, we sliepen eerst een paar uur, werden in de late middag wakker, dan gebeurde er soms iets wonderlijks, intens een vrijblijvend. Dan bleef ze met hete rode wangen bij me liggen, tekende cirkeltjes in mijn borstharen, lag met een been over mijn buik, een zoete adem dicht bij mij […]. Tegen de avond nam ze een douche; ik zag haar met lede ogen in de schemer verdwijnen, geurend, klaar voor de anderen. Ik stuurde een sms, laat op de avond, maar er kwam geen bericht terug«21 (Hertmans 2004: 103 f, Hervorh. d. Verf.).

Hier wird das Verhalten der verschiedenen Frauen in ein allgemeingültiges Schema gefasst, das die Differenzen bewusst ausblendet. Der Übergang von übergeordneter Verhaltens- und Zeitstruktur zu individuellen Personen und Ereignissen ist fließend, wobei der Ich-Erzähler gegenüber den Lesern einen Wissensvorsprung behält. Dadurch ist das am Ende angeführte weibliche Individuum für die Leser nicht eindeutig zu identifizieren. Selbst retrospektiv vorgenommene Namenszuschreibungen – Isabel, Mira, Marga, Rita und C¦sarine heißen die weiblichen Figuren in Harder dan sneeuw – können hier nicht weiterhelfen, da nicht klar ist, auf welches der davor erwähnten »Mädchen« sie sich beziehen. Zwar werden die Namen mancherorts mit anderen, oft zeitlichen Informationen der textuell aktualen Welt verknüpft, indem sich Handlungen »in jener Zeit« (Hertmans 2004: 102) abspielen, oder im »Frühjahr, dem Monat März eines anderen Jahres« (Hertmans 2004: 60), doch ist 21 Übers.: »Ich unterhielt zu einem bestimmten Zeitpunkt vier Beziehungen, vier Frauen, die mich als einzigen Vertrauten betrachteten, wenn sie mir nach einer Nacht mit einem enttäuschenden Liebhaber das Herz ausschütteten. Ich machte Kaffee, nickte, streichelte manchmal durch die nach Zigarettenrauch riechenden Haare, manchmal fragte eine von ihnen gegen Mittag, ob wir ins Bett gingen, wir schliefen erst ein paar Stunden, wurden am späten Nachmittag wach, dann passierte manchmal etwas Wunderbares, intensiv und unverbindlich. Dann blieb sie mit roten Wangen bei mir liegen, zeichnete Kreise in meine Brusthaare, lag mit einem Bein über meinem Bauch, süßer Atem nah bei mir […]. Gegen Abend duschte sie; ich sah sie mit Bedauern in den Augen in der Dämmerung verschwinden, wohlriechend, fertig für die anderen. Ich schickte eine SMS, spät am Abend, aber es kam keine Antwort.«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

dies vor dem Hintergrund der in Harder dan sneeuw introduzierten, typisch postmodernen Zeitstruktur wenig aussagekräftig. Vervaeck beschreibt diese als Ablösung der traditionellen Chronologie durch eine nicht-lineare Chronik (Vervaeck 1999: 154), die u. a. mit ihren obsessiv angewandten Scheinstrukturen »Spekulation, Erinnerung und Observation« ineinander übergehen lässt (Vervaeck 1999: 156). Dieses Zeitverständnis wird im Roman auch explizit angesprochen: The time is out of joint, dacht Marga. Er klopt iets niet in mijn tijdsbesef, alles loopt door elkaar. Was het winter voor de herfst? […] Mijn tijdsbesef is eraan, ik weet niets meer, alles loopt door elkaar»22 (Hertmans 2004: 167 f, Hervorh. im Original).

Ein Satz wie »De ochtend waarop ik ijlings naar Mira reed – laat ik de naam van het meisje nu maar prijsgeven, nu het voor alles te laat is – veranderde mijn leven«23 (Hertmans 2004: 53) ist so in doppelter Hinsicht nicht zuordenbar : Zum einen ist der »Morgen« nicht einem Moment in einer Chronologie zuzuordnen, zum anderen wird mit der verspäteten Einführung des Frauennamens auch der erfolgreiche Verweis auf ein Individuum des textuellen Universums verhindert. Dennoch prägt die referentielle Praxis nicht nur das Verhältnis von Erzähler und Lesern, sondern sie wird auch auf der Ebene der Figurenbeziehung umgesetzt. Diese gestaltet sich aus der Geschlechter-Perspektive asymmetrisch. Der Ich-Erzähler hat kein sonderliches Interesse an den Namen seiner weiblichen Bekanntschaften: »Omdat ik niets wil zeggen, omdat de betovering van het ogenblik, van deze samenzweerderige toevalligheid, niet verloren mag gaan, omdat ik haar naam niet wil weten«24 (Hertmans 2004: 71), und vergisst selbst nach wiederholten Treffen, sich nach diesem zu erkundigen (Hertmans 2004: 76). Doch auch wenn ihm der Name bekannt ist, spricht er die Frauen nur selten damit an,25 was diese irritiert: »Voor ik het goed en wel besefte riep ik haar naam – iets wat ik nog bijna nooit had gedaan (behalve die eerste keer, toen ik in haar drong en ze, met haar weergaloze ogen diep in de mijne, een beetje schor zei: ›Zeg mijn naam‹)«26 (Hertmans 2004: 151). 22 Übers.: »The time is out of joint, dachte Marga, etwas stimmt nicht mit meinem Zeitgefühl, alles läuft durcheinander. War es Winter vor dem Herbst? […] Meine Zeitwahrnehmung ist weg, ich weiß nichts mehr, alles läuft durcheinander.« 23 Übers.: »Der Morgen, an dem ich schnell zu Mira fuhr – ich werde den Namen des Mädchens jetzt preisgeben, jetzt, wo alles zu spät ist, – veränderte mein Leben.« 24 Übers.: »Weil ich nichts sagen will, weil der Zauber des Augenblicks, dieser verschwörerischen Zufälligkeit, nicht verloren gehen darf, weil ich ihren Namen nicht wissen will.« 25 Dies steht ihm Gegensatz zu Johns Umgang mit einer Ratte, die er in der Grotte, in der er gefangen gehalten wird, zähmt: »Ich habe der Ratte einen Namen gegeben, den sie jetzt schon erkennt« (Hertmans 2004: 256). 26 Übers.: »Bevor ich es begriffen hatte, rief ich ihren Namen – etwas, was ich fast noch nie getan hatte (außer dieses eine Mal, als ich in sie eindrang und sie, mit ihren unvergleichlichen Augen tief in meinen, ein bisschen heiser sagte: ›Sag meinen Namen‹).«

Appellation und Individualität

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Dieses Verhalten teilt der Ich-Erzähler mit der Figur Hans Mattfersen, der ebenfalls von den Frauen aufgefordert werden muss, sie individuell anzusprechen: »›Sag meinen Namen, Hans.‹ ›Mmmm‹« (Hertmans 2004: 225). Die Asymmetrie in der Geschlechterbeziehung erweist sich aus der Beschreibung des Verhaltens der Frauen, die ihrerseits die Männer durchaus bei ihren Namen nennen: »Bezeten van haar lichaam, haar ogen, haar tengere handen, drong ik in haar terwijl ze aan de haren in mijn nek rukte en mijn naam zei«27 (Hertmans 2004: 28). Besonders deutlich tritt dies am Beispiel von Johns sterbender Mutter zu Tage, die John beschreibt als »fast Abscheu erregendes, ärmliches und mitleiderregendes Überbleibsel einer Mutter« (Hertmans 2004: 42). An keiner Stelle des Romans wird der Name dieser nur mehr verdinglicht oder animalisch beschriebenen Frau genannt, während sie trotz ihrer fortgeschrittenen Demenz die ihr verwandten Männer noch benennt: »Ze herkent me meteen, zegt gehoorzaam mijn naam als mijn vader vraagt wie ik ben«28 (Hertmans 2004: 42). Auch der Name des Vaters wird noch in die Narration eingeflochten, wenn auch die Mutter erkennbar die emotionale Beziehung zu dem Referenten nicht mehr abrufen kann: »Een week tevoren had hij haar gevraagd of ze hem kende. ›Nie.‹ ›Ik ben het, lieveling.‹ ›Nie.‹ ›O nee? Wie is het dan wel?‹ Ze noemt zijn volledige naam en voornaam. ›Dat ben ik dan toch?‹ ›Nieje. Dat zijdde gij nie. Gij zijt Egidius de Vuyst«29 (Hertmans 2004: 43).

Nur Marga, Johns Exfrau, die im Gegensatz zu seinen anderen Freundinnen meist eindeutig mit ihrem Namen bezeichnet wird, gelingt es zumindest zeitweise, ein Gleichgewicht zu der männlichen Bezeichnungspraxis zu erzielen. So spricht sie Hans Mattfersen, mit dem sie ein Verhältnis hat, mit »hufter« [Mistkerl] an: »›Hufter,‹ zei ze, ›hufter,‹ ze streelde zijn haren en keek in zijn blauwgroene ogen met de paarse vonken. Hij grijnsde en zei telkens weer (iets wat ze vreselijk vond): ›Meisje, meisje.‹ ›Hufter,‹ zei ze, ›hufter hufter.‹ Tegen de ochtend, toen ze uitgeput raakten en ze 27 Übers.: »Besessen von ihrem Körper, ihren Augen, ihren zartgliedrigen Händen, drang ich in sie ein, während sie an den Haaren in meinem Nacken zog und meinen Namen sagte.« 28 Übers.: »Sie erkennt mich gleich, sagt gehorsam meinen Namen, als mein Vater fragt, wer ich sei.« 29 Übers.: »Eine Woche zuvor hatte er gefragt, ob sie ihn kenne. ›Nie.‹ ›Ich bin es, Liebling.‹ ›Nie.‹ ›Oh nein? Wer ist es dann?‹ Sie nennt seinen vollständigen Namen und Vornamen. ›Das bin doch ich?‹ ›Nein. Das bist du nicht. Du bist Egidius de Vuyst.‹«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

weer huilde, vroeg ze hem om haar naam te zeggen en haar in de ogen te kijken«30 (Hertmans 2004: 167).

Im Gegensatz zu der von dem Ich-Erzähler ausgeübten männlichen Bezeichnungspraxis, die die Leser in Komplizenschaft zwingt, indem sie ihnen entscheidende Informationen vorenthält, steht die namentlich fassbare Identität des hartnäckig als »Mistkerl« Bezeichneten in der Rezeption jedoch außer Frage. Darüber hinaus ist es die Frau, die unter der verallgemeinernden Referenz leidet und die Individualität einfordert: »Ich bin nicht dein Mädchen« (Hertmans 2004: 217). Ist die referentielle Praxis in Harder dan sneeuw also durchaus geeignet, Geschlechtergrenzen durchlässig zu gestalten, wie das Beispiel des GiottoFreskos zeigt, erweist sich dies gerade nicht als ihre bevorzugte Anwendung. Im Gegenteil beruht sie auf einem asymmetrischen Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Figuren, das bedingt durch die Exklusivität männlicher Erzählperspektiven die Frauen als unbenennbares Anderes herausstellt. Wahrscheinlich ist es dieser Aspekt, auf den Bultinck in seinem Essay anspielt, wenn er quasi als Verbündeter des Erzählers konkludiert: »[…] net als in de twee andere romans blijven de vrouwen sexy onkenbaar, aantrekkelijk onbereikbaar en lekker lekker […]«31 (Bultinck 2004: 631).

6.3

Groteske Entgrenzung

Die Betonung von ins Leere laufenden Verweisstrukturen, insbesondere im Hinblick auf Eigennamen, vermag bereits zu vermitteln, dass das Konzept der Identität auch in diesem Roman grundlegend problematisiert wird. Alle drei Hauptfiguren des Romans thematisieren den Verlust des Ichs mit weitgehend gleichem Wortlaut: »Ich bin im Begriff, mich zu verlieren«, behauptet Hans Mattfersen (Hertmans 2004: 95), »Ich habe mich verloren«, verzweifelt Marga (Hertmans 2004: 177) und auch John kommt zu derselben Erkenntnis (Hertmans 2004: 272). Jede dieser Aussagen präsentiert sich eingebettet in einen Zusammenhang, der den konstatierten Verlust des Ichs psychologisch erklären lässt: Hans glaubt den Kampf gegen seine kriminellen Triebe verloren, Marga erfährt sich aufgrund vielfältiger körperlicher Beeinträchtigungen nach einem 30 Übers.: »›Mistkerl‹, sagte sie, ›Mistkerl‹, sie streichelte seine Haare und schaute in seine blaugrünen Augen mit den violetten Funken. Er grinste und sagte immer wieder (was sie schrecklich fand): ›Mädchen, Mädchen.‹ ›Mistkerl‹, sagte sie, ›Mistkerl Mistkerl.‹ Gegen Abend, als sie erschöpft waren und sie wieder weinte, bat sie ihn, ihren Namen zu sagen und ihr in die Augen zu sehen.« 31 »[…] genau wie in den zwei anderen Romanen bleiben die Frauen sexy mysteriös, anziehend unerreichbar und lecker lecker […].«

Groteske Entgrenzung

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tätlichen Angriff als »Tier« und John muss mit der Isolation in seiner Gefangenschaft zurechtkommen. Dennoch wird der Ich-Verlust von textlichen Verfahren radikalisiert, die die Grenzen zwischen den Figuren über die psychologische Ebene hinweg aufheben. Von einer prozessualen, wörtlich verstandenen Verschmelzung zweier Figuren wie bei Jongstra ist dabei nicht die Rede, durchaus aber von Transgressionen, die auch die Körpergrenzen antasten. Die Entgrenzung des Körpers in Schmerz und Krankheit spielt dabei eine wichtige Rolle. Die obsessive Schilderung des Austritts verschiedenster Körperflüssigkeiten – Speichel an den Lippen von John, Marga und Johns Mutter, wochenlanger Durchfall von John, Blut aus Verletzungen – lässt sich als eine einer grotesken Körperkonzeption entsprungenen Motivik lesen, wie sie von Bachtin in Rabelais und seine Welt beschrieben wurde. Dies ist für den postmodernen niederländischsprachigen Roman nicht ungewöhnlich, wie Bart Vervaeck zeigt. Er postuliert in Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman die grundsätzliche Verwandtschaft der offenen und grenzenlosen Darstellung des Körpers im postmodernen Roman mit dem Grotesken und Karnevalesken (Vervaeck 1999: 78). Dort wird die Durchlässigkeit des Körpers bzw. der Haut als Körpergrenze durch die Veräußerlichung des Inneren zur Schau gestellt. »Daher geschehen auch die Hauptereignisse im Leben des grotesken Körpers, alle Akte des Körperdramas – Essen, Trinken, die Verdauung (und neben Kot und Urin auch andere Ausscheidungen; Schweiß, Schleim, Speichel), Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod, Verwesung, Zerstückelung und Verschlungenwerden durch einen anderen Körper –, an der Grenze zwischen Körper und Welt und dem alten und dem jungen Körper. In allen Ereignissen des Körperdramas sind Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten« (Bachtin 1987: 359).

Gerade auch die Tatsache, dass der groteske Körper – im Gegensatz zur neuzeitlichen Konzeption eines begrenzten, individuellen, undurchlässigen Leibes – kein individueller ist, sondern »Durchgangsstation für das sich ewig erneuernde Leben, ein unausschöpfbares Gefäß von Tod und Befruchtung« (Bachtin 1987: 359), Entgrenzung vom Individuum ins Kollektiv (Brylla 1995: 315), vermag zentrale Aspekte der Thematik von Harder dan sneeuw offenzulegen. Schließlich wird in Hertmans’ Roman sowohl die Verschränkung von altem und jungem Körper inszeniert (vgl. Abschnitt 6.3.1) als auch, wie unter Abschnitt 6.2 aufgezeigt, das Individuum vor dem Hintergrund seiner Ahnen seiner vermeintlichen Unverwechselbarkeit beraubt. Auch die wiederholt beschriebenen Manipulationen am individuellen Körper, die die Situation des Volkskörpers als organischem Ganzen metonymisch abbilden – insofern jene im Zuge von ethnischen Säuberungen »chirurgisch« oder durch Integration »homöopathisch«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

behandelt werden kann (Hertmans 2004: 127 › vgl. 263) – lassen sich in diesem Rahmen fassen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die sichelartige Narbe, die die Zugehörigkeit zum Khasarenvolk in den Körper einschreibt (Hertmans 2004: 123), die (bewusstseinsverändernden?) Drogen, die den Figuren wiederholt untergeschummelt werden (Hertmans 2004: 58, 174, 187, 208, 240), aber auch jener Fremdkörper, der im Rahmen einer Koloskopie in Johns Körper eingefügt wird und der ihm gleichzeitig fremd bleibt wie auch in ihm heimisch wird (Hertmans 2004: 237).

6.3.1 Die transgressive Realisierung des sterblichen Körpers John beobachtet als Nierendialysepatient seine eigenen körperlichen Defizite und betrachtet das langsame Sterben seiner bejahrten, dementen Mutter als Folie für den eigenen Verfall. So findet er in einem Wörterbuch den »zum Tode führenden Verfall von Körperkräften« als Nebenbedeutung des Terminus Dialyse (Hertmans 2004: 15) und meint diverse Parallelen zu entdecken: »De geur van haar lichaam was met niets te vergelijken. Diepe oude geur, dreigend, wurgend, tijdloos stinkend onheil in een stervend organisme, de geur van het fatale, van de afgelopen tijd. […] Het achtervolgde me de dagen daarna. Wanneer ik zelf naar de WC ging, rook ik tot mijn ontsteltenis diezelfde geur«32 (Hertmans 2004: 64 f).

Auch die notwendige Reinigung des eigenen »verunreinigten« Blutes durch die Dialyse (Hertmans 2004: 14) ähnelt den Beschwerden seiner Mutter. Mit dem Blasenkatheter (Mutter) und der künstlichen Niere (John) externalisieren beide ihr Körperinneres, um weiterleben zu können.33 »Ze kon niet meer leegplassen en vergiftigde haar eigen bloed met haar urine als ze niet gecatheteriseerd werd«34 (Hertmans 2004: 40). Ein Bluterguss auf ihrer Stirn, von einem Sturz 32 Übers.: »Der Geruch ihres Körpers war mit nichts zu vergleichen. Tiefer alter Geruch, drohend, würgend, zeitlos stinkendes Unheil eines sterbenden Organismus, der Geruch des Fatalen, der vergangenen Zeit. […] Er verfolgte mich noch Tage später. Wenn ich selbst auf die Toilette ging, roch ich zu meinem Entsetzen den gleichen Gestank.« 33 Die Betonung der Verbindung von Technik und Körper lässt sich auch als Echo der Neukonstruktion des Subjekts als Cyborg jenseits dichotomischer Vorstellungen lesen, wie Donna Haraway sie beschreibt: Der Fortbestand des Organismus ist hier nur durch einen Austausch zwischen Innen und Außen möglich, der von der Technik unberührte Organismus hingegen ist selbstdestruktiv. Auch die umgekehrte Bewegung findet in Harder dan sneeuw statt mit jenem bereits oben angesprochenen »von außen eingebrachten« Fremdkörper (Hertmans 2004: 237) in Johns Körper, der mit medizinisch-technischen Verfahren weiterhin sichtbar gemacht werden kann, sich aber erfolgreich in seine neue Umgebung integriert hat. 34 Übers.: »Sie konnte ihre Blase nicht mehr entlasten und vergiftete ihr eigenes Blut mit Urin, sofern sie nicht katheterisiert wurde.«

Groteske Entgrenzung

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herrührend (Hertmans 2004: 64), findet sich ebenfalls auf Johns Kopf (Hertmans 2004: 61). Die wiederholte Erwähnung der Parallelen kulminiert in einer Textpassage, in der Johns Körper komplett von der Mutter durchdrungen scheint: »Ik zie mijn lichaam in de spiegel; sluit de ogen en zie mijn moeders mollensnuitje voor me. Ik genees niet meer van haar, denk ik. Haar masker breekt door mijn gezicht, haar geur heeft me in de greep, haar lichaam wordt het mijne«35 (Hertmans 2004: 66).

Das terminale Stadium der Mutter, peripher aber auch das anderer alter Menschen, wird eindringlich beschrieben: Als »Mädchen« und »Jungen« erscheinen die Greise, die sich ihres Erwachsenenlebens nicht mehr erinnern können und einer sinnlosen Regression anheimfallen (Hertmans 2004: 137). Doch nicht nur kindlich, sondern vor allem auch animalisch – »So schauen sterbende Katzen in ihren letzten Tagen« (Hertmans 2004: 43), gegessen wird mit dem »bösartigen Mäusemündchen« (Hertmans 2004: 44) – und gar verdinglicht, wörtlich als »mensdingetje« [Menschending] (Hertmans 2004: 45) wird der gealterte Mensch dargestellt. »Een ziekelijk rood aangelopen, hijgend stukje ellende, met een bochel dit tot boven haar ratachtig opgeschoren nekje reikt, handen als werkloze klauwen, haar tenen krankzinnig scheef gegroeid. Haar blik is panisch. Alles wat ze niet kan zeggen glanst wreed en korstig als een verwijt«36 (Hertmans 2004: 42).

Auch jenes »restant van een moeder« [Überbleibsel einer Mutter] (Hertmans 2004: 42), das John zu erkennen glaubt, wird in ihm mittels einer sehr ähnlichen Wortwahl widerspiegelt: »Marga stapte die middag na kantoor zijn kamer binnen en zag een in elkaar geschrompeld, grauw en bibberend restant van een mens liggen«37 (Hertmans 2004: 215, Hervorh. d. Verf., vgl. 220). Die hauptsächlich phantasmatisch angelegte Transgression zwischen dem Körper der Mutter und jenem des Sohnes dient vor allem der Idee der biologisch bedingten Zirkularität, die jede Teleologie auf der Basis existentialistischer Prämissen zunichtemacht: 35 Übers.: »Ich sehe meinen Körper im Spiegel; schließe die Augen und sehe das Maulwurfschnäuzchen meiner Mutter vor mir. Ich genese nicht mehr von ihr, denke ich. Ihre Maske bricht durch mein Gesicht hindurch, ihr Geruch hat mich im Griff, ihr Körper wird der meine.« 36 Übers.: »Ein kränklich rot angelaufenes, keuchendes Häufchen Elend, mit einem Buckel, der bis über ihren rattenartig geschorenen Nacken reicht, Händen wie Klauen, ihre Zehen wahnsinnig schief gewachsen. Ihr Blick ist panisch. Alles, was sie nicht sagen kann, glänzt grausam und krustig wie ein Vorwurf.« 37 Übers. : »Marga trat an jenem Nachmittag nach dem Büro in sein Zimmer und sah ein verschrumpeltes, graues und zitterndes Überbleibsel eines Menschen liegen.« Aus der Geschlechter-Perspektive aussagekräftig ist hier auch der Gegensatz zwischen dem geschlechtsdeterminierten »Überbleibsel einer Mutter« und jenem »eines Menschen«, die das männliche Geschlecht konventionell als Norm erscheinen lässt.

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»Ik ga iemand zien sterven vanavond. Zij uit wie ik geboren ben. Ik ga de ondergang van mijn oorsprong tegemoet. Het leven verloopt in cirkelbewegingen waar geen mens wijs uit wordt, waar je niets uit opsteekt, waar geen enkele indruk van zinnigheid, nut, inzicht, of wat dan ook uit blijkt«38 (Hertmans 2004: 137).

Mit der Überblendung des eigenen Körpers durch den der sterbenden Mutter wird im Übrigen auf physischer Ebene auch jene referentielle Verwirrung aufgegriffen, die in der – nur im Rezeptionsprozess der Leser sichtbaren – Gleichsetzung von Adolf Hitler mit seinem Vater angelegt war (vgl. Abschnitt 6.2). Die Auflösung des Ursprungs in einer zirkelförmigen Bewegung, in der der Ursprung zur Personifizierung des Todes wird, wird an einer anderen Stelle weiter herausgearbeitet: »Het gezicht van mijn stervende moeder zie ik wel; het wordt steeds jonger, dat is merkwaardig. In mijn verbeelding en dromen sterft ze telkens weer, met die doodsgrijns die ze in haar laatste ogenblikken had, maar haar gezicht lijkt steeds gaver. Nog een paar dagen en ik zie haar sterven als een boreling, de onderlip naar binnen gezogen, die tandeloze mond en die verrot lijkende oogleden niet langer in de vorm gehouden door spieren en zenuwen. Ik ben bang dat ik op haar begin te lijken waneer ik wakker word met een spoor van aangekoekt speeksel in mijn scheef opengevallen mondhoek en mijn lippen droog en gebarsten. Ik wil niet op mijn eigen dood lijken«39 (Hertmans 2004: 244).

Nicht die Mutter als Individuum realisiert sich hier im Körper ihres Sohnes, sondern die Mutter als Funktion, als Verkörperung des Prinzips der Vergänglichkeit. Von gänzlich anderer Art sind die Übergänge zwischen den etwa gleichaltrigen und gleichgeschlechtlichen Figuren gestaltet.

38 Übers.: »Ich werde heute Abend jemanden sterben sehen. Sie aus der ich geboren bin. Ich gehe dem Untergang meines Ursprungs entgegen. Das Leben verläuft in Zirkelbewegungen, woraus kein Mensch schlau wird, wovon man nichts hat, woraus kein einziger Eindruck von Sinnhaftigkeit, Nutzen, Einsicht oder irgendetwas anderem entsteht.« 39 Übers.: »Das Gesicht meiner sterbenden Mutter sehe ich schon; es wird immer jünger, das ist merkwürdig. In meiner Phantasie und meinen Träumen stirbt sie immer wieder, mit dem Todesgrinsen, das sie in ihren letzten Augenblicken hatte, aber ihr Gesicht scheint dabei immer attraktiver zu werden. Noch ein paar Tage und ich sehe sie als Neugeborene sterben, die Unterlippe nach innen gesaugt, den zahnlosen Mund und die verrottet scheinenden Augenlieder nicht länger in der von Muskeln und Nerven gehaltenen Form. Ich habe Angst, dass ich ihr ähnlich zu sehen beginne, wenn ich mit einer Spur vertrockneten Speichels in meinem unwillkürlich schief geöffneten Mund aufwache, meine Lippen trocken und rissig. Ich will meinem eigenen Tod nicht ähneln.«

Doppelgänger und Rivalen

6.4

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Doppelgänger und Rivalen

Während Mutter und Sohn vor allem vom körperlichen Verfall geeint werden, entspinnt sich zwischen den männlichen Figuren eine Doppelgänger-Struktur. Wie die begehrten »Mädchen« aufgrund der referentiellen Praxis der männlichen Figuren bzw. Erzähler miteinander verschmelzen zu scheinen, so ist auch die Identität der männlichen Figuren nicht immer eindeutig feststellbar. Zentrum dieser Identitätsverwirrung ist Hans Mattfersen, der nicht nur als Antagonist von John de Vuyst auftritt, sondern nach eigenem Bekunden über einen Doppelgänger namens Fausto Khazar verfügt (Hertmans 2004: 124). Schon die Art, wie Mattfersen in die Narration eingeführt wird, ist kontradiktorisch. Eine Akte, die seinen Lebenslauf zusammenfasst, vermeldet fundamentale Widersprüche zwischen Mattfersens eigener Version und der anderer Zeugen (Hertmans 2004: 85). Auch Hans und Marga streiten sich über andere einander ausschließende Angaben zur Herkunft Mattfersens (Hertmans 2004: 233). Ebenso zweifelhaft, weil auf unterschiedlichen Angaben basierend, ist die Nationalität seiner Mutter (Hertmans 2004: 90) und auch eine eindeutige Muttersprache ist der Figur nicht zuzuordnen (Hertmans 2004: 90). In seiner Interaktion mit Menschen aus den unterschiedlichen Sprachräumen wird – dies verstärkt den Zusammenhang von Sprache und Identität – auch Mattfersens Vorname der jeweiligen Sprache entsprechend angepasst: Aus Hans wird dann etwa Giovanni (Hertmans 2004: 94). Zu den nebeneinander existierenden Versionen von Mattfersens Leben treten die körperlichen Parallelen mit der Figur von Fausto Khazar : Beide bekommen mit roten Haaren und einem hohen Wuchs ein gemeinhin auffälliges Äußeres zugesprochen. Zwei Merkmale jedoch differieren scheinbar zwischen den Doppelgängern: Während Mattfersens Hände als »bleich und zart« (Hertmans 2004: 188) beschrieben werden, sind die von Fausto Khazar »dick und haarig« (Hertmans 2004: 172), auch hat jener im Unterschied zu Mattfersen ein schielendes Auge. Diese unterscheidende Zuordnung erweist sich aber als trügerisch, insofern sie zwei getrennte Existenzen impliziert. Tatsächlich hat Fausto Khazar einen eher imaginären Charakter. Mit ihm wird gerade erst ein Referent geschaffen, auf den die nicht in die gängige Wahrnehmung Mattfersens integrierbaren physischen, aber auch habituellen Aspekte projiziert werden können. Da Hans Mattfersen sich als kultivierter, gesetzestreuer Mensch präsentiert, werden die Gewalttaten, die von einem rothaarigen Hünen ausgehen, seinem Doppelgänger oder »Pseudo-Hans« (Hertmans 2004: 268) zugeschrieben. Doch das unentscheidbare Verhältnis der Doppelgänger führt regelmäßig zu Zweifeln: »Dit is hem. Ik weet het. Dit is hem. Mijn stalkende roodharige griezel. [….] Dit is hem. Het galmt door mijn hoofd, het zwaait en zwiert en ik ben kotsmisselijk. Dit is ’m,

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verdomd, dit is ’m. Hier zit hij, doodgemoedereerd. Geen spoor van het Oost-Europese accent […]. Niet die walgelijke pinkring, en eigenlijk ook niet de dikke vieze haren op zijn vingers. En toch. Dit is hem. Hij moet het zijn«40 (Hertmans 2004: 107).

Auf die Identifizierung folgt wenig später der Rückzug: Aufgrund des schielenden Auges beschließt John, es handle sich bei Mattfersen doch nicht um seinen Verfolger : »Een tweelingbroer? Een kloon, me door de Satan zelf gestuurd? Een vuile truc, me door het toeval en mijn zenuwen gespeeld?«41 (Hertmans 2004: 10). Marga, die mit Mattfersen in einer Beziehung ist, unterliegt denselben Zweifeln. So beobachtet sie etwa jenes starre Auge an ihm (Hertmans 2004: 225) und meint, er führe »ein Doppelleben« (Hertmans 2004: 195). Entführt von einem rothaarigen Mann, in dem John wieder Mattfersen zu erkennen glaubt und ihn deshalb auch mit dessen Namen anspricht, antwortet dieser, im Gegensatz zu Mattfersen des Niederländischen nicht mächtig: »I am not who you think I am« (Hertmans 2004: 252), was John wieder zur Annahme der Existenz eines Doppelgängers führt. Schließlich kommt es noch, allerdings in der von Visionen und Wahnzuständen getrübten Wahrnehmung des Ich-Erzählers, zu einem gemeinsamen Auftritt der beiden Doppelgänger mit Mattfersen in der Rolle eines weiteren Opfers von Fausto Khazar. John beobachtet das Zusammentreffen aus seiner Gefangenschaft: »Ik zie dat hij het is; ik zie het aan zijn ogen. Ik zie naast hem de ander staan, duisterder, bijna zijn evenbeeld maar gebogen, met iets van een roofdier in zijn gekromde rug, en tegelijk iets onderdanigs«42 (Hertmans 2004: 280).

Den anschließenden Kampf zwischen den beiden Männer beschreibt John als Auseinandersetzung zwischen »Hans und Pseudo-Hans« (Hertmans 2004: 280). Als Übergangsfigur zwischen Hans und Pseudo-Hans fungiert jener wahrscheinlich ebenfalls khasarische, durch Zeitungsberichte bekannte Vergewaltiger, in dem Marga bereits Mattfersen zu erkennen geglaubt hatte: Er trägt wie auch Mattfersen in einer Szene (Hertmans 2004: 161) schwarzseidene Handschuhe, die damit den Blick auf die als Unterscheidungsmerkmal genannten

40 Übers.: »Das ist er. Ich weiß es. Das ist er. Mein ekliger rothaariger Stalker. […] Das ist er. Es hallt in meinem Kopf, es schwingt und wackelt und mir ist speiübel. Das ist er, verdammt, das iss’er. Hier sitzt er, seelenruhig. Keine Spur eines osteuropäischen Akzents […]. Nicht dieser eklige Daumenring und eigentlich auch nicht die dicken abscheulichen Haare auf seinen Fingern. Und doch. Das ist er. Er muss es sein.« 41 Übers.: »Ein Zwillingsbruder? Ein Klon, vom Satan selbst geschickt? Ein schmutziger Streich, den mir der Zufall und meine Nerven spielen?« 42 Übers.: »Ich sehe, dass er es ist; ich sehe es an seinen Augen. Ich sehe neben ihm einen anderen stehen, dunkler, beinahe sein Ebenbild, aber gebeugt, mit einer Spur Raubtier in seinem gekrümmten Rücken und gleichzeitig etwas Untertänigem.«

Doppelgänger und Rivalen

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zarten Hände von Mattfersen bzw. die behaarten und groben Hände seines Doppelgängers verstellen (Hertmans 2004: 211).43 Die Beziehung der beiden rothaarigen Gestalten führt zu einer auch körperlich verstandenen Entgrenzung, die das Konzept der Identität, aber auch der körperlichen Integrität in Frage stellt, indem einzelne Körperteile – die Hände, die Augen – austauschbar oder zumindest variabel erscheinen. Die Durchlässigkeit der Körpergrenzen spielt auch in anderen Romanen Hertmans’ eine Rolle. In Naar Merelbeke entgrenzt sich der jugendliche Ich-Erzähler ebenfalls sehr physisch durch eine imaginären Freund: »Altijd liet hij me voelen dat ik zelf een ander was, dat ik niet eindigde waar ik dacht – bij mijn vingertoppen of mijn kruin, mijn geschaafde knieÚn of mijn ellebogen – maar ergens diep in zijn bochelige lichaam, in zijn gedrongen en donkere krachtige gestalte, in zijn vermogen tot verdwijnen, in zijn onhoorbare stem en zijn onzichtbare, lachende ogen diep in mij«44 (Hertmans 1994: 158).

Zwar wird dort im Rahmen eines coming of age der imaginäre Freund schließlich »verjagt«, explizit aber »nicht getötet« (Hertmans 1994: 159), was die Möglichkeit weiterer Transgressionen betont. Neben der unheimlichen Doppelgänger-Intrige um Fausto Khazar in Harder dan sneeuw muss auch John de Vuyst als Alter Ego von Hans Mattfersen betrachtet werden. Kennzeichnet sich das Verhältnis von Mattfersen und Fausto Khazar eher als eine in zwei Gestalten erscheinende Persönlichkeit, steht die Beziehung von Mattfersen und John im Zeichen der Rivalität, wobei Mattfersen durchwegs erfolgreicher ist. Sie konkurrieren um die Gunst der gleichen Frauen – Johns Exfrau Marga, aber auch seine Arbeitskollegin Rita – und beschäftigen sich wissenschaftlich mit ähnlichen Themen. Auch ein parallel verlaufendes Szenario verbindet die Kontrahenten. Im vierten Kapitel wird beschrieben, wie Hans Mattfersen seine Studienfreundin, die Sängerin C¦sarine ermordet: Er verfolgt sie und beobachtet ihre Wohnung, insbesondere die Bewegungen der Gardinen, von der Straße aus. Schließlich bricht er das Schloss zu ihrem Appartment auf und erwürgt sie, während sie gerade ihre Arien übt (Hertmans 43 Die Austauschbarkeit dieses physischen Merkmals wird zusätzlich unterstrichen von dem Symbol der abgehackten Hände, die dem Khasarenvolk als Abschreckung von Ehebrechern gedient hätten: Immer wieder finden die Protagonisten diese Hände, die in ihrer Form an Silikon-Handschuhe erinnern (Hertmans 2004: 61), in einem rückblickend als Albtraum klassifizierten Ereignis regnet es gar solche Hände (Hertmans 2004: 208 f). Die Vorstellung, eine Hand wäre etwas Einzigartiges, das auch zur Identifizierung von Personen taugt, wird damit untergraben. 44 Übers.: »Immer ließ er mich spüren, dass ich selbst ein anderer war, dass ich nicht da endete, wo ich dachte – an meinen Fingerspitzen oder an meinem Scheitel, meinen aufgeschundenen Knien oder meinen Ellenbogen – sondern irgendwo tief in seinem buckligen Körper, seiner gedrungenen und dunklen, kräftigen Gestalt, in seinem Vermögen zu verschwinden, in seiner unhörbaren Stimme und seinen unsichtbaren, lachenden Augen tief in mir.«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

2004: 95ff). Auch John, der Mira besuchen will, beobachtet die Gardinen in ihrer Wohnung, hört ebenso wie Mattfersen Barockmusik, dringt leise in ihre Wohnung ein, wo sie, wie C¦sarine, mit dem Rücken zu ihm sitzt, in der Wiederholung des Szenarios allerdings bereits ermordet. Seltsamerweise befinden sich seine Fingerabdrücke an ihrem Hals: »Toen ik aan de politie dacht, besefte ik dat mijn eigen vingerafdrukken inmiddels op haar keel stonden, op de stoelleuning, op de tafel; dat minieme huidschilfers, zelfs reeds haren van mijn schouders waren gevallen, alle microscopische dingen waarmee een normale menselijke aanwezigheid gepaard gaat en die inmiddels mijn eigen schuld konden documenteren. Toen ik begreep in wat voor een val ik zat, werd ik onverschillig«45 (Hertmans 2004: 153).

In weiterer Folge werden sowohl John als auch Mattfersen von der Polizei als Tatverdächtige vernommen, ohne dass aber einer der beiden festgenommen wird. Das stellt den größten Unterschied in der Darstellung der beiden Szenarien in Frage, nämlich die Prämisse der Unschuld Johns sowie der tatsächlichen, weil gestandenen Schuld Mattfersens. Jene wurde in einer (polizeilichen?) Akte festgehalten, erscheint als Quelle aber vor dem Hintergrund einer nicht erfolgten Festnahme als unzuverlässig. Schon in der Namensgebung der männlichen Figuren ist deren Naheverhältnis angelegt: Nicht nur sind John (de Vuyst) und Hans (Mattfersen) Varianten desselben Namens, in Kombination mit dem Vornamen von Mattfersens Gegenstück Fausto Khazar ergeben sie die Gestalt Johann Faustens, jener legendären Gestalt, die nach einer Studie Hans Mattfersens ebenfalls khasarischer Herkunft war, die aber auch in ihrer literarischen Bearbeitung durch Goethe Gegenstand intertextueller Beziehungen zu Hertmans’ Roman ist (Hertmans 2004: 24, 104). Dieser dreifach ausgestalteten Identität oder Nicht-Identität steht in Harder dan sneeuw die weibliche Hauptfigur Marga – das ebenfalls schon durch den Namen evozierte Gretchen aus Fausts Drama – gegenüber, deren einzige Parallelen mit einer der männlichen Figuren jene Verletzungen sind, die ihr und John von ihren Verfolgern zugefügt werden. Die von sowohl männlichen als auch weiblichen Figuren getroffene Aussage, sie hätten sich selbst verloren, erhält so eine nach Geschlecht unterschiedliche Tragweite. Sie bleibt für Marga situativ verankert in jenem Kontext, in dem sie getroffen wurde (der Erniedrigung des 45 Übers.: »Als ich an die Polizei dachte, realisierte ich, dass meine eigenen Fingerabdrücke inzwischen an ihrem Hals waren, auf dem Stuhlrücken, auf dem Tisch; dass winzigkleine Hautschuppen, sogar schon Haare von meinen Schultern gefallen waren, alle mikroskopischen Dinge, mit denen menschliche Anwesenheit normalerweise gepaart geht und die inzwischen meine eigene Schuld dokumentieren konnten. Als ich begriff, in was für einer Falle ich saß, wurde ich gleichgültig.«

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Kontrollverlustes über den eigenen Körper nach einem Gewaltakt), jedenfalls aber des Innenlebens der Figur. Gleichzeitig erfährt sie an den männlichen Figuren, und hier insbesondere anhand Mattfersen und Fausto Khazar, eine zusätzliche physisch-exteriore Ausprägung, in der die körperlichen, handlungsbezogen und psychischen Grenzen nicht mehr eindeutig festgestellt werden können. Komplementär dazu kann die im gedoppelten Mordszenario vollzogene Identifikation von Mira mit C¦sarine in der Opferrolle gelesen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit das Geschlecht eine essentialistische Grundlage liefert, auf der die Identitätsproblematik ausgearbeitet wird. Denn es wurde auch aufgezeigt, dass es der alternde und sterbende Körper der Mutter ist, der sich in Johns Körper realisiert. Dabei gibt es im Vergleich zur Ausarbeitung des Doppelgänger-Motivs einen grundlegenden Unterschied, führt die Vermütterlichung des Körpers doch keineswegs zu Verwechslung oder Unentscheidbarkeit bei den anderen Figuren und/oder den Lesern, wie dies sowohl bezüglich der universalen Mädchen-Frau, als auch bezüglich der männlichen Figuren untereinander der Fall ist. Die Ähnlichkeit mit und Durchdringung durch den mütterlichen Körper ist rein auf der subjektiven Wahrnehmungsebene der Figur John situiert. Zudem präsentiert sich die transgressive Figur der Mutter schon aufgrund ihrer kindlichen bis animalischen Darstellung weniger als Individuum oder Repräsentantin des weiblichen Geschlechts, sondern vielmehr als Statthalter für andere Begriffe wie Ursprung und Tod.

6.5

Maskulinität zwischen Substantialität und Maskerade

Die zwei dominierenden Empfindungen, die der Ich-Erzähler in Harder dan sneeuw beschreibt, sind der Schmerz und der Sexualtrieb. Abgesehen von der eigenen sterbenden Mutter betrachtet der Ich-Erzähler jede Frau in seiner privaten oder beruflichen Umgebung als potentielles Sexobjekt. Schon kleinste Gesten und Bewegungen der Frauen rufen in ihm einen Trieb auf, der kaum zu beherrschen ist, wie sich anhand einer Szene illustrieren lässt, in der Johns Kollegin Rita ihm nebenbei über die Haare reibt: »Een gebaar dat vol achteloosheid stak maar dat mij vervulde met een verwarrende gloed. Ik moet me met haast bovenmenselijke inspanning weerhouden mijn hand zachtjes op de onderkant van haar rug te leggen«46 (Hertmans 2004: 40). 46 Übers.: »Eine Geste, die achtlos vollführt wurde, die mich aber mit einer verwirrenden Glut erfüllte. Ich musste mich mit fast übermenschlicher Kraft davon abhalten, meine Hand sanft auf ihr Kreuz zu legen.«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

Der Trieb tritt unabhängig von der situativen Einbettung auf und dominiert jegliche Interaktion zwischen dem Erzähler und den weiblichen Figuren. John verlangt auf dem Begräbnis seiner Mutter danach, Ritas Schuhe »sauber zu lecken« (Hertmans 2004: 144), möchte sie streicheln und »warmreiben« (Hertmans 2004: 146), und auch als sein körperlicher Zustand ihn dazu zwingt, sich in die häusliche Pflege seiner Exfrau Marga zu begeben, möchte er von dieser befriedigt werden (Hertmans 2004: 222). Selbst während der gemeinsamen Entführung und Gefangenschaft ruft Margas Körper bei ihm erotische Gefühle wach: »Ich sah Margas Körper teilweise nackt und schnappte nach Atem« (Hertmans 2004: 249), wenn auch der sexuelle Akt selbst ausgespart bleibt (Hertmans 2004: 244).47 In starkem Kontrast dazu stehen die Interaktionen mit und Darstellungen von anderen männlichen Figuren. Exemplarisch kann ein feindselig geführtes Tischgespräch zwischen John, Mattfersen und Rita betrachtet werden, das sich über fast zwanzig Seiten erstreckt.48 Darin geht es um verschiedene Auffassungen über die Implikationen der Existenz des Kahzarenvolkes für den Nahostkonflikt, wobei der intellektuelle Austausch nur zwischen den beiden rivalisierenden Männern stattfindet, während Rita dem Gespräch nur als Staffage und Objekt des Begehrens der Männer beiwohnt. Teilweise richten die Männer ihre Erklärungen, die jeweils die des Kontrahenten angreifen, zwar an Rita, sie wird dabei aber als in der Sache vollkommen uniformierte dritte Partei angesprochen: »Vesstehensie, gnädige Frau?« wird dann gelallt (Hertmans 2004: 116) und der Sachverhalt von Anfang an geschildert. Dies trifft gleichermaßen auf John zu: »Manche Negationisten, liebe Rita […]« (Hertmans 2004: 116), »verstehst du, Rita? Deine Gene treten nicht über, nicht, Schatz?« (Hertmans 2004: 117), wie auch auf Mattfersen »Es spricht für sich, Rita my dear […]«. Ritas Einbeziehung entpuppt sich als rhetorisches Stilmittel, eine Antwort ihrerseits wird nicht erwartet und bleibt auch tatsächlich durchgehend aus. Ritas Beiträge zur Konversation beschränken sich auf kurze Zwischenfragen über die Essenswahl, die rein mimische Zustimmung oder Ablehnung eines Arguments und Kommentare über das unangebrachte Benehmen Johns. Dennoch erhält sie Johns Aufmerksamkeit, der kontinuierlich ihre Lippen beobachtet (Hertmans 2004: 111, 113), was wiederum sein Begehren weckt: »Rita nipte van haar muntthee, brandde de lippen, blies over het kopje. De vaal geworden wijngaardslakken werden wakker, bolden op in verwondering en vormden iets wat leek op een mond die zich tuitte voor een kus. Ik voelde een haast onweerstaanbare

47 Trotz dieser einschlägigen männlichen Wahrnehmung sind es die Frauen, die letztendlich über die Realisierung dieser Wünsche bestimmen (vgl. etwa Hertmans 2004: 102). 48 (Hertmans 2004: 106 – 133).

Maskulinität zwischen Substantialität und Maskerade

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neiging om haar lippen te likken, nu ze zo moe en willoos leken«49 (Hertmans 2004: 132).

Zur vollkommenen Erfüllung seiner Phantasie gehört aber nicht nur die sexuelle Erregung durch Rita, sondern die Ausschaltung des männlichen Konterparts: »Als ik een oog dichtknijp, houd ik het [mes] net op de hoogte van Mattfersens geprononceerde adamsappel. Leg het mes tevreden neer, snuif even luidruchtig, sluit de ogen, stel me voor dat Rita’s bloes van haar schouders glijdt en tel tot vijf«50 (Hertmans 2004: 108).

Die obsessiven sexuellen Vorstellungen des Ich-Erzählers prägen auch die Darstellung der weiblichen Figuren, wird ihr Aussehen und Auftreten doch immer wieder detailliert geschildert, sowohl erinnernd als situativ berichtend.51 Dabei wird wiederholt der erotischen Wirkung der Frauen größere erzählerische Aufmerksamkeit zuteil als der Botschaft, als deren Trägerin die Frau auftritt. »Ik sta net op de gang met een kopje koffie als een van de redactrices, zij met de zwarte bril en zwarte haren, zij met de zomerjurk met spilt, zij met haar gebruinde benen, ons trillend komt melden dat de Derde Wereldoorlog is uitgebroken«52 (Hertmans 204: 13).

Auf ähnliche Weise müssen die Leser in der Entdeckung des khasarischen Symbols auf dem Körper Isabels – und damit ihrer Verstrickung in die bedrohlichen Vorgänge – Johns sexualisierendem Blick folgen: »Haar mooie rechte rug bewoog in het witte bloesje. Tussen haar bloes en het zwarte rokje, net boven haar te zware ceintuur van Moschino, zag ik een streek honingkleurige huid, en daarin, heel groot en toch licht, een litteken in de vorm van een halve maan«53 (Hertmans 2004: 123).

49 Übers.: »Rita nippte von ihrem Minztee, verbrannte sich die Lippen, blies über die Tasse. Die blass gewordenen Weinbergschnecken wurden wach, wölbten sich verwundert und formten etwas, das an einen Mund erinnerte, der sich zu einem Kuss spitzte. Ich fühlte eine fast unwiderstehliche Neigung, ihre Lippen zu lecken, jetzt, da sie so müde und willenlos schienen.« 50 Übers.: »Als ich ein Auge zukneife, halte ich [das Messer] genau auf der Höhe von Mattfersens prononciertem Adamsapfel. Lege das Messer zufrieden hin, ziehe laut auf, schließe die Augen, stelle mir vor, dass Ritas Bluse von ihren Schultern gleitet, und zähle bis fünf.« 51 Vgl. etwa die Beschreibung vom »vulgären Charme« Ritas (Hertmans 2004: 107), der »erotische gleitende Stoff« um Margas Hüfte (Hertmans 2004: 222) und diverse Wahrnehmungen und Gedanken an Margas »honigfarbenes Schamhaar« und »schlanke Schenkel« (Hertmans 2004: 249, 270). 52 Übers.: »Ich stehe gerade mit einer Tasse Kaffee auf dem Gang, als eine der Lektorinnen, die mit der schwarzen Brille und den schwarzen Haaren, die mit dem geschlitzten Sommerkleid, die mit den gebräunten Beinen, uns zitternd berichtet, dass der dritte Weltkrieg ausgebrochen ist.« 53 Übers.: »Ihr schöner gerader Rücken bewegte sich in der weißen Bluse. Zwischen ihrer Bluse und dem schwarzen Röckchen, genau über ihrem zu dominanten Gürtel von Moschino, sah

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

Abgesehen von der Wahrnehmung der Frauen als potentielles Sexualobjekt im begehrenden Blick ist die einzige andere Darstellung weiblicher Figuren der Modus der Mütterlichkeit, ein ebenso konventioneller Frauentypus. So muss John sich nach einem schmerzvollen Sturz um Beherrschung bemühen, als er Rita um Hilfe bittet »Jongetje verliest flinkigheid als mama er is. Mijn stem klinkt heser dan ik wil« (Hertmans 2004: 82), nach dem Begräbnis seiner Mutter wird er ausdrücklich zum »Muttersöhnchen« (Hertmans 2004: 143). Darauf folgt allerdings schnell wieder die sexuelle Erregung. Die in der offensiven Sexualität zur Schau gestellte Virilität des Ich-Erzählers stellt sich gewissermaßen auch als Performanz oder Maskerade dar. Dies geschieht, indem das individuelle Scheitern an der Mimesis jenes kulturellen Modells der Männlichkeit, das der »Macho« John (Hertmans 2004: 101) zu verwirklichen versucht, sehr explizit benannt wird, wie im Folgenden dargelegt werden soll. Joan Rivieres psychoanalytisches Maskerade-Konzept, das Weiblichkeit mit Maskerade gleichsetzt, wurde seit den 1990er Jahren zunehmend auch auf Männlichkeit angewandt, um dem Konstruktcharakter auch des männlichen Geschlechts Rechnung zu tragen und den Blick für verschiedenartige kulturelle Ausprägungen der Maskulinität – an anderer Stelle wird nur im Plural von Maskulinitäten gesprochen (Steffen/Marzahn 2002: viii) – zu öffnen, wie etwa der von Claudia Benthien und Inge Stephan herausgegebene Band Männlichkeit als Maskerade (2003) zeigt. Als für den deutschen Sprachraum richtungsweisend erwies sich dabei Klaus Theweleits bereits 1977 erschienenes Werk Männerphantasien,54 das eine psychoanalytisch-institutionelle Lesart des (soldatischen) männlichen Körpers als Abwehrreaktion auf die ebenfalls imaginierte Weiblichkeit entwickelt (vgl. Stephan 2003: 25 f). Die komplementäre Ausformung der Konzeptionen von Männlichkeit und Weiblichkeit ist kein Zufall. Generell entstehen Maskerade-Effekte, wie Julika Funk betont, »immer dort, wo die binäre und oppositive Ordnung der Geschlechter in der symbolischen Ordnung erscheinen soll« (Funk 1995: 20). An vielen Stellen von Harder dan sneeuw kommt die Diskrepanz zwischen sozialen Erwartungen und individueller Umsetzung zur Sprache. Im Umgang mit einer begehrenswerten jungen Frau fühlt sich der Erzähler gar als »das dumme Blondchen mit der Banane« (Hertmans 20004: 11), ist unsicher, ob ihr Interesse wirklich ihm gelten kann (Hertmans 2004: 11). Auch wimmelt es von betont komischen Beschreibungen des eigenen Verhaltens bzw. der Versuche,

ich einen Streifen honigfarbene Haut und darin, sehr groß und doch hell, eine Narbe in Form eines Halbmonds.« 54 Der zweite Band erschien 1978.

Maskulinität zwischen Substantialität und Maskerade

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den Frauen zu gefallen,55 deren Beurteilung nicht nur den Lesern überlassen wird, sondern auch explizit durch den Erzähler erfolgt.56 Dieser fertigt etwa eine Liste all seiner Sexualkontakte an und erfährt diese Tätigkeit gleichzeitig als »Niederlage« (Hertmans 2004: 24) oder berichtet von Situationen »passiver, totaler Lächerlichkeit« (Hertmans 2004: 17): »Daar sukkel ik als een idioot door de winkelstraat met het meisje van wie ik gister droomde, met een gangetje alsof ik me bescheten heb, pijn in mijn lendenen en een te hoge hartslag«57 (Hertmans 2004: 17).

Er unterwirft sich während eines gemeinsamen Einkaufsausflugs dem weiblichen Modediktat, das seine eigene Auswahl als unmodisch ridikülisiert (Hertmans 2004: 19), kann aber trotzdem distanziert sein eigenes Spiegelbild in der modischen engen Hose als »übersexualisierten Irren« beschreiben (Hertmans 2004: 18). Interessant ist auch, dass es sich hierbei um jene auffällige blaue Hose handelt, die der Protagonist im weiteren Verlauf in allen Szenen des Roman trägt, in bewusster Aneignung des weiblichen Blicks und Ideals und damit im Stile einer wörtlich verstandenen Maskerade. In einem Fall zitiert John eine kulturell determinierte Erwartungshaltung, allerdings nur, um sich dezidiert davon abzugrenzen, was den komischen Effekt allerdings nicht schmälert. »Ooit diende een van mijn studenten daar een ontwerpscenario voor een animatiefilm in, waarin een mummelende oude gek met een aantrekkelijke schoonheid samenleeft, zonder te beseffen dat ze elke nacht het bed uitglipt om te gaan dansen en hem te bedriegen terwijl zijn valse tanden in een glas troebel water naast hem op het nachtkastje staan te gisten. Ik neem aan dat de studenten dat graag [over mij en Marga] dachten; de werkelijkheid was anders«58 (Hertmans 2004: 27).

Das komische mimetische Scheitern an allzu klischeebeladenen Männlichkeitsidealen bei gleichzeitiger Realisierung anderer Aspekte dieser Ideale, etwa des starken Sexualtriebes, stellt den Maskerade-Charakter der Maskulinität in 55 Vgl. weitere Textstellen v. a. in der kompletten Beschreibung einer Einkaufsszene (Hertmans 2004: 17 – 19). 56 Hier liegt auch der Unterschied zu den ironisierenden Darstellungen im Werk Atte Jongstras, worin die Implikation der Ironie nur im Rezeptionsprozess erfolgen kann. 57 Übers.: »Da trotte ich wie ein Idiot mit dem Mädchen, von dem ich gestern träumte, durch die Einkaufsstraße, mit einem Gang, als ob ich mich angeschissen hätte, mit Schmerzen in meinen Lenden und erhöhtem Herzschlag.« 58 Übers.: »Einmal reichte einer meiner Studenten dort ein Szenario für einen Animationsfilm ein, worin ein mümmelnder Tattergreis mit einer attraktiven Schönheit zusammenlebt, ohne zu begreifen, dass sie jede Nacht das Bett verlässt, um tanzen zu gehen und ihn zu betrügen, während seine falschen Zähne in einem Glas trüben Wassers neben ihm auf dem Nachtkästchen gärten. Ich nehme an, dass die Studenten das gerne [über mich und Marga] dachten; in Wirklichkeit war es anders.«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

den Vordergrund und vermag es, allzu normative Vorstellungen männlicher Geschlechtsidentität (gender) zu destabilisieren.

6.6

Phantasmen des Weiblichen

Mit dem Verfahren der Darstellung der männlichen Maskerade in Harder dan sneeuw findet innerhalb des Roman-Œuvres von Hertmans auch eine Schwerpunkt-Verschiebung statt: In Naar Merelbeke und insbesondere in Als op de eerste dag sind es fast ausschließlich die (phantasmatischen) Vorstellungen von Weiblichkeit, die eine zentrale Rolle spielen. Bedingt durch die durchwegs männlichen oder nicht geschlechtlich markierten personalen Erzähler wird die Aneignung sozialer Geschlechterrollen seitens der Frauen kaum thematisiert, wohl aber die Zuschreibung dieser Rollen und Eigenschaften seitens der begehrenden Männer. In Als op de eerste dag richtet sich der Blick der männlichen Figuren immer auf die von der Unterwäsche gerade noch verhüllte anatomische Andersartigkeit der Frauen, die zur einladenden Projektionsoberfläche – einmal ist die Rede von einer »zunehmenden Wucherung von Bildern« – wird (Hertmans 2001: 137). So assoziiert die Figur des Jugendlichen Slobo ein offenherziges Werbeplakat ebenso mit einer Mitschülerin wie ein Foto von ihr und kann in weiterer Folge nicht mehr unterscheiden, welchem der mit dem Mädchen verbundenen Objekte sein Begehren gilt: »Het meisje, de kleine foto in de sleutelhanger en het reusachtige affiche vormden een duivels bondgenootschap, een samenzwering van symbolische omstandigheden waartegen hij niet opgewassen was; de hele wereld werd erdoor aangetast. Na een tijd leek het onmogelijk te zeggen in welk van de drie zijn diepste, eerste emotie lag vervat«59 (Hertmans 2001: 82).

In Naar Merelbeke verschwimmen die begehrten Mädchen ebenfalls in der Wahrnehmung des Ich-Erzählers: »het was alsof een van mijn nichtjes uit Rouen nu in de huid van Margreet was gekropen«60 (Hertmans 1994: 86). Das Weibliche wird in Als op de eerste dag als substantiell Anderes dargestellt. Slobo unterhält auch ein homosexuelles Verhältnis, das ihm vollkommen anders erscheint als die Heterosexualität. Es erlaubt ihm, sich passiv, »abwartend« und »den ganzen Körper offen« hinzugeben. Es ist jedoch nicht nur die Erfahrung 59 Übers.: »Das Mädchen, das kleine Foto am Schlüsselanhänger und das riesige Plakat formten ein teuflisches Bündnis, eine Verschwörung symbolischer Umstände, der er nicht gewappnet war ; die ganze Welt wurde dadurch angetastet. Nach einiger Zeit schien es unmöglich zu sagen, in welchem der drei seine tiefste, erste Emotion verfasst lag.« 60 Übers.: »es war, als wäre eine meiner Cousinen aus Rouen nun in die Haut von Margreet geschlüpft.«

Phantasmen des Weiblichen

297

einer körperlich anders gestalteten Beziehung: Auch die geistig-emotionale Komponente unterscheidet sich in dieser Darstellung je nach sexueller Orientierung. In der Beziehung zu einem Mädchen fühlt Slobo »pijnlijk heimwee naar de vrijheid die ze samen hadden gekend, emotionele lichtheid zoals die alleen maar kan bestaan tussen twee mensen van hetzelfde geslacht […]«61 (Hertmans 2001: 87 f). Anders ist dies in einer kleinen Szene in Naar Merelbeke, wo der kindliche Protagonist unter den langen Röcken der erwachsenen Frauen einen vom männlichen grundverschiedenen soliden »Körper aus einem Stück« – im Gegensatz zu dem in zwei Beine »gespaltenen« männlichen Körper – vermutet (Hertmans 1994: 127). Der Anblick einer nackten Frau führt zu der empört kund getanen Erkenntnis, die Körper der Frauen seien »ebenso gespalten« wie die männlichen: »Mijn hele wereldbeeld berusste op een misleidende truc, een lap stof, waaronder iets zat dat vreselijk op mijn eigen lichaam leek, ook al was er wel een en ander aan te zien dat ik niet meteen begreep«62 (Hertmans 1994: 127 f).

Die Geschlechterdifferenz wird mit dieser Wahrnehmung entsubstantialisiert, weil die jene Differenz betonenden Röcke, die weibliche Maskerade, just die eigentliche auch physisch verstandene Gleichheit der Geschlechter verdeckt haben. Sosehr Weiblichkeit in diesen beiden frühen Romanen Hertmans’ in Abhängigkeit von männlichen Wahrnehmungs- und Ordnungsmustern konstruiert wird – und deshalb auch weitgehend stereotyp erscheint –, bleibt die Maskulinität der männlichen Erzähler und Hauptfiguren weitgehend unhinterfragt. Mit Harder dan sneeuw zeigen sich die ebenso stereotypen männlichen Rollen mit den weiblichen in wechselseitiger Abhängigkeit verschränkt. Die Diskrepanz zwischen geschlechtsspezifischer Rolle und ihrer Realisierung birgt jedoch nicht ausschließlich kritisches Potential: Die Darstellung solcherart versagender Männer folgt schließlich, wie Britta Herrmann und Walter Erhart analysieren, einem spezifisch popkulturellen Skript und damit einem ökonomischen Prinzip: »Wenn Männlichkeit zur Zeit nicht zuletzt in der Unterhaltungsindustrie verstärkt als eine solch mißlingende Form der Mimesis vorgeführt wird – als Parodie, als Travestie oder als decouvrierte Mimikry –, so mag dies einerseits darauf hinweisen, daß die Repräsentation von Männlichkeit nur (noch) bedingt funktioniert, daß aber genau diese Reibung zwischen geschlechtlicher Erwartungshaltung und ihrer Enttäuschung 61 Übers.: »Heimweh nach der Freiheit, die sie gemeinsam gekannt hatten, nach emotionaler Leichtigkeit, wie sie nur zwischen Menschen desselben Geschlechts bestehen kann.« 62 Übers.: »Mein ganzes Weltbild beruhte auf einem irreleitenden Trick, einem Fetzen Stoff, unter dem sich etwas befand, was meinem Körper schrecklich ähnlich war, auch wenn es durchaus das ein oder andere zu sehen gab, das ich nicht gleich verstand.«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

sowohl Frauen als auch Männern ein gewisses Vergnügen bereitet – ein ökonomisch durchaus einträgliches. Andererseits könnte das Vergnügen gar nicht so subversiv angelegt sein und vielmehr daher rühren, daß gesellschaftlich zur Zeit (noch) verworfene Formen von Männlichkeit auf diese Weise als Spektakel präsentiert und mit Genuß (wieder) konsumiert werden können […]. Offenbar befriedigt die Erkenntnis (und die Wiederholung) der Geschlechtskonstruktion ein gesellschaftliches Bedürfnis« (Herrmann/Erhart 2002: 36 f).

Harder dan sneeuw greift mit der Figur des lächerlichen Mannes auch ein populäres Muster auf, das, folgt man Herrmann und Erhart, als Legitimation der Darstellung viriler Klischees dienen kann.63 In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, einen weiteren Aspekt maskulinen Verhaltens in Harder dan sneeuw zu thematisieren, nämlich den Nexus Sexualität und Gewalt. Im Unterschied zum Versuch, durch zur Schau gestellte Jugendlichkeit und männliche Tatkraft auf Frauen attraktiv zu wirken, wird dieser innerhalb des textuellen Universums nicht als aktiv gewählte Maskerade, sondern quasi-substantiell dargestellt.

6.7

Sexualität und Gewalt

Die Spuren der Gewalt ziehen sich durch den gesamten Text von Harder dan sneeuw: John und Marga haben vielfältige Verletzungen von ihren Begegnungen mit khasarischen Gewalttätern davongetragen. Neben der an sich bereits bemerkenswerten Tatsache, dass die Gewalt in Hertmans’ Roman immer von Männern, nie von Frauen ausgeht, muss darauf hingewiesen werden, dass die weibliche Opferrolle auf die männlichen Figuren erotisierend wirkt. Die Verwandtschaft von Sexualität und Gewalt kündigt sich an verschiedenen Textstellen an: An anderer Stelle wurde bereits jene Phantasie der Verletzung oder gar Ausschaltung seines Rivalen Mattfersen mit einem Messer zitiert, die mit der Vorstellung einhergeht, Margas Körper würde sich im gleichen Zug für ihn entblößen (Hertmans 2004: 108). Ein anderes Mal führt John die Verbindung an, als er blaue Flecken am Hals seiner Exfrau bemerkt, und trotz der allzeit anwesenden Bedrohung zuerst sexuelle Assoziationen entwickelt: »Hij had altijd geweten dat ze bij hem iets tekortkwam, maar dat het zoeits was, dat had hij zelf niet kunnen verzinnen. God jezus fuck, denkt patiÚnt De Vuyst. Marga heeft blauwe vlekken in haar hals. Het is niet uit te maken of ze door geweld of door de liefde veroorzaakt zijn«64 (Hertmans 2004: 229). 63 Müller und Schülting betonen hingegen die Vorreiterrolle der Popkultur in den »ironischen Dekonstruktionen von Geschlechtsidentitäten« (Müller/Schülting 2006: 12). Aufgrund der im Folgenden aufgebauten Argumentation zu den essentalistisch verstandenen Geschlechterzuschreibungen bei Hertmans wird dieser Ansatz hier nicht weiter verfolgt. 64 Übers.: »Er hatte immer gewusst, dass sie bei ihm etwas vermisste, aber dass es so etwas war,

Sexualität und Gewalt

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Ähnlich beschreibt John seinen Sexualakt mit »dem Mädchen« als Gewalttat:65 »Ik ruk de kleren van haar gespannen lijfje, dring in haar kutje als om haar neer te steken« (Hertmans 2004: 48).66 Komplementär zur männlichen Aggression präsentiert sich das Verhalten der weiblichen Figuren. In bedrohlichen Situationen gerieren sie sich ängstlich und schutzbedürftig, während die Männer – in diesem Fall John – gerade deshalb vom weiblichen Körper angezogen werden. Die ersten Sekunden nach einem Bombenanschlag werden dann so beschrieben: »We bleven zitten, ik legde mijn arm om Rita’s schouders, rook haar parfum, ze drong tegen me an, snikte nu, durfde de ogen niet te openen«67 (Hertmans 2004: 134). Noch deutlicher tritt die Attraktivität der weiblichen Verängstigung hervor, wenn der Ich-Erzähler während einer Entführung unumwunden formuliert: »Naarmate ze banger wordt en meer van streek raakt, word ik opgewonden«68 (Hertmans 2004: 62). Mehrere Textpassagen skizzieren zusätzlich das ausweglose Ausgeliefertsein der Frau, das von den männlichen Figuren als Einladung zu sexuellen Akten begriffen wird. Der explizite Wunsch Johns, Ritas Lippen zu lecken, entsteht ausgerechnet »jetzt, da sie so müde und willenlos scheinen« (Hertmans 2004: 132). Als Marga, die John in seinem schlechten gesundheitlichen Zustand pflegt, sich zu ihm ins Bett legt und gleich einschläft, fährt er mit seiner Hand ihren schlafenden Körper entlang und beschreibt ihren »runden verführerischen Hintern« (Hertmans 2004: 231), eine Situation, die folgende Assoziation in ihm aufruft: »Het doet hem stomweg denken aan die grap over de GeorgiÚr, de Azerbeidjaan den de Rus. Ze zien een zeug over de weg rennen, die door een heg vlucht voor hun auto. Ze stappen uit en zien dat ze zich gevangen heeft gezet in een gat in de haag. Ze kijken naar de ronde kont van de zeug. ›Jammer dat het Sofia Loren niet is,‹ zegt de Rus. ›Jammer dat het mijn buurvrouw niet is,‹ zegt de GeorgiÚr. ›Jammer dat het niet donker is,‹ giechelt de Azerbeidjaan. Gelezen bij Andre Makine, dat herinnert hij zich. Ze hebben de rechten voor dat boek niet gekocht. Zonde«69 (Hertmans 2004: 231 f).

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das hatte er sich nicht denken können. Gottogott, Jesus Christus, Fuck, denkt Patient De Vuyst. Marga hat blaue Flecken an ihrem Hals. Es lässt sich nicht sagen, ob sie von Gewalt oder Liebe herrühren.« Dieses Beispiel stammt aus dem zweiten Kapitel des Romans und kann damit (siehe Abschnitt 6.1) als textuelle Satellitenwelt und reine Phantasie Johns gelesen werden. Wie das erste Beispiel allerdings zeigt, wird das gleiche Verhaltensmuster auch in der textuell aktualen Welt beschrieben. Übers.: »Ich reiße die Kleider von ihrem angespannten Körper, dringe in ihre enge Scheide ein, wie um sie niederzustechen.« Übers.: »Wir bleiben sitzen, ich legte meinem Arm um Ritas Schultern, roch ihr Parfum, sie drängte sich an mich, schluchzte, wagte es nicht, die Augen zu öffnen.« Übers.: »Je ängstlicher sie wird und je mehr sie die Kontrolle verliert, desto erregter bin ich.« Übers.: »Er muss an den Witz über den Georgier, den Aserbaidschaner und den Russen denken. Sie sehen eine Sau über den Weg rennen, die vor ihrem Auto flüchtet. Sie steigen aus und sehen, dass sie sich in einer Hecke verfangen hat. ›Schade, dass es nicht Sophia Loren ist‹,

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

Zwar zielt der Witz wie Scherze ähnlicher Machart auf die Mentalitätsunterschiede verschiedener Nationalitäten ab, gerade durch diesen Fokus aber werden die weiblichen Figuren zu – auf einer fließenden Skala von Tier zu Mensch und wieder zurück – austauschbaren Objekten, deren einzige Relevanz in der ungewollten Preisgabe ihrer Vagina zu liegen scheint. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch jene doppelte Figur der Auslieferung und (erzwungenen) Freiwilligkeit zu nennen, die der als »Stalker der Vorstädte« bezeichnete Vergewaltiger und Doppelgänger Mattfersens beschreibt, von dessen Taten Marga in der Zeitung liest. Er dringt in die Wohnungen von Frauen ein, bedroht sie mit einer Waffe, trachtet aber gleichzeitig, den Schein von einvernehmlichen Sex zu erzeugen. Dies tut er, indem er den Frauen nicht nur Komplimente macht, sondern ihnen ihre Verführung bzw. ihre Erregung aufzwingt, ein Verhalten, das der zitierte Zeitungsbericht in Komplizenschaft abbildet, insofern dort die Wahrnehmung der Frauen durch die Satzzeichen marginalisiert und inhaltlich bezweifelt wird. »Hij vroeg hen zich langzaam te ontkleden, en als ze daar zin in hadden, voor hem te strippen. Dat deden ze meestal niet (of dat bekenden ze niet aan de politie). […] Hij had geen haast, probeerde het de vrouw in kwestie naar de zin te maken. Zei er soms uitdrukkelijk bij dat hij niet wegging voor de vrouw zelf was klaargekomen. (De meesten zeiden achteraf dat ze het veinsden om hem zo snel mogelijk het huis uit te hebben of omdat ze dachten dat hij zen zou doden; hij had een klein zilveren pistool bij zich, dat hij op het nachtkastje legde)«70 (Hertmans 2004: 211).

Der existentielle Zwang, unter dem die Frauen handeln, ist notwendiges Merkmal der Anordnung, das erweist sich aus Nachfragen der Frauen. »Hij was, hadden sommige vrouwen bekend, een goede minnaar die wellicht ook zeer veel vrouwen uit vrije wil kon krijgen. Wanneer hij gevraagd werd waarom hij dat dan onder dwang deed, zei hij dat ze moesten zwijgen«71 (Hertmans 2004: 211).

Auch für die nicht kriminellen männlichen Figuren aus Harder dan sneeuw sind es über die Verängstigung hinaus gerade die konkreten Gewaltspuren auf sagt der Russe. ›Schade, dass es nicht meine Nachbarin ist‹, sagt der Georgier. ›Schade, dass es nicht dunkel ist‹, kichert der Aserbaidschaner. Gelesen bei Andrei Makine, erinnert er sich. Sie haben die Rechte von dem Buch nicht gekauft. Schade.« 70 Übers.: »Er bat sie, sich langsam zu entkleiden, und falls sie darauf Lust hatten, für ihn zu strippen. Das taten sie meistens nicht (oder gestanden es der Polizei nicht). […] Er hatte keine Eile, versuchte die betreffende Frau zu befriedigen. Sagte manchmal ausdrücklich, dass er nicht wegging, bevor die Frau nicht auch selbst einen Orgasmus hatte. (Die meisten sagten danach, dass sie es vortäuschten, um ihn so schnell wie möglich loszuwerden oder weil sie dachten, er würde sie töten; er hatte eine kleine silberne Pistole bei sich, die er auf das Nachtkästchen legte).« 71 Übers.: »Er war, hatten einige Frauen gestanden, ein guter Liebhaber, der vielleicht auch sehr viele Frauen freiwillig haben konnte. Wenn er gefragt wurde, warum er Zwang anwendete, gebat er ihnen zu schweigen.«

Sexualität und Gewalt

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weiblichen Körpern, die ihr Begehren wecken. Das deutlich versehrte, aus der Lippe stark blutende Gesicht Margas erscheint John demnach »geschwollen, aber schöner und expressiver, als ich es jemals gesehen habe« (Hertmans 2004: 62). Ähnlich verhält es sich in einer Szene im Krankenhaus, in der Marga nach ihrer Auffindung auf einer Landstraße so schlimm zugerichtet ist – auch ihr ungeborenes Kind hat sie durch die Gewalteinwirkung verloren – dass sie sich »entsetzt« nennt: »Ich bin ein Tier, nichts mehr. Ich habe mich verloren« (Hertmans 2004: 177). Diese Darstellung hält den Polizisten, der sie vernimmt, nicht davon ab, ihren Körper in eindeutiger Absicht zu mustern: »Er folgte den Umrissen ihres Bauches und ihrer Beine unter der Decke« (Hertmans 2004: 178). Der Nexus zwischen männlicher Sexualität und Gewalt findet sich auch in Als op de eerste dag. Die neun Erzählungen, die zusammen den Roman ausmachen, schildern mit wachsender Intensität die stets fataleren Verstrickungen von körperlichem Begehren und Gewaltanwendung anhand der vom Kind zum Erwachsenen heranwachsenden Protagonisten. Bezeichnend ist dabei die Motivik, die das Aufblitzen von weißer Unterwäsche zwischen den weiblichen Schenkeln als »silbernen Faden« erscheinen lässt, der unweigerlich zur Gewalt führt. In den beiden letzten Erzählungen schließlich werden die begehrten Frauen ermordet: in einem Kapitel nach der seitenlangen Schilderung einer phantasierten weiblichen Masturbationsszene (Hertmans 2001: 165 – 170), im anderen Fall, um den Zauber des »ersten Males« zu erhalten. Die Ermordung seiner Freundin (er stößt sie vom Balkon) verschafft dem Ich-Erzähler der vorletzten Erzählung aus Als op de eerste dag gar einen Orgasmus: »[H]et kon alleen worden vervolmaakt door deze lichtende vrije val, het schurken tegen de betonnen wand, de pijnlijke schaafwonden die zo ontstonden, de korte hete vlek die uit me gulpt op het ogenblik dat daar, ver in de diepte, een kleine vorm het asfalt raakt. Dan komt er schokkend en warm nog wat rozige urine«72 (Hertmans 2001: 160).

Die einseitige Kopplung der Gewalt an Männlichkeit und maskuline Sexualität in Harder dan sneeuw und Als op de eerste dag schreibt sich in jene tradierte dichotomische Auffassung von Geschlecht ein, die neben der Unterscheidung von Frauen als phantasmatisches »Anderes« des Mannes und neben dessen Assoziation mit Geist, Kultur, Attraktivität und Ratio (und damit den als überlegen bewerteten Aspekten fundamentaler Dichotomien) die Männer umgekehrt auch als »unmoralisches Geschlecht« wahrnimmt (Kucklick 2008). Lieselotte Steinbrügge skizzierte in Das moralische Geschlecht jenen Umbruch in 72 Übers.: »[E]s konnte nur noch von diesem leuchtenden freien Fall vervollkommnet werden, dem Streifen der Betonwand, den schmerzvollen Schürfwunden, die so entstanden, dem kurzen heißen Fleck, der aus mir tritt in dem Augenblick, an dem dort, weit weg in der Tiefe, eine kleine Gestalt den Asphalt berührt. Dann kommt stoßweise und warm noch etwas rosafarbener Urin.«

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Groteske Entgrenzung und männliche Maskerade – Stefan Hertmans

den Konstruktionsmechanismen von Weiblichkeit (und Männlichkeit), der im 18. Jahrhundert dazu führte, dass den Frauen die im privaten Bereich angesiedelte Moral zugeschrieben wurde, den Männern jedoch abgesprochen. Als Kompensation des auch »zerstörerischen« und »defizitären Charakters« der von der Aufklärung beschworenen Vernunft entstand der Entwurf einer privaten, nicht vergeistigten Gefühlsmoral, die den Frauen in jenem nicht-öffentlichen Bereich zuerkannt wurde, auf den sie in der gleichen Bewegung beschränkt wurden (Steinbrügge 1987: 122ff). Christoph Kucklick setzte diese Forschungen in Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie fort und führt aus, wie die physiologischen Forschungen im 18. Jahrhundert die Basis für die Zuschreibung eines starken, fast unkontrollierbaren Sexualtriebes an den Mann lieferten: Der feinen Empfindungen nicht fähig, bricht im Mann nur eine »triebhafte Sinnlichkeit« durch, die es zu zügeln gilt. Als »Mängelwesen« (Steffen/Marzahn 2002: vii) präsentierten Steffen und Marzahn gar den Mann und seine ihm exklusiv zugeschriebene Neigung zur Gewalt in Umdeutung von Gehlens anthropologischer Grundthese. Dieses Schema ist es auch, das die Romane von Hertmans dominiert und in dem sich die binäre Ordnung der Geschlechter manifestiert, die Männer und Frauen letztendlich trotz angedeuteter Maskeraden als substantiell andere Wesen begreift.

6.8

Abschließende Bemerkungen

Die Körperkonzeption in Hertmans’ Romanen, insbesondere in Harder dan sneeuw, trägt deutlich groteske Züge: Die Grenzen zwischen Innen und Außen, Körper und Welt sind diffus und beweglich, versehrte Körper begründen versehrte Identitäten. Besonders in der Verbindung des Individual- mit dem Kollektivkörper werden dabei mitunter auch die Grenzen zwischen den Geschlechtern überschritten. Dies geschieht aber eher im Zuge der Auflösung verschiedener Generationenebenen und Abstammungslinien; eine Schlussfolgerung, die sich aus dem Vergleich mit anderen textuellen Verfahren ziehen lässt, die abgrenzbare Körper und Identitäten ihrer Auflösung zuführen. Die Realisierung des Doppelgänger-Motivs findet bei Hertmans etwa nur auf der Basis stabiler geschlechtlicher Identitäten statt: Die männlichen Protagonisten erscheinen untereinander immer wieder austauschbar. Die komplementäre Austauschbarkeit der weiblichen Nebenfiguren ist der Bezeichnungspraxis der männlich dominierten Narration zuzuschreiben, die die Leser in eine Komplizenrolle zwingen. Die Perspektive auf das textuelle Universum ist eine männliche, der sich lokal weibliche Fokalisatoren unterordnen müssen. Dies resultiert in Stefan Hertmans’ Romanwerk in ausdrücklich phantasmatischen Vorstellungen von

Abschließende Bemerkungen

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Weiblichkeit. In Harder dan sneeuw wird zusätzlich auch der Konstruktcharakter von Männlichkeit thematisiert, insbesondere was den Wunsch nach viriler Jugendlichkeit und Attraktivität betrifft. Vergleichsweise essentialisiert präsentiert sich aber die Verbindung von männlicher Sexualität und Gewalt, eine Zuschreibung, die traditionelle dichotome Auffassungen von Maskulinität und Feminität verfestigt.

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Aus der Vogelperspektive – Figuren, Körper, Geschlechter

So unterschiedlich es um den Postmodernismus der hier exemplarisch behandelten Autoren auch bestellt ist, lassen sich aus einer feministisch-ideologiekritischen Perspektive doch einige fundamentale Parallelen benennen, die die Geschlechterkonzeption in den Romanen prägen und die bis dato von einer Rezeption verdeckt waren, die den Poststrukturalismus als Referenz- und Erklärungsrahmen heranzog. Ein Konzept, dass bei allen behandelten Autoren eine zentrale Rolle spielt, ist die Identität von Personen bzw. Figuren als Vorstellung von Einheit, Abgrenzbarkeit und Unverwechselbarkeit. Wie Vervaeck in Het postmodernisme in de Nederlandse en Vlaamse roman beschreibt, werden identitätstiftende Figurenkonzepte in postmodernen Romanen auf verschiedene Arten ihrer Auflösung zugeführt. Die Verschmelzung von Figuren sei dabei »eines der auffälligsten Merkmale« (Vervaeck 1999: 69), wobei diese bei Vervaeck nicht nur körperlich verstanden wird, sondern neben der Austauschbarkeit besonderer Merkmale zwischen verschiedenen Figuren auch das Aufführen gleicher Szenarien beinhaltet. Für die Romane des vorliegenden Textkorpus kann großteils von einer sehr physischen Ausprägung dieser Verschmelzung gesprochen werden, was die Idee der Unantastbarkeit körperlicher Grenzen, die mit der Vorstellung der Identität einhergeht, angreift. Die Doppelgängermotivik, die einen Leib seiner selbst entfremdet erscheinen lässt bzw. zwei oder gar mehrere Körper wörtlich vereint, findet sich vielfach bei Atte Jongstra, aber auch bei Peter Verhelst und Stefan Hertmans. Sie zeichnet sich in allen diesen Texten durch eine bleibende Instabilität der Identifikation aus, die keiner interpretatorischen Auflösung zugunsten einer oder mehrerer Identitäten zugeführt werden kann. In einer gemäßigten Variante führt sie zu Verwechslungen der Figuren aufgrund gleicher Merkmale sowohl innerhalb des textuellen Universums, als auch auf Seiten der Leser, während sie in ihrer radikalsten Form als (zeitweise) Integration eines Körpers in einen anderen gestaltet wird. Dieses textliche Verfahren, das mit graduellen Unterschieden meist auf mehrere Figurenkonstellationen innerhalb eines Romans angewendet wird,

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Aus der Vogelperspektive – Figuren, Körper, Geschlechter

bewirkt eine weitgehende Auflösung der Möglichkeit zur Identifikation von Individuen. Es zeigt sich jedoch, dass nicht alle identitätstiftenden Komponenten der handelnden Personen ausgelöscht werden: das Geschlecht der ineinander übergehenden Figuren ist jeweils konstant. Diese Praxis kann nicht nur mehrmals innerhalb eines Œvres aufgezeigt werden, sondern auch mehrmals jeweils innerhalb einzelner Romane. Sie erscheint aufgrund dieser auffälligen Häufung nicht als kontingent, sondern vielmehr als Bedingung für die Möglichkeit zwischenfigürlicher Transgressionen. Ergänzt wird das Verfahren um die Verschmelzung verschiedener menschlicher Figuren im Werk Verhelsts und auch Jongstras von anderen fantastischen Metamorphosen, indem der Mensch etwa wörtlich zum Tier wird, dabei aber gleichfalls sein ursprüngliches Geschlecht behält. Eine andere oft angewandte postmoderne Strategie der Problematisierung der Identität ist das Verwirrspiel mit Eigennamen, die ihre Eigenheit just verlieren (Vervaeck 1999: 77). Dies findet sich bei Jongstra ebenso wie bei Verhelst, bei Mutsaers ebenso wie bei Hertmans. Abgesehen von der Individualität der einzelnen Figuren, die damit ebenso wie mit der körperlich-habituellen Verschmelzung unterminiert wird, ist auch diese Strategie im Allgemeinen unterlegt von einer Konstanz der geschlechtlichen Markierung, die über Personalpronomen und Figurenbeschreibungen sichtbar gemacht wird. Die Auflösung der Identitäten, die der postmodernen Figurenkonzeption zugrunde liegt, beschreibt Bart Vervaeck als Verabschiedung des Denkens der Präsenz, und als Umarmung des Denkens der Abwesenheit: »In die zin kan het postmoderne personage zonderling genoemd worden: het wordt omschreven in termen van het ontbrekende (het ›zonder‹) en juist dat maakt het ongrijpbaar voor de traditionele logica, die immers denkt in termen van aanwezigheden (vandaar het ›zonderlinge‹). Het geluk ligt voor zo’n personage nooit in een vaste identiteit die in stabiele woorden uitgedrukt kan worden«1 (Vervaeck 1999: 73).

Aus einer geschlechterkritischen Perspektive muss diese Aussage eingeschränkt werden: So radikal mit der Idee von Identität in den Romanen auch gebrochen wird, so logisch kohärent und stabil gestaltet sich die Zuschreibung von Geschlecht an die Figuren. Nicht nur ist sie meist eindeutig vorzunehmen und gestalten sich die textuellen Welten in dieser Hinsicht problemlos zugänglich, die Geschlechtszuschreibung steht den destabilisierenden Verfahren, die im

1 Übers.: »In diesem Sinne kann die postmoderne Figur ›eigenartig‹ genannt werden: Sie wird in den Begriffen des Fehlenden beschrieben (das ›Ohne‹), und gerade das macht sie für die traditionelle Logik so unbegreiflich, da diese von Anwesenheit ausgeht (deshalb das ›Eigenartige‹). Das Glück liegt für so eine Figur niemals in einer festen Identität, die in stabilen Termini ausgedrückt werden kann.«

Aus der Vogelperspektive – Figuren, Körper, Geschlechter

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Zusammenhang mit Körpergrenzen, Metamorphosen und Eigennamen entwickelt werden, unerschütterlich gegenüber. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch das Cross-Dressing und die Androgynität, die als doppeldeutige Figurationen von Geschlecht im Werk Verhelsts eine große Rolle spielen. Sie vermögen es letztendlich aber ebenso wenig, die Wahrheit eines – biologisch geschlechtlich determinierten – Körpers bleibend zu verbergen, und werden so auch von anderen Figuren der textuellen Welten immer in eindeutige Kategorien überführt. Es ist die Ästhetik androgyner Körper, die heraufbeschworen wird, ohne eine binäre Verfasstheit von Geschlecht grundsätzlich in Frage zu stellen bzw. die geschlechtliche Zuordnung für Figuren oder Leser im Unklaren zu lassen. Damit wird ein Unterschied zwischen einem essentialistisch und vordiskursiv verstandenen Geschlecht und einer flexibler gestaltbaren Oberfläche installiert. Nur in einem Roman, in Rachels rokje von Charlotte Mutsaers, ist die Trennung dieser Ebenen, die dort als Unterscheidung von sex und gender charakterisiert werden kann, nicht eindeutig möglich. Obwohl die Figuren auch bei Mutsaers geschlechtlich konventionell markiert und Männlichkeit und Weiblichkeit einander auch dichotomisch gegenübergestellt sind, wird so zumindest angedeutet, dass die skizzierten Geschlechterverhältnisse nicht auf einem essentialistischen Fundament ruhen. Jene Präferenz postmoderner Texte für das Hybride, die Vervaeck auch hinsichtlich der Geschlechterdifferenz in zahlreichen hermaphroditischen Figuren verwirklicht sieht (Vervaeck 1999: 83), ist bei genauerer Betrachtung nur auf der ideellen Ebene, nicht auf der Figurenebene vorhanden. Die Zweigeschlechtlichkeit bzw. geschlechtliche Indifferenz wird als Vorstellung eines geschlossenen Systems herbeizitiert, auf figuraler Ebene aber mit Ausnahme des ausführlich besprochenen Romans De kleurenvanger von Peter Verhelst nicht realisiert. Zwar kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Vorhandensein mehrerer als zwei Geschlechter oder eine diffuse oder unentscheidbare Geschlechtlichkeit per se nicht-repressive Strukturen generiert, die aus ideologiekritischer Hinsicht unbedenklich sind. Fest steht aber, wie in der einschlägigen Sekundärliteratur bereits vielfach angeführt, dass alle Romane des Textkorpus zahlreiche Dichotomien – auch auf Figurenebene, was etwa die sozialen Rollen betrifft – auflösen, indem die einander entgegengesetzten Begriffe Positionen tauschen und unentscheidbar werden. Mit der Binarität der Geschlechter wird eine zentrale, gemäß der feministischen Theorie gar die übergeordnete binäre Struktur abendländischen Denkens hingegen nicht angetastet. Es ist nicht zuletzt jene Diskrepanz im Umgang mit Dichotomien, die die Aufrechterhaltung der Geschlechterdifferenz im überwältigen Teil aller Romane des Textkorpus umso stärker hervortreten lässt.

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Aus der Vogelperspektive – Figuren, Körper, Geschlechter

Eine weitere auffällige Parallele zwischen den Romanen des Textkorpus ist die Dominanz männlicher Erzähler mit Ausnahme von Rachels rokje, worin ausschließlich aus der Perspektive einer weiblichen Erzählinstanz berichtet wird. Fast durchgehend sind Ich-Erzähler am Wort, deren Geschlecht mit dem des Autors übereinstimmt. Zwar gehören dem Textkorpus auch einige multiperspektivische Romane an, quantitativ sind dort jedoch die weiblichen Stimmen deutlich in der Unterzahl. Zudem wird über die Einführung erzählerischer Hierarchien jenen Stimmen oft weniger Gewicht verliehen. Diese narrative männliche Dominanz funktioniert innerhalb einer großteils heterosexuellen Begehrensstruktur, und geht Hand in Hand mit einer Objektivation der (jugendlichen) weiblichen Figuren. Nicht nur sind sie bei allen männlichen Autoren des Textkorpus Objekte des Begehrens, bei Jongstra und Verhelst sind die weiblichen Körper auch Kunstobjekte, Vorlagen, die den Schaffensprozess des Künstler-Subjekts einleiten. Durchwegs wird die körperliche Erscheinung der Frauen öfter thematisiert, und die Leser sind wiederholt gezwungen, den sexualisierenden Blick auf die weiblichen Figuren nachzuvollziehen, den der jeweilige Erzähler-Protagonist einnimmt. Da die weiblichen Figuren nicht oder nur in geringem Maß für sich selbst sprechen können, dominieren in den Romanen Vorstellungen von Weiblichkeit, die die Frau als Anderes des Mannes begreifen. Den analysierten Romanen ist allerdings gemein, dass sie den phantasmatischen Charakter der Weiblichkeit mit verschiedenen textlichen Verfahren kenntlich machen. Es wird dann etwa die Obsession der männlichen Erzähler mit Bildern der begehrten Frauen thematisiert (Hertmans, Verhelst, Jongstra) oder es werden die weiblichen Figuren als unechte Kunstfiguren beschrieben (Jongstra) bzw. die Weiblichkeit an einem Kleidungsstück festgemacht (Mutsaers). Die Hervorhebung des Konstruktcharakters von Weiblichkeit birgt kritisches Potential, wird aber der oben beschriebenen essentialistischen Geschlechterdifferenz eingeschrieben und bietet so alternativ verfassten geschlechtlichen Identitäten keinen Raum. Das von Vervaeck postulierte Verschwinden fester Identitäten von Ich und konstituierendem Anderen (Vervaeck 1999: 70) muss in weiterer Folge differenziert betrachtet werden: trifft dies auf die im Rahmen der Doppelgängermotivik verknüpften, durchwegs dem gleichen Geschlecht angehörenden Figurenkonstellationen durchaus zu, wird die Differenz zwischen Männern und Frauen nicht angetastet, wenn auch ihr phantasmatischer Charakter herausgearbeitet wird. Die in allen analysierten Romanen installierte Geschlechterdifferenz ist nicht nur als biologisch-anatomische zu begreifen, sondern wird von sozial-habituellen Einschreibungen verstärkt. Von den männlichen Figuren geht insbesondere im Werk von Jongstra und Hertmans, aber auch bei Peter Verhelst und Charlotte Mutsaers (wiewohl die Asymmetrie zwischen den Geschlechtern

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diesbezüglich dort geringer ausfällt) viel Gewalt aus. Dies ist oft mit sexueller Erregung verbunden, wobei die erotisch geladene Aggression als Wesensmerkmal von Männlichkeit erscheint und im Gegensatz zum Phantasma der begehrten Frau nicht als Konstruktion oder Projektion dargestellt wird. Mit diesem Entwurf von Maskulinität wird die Kehrseite jenes dichotomischen Modells verfestigt, das Frauen in der passiven Position des Opfers verortet, Männer hingegen auf der Seite von Aktivität und Gewalt. Ein Maskeradecharakter kommt der Maskulinität explizit nur bei Hertmans zu, dieser bezieht sich jedoch nur auf die Bestrebungen, jugendlich und attraktiv auf Frauen zu wirken, und weder auf die Neigung zur Aggression noch auf die Erotisierung der Gewalt. Die Figur der Wiederholung, die als konstitutiv gilt für den postmodernen Roman (Vervaeck 2004b: 819), sei es in der Form innertextlich wiederholter Szenarien, sei es in der Form parodistischer Imitation kultureller Muster oder Prätexte, spielt aus der Perspektive der Gender Studies eine wichtige Rolle. Sie führt einerseits dazu, dass die oben beschriebenen textuellen Verfahren verdichtet werden, weil sie meist mehrere Male an verschiedenen Figuren eines Romans durchexerziert werden. Daraus können Leser Gesetzmäßigkeiten ableiten, die die jeweilige textuelle Welt bestimmen, wie es etwa für den vielfachen Mord an einer Frau in Atte Jongstras Het Huis M. beschrieben wurde. Andererseits zitieren viele der besprochenen Romane – darunter jene von Jongstra, Hertmans und Mutsaers – misogyne Stereotypen und schreiben die Figuren obsessiv in bekannte, destruktive Muster (die schöne weibliche Leiche, Verführung durch die Femme fatale usw.) ein. Betont die gängige metafiktionale Lesart dieses postmodernen Merkmals die solchermaßen erzielte ironische Offenlegung von Topoi und Gattungskonventionen und die Abkehr von der Idee der Originalität, habe ich in der vorliegenden Arbeit die Unmöglichkeit des Ausbruchs aus bereits bestehenden kulturellen Skripts zentral gestellt. Stereotype Muster und hegemoniale Strukturen werden in zirkulären Zeitstrukturen perpetuiert, die Leser werden daran gehindert, im Rezeptionsprozess über eine Kategorisierung der Figuren nach altbekannten Schemata (z. B. die Frau als Mutter oder als Verführerin) hinauszukommen. Indem die so transportierten Konzeptionen von Weiblichkeit und Männlichkeit zusätzlich einer, wie oben bereits argumentiert, essentialistischen und vordiskursiven Geschlechterdifferenz eingeschrieben sind, bergen sie nur wenig kritisches Potential. Abschließend lässt sich ob der quantitativ begrenzten Textauswahl die Frage stellen, wie repräsentativ die hier generierten Ergebnisse für den niederländischsprachigen Postmodernismus sind. Die Kriterien für die Zusammenstellung des Textkorpus, die dies weitgehend gewährleisten sollen, wurden in der Einleitung offengelegt. Doch auch über diese Selektion hinaus soll hier noch ein Text kurz angeführt werden, der den Blick auf die Thematik noch etwas weiten kann: Es geht um M. Februaris Roman De zonen van het uitzicht (1989), der auf

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einigen Ebenen gut mit den Romanen von Jongstra, Mutsaers, Verhelst und Hertmans verglichen werden kann und dessen Geschlechterkonzeption sich, ähnlich wie in Verhelsts Kleurenvanger, nicht als starr binär erweist. Februaris Roman kann ebenfalls zu den Kerntexten des niederländischsprachigen Postmodernismus gerechnet werden (Vervaeck 1999: 12, Vaessens 2009). Auch dieser Text verhandelt die Identität an zentraler Stelle, wobei im Fall von De zonen van het uitzicht – anders als in den fünfzehn hier zentral diskutierten Romanen – das Geschlecht als identitätsstiftende Konstante ausgeschaltet wird. Die Erzählinstanz, die in geschlechtlich unmarkierter Ich-Form berichtet, gibt an vielen Stellen Briefe wieder, die, das suggerieren einige inhaltliche Parallelen, von ihr selbst verfasst wurden. Diese werden variabel unterzeichnet. Der Name Margaret F. steht etwa neben Marg. F., Milou Februari, Mortimer Februari, Mara Februari und Matthias Februari; auch auf der Seite der Adressaten gibt es ähnliche, zumindest undeutliche Unterscheidungen wie etwa die Nennung von Leopold und/oder Lea Breslauer. Gedoppelt wird diese Geschlechtertransgression auf figuraler Ebene über die Kongruenz des Nachnamens der Hauptfigur mit jenem des Autors, der ebenfalls bewusst die über den Vornamen transponierte Geschlechtszuordnung durch die reine Initialnennung unentscheidbar lässt. So radikal diese Praxis auf der Ebene von Benennungen in De zonen van het uitzicht wirkt und so bleibend referentielle Bezüge zu eindeutig männlich oder weiblich vorstellbaren Figuren verhindert werden, ist sie doch merklich unkörperlich ausgestaltet und unterscheidet sich somit deutlich von den anderen im Rahmen dieser Untersuchung besprochenen Romanen, worin Geschlechtlichkeit jeweils auf mehreren Ebenen (geistig, sozial-habituell, körperlich) dargestellt wird. Ein kurzer inhaltlicher Verweis auf den Mythos von Hermaphroditos (Februari 1989: 99) ändert diesen Eindruck nicht wesentlich. Aufgrund der mangelnden Vergleichbarkeit, aber auch des relativ kleinen postmodernen Œuvres von Februari wurde dieser Text hier nicht eingehend behandelt. Im Lichte der im Rahmen dieser Untersuchung präsentierten Ergebnisse kann allerdings herausgestellt werden, dass Februaris Roman deutlicher als viele andere Kerntexte des niederländischsprachigen Postmodernismus mit dichotomischen Geschlechterkonzeptionen abrechnet und somit eine besondere Rolle im Geschlechterdiskurs einnimmt. Es ist, um das Bild aufzugreifen, das ich bereits in der Einleitung zitiert habe, eine andere, ergänzende und korrigierende Brille, durch die fünfzehn hier thematisierten postmodernen Romane gelesen wurden. Mit der ihr eigenen Fokussierung zeigt sich, dass die vom Poststrukturalismus geprägte, spezifische Rezeption postmoderner Texte den Blick auf die Geschlechterdifferenz verstellt, die in jenen Texten konstruiert wird.

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